Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort 3515122192, 9783515122191

Im Jahr ihres Zentenariums hört die Novemberrevolution zusehends auf, eine „vergessene Revolution" (Alexander Gallu

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German Pages 352 [354] Year 2018

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
(Andreas Braune / Michael Dreyer)
Einleitung: Die wiederentdeckte Revolution
VOM KAISERREICH ZUR NOVEMBERREVOLUTION
(Lothar Machtan)
Geburtshelfer der Demokratie?
Prinz Max von Baden – der letzte Kanzler des Kaisers
(Detlef Lehnert)
Eine politische Revolution der Städtevielfalt.
Die deutsche Republikgründungszeit 1918/19 auf kommunaler Ebene
(Gleb J. Albert)
Revolutionäre Wechselwirkungen: Deutschland und Russland 1917–1919
AKTEURE UND STRUKTUREN IN DER REVOLUTION
(Walter Mühlhausen)
Zwischen Erwartungen und Zwangslagen.
Sozialdemokratie und radikale Linke in der Revolution
(Jens Hacke)
Das Wagnis der Demokratie.
Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise
(Kirsten Heinsohn)
Zusammenbruch und Kontinuitäten.
Konservative Reaktionen auf die Revolution 1918/19
(Peter Keller)
Der Kaiser ging, die Generäle blieben?
Drei Überlegungen zu politischen Agenden und institutionellen
Zielsetzungen der deutschen militärischen Führung zwischen
Novemberrevolution und Kapp-Lüttwitz-Putsch
(Ingrid Sharp)
Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19
KULTURELLE DEUTUNGEN UND DER ALLTAG DER REVOLUTION
(Wolfram Pyta)
Revolution als ästhetische Mobilisierung.
Kulturhistorische Betrachtungen zur Novemberrevolution
(Nadine Rossol)
„Die Abdankung unseres Kaisers hat mich nicht besonders getroffen…“
Emotionen, Erwartungen und Teilhabe an der deutschen Revolution 1918/19
(Mark Jones)
Die Toten der Revolution beerdigen.
Politische Trauerfeiern im November und Dezember 1918
(Heidrun Kämper)
Die Sprache der Revolution 1918/19
DIE REVOLUTION IM DEUTSCHEN RECHT
(Manfred Baldus)
Die Novemberrevolution und ihre Fragen an das Recht
(Daniel Siemens)
Revolutionäre Justiz? Volkssouveränität und Recht bei Erich Kuttner
und Walther Lamp’l in der frühen Weimarer Republik
VOM EREIGNIS ZUM ERINNERUNGSORT
(Helmuth Kiesel)
Die literarische Verarbeitung der Novemberrevolution
in der Weimarer Republik
(Karl Heinrich Pohl)
Eine „schädliche Revolution“?
Überlegungen zu den Ereignissen im Winter 1918/19
(Wolfgang Niess)
Die ungeliebte Revolution. Die verdrängte und politisierte
Erinnerung an 1918/19 im geteilten Deutschland
(Martin Sabrow)
Verhasst – verehrt – vergessen.
Die Novemberrevolution in der deutschen Gedächtnisgeschichte
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort
 3515122192, 9783515122191

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Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort

Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer Weimarer Schriften zur republik

Franz Steiner Verlag

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Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen

Band 6

Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort

Herausgegeben von Andreas Braune und Michael Dreyer

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Strategie- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft

Umschlagabbildung: Heinrich Richter-Berlin: „3 Worte: Ungestörte Demobilmachung. Aufbau der Republik. Frieden“, Farblithographie, Berlin 1918 © Deutsches Historisches Museum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12219-1 (Print) ISBN 978-3-515-12230-6 (E-Book)

INHALT Vorwort ................................................................................................................ VII Andreas Braune / Michael Dreyer Einleitung: Die wiederentdeckte Revolution ......................................................... IX VOM KAISERREICH ZUR NOVEMBERREVOLUTION Lothar Machtan Geburtshelfer der Demokratie? Prinz Max von Baden – der letzte Kanzler des Kaisers ........................................... 3 Detlef Lehnert Eine politische Revolution der Städtevielfalt. Die deutsche Republikgründungszeit 1918/19 auf kommunaler Ebene ................ 15 Gleb J. Albert Revolutionäre Wechselwirkungen: Deutschland und Russland 1917–1919 ......... 33 AKTEURE UND STRUKTUREN IN DER REVOLUTION Walter Mühlhausen Zwischen Erwartungen und Zwangslagen. Sozialdemokratie und radikale Linke in der Revolution ....................................... 49 Jens Hacke Das Wagnis der Demokratie. Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise .................................. 69 Kirsten Heinsohn Zusammenbruch und Kontinuitäten. Konservative Reaktionen auf die Revolution 1918/19 .......................................... 85 Peter Keller Der Kaiser ging, die Generäle blieben? Drei Überlegungen zu politischen Agenden und institutionellen Zielsetzungen der deutschen militärischen Führung zwischen Novemberrevolution und Kapp-Lüttwitz-Putsch................................................. 101 Ingrid Sharp Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19 ............................................... 117

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Inhalt

KULTURELLE DEUTUNGEN UND DER ALLTAG DER REVOLUTION Wolfram Pyta Revolution als ästhetische Mobilisierung. Kulturhistorische Betrachtungen zur Novemberrevolution ................................. 133 Nadine Rossol „Die Abdankung unseres Kaisers hat mich nicht besonders getroffen…“ Emotionen, Erwartungen und Teilhabe an der deutschen Revolution 1918/19 .. 161 Mark Jones Die Toten der Revolution beerdigen. Politische Trauerfeiern im November und Dezember 1918 ................................ 177 Heidrun Kämper Die Sprache der Revolution 1918/19 ................................................................... 197 DIE REVOLUTION IM DEUTSCHEN RECHT Manfred Baldus Die Novemberrevolution und ihre Fragen an das Recht...................................... 221 Daniel Siemens Revolutionäre Justiz? Volkssouveränität und Recht bei Erich Kuttner und Walther Lamp’l in der frühen Weimarer Republik ...................................... 233 VOM EREIGNIS ZUM ERINNERUNGSORT Helmuth Kiesel Die literarische Verarbeitung der Novemberrevolution in der Weimarer Republik.................................................................................... 249 Karl Heinrich Pohl Eine „schädliche Revolution“? Überlegungen zu den Ereignissen im Winter 1918/19 ........................................ 271 Wolfgang Niess Die ungeliebte Revolution. Die verdrängte und politisierte Erinnerung an 1918/19 im geteilten Deutschland................................................ 289 Martin Sabrow Verhasst – verehrt – vergessen. Die Novemberrevolution in der deutschen Gedächtnisgeschichte ...................... 309 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 325

VORWORT Mit diesem Band legen die Herausgeber den sechsten Band der „Weimarer Schriften zur Republik“ vor. Er dokumentiert die Beiträge der dritten internationalen Tagung zur Weimarer Republik, die die Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Verein Weimarer Republik im November 2017 gemeinsam in Weimar ausgerichtet haben – eine Tagung zur Revolution, die das deutsche Kaiserreich und die Monarchie in Deutschland beendete, abgehalten ausgerechnet in den Räumen des Hotels Kaiserin Augusta, der Gattin von Kaiser Wilhelm I. Solche kleinen Ironien beleben nicht nur die Geschichte, sondern auch Tagungen, und sie entgingen wohl keinem der versammelten Anwesenden. Seit der Verein 2014 und die Forschungsstelle 2016 die Arbeit aufnahmen, der Weimarer Republik zu mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen und zugleich ein Forum für interessierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu bieten, ist viel geschehen. Die erste Konferenz 2015 hieß, ebenso wie der erste Band der Schriftenreihe, „Weimar als Herausforderung“ – und natürlich war auch die Gründung einer neuen Schriftenreihe wie die Organisation einer hochkarätigen transdisziplinären Tagung eine Herausforderung für die Herausgeber dieses Bandes. Inzwischen liegen zehn von uns organisierte nationale und internationale Konferenzen (davon drei in Kooperation mit Partnern) hinter uns und die Schriftenreihe hat das halbe Dutzend erreicht. Das macht die Arbeit an der Thematik Weimar nicht weniger zu einer Herausforderung, aber die Resonanz in der akademischen Gemeinschaft hilft, sich dieser Herausforderung weiter mit Leidenschaft und Augenmaß zu stellen. Natürlich sind solche Projekte Gemeinschaftsaufgaben, und wir danken unseren Partnern, ohne die dies nicht möglich gewesen wäre. Das Bundesjustizministerium hat unter verschiedenen Ministern die Bedeutung der Thematik erkannt und die Arbeit des Vereins von Anfang an großzügig gefördert, nicht zuletzt dank der Vermittlung des Gründungsvorsitzenden Carsten Schneider. Das Land Thüringen wiederum hat die Forschungsstelle finanziert und die Stadt Weimar fördert unsere Pläne auf dem Boden, auf dem vor 100 Jahren die Weimarer Republik entstand. Nichts davon ist selbstverständlich, und wir sind den politischen Akteuren auf allen drei Ebenen zu großem Dank verpflichtet. Dank geht auch an den Franz Steiner Verlag mit dem wir seit der Gründung der Reihe bestens zusammenarbeiten. Ein wissenschaftlicher Beirat, bestehend aus Ursula Büttner, Alexander Gallus, Kathrin Groh, Christoph Gusy, Marcus Llanque und Walter Mühlhausen beflügelt uns mit Anregungen, mi Lob und Kritik, und auch ihm sei herzlich gedankt dafür. Im Rahmen der Tagung konnten wir auch zum dritten Mal die Preise für die besten Arbeiten zur Weimarer Republik vergeben. Für seine Berliner Habilitationsschrift wurde Jens Hacke, der auch als Referent an der Tagung teilnahm, mit dem

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Vorwort

Friedrich-Ebert-Preis ausgezeichnet. Der Hugo-Preuß-Preis für die beste Masterarbeit ging an Angela Schuberth (HU Berlin) und Grischa Sutterer (Tübingen), der Matthias-Erzberger-Preis für die beste Bachelorarbeit an Ludwig Decke (Leipzig) und Simon Sax (Bremen). Es ist beruhigend, zu sehen, wie viel hochklassige Forschung zur Weimarer Republik in unterschiedlichen Fächern und auf allen akademischen Ebenen betrieben wird, und wir danken erneut dem Bundesjustizministerium dafür, dass wir diese Forschung auch gebührend würdigen und anerkennen konnten. Zum unmittelbaren Gelingen der hier dokumentierten Konferenz haben in erster Linie natürlich die Referentinnen und Referenten beigetragen, die in einem anregenden Fächermix aus Geschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft die Revolution aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten halfen. Für den Band haben wir dann erfreulicherweise mit den Beiträgen von Heidrun Kämper und Helmuth Kiesel noch die germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft hinzuholen können. Aus dem Team des Vereins geht unser Dank an Stephan Zänker und Markus Hünniger, aus der Jenaer Politikwissenschaft und Forschungsstelle haben Sebastian Elsbach, Monika Keilich, Ronny Noak und Jonathan Overmeyer die Tagung mit vorbereitet und durchgeführt. Ihnen allen sei von Herzen gedankt, wie auch Alf Rösner, dem Direktor des Stadtmuseums, dessen schöne 2014 eröffnete Ausstellung zur Nationalversammlung in Weimar wir mit den Tagungsteilnehmern besuchen durften. Diese vielfältige Unterstützung ist uns Ansporn, unser Projekt weiter zu verfolgen. Vielleicht nicht gerade „Dem Schnee, dem Regen, / dem Wind entgegen, / im Dampf der Klüfte, / durch Nebeldüfte, / immer zu! Immer zu! / Ohne Rast und Ruh“, denn der Wind ist mit uns, nicht gegen das Ansinnen, der ersten deutschen Demokratie ihren gebührenden Platz zu verschaffen. Aber die Chance, den bekanntesten Wahl-Weimarer mit der Adresse Frauenplan 1 zu zitieren, kann man sich auch dann nicht entgehen lassen, wenn die eigenen wissenschaftlichen Interessen 86 Jahre nach dessen Tod beginnen. Immerhin war er damit der Revolution und der Weimarer Republik zeitlich noch näher als wir heute. Inhaltlich aber beginnt in Weimar das moderne Deutschland, mit allen Höhen und Tiefen. Die Herausgeber Jena, im Oktober 2018

EINLEITUNG: DIE WIEDERENTDECKTE REVOLUTION Michael Dreyer / Andreas Braune „3 Worte: Ungestörte Demobilmachung, Aufbau der Republik, Frieden“ – darin sah der Werbedienst der deutschen Republik im Herbst 1918 die zentralen Aufgaben der jungen Republik – einer Republik, die noch gar nicht in Form gegossen war, sondern noch ein aus der Revolution geborenes Provisorium. Wo die ‚Macht‘ lag, war nicht eindeutig auszumachen. Der provisorischen Reichsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, war sie nach dem 9. November geradezu in den Schoß gefallen.1 Die Volksbeauftragten waren weder parlamentarisch legitimiert, noch durch eine Volkswahl, noch waren sie nach geltendem Verfassungsrecht legal zu ihrer Position gekommen.2 Das hinderte sie aber nicht daran, schon am 12. November ‚mit Gesetzeskraft‘ das Kriegsregime im Innern und alle Debatten um die Demokratisierung des Wahlrechts zu beenden, indem sie das allgemeine und gleiche Männer- und Frauenwahlrecht für alle öffentlichen Körperschaften einführte. Das war nichts weniger als eine demokratische Wahlrechtsrevolution, die die Grundlage dafür geschaffen hatte, dass bald alle Deutschen ab 20 Jahren über Form und Zuschnitt der neuen Republik würden abstimmen können. Nicht nur die Frauen waren damit zum ersten Mal in den demos einbezogen, sondern auch alle Männer unter 25 und alle Soldaten, und zwar auf allen Ebenen des Reiches. Der Rat der Volksbeauftragten bildete aber nur die ‚förmliche‘ Seite der Macht. Denn die Revolution hatte die Macht auch auf die Straße verlagert, und von dort in die Arbeiter- und Soldatenräte, die in den Städten und Gemeinden zumindest mit dem Anspruch auftraten, von der Revolution sanktioniert zu sein und nun die Macht vor Ort ausüben zu dürfen.3 Solange der politische Wille des deutschen Volkes nicht durch Wahlen artikuliert war, lag in der Wahrnehmung der Rätebewegung alle Macht bei ihr – wo sie auch bleiben sollte, wenn es nach erheblichen aber minoritären Teilen der Rätebewegung gegangen wäre. ‚Alle Macht den Räten‘ war vor der Wahl zur Nationalversammlung der eigene Anspruch jener Minderheit, danach ihre Losung, die Revolution nicht im liberal-demokratischen Verfassungsstaat versanden zu lassen. ‚Aufbau der Republik‘ hieß also im Herbst und Winter 1918   1 2 3

Siehe hierzu den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band. Der Beitrag von Manfred Baldus in diesem Band schildert dies anschaulich aus rechtsgeschichtlicher und rechtstheoretischer Perspektive. Detlef Lehnert untersucht dies in diesem Band zumindest für die Großstädte der Zeit und zeigt die unterschiedlichen Arten des Übergangs von der alten zur neuen Ordnung auf, genauso wie die unterschiedlichen Grade der Kooperation mit der bestehenden Verwaltung vor und nach den ersten demokratischen Wahlen zu den kommunalen Körperschaften.

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Andreas Braune / Michael Dreyer

zu klären, wer die Macht über die Revolution und ihren Fortgang hatte und wie der Charakter und der Aufbau der ‚deutschen Republik‘ schlussendlich aussehen würden. Die Aufgabe ‚Frieden‘ bezog sich im Oktober und November 1918 auf das überwältigende Bedürfnis der Bevölkerung, nach vier Jahren Krieg und Entbehrung nicht noch einen weiteren Kriegswinter durchstehen zu müssen. Das letzte Kriegsjahr war schon zu einer Propaganda- und Durchhalteschlacht geworden, die nur mühsam den Durchhaltewillen gegenüber dem Friedenswillen aufrechterhalten konnte. Schon im Frühjahr 1917 hatte sich die SPD an der Frage nach Krieg und Frieden aufgespalten.4 Wenig später hatte der interfraktionelle Ausschuss aus Zentrum, Fortschrittlicher Volkspartei und MSPD – eine Vorwegnahme der späteren Weimarer Koalition – nach Wegen gesucht, den Krieg gesichtswahrend und rasch zu beenden. Die politische und militärische Führung des Reiches wollte davon nichts wissen und hielt an der Illusion des Siegfriedens fest, der durch den Erfolg von Brest-Litowsk und die Hoffnungen auf die Frühjahrsoffensive 1918 greifbar schien. Unterdessen war die Friedensfrage für die USPD die treibende Kraft geworden, die ihr half, erhebliche Anhängermassen v. a. in den Industriegebieten zu gewinnen: Friedens- und Streikbewegung gingen seit dem Winter 1917 Hand in Hand. Die Initiativen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom Januar 1918 nährten in Deutschland im Oktober 1918 die von Beginn an unrealistischen Hoffnungen auf jenen ‚Wilson-Frieden‘, mit dem Deutschland noch einmal glaubte, halbwegs aufrecht den Krieg beenden zu können. Als er dann ausblieb und mit ‚Versailles‘ klar wurde, dass diese Hoffnung eine bloße Illusion war, sollte dies eine schwere Hypothek für die Weimarer Republik werden. Für die Novemberrevolution aber bildete das Bedürfnis nach Frieden wahrscheinlich das stärkste Motiv, sicherlich weit stärker noch als jenes nach Demokratie. Der Krieg sollte beendet werden, und dem standen die Fürstenhäuser und politischen und Funktionseliten des Kaiserreichs seit Monaten, wenn nicht seit Jahren im Weg. Immerhin hielten sie sich so lange an der Macht, bis die militärische Niederlage besiegelt war, mussten mit ihr aber von einem Tag auf den anderen die Bühne der Macht räumen – ohne dass sich irgendeine Hand regte, die Monarchen gewaltsam zu verteidigen. Nun stellte sich aber auch heraus, dass Deutschland jede Möglichkeit verloren hatte, darauf einzuwirken, wie der Friede aussehen würde – wofür auf Basis der ‚Dolchstoßlegende‘ später die Konkursverwalter, nicht die Konkursverschlepper in Haftung genommen wurden, um eine Formulierung Lothar Machtans aus seinem Beitrag zu diesem Band zu entlehnen. Zu der Aufgabe ‚Frieden‘ gehörte für die neue Regierung aber auch, in den Außenbeziehungen des Reiches den Waffenstillstand zu managen und nach Möglichkeit auf die Aushandlung der Friedensbedingungen einzuwirken. Militärisch lag das Reich am Boden, aber trotzdem war die ‚Wiederaufnahme der Feindseligkeiten‘ ein permanentes Damoklesschwert, das über der jungen Republik schwebte. Dies   4

Siehe hierzu jüngst: Braune / Hesselbarth / Müller (2018): USPD.

Einleitung: Die wiederentdeckte Revolution

XI

hätte nichts weniger als das Ende der staatlichen Integrität des Reiches und die Besetzung noch weiterer Teile des deutschen Staatsgebietes bedeutet. Auch wenn dies für einige Militärs sogar eine mögliche Option war, um im Osten die Kräfte für die Fortsetzung des Krieges zu sammeln, konnte das für eine demokratische Republik im Aufbruch keine ernsthafte Option sein, und noch viel weniger für eine völlig erschöpfte Bevölkerung. Als die Friedensbedingungen von Versailles präsentiert wurden, war das nichts weniger als die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Deutschlands als Staat. Verdorrt ist letztlich aber niemandes Hand (entgegen der vollmundigen Ankündigung von Philipp Scheidemann in der Nationalversammlung), der sich in dieser Situation für den Erhalt der Republik eingesetzt hatte. Zur Konkursmasse des Kaiserreiches gehörte schließlich ein Millionenheer, das ganz überwiegend noch in ‚feindlichem‘ Territorium oder zu räumendem Reichsgebiet stand, und das binnen kürzester Frist laut Waffenstillstandsbedingungen ‚heim ins Reich‘ gebracht werden musste.5 Die Aufgabe ‚ungestörte Demobilmachung‘ zielte auf diese enorme logistische Herausforderung, bei der jene Akteure, denen gerade die Macht und der Auftrag zum Aufbau der Republik in den Schoß gefallen waren, nachvollziehbarerweise glaubten, auf die Expertise und Strukturen des bestehenden Militärapparates angewiesen zu sein.6 Zu dieser Herausforderung gehörte auch, das ‚Monopol legitimer Gewaltsamkeit‘ (Max Weber) zu wahren, ohne das auch eine Republik nicht lebensfähig ist. Bürgerkrieg und Desintegration des Reiches von innen waren die reellen Antipoden zu der Notwendigkeit, auch in der Revolution das Gewaltmonopol zu sichern. Die Demobilmachung war aber nicht nur diese logistische und ordnungspolitische Aufgabe, sondern auch eine gewaltige wirtschafts- und sozialpolitische Herausforderung. Denn zur Demobilmachung gehörte auch die rasche Umstellung der Kriegs- auf eine Friedenökonomie und die Reintegration der heimkehrenden Soldaten in ihr ziviles Leben als Studenten, (Land-)Arbeiter, Bauern, Handwerker, Angestellte, Beamte – ein Prozess, der oft zu Lasten der Frauen ging, die unter den Kriegsbedingungen die entstandenen Lücken gefüllt und daraus auch ihr neues politisches Gewicht abgeleitet hatten. In sozialpolitischer Hinsicht kam für die spätere Weimarer Republik noch die Fürsorge für die zahllosen Kriegsversehrten und -geschädigten hinzu, die nicht ohne Weiteres in ein normales Arbeitsleben zurückkehren konnten.7 „Ungestörte Demobilmachung, Aufbau der Republik, Frieden“ waren also durchaus die ‚Forderungen des Tages‘. Der Herr auf dem Titelbild dieses Bandes verweist darauf. Die grundlegende Botschaft hinter diesem Slogan des Plakates ist durchaus staatstragend, zumindest für revolutionäre Zeiten: Ruhe bewahren, mit den Gegebenheiten klarkommen, nach vorne schauen, wir schaffen das. In ihr   5 6 7

Im ersten Band des vierbändigen Epos November 1918: Eine deutsche Revolution von Alfred Döblin ist anschaulich geschildert, wie sich dies in Elsass-Lothringen abspielte. Zu jenem berüchtigten Telefonat zwischen Friedrich Ebert und Wilhelm Groener und einer differenzierteren Betrachtungsweise hinsichtlich des Umgangs der neuen zivilen Regierung mit dem Militärapparat siehe den Beitrag von Peter Keller in diesem Band. Siehe hier wiederum die Schilderungen in Döblins Berlin Alexanderplatz.

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Andreas Braune / Michael Dreyer

schwingt der Aufruf zu ‚Ruhe und Ordnung‘ mit, den vor allem die Mehrheitssozialdemokratie 1918/19 wiederholt formulierte. Mit diesem Aufruf war der Optimismus verknüpft, dass sich eine demokratische und sozialistische Gesellschaft mit Wahlen und Mehrheitsentscheidungen aufbauen lasse, sofern nur jene Ruhe und Ordnung gewahrt würden. Im Kontrast dazu stehen die roten Farben im Hintergrund des Plakates: Sind sie nicht Ausdruck einer genuin sozialistischen, wenn nicht gar kommunistischen Revolution, wie sie ein Jahr zuvor in Russland stattgefunden hatte? Müsste nicht darüber „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ oder „Ende aller Klassenherrschaft, Adel & Bourgeoisie an die Laterne!“ stehen? Das zumindest würde unseren Sehgewohnheiten entsprechen, die wir heute mit roten Fahnen verbinden und für die auch damals die Zeitung „Die Rote Fahne“ stand. Im ‚Traumland der Waffenstillstandsperiode‘ (so die mittlerweile oft zitierte Bezeichnung der ersten Monate nach der Revolution laut Ernst Troeltsch) wurde die Farbe Rot aber tatsächlich für die Revolutionäre und mindestens für das gesamte sozialistische Milieu für eine kurze Zeit zum Zeichen für den revolutionären und demokratischen Aufbruch. Jedenfalls war sie nicht das alleinige Markenzeichen des Spartakusbundes und der kommenden Kommunistischen Partei.8 Als Gegensatz zur Monarchie gab der Begriff der Republik diesen Spielraum eine Zeitlang auch her, weil er ohne Attribuierung offen hielt, ob es sich um eine bürgerliche, demokratische, sozialistische, Räte- oder wie auch immer spezifizierte Republik handeln würde. In den ersten Wochen der Revolution signalisierte die Farbe Rot, dass man auf der Seite der Revolution und gegen die Monarchie stand, ohne sich genau festlegen zu müssen, welche Art der Republik es denn sein sollte. Der Slogan „Aufbau der Republik“ vor roten Fahnen war auf dem Plakat Heinrich Richters also hinreichend offen und ein neuerliches Sammlungsangebot zumindest an die linken Kräfte. Dass zunächst Rot die Farbe der Revolution war und nicht Schwarz-Rot-Gold, zeigt auch, wie sehr die Revolution zunächst von sozialistischen Akteuren und Vorstellungen geprägt war, wobei die ‚Umcodierung‘ der Revolution von Rot auf die Farben von 1848 später sehr gut vom linken Topos des ‚Verrats‘ instrumentalisiert werden konnte. Für Kurt Tucholsky war folglich die Republik, die dann aus dem Rat der Volksbeauftragten, dem ‚Ebert-Groener-Pakt‘, dem Stinnes-Legien-Abkommen, der Entscheidung des Reichsrätekongresses im Dezember 1918, der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung, der provisorischen Reichsregierung unter Ebert und Scheidemann und der Weimarer Reichsverfassung hervorgegangen war, von Beginn an unbefriedigend. Fehlte da nicht etwas? War das überhaupt eine Revolution? War das nicht irgendwie zu bieder, zu bürgerlich? Knapp ein Jahr nachdem das Plakat ‚3 Worte‘ von Heinrich Richter-Berlin gestaltet wurde, erschien in Berlin-Charlottenburg eine Broschüre unter dem Titel Das politische Plakat, die ‚amtlich‘ von dem Architekten und Publizisten Adolf Behne   8  

Siehe hierzu den Beitrag von Mark Jones in diesem Band und darin die Hinweise auf die Farbenvielfalt auf den frühen Bestattungsfeiern der Revolution.

Einleitung: Die wiederentdeckte Revolution

XIII

herausgegeben wurde, der dem Berliner Arbeitsrat für Kunst angehörte und zugleich dem von dem Schriftsteller Paul Zech geführten Werbedienst der deutschen Republik nahestand.9 Die Broschüre versammelt eine ganze Reihe von Plakaten des Werbedienstes, die von avantgardistischen und expressionistischen Künstlern zur Unterstützung des Aufbruchs in die neue Zeit gestaltet wurden. Auch in Berlin gab es also jene ‚ästhetische Mobilisierung‘ durch Künstler-Politiker oder PolitikerKünstler, die Wolfram Pyta in seinem Beitrag zu diesem Band so anschaulich schildert. Kurt Tucholsky hingegen hielt wenig davon: In dem ganzen sauber ausgestatteten Heft findet sich nicht ein Blatt, aus dem etwa der Haß gegen das alte Regime flammte. Das aber wäre Revolution, das wäre ein politisches Plakat. Sie setzen bieder und brav auseinander, daß man nun arbeiten müsse – und man riecht förmlich den Geheimrat dahinter, der dem Graphiker gesagt hat, was er machen soll.10

Nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch schüttet Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky seine Häme über ‚3 Worte‘ aus: Ich persönlich halte die Verwendung Pechsteins und der Expressionisten zur Plakatverfertigung für einen Mißgriff – denn die Augen der Massen sind gar nicht erzogen, so zu sehen, und so einfach ist das schließlich nicht, aus einem Wirrwarr des Malers Richter sich erst den Mann herauszuklauben, der inmitten roter Fahnen auf ein paar umständlich formulierte Abstrakte deutet: ‚Drei Worte: Ungestörte Demobilmachung, Aufbau der Republik, Frieden.‘ Abgesehen davon, daß es Friede heißt: ehe man das begriffen hat, ist der Mond schon auf die Erde gefallen. Das sitzt nicht. Das haut nicht. Das peitscht nicht.

Es muss also peitschen. Was soll das für eine Revolution sein, die zu Ruhe und Ordnung und konstruktiver Arbeit aufruft? Was wünscht sich Tucholsky stattdessen? Uns fehlt der volkstümliche Zeichner, der hassen kann und sie alle mitreißt: den Droschkenkutscher und den Obstverkäufer und den Eisenbahner und den geworbenen Soldaten und Alle. […] Was müßte einer bewirken, der die Sprache des Volkes auf seinen Blättern spricht und dann noch seiner oppositionellen Überzeugung Form verliehe!

Veröffentlicht werden diese Zeilen Tucholskys exakt eine Woche nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, nämlich am 21. August 1919. Was der Endpunkt der Revolution sein könnte, nutzt Tucholsky für einen Frontalangriff und einen neuerlichen Revolutionsaufruf. Im alten Habitus des Oppositionellen des Kaiserreichs ruft er zur Empörung gegen die Herrschenden auf, ohne realisiert zu haben, dass zwischen den Herrschenden vom August 1919 und August 1918 (und der Art und Weise ihrer Bestellung) ein Unterschied besteht. Zu allem Überfluss fordert Tucholsky die junge Republik auf, sie möge „klug und weitherzig genug sein […], auch ihren Feinden eine öffentliche Propaganda nicht zu verwehren.“ Es ist exakt diese Forderung nach antikonstitutioneller Meinungsfreiheit, die antidemokratische Intellektuelle und ihre Presseorgane im weiteren Verlauf der Weimarer Republik in   9 Behne (1919): Das politische Plakat. 10 Dieses und die folgenden Zitate aus: Wrobel (1919): Das politische Plakat, S. 239f.

XIV

Andreas Braune / Michael Dreyer

Anspruch nahmen, um die Fundamente der Demokratie in Deutschland zu untergraben. Ähnlich verstanden das viele Vertreter der reaktionären Beamtenschaft, die die Neutralitätspflicht des liberalen Staates glaubten soweit auslegen zu dürfen, dass sie auch gegen ihn agieren dürften. Das war natürlich nicht das Ansinnen Tucholskys, der vielmehr sicherstellen wollte, dass eine Fundamentalkritik von links weiterhin möglich sein sollte. Aber es versinnbildlicht, dass die umstrittene Deutung der Revolution und die kontroverse Beurteilung ihres Ergebnisses (also der Weimarer Republik mit ihrer Verfassung) im Grunde unmittelbar zeitgenössisch einsetzten. Im Ereignis selbst wurden schon die Schneisen für den Erinnerungsort geschlagen. Von den drei Worten des Plakates im Titelbild führt daher ein Weg zu den drei Worten im Titel des Bandes: Zusammenbruch – Aufbruch – Abbruch. Sie entsprechen den wesentlichen Deutungsmustern, die unmittelbar mit der Revolution einsetzen und im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte die Erinnerung an die Novemberrevolution prägen sollten. Das Plakat selbst steht für die Idee des Aufbruchs in ein neues, demokratisches Deutschland, während Tucholskys Kritik daran das linke Unbehagen an der Revolution artikuliert, das bei noch weiter links stehenden Zeitgenossen schließlich in den Abbruchs- und Verrats-Topos mündete. Diesem Topos zufolge habe die Mehrheitssozialdemokratie die Interessen der Arbeiterschaft und die Revolution insgesamt zugunsten von ‚Ruhe und Ordnung‘ geopfert. Im Ergebnis sei die Weimarer Republik eine ‚bürgerliche Demokratie‘, die nicht nur außerstande sei, den Pathologien der kapitalistischen Wirtschaft entgegenzuwirken, sondern schlimmer noch, die durch die Allianz mit den reaktionären Eliten den Keim des Faschismus bzw. Nationalsozialismus von Anfang an in sich getragen habe. Das ominöse Ebert-Groener-Telefonat, der Reichsrätekongress, die Abwehr der Weihnachts- und Januar-Kämpfe, die Niederschlagungen der Münchner Räterepublik und die Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen sind die wesentlichen Marksteine dieses Deutungsmusters, das marxistische Historiker wie Arthur Rosenberg von Anfang an gepflegt hatten und das in der DDR integraler Bestandteil des sozialistischen Geschichtsbildes wurde. 11 Der Topos des Zusammenbruchs war von Anfang an im adligen, (groß-)bürgerlichen und konservativen Milieu und damit auch in weiten Teilen der Funktionseliten verbreitet. Es ist nicht auszuschließen, dass auf viele Vertreter dieser Gruppen (wie auf die Bevölkerung generell) die permanente Siegfriedenspropaganda ihre Wirkung entfaltet hatte, und dass sie tatsächlich von der Implosion des monarchischen Systems und Prinzips überrascht wurden. Umso attraktiver und plausibler war dann die Dolchstoßlegende, die trotz ihrer Umkehrung von Ursache und Wirkung in Bezug auf die Kriegsniederlage für ihre Vertreter wirklichkeitskonstituierend wurde. Der ‚Zusammenbruch‘ war daher real, weil er sich auf das Koordinatensystem des ‚Ancien Régime‘ bezog, das ja tatsächlich zusammengebrochen war.   11 Vgl. Rosenberg (1935): Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, sowie Ruge (1969): Weimar.

Einleitung: Die wiederentdeckte Revolution

XV

Erschwerend kam hinzu, dass aus dieser Perspektive genau jene Kräfte ab November 1918 die Macht übernahmen, die spätestens seit der Friedensresolution 1917, wenn nicht seit Jahren des Verdachts verräterischer Umtriebe ausgesetzt waren. War dann nicht klar, dass die Ereignisse im November die Folge ihres Tuns sein mussten? Als dann der konstitutionelle Weg der Revolution eingeschlagen wurde und sich die Koalitionsregierung aus Sozialdemokratie, Katholizismus und Linksliberalismus gebildet hatte, wurden die Republik und ihre Verfassung von den ehemaligen ‚Reichsfeinden‘ aus der Taufe gehoben, oder zumindest von jenen Parteien, die zuvor verdächtigt wurden, außerhalb des Verfassungskonsenses des Kaiserreichs gestanden zu haben. Dass beispielsweise die SPD bis hin zur Aufgabe ihrer parteipolitischen Geschlossenheit gewillt war, den Nachweis zu erbringen, dass sie doch auf dem Boden der Verfassung des Kaiserreichs stand, spielte in den Deutungskämpfen nach 1919 kaum eine Rolle mehr. Ebenso wenig, dass alle drei Parteien bis in den Oktober 1918 hinein nur auf eine demokratische Reform des bestehenden Systems hingearbeitet hatten, nicht auf seine Beseitigung. All das war an der Intransigenz des Kaisers und der militärischen Eliten gescheitert, die beide hofften, mit einem Siegfrieden den alten modus operandi aufrecht erhalten und sich der immer nur zögerlich zugesagten Demokratisierung entziehen zu können. Schlussendlich mussten sie das Feld räumen, weil ihre Strategie der Aufrechterhaltung ihres Herrschaftsanspruches gescheitert war, nicht weil die Anderen Axt daran gelegt hatten. Trotzdem blieb in den Augen der Konservativen und alten Eliten die Republik ein Gebilde, das die ‚inneren Feinde‘ des Kaiserreiches geschaffen hatten, wodurch sie sich berechtigt sahen, den Kampf gegen diese Feinde mit allen Mitteln fortzusetzen. Im weiteren Verlauf der Republik geschah dies immer weniger im Duktus eines monarchischen Legitimismus, sondern zunehmend in Hinblick auf diverse neurechte und völkischen Neuordnungspläne. Das Ereignis selbst und die Entstehung eines umkämpften Erinnerungsortes hängen also aufs engste miteinander zusammen. Dass die Novemberrevolution nicht nur im öffentlichen Gedächtnis, sondern auch in der Wissenschaft nach 1990 eine „vergessenen Revolution“ blieb, wie Alexander Gallus 2010 konstatierte,12 ändert daran wenig. Dass sie in Vergessenheit geriet, lag vielmehr daran, dass nach 1990 die alten Deutungsschlachten alle schon ausgefochten waren und mit dem linkssozialistischen Lager schließlich auch der Träger des Verrats-Narratives ausgefallen war. Für eine Integration der Novemberrevolution in den Erinnerungshaushalt der Deutschen als Teil ihrer Demokratiegeschichte setzte sich aber kaum jemand ein – aus unterschiedlichen Gründen, die hier nicht neuerlich ausgebreitet werden müssen. Das ändert sich in diesem Jahr sichtlich, begehen wir doch gerade den 100. Jahrestag der Revolution und Republikgründung. Quer durch die Republik gibt es Ausstellungen, Bildungsprojekte, Theateraufführungen und verschiedenste andere Formate zur Revolution und Weimarer Republik. Die Buchläden waren rechtzeitig mit   12 Vgl. Gallus (Hrsg.) (2010): Vergessene Revolution.  

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Andreas Braune / Michael Dreyer

ansprechenden und hochwertigen Publikationen für die interessierte Leserschaft gefüllt13 und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen lief rechtzeitig „Babylon Berlin“. Damit einher geht in den Feuilletons angesichts des um sich greifenden Rechtspopulismus und anderer (scheinbarer) Erosionsphänomene der parlamentarischen Demokratie die Erörterung der Frage, ob wir uns wieder ‚Weimarer Verhältnissen‘ annähern.14 Dabei werden bei allen Ähnlichkeiten auch die Unterschiede zur Weimarer Republik unterstrichen. Für unseren Blick auf den Anfang der Republik sind diese Diskussionen – so berechtigt sie auch sein mögen – nicht sehr erkenntnisfördernd, da wieder zunehmend auf die Endphase der Republik und ihre vermeintliche Dauerkrise geschaut wird und darüber die ambitionierten Anfänge der Weimarer Republik erneut aus dem Blick geraten. In dem Versuch, sich der Überlegenheit der bundesrepublikanischen Demokratie zu vergewissern, werden gerade in den auf einen breiten Markt zielenden Publikationen wieder die alten Topoi der ‚versagenden‘ Republik und struktureller Defizite hervorgeholt, die von der Forschung der letzten beiden Jahrzehnte weitgehend relativiert wurden. Wieder wird Weimar zur Negativfolie. Dabei gäbe die Berücksichtigung der Leistungen, Errungenschaften und Chancen der ersten deutschen Demokratie heute stärkere Orientierung für den Wert der Demokratie als der eingeschüchterte Blick auf ihre Zerstörung. Es gibt gute Gründe, die Leistungen der Republikgründer und ihren Einsatz für die Demokratie zu würdigen, weil wir ihnen auch heute noch, 100 Jahre danach, viel zu verdanken haben. Auf Weimar zu schauen aus Angst, wir könnten wieder in Weimarer Verhältnissen enden, lässt sich stattdessen auf die Angstpolitik der Populisten ein. Ob die Novemberrevolution – und mit ihr die Weimarer Nationalversammlung und ihre Verfassung – vor diesem Hintergrund aufhört, eine vergessene Revolution zu sein, ist noch nicht absehbar. Ein Jubiläum kann auch ein Strohfeuer sein, und die Aufmerksamkeitswelle kann sich in Kürze dem nächsten ‚großen Thema‘ zuwenden. Das liegt auch nicht (oder nur sehr begrenzt) in der Macht der Wissenschaft, die mit diesem Band zu Wort kommt. Was die Wissenschaft aber leisten kann, ist das, was Alexander Gallus vor wenigen Jahren in unserem Sammelband „Weimar als Herausforderung“ als Voraussetzung dafür benannt hat, dass die Novemberrevolution aus den alten Narrativen und Großerzählungen herausgelöst und in ein neues, eigenständiges Licht gerückt wird: Die konsequente Historisierung der Novemberrevolution, das heißt die möglichst vorurteilsfreie Neubetrachtung der Akteure und ihrer Erwartungshorizonte und Handlungsmöglichkeiten.15 Genau das versuchen wir mit diesem Band für eine breite Palette an Themen und Akteuren einzulösen, verbunden mit dem Anspruch, eine wenn auch nicht vollständige, so   13 Exemplarisch sei nur das Buch unseres hier vertretenen Autors genannt: Niess (2017): Der wahre Beginn. In seinem Beitrag nennt Wolfgang Niess eine ganze Reihe weiterer Publikationen für den breiteren Buchmarkt. Hinzu kommen eine ganze Reihe an Sonderheften der einschlägigen Wissens-Magazine und online-Dossiers der Träger der politischen Bildung. 14 Vgl. exemplarisch: Wirsching / Kohler / Wilhelm (Hrsg.) (2018): Weimarer Verhältnisse? 15 Vgl. Gallus (2016): Reaktualisierung durch Historisierung.  

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doch weitgehende Bestandsaufnahme der interdisziplinären Forschung zur Novemberrevolution zu liefern. Glücklicherweise gibt es hierzu wichtige Vorarbeiten: Erst kürzlich hat Volker Stalmann einen gleichermaßen knappen wie souveränen Überblick über den Stand der historischen Forschung zur Novemberrevolution geliefert und dabei verschiedene Forschungsdesiderata ausgewiesen.16 In der Raum- und Regional-, in der Geschlechter-, Medien- und Kulturgeschichte der Revolution identifizierte er erheblichen Forschungsbedarf, wobei sein Blick freilich auf die Geschichtswissenschaft beschränkt blieb und nicht nach Forschungen und Forschungsfragen in den Nachbardisziplinen Ausschau hielt. Einen besonders wichtigen Beitrag und Impuls zur Erforschung der Novemberrevolution setzte schon 2015 der von Klaus Weinhauer, Kirsten Heinsohn und Anthony McElligott herausgegebene Band Germany 1916-23. A Revolution in Context.17 Als besonders fruchtbar und wichtig betrachten auch wir dabei den doppelten Ansatz, den Untersuchungszeitraum bei der Betrachtung auszudehnen und die Novemberrevolution in ihrem internationalen Kontext bzw. ihrer transnationalen Vernetzung zu betrachten. Denn was für die klassische Betrachtung der Novemberrevolution in Deutschland typisch ist, ist einerseits, häufig im Zusammenhang mit der Sonderwegsdebatte, eine Fixierung auf die deutsche Geschichte, also die Mutmaßung, die Revolution sei ein Markstein exklusiv für Deutschland. Andererseits ist damit die Neigung verbunden, Einzelfragen der Wochen vor und nach der Revolution zu Schicksalsfragen zu stilisieren, ganz so, als hätte ein einziges Telefonat zwischen Friedrich Ebert und Wilhelm Groener den Weltenlauf komplett verändert (und Hitler den Weg in die Reichskanzlei gebahnt). Beide Vorschläge der genannten Herausgeber/-innen wirken dem entgegen und tragen erheblich zu einer Versachlichung der Betrachtung bei. Die Novemberrevolution erscheint dann mit ihrer Vorgeschichte und ihren Folgen als Teil der europäischen oder gar Globalgeschichte des Ersten Weltkrieges und seiner Konsequenzen. Sie ist Teil der Gewaltgeschichte des Krieges und des Widerstandes und der Streik- und Friedensbewegungen gegen ihn. Sie ist Teil der europäischen Demokratisierungswelle und der Etablierung einer sozialen Massendemokratie nach dem Krieg, wie Tim B. Müller in den letzten Jahren immer wieder betont hat.18 Sie ist Teil des Zusammenbruchs der imperialen Kaiserreiche Europas und teilt ein Schicksal mit dem Zarenreich, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich. Sie ist Teil des gewaltgeladenen, von Aufständen, Bürgerkriegen und ideologischen Konfrontationen geprägten Auseinandersetzungen des sogenannten Nachkrieges.19 Und sie endet nicht schon 1919 mit der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, sondern erst 1923, als die wesentlichen Angriffe gegen sie abgewehrt sind und sich die Konturen der europäischen Nachkriegsordnung festigten.20 Sie ist damit nichts spezifisch deutsches, sondern die deutsche Version von Ereignissen, Strukturveränderungen und sozialen   16 17 18 19 20

Vgl. Stalmann (2016): Wiederentdeckung der Revolution. Vgl. Weinhauer / Heinsohn / McElligott (Hrsg.) (2015): A Revolution in Context. Vgl. Müller (2014): Lebensversuche; ders. / Tooze (Hrsg.) (2015): Normalität und Fragilität. Vgl. Gerwath (2017): The Vanquished. Siehe hierzu jüngst u. a. ders. (2018): Die größte aller Revolutionen.

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und politischen Kämpfen, die in unterschiedlichen Schattierungen in ganz Europa und darüber hinaus eine Rolle spielten. Wenn wir dem Vorschlag, die Periodisierung des revolutionären Umbruches auszudehnen und ihn im europäischen Kontext zu sehen, in diesem Band nur punktuell folgen, dann liegt das daran, dass man im Rahmen eines einzelnen Sammelbandes auch Grenzen vor sich hat. Wir hatten stattdessen dem interdisziplinären Zugriff den Vorrang gegeben, weil auch hierin ein großes Potential für eine Neubewertung der Revolution liegt. Denn die multiperspektivische Betrachtung schützt vor einseitigen Deutungen, weil sich mitunter blinde Flecken ausleuchten lassen, die sonst unbeachtet blieben. Der Aufbau dieses Bandes ist einerseits chronologisch, andererseits strukturell angelegt. Die ersten vier Abschnitte widmen sich der Novemberrevolution als ‚Ereignis‘, der fünfte als ‚Erinnerungsort‘. Der erste Abschnitt thematisiert die Vorgeschichte und die unmittelbaren Folgen der Revolution. Den Auftakt bildet dabei der Beitrag von Lothar Machtan, der sich dem kurzen Zeitfenster der Regierung Max von Badens widmet, in dem die Monarchie noch zu retten gewesen wäre. Dafür fehlte freilich auch das Personal, um eine glaubhafte Transition zu einer wirklichen ‚Volksmonarchie‘ einzuleiten. Machtan beschreibt die Tage der ersten Novemberhälfte als einen ‚geschenkten Sieg‘, weil sich die alten Machthaber kurzerhand aus der Schusslinie nahmen und widerstandslos die Macht aufgaben. Dieser Sieg musste nicht opfervoll erkämpft werden, was ein wichtiger Grund für den fehlenden revolutionären Pathos und das Ausbleiben eines revolutionären Mythos gewesen sein dürfte, die Tucholsky oben beklagte. Im darauffolgenden Beitrag Rekonstruiert Detlef Lehnert minutiös die Machttransition auf lokaler Ebene, also die erfolgte oder häufig auch nicht erfolgte Auswechslung der Oberbürgermeister sowie die Ergebnisse und Konsequenzen der ersten republikanischen Kommunalwahlen in den deutschen Großstädten. Bis zu diesen Wahlen bedeuteten die Arbeiter- und Soldatenräte in der Regel eine starke Partizipationserweiterung, die aber fast nie zu einem harten Bruch mit dem alten Stadtregiment führte. Das neue, allgemeine und gleiche Wahlrecht bedeutete auch auf kommunaler Ebene eine Demokratisierung und bestätigte und institutionalisierte diese Partizipationserweiterung. Mit den Kommunalwahlen, die in Preußen etwa bis zum 2. März 1919 erfolgen mussten, war dann auch der revolutionäre ‚Schwebezustand‘ in den Städten beendet, was allerdings auch zu weiteren revolutionären Bemühungen motivieren konnte, wenn linke Akteure mit den Ergebnissen dieser Wahlen oder der Übertragung der Macht von den Räten auf die neu gewählten Kommunalvertretungen nicht einverstanden waren. Auf die transnationalen Wechselwirkungen zwischen der russischen und der deutschen Revolution geht anschließend Gleb J. Albert ein. Dass in Russland erst ein Jahr zuvor eine Revolution in zwei Stufen stattgefunden hatte und die Bolschewiki den Export ihres Revolutionsmodells unter dem Banner der Weltrevolution aktiv betrieben, gehörte zum unmittelbaren Erfahrungsraum aller Akteure der Novemberrevolution und konstituierte ihren Erwartungshorizont entscheidend mit, sei es als Vorbild, sei es als Schreckensszenario. Umgekehrt knüpften die Revolutionäre in Russland höchste Erwartungen an die Revolution im Heimatland des Marxismus. In Deutschland verschärfte die russische Revolution die Spaltung der Arbeiterbe-

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wegung und schürte die ‚Bolschewismusfurcht‘ der MSPD (wie auch in der restlichen Bevölkerung) und erleichterte so ihr teils massives Vorgehen gegen die revolutionäre Linke. In Russland bedeutete das ‚Scheitern‘ bzw. der ‚Verrat‘ an der Revolution eine große Enttäuschung für die Bolschewiki und trug so wesentlich zur Abkehr von der Ideologie der Weltrevolution und der Entwicklung der Maxime vom ‚Sozialismus in einem Lande‘ bei. Der zweite Abschnitt des Bandes widmet sich den Wahrnehmungen und Handlungsräumen verschiedener Akteursgruppen. Die ersten drei Beiträge nehmen die drei politischen Hauptlager entsprechend der Trias von Abbruch, Aufbruch, Zusammenbruch in den Blick. Walter Mühlhausen schließt mit seinem Beitrag zum linken Lager an den vorherigen Beitrag an und nimmt die unterschiedlichen Erwartungen und das Spannungsfeld von Zwangslagen, Handlungsmöglichkeiten und Vorentscheidungen in den Blick. Dabei betont Mühlhausen, dass sich die Volksbeauftragten (zumindest diejenigen der MSPD) als Treuhänder der Macht betrachteten, die zwar einerseits wichtige demokratisierende Pflöcke einschlagen mussten und eingeschlagen haben, die sich aber auch nicht für alles demokratisch legitimiert sahen und daher auf eine rasche Wahl der Nationalversammlung drangen. Dass die Revolution in diese konstitutionellen Bahnen gelenkt wurde, wurde von den Linken nicht als Erfolg, sondern als ihr Abbruch interpretiert. Jens Hacke legt anschließend den Fokus auf die Erneuerungen des Liberalismus, für die die Novemberrevolution den Anstoß gab, und die im politischen Liberalismus trotz seiner politischen und strukturellen Marginalisierung in der Weimarer Republik fortwirkten. Die Hinwendung zur parlamentarischen Demokratie, Antitotalitarismus nach rechts und links und die Orientierung an einem staatlich und sozial eingehegtem Kapitalismus waren wichtige Pfeiler der Neuformulierung des Liberalismus nach dem Krieg. Die Novemberrevolution machte damit viele Liberalen zu Vordenkern und Praktikern des liberalen, demokratischen und wehrhaften Rechtsstaates mit ordnungspolitischem Auftrag. Kirsten Heinsohn wendet sich anschließend jener Gruppe zu, für die sich die Revolution als Zusammenbruch darstellen musste. Sie konstatiert zunächst, dass sich der Konservativismus und seine Trägerschichten schon vor der Revolution in der Defensive bzw. in Erosion befanden. Trotz der unmittelbaren Wahrnehmung der Ereignisse als Zusammenbruch sammelte sich das konservative Lager erstaunlich schnell und arrangierte sich mit den neuen Gegebenheiten wie Parlamentarismus und Frauenwahlrecht. Nicht, weil sie sie plötzlich befürworteten, sondern weil sie sie als Instrumente dafür sahen, ihre Argumente vorzubringen und gegen die Demokratie wirksam zu sein. Bei alldem verhinderte die Dolchstoßlegende eine Selbstreflexion darüber, was man selbst zum Kollaps des Ancien Régime beigetragen hatte. Anschließend widmet sich Peter Keller dem „Verhältnis zwischen demokratischem Staat und bewaffneter Macht in der Frühphase der Weimarer Republik“ und wendet sich gegen eine verengende Lesart des ‚Ebert-Groener-Paktes‘. Zwar sei korrekt, dass die Zusammenarbeit mit der alten militärischen Führung eine Reaktion auf einen ‚Anti-Chaos-Reflex‘ (Richard Löwenthal) sei. Dennoch seien damit keine zwingenden Pfadabhängigkeiten hin zu einer anti-republikanischen Armee verbunden. Stellt man beispielsweise in Rechnung, dass neben der OHL auch das

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Preußische Kriegsministerium unter Heinrich Scheüch ein wichtiger Akteur der militärischen Führung war, dass sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Aufgaben und den Aufbau der Reichswehr in der zu gründenden Republik kursierten und dass sich die Seeckt-Fraktion erst nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch durchsetzen konnte, dann ist eine realistische Chance zu konstatieren, dass sich unter Walther Reinhardt durchaus eine republiktreue Armee hätte formieren können. Der numerisch größten Bevölkerungsgruppe nimmt sich anschließend Ingrid Sharp in ihrem Beitrag über Frauen in der Revolution an und verknüpft ihre Betrachtungen bereits mit der Art und Weise der Erinnerung an die Revolution. Denn diese sei über Jahrzehnte, ebenso wie die Historiographie der Revolution, durch eine männliche Sichtweise geprägt gewesen und habe so zu einer völligen Marginalisierung der Rolle der Frauen in der Revolution geführt. Es liege an der Fragestellung, ob diese Rolle in den Blick gerate. Lege man einen stärkeren Akzent auf die Vorgeschichte der Revolution in der Streik- und Friedensbewegung im Krieg oder formuliere man stärker kultur- und sozialgeschichtliche als politikgeschichtliche Fragestellungen an die Revolution, komme man an der Rolle der Frauen nicht vorbei. Und auch die Politik der Revolution ist gefüllt mit Frauen, die im Rahmen der damaligen Möglichkeiten politisch aktiv wurden. Man muss sie nur sehen wollen, dann sieht man sie auch. Mit diesem Plädoyer für eine stärker an der Kulturgeschichte des Politischen orientierten Betrachtungsweise der Revolution geht der Band auch zu seinem dritten Abschnitt über, der diese Perspektive einnimmt. Den Auftakt bilden Wolfram Pytas ‚kulturhistorische Betrachtungen‘ zur ‚ästhetischen Mobilisierung‘ in der Revolution. Er nimmt dabei den Typus des Künstler-Politikers oder Politiker-Künstlers in den Blick, der nicht nur, aber besonders in München prägend für die ersten Monate der Revolution war. Die Wahrnehmung, dass die Demokratie und mit ihr ein neuer Humanismus nun unvermeidlich seien, ließ sie geradezu nach den Sternen greifen.21 In der Errichtung der sozialen Demokratie sahen sie mitunter die neue ‚Weltmission‘ Deutschlands. Im Zauber des Neuanfangs (Hermann Hesse) – oder, nüchterner, dem Traumland der Waffenstillstandsperiode – fassten sie Demokratie nicht nur als neue Staats-, sondern auch als neue Lebensform auf. Die Menschen würden nun wirklich zum citoyen im französischen Sinne werden, was auch den realen Erfahrungen des ‚empowerments‘ und der Partizipationserweiterung in den Räten und anderen revolutionären Handlungskontexten entsprach, die Menschen betraf, die nie zuvor eine politische Stimme hatten. Allerdings gingen mit diesen hohen Erwartungen die späteren Enttäuschungen Hand in Hand. Viel pragmatischer gestalteten sich dagegen die Erwartungshaltungen, die Nadine Rossol in ihrem Beitrag rekonstruiert. In einer politischen Kulturgeschichte ‚von unten‘ untersucht sie die Emotionen und Erwartungen gegenüber der Revolution, wie sie sich in der Selbstreflexion einer Gruppe Essener Volksschullehreranwärter, ihrer Lehrkräfte und anderer örtlicher Akteure darstellten. Zwar gab es auch offene Sympathie für   21 Vgl. hierzu, mit einer Einordnung in den mitteleuropäischen Kontext, auch Dikovich / Wierzock (Hrsg.) (2018): Von der Revolution zum Neuen Menschen.

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die Revolution, meistens handelte es sich aber um abwartende und sich anpassende Haltungen. Auch ein breites Spektrum emotionaler Selbst- und Fremdwahrnehmungen wird dabei von Nadine Rossol rekonstruiert. ‚An der Basis‘ erzeugte die Revolution also gemischte Gefühle, vorsichtigen Optimismus oder auch pragmatische Anpassung, aber auch hier ein breites Spektrum an Reaktionen, je nach eigenem Handlungskontext und Erfahrungsraum. Der Beitrag von Mark Jones widmet sich wieder stärker den revolutionären Ereignissen selbst und trägt dem Umstand Rechnung, dass mit der Revolution die Frage zentral wurde, wer zu welchen Zwecken die Massen mobilisieren und auf die Straße bringen konnte. Teil dieser ‚Straßenpolitik‘ waren die öffentlichen Trauerfeiern und Begräbnisse für Revolutionsgefallene, die schon in den ersten Revolutionswochen zu einem wesentlichen Element der öffentlichen Sinnstiftung und der ‚Codierung‘ der Revolution wurden – konnten sich die neuen Machthaber sich und ihr Handeln hier öffentlichkeitswirksam inszenieren. Analog zum Verlauf der Revolution konstatiert Mark Jones dabei, dass eine relativ einmütige Inszenierung und Interpretation einer zunehmenden Spaltung wich, vor allem, weil die weiter links stehenden Kräfte die Begräbnisse für ihre Art der Straßenpolitik zu nutzen versuchten. Trotzdem wurde in der Revolution mit den Begräbnissen ein republikanisches Zeremoniell ‚erfunden‘, das auch später, etwa nach der Ermordung Walther Rathenaus oder dem Tod Friedrich Eberts eine erhebliche republikanische Mobilisierungskraft entfalten sollte. Auf diesen Beitrag folgt schließlich der Aufsatz Heidrun Kämpers über die Sprache der Revolution. Aus Perspektive der historischen Linguistik wird hier gezeigt, wie sich Prozesse der De- und Re-Institutionalisierung sprachlich auswirkten, wie sich Statuszuschreibungen und -funktionen umkehrten oder verschoben und darin auch die gegensätzlichen Deutungen der Revolution offenbarten. Heidrun Kämper verdeutlicht dies an den Begriffen ‚Frau‘, ‚Obrigkeit‘ und ‚Fortschritt‘, vor allem aber mit Blick darauf, wie gegensätzlich der Begriff der Demokratie ausgedeutet wurde. Der vierte Abschnitt des Bandes widmet sich mit zwei Beiträgen der rechtswissenschaftlichen bzw. rechts- und ideengeschichtlichen Betrachtung der Revolution. Zunächst misst Manfred Baldus die Novemberrevolution am rechtswissenschaftlichen Revolutionsbegriff und kommt zu dem klaren Schluss, dass mit der Übertragung der Kanzlerschaft von Max von Baden auf Friedrich Ebert, aber auch mit dem gesetzgeberischen ‚Aufruf an das deutsche Volk‘ vom 12. November auf höchster Ebene ein Bruch mit dem Verfassungsrecht das Kaiserreichs vollzogen wurde und daher die Novemberrevolution im rechtswissenschaftlichen Sinne eine Revolution par excellence sei. Für die Zeitgenossen stellte sich aber damit auch die unmittelbare Frage nach der Geltung dieses revolutionär geschaffenen Rechts, und hier kommt Manfred Baldus zu dem Schluss, dass die Mehrzahl der Rechtsgelehrten in Folge jenes oben erwähnten Anti-Chaos-Reflexes und erleichtert durch den Rechtspositivismus kurzerhand von der Geltung dieses neuen Rechts ausgingen. Denn Recht sei nicht nur, was legal zustande gekommen ist, sondern auch, was faktisch durch die Inhaber der Staatsmacht durchgesetzt werden kann. Im Namen der Rechtssicherheit konnte hier kein Interesse bestehen, wider aller Realität von der Fortgeltung des kaiserlichen Verfassungsrechts auszugehen. Im darauffolgenden

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Beitrag widmet sich Daniel Siemens mit Erich Kuttner einem Rechtswissenschaftler, der zum Politiker wurde, und mit Walther Lamp’l einem Akteur der Revolution, der anschließend Doktor der Rechte wurde. Beide setzten sich mit den Geltungsfragen des revolutionären Rechts auseinander und bejahten emphatisch das neue Recht. In Fortführung ihrer Rechtskritik im Kaiserreich haderten sie auch mit den Beharrungskräften im Justizsystem und wiesen Wege zu seiner Demokratisierung auf. In ihrer persönlichen und öffentlichen Verarbeitung der Revolution blendeten sie allerdings – so Daniel Siemens abschließend – die gewaltsame Durchsetzung des neuen Rechts in den ersten Monaten und Jahren der Republik systematisch aus,22 was vor allem auf Erich Kuttner als ehemaligem Führer des ‚Regiments Reichstag‘ zutraf. Der fünfte und letzte Abschnitt des Bandes widmet sich dem Übergang vom Ereignis zum Erinnerungsort und der Entwicklung jener Erinnerung an die Revolution. Der literaturwissenschaftliche Beitrag von Helmuth Kiesel ist noch in der Weimarer Republik angesiedelt und gibt einen breiten Überblick über die literarische Verarbeitung der Revolution von den Revolutionsmonaten selbst bis 1933. Nach erster Euphorie setzen sich die negativen Deutungsangebote überall durch, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass gerade die Gegner der Republik gegen sie anschreiben. Rechts wie links wartete man noch auf die ‚echte‘ Revolution und stritt der stattgefundenen jeden Erfolg ab, machte sie lächerlich und desavouierte ihre Akteure. Weil sich ihr aber auch niemand im positiven Sinne annehmen wollte, geriet sie schon in den Jahren der Weimarer Republik zusehends in Vergessenheit, so Kiesel abschließend. Als nächstes wagt Karl Heinrich Pohl eine kontrafaktische Interpretation der besonderen Art und fragt danach, ob im Zuge der Revolution und Republikgründung nicht ‚zu viel Demokratie gewagt‘ wurde. Immerhin kam die neue Republik im Vergleich zum Kaiserreich einer Fundamentaldemokratisierung gleich, die große Teile der Bevölkerung überfordert habe. Den Wünschen und Vorstellungen der Mehrheit hätte in dieser Phase eine demokratische Reform der Monarchie(n) stärker entsprochen. So gründlich Karl Heinrich Pohl dieses Argument vorträgt und für alle Ebenen des Reiches durchaus überzeugend untermauert, so sehr muss aber auch in Rechnung gestellt werden, dass der revolutionäre Umbruch eine Art ‚Ereigniskaskade‘ (Kirsten Heinsohn in den Diskussionen unserer Tagung23) in Gang setzte, die die Option einer ‚konservativeren‘ Transformation schon deshalb unmöglich machte, weil nirgends das Personal für sie bereit stand. Von der ‚schädlichen‘ Revolution Pohls geht es zur ‚ungeliebten Revolution‘, die Wolfgang Niess diagnostiziert. Dabei legt er minutiös die Gründe dafür dar, dass die Revolution in keinem der beiden deutschen Staaten nach 1945 als Aufbruch in die Demokratie gewürdigt wurde. Für die SBZ bzw. DDR ist das klar, diente sie hier – wenn auch unterschiedlichen Konjunkturen folgend – als negativer Bezugs  22 Hier anschließend an die nicht unumstrittenen Deutungen bei Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. 23 Vgl. Wirtz (2018): Tagungsbericht.

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punkt zur Konstituierung des Selbstbildes der SED, das ‚verratene‘ Erbe der Revolution in ihrem Staat endlich realisiert zu haben. Aber auch in der Bundesrepublik war die Novemberrevolution von Beginn an ein zentraler Gegenstand geschichtspolitischer Kontroversen, vor allem hinsichtlich der Frage, ob und inwiefern sie eine zentrale Wegmarke auf einem deutschen Sonderweg gewesen sei. Erst seitdem es nach 1989 wieder stiller um sie geworden sei und zentrale Voraussetzungen ihrer ‚geschichtspolitischen Zurichtung‘ entfallen, bestehe nicht zuletzt aufgrund ihres Jubiläums die Chance, die Revolution stärker in den demokratischen Erinnerungshaushalt der Deutschen zu integrieren. Skeptischer äußert sich hier Martin Sabrow, zumindest wenn es um die Frage geht, ob sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Teil dieser Sinnstiftung machen sollten. Nachdem er den Gang der Novemberrevolution durch die deutsche Gedächtnisgeschichte rekonstruiert hat, plädiert Sabrow konsequent für den weiteren Kurs der Historisierung der Revolution, ohne dass dies zu einer neuerlichen Aktualisierung führen müsse. Neue Fragestellungen und neue Perspektiven gäbe es für die Wissenschaft genug, und es sei an der Zeit, auch die Revolution unabhängig von ihren Fluchtlinien auf 1933 als eigenständiges Phänomen zu betrachten. Damit schließt diese Bestandsaufnahme zu den Forschungen und Forschungsperspektiven zur Novemberrevolution. Klar wird damit zunächst, dass sie sich von ihrer Verankerung in und ihre Instrumentalisierung durch geschichtliche Großnarrative emanzipiert hat. Sie bleibt ein wichtiges, ja ein zentrales Ereignis in der deutschen (und europäischen) Geschichte, ohne dass sich deshalb aber an ihr oder an einzelnen Entscheidungen ihrer Akteure das Wohl und Wehe der deutschen Geschichte ‚von Luther zu Hitler‘ geschieden hätte. Ihre Akteure kommen daher zunehmend zu ihrem eigenen Recht und werden im Lichte ihres Erfahrungsraumes und Erwartungshorizontes, ihrer tatsächlichen und ihrer wahrgenommenen Zwangslagen und Handlungsmöglichkeiten beurteilt. All dies rekonstruiert die historische Forschung unterschiedlicher Disziplinen. Defizite, Versäumnisse, Fehlentscheidungen werden ihnen daher nicht mehr aus einer ex-post-Perspektive in die Schuhe geschoben, ganz so, als hätten sie wissen müssen, was passiert, wenn sie x statt y tun. Die ‚Ereigniskaskade‘ der revolutionären Phase von ca. 1917 bis ca. 1923 ist keine hermetische Kausalkette, sondern ein hochkomplexer, vernetzter und kontingenter Prozess, in dem neben dem ständigen Bemühen um das Vermeiden von Kontrollverlust vor allem die Dynamiken von Wahrnehmung und Kommunikation, von Fehlwahrnehmung und Fehlkommunikation eine zentrale Rolle spielten. Nach den historischen Großerzählungen gibt es auch keine verbindliche Interpretation der Revolution mehr, ja nicht einmal viele Angebote, wie sie aussehen könnte. Davon profitiert eine multiperspektivische und interdisziplinäre Sicht auf die Revolution, wie sie hier angeboten wird. Es sei nicht verschwiegen, dass die Herausgeber das dominante Interpretationsangebot, die Novemberrevolution als ‚Beginn der Demokratie in Deutschland‘ zu sehen, mit Sympathie betrachten. Abschließend noch ein Wort zum Wort Revolution, das in dieser Einleitung konsequent verwendet wurde. Die Historisierung der Revolution und die Vorsicht,

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zeitgenössisch umstrittene Quellenbegriffe nicht zu analytischen Begriffen zu machen, sollte in diesem Fall nicht so weit führen, dass wir aufhören, wissenschaftlich von einer Revolution zu sprechen, nur weil der Begriff auch von den Zeitgenossen verwendet wurde. Martin Platt hatte in seinem Beitrag zu einem früheren Band unserer Forschungsstelle so argumentiert und mit sehr beachtenswerten Argumenten dafür plädiert, dass es im Lichte einiger empirischer Revolutionstheorien fraglich sei, ob der ‚Umbruch‘ von 1918/19 überhaupt eine Revolution sei.24 Man solle den geschichtspolitisch kontaminierten und moralisch aufgeladenen Revolutionsbegriff lieber fallen lassen. Abgesehen davon, dass selbst in empirischen Revolutionstheorien immer auch normative Kriterien eingeschlossen sind, steht für uns jedoch nicht in Frage, dass die Veränderungen der Jahre 1918/19 revolutionären Charakter hatten. Sie waren in einem tiefgreifenden Sinne strukturverändernd, indem sie das politische System des Kaiserreichs durch das einer parlamentarischen Demokratie ersetzten und damit nicht nur verfassungsrechtlich und politisch etwas völlig neues schufen, sondern auch die normativen Grundlagen des Staates von den Prinzipien eines ‚Obrigkeitsstaates‘ hin zu denen eines ‚Volksstaates‘ (Hugo Preuß25) änderten. Erstmals kam in Deutschland das Prinzip der Volkssouveränität im staatsrechtlichen und im politischen Sinne zur Geltung. Man muss dabei nicht unbedingt so weit gehen, sie mit Hannah Arendt eine echte Freiheitsrevolution zu nennen, weil fraglich ist, wie viele der Revolutionäre tatsächlich von dem Willen zu politischer Freiheit und ihrer revolutionären Durchsetzung beseelt waren. An dem Ergebnis der Gründung einer modernen freiheitlichen Ordnung kann jedoch kein Zweifel bestehen. All das ist im politikwissenschaftlichen Sinne eine Revolution, selbst wenn es die Zeitgenossen auch so sahen… LITERATUR Behne, Adolf (Hrsg.): Das politische Plakat, hrsg. in amtlichem Auftrag. Charlottenburg 1919. Braune, Andreas / Hesselbarth, Mario / Müller, Stefan (Hrsg.): Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922. Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus? (= Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 3), Stuttgart 2018. Dikovich, Albert / Wierzock, Alexander (Hrsg.): Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaft und Literatur. (= Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 5), Stuttgart 2018. Dreyer, Michael: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten. (= Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 4), Stuttgart 2018. Gallus, Alexander (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19. Göttingen 2010. Ders.: Auf dem Weg zur Reaktualisierung durch Historisierung. Die vergessene Revolution von 1918/19 revisited. In: Dreyer, Michael / Braune, Andreas (Hrsg.): Weimar als Herausforderung. Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert (= Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 1), Stuttgart 2016, S. 9–22. Gerwath, Robert: The Vanquished. Why the First World War failed to end. New York 2017.

  24 Vgl. Platt (2017): Die unerklärte Revolution. 25 Vgl. hierzu Dreyer (2018): Hugo Preuß, S. 316–328.

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Ders.: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit. München 2018. Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017. Müller, Tim B.: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburg 2014. Ders. / Tooze, Adam (Hrsg.): Normalität und Fragilität: Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2015. Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19: Der wahre Beginn unserer Demokratie. Berlin u. a. 2017. Platt, Martin: Deutschland 1918/19. Die unerklärte Revolution. In: Braune, Andreas / Dreyer, Michael (Hrsg.): Republikanischer Alltag. Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität. (= Weimarer Schriften zur Republik, Bd. 2), Stuttgart 2017, S. 3–18. Rosenberg, Arthur: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Berlin 1928 (auch Karlsbad 1935 und zahlreiche spätere Auflagen). Ruge, Wolfgang: Weimar. Republik auf Zeit. [Ost-]Berlin 1969. Stalmann, Volker: Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64 (2016), H. 6, S. 521–541. Weinhauer, Klaus / Heinsohn, Kirsten / McElligott, Anthony (Hrsg.): Germany 1916–23. A Revolution in Context. Bielefeld 2015. Wirsching, Andreas / Kohler, Berthold / Wilhelm, Ulrich (Hrsg.): Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie. Ditzingen 2018. Wirtz, Verena: Tagungsbericht: Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, 24.11.2017 – 26.11.2017 Weimar. In: H-Soz-Kult, 12.01.2018, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7488, Zugriff am 9.10.2018. Wrobel, Ignaz (= Kurt Tucholsky): Das politische Plakat. In: Die Weltbühne 15 (1919), Nr. 35, S. 239–240.

VOM KAISERREICH ZUR NOVEMBERREVOLUTION

GEBURTSHELFER DER DEMOKRATIE? Prinz Max von Baden – der letzte Kanzler des Kaisers Lothar Machtan Für meinen Aufriss einer komplexen politischen Problematik1 habe ich drei Leitperspektiven gewählt: Erstens, was hatte der süddeutsche Thronprätendent im Herbst 1918 überhaupt in die Reichspolitik einzubringen? Zweitens, wie hat sein wichtigster politischer Partner, die Mehrheitssozialdemokratie unter Friedrich Ebert, das Potenzial dieser speziellen Kanzlerschaft eingeschätzt und zu entfalten versucht? Und drittens, was hat die breite Masse des Volkes von der Regierung des Prinzen Max gehabt? 1. DIE AUSGANGSKONSTELLATION Deutschland im Spätsommer 1918: Das Bismarckreich in seiner bislang schwersten Krise. Der Weltkrieg ist nach dem Scheitern der halsbrecherischen Offensiven an der Westfront politisch sinnlos geworden. Die militärische Niederlage unabwendbar; man kann sie nur mehr verschleppen – günstigstenfalls die Kapitulation abwenden. Die Demokratie ist unaufhaltsam im Vormarsch; die Politisierung der unzufriedenen, weil kriegsmüden und ausgelaugten Volksmassen in vollem Gange. Offen bleibt, wie radikal, wie revolutionär sich diese latente Protestbewegung artikulieren wird. Der monarchische Machtstaat besitzt zwar noch eine funktionierende Bürokratie und das Gewaltmonopol, aber er besitzt schon lange keine politische Führung mehr. Der regierende Monarch ist zum Schattenkaiser geworden; der monarchische Gedanke verliert seine Magie. Diese Lage konfrontiert die politischen Entscheidungsträger mit der Notwendigkeit, zielführende Entscheidungen zu treffen, vor allem über brauchbare Schritte zur Kriegsbeendigung und die Zukunft der politischen Ordnung im Reich. Die Zeit ist im Begriff, aus den Fugen zu geraten, aber noch ist alles offen.   1

Bei dem Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung meines Weimarer Vortrags am 24.11. 2017. Es sind Gedankenskizzen entlang der Linien, die ich diesen drei Büchern breit gezogen und im Detail belegt habe: Lothar Machtan, Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen. 3. Auflage München 2009; ders.: Der Endzeitkanzler. Prinz Max von Baden und der Untergang des Kaiserreichs, Darmstadt 2018 (erweiterte Neuauflage der Erstausgabe von 2013); ders.: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018. Auf Einzelnachweise wird deshalb im Folgenden verzichtet.

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Lothar Machtan

2. DIE BEIDEN PROTAGONISTEN 2.1 Prinz Max von Baden Max von Baden hat die politische Bühne nicht als brüllender Löwe eines Systemwechsels betreten. Sondern mit einer deutschen Macht-Utopie, die er „ethischen Imperialismus“ nannte. Als angeblich weltgewinnendes Regierungsprogramm war es ihm insinuiert worden von – heute würden wir sagen – Spin Doctors. Max sollte/wollte retten, aber nicht das deutsche Volk. Er verstand sich eher als neue, weil unverbrauchte Ressource zum Erhalt der tradierten Macht. Im Übrigen stellt seine Kanzlerkandidatur einen klassischen Fall von politischer Selbstüberschätzung dar. Der Prinz besaß kaum echtes Wissen um Deutschlands militärische und politische Lage. Dafür aber die Illusion eines – gewissermaßen – gefühlten Verstehens der Großen Politik. Und den übertriebenen Optimismus, durch den Einsatz seiner speziellen Persönlichkeit große politische Ziele erreichen zu können. Was ihn darüber hinaus in den öffentlichen Raum trieb, war der sehnliche Wunsch, sich endlich einmal auszuzeichnen, nachdem er in seiner Eigenschaft als General im Kriegsdienst katastrophal versagt hatte. Dabei profitierte er von dem sozialen Kapital an politischen „Freunden“ und anderen Förderern, die sich seit Sommer 1917 um seine illustre Persönlichkeit geschart hatten. Ende August 1918 hatte er sich persönlich bei Ludendorff und Wilhelm II. um eine Führungsrolle beworben. Nicht zuletzt mit der Selbst-Referenz, er könne der Entente mit der internationalen Reputation seiner Persönlichkeit noch einen halbwegs verträglichen Verhandlungsfrieden abringen und die Parlamentarisierung des deutschen Regierungssystems mit dem Chrisma, aber auch dem Karma seiner Führungsqualitäten aufhalten. Ändern wollte er nicht die politische Ordnung; ändern wollte er das politische Ambiente des Machtstaates. Mit neuem Führungspersonal und neuem Politikstil sollte es sein Bewenden haben, aber natürlich volksfreundlicher. Ein kosmetischer Wandel des politischen Gesichts Deutschlands – damit glaubte er, dem Kaiserreich wieder mehr Vertrauen einwerben zu können, im Innern wie nach außen. In der Umsetzung stand Max freilich vor einer Quadratur des Kreises: Denn er musste nicht allein Kaiser und Oberste Heeresleitung hinter sich bringen, also die Säulen der Autokratie. Er musste auch die nötige Reichstagsmehrheit für sich gewinnen – also diejenige Kraft, die er eigentlich als politischen Bestimmungsfaktor ausschalten wollte. Denn er war ein erklärter Feind der parlamentarischen Demokratie. Weder Wilhelm II. noch die OHL hatten zunächst von einem Reichskanzler Max von Baden etwas wissen wollen. Ganz im Gegenteil. Dass er am 1. Oktober dann doch designiert wurde, geht maßgeblich auf eine Panikhandlung Ludendorffs zurück, der den Prinzen beim Kaiser mit Brachialgewalt durchdrückte: Nur ein sofortiges Waffenstillstandsgesuch beim US-Präsident könne jetzt noch die militärische Katastrophe abwenden. Und das bedürfe der Unterschrift eines vorzeigbaren neuen Regierungschefs, wofür im Augenblick allein Max von Baden zur Verfügung stehe. In Berlin musste der nun endlich offiziell Gerufene sofort feststellen, dass ein politischer Gestaltungsspielraum für ihn nicht existierte. Er sollte nicht führen,

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diplomatisch verhandeln, wegweisende Reden halten; man wollte sich seiner bedienen. Dabei hatten sich so große öffentliche Erwartungen an seine Kanzlerschaft geheftet.

Abb. 1: „Der neue Kanzler“2

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In: Simplicissimus, 23 (1918), Nr. 31. Bildunterschrift: „Was ich will, ist ein ehrlicher, dauernder Friede für die gesamte Menschheit.“

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Der Wechsel von dem schöngeistigen kontemplativen Feld seines prinzlichen Daseins in das Kampffeld der Politik hätte drastischer nicht ausfallen können. Mit dem Mut andauernder Verzweiflung hat der Kanzler ohne Macht in den nächsten Wochen versucht, aus dieser Zwangslage herauszukommen. Die Mittel, die er dabei anwandte, waren speziell. Stichwortartig seien hier die drei wichtigsten genannt: 1) Auslagerung der regierungspolitischen Kernfragen aus Kabinett und Bürokratie in einen informellen Beraterkreis. 2) Einflößen von Selbstvertrauen in seine staatsrettende Rolle durch Selbstverklärung und die Einnahme von Psychopharmaka. 3) Innerliches und informelles Abrücken vom offiziellen Kurs seiner Regierung. Außerdem hielt er an der Vorstellung fest, den deutschen Kaiserthron seinem Vetter Wilhelm II. tatsächlich erhalten zu können – in Missachtung der öffentlichen Meinung und der klugen Ratschläge aufrichtiger Monarchisten. Sein politisches Heil suchte er in dem Plan, die Monarchie mit Unterstützung der MSPD zu retten. In Gestalt einer Doppelstrategie: Er legte Wilhelm II. auf Reformen der Reichsverfassung – zumindest verbal – fest, während er seine Kabinettsmitglieder zur Loyalität gegenüber dem von Haus aus antidemokratischen Staatsoberhaupt verpflichtete. Doch nach der dritten Wilson-Note gab es in der politischen Klasse keinen Zweifel mehr daran, dass man einen Reichsverweser benötigte, also eine Art Ersatzkaiser, um die deutsche Monarchie noch zu erhalten. Gehandelt wurde vor allem: Reichskanzler Max von Baden. Der aber wollte unbedingt dem Kaiser, seinem Vetter, die Initiative zu dessen Abdankung zuspielen. Zugleich musste er Wilson demonstrieren, dass seine Regierung politikfähig war. Dieser Machtbeweis wurde auch angetreten: durch die verfassungsmäßige Einschränkung der kaiserlichen Kommandogewalt und durch die Entlassung von Ludendorff. Freilich merkte man diesen Maßnahmen nur zu deutlich an, dass sie von außen erzwungen waren. Und mit seinem Bemühen, den Reichsmonarchen selbst zum spiritus rector eines solchen Revirements zu stilisieren, hat Max sich gänzlich um den politischen Effekt seiner Taten gebracht und – die Überlebenschancen des Kaiserreiches eher verringert. Denn Ende Oktober 1918 führte kein Weg mehr an der Einsicht vorbei, dass auch das Image der Berliner Reichsleitung nur mehr durch einen sofortigen Thronwechsel vor weiterem Schaden zu bewahren war. Doch erst am 29. Oktober mochte sich der deutsche Reichskanzler überhaupt zur Notwendigkeit einer Abdankung von Kaiser und Kronprinz bekennen. Das war, nachdem Wilhelm II. bei Nacht und Nebel aus Potsdam ins Große Hauptquartier nach Belgien geflohen war, um unter den Fittichen Hindenburgs Schutz vor regierungspolitischen Zudringlichkeiten zu suchen. Eine unerhörte Provokation des politischen Berlins. Bei auch nur etwas Machtbewusstsein hätte Max von Baden den flüchtigen Kaiser am kommenden Tag für abgedankt erklären müssen und können – wegen Regierungsunfähigkeit und Pflichtverletzung. Durch eine solche Überrumpelung hätte er seinen Vetter vor vollendete Tatsachen gestellt und das Heft des Handelns in die Hand bekommen. Stattdessen weigerte der Kanzler sich weiterhin, den Thronverzicht zu erzwingen – obwohl er ihn wollte. Aus diesem selbstverschuldeten Teufelskreislauf sollte er nicht mehr herausfinden. Es war vor allem diese Blockierung eines rationalen Krisenmanagements durch Max von Baden, die dann in den nächsten Tagen zum Einsturz monarchischer Macht schlechthin führte. Denn nur so konnte sich das persönliche

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Versagen Wilhelms II. zu einem Staatsversagen auswachsen. Mithineinspielende Rücksichten monarchistisch-dynastischer Art machten das Dilemma perfekt.

Abb. 2: „The Actors“3

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In: Punch, or the London Charivari, Vol. CLV (July–December 1918), S. 285. Bildunterschrift: „Max Antony. ‚Friends, neutrals, enemies, lend me your ears! I come to bury Caesar, not to praise him.‘ Caesar (aside). ‚I call this a rotten play!‘“

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2.2 Friedrich Ebert Dass Ebert zum wichtigsten Weggefährten des Prinzen Max wurde, kam nicht von ungefähr. Denn vier zentrale Faktoren haben im Herbst 1918 Eberts Handeln bestimmt: sein Vernunft-Monarchismus, sein „Eheversprechen“ gegenüber Max von Baden, seine Bolschewismus-Furcht und nicht zuletzt sein aufrichtiges Verpflichtungsgefühl gegenüber dem Vaterland. Ebert war Patriot, aber nicht weniger Sozialdemokrat. Sein politisches Ziel blieb der evolutionäre Weg zum parlamentarisch demokratischen Volksstaat. Dabei vertraute er auf die andauernde Stabilität der monarchischen Ordnung. Wenn schon Revolution, dann nur eine staatlich gesteuerte, eine obrigkeitliche sozusagen. Dafür musste aber dem rasenden Imageverfall der Institution Monarchie entgegengewirkt werden. Mit Kaiser Wilhelm an der Staatsspitze befürchtete Ebert zu recht einen weiteren Verfall der Staatsautorität. Eine geheime Begegnung zwischen Ebert und Max von Baden Mitte September eröffnete ersterem die ungeahnte Chance, mit einem offenbar aufgeschlossenen Vertreter des alten Herrschaftssystems gemeinsame Sache zu machen, ohne sich dabei allzu viel zu vergeben. Ein informelles Schutz- und Trutzbündnis kam zustande mit der Zielsetzung: 1) die Kanzlerschaft des Prinzen zu unterstützen, der dafür mit dem Parlament zusammenzuarbeiten versprach; 2) mit Scheidemann einen führenden Sozialdemokraten in der Regierung zu etablieren, dessen Ernennung die Fähigkeit der früheren Vaterlandsfeinde zu konstruktiver Staatspolitik ein für alle Mal sanktionierte; 3) die nationale Front gegen einen ‚Frieden um jeden Preis‘ zu stärken. Für diesen guten Draht zwischen dem Vorsitzenden der stärksten Partei des deutschen Reichstags und einem Kanzler der vielleicht ungeahnten Möglichkeiten aus dem Establishment zeigte sich Ebert bereit, den Vertrauenskredit, den seine Partei noch in der Arbeiterschaft hatte, der neuen Reichsleitung zur Verfügung zu stellen. Eberts entschiedene Befürwortung einer sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung war hauptsächlich von der Sorge diktiert, das Kaiserreich würde einen weiteren Verlust an Vertrauen in seine Staatsregierung nicht mehr verkraften. In dieser Notlage sah er seine Partei in der Pflicht, einen tatsächlich selbstlosen Beitrag zur Festigung der politischen Ordnung zu leisten: durch eine Art Bürgschaft für den gedeihlichen Fortgang der Regierungsgeschäfte. Dafür bedurfte es einer vollstreckenden Gewalt, die man dem Volk als vertrauenswürdig hinstellen konnte. Deshalb wurde für die Regierung Max von Baden eigens der Begriff Volksregierung erfunden – ein Begriff, der politische Erwartungen wecken sollte. Erwartungen, die man freilich politisch nicht bedienen konnte, weil Ebert dem neuen Regierungschef gar kein einklagbares Demokratie-Versprechen abgerungen hatte, als er sich ihm an die Seite stellte. Unbeschadet der Tatsache, dass die alten Gewalten in Deutschland Anfang Oktober 1918 immer noch die entscheidenden Machtstellungen innehatten – und, dass sie dem Verfall geweiht waren. Denn ihre Autorität war im Volk längst untergraben. Einen Mangel an Verantwortungsgefühl kann man Ebert gewiss nicht nachsagen, aber einen Mangel an eigenen gestalterischen Ideen. Obwohl seiner Partei gleichsam über Nacht ein enormer politischer Machtzuwachs beschert worden war,

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hat Ebert es versäumt, die sich daraus ergebenden Handlungschancen operativ zu nutzen. Er blieb Gefangener seines unbedingten Willens zum Erhalt des bestehenden Staates. Und fixiert auf seine Annahmen über die unzureichenden Fähigkeiten des eigenen Volkes zur Selbstherrschaft. Die Errichtung einer politischen Ordnung, in der alle öffentliche Macht allein auf dem Willen des souveränen Volkes ruhte, lag außerhalb seines Horizonts, und auch des konkreten Strebens seiner Parteiführung. Oberste Priorität hatte für Ebert (wie übrigens auch für Max) die Reanimation des Burgfriedens von 1914. Der von Kapitulations- und Revolutionsfurcht geplagte Parteiführer wollte das Kaiserreich nicht untergehen lassen. Und er glaubte fest daran, dass es gelingen könnte, staatliche Tradition und demokratische Erneuerung miteinander zu versöhnen. Nach Aufhebung einiger Schranken für die Entfaltung von mehr Demokratie – so seine Überlegung – hätten die Arbeiter jetzt ein Vaterland im besten Sinne des Wortes zu verteidigen. So nachvollziehbar dieses Projekt auch war, alternativlos war es nicht; auch nicht moralisch zwingend. Aber für Ebert waren Alternativen damals tatsächlich ausgeschlossen. Zum einen, weil er die heillose Vermorschung des Bismarckschen Staatsgefüges nicht wahrhaben wollte. Zweitens, weil er das Risiko eines politischen Konfrontationskurses weit mehr scheute als den Ansehensverlust seiner Partei durch die Konnivenz gegenüber einem Regime, das sich als solches überlebt hatte und immer noch bleiern auf die politische Kultur des Landes drückte. Und drittens, weil er die ganze Dimension der übernommenen Aufgabe nicht durchdacht hatte. Dafür war er zu wenig Analyst der politischen Strömungen in Deutschland. So ist im Oktober 1918 ein prinzipiell möglicher Politikwechsel unterblieben. Mit nachhaltiger Kollateralwirkung. Denn schon bald sollte sich zeigen: eine echte Machtoption war die Ebertsche Selbstbindung an die Regierung Max von Baden nicht; ein erfolgversprechender Weg zu einem erträglichen Frieden auch nicht. Zwar hatte sich die organisierte Arbeiterbewegung jetzt mit nachgerade historischer Wucht in den Kern des politischen Systems geschwungen, aber gestaltungsbildend einzugreifen in die Agenda des Politikmachens, das vermochte sie selbst jetzt kaum. Letztlich hat dieses Bündnis nur dazu beigetragen, den Zerfallsprozess des Bismarckreiches für ein paar Wochen zu entschleunigen. Bis November 1918 stand Ebert zwischen den eher revolutionären Ambitionen der Straße und dem letzten politischen Aufgebot des Kaiserreichs. Irrig war seine Annahme, die Regierung Max von Baden würde sich tatsächlich über kurz oder lang als Volksregierung im öffentlichen Bewusstsein verankern. Nach 10 Tagen Mitregieren hatte die MSPD bereits die politische Deutungshoheit über die Lage verloren: zum einen an US-Präsident Wilson, zum andern an die USPD. Und an die normative Kraft des Faktischen: Die Demokratie war für die breite Öffentlichkeit in Deutschland keine massenhaft erfahrbare Wirklichkeit geworden. Sie blieb ein mehr oder weniger leeres Versprechen. Während Ebert noch Ende Oktober im Reichstag den Regierungsantritt des Prinzen Max als „Geburtstag der deutschen Demokratie“ feierte, war die reale Politikgeschichte schon längst vorangeeilt, ja zum Showdown geworden. Und je mehr die MSPD-Propaganda den Regierungswechsel zum Regime-Wechsel überhöhte, umso leichteres Spiel hatte die USPD,

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die sogenannten Monarcho-Sozialisten als Scheindemokraten anzugreifen und ihr als politische Führungskraft den Rang abzulaufen. 2.3 Zwischenfazit Das gemeinsame Projekt Baden-Ebert taugte nur für die Öffnung eines schmalen Zeitfensters für nachhaltige Reformpolitik. Diese unwiederbringliche Chance Anfang Oktober 1918 haben sie liegen gelassen. Sie hätten die deutsche Monarchie retten können – aber nur durch ihre Versöhnung mit der Demokratie, ohne den unsäglichen Kaiser Wilhelm. Das unterblieb ebenso wie die Schärfung des Verantwortungsbewusstseins in der Wilhelmstraße gegenüber den Erwartungen der Regierten. Schon Ende Oktober war mit der neuen alten Reichsleitung kein Staat mehr zu machen. Wer das nicht sehen wollte, der wurde zum Konkursverschlepper. 3. POLITISIERUNG UND GEGENÖFFENTLICHKEIT Zum Schluss noch ein Blick auf die turbulenten Zustände jenseits des Staatspolitischen. Es war die USPD, die der massiven Unzufriedenheit einer wachsenden Mehrheit des deutschen Volkes seit Spätsommer 1918 einen politisch immer prägnanteren Ausdruck verlieh. Mutig hat sie dabei öffentliche Räume besetzt und Wege zur massenhaften Aneignung von demokratischen Rechten wie Demonstrations- oder Redefreiheit gebahnt – illegale Wege. In der Arbeiterbewegung ist dadurch seit den Januarstreiks wieder der Mut gewachsen, der herrschenden Macht entgegen zu treten und ihr das Meinungsmonopol durch eine Art Gegenöffentlichkeit streitig zu machen. Und sie bewirkte einen nachhaltigen Politisierungsschub nach links – mit dem Ergebnis, dass aus der Krise des monarchischen Regimes eine Aufbruchskrise wurde. Dabei trat die Konfliktlinie zwischen der Beschwichtigungspolitik der MSPD und der Vorwärts-Strategie der USPD schärfer denn je hervor. Die USPD profitierte am meisten von der desolaten Gesamtlage der Bevölkerung im Laufe des Jahres 1918. Ein Übriges taten Wilsons Noten mit ihrer deutlichen Kritik an der andauernden Machtbefugnis unverantwortlicher Entscheidungsträger in Deutschland. Auch eher bürgerlich-pazifistische Kreise forderten jetzt eine Umgestaltung der staatlichen Verhältnisse im Sinne einer echten Demokratie. Der hatte die sogenannte Volksregierung aus eigenem Antrieb eben keinen frischen Sauerstoff zuführen können. Und selbst das, was sie reformpolitisch überhaupt tat, tat sie de facto gar nicht im Namen der deutschen Demokratie, sondern nach Maßgabe ihrer fremdbestimmten politischen Vorgaben. Leitbilder wie Pluralismus oder Toleranz blieben ihrer Agenda dauerhaft fremd. Schlussendlich war dem Regierungschef das Vertrauen des Kaisers bis zuletzt wesentlich wichtiger als das des Volkes. Das sollten ihm ja andere einwerben, namentlich Eberts Sozialdemokratie, was aber nahezu unmöglich war.

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Denn wie sollte zum Beispiel erklärt werden, dass eine Regierung des Volkes und des Volksvertrauens eben dieses Volk bei öffentlichen Veranstaltungen nach wie vor polizeilich überwachen ließ, oder solche Versammlungen mit fadenscheinigen Begründungen sogar auflöste? Dass sie weder Demonstrationen erlaubte, noch die Pressezensur aufhob? Dass sie über den Ernst der militärischen Lage, das heißt über die bevorstehende Niederlage im Weltkrieg niemals Klartext sprach? Und sogar die Option einer levée en masse nicht kategorisch ausschließen wollte. Deshalb hat die deutsche Reichsleitung im Oktober 1918 auch so gut wie nichts dazu beitragen können, die enormen sozialen und politischen Spannungen zu entschärfen, die sie bei ihrem Antritt vorfand, und denen sie nicht zuletzt ihre Daseinsberechtigung verdankte. Vielmehr hatte sie den Eindruck verstärkt, dass sich das alte Herrschaftssystem mit ihrer Hilfe über seine existenzielle Krise hinwegretten wollte. Mehr noch, dass sie aus den patriotischen Affekten in der deutschen Kriegsgesellschaft politisches Kapital für das monarchische Prinzip schlagen wollte. Das Ergebnis war: Frustration. Und ein umso größerer Hunger nach sofortigem Frieden und grundstürzenden politischen Veränderungen. Nachdem Ebert mit seiner fatalen Selbstbindung an den Prinzen Max die politische Schwungkraft seiner Partei so nachhaltig gelähmt hatte, musste der Impuls dafür von anderen Kräften ausgehen. 4. FAZIT Als bewusst installiertes Provisorium, als erklärter Übergang zu einer parlamentarisch-demokratisch geprägten Staatsform mit neuer monarchischer Spitze hatte das Kabinett des Prinzen Max von Baden im Herbst 1918 durchaus eine politische Existenzberechtigung. Da sie genau das aber nach Maßgabe seiner politischen Erfinder nicht sein durfte und ihrem Selbstverständnis nach auch nicht sein wollte, erfuhr sie schon bald einen grassierenden Ansehens- und Vertrauensverlust. Das wiederum düpierte Ebert und seine Partei. Denn die hatten der Regierung Max von Baden vorschnell ein Gütesiegel verliehen, das sich für das breite Volk als Etikettenschwindel erwies. Sie hatten politische Erwartungen geweckt, die eine kaiserliche Regierung nicht bedienen konnte, und die deshalb schwer enttäuscht wurden, zumal es überaus berechtigte Erwartungen waren. Da vermochten auch die Verfassungsreformen der letzten Oktobertage keinen Stimmungswandel mehr herbeizuführen. Man glaubte der Regierung nicht. Deshalb konnte sie auch den Massenprotest gegen den preußisch-deutschen Machtstaat nicht mehr auffangen. Vielmehr griff die Destabilisierung nur noch weiter um sich. Der Kieler Matrosenaufstand markiert den Anfang vom Ende. Der basisdemokratische Wille der Marinesoldaten zur Aushebelung des Wilhelminischen Machtstaates und zur Negierung seines Autoritätsanspruchs war jetzt das Fanal eines wirklichen Aufbruchs in eine neue Zeit. Er war der unverzichtbare Impuls zur endgültigen Erzwingung von echter Demokratie und Freiheit in Deutschland. Die Regierung Max von Baden musste gestürzt werden, weil das Volk ihr am Ende genauso misstraute wie vice versa. Es handelt sich um eine Revolution, getragen von

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dem erklärten Wunsch, „frei zu handeln“ und etwas grundlegend „Neues“ zu begründen – wie Hannah Arendt den Wesenskern von Revolution definiert hat. Und dennoch war diese Revolution nur eine mögliche Antwort auf den rasend schnellen Verfall staatlicher Autorität im Herbst 1918. Eine andere war, der zerfallenden Autorität wieder zu mehr Stabilität zu verhelfen – durch massenhaft erfahrbare vertrauensbildende Maßnahmen. Aber das hätte nur noch ein glaubwürdiges Volkskaisertum zuwege gebracht als Symbol einer echten Versöhnung von demokratischer Freiheit mit einer monarchischen Staatsspitze, die die Zeichen der Zeit erkannte. Dafür fehlten in Berlin am Ende sämtliche Voraussetzungen, nicht zuletzt das Personal. 5. PARADOXIEN: EINE NOTWENDIGE NACHBEMERKUNG Bis zum 8. November hatte in der Reichshauptstadt Berlin alles darauf hingedeutet, dass die deutsche Militärmonarchie allein durch einen bewaffneten revolutionären Volksaufstand zu besiegen war. Und auf einen solchen gewaltsamen Umsturz hatte der linksradikale Flügel der Arbeiterbewegung seit Oktober mehr oder minder zielstrebig hingearbeitet. Doch dann kam alles anders, weil sich Monarchie und Militär in buchstäblich letzter Minute aus der Schusslinie nahmen und der Straße die Verfügungsgewalt über das weitere politische Geschehen überließen. Innerhalb von nicht einmal 24 Stunden waren die alten Machthaber am 9. November von der politischen Bühne komplett verschwunden. Dafür hatten sich die revolutionsbereiten Massen doch nicht vorbereitet und todesermutigt, dass ihnen der Sturz der einst mächtigsten Militärmonarchie gleichsam geschenkt wurde, dass ihr politischer Erzfeind den Kampf verweigerte und ihnen widerstandslos die Macht im Reich überließ, dass das Entscheidende zur deutschen Republik ausgerechnet die fahnenflüchtigen Protagonisten des monarchischen Systems beigetragen hatten. Bei aller Freude über den gewaltfreien Sieg, über die bedingungslose Kapitulation der bis dato Herrschenden blieb da auch ein Rest von Düpierung und Unterforderung. Ein geschenkter Sieg ist eben kein echter Sieg. Und keine angemessene Belohnung für revolutionäre Anstrengungen. Das war auch deshalb fatal, weil durch den feigen Abgang sämtlicher Repräsentanten des Obrigkeitsstaates wie von Zauberhand auch ein zentrales politisches Feindbild von der Bildfläche verschwand, mit dem die proletarische Gegenmacht gerade in den letzten drei Monaten erbittert gerungen hatte – ideologisch, rhetorisch und auf der Ebene des politischen Kleinkriegs mit Polizei und Justiz. Aber auch mit dem deutschen Kaiser, der zuletzt in so hohem Maße die Verbitterung des Volkes auf sich gezogen hatte. Das war frustrierend, dieses Vakuum. Denn jede erfolgreiche Revolution braucht doch ein Hassobjekt, an dem sie sich abarbeiten, mit dem sie „abrechnen“ kann. Ich frage mich deshalb, ob diese mentalitätsprägenden Vorgänge nicht stärker als bislang zur Erklärung des spezifischen Fortganges der deutschen Revolution seit Dezember 1918 herangezogen werden sollten. Wenn man eben jenes „Naturereignis“ der deutschen Republik in Rechnung stellt, die als Begleiterscheinung des Einsturzes der deutschen Monarchie fast ebenso lautlos auf

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die Welt kam, wie letztere daraus verschwand. Die dem monarchischen Machtstaat nicht im revolutionären Kampf abgerungen worden, sondern plötzlich einfach da war. Weil der Urknall der deutschen Revolution so vergleichsweise still, die Machteroberung in Berlin oder München – und auch anderswo – so unwahrscheinlich gewaltfrei über die Bühne ging, musste sich das angestaute revolutionäre Potenzial wohl ein neues Ventil, neue Feinde suchen – und das wurde dann wohl der zusehends brutalere Bruderkrieg im Lager der republikanischen Insolvenzverwalter.

EINE POLITISCHE REVOLUTION DER STÄDTEVIELFALT Die deutsche Republikgründungszeit 1918/19 auf kommunaler Ebene Detlef Lehnert Wer von europäischen Revolutionen reden will, sollte über Stadt-Land-Differenzen nicht schweigen. Inzwischen finden Metropolen-Provinz-Gegensätze gerade auch wegen aktueller Problemlagen (besonders im Zusammenhang mit dem Rechtspopulismus) wieder die ihnen gebührende Beachtung. Tatsächlich waren die nach Theoremen von Lipset / Rokkan gesondert zu betrachtenden Trennlinien1 zwischen modernen gewerblichen und traditionellen agrarischen Wirtschaftssektoren einerseits sowie Zentrum und Peripherie andererseits revolutionsgeschichtlich meist ineinander verflochten. Der historisch klassische Fall sind die metropolenzentrierten Pariser Revolutionen von 1789 bis 1871. Aber auch Moskau und Petrograd waren 1917 noch ähnlich stark gegenüber Gesamt-Russland kontrastiert. Dem Stichwort „Novemberrevolution“ viel näher liegt der hierzulande wenig genutzte Vergleich mit der parallelen österreichisch-ungarischen Revolution 1918/19. Dort war tatsächlich das Geschehen in den Hauptstädten Wien und Budapest zunächst bestimmend und das Struktur- und Mentalitätsgefälle gegenüber ländlich-agrarischen Räumen weiterhin besonders gravierend. Sogar in Norddeutschland lieferten nicht die Küstenstädte mit den Matrosenrevolten die frühesten Schlagzeilen. „Revolution in Wien“ stand bereits am 1. November 1918 in Großbuchstaben z. B. auf dem Titelblatt der mehrheitssozialdemokratischen „Volksstimme“ in Magdeburg.2 Und „Revolution in Budapest“ sowie „Die Republik ist auf dem Marsche“ lauteten dort auch die – nachfolgende deutsche Ereignisse anbahnenden – Zwischenüberschriften ebenso auf der ersten Seite. Die Novemberrevolution in München – kurz vor jener in Berlin – folgte auch wesentlich dem Wiener Impuls, so wie die kurzlebige Münchner Räterepublik im Frühjahr 1919 an jene in Budapest anschloss.

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Lipset / Rokkan (1967): Cleavage Structures. Volksstimme Nr. 257 v. 1.11.1918. Ähnlich Hamburger Echo Nr. 257 v. 1.11.1918: Die Revolution in Österreich.

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1. ZUR SCHWIERIGEN VERORTUNG EINER STÄDTEGESCHICHTE 1918/19 Eine vergleichende Geschichte deutscher Länder3 stößt auch in der Republikzeit an Grenzen der aus dem Kaiserreich übernommenen Dominanz Preußens. Dort lebten gemäß Volkszählung am 8. Oktober 1919 allein schon 62 % der Bevölkerung. Zusammen mit den beiden nächstgrößten Ländern Bayern und Sachsen waren es sogar mehr als 81 %. Einzig mit der Neubildung Thüringens gelang 1920 eine Reduzierung der übrigen 22 kleineren Länder auf 15 (wobei sich Coburg dann Bayern angliederte). Nimmt man außer im Vorgriff Thüringen noch die mittelgroßen Länder Baden, Hessen und Württemberg hinzu, verblieben für restliche 11 von insgesamt 18 nur geradewegs als marginal zu bezeichnende 6,4 % der Bevölkerung.4 Allein zwischen den Volkszählungen 1910 und 1925 hat sich aber der Anteil der in Großstädten (ab 100.000 Einwohner) lebenden Bevölkerung von 21,3 % auf 26,8 % erhöht.5 Die erste Volkszählung der Weimarer Republik per Stichtag 8. Oktober 1919, die für die Revolutionsmonate mit Ausnahme der auch zur Nationalversammlungswahl am 19. Januar noch nicht abgeschlossenen Rückkehr der Soldaten an die Heimatorte maßgebend sein kann, ist erstaunlicherweise nur selten für die hier relevanten Zwecke ausgewertet worden. Von den 60,9 Mio. der für den 8. Oktober 1919 ermittelten „Ortsanwesenden Bevölkerung“ lebten 14,1 Mio. = 23,2 % in 46 Städten über 100.000 Köpfen. Die sieben größten Städte über 500.000 machten davon allein schon 5,8 Mio. aus, diejenigen 17 über 200.000 bis 500.000 weitere 5,2 Mio., über 100.000 bis 200.000 kamen 22 mit 3,1 Mio. hinzu.6 Zum Vergleich: Allein Wien konzentrierte 1919 etwa 28 % einer Bevölkerung von ca. 6,5 Mio. der neu konstituierten Republik Österreich. Ein Blick auf diese 46 deutschen Großstädte verspricht differenziertere Befunde als sie allein reichs- oder länderhistorisch möglich wären. Dabei ist zunächst die urbane politische Vorprägung zu berücksichtigen. Bei den Reichstagswahlen 1912 war in der Gemeindekategorie ab 100.000 Einwohner,7 insoweit stadtinterne klassenbezogene wie auch externe anti-agrarische Trennlinien markierend, auf die SPD eine klare absolute Mehrheit von 54,9 % der Stimmen entfallen; weitere 16,0 % erhielten Linksliberale, 12,1 % Nationalliberale, 9,6 % die katholische Zentrumspartei und lediglich 3,6 % Konservative sowie 1,0 % Regionalparteien und 1,9 % (zumeist rechtsgerichtete) Sonstige.8 Jenseits vor allem des rheinischen Katholizis  3 4 5 6 7 8

Kittel (1968): Novemberumsturz; John (2012): Weimarer Bundesstaat. Statistisches Jahrbuch 1920, S. 1 (und eigene Berechnungen). Petzina u.a. (1978): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III, S. 37. Statistisches Jahrbuch 1920, S. 6 (und eigene Berechnungen). Ein Ausschnitt dieser Seite ist nachstehend abgebildet. Weitere 48 große Mittelstädte zwischen 50.000 und 100.000 Ortsanwesenden würden auch nur 3,4 Mio. hinzufügen. Nur Wiesbaden fiel zwischen 1912 und 1919 aus der Großstadt-Kategorie, Berlin-Lichtenberg und Münster i. Westf. kamen hinzu, das ist statistisch per Saldo zu vernachlässigen. Ritter/Niehuss (1980): Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 116.

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Eine politische Revolution der Städtevielfalt

  Abb. 1: Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern in den Jahren 1910 und 19199

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Quelle: Statistisches Jahrbuch 1920, S. 6 (die vorangestellten Ziffern 1–17 für 1910 betreffen Gebietsveränderungen).

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mus, dort eben auch entlang der Trennlinie des konfessionellen Milieus, hielt sich das politische Ergebnisgefälle in Grenzen. Die absolute Mehrheit erzielte die SPD von Mannheim im Südwesten mit Ludwig Frank bis Königsberg im Nordosten mit Hugo Haase, um zwei profilierte Exponenten verschiedener Parteirichtungen exemplarisch zu nennen, die beide (Fronteinsatz 1914, Attentat 1919) Todesopfer ihres jeweiligen politischen Engagements wurden. Hingegen konzentrierte sich die USPD-Abspaltung von 1917 bis zur Nationalversammlungswahl 1919 auf wenige Hochburgen: Nur in 7 von 37 Großwahlkreisen, drei im Berliner Raum, DüsseldorfOst (Teile des Ruhrgebiets beinhaltend) sowie den mitteldeutschen Regionen Merseburg, Leipzig und Thüringen, hatte die USPD mit im Durchschnitt rund 25 % bereits erhebliche Bedeutung. Für die große Mehrzahl der verbleibenden 30, also mehr als acht Zehntel dieser Wahlkreise, galt das mit durchschnittlich nur gut 3 % für die USPD aber nicht.10 Allerdings ist es weder im hier vorgegebenen Umfang noch mit den begrenzten Mitteln zweier Projekte11 möglich, sämtliche 46 Städte mit ihren wesentlichen Charakteristika in diese – eben auch weitere Forschung dazu anregenden – Betrachtungen einzubeziehen. So wenig die Revolution von 1918/19 allein nach Berliner Ereignissen beurteilt werden kann, ließe sich dortiges Geschehen trennscharf von der Reichs- und Landespolitik abgrenzen. Ohnehin stand die Zweimillionenstadt damals kurz vor ihrer Erweiterung um die fünf eigenen Großstädte Charlottenburg, Neukölln, Schöneberg, Lichtenberg und Wilmersdorf (Stand 8.10.1919) und 61 sonstigen Gemeinden (sowie 27 Gutsbezirke) zur baldigen Viermillionenstadt als werdende Einheit in eigener Vielfalt. Diesen Weg zu Groß-Berlin freigemacht hatte zuvor die Revolution und die erste demokratische Wahl zur Preußischen Landesversammlung am 26. Januar 1919. Schon das kaiserzeitliche Berlin war nach Sozialmilieus gruppiert: Der alte Wahlkreis Berlin-Mitte wurde bis 1918 im Reichstag liberal vertreten, als die SPD die anderen fünf Wahlkreise mit bis über 80 % der Stimmen gewonnen hatte. Umso mehr galt solche innere Differenzierung 1919/20 für das kaum als Kommune, eher als metropolitanen Kommunalverband einzustufende (werdende Groß-)Berlin, das in der Revolution auch keinen Wechsel im Oberbürgermeisteramt (Adolf Wermuth) erlebte. Der am besten geeignete Vergleichsblick kann wohl stärker auf die Zweimillionen-Metropole Wien12 als in Richtung der anderen deutschen Großstädte fallen. Erwähnt sei noch die soziale Polarisierung auch in den Vorstädten: Charlottenburg war eine der reichsten deutschen Gemeinden und Schöneberg wurde bekannt durch seine namhaften DDP-Kommunalpolitiker wie Oberbürgermeister Alexander Dominicus und Stadtrat Gustav Böß (seit 1921 Berliner Oberbürgermeister). Hingegen war Neukölln eine sozialdemokratische Hochburg und die Arbeitervorstadt   10 Falter u.a. (1986): Wahlen und Abstimmungen, S. 67 (und eigene Berechnungen). 11 Lehnert (2018): Revolution, sowie ein Folgeband zu Preußen (erscheint 2019). Knappe Skizze unter: https://www.fes.de/de/blog-netzwerk-demokratie-geschichte/artikelseiteblog/revolution-191819-in-norddeutschland-und-preussen (28.2.2018). 12 Vgl. Lehnert (1991): Kommunale Politik.  

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Lichtenberg ein Schauplatz der Gewalteskalation im März 1919 sowie von Bürgerkriegspropaganda, auch mit Gerüchten.13 2. FERNAB DER HAUPTSTADT: WEST- UND SÜDDEUTSCHER ÜBERBLICK Auch dem mit den sieben Großstädten (nach der Bevölkerungszahl geordnet) Essen, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Bochum, Mülheim und Hamborn in sich differenzierten Ruhrgebiet (und den vier angrenzenden Großstädten Düsseldorf, Elberfeld, Barmen und Crefeld) ließe sich ein separater Beitrag widmen. Das waren (außer Berlin und Mitteldeutschland) teilweise die Schauplätze einer zweiten, sozialrevolutionären Phase im Frühjahr 1919. Übergreifende revolutionsgeschichtliche Zuschreibungen sind für diese elf Kommunen nicht möglich, denn auch deren politisches Profil „wechselte teilweise an jeder Stadtgrenze“.14 Als eine prägende lokale Besonderheit sei hier exemplarisch nur erwähnt, dass Hamborn innerhalb einer Generationsspanne zwischen 1890 und 1919 von einer 4000-köpfigen Gemeinde auf Großstadtformat mit 110.000 Einwohnern angewachsen war; auch herkunftsbedingte Diskontinuitätsfaktoren haben dort zu einem „syndikalistischen“ Typus von Arbeiterradikalismus disponiert.15 Diesem Extremfall kam, ohne solches Ausmaß des Städtewachstums und des industriekapitalistischen Strukturwandels, die Entwicklung in Mülheim am nächsten.16 Hingegen ist es auffällig, dass gerade in den großen Ruhrgebietsstädten Essen und Duisburg mit Hans Luther (späterer Reichskanzler) und Karl Jarres (späterer Vizekanzler und Reichspräsidentenkandidat) rechtsbürgerliche (DVP-nahe) Politiker als Oberbürgermeister verblieben, was auch in Dortmund für den weniger bekannten Ernst Eichhoff als Sohn eines KruppDirektors galt. So wie an der Spitze der noch unerwähnten westdeutschen Großstädte Aachen und Münster auch im Umbruch 1918/19 katholische Zentrumspolitiker standen, traf dies am prominentesten für Köln mit Konrad Adenauer zu. Da Köln die einzige katholische Großstadt ist, für die frühe geschlechtsdifferenzierte Wahlstatistiken vorliegen, lässt sich dort auch sehr präzise etwas zu diesbezüglicher Verfestigung der kommunalen Zentrumshegemonie aussagen: In der Nationalversammlungswahl im Januar 1919 lag bei den Frauen die Zentrumspartei mit 47,6 % so klar vor der SPD mit 32,2 %, wie umgekehrt bei den Männern die SPD (46,1 %) vor dem Zentrum (32,9 %) führte. Zur Stadtverordnetenwahl am 21. August 1919 wählten sogar 53 % der Frauen die Zentrumspartei Adenauers und nur 30 % die SPD, bei den Männern waren es hingegen 44,6 % für die SPD und nur 32,2 % für das Zentrum.17   13 14 15 16 17  

Vgl. Jones (2017): Anfang, S. 255–257. Lehnert (1982): Rätealltag und Regionalismus, S. 80. Lucas (1971): Ursachen; Lucas (1976): Formen des Radikalismus. Steinisch (1975): Linksradikalismus. Bremme (1956): Rolle der Frau, S. 248.

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So ging diese Kommunalwahl insgesamt mit 42,1 % an die Zentrumspartei gegenüber 37,6 % der SPD, die auch unter Hinzurechnung von 6,7 % der USPD nicht in die Nähe der absoluten Mehrheit gelangte.18 Der seit 1917 amtierende Oberbürgermeister Adenauer begann so die Weimarer Republikzeit mit eigener relativer Mehrheitsbasis, die bei der Stimmenverteilung im geschlechtsspezifischen Zuschnitt sogar bis in seine späten Kanzlerjahre hinüberragen sollte. Das war in Köln aber zusätzlich im Regionalmilieu verwurzelt, also nicht nur ein damaliger geschlechtsund konfessionsspezifischer Effekt. Denn auch im sogar zu über 80 %, somit um 10 % stärker katholischen, dennoch „roten“ Wien ist – wenn auch erst für das Folgejahr – eine getrennte Wahlstatistik überliefert. Dort war betreffende Differenz weniger als halb so groß mit lediglich 34,2 % Stimmenanteil der Christlichsozialen bei Frauen gegenüber 25,5 % bei Männern.19 In dem – sogar etwas mehr als Köln – zu über 70 % katholischen München bestand nach den blutigen Episoden der Räterepublik seit der Kommunalwahl am 15. Juni 1919 eine knappe Stadtratsmehrheit von SPD mit zwar nur 18 % der Stimmen und der sogar zur stärksten Partei gewachsenen USPD mit stattlichen 32 %, vor den 28 % der landesweit dominierenden rechten Zentrumsabspaltung BVP. Das verhalf dem SPD-Politiker Eduard Schmid, ein gelernter Möbelschreiner und langjähriger Redakteur des Parteiblatts „Münchener Post“, in damals eher seltener, von der Gewalteskalation der Vormonate nicht blockierter Verbindung mit der USPD ins höchste Amt der bayerischen Metropole. Gewiss als Folge einer dort zwischenzeitlichen politischen Sonderentwicklung der Räterepublik und ihrer blutigen Niederschlagung war die innersozialdemokratische Gewichtsverlagerung – gegenüber noch 47 % SPD in München bei den Landeswahlen im Januar 1919 – allerdings dramatisch.20 In der fränkischen Metropole Nürnberg war eine nachhaltigere Form des Einwirkens von Wiener Einflüssen als in den ersten Münchener Revolutionsimpulsen zu registrieren: Der Schwager des österreichischen Parteigründers Victor Adler, der promovierte Nationalökonom Adolf Braun, war in der Revolutionsära als Chefredakteur des SPD-Blatts „Fränkische Tagespost“ politisch-intellektuell ungefähr so einflussreich wie Kurt Eisner nur kurzzeitig in München, und er kooperierte dabei auch mit der USPD. Der Nürnberger Oberbürgermeister war damals allerdings jener zum rechten DDP-Flügel zählende Otto Geßler, der im Herbst 1919 als Minister in die Reichspolitik wechselte.21 Nur Augsburg als verbleibende dritte bayerische Großstadt erhielt im Juni 1919 ein der katholischen BVP angehörendes Stadtoberhaupt. Für Stuttgart – als die nach München und Nürnberg drittgrößte süddeutsche Stadt – war eine Vorverlagerung des Radikalisierungsprozesses zu verzeichnen.   18 Hofmann (1974): Rathaus, S. 112. 19 Seliger/Ucakar (1984): Wahlrecht, S. 144 (und eigene Berechnung aus dort angegebenen Stimmenzahlen). 20 Angermair (2001): Eduard Schmid, S. 15, 22 u. 57f. 21 Schwarz (1971): Weltkrieg und Revolution.  

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Der Konflikt um die „Schwäbische Tagwacht“ der SPD eskalierte bereits im November 1914 und bildete den Ausgangspunkt dafür, dass eine Gruppe von entschiedenen Kriegskreditgegnern um deren Redakteur und späteren USPD-Mitvorsitzenden Arthur Crispien schon vor dem sogenannten „Vorwärts-Raub“ 1916 in Berlin von Mehrheitssozialdemokraten entmachtet wurde.22 Dementsprechend gab es in Stuttgart in den Revolutionsmonaten bis hin zu einem Aufstandsversuch parallel zu den Berliner Januarkämpfen 1919 reichende Aktionen von (dort eher linker) USPD und dem Spartakusbund. Im Unterschied zu München beendete aber die Wahlniederlage der USPD mit nur 3,1 % bei den württembergischen Landeswahlen am 12. Januar 1919 gegenüber 34,4 % der SPD (und 25 % DDP sowie 20,8 % Zentrum) die intensivste Revolutionsphase. Die württembergische Rätebewegung mit ihrem Stuttgarter Zentrum ist frühzeitig insgesamt ausführlich dokumentiert und kommentiert worden.23 Das gilt ebenso für die Publikationen zum benachbarten Baden,24 wo sich wohl auch wegen der 1848er-Tradition für den November 1918 wiederum von einer „Volksbewegung“ mit nicht so eindeutiger Dominanz der organisierten Arbeiterbewegung wie anderenorts sprechen lässt.25 Das brachte in der vormaligen Residenzstadt Karlsruhe einen gemäßigten Verlauf der Revolutionsmonate mit sich, aber noch 1919 einen neuen DDP-Oberbürgermeister (Julius Finter, davor Zweiter Bürgermeister in Mannheim). In der Industriestadt Mannheim kam es aber im Februar 1919 sogar zur Ausrufung einer „Räterepublik“, was jedoch eine Episode blieb – und tatsächlich eher schon ein Rückzugsgefecht war, angesichts eines mit 1,5 % vollkommen deprimierenden Abschneidens der USPD bei den badischen Landeswahlen am 5. Januar 1919.26 Das (seit 1866) sozusagen nur „beute-preußische“ Frankfurt am Main wurde damals gemeinhin zum südlichen Deutschland gezählt. So galt die noch vor dem „Berliner Tageblatt“ schon weltbekannte „Frankfurter Zeitung“ zugleich als führendes Sprachrohr der linksliberalen süddeutschen Demokraten. Eine katholische Minderheit von gut 30 % verhinderte in Frankfurt nicht die hauchdünne absolute Stimmenmehrheit einer dominierenden SPD (mit rund 46 %) und USPD (nur gut 4 %) bei den Nationalversammlungs- und Preußenwahlen im Januar 1919.27 Beide Parteien waren durchaus prominent besetzt: Für die SPD wurde im Revolutionsverlauf der bedeutende Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer Polizeipräsident, überregional wichtige Exponenten für die USPD waren der Metallarbeiterführer Robert Dißmann und Toni Sender als die nach Luise Zietz bald einflussreichste Frau der Partei. Erst als Plünderungen Ende März 1919 zu bewaffneten Konfrontationen mit 20 Toten eskalierten, begann ein Erosionsprozess des – bis dahin auch wegen einer mehr   22 23 24 25 26 27  

Miller (1974): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 84–88 u. 143–147. Kolb/Schönhoven (1976): Räteorganisationen in Württemberg. Brandt/Rürup (1980): Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte. Brandt/Rürup (1991): Volksbewegung. Schmidgall (2012): Revolution, S. 254–256 u. 132. Lucas (1969): Frankfurt, S. 83.

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zum linken Flügel gehörenden SPD gestützten – Einflusses des örtlichen Arbeiterrates.28 Zuvor ergab die Frankfurter Stadtverordnetenwahl am 2. März 1919 für die SPD nur noch 36,2 %, wobei jeweils etwa die Hälfte des auch mit deutlich niedrigerer Wahlbeteiligung einhergehenden Anteilsverlusts zur USPD (nun 8,5 %) und zu den bürgerlichen Kräften hin erfolgte; dort blieb aber die DDP mit 23,2 % vor dem Zentrum (13,3 %) und der DVP (9,6 %) die wichtigste politische Kraft.29 So ist dem in Frankfurt traditionell starken Kommunalliberalismus auch unter dem seit 1912 amtierenden Oberbürgermeister Georg Voigt (DDP) weiterhin eine Schlüsselposition zugefallen. Diese prägte dann auch noch die Ära des im Bündnis mit der SPD entschiedener linksliberal orientierten Ludwig Landmann, der zwar erst 1924 Oberbürgermeister wurde, aber schon als Ressortchef für Wirtschaft, Verkehr und Wohnungswesen seit 1916 die künftige Stadtentwicklung mit vorkonzipierte.30 Landmann war als Konfessionsloser von jüdischer Herkunft unter den Oberbürgermeistern eine Ausnahme.31 Ein südwestdeutscher Sonderfall der Umbruchsperiode ganz anderer Prägung war Mainz, wo der Oberbürgermeister Karl Göttelmann im Februar 1919 von der französischen Siegermacht abgesetzt wurde; diese bildete auch sonst westrheinisch einen zumindest hintergründig wirksamen Einflussfaktor gegenüber revolutionären Ambitionen. Der Amtsnachfolger in Mainz war der bisherige Stellvertreter Karl Külb (nationalliberal, dann DDP), während neben der SPD auch das katholische Zentrum dort stark vertreten blieb. 3. REGIONALZENTREN UND STADTSTAATEN IN NORD-, OST- UND MITTELDEUTSCHLAND Der innere Zwiespalt, dass der Intellektuelle Eisner in München Revolutions-Ministerpräsident noch vor dem Berliner Rat der Volksbeauftragten sein konnte, seine USPD aber zwei Monate darauf mit 2,5 % Stimmenanteil einstweilen nur eine Splittergruppe in Bayern war, ergab sich teilweise ähnlich im Revolutions-Norden: Der auf den Spuren von Franz Mehring vormals sozialdemokratische Parteihistoriker Heinrich Laufenberg war für reichlich zwei Monate Vorsitzender des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates, der sogar vorübergehend den Senat für abgesetzt erklärte. Aber der mehr nur theoriebezogen radikale, politisch eher so wie Eisner auf eskalierende Gewalt im Machtkampf verzichtende Laufenberg wurde schon durch eine freigewerkschaftlich-mehrheitssozialdemokratische Gegenmobilisierung nach   28 29 30 31

 

Ebd., S. 28, 14 u. 95–103. Maly (1995): Regiment der Parteien, S. 191f. Rebentisch (1975): Ludwig Landmann, S. 70–79. Sogar in Wien als deutschsprachige Großstadt mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung stellte diese zwar einflussreiche Ressortleiter wie seit 1919 den sozialdemokratischen Finanzstadtrat Hugo Breitner, aber nie das Stadtoberhaupt in einer Nachfolge des christlichsozialantisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger.

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Räteneuwahlen entmachtet, bevor die KPD bei den Bürgerschaftswahlen am 16. März 1919 durch Boykott dem Nachweis ihres einstweiligen Sektenformats entging. Hingegen erreichte, bei auch nur durchschnittlichem USPD-Anteil von 8,1 %, die SPD in ihrer gerade auch gewerkschaftlich fundierten traditionellen Organisationshochburg mit 50,5 % allein schon die absolute Mehrheit, gefolgt von DDP (20,5 %) und DVP (8,6 %). Dennoch konnte der spätkaiserzeitlich-honoratiorenliberale Erste Bürgermeister Werner von Melle auch nach der Neuwahl im Amt bleiben. Die SPD begnügte sich mit dem Zweiten Bürgermeister in Person des gelernten Maschinenbauers und Reichstagsabgeordneten Otto Stolten.32 Ähnlich waren die politischen Kräfteverhältnisse im benachbarten (aber damals preußischen) Altona bei den Stadtverordnetenwahlen am 2. März 1919 mit knapp 54 % der SPD und rund 9 % der USPD sowie 22 % der DDP und 11 % der DVP. Daraufhin wurde, bei Amtskontinuität des liberalen Oberbürgermeisters Bernhard Schnackenburg, der zugleich für die DDP in die Preußische Landesversammlung gewählt war, ein SPD-Kommunalpolitiker dessen Stellvertreter: der ehemalige Glasarbeiter-Gewerkschafter und Konsumvereinschef Max Brauer (später bekannt als Hamburger Stadtoberhaupt nach 1945) – dabei gewiss auch gestützt auf seine vorausgehende leitende Genossenschaftspraxis bald in der einflussreichen Funktion des Altonaer Stadtkämmerers.33 Als schon vor dem Krieg führender Bremer Linksradikaler vermochte der Volksschullehrer Johann Knief wegen schwerer und bald tödlicher Erkrankung nur aus dem Hintergrund die kurzlebige Räterepublik zu inspirieren. Diese wurde nach bereits eingetretenen Auflösungserscheinungen mit zuletzt Dutzenden von Todesopfern niedergeschlagen, ohne dass es aber zu solchen Mordexzessen wie in Berlin und München kam. Das wohl allein in Bremen teilweise leninistische Profil, mit Verankerung auch in radikalen Arbeitergruppen vor allem der Werftindustrie, führte bei den am 9. März 1919 abgehaltenen Wahlen zur Stadtkonstituante zu damals singulär hohen 7,7 % für die KPD. Doch auch die USPD mit ihrem Lokalmatador und bisherigen Reichstagsabgeordneten, dem gelernten Zigarrenarbeiter Alfred Henke, kam wegen der linken Vorkriegstradition vor Ort mit beachtlichen 19,3 % der 32,7 % erzielenden SPD weitaus näher als sonst in Norddeutschland mit Ausnahme des Kleinstaats Braunschweig.34 Als Bremer Senatspräsident an der Spitze des Stadtstaats amtierte nunmehr der Mehrheitssozialdemokrat Karl Deichmann, ebenfalls ursprünglich Zigarrenarbeiter und langjähriger Reichsvorsitzender der Tabakarbeitergewerkschaft, in Machtteilung mit dem bisherigen und weiter für die Stadt Bremen zuständigen Bürgermeister Hermann Hildebrand (DDP).35   32 Stalmann (2018): Räteradikalismus; ders. / Stehling (2013): Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat. 33 Schildt (2002): Max Brauer, S. 21f. u. 16f. 34 Berger (1979): Brunonia. 35 Wahl (2018): Novemberrevolution (mit näherer Erläuterung der komplexen Bremer Verhältnisse).  

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Das bislang nur selten thematisierte Phänomen überregional entschieden oppositionell agierender Führungspersonen gegenüber lokal mehrheitlich reformistisch wählenden Massen36 gab es weniger bekannt und in moderaterem Spannungsbogen auch für Lübeck als dritte Freie Hansestadt: Mangels eines stürzenden Landesfürsten und ohne Episoden von Räteherrschaft wie in Bremen und Hamburg war Lübeck das insoweit politisch „unrevolutionärste“ deutsche Territorium – mit Amtskontinuität des 1916 gewählten honoratiorenliberalen Bürgermeisters Emil Ferdinand Fehling. Dort erfolgte lediglich die Ergänzung durch einige SPD-Senatoren, etliche Wochen nach absoluter Mehrheit von 52,5 % ihrer Partei in den Bürgerschaftswahlen vom 9. Februar 1919. Aber der vormals langjährige SPD-Reichstagsabgeordnete Theodor Schwartz, ein gelernter Former und dann für deren Gewerkschaft tätig, schließlich den örtlichen Parteiverlag leitender Veteran seit der Reichsgründungszeit, war von Anfang an ein offener Kriegskreditgegner; er gehörte bald zur oppositionellen „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“, trat jedoch nicht der USPD bei, die zur Bürgerschaft 1919 wegen ihrer örtlichen Bedeutungslosigkeit nicht einmal kandidierte.37 Ebenfalls die gemäßigte Variante solcher Differenzen repräsentierte der revisionistische Parteitheoretiker Eduard Bernstein als ein sogar zur USPD übergetretener Breslauer Reichstagsabgeordneter. Doch gelang es dem – ihm dennoch verbunden bleibenden – örtlichen SPD- und „Volksbote“-Chef (als gelernter Schriftsetzer) Paul Löbe, kein Geringerer als der künftige Weimarer Reichstagspräsident,38 auch mit innerparteilicher Kritikoffenheit die Konkurrenz der USPD kleinzuhalten: Die SPD erreichte mit über 51 % der Stimmen und 52 von 100 Sitzen bei den Stadtverordnetenwahlen am 2. März 1919 die absolute Mehrheit gegenüber dort fast gleichstarken Minderheitsgruppen des Zentrums, der Konservativen und Liberalen – und nur einem einzigen USPD-Mandat. Durch unmittelbar revolutionsbedingten Rücktritt des konservativen Breslauer Oberbürgermeisters Paul Matting war dessen Nachfolge schon zuvor mit Otto Wagner (DDP) geregelt.39 Eine revolutionäre Absetzung des Oberbürgermeisters mit dauerhaftem Amtswechsel, nicht nur als Episode, gab es unter den großstädtischen Regionalzentren in Königsberg, und zwar vom rechtskonservativen Mitbegründer der Vaterlandspartei Siegfried Körte zum DDP-Mitgründer Hans Lohmeyer. Hingegen verblieb in Stettin der seit 1907 amtierende Friedrich Ackermann in dieser Position. Vielleicht liegt es auch mit an der besonderen Konstellation am meistbeachteten Revolutions-Ursprungsort Kiel, dass häufig nur eine Polarität zwischen den zeitweise radikalisierten Massenbewegungen und bremsenden politischen Füh  36 Angesichts der Beschränkung auf Großstädte sei hier nur mit einer Fußnote erwähnt: Der überhaupt einzige zunächst für die SPD, dann USPD und schließlich KPD gewählte Reichstagsabgeordnete Joseph Herzfeld vertrat in seinem Wahlkreis auch die Hansestadt Rostock, die aber in den Revolutionsmonaten kaum USPD-Aktivitäten verzeichnete. 37 Lehnert (2018): Hansestadt Lübeck. 38 Lehnert (2018): Paul Löbe. 39 Müller (2012): Otto Wagner, S. 98f. u. 69–71.

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rungskräften in Geschichtsdarstellungen eingeflossen ist. Wesentlich über die fluktuierenden Matrosen hatte vorübergehend zusätzlicher Bewegungs-Aktivismus auf eine sonst eher traditionelle ortsansässige Arbeiterbevölkerung eingewirkt. Deren jahrzehntelanger SPD-Reichstagsabgeordneter war mit Carl Legien jener Langzeitvorsitzende der freigewerkschaftlichen Generalkommission, die im Hintergrund eine wichtige Stütze des Führungsanspruchs von Friedrich Ebert bildete. Entsprechend freundlich wurde in Kiel als ein Regierungsbevollmächtigter Gustav Noske empfangen; er konnte bis dahin nur ebenfalls als Vertreter des rechten Parteiflügels, aber noch nicht aufgrund seiner folgenschweren Militärpolitik des Jahres 1919 bekannt sein. Eine Ausnahme war in Kiel die bereits 1914 erreichte Position der SPD mit 50 % der Stadtverordnetenmandate trotz der sie (aber weit geringer als sonst in Preußen) benachteiligenden Wahlregularien, was sicher die evolutionär-reformistischen Politikkonzepte begünstigte. Doch gab es in Kiel immerhin einen Wechsel des Oberbürgermeisters, nachdem bei der Stadtverordnetenwahl am 2. März 1919 die SPD 50,2 %, die DDP 24,0 %, die DVP 9,8 %, die USPD 7,6 %, und die DNVP 6,1 % der Stimmen erhalten hatten:40 Noch im Laufe des Jahres 1919 wurde der rechtsbürgerliche, anschließend gar in den Kapp-Putsch vom März 1920 verwickelte Paul Lindemann zum Rücktritt gedrängt. Sein Nachfolger Emil Lueken war zwar bürgerlich-parteilos, aber ein früherer Anhänger Friedrich Naumanns. Wenn hier bei den nicht-sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern keine beruflichen Herkunftsangaben erfolgen, liegt das schlicht an deren weitgehender Homogenität als Verwaltungsjuristen, die im Kaiserreich häufig ihre Parteizugehörigkeit oder Parteinähe nicht thematisierten. Die politische Revolution mit Demokratisierung auch des städtischen Wahlrechts bewirkte demgegenüber eine doppelte Öffnung der Herkunftsprofile: einerseits zu früheren Facharbeitern, mit langjährigen Erfahrungen in Gewerkschafts- oder Parteiorganisationen, andererseits vorübergehend auch zu nicht-juristischen Intelligenzberufen, die sich aber nach kurzer Umbruchsphase kaum in Administrativfunktionen behaupten konnten. Im regionsübergreifenden Vergleich mag es auffällig sein, dass die rheinische und die süddeutsche Bürgermeisterverfassung mit Adenauer, Jarres und Luther sowie Geßler die auf Gesamtstaatsebene einflussreicheren Stadtoberhäupter hervorbrachte als die stärker kollegiale Magistratsverfassung. Jedoch ist die Fallzahl zu klein, um mehr als eine Plausibilitäts- und Tendenzaussage daran zu knüpfen. Eine Oberbürgermeisterin gab es mit Louise Schroeder erst in der Neuordnungsperiode nach 1945 in Berlin; sie war trotz proletarischer Herkunft zuvor – und das recht typisch für diese nächste sozialdemokratische Generation – in Angestellten- und erst durch Weimarer Fortschritte der politischen Emanzipation neu erschlossenen Lehrberufen tätig geworden. Allerdings existierte neben dem Wechsel von der Großstadt- in die Reichspolitik auch ein umgekehrter Weg, den nicht allein Wermuth vom – im Erbschaftssteuerdissens mit den Konservativen 1912 scheidenden – Reichsschatzsekretär zum   40 Pohl (2018): Revolution in Kiel?

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Berliner Oberbürgermeister zurückgelegt hatte. Der prominenteste Fall ist sicherlich der (verzögerte) Übertritt des im Widerstand gegen den Versailler Vertrag als Reichsministerpräsident zurückgetretenen vormaligen SPD-Mitvorsitzenden Philipp Scheidemann in die Kommunalpolitik seiner Herkunftsstadt Kassel. Freilich wurde er dort erst nach längeren Auseinandersetzungen – trotz absoluter Mehrheit seiner Partei mit 51,5 % Stimmenanteil in den Märzwahlen 1919 – zur Jahreswende 1919/20 deren Oberbürgermeister. Diese Position war auch nur frei geworden, weil der 1913 nach der geltenden Magistratsverfassung auf zwölf Jahre gewählte Amtsvorgänger Erich Koch(-Weser) Anfang Oktober 1919 zum Reichsinnenminister avancierte.41 In umgekehrter Richtung trat als Hamburger Erster Bürgermeister Carl Petersen 1924 hinzu, der zuvor dem im August 1919 verstorbenen Friedrich Naumann im DDP-Reichsvorsitz gefolgt war; solcher Bezug auf die Weimarer Gründungsmonate nach der Revolution 1918/19 rechtfertigt diesen vorausgreifenden Hinweis.42 Einen rascheren Zugriff seitens der Mehrheits-SPD auf das Amt des Stadtoberhaupts hat es unmittelbar nach der Revolution nur in Hannover gegeben. Schon am 13. November 1918, und zwar wegen der Amtsflucht des rechtsgerichteten Vorgängers Heinrich Tramm, wurde mit bürgerlicher Unterstützung Robert Leinert gewählt, ursprünglich Malergeselle und dann auch hauptamtlicher Parteisekretär. Er ist jedoch revolutionshistoriografisch ganz anders bekannt geworden: als einer der drei Vorsitzenden des kurzlebig vom Reichsrätekongress gewählten Zentralrats die Regierungslinie seiner Partei stützend.43 Auch wegen der in Hannover starken „welfischen“ Regionalpartei DHP und der erst zu Jahresbeginn 1920 vollzogenen Eingemeindung der Arbeitervorstadt Linden hatte die SPD bei der Kommunalwahl im Februar mit 41,4 % der Stimmen keine eigene Mehrheit erreicht (die USPD blieb mit 2,7 % marginal). Die SPD profitierte also weiterhin vom Erstzugriff der Revolutionstage und dann von der Kooperationsbereitschaft der sich mit 8,4 % in einer Schlüsselposition befindenden DDP, gegenüber weiter rechts der DVP mit 10,1 % sowie einer Verbindung zwischen dem Zentrum und der Regionalpartei DHP mit 21,5 %.44 Am nächsten kam der Hannoveraner kommunalpolitischen Pionierrolle einige Monate darauf Magdeburg. Der rechtsbürgerliche Amtsinhaber Hermann Otto Reimarus resignierte noch revolutionsbedingt im Januar 1919. Ihm folgte Hermann Beims (SPD) im April 1919 nach den ersten Stadtverordnetenwahlen am 2. März, die für die SPD mit rund 55 % der Stimmen und 45 von 81 Mandaten eine klare absolute Mehrheit ergaben, vor einer dort noch mehr nationalliberal vorgeprägten DDP mit 29 % = 23 Sitze und jeweils 7,5 % = 6 Sitze der USPD und der nationalen   41 Mühlhausen (2011): Das große Ganze, S. 15–26 u. 36–41. 42 Nur um sozusagen den Kreis zu schließen: Auf Petersen folgte dann Koch-Weser als DDPVorsitzender. 43 Kolb/Rürup (1968): Zentralrat. 44 Berlit-Schwigon (2012): Robert Leinert, S. 45, 70f. u. S. 57f.; Heine (1978): Verlauf und Auswirkungen, S. 171.  

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Rechten.45 Der Magdeburger Oberbürgermeister Beims, ursprünglich Tischler und dann wie Leinert hauptamtlicher Parteisekretär, wird häufig nur erwähnt, weil ihm 1931 der später überaus prominent gewordene Ernst Reuter nachfolgte. Doch hinterließ Beims in der sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Amtszeit sogar zahlreiche nachhaltige Spuren im Stadtbild.46 Wie in Hannover standen ebenso in Magdeburg schon bis 1918 auf der Gegenseite mehrheitlich nicht Linksliberale. Vielmehr galt die Stadt als Hochburg unternehmerischen „Scharfmachertums“, aus dessen Reihen schon Ende 1918 der Fabrikbesitzer und Reserveoffizier Franz Seldte den „Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten“ gründete. Während das wie Magdeburg zur preußischen Provinz Sachsen gehörende Halle an der Saale eine Hochburg des linken Flügels der USPD war, jedoch die vorübergehende Machtstellung der Räteund Streikbewegung Anfang März 1919 von Regierungstruppen blutig niedergeschlagen wurde, konnte sich dort Oberbürgermeister Richard Robert Rive trotz seiner Zugehörigkeit zur Vaterlandspartei (später zur DNVP) im Amt halten. Neben strukturellen und personalen Faktoren ist der wichtigste Indikator des ausgeprägten Gefälles zwischen SPD (und je nach Konfessionsverteilung DDP oder Zentrum) einerseits und der im Rat der Volksbeauftragten sowie dem preußischen Revolutionskabinett paritätisch, also formell gleichberechtigt vertretenen USPD andererseits die Frage, ob es bereits eine regionale USPD-Zeitung gab. Um das exponierteste Beispiel Leipzig zu erwähnen, wo der Ende 1917 wohlbemerkt von den SPD- und USPD-Fraktionen gegen einen Konservativen mitgewählte nationalliberale Oberbürgermeister Karl Rothe sich mit einer seit Januar 1919 politisch „roten“ Stadtverordnetenmehrheit zu arrangieren hatte (46,4 % + 8,6 % Stimmenanteil = 33 USPD- und 6 SPD-Mandate von insgesamt 72)47: Dass in Leipzig die SPD mit ihrem langjährigen Bezirkschef Richard Lipinski fast komplett zur USPD wechselte, wurde sicher wesentlich von der auch überregional einflussreichen „Leipziger Volkszeitung“ flankiert.48 Dieses reichsweit führende USPD-Blatt drängte übrigens bereits am 25. Oktober 1918 folgendermaßen auf jene Wahl zu einer demokratischen Nationalversammlung, die in der meist wenig pressekundigen Literatur fast durchweg anderen Kräften zugeordnet worden ist: Der Reichstag und die jetzige Regierung darf nur vorübergehend die Geschäfte des Landes führen. Es ist sofort eine Nationalversammlung einzuberufen, die auf Grund des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts durch Männer und Frauen zu wählen ist. Diese Nationalversammlung hat eine Regierung des Volkes zu wählen, die allein und unumschränkt die Macht ausübt.49

Die Erfurter „Tribüne“ der USPD war noch einen Tag früher mit demokratiepolitischer Orientierung auf „sofortige Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, deren Abgeordnete aus absolut freier Wahl aller über 20 Jahre alten   45 46 47 48 49  

Gohlke (1999): Räte, S. 132. Meckel (1992): Hermann Beims. Bramke / Reisinger (2009): Leipzig, S. 56, 67f. u. 105. Vogel (2006): Parteibezirk Leipzig. Leipziger Volkszeitung Nr. 250 v. 25.10.1918: Entweder – oder!

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Personen“ zusammengesetzt werden sollte, offensiv hervorgetreten,50 ganz im Sinne des – den Namen dieser (damals preußischen) Stadt tragenden – Parteiprogramms von 1891. Im Kleinstaat Braunschweig, gleichfalls eine USPD-Hochburg und von der Großstadt Braunschweig mit dem weiter amtierenden bürgerlichen Stadtoberhaupt Hugo Retemeyer zu unterscheiden, wurde solches auch dementsprechend früh umgesetzt und schon am 15. Dezember auf Gemeinde- sowie am 22. Dezember 1918 auf Landesebene neu gewählt. Zum Schaden gleichermaßen der SPD und USPD entwickelte sich die betreffende Debatte jedoch in anderer Richtung: Sehr bald schon wurde mit dem Ruf nach der Nationalversammlung die Begrenzung der Neuordnungsziele verbunden und verstärkten sich in der linken Opposition die antiparlamentarischen Tendenzen.51 Auch die vorwiegend konstruktiv agierende Leipziger USPD darf aber nicht mit Sachsen insgesamt gleichgesetzt werden: So gewann die SPD bei den Chemnitzer Stadtverordnetenwahlen am 12. Januar 1919 mit 34 der 60 Sitze die absolute Mehrheit.52 Einen Wechsel im Oberbürgermeisteramt gab es während der Revolutionsmonate weder in Chemnitz und Erfurt noch im nur knapp großstädtischen Plauen – oder auch der vormaligen sächsischen Residenzstadt Dresden: Dort zeigte sich bei der am 9. Februar 1919 abgehaltenen Stadtverordnetenwahl die SPD mit 39 Mandaten weitaus stärker als die USPD (nur 4 der insgesamt 84 Sitze).53 4. SCHLUSSBETRACHTUNGEN Da im Kaiserreich für die große Mehrzahl der Stadtparlamente ein deutlich restriktiveres Wahlrecht als zum Reichstag galt, konnten die Arbeiter- und Soldatenräte in der ersten Revolutionsphase bis zur Neubesetzung der Kommunalvertretungen auch über die geleistete Organisationsarbeit hinaus als Partizipationserweiterung gelten. Ebenso durfte solches für die Kontrolle der zumeist im Amt belassenen Stadtverwaltungen und die Alltagskooperation mit diesen in den Übergangsmonaten angenommen werden. Doch schon am 12. November 1918 war vom Rat der Volksbeauftragten „mit Gesetzeskraft“ verkündet worden: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“54 Damit war nicht allein statuiert, dass ganz selbstverständlich die (allein männlichen) Soldatenräte nach einem abgeschlossenen Demobilisierungsprozess jedenfalls außerhalb des Militärbereichs keine privilegierte öffentliche Rolle mehr wahrnehmen sollten. Ebenso waren Arbeiterräte, auch wenn sie Angestellte einschlossen, wegen gleich  50 51 52 53 54

Tribüne Nr. 250 v. 24.10.1918: Was uns not tut! Lehnert (1983): Sozialdemokratie und Novemberrevolution. Pfalzer (2010): Novemberrevolution in Chemnitz, S. 18. Bütner (2006): Novemberrevolution in Dresden, S. 89f. Zit. nach Ritter/Miller (1975): Revolution 1918–1919, S. 104.

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wohl deutlich geringerer Anzahl der Stimmberechtigten nach einer vom allgemeinen und gleichen Wahlrecht getragenen Neubesetzung der jeweiligen gebietskörperschaftlichen Volksvertretungen auf eine – wie immer auch gegebenenfalls mit eigenen Kompetenzen auszustattende – Nebenrolle verwiesen. Alle dieses negierenden Vorstellungen konnten nur auf diverse Konzepte einer „Diktatur des Proletariats“ hinauslaufen, die aber seit der erwähnten Proklamation des Reichskabinetts aus SPD und USPD allenfalls für die Übergangsphase bis zu demokratischen Neuwahlen auf sämtlichen Ebenen vorgesehen war – und durch Beteiligung bürgerlicher Staatssekretäre einschließlich des für die Verfassungsberatungen federführenden linksliberalen Innenressortchefs Hugo Preuß von vornherein abgefedert wurde.55 „Politische Revolution der Städtevielfalt“ als Beitragstitel kann bilanzierend in der Konzentration auf die politischen Umwälzungs- und Neuordnungsprozesse (auch weil keine Sozialrevolution, nicht einmal die weitreichende Entmachtung des ostelbischen Großgrundbesitzes stattfand) zunächst in dem Sinne verstanden werden, dass sich die ausschlaggebenden Entwicklungen in den größeren Städten vollzogen haben. Jenseits des zunächst mit der Regierung Eisner verbundenen linken Flügels des Bayerischen Bauernbundes um die Gebrüder Gandorfer spielten ländliche Bewegungen in der Revolution 1918/19 keine wesentliche Rolle. Andererseits würde die Rede von einer revolutionsprägenden Ländervielfalt eher von den aus dem Kaiserreich insoweit fortwirkenden Hauptmerkmalen der preußischen Dominanz und eines preußisch-süddeutschen Dualismus ablenken, während der Blick in vielen kleineren Territorien (auch über die Freien Hansestädte hinaus) rasch auf deren städtische Zentren fällt. Wo aber die Vielfalt in der politischen Entwicklung der Großstädte während der Revolution eines deren Hauptkennzeichen war, sollten allzu pauschale Beurteilungen des revolutionären Prozesses wie auch dessen großstädtischer Ausprägungen künftig vermieden werden. Wenn dennoch aus einer kursorischen Sichtung der Großstädte im demokratischen Umbruch 1918/19 einige wenige übergreifende Aspekte zu benennen sind, kann vielleicht dieses besonders hervorgehoben werden: Die in Preußen gesetzte Zeitgrenze für die Neuwahlen zu den Stadtverordnetenversammlungen bis zum 2. März 1919 markierte den Abschluss der im weitesten Sinne noch der „Novemberrevolution“ und ihren ersten Proklamationen zurechenbaren ersten Phase der deutschen Revolution 1918/19 – mit insoweit maßgebend auch der Wahlrechtsrevolution auf sämtlichen Gebietsebenen. Ein Rückfall hinter diese um die Frauen und jungen Männer erweiterte Beteiligungsbasis und den Abbau der Stimmrechtsprivilegien von Statusgruppen erschien seither kaum noch vorstellbar und jedenfalls nicht demokratisch, was immer bis zu diesen Neuwahlen sich an ergänzenden Formen der Partizipation noch erdenken ließ. Die Übergangsphase von wenigen Monaten wurde auf großstädtischer Ebene allerdings nicht allein durch improvisierte Arbeiter- und Soldatenräte und örtliche Parteienorganisation einschließlich deren   55 Dazu immer noch Elben (1965): Problem der Kontinuität.

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Publizistik bestimmt, sondern ebenso von den überkommenen Verwaltungsinstanzen. Immerhin zogen sich gerade einige national-konservative Oberbürgermeister infolge der revolutionären Ereignisse aus ihren Ämtern zurück oder wurden aktiv durch Kommunalpolitiker von SPD oder (häufiger) DDP ersetzt. Die nähere Betrachtung der kommunalen Verhältnisse, die nur mit umfassenderen Studien zu den einzelnen Städten komplettiert werden kann, lässt aber erkennen: Unterhalb der Ebene von Teilkontinuitäten in Amtspositionen ist dennoch ein zwar unterschiedlich weitreichendes, aber insgesamt nicht geringes Ausmaß von Aufbruch in die neue Weimarer Zeit schon in den Revolutionsmonaten feststellbar. LITERATUR Angermair, Elisabeth: Eduard Schmid (1861–1933). Ein sozialdemokratischer Bürgermeister in schwerer Zeit. München 2001. Berger, Peter: Brunonia mit rotem Halstuch. Novemberrevolution in Braunschweig 1918/19. Hannover 1979. Berlit-Schwigon, Anna: Robert Leinert – Ein Leben für die Demokratie. Sozialdemokratische Politik in der Weimarer Republik. Hannover 2012. Brandt, Peter / Rürup, Reinhard: Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19. Düsseldorf 1980. Ders. / Ders.: Volksbewegung und demokratische Neuordnung in Baden 1918/19. Zur Vorgeschichte und Geschichte der Revolution. Sigmaringen 1991. Bramke, Werner / Reisinger, Silvio: Leipzig in der Revolution von 1918/1919, Leipzig 2009. Bremme, Gabriele: Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament. Göttingen 1956. Bütner, Ben: Die Novemberrevolution in Dresden 1918/19. Magisterarbeit TU Dresden 2006. Elben, Wolfgang: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919. Düsseldorf 1965. Falter, Jürgen / Lindenberger, Thomas / Schumann, Siegfried: Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933. München 1986. Gohlke, Martin: Die Räte in der Revolution von 1918/19 in Magdeburg. Diss. Oldenburg 1999. Heine, Werner: Verlauf und Auswirkungen der Novemberrevolution 1918 in Hannover. Hannover 1978. Hofmann, Wolfgang: Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933, Stuttgart 1974. John, Anke: Der Weimarer Bundesstaat. Perspektiven einer föderalen Ordnung (1918–1933). Köln 2012. Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017. Kittel, Erich: Novemberumsturz 1918. Bemerkungen zu einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der deutschen Länder, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 104 (1968), S. 42– 108. Kolb, Eberhard / Rürup, Reinhard: Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik 19.12.1918–8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß. Leiden 1968. Ders. / Schönhoven, Klaus (Bearb.): Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19. Düsseldorf 1976.

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REVOLUTIONÄRE WECHSELWIRKUNGEN Deutschland und Russland 1917–1919 Gleb J. Albert Das erneute Interesse der Geschichtswissenschaft an der Novemberrevolution von 1918/19, das bereits einige Jahre vor dem hundertsten Jahrestag eingesetzt hatte,1 ist mit der Erkenntnis ausgestattet, dass es sich nicht um ein isoliertes nationales Ereignis handelt, sondern um einen Teil eines „globalen Moments“.2 Die „blockierte Transnationalität“, die Michael Geyer der Novemberrevolution noch 2010 attestiert hatte, bezog sich nicht nur auf die realpolitische Isolierung des revolutionären Deutschlands, sondern auch darauf, dass die frühere Historiographie der Novemberrevolution ihr einen transnationalen Charakter abgesprochen hatte.3 Letzterer Umstand gehört nun definitiv der Vergangenheit an. Die Erforschung der Novemberrevolution in den letzten Jahren ist zunehmend um transnationale Aspekte erweitert worden, die sich nicht auf Geopolitik und Diplomatie beziehen, sondern im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen das Geflecht von Emotionen, Gerüchten, Ängsten, Hoffnungen und Erwartungen fokussieren, in das die deutschen Ereignisse eingebettet waren.4 Eine zentrale Quelle dieser Hoffnungen, Erwartungen und Ängste war die russische Revolution und das aus ihr hervorgehende Sowjetregime. Zugleich – und das soll im Folgenden deutlich werden – war die deutsche Revolution Quelle ebensolcher Hoffnungen im revolutionären und postrevolutionären Russland. Wenn solche Wechselwirkungen zwischen deutscher und russischer Revolution fokussiert werden sollen, kann es nicht bloß um zwei auf ein Datum fixierbare Ereignisse gehen – den 7. November 1917 (25. Oktober alten Stils) in Russland und den 9. November 1918 in Deutschland –, sondern um jeweils längere Ereignisketten, die ihre gemeinsame Wurzel im Verlauf des Ersten Weltkrieges haben. Auf russischer Seite wäre dies der Zarensturz und die Etablierung der Demokratie im Februar bzw. März und dann der Griff der Bolschewiki zur Macht im Oktober bzw. November, schließlich der Rote Terror und der Bürgerkrieg der darauffolgenden Jahre. Auf deutscher Seite wäre dies die Novemberrevolution 1918, die Berliner Januar- und Märzkämpfe 1919, die Bayerische Räterepublik 1919, und schließlich,   1 2 3 4

Für einen Überblick: Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung. Frie (2018): 100 Jahre 1918/19. Geyer (2010): Zwischen Krieg und Nachkrieg. Siehe etwa Weinhauer et al. (2015): Germany 1916–23.

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wenn wir über 1919 hinausblicken, die „Märzaktion“ 1921 und der nichtstattgefundene „Deutsche Oktober“ 1923 als Schlusspunkt der deutschen Nachkriegs-Revolutionswelle. All diese Ereignisse evozierten unterschiedliche Erwartungen im jeweils anderen Land und flossen auch in die Erfahrungen der entsprechenden revolutionären wie gegenrevolutionären Akteure ein. Hier könnte es sich lohnen, sich auf das Kosellecksche Begriffspaar von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zurückzubesinnen. Zwar klaffen, so Koselleck, in der Neuzeit Erfahrung und Erwartung stärker als vorher auseinander, aber sie bedingen sich nichtsdestotrotz aufs Engste: „Je geringer die Erfahrung, desto größer die Erwartung“.5 Dies trifft für die Zeit am Ende des Ersten Weltkrieges umso stärker zu. Wie Jörn Leonhard jüngst betonte, drehte der Weltkrieg das Verhältnis zwischen Erfahrungen und Erwartungen sogar um: Bereits ab 1914 wurden strategische Planungen und Erwägungen in immer schnellerem Rhythmus in Frage gestellt – und am Ende des Krieges bestand umso größere Nachfrage nach neuen Visionen und Weltordnungskonzepten.6 Zugleich wurden im revolutionären Prozess jedoch auch die Erwartungen von den jüngsten Erfahrungen laufend aktualisiert. So heißt es bei Koselleck: „Werden freilich dementsprechende politische Entwürfe verwirklicht, nachdem sie einmal von einer Revolution hervorgetrieben wurden, so arbeiten sich die alten Erwartungen an den neuen Erfahrungen ab“.7 Die Erwartungen der deutschen wie russischen, revolutionären wie gegenrevolutionären Akteure waren in diesem Sinne aufs Engste an die Erfahrungen des jeweils anderen Landes gekoppelt. Diese Wechselwirkungen sind an sich kein unerforschtes Gebiet und wurden bereits mehrfach beleuchtet – allerdings vor allem aus der Perspektive der deutschen Revolution.8 Im Folgenden sollen einige Aspekte skizziert werden, in denen die gegenseitigen Erwartungen (und ihre Aktualisierungen durch Erfahrung) stärker aus russischer Perspektive – und zwar auch über die Parteieliten hinaus – in den Blick genommen werden.9

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Koselleck (1989): Vergangene Zukunft, S. 374. Leonhard (2017): 1917–1920, S. 51. Koselleck (1989): Vergangene Zukunft, S. 374. Siehe zuletzt: Boak (2017): The Impact. Für die Geschichte wechselseitiger Wahrnehmungen der ungarischen und bayrischen Räterepubliken siehe auch Schulze Wessel (2005): Avantgarde der Weltrevolution. Für die Bedeutung der deutschen Revolution für die strategische Planung der bolschewikischen Führung siehe: Geyer (1976): Sowjetrussland und die deutsche Arbeiterbewegung; Geyer (1976): Deutschland und die Perspektiven; Bayerlein et al. (2003): Deutscher Oktober; Weber et al. (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 1.

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1. VERKNÜPFTE REVOLUTIONSSCHICKSALE Zuerst zu nennen wäre die Vorstellung von der gegenseitigen Abhängigkeit, also die Annahme, dass das, was in der jeweils anderen Revolution passiert, für die eigene Politik und sogar für den eigenen Alltag in höchstem Maße relevant sei. Für die sowjetischen Parteiführer hing die Zentralität der deutschen Revolution mit der Annahme der Unablässigkeit der Weltrevolution für das Gedeihen des Sozialismus in Russland zusammen. Dass Russland nur durch eine Laune der Geschichte bereits Anfang 1917 seine erste gelungene Revolution erlebt hatte, und dass die industrialisierten Staaten des Westens, allen voran Deutschland, die ‚eigentlichen‘ Revolutionen hervorbringen würden, die dann die weltweite kommunistische Transformation absichern würden, davon gingen Lenin und seine Genossen aus – wie der Parteiführer bereits in seinem „Brief an die Schweizer Arbeiter“ im April 1917 bekundete. Darin hieß es, „lediglich die besonderen geschichtlichen Bedingungen“ hätten „das Proletariat Russlands für eine gewisse, vielleicht sehr kurze Zeit zum Vorkämpfer des revolutionären Proletariats der ganzen Welt gemacht.“10 Diese „sehr kurze Zeit“ hätte ein Ende, wenn die proletarische Revolution in Deutschland eintreten würde. Doch für Russlands revolutionäre Akteure, auch und gerade jenseits der intellektuellen Eliten, hatte eine deutsche Revolution auch viel konkretere Implikationen, die keines Rückgriffes auf den Marxismus, Lenins Imperialismus-Konzepte oder Lev Trockijs Theorie der permanenten Revolution bedurften. Das Ende der Monarchie im Land des Kriegsgegners bedeutete zunächst einmal schlicht und einfach ein Ende des Krieges. Der linke Menschewik Nikolaj Suchanov etwa beschrieb in seinen Revolutionsmemoiren, wie der Petrograder Sowjet gerade einmal vier Tage nach der Februarrevolution 1917 minutenlang eine offensichtliche Falschmeldung über den angeblichen Sturz Kaiser Wilhelms bejubelte.11 So unwahrscheinlich die Nachricht auch war, so groß war die Sehnsucht, dass der Sturz der Monarchie jenseits der Schützengräben ebenso den Krieg beenden könnte, wie auch der Zarensturz, so zumindest zunächst dem Anschein nach, ihn für Russland beenden würde. Die Kausalität zwischen deutscher Revolution und Kriegsende galt auch für die Kriegsbefürworter. So tat der rechte Flügel der Menschewiki, der nach der Februarrevolution die Fortsetzung des Krieges im Namen der Verteidigung der Demokratie befürwortete, die deutsche Revolution als eine höchst unwahrscheinliche Perspektive ab.12 Auch bei den Parteiaktivisten an der Basis, vor wie nach der Oktoberrevolution, war die Vorstellung von einer Revolution in Deutschland aufs Engste mit dem herbeigesehnten Kriegsende verknüpft – um so mehr, als dass der Krieg oftmals einen unmittelbaren Einfluss auf ihren Alltag hatte.13 So notierte etwa der weißrussische   10 11 12 13

Lenin (1970): Werke, Bd. 23, S. 384 (Hervorhebung im Original). Suchanow (1967), Tagebuch der Russischen Revolution, S. 154. Vgl. Ascher (1967): Russian Marxism, S. 396. Vgl. Albert (2015): Activist Subjectivities.

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Bolschewik und Tischler Iosif Golubev, 1918 Vorsitzender eine Parteizelle von Eisenbahnern, in seinem Tagebuch zu den ersten Nachrichten von der Novemberrevolution: Nur eines macht mir Freude, nämlich dass in Deutschland eine richtige Revolution vor sich geht. Das heißt, dass wir mit ihm [d. h. Deutschland] bald keine Front mehr haben werden, man kann dann nach Minsk fahren, die eigenen Angelegenheiten ein wenig richten. Ich kann dann die Kinder beruhigen und an einem Ort bleiben. Das wäre schon ganz gut. Das deutsche Proletariat beginnt, zu Bewusstsein zu kommen, es wurde ja auch Zeit, die Ordnung wiederherzustellen [sic], die Bourgeoisie abzusetzen, und das Volk von jahrhundertlanger Sklaverei zu befreien. Das ist notwendig.14

Zunächst also war für Golubev entscheidend, dass die Revolution die Frontlinien aufbrechen würde, und er endlich seine im von Kaisertruppen okkupierten Minsk zurückgelassene Familie sehen könnte. Als Bolschewik kam er zugleich nicht umhin, die frohen Nachrichten entsprechend vulgärmarxistisch zu rahmen – und damit auch die Ereignisse als den historischen Gesetzmäßigkeiten folgend („es wurde ja auch Zeit“) einzustufen. Angesichts solcher Erwartungen, die von der Parteiführung als auch von der Parteibasis – wenn auch mit unterschiedlichen Motivationen – geteilt wurden, stellt sich die demonstrative Solidarität der Bolschewiki mit der deutschen Revolution nicht bloß als ein von oben lanciertes Propagandamanöver dar. Dass die sowjetischen Regierungszeitungen im November 1918 voll von enthusiastischen Berichten aus Deutschland waren, dass die erste Jubiläumsfeier des Roten Oktobers ganz im Zeichen des deutschen Novembers stand, ja dass die Bolschewiki demonstrativ Getreide für die deutsche Revolution sammelten und in einen nach Liebknecht benannten Güterzug verluden – all das war nicht bloß eine Nebelkerze, um von inneren Problemen abzulenken, sondern entsprach den tiefen Hoffnungen und Überzeugungen quer durch die Partei.15 So ist es auch nicht verwunderlich, welchen Einsatz für die deutsche Revolution die Bolschewiki auch in ihrer internen Kommunikation jenseits der öffentlichen Internationalismus-Propaganda demonstrierten. So schrieb Lenin in einem Brief an seine engsten Mitstreiter Trockij und Sverdlov: „Alle werden wir dafür sterben, um den deutschen Arbeitern zu helfen, die in Deutschland begonnene Revolution nach vorne zu bringen.“16 Diese Entschlossenheit hatte Lenin, Trockijs Erinnerungen zufolge, auch schon zu Zeiten der Verhandlungen von Brest-Litovsk   14 Golubev (2002): Dnevniki Iosifa Golubeva, S. 171. Deutsche Übersetzung nach: Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 180–181. 15 Zur sowjetischen Solidaritätskampagne mit der deutschen Novemberrevolution siehe: Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 95–98. 16 Weber et al. (2015): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 52–54, Zitat: S. 53. Bezeichnenderweise glätteten die DDR-Herausgeber der Leninwerke die Passage zu „Wir alle setzen unser Leben ein“ – ein solcher Elan des russischen Revolutionsführers war ihnen offensichtlich nicht geheuer. Siehe ebd.  

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dem Memoiristen gegenüber bekräftigt: „Wenn wir für den Sieg der deutschen Revolution umkommen müßten, wir wären verpflichtet, es zu tun. Die deutsche Revolution ist unermeßlich wichtiger als die unsrige.“17 Die gespannten Erwartungen an die deutsche Revolution, die in Sowjetrussland kursierten, hingen nicht zuletzt mit den Schwierigkeiten der Kommunikation und Informationsübermittlung zwischen den immer noch einander gegenüberstehenden Lagern des Weltkriegs zusammen.18 Die Bolschewiki waren dermaßen darüber verzweifelt, kein zuverlässiges Bild von den Vorgängen in Deutschland zu haben, dass Lenin während des Januarstreiks von 1918 den wahnwitzigen Vorschlag äußerte, „zur genauen Festlegung dessen, was in Deutschland vor sich geht“, Spähflugzeuge über Berlin fliegen zu lassen.19 Auch die Kommunikation der Bolschewiki mit der Räterepublik in München (und, zu einem geringeren Grad, mit jener in Budapest) war brüchig und für die Bolschewiki ein Vorantasten und zuweilen auch ein Rätselraten.20 Entsprechend bunt und teilweise megalomanisch waren die Vorstellungen von einer zukünftigen Kooperation der Rätestaaten, die in der sowjetischen Presse ausgebreitet wurden – von einer gemeinsamen russisch-deutsch-österreichischen revolutionären Armee bis hin zu Kooperationsprojekten mit der ungarischen Räterepublik im Bereich der Kohleförderung.21 Vergleichbare Symbiose-Vorstellungen blieben selbst noch 1923 virulent, als der erwartete (und nie eingetretene) „Deutsche Oktober“ der sowjetischen Bevölkerung mit den glänzenden Möglichkeiten schmackhaft gemacht wurde, die sich aus der Kooperation des industrialisierten Rätedeutschlands mit dem agrarischen Sowjetrussland ergeben sollten.22 Dieser breite Erwartungshorizont, der auch den ersten Enttäuschungen standhielt, ging in den ersten Jahren wohlgemerkt nicht mit der Vorstellung sowjetrussischer Überlegenheit einher.23 Auf Lenins Position wurde bereits verwiesen. Aber auch an der Basis wurde die Überzeugung geteilt, dass die Revolutionen im Ausland, vor allem in Deutschland, die russischen Kommunisten „lehren“ werde, „wie man ein Land regiert und wie man die Wirtschaft organisiert“, wie der lettische Fabrikarbeiter und Rotgardist Eduard Dune in seinen Memoiren festhielt. Der zunächst ernüchternde Erfahrungsraum der eigenen Revolution ließ diese Erwartungen nur noch größer werden, so Dune weiter: „Und je mehr Schwierigkeiten sich uns in den Weg stellten, desto mehr setzten wir unsere Hoffnungen auf dieses ‚Weltproletariat‘“.24

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Trotzki (1990): Mein Leben, S. 341. Selbiges gilt für die deutsche Seite, vgl. Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung, S. 537. Lenin (1970): Werke, Bd. 26, S. 509. Vgl. Neubauer (1958): München und Moskau. Siehe Albert (2012): Anticipated World Society. Siehe Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 205f. Vgl. Albert (2016): International Solidarity. Dune (1993): Notes of a Red Guard, S. 122. Übersetzung G.A.

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2. VONEINANDER LERNEN? Entsprechend offen waren beiderseits die Erwartungen bezüglich der Organisations-, Kampf- und schließlich Staatsformen – eine Offenheit, die sich jedoch durch die Erfahrungen rasch verengte. Dass Revolutionen im Ausland auch ganz anderen Organisationsmodellen folgen konnten als dem russischen, darüber wurde unter den Bolschewiki zumindest in den ersten Jahren noch durchaus diskutiert – so etwa in der privaten Korrespondenz zwischen Lenin und Außenkommissar Georgij Čičerin am Vorabend der Gründung der Kommunistischen Internationale.25 Doch nichtsdestotrotz war die Erwartung da, dass die eigene Revolution gewissermaßen den Prototyp für weitere Revolutionen im Gefolge des Krieges darstellen würde. Als dann in Deutschland tatsächlich Arbeiter- und Soldatenräte zu treibenden Kräften der Revolution wurden, schien dies die sowjetischen Erwartungen zu bestätigen – nicht nur für die Führung, sondern auch für die einfachen Aktivisten, für die sich die andere Revolution mit ihrem eigenen Erfahrungsraum zu decken schien. Für die Führer beinhaltete der Erfahrungsraum der Oktoberrevolution allerdings auch den Umstand, dass ihre Partei rasch die Macht in den Räten übernommen und monopolisiert hatte. Entsprechend hatten sie zumindest gehofft, die deutschen Revolutionäre hätten die Lage ähnlich im Griff. Nach der Novemberrevolution schafften es drei hochrangige Bolschewiki – Außenkommissar Čičerin und die polnischen Kommunisten Karl Radek und Julian Marchlewski – nach mehreren Anläufen, am 14. November eine Fernschreiberverbindung mit USPD-Mann Hugo Haase, Mitglied des Rats der Volksbeauftragten, herzustellen. Nicht nur aus der anfänglichen Tirade Čičerins, es sei „unermesslicher Schaden“ angerichtet worden dadurch, dass man nicht vorher schon habe kommunizieren können, wird ersichtlich, dass die Bolschewiki sich von dieser Revolutionsregierung viel versprochen hatten. So wurde Haase von ihnen als „Genosse“ tituliert, und Radek bat sie wie selbstverständlich, die Spartakisten Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches an den Apparat zu holen – fast so, als ob Haase und Liebknecht in derselben Regierung säßen. Haase ging auf diese Bitte selbstverständlich nicht ein.26 Insgesamt war die Novemberrevolution für die bolschewikische Führung schon vor der Niederschlagung der Januarkämpfe und der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht eine Enttäuschung – nicht zuletzt, weil die deutsche Revolutionsregierung das sowjetische Angebot von Getreidelieferungen ablehnte.27 Darin, aber auch in vielen anderen Aspekten, deckte sich die Entwicklung der deutschen Revolution nicht mit dem Erwartungshorizont der Bolschewiki. Der in den Folgejahren anwachsende Angleichungsdruck an die sowjetischen Organisationsstrukturen und Postulate, wie ihn die neugegründete KPD seitens der   25 Weber et al. (2015): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 2, S. 63f. 26 Ritter / Miller (1975): Die deutsche Revolution, S. 343 u. 349. Zum Gespräch und seiner Kontextualisierung siehe Debo (1980): The Teleprinter Conversation. 27 Siehe Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 97.  

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Komintern und damit der Sowjetregierung erfuhr,28 speiste sich sowjetischerseits mit Sicherheit auch aus dieser Enttäuschung über das Fehlen eines deutschen Weges zur proletarischen Revolution, bzw. aus dem Scheitern der Novemberrevolution aus der Perspektive der Bolschewiki. Während in der deutschen Rätediskussion bzw. bei der konkreten Ausgestaltung des Rätesystems das russische Beispiel eine nachgeordnete Rolle gespielt hat,29 war der Diskurs des ‚Sowjetdeutschlands‘ und der ‚russischen Verhältnisse‘ dagegen zentral sowohl bei den Anhängern wie auch den Gegnern der deutschen Revolution. Auf der gegenrevolutionären Seite, bis in die MSDP hinein, war stets von ‚russischen Verhältnissen‘ die Rede, die es um jeden Preis zu verhindert gälte.30 Angesichts von Zerrüttung und Aussichtslosigkeit wünschten sich aber auch viele, auch solche, die keine politischen Aktivisten waren, ‚russische Verhältnisse‘ durchaus herbei – obwohl, oder auch gerade weil sie nur aus dritter Hand über diese Verhältnisse Bescheid wussten. Die berühmte Notiz Thomas Manns, „Hoch Deutschland und Russland! Hoch lebe der Kommunismus“, ist nur ein Beispiel unter vielen, wie der jüngst erschienene Überblick von Ralf Höller über Literaten und die Münchner Räterepublik zeigt.31 3. TRANSNATIONALER ENTHUSIASMUS Dies führt uns zum nächsten Punkt, nämlich zum Enthusiasmus der revolutionären Aktivistinnen und Aktivisten für die jeweils andere Revolution. Ein solcher Enthusiasmus für die russische Revolution v.a. an der Basis war in Deutschland durchaus präsent32 – aber auch in Sowjetrussland war eine Begeisterung von oben bis unten, von den Führern bis zu den Basis-Aktivisten vorhanden, und konnte sogar an der Basis umso größer ausfallen, denn die entsprechenden Akteure brauchten sich nicht um realpolitische und diplomatische Bedenken zu scheren, und ihr Erfahrungsraum des globalen Krieges ließ den Erwartungshorizont in puncto soziale Transformationen ebenfalls global werden.33 Dass Aktivisten wie Iosif Golubev die deutsche Revolution in ihren Tagebüchern und Briefen hochleben ließen und sie für das eigene politische Leben als zentral erachteten, ist bereits erwähnt worden. Doch frühsowjetische Kommunisten unterhalb der Führungsebene trafen auch ganz konkrete Vorkehrungen, um die deutsche Revolution tatkräftig zu unterstützen.   28 Vgl. Weber (1969): Die Wandlung; Weber et al. (2014): Deutschland, Russland, Komintern, Bd. 1. 29 Vgl. Kolb (1972): Rätewirklichkeit. 30 Vgl. Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. 31 Siehe Höller (2017): Das Wintermärchen, Zitat: S. 156. 32 Siehe jüngst Boak (2017): The Impact. 33 Vgl. Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 171–172.  

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Der Bolschewik Aleksandr Spunde etwa, 1918 stellvertretender Kommissar der Staatsbank, suchte nach Ausbruch der Novemberrevolution aktiv nach Möglichkeiten, um nach Deutschland zu gehen und sich der revolutionären Bewegung anzuschließen.34 Auch Michail Voronkov, ein junger bolschewikischer Kulturfunktionär in Rjazan’, begann, offenbar unter dem Eindruck der Revolutionen in Zentraleuropa, bei einem Kriegsgefangenen Deutschstunden zu nehmen. Anfang Dezember bekräftigte er in seinem Tagebuch den Wunsch, die Sprache zu beherrschen, um endlich ins Ausland abreisen zu können. „Nach Österreich oder Deutschland!“, vermerkte er in deutscher Sprache dazu. Einige Wochen später notierte er: „Ich danke [sic, gemeint: „denke“], dass [ich] in dem Frühling nach Deutschland fahren werde. Es ist sehr angenehm.“35 Wenn man Voronkovs Weltrevolutionsbegeisterung an anderen Tagebuchstellen berücksichtigt, wird es kaum bloß der deutsche Frühling gewesen sein, der seine Hoffnungen beflügelte. Tatsächliche Einsätze sowjetischer Kommunisten im revolutionären Deutschland von 1918/19 sind jedoch, abgesehen von einigen wenigen Emissären der Bolschewiki, nicht überliefert. Massen von Freiwilligen, die dann noch womöglich auf eigene Faust agieren würden, waren das Letzte, was die Sowjetregierung in ihrer ohnehin prekären Situation gebrauchen konnte. Der Wunsch, nach Deutschland zu gehen und dort persönlich die Revolution voranzutreiben, zieht sich jedoch durch aktivistische Egodokumente und Eingaben durch die ganzen 1920er Jahre.36 Auf deutscher Seite war dies zunächst anders. 1918/19 hatten deutsche revolutionäre Aktivisten keinen Anlass, nach Sowjetrussland gehen zu wollen – denn es galt, die Revolution im eigenen Land zu vollbringen. Dies änderte sich in den Folgejahren, als Tausende von deutschen Kommunisten und Linkssozialisten nach Sowjetrussland gingen – als politische Flüchtlinge, Komintern-Mitarbeiter, oder Gründer von Landkommunen.37 4. TRANSNATIONALE FÜHRERPROJEKTIONEN Für 1917–1919 galt jedoch: Wenn man schon nicht ins jeweils andere Land ging bzw. gehen konnte, so konnte man zumindest seine Erwartungen auf prominente Gestalten der jeweils anderen Revolution projizieren. Über den „Liebknecht-Mythos“ in Deutschland während der Revolution hat Mark Jones jüngst geschrieben: Die Öffentlichkeit projizierte ihre Ängste vor einer bolschewistischen Revolution auf Karl Liebknecht, der zwar in seiner Rhetorik genug Anlass dazu gab, aber real in der Revolution eine untergeordnete Rolle spielte.38 Kaum erforscht ist hingegen der sich zeitgleich etablierende „Liebknecht  34 35 36 37

Siehe Griesse (2011): Communiquer, juger et agir, S. 393–394. Voronkov (2013): Intelligent i epocha, S. 99. Siehe Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 529–545. Vgl. Leidinger / Moritz (2007): Europäische ‚Politemigranten‘; Mahnke (1997): Auswanderungsvereine. 38 Vgl. Jones (2017): Am Anfang war Gewalt, S. 74–94.

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Mythos“ in Russland – der dem Spartakus-Führer dieselbe übernatürliche Wirkmächtigkeit zuschrieb, bloß mit positiver Konnotation. Schon vor der Oktoberrevolution war Karl Liebknecht der große Held der parteiübergreifenden Anti-KriegsLinken und verkörperte gewissermaßen das andere, bessere Deutschland. Nach der Oktoberrevolution wurde er innerhalb der Partei der Bolschewiki noch populärer und wurde nicht nur als natürlicher Verbündeter innerhalb der deutschen Linken gesehen, sondern geradezu als eine Art Heilbringer. Dies ging so weit, dass Lenin in einer Rede im März 1918 dagegen anreden musste, „dass wir jede […] Schwierigkeit unserer Revolution bemänteln müssen mit den Worten […] ‚Liebknecht wird uns heraushelfen, weil er sowieso siegen wird‘.“39 Als Liebknecht schließlich am 23. Oktober aus dem Gefängnis freikam, gab es nicht nur ein Glückwunschtelegramm der Sowjetregierung, sondern auch Tausende von Zuschriften von Parteiund Gewerkschaftsversammlungen aus der tiefsten Provinz. Keineswegs so eintönig wie vergleichbare Grußbotschaften späterer Jahrzehnte, projizierten hier Aktivisten die unterschiedlichsten und unwahrscheinlichsten Hoffnungen auf den deutschen Revolutionsführer. Ihm wurde als Führer des unmittelbar bevorstehenden Sowjetdeutschlands gehuldigt, auch wurde er nach Russland eingeladen und rhetorisch in einer Reihe mit Lenin und Trockij gestellt.40 Entsprechend schlug die Nachricht von der Ermordung Liebknechts in Russland wie eine Bombe ein. Eine massive Welle von Wut und Enttäuschung machte sich unter den Aktivisten breit. Für die weitere Entwicklung der Sowjetgesellschaft waren die Morde von großer Bedeutung. Nicht nur wurden Liebknecht und die bis dahin in Russland weniger bekannte Rosa Luxemburg zum ersten Märtyrerpaar des Kommunismus, denen fortan mit einem Jahrzehnte andauerndem Kult gehuldigt wurde. Auch war der Mord, den die ‚Pravda‘ praktisch sofort der MSPD zuschrieb, konstitutiv für den Hass auf die internationale Sozialdemokratie, der in den Folgejahren immer wieder öffentlich zelebriert wurde.41 Das Bild der Sozialdemokratie als Mörder der Revolution wurde so Teil des Erfahrungsraums des russischen Kommunismus und seiner Anhänger. Dabei beschäftigte Liebknecht und seine Rolle in der deutschen Revolution keineswegs nur die Anhänger des Regimes. Auch in den Tagebüchern von Regimegegnern finden sich Reflexionen über seine Freilassung, wobei er zuweilen als „deutscher Lenin“ apostrophiert wurde, durch dessen Freilassung Deutschland nun blühen solle, was Russland aktuell durchmache.42 Inwieweit in Deutschland wiederum ‚Lenin‘ als Metapher und Vergleichsfolie – sei es huldigender oder schmähender Art – für deutsche Revolutionäre gebräuchlich war, ist nicht systematisch erforscht. Zumindest kann man festhalten, dass Lenin für viele Protagonisten der deutschen Revolution von 1918/19 zu einer Projektionsfläche für Erwartungen   39 40 41 42  

Lenin (1970): Werke, Bd. 27, S. 81–82. Siehe Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 98. Ebd., S. 99–101. Vgl. Knjazev (1993): Iz zapisnoj knižki, S. 115–116; Okunev (1990): Dnevnik moskviča, S. 225.

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wurde, und zwar auch für solche Protagonisten, die ansonsten nicht mit den Bolschewiki auf einer Linie lagen. Als prominentestes Beispiel könnte hier der Anarchist Erich Mühsam dienen, dessen Bewunderung für Lenin länger anhielt als seine kurzzeitige Parteinahme für die Bolschewiki.43 Und seitens der Gegenrevolution wiederum war zwar nicht Lenin persönlich, so doch der prototypische, ‚asiatische‘, vorzugsweise ‚jüdische‘ Bolschewik ein Zerrbild, mit dem die Protagonisten etwa der Münchner Räterepublik immer wieder abgeglichen wurden. 5. TRANSNATIONALE GEWALTBEGRÜNDUNGEN Daran schließt der letzte Punkt dieser Skizze an: Welche Rolle spielte die jeweils andere Revolution bei der Begründung und Ausführung von Gewalt? Wenn auch die Bolschewiki vor politischer Massengewalt und speziell vor Massenterror nicht zurückscheuten, gingen sie nicht davon aus, dass er zu jeder Revolution unausweichlich dazugehören würde. Von Lenin sind entsprechende Äußerungen über Ungarn überliefert, wonach er es ihr positiv anrechnete, dass dort die Revolution „unvergleichlich […] friedlicher“ abgelaufen sei als in Russland.44 Während die Bolschewiki im Bezug auf Deutschland weder revolutionäre Gewalt erwarteten noch sie gar einforderten, zögerten sie jedoch nicht, ihre eigene Gewalt mit der konterrevolutionären Gewalt in Finnland, Ungarn und v.a. in Deutschland zu rechtfertigen.45 Die von Arthur Holitscher in seinem 1921er-Reisebericht kolportierte Erzählung, in der Provinz hätten Arbeiter aus Rache für Liebknecht Vertreter der Bourgeoisie umgebracht,46 scheint bloß ein Gerücht zu sein. Tatsache ist aber, dass die in Russland sofort und massiv skandalisierte Ermordung der deutschen Revolutionsführer, zusammen mit Morden und Attentatsversuchen gegen russische Bolschewiki, den ein halbes Jahr später einsetzenden Roten Terror plausibilisieren sollte. Die Morde an den deutschen Revolutionsführern wurden nahtlos ins Narrativ eingegliedert, nach dem der Rote Terror eine Abwehrmaßnahme gegen die tödliche Gewalt der Bourgeoisie bzw. der ‚Weißen‘ seien, auch auf internationaler Ebene.47 Zugleich wurde wiederum in Deutschland die gegenrevolutionäre Gewalt – wie jüngst von Mark Jones herausgearbeitet – mit Gerüchten über angebliche oder tatsächliche revolutionäre Gewalt in Deutschland, aber auch in Russland gerechtfertigt.48 Die ‚Verhinderung russischer Zustände‘ stand auf dem Programm, und der Bevölkerung wurden Schreckensbilder über Sowjetrussland dargereicht, die zuweilen einen wahren Kern hatten, aber oftmals ins Absurde und Groteske hineinreich  43 44 45 46 47 48

Für Mühsam: Albert (2015): Erich Mühsams verhinderter Russlandreise. Lenin (1970): Werke, Bd. 29, S. 376. Vgl. Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 109 u. 176. Holitscher (1921): Drei Monate, S. 243. Siehe Albert (2017): Das Charisma der Weltrevolution, S. 101. Vgl. Jones (2017): Am Anfang war Gewalt.

Revolutionäre Wechselwirkungen. Deutschland und Russland 1917–1919

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ten. So profitierten beide Seiten – die Bolschewiki in Russland und die Regierungskräfte in Deutschland –, was die Rechtfertigung eigener Gewalt über die Gewalt im jeweils anderen Land angeht, von den Informationshürden zwischen beiden Ländern. 6. FAZIT Dieser zuegebenermaßen skizzenhafte Abriss zu den wechselseitigen deutsch-russischen Wahrnehmung und Erwartungen in der Revolutionsphase nach dem Ersten Weltkrieg lässt einige allgemeine Schlussfolgerungen zu. Die Erwartungshorizonte der revolutionären Akteure gegenüber der jeweils anderen Revolution waren zunächst offen und breit angelegt. Dies betraf nicht nur die Erwartungen der Führer, sondern auch die Aktivisten an der Basis. Die deutsch-russische Revolutionsperiode von 1917–1919 wurde jedoch – gerade weil die Erwartungen so hoch waren – zu einer Geschichte wechselseitiger und folgenreicher Enttäuschungen. Zu diesen Enttäuschungen gesellten sich wechselseitige Missverständnisse, die aus realen Informationsasymmetrien und -defiziten sowie einer ideologisch verzerrten Realitätswahrnehmung resultierten. Auf deutscher Seite verschärfte die Beurteilung der Vorgänge in Russland die ohnehin seit 1914 bestehende Spaltung der Arbeiterbewegung um ein Vielfaches. Das russische Negativbeispiel hielt die MSPD von einem weitreichenden politischen und v.a. sozialen Neubeginn ab, die Revolution blieb also „unvollendet“; mehr noch, das Schreckensbild des Bolschewismus diente der MSPD-Führung als Rechtfertigung von Gewaltmaßnahmen gegen linke Gegner. Auf sowjetischer Seite wiederum trug die gegenrevolutionäre Gewalt in Deutschland ebenfalls kurzfristig dazu bei, gegen politische Gegner im eigenen Land, v.a. gegen die mit der internationalen Sozialdemokratie assoziierten Menschewiki, verschärft vorzugehen. Die mittelfristigen Konsequenzen waren jedoch von noch größerer Tragweite: Das Scheitern der deutschen Revolution (aus bolschewikischer Sicht) war die erste und vielleicht folgenreichste Enttäuschung in einer ganzen Reihe von revolutionären Situationen im Ausland, die die ersehnte Weltrevolution hätten auslösen sollen. Deutschland, das Geburtsland des Marxismus und ein Musterland der organisierten Arbeiterbewegung, hatte eine zentrale Position im bolschewikischen Erwartungshorizont eingenommen. Das Ausbleiben einer deutschen proletarischen Revolution nach bolschewikischer Vorstellung prägte nach 1918 um so stärker den Erfahrungsraum der Bolschewiki auf allen Ebenen der Partei – was wiederum einen Anteil daran hatte, dass in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, nach einer ganzen Reihe ähnlicher Erfahrungen, das Stalinsche Paradigma vom „Sozialismus in einem Land“ in den Augen einer Mehrheit von Parteiaktivisten plausibler schien als ein Festhalten am Paradigma der Weltrevolution.

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AKTEURE UND STRUKTUREN IN DER REVOLUTION

ZWISCHEN ERWARTUNGEN UND ZWANGSLAGEN Sozialdemokratie und radikale Linke in der Revolution Walter Mühlhausen Auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD im Juni 1919 ergriff der wenige Wochen später von seinem Amt zurücktretende Wirtschaftsminister Rudolf Wissell das Wort zur Frage der Sozialisierung. Er versuchte dabei allgemein zu erklären, weshalb man seit den Tagen des Umsturzes am 9. November 1918 nicht das erreicht habe, „was bei Ausbruch der Revolution erwartet“ worden sei: Es ist nicht das geschehen, was das Volk von der Regierung erwartet hat. Wir haben die formale Demokratie weiter ausgebaut. Gewiss! Aber wir haben doch nichts anderes getan, als das Programm fortgeführt, das von der Kaiserlich Deutschen Regierung des Prinzen Max von Baden schon begonnen worden war. […] Wir konnten das Bedürfnis der Bevölkerung nach einer höheren Lebensform, das hinter dem dumpfen Grollen der Massen steckt, nicht befriedigen, weil wir kein richtiges Programm hatten.

Und, so der ehemalige Volksbeauftragte weiter: „Das sage ich auch für die Partei.“1 Das fehlende Programm war jedoch nur ein Punkt, warum die von vielen erwartete Neuordnung ausblieb. Im Folgenden wird insbesondere der Frage nachgegangen, welche Gegenkräfte und Rahmenbedingungen die Realisierungschancen sozialdemokratischer Programmatik minimierten und von welchem Selbstverständnis die Revolutionsregierung getragen wurde. In den Blick genommen werden die beiden ersten Phasen des Umbruchs, die Zeit des vorrevolutionären Verfassungswandels im Oktober 1918 und die Wochen vom 9. November bis Ende Dezember 1918, als der paritätisch von beiden sozialdemokratischen Parteien besetzte Rat der Volksbeauftragten die Zeitläufte bestimmte.2

  1

2

Zitiert nach der durch den Herausgeber geglätteten Version in: Wissell (1983): Aus meinen Lebensjahren, S. 255; im offiziellen Parteitagsprotokoll ist der Satz unverständlich, weil unvollständig; SPD-Parteitag 1919, S. 363f. Die Mitschrift im „Vorwärts“ Nr. 299/304 vom 17. Juni 1919 bringt die Passage in einer gekürzten und leicht modifizierten Form. Für unser Thema nach wie vor wegweisend: Miller (1978): Bürde, und Winkler (1984): Revolution. Schönhoven (2000): Revolution, S. 211; der Beitrag ist in Gänze auch für unser Thema von besonderer Relevanz.

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1. DAS FEHLENDE PROGRAMM Der nahezu abrupte Zusammenbruch in den Herbsttagen 1918 war nicht gezielt von einer auf die Eroberung der Macht vorbereiteten Organisation herbeigeführt worden. Bis in den September 1918 war es nicht zu erwarten, dass die Sozialdemokratie in absehbarer Zeit an der Regierung würde teilhaben können. Und bis Ende Oktober war bei realistischer Betrachtung überhaupt nicht damit zu rechnen, dass keine zwei Wochen später revolutionäre Ereignisse die beiden sozialdemokratischen Parteien ins Zentrum der Macht katapultieren würden. Auf eine komplette Übernahme der Regierungsgeschäfte waren SPD und USPD ebenso wie die revolutionäre, auch ohne Konzept agierende radikale Linke absolut unvorbereitet. Sicher, die Sozialdemokraten hatten während des Krieges, vor allem ab dem Jahreswechsel 1916/17, auf Reformen gedrängt, sich dabei aber auf den staatsrechtlichen Bereich konzentriert. Neuorientierung hieß das Schlagwort und meinte die Demokratisierung des semiparlamentarischen Systems durch Einbindung der Parteien in die Macht und eine parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung. Dazu gehörte auch die Überwindung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, gegen das die Sozialdemokratie vor dem Krieg Sturm gelaufen war. Einen kleinen Erfolg stellte ein Gesetz vom August 1918 dar, mit dem das Ungleichgewicht der 1869 verfügten Wahlkreiseinteilung ein wenig aufgebrochen wurde und mehrere großstädtische Wahlkreise zusammengelegt wurden, in denen eine unterschiedliche, der Bevölkerung angepasste Anzahl von Abgeordneten nach dem Verhältniswahlsystem zu bestimmen war, womit die Zahl der Abgeordneten von 397 auf 441 angewachsen wäre.3 Das war jedoch nur ein bescheidener Abschlag auf die geforderte Neuorientierung und kam auch nicht mehr zum Tragen. Insgesamt aber besaßen beide sozialdemokratischen Parteien kein detailliertes Programm mit strategischer Umsetzung für den Fall einer Übernahme der Regierung. Im Tornister hatte man das mehr als 25 Jahre alte Erfurter Programm, das auf die Bedingungen nach dem Sieg über Bismarcks Verfolgungspolitik zugeschnitten war. Es spiegelte nicht die bis zum Krieg sich allmählich und dann im Krieg dramatisch veränderte politische Situation und auch nicht das Erstarken des Reformismus in der Partei wider. Das Aktionsprogramm vom Mai 1918 orientierte sich mit einer ganzen Liste an Forderungen an einem Fortbestehen des Kaiserreiches. Es ging eben nicht – und konnte es zu diesem Zeitpunkt auch nicht – von einer Führungsrolle oder gar alleinigen Macht der Sozialdemokratie aus.4 Die im Erfurter Programm von 1891 genannten politischen, sozialpolitischen und wirtschaftlichen Forderungen wurden überwölbt von einem theoretischen Teil ganz im Sinne einer marxistischen Gesellschaftsanalyse, wobei von der naturnotwendigen Entwicklung hin zum Sozialismus die Rede war. Das Warten – besser: das Abwarten – auf den zwangsläufigen „Kladderadatsch“ stand einer Diskussion   3 4

„Gesetz über die Zusammensetzung des Reichstags und über die Verhältniswahl in großen Reichstagswahlkreisen“ vom 24. August 1918 in: Huber (1990): Dokumente, S. 241f. Das Programm abgedruckt bei Mommsen (1960): Parteiprogramme, S. 391; eingeordnet bei Miller (1974): Burgfrieden, S. 347ff.

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um Strategie und Planung im Falle eines gleitenden Systemwandels oder gar einer Revolution entgegen: Als der „Kladderadatsch“ im November 1918 dann tatsächlich über Deutschland hereinbrach, war die Sozialdemokratie darauf nur schlecht vorbereitet. Die neuen Machthaber hatten keine fertige Blaupause für sofortige oder mittelfristige Maßnahmen im Fall der Übernahme des Staates in der Schublade. Schon gar nicht verfügten sie über ein Logbuch, wie ein schlingerndes, vom Untergang bedrohtes Staatsschiff wieder auf Kurs zu bringen war. In Anbetracht der hochdramatischen Ausgangslage konnten die führenden Sozialdemokraten nicht generalstabsmäßig am Reißbrett, vor allen Dingen nicht in Ruhe und mit einem weiten Zeitfenster einen neuen Staat entwerfen. Denn das untergehende Kaiserreich hinterließ noch einen ganzen Stapel existentieller Probleme, von denen einige einer sofortigen Lösung bedurften. So begriff sich die am 10. November installierte Revolutionsregierung mehr oder weniger als Konkursverwalter des alten Regimes, der dieses Erbe abarbeiten musste. Das Gepäck der Vorzeit wog schwer, auch wenn schon einiges von der Regierung Max von Baden abgearbeitet worden war. 2. DER OKTOBER 1918 UND DIE SOZIALDEMOKRATIE Im Zeichen der Kriegsniederlage kam es zur Regierungsbeteiligung der SPD als der nach wie vor stärksten Fraktion, die seit der über die Burgfriedenspolitik erfolgten Abspaltung der USPD zu Ostern 1917 freilich sichtlich geschrumpft war. Die Partei, die vor dem Krieg dem Sturz des Kaiserreiches und der Revolution das Wort geredet hatte und deren Mitglieder als ‚Reichsfeinde‘ auch über die mit dem Sozialistengesetz (1878–1890) legislativ unterfütterte Phase der allgemeinen Sozialistenhysterie hinaus lange ausgegrenzt worden waren, hatte mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914 und in der Folgezeit einen entscheidenden Schritt in die Nation vollzogen.5 Das honorierten die Mittelparteien erst im Juli 1917 mit der Bildung des Interfraktionellen Ausschusses. Ausschlaggebend war dabei gewesen, dass die nunmehr stärker auf Neuorientierung drängende SPD aus dem bei Kriegsausbruch geschlossenen Burgfrieden auszuscheren drohte.6 Ungeachtet der Kooperation mit den bürgerlich-demokratischen Kräften spülte die Krisenlage im Herbst 1918 die SPD in die für den weiteren Weg des Reiches entscheidende Rolle. Sie war bereit, diese mit hohem Verantwortungsethos – über die eigene Partei hinaus für die ganze Nation – auch anzunehmen. Vor den Spitzengremien der SPD rief ihr Vorsitzender Friedrich Ebert dazu auf, sich in die „Bresche zu werfen“, um den ersehnten Frieden herbeizuführen und revolutionäre Verwerfungen abzuwenden. Das sei ihre „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“. Philipp Scheidemann, Mitvorsitzender seit dem Würzburger Parteitag vom Oktober 1917,   5 6  

Vgl. Mühlhausen (2014): Völker. Mit weiteren Literaturhinweisen Mühlhausen (2018): Erosion.

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wies darauf hin, dass es Situationen gebe, in denen das Parteiinteresse sich den Notwendigkeiten für die Rettung des Volkes unterzuordnen habe, selbst wenn sich die Partei die Verantwortung für „Dummheiten“ aufhalse, an denen sie gänzlich unschuldig sei.7 Ziel war es, nun endlich die eigenen Forderungen durchzudrücken und diese, wenn möglich, mit der Rettung des Landes zu verbinden. Russland stand für den Fall eines Verweigerns als abschreckendes Beispiel vor Augen. Sowohl das vom Interfraktionellen Ausschuss vorgelegte Gesamtprogramm wie auch die von der SPD formulierten Bedingungen für ihren Regierungseintritt zielten neben dem Friedenschluss nahezu ausschließlich auf Reformen im politischen Bereich.8 Mit deutlicher Mehrheit entschied sich die SPD-Fraktion für den Eintritt in die erste parlamentarisch gestützte Regierung unter dem am 3. Oktober bestallten neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden, getragen von Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein über die eigene Partei hinaus. Sie hielt auch an dem Entschluss fest, als die militärische Führung den Parteiführern reinen Wein einschenkte und die bis dahin kaum für möglich gehaltene Niederlage eingestand. Der militärische Offenbarungseid traf sowohl die sozialdemokratischen Parlamentarier als auch die große Mehrheit der Deutschen wie ein Keulenschlag. Unter dem Eindruck der neuen Mitteilungen mehrte sich in der SPD-Führung die Zahl derer, die am Sinn eines Eintritts in ein bankrottes Unternehmen, wie es Scheidemann später bezeichnete9, zweifelten. Otto Wels, seit 1912 Mitglied des Parteivorstandes, beschwor Ebert: „Bist Du von Gott verlassen, lass doch zum Teufel den Frieden diejenigen schließen, die den Krieg geführt und Verantwortung getragen und den Waffenstillstand gefordert haben.“10 „Von Gott verlassen“ war der Parteivorsitzende keineswegs; er erkannte die Notwendigkeit, nun zuzugreifen, um den Krieg zu einem einigermaßen erträglichen Ende zu bringen und die Chance zur Teilhabe an der Regierung zu nutzen, auch wenn es „ein großes Opfer“ für die Partei sein werde. Das Ganze war in der Tat ein „gewagtes Spiel“.11 Mit Gustav Bauer und Philipp Scheidemann gehörten dem ersten parlamentarisch abgestützten Kabinett zwei Vertreter der SPD an. Sie durfte es auch als einen Erfolg verbuchen, dass mit dem Reichsarbeitsamt ein Ressort für Sozialpolitik eingerichtet wurde, geleitet von Bauer, dem Zweiten Vorsitzenden der gewerkschaftlichen Generalkommission.12   7

Sitzung von Fraktion und Parteiausschuss am 23. September; Die Reichstagsfraktion 2 (1966), S. 442 (Ebert) und S. 429 (Scheidemann); dazu und zum Folgenden Lehnert (1984): Sozialdemokratie, S. 50ff. 8 Entwurf des Programms des Interfraktionellen Ausschusses und die SPD-Bedingungen zum Regierungseintritt bei Huber (1990): Dokumente, S. 248ff.; die SPD-Forderungen auch in: Die Reichstagsfraktion 2 (1966), S. 417. 9 Scheidemann (1928), Memoiren 2, S. 190. 10 Nachweis bei Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 101. 11 Ebert am 21. September 1918 vor dem Interfraktionellen Ausschuss; Der Interfraktionelle Ausschuß 2, S. 642. 12 Vgl. Rudolf Tschirbs: Arbeiterausschüsse, Betriebsräte und Gewerkschaften 1916–1922. In: Führer u.a. (2013): Revolution, S. 257–284, hier S. 268; Führer (2009): Legien, S. 220.  

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Die Ende Oktober verabschiedeten Verfassungsreformen13, die das Gewicht des Reichstages gegenüber der Regierung stärkten und die konstitutionelle Monarchie in eine parlamentarische transferierten, waren für die Mehrheitssozialdemokraten ein entscheidender Schritt in Richtung Demokratie. Nicht von ungefähr feierte Ebert in der parlamentarischen Aussprache am 22. Oktober 1918 das Ganze als „Systemwechsel von großer Tragweite“, als „Geburtstag der deutschen Demokratie“.14 Dieser still vor sich hergehende Verfassungswandel war von oben, von der militärischen Führung, angesichts der desaströsen Situation an der Front zugestanden, aber gleichzeitig auch von unten, ganz entschieden von der Sozialdemokratie, erkämpft worden. Das Urteil der unabhängigen Sozialdemokraten über Regierungsbildung und Reformprozess fiel erwartungsgemäß negativ aus. Die „Regierungssozialisten“ hätten sich vor den Karren der Bourgeoisie und Kriegsverlängerer spannen lassen. Für die weiter eine Fundamentalopposition betreibende USPD war dies alles, so ihr Vorsitzender Hugo Haase im Reichstag, nur „ein Flicken auf dem absolutistischen, militaristischen Mantel“.15 Das USPD-Leitorgan, die „Leipziger Volkszeitung“, forderte am 25. Oktober die sofortige Einberufung einer aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Nationalversammlung, die eine „Regierung des Volkes“ zu wählen habe, die „allein und unumschränkt die Macht ausübt“.16 Waren dagegen die Mehrheitssozialdemokraten am Ziel ihrer Träume? Wohl nicht ganz. Zwar sah das neue Regierungsmitglied Scheidemann durch die Oktoberreformen einen großen Teil ihrer politisch-verfassungsrechtlichen Forderungen realisiert.17 Doch das war der SPD beileibe nicht genug, denn die von der „Regierung des Volksvertrauens“ eingeleitete innenpolitische Wende konnte und durfte, so Ebert am 22. Oktober, nur der „Anfang eines Überganges“ sein. Es war für die SPD ein Etappenziel – mehr nicht, aber auch nicht weniger. Von einer wirklichen Demokratie könne nur gesprochen werden, wenn die wirtschaftliche Ausbeutung abgeschafft und die Klassengegensätze überwunden wären. So müsse das Ganze fortentwickelt werden, denn, so prophezeite er: „Wenn die Völker fortschreiten und die Verfassungen stillstehen, kommen die Revolutionen.“18 Diese aber wollte die Parteiführung unbedingt vermeiden. In der Zeit der Regierung Max von Baden vertiefte sich die Kluft zwischen SPD und USPD. Gleichzeitig gewann in ihren Pressorganen die Diskussion um die Frage, wie es weitergehen sollte, erheblich an Fahrt. Neuordnungspostulate kreisten um Reformen und ein personelles Revirement in Militär und Verwaltung, um die   13 Huber (1990): Dokumente, S. 278ff.; für die neue Regierung vgl. Machtan (2014): Prinz, S. 400ff. 14 Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode, Bd. 314, Stenographische Berichte 1914 bis 1918, S. 6161. 15 Am 22. Oktober; ebd., S. 6189. 16 Brandt / Lehnert (2013): Demokratie, S. 111. 17 Philipp Scheidemann: Der Frieden und die Internationale, Artikel im sozialdemokratischen „Vorwärts“ Nr. 302 vom 2. November 1918. 18 Verhandlungen des Reichstags (wie Anm. 14), Bd. 314, S. 6161.

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Demokratisierung der Verwaltung und um die Frage der Sozialisierung, das Kernstück wirtschaftspolitischer Zielvorstellungen. Die alles entscheidende Frage aber blieb, wohin der mit der neuen Regierung und den Oktoberreformen angestoßene staatsrechtliche Reformprozess letztlich führen sollte. In der SPD gab es eine starke Strömung, die Monarchie, demokratisch reformiert, vorerst zu erhalten, allerdings ohne den völlig diskreditierten Kaiser. Das speiste sich aus der Vermutung, dass nach dem verlorenen Krieg ein radikaler verfassungsrechtlicher Schnitt die Situation noch zusätzlich verschärfen würde. Für Ebert war klar: „Deutschland ist nicht reif für die Republik.“ Noch nicht, so sind diese Worte zu deuten.19 Auf friedlichem Wege sollte der wilhelminische Semiparlamentarismus in den vollendeten, sozial ausgeprägten Verfassungsstaat verwandelt werden. Das konnte auch unter monarchischem Signet erfolgen. Doch wurde die Abdankung des Kaisers immer mehr zur Schlüsselfrage, denn mit ihm würden – so musste spätestens mit der dritten Wilson-Note vom 23. Oktober wohl jedem klar sein – die Alliierten keinen Frieden schließen. Die mehrfachen sozialdemokratischen Vorstöße in Sachen Thronverzicht von Wilhelm II. liefen allesamt ins Leere, so dass die Partei nur noch warnen konnte, dass nunmehr die Dinge ihren Lauf nehmen müssten. Sie nahmen ihren Lauf, auch weil die Oktoberreformen viel zu spät gekommen waren, um noch eine kühlende Wirkung auf die überhitzte Stimmung draußen im Lande zu erzielen. Sie wurden kaum mehr wahrgenommen.20 3. ZWISCHEN KRISENMANAGEMENT, NACHLASSVERWALTUNG UND DEMOKRATIEGRÜNDUNG: DIE REVOLUTIONSREGIERUNG ALS TREUHÄNDER DER MACHT Wucht und Geschwindigkeit des von Friedenssehnsucht und Freiheitsdrang getragenen Proteststurms, der das monarchische System wie ein Kartenhaus zusammenfallen ließ, überraschten sowohl Sozialdemokratie als auch radikale Linke, die selbst über die Revolution zum Frieden und zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gelangen wollte. Mit dem Erfolg der revolutionären Massenbewegung waren jegliche Gedanken an einen allmählichen Übergang in die Demokratie obsolet geworden. Nun mussten die sozialdemokratischen Organisationen sich an die Spitze der Bewegung stellen und das Machtvakuum füllen. Mit der durch die Oktoberreformen vollzogenen Parlamentarisierung, der Abdankung des Kaisers und der Übernahme der Regierungsgewalt durch den am 10. November gebildeten Rat der Volksbeauftragten sahen viele in der SPD-Führungsetage die wesentlichen Punkte des sozialdemokratischen Forderungskatalogs aus der Kriegszeit realisiert. Ganz in diesem Sinne formulierte Ebert kurz danach: „Deutschland hat seine Revolution vollendet.“21 In der Revolutionsregierung saßen   19 Vgl. Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 98f.; Mühlhausen (2017): Parteivorsitz, S. 56f. 20 Siehe hierzu auch den Beitrag von Lothar Machtan in diesem Band. 21 „Vorwärts“ Nr. 311 vom 11. November 1918.

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mit je drei Vertretern der beiden sozialdemokratischen Parteien – von der SPD Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Landsberg, von der USPD Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth – die alten Parteigenossen wieder gemeinsam an einem Tisch, die eineinhalb Jahre zuvor in einem fundamentalen Streit auseinandergegangen waren. Dazwischen lag eine Zeit der erbitterten Auseinandersetzung um Erbe und Infrastruktur der Partei. Diese Erfahrung musste nun zurückgestellt werden, um in Gemeinschaft das Kommende zu bewältigen. Doch von „größter Feindschaft zwischen den führenden Köpfen beider Parteien“ kann nicht die Rede sein22, auch wenn es persönliche Animositäten zwischen den Führern von SPD und USPD gab und die tiefen Wunden, die der Parteispaltungsprozess geschlagen hatte, längst noch nicht vernarbt waren. Belastet war die Kooperation auch dadurch, dass die radikale Linke in der USPD wie eine Opposition zur Regierung agierte und nicht sogleich die eigentlich folgerichtige organisatorische Trennung vollzog. Die Regierung war ein aus der Not geborenes Zweckbündnis zweier sozialdemokratischer Parteien, die sich dieser Aufgabe mit unterschiedlichen Zielsetzungen in einigen Punkten annahmen. Beladen war die Arbeit – und damit auch die Zusammenarbeit – durch eine Fülle von aktuellen Problemen. Der Rat der Volksbeauftragten übernahm die Geschäfte in einer der komplexesten Problemlagen deutscher Geschichte in neuerer Zeit, angesichts von Zusammenbruch und Niederlage, von Hunger und einer erneuten Welle der todbringenden Spanischen Grippe. „Schwierigkeiten über Schwierigkeiten“23 türmten sich auf: Akute Probleme verlangten Entscheidungen in kürzester Frist. Die von einem höchst zeitaufreibenden und vielschichtigen Krisenmanagement überbordete Tagesarbeit minimierte die Möglichkeiten zu einer intensiven Debatte um Neuordnung und Strukturwandel. Der mehr als vierjährige Krieg mit einer alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Mobilisierung hatte das Sozialgefüge deformiert und die Klassengegensätze verschärft. Deutschland war ausgezehrt, die Bevölkerung demoralisiert. Für eine Stabilisierung mussten die im Krieg gewachsenen Klassenspannungen abgebaut und die zerrissene Gesellschaft befriedet werden. Die neuen Machthaber standen also vor einer Doppelaufgabe: zum einen das Erbe von Krieg und Kaiserreich abzuarbeiten, die unmittelbare Not zu überwinden und den drohenden wirtschaftlichen Kollaps abzuwenden, zum anderen die Spur in die Demokratie freizulegen.   22 Hoffrogge (2008): Müller, S. 74f. Überholte Legenden revitalisiert, nicht nur in diesem Punkt, der sich vor allem auf die Erinnerungen der Unabhängigen stützende Seils (2016): Haase, S. 664, wenn er feststellt, die Feindschaft zwischen den beiden sozialistischen Parteien sei bereits beim Auftakt der Revolutionsregierung durch das intrigante Agieren der Mehrheitssozialdemokraten noch vertieft worden. Er macht gar zu Beginn eine maßlose Wut über die „Regierungssozialisten“ bei denjenigen aus, die für den Umsturz ihr Leben riskiert hatten. Dagegen steht Seils eigene Feststellung, dass trotz der schwer und kaum zu lösenden Probleme die Arbeit der Volksbeauftragten „nach Lage der Dinge“ gut verlief (ebd., S. 680). 23 Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 574; zu den Vorbelastungen auch Schönhoven (2002): Entstehung.

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Blicken wir zunächst auf die Nachlassverwaltung. Am 11. November schwiegen die Waffen mit dem vom Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im französischen Compiègne unterzeichneten Waffenstillstand, um den die Regierung Max von Baden bereits am 4. Oktober nachgesucht hatte. Das Verlangen nach Frieden war ein Motiv des durch Deutschland ziehenden Revolutionszuges gewesen. Ein vertraglich abgesicherter Friedensschluss war der Waffenstillstand noch nicht. Doch das Töten hatte ein Ende, gewiss noch nicht das Sterben. Die als diskriminierend empfundenen Bedingungen der Waffenruhe stellten eine zusätzliche Belastung der Regierungsarbeit dar. Das schlug sich besonders auf dem ernährungspolitischen Sektor nieder. Absicherung und Akzeptanz der Revolutionsregierung hingen wesentlich von Erfolgen an der Ernährungsfront ab. Denn ein Grund, der die Massen im November 1918 auf die Straße getrieben hatte, war die höchst prekäre Versorgungslage gewesen. Nach zwei Hungerwintern und mit Aussicht auf einen dritten mit weiteren zahlreichen Opfern hatte ganz oben auf den Fahnen der Unzufriedenen neben Frieden und Freiheit auch „Brot“ gestanden. Und für „Brot“ hatte nun der Rat der Volksbeauftragten zu sorgen. Nur durch Lebensmitteleinfuhren war die Grundversorgung einigermaßen zu gewährleisten. Doch die Siegermächte hielten die Seeblockade aufrecht. Die Krise spitzte sich zu. Die Sorge um die Nahrungs- und Energieversorgung bestimmte das Handeln. Beides hing eng miteinander zusammen. Denn falls es nicht gelingen sollte, die Kohleförderung mindestens einigermaßen aufrechtzuerhalten (wenn schon nicht zu steigern, was zur Deckung des Bedarfs eigentlich notwendig war), so würde sich dies auch verheerend auf die Lebensmittelversorgung auswirken. Für zusätzliche Erschwernisse sorgte die Umstellung der Kriegsproduktion auf Friedenswirtschaft. Davon betroffen waren immerhin drei Millionen Rüstungsarbeiter. Der Staat fiel als Hauptabnehmer der Rüstungsgüter abrupt aus, an seine Stelle trat jedoch keine sofortige Nachfrage nach zivilen Gütern. Die Industrie musste nunmehr für die zivilen Erfordernisse produzieren. Der Markt verlangte nicht mehr Granaten, sondern Kochtöpfe. Und diese mussten nun nicht nur hergestellt, sondern auch gefüllt werden. In diese vor einem grundlegenden Wandel stehende Wirtschaft waren über acht Millionen vom Kriegsschauplatz heimkehrende Soldaten einzugliedern. Die nach rascher Lösung drängenden Fragen bewirkten eine Zurückhaltung der Revolutionsregierung in strukturellen Reformen und personalpolitischen Fragen, die beide nach Ansicht zumindest der Mehrheitssozialdemokraten mit erheblichen Risiken behaftet gewesen wären. Angesichts der krisenhaften innenpolitischen Situation und der außenpolitischen Zwangslagen sah sich die SPD gezwungen, auf die alten, im Wesentlichen noch intakten zivilen und militärischen Apparate aus der Vorrevolutionszeit zurückzugreifen, getragen von der Furcht vor dem Verlust der Kontrolle über die Lage. Dies motivierte den führenden Kopf der Regierung, Friedrich Ebert, auch zur Verständigung mit General Wilhelm Groener, der der neuen Regierung die Unterstützung der OHL zusicherte, die im Gegenzug die Beibehaltung der Kommandostrukturen erwartete. Ein konspirativer „Pakt“ des Volksbeauf-

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tragten Ebert mit den alten militärischen Gewalten zur Niederhaltung der Arbeiterbewegung, wie dies später behauptet wurde, war dies nicht. Die Übereinkunft entsprach schlicht politischer Zweckmäßigkeit und stellte einen entscheidenden Akt zur Stabilisierung der soeben erst übernommenen Regierungsverantwortung dar.24 Mit der gegenseitigen Akzeptanz von neuer ziviler und alter militärischer Führung sollte auch die Gefahr eines antirevolutionären Gegenschlags aus dem kaiserlichen Offizierskorps gebannt werden.25 Zudem erforderte nach Ansicht der Mehrheitssozialdemokraten die schnelle Rückführung der noch weit in Feindesland stehenden Truppen, die nach den Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens innerhalb von gerade einmal zwei Wochen erfolgen musste, einen eingespielten militärischen Apparat, über den nach ihrer Einschätzung eben nur die OHL verfügte. Der Mangel an geeigneten Kräften zeigte sich, als ein personalpolitischer Wechsel von entscheidender Bedeutung, der an der Spitze des preußischen Kriegsministeriums, erfolgte, nachdem Generalmajor Heinrich Scheüch Mitte Dezember zurückgetreten war. Scheüch, erst seit dem 9. Oktober 1918 im Amt, galt als ein loyaler Offizier, der zu den wenigen führenden Militärs gehörte, die die Notwendigkeit einer Umformung des Wehrsystems auf demokratischer Grundlage erkannten. Die Entscheidung über die Neubesetzung schleppte sich hin. Der von der USPD für fähig angesehene Ernst Däumig, Mann der linksradikalen Revolutionären Obleute, der wohl auch von den führenden Mehrheitssozialdemokraten akzeptiert worden wäre, zog sich zur großen Enttäuschung der Unabhängigen zurück, weil er fürchtete, sich selbst durch eine Übernahme ausgerechnet dieses Postens bei den Radikalen zu diskreditieren.26 Das Fehlen einer geeigneten Alternative aus den eigenen Reihen wurde überdeutlich. Fast schon verzweifelt fragte Barth: „Haben wir denn gar keinen Genossen mit dem nötigen Organisationstalent?“27 Nach den Weihnachtskämpfen entschied man sich für den von Ebert favorisierten Oberst Walther Reinhardt, keineswegs eine schlechte Wahl, stand er doch einer moderaten Militärreform durchaus aufgeschlossen gegenüber. 15 Monate später, bei der Nagelprobe im Kapp-Lüttwitz-Putsch, stellte er sich hinter die rechtmäßige Regierung. Dass die Revolutionsregierung Hindenburg nicht sofort ablöste, mag auch an dem nach wie vor hohem Ansehen gelegen haben, das dieser genoss. Ihn abzusetzen, hätte für Aufruhr gesorgt, und zwar weit über das Militär hinaus, dem schon der Kaiser als Fixstern abhandengekommen war. Nicht erst die Wahl zum Reichspräsidenten 1925 dokumentierte die Popularität Hindenburgs, der seinen Nimbus vom glorreichen Feldherrn über Kriegsniederlage und Systembruch hinwegretten   24 Siehe hierzu auch den Beitrag von Peter Keller in diesem Band. 25 Brandt / Lehnert (2013): Demokratie, S. 113: Ebert habe sich durch diese „Umarmungstaktik“ „eher vorsorglich gegen konterrevolutionäre Aktionen des Offizierskorps“ schützen wollen; vgl. Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 110 und S. 129. 26 So Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 605. 27 Die Regierung der Volksbeauftragten 1, S. 397: Kabinettssitzung vom 18. Dezember 1918; vgl. Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 122.  

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konnte und den der DVP-Mann Gustav Stresemann im Verein mit den Deutschnationalen und im Wissen um die nach wie vor große Zugkraft des wilhelminischen Vorzeigeoffiziers schon Anfang 1920 auf das Kandidatenschild für das höchste Staatsamt hieven wollte.28 Wie auf dem militärischen Gebiet unternahm der Rat der Volksbeauftragten auch in anderen Bereichen keine nachdrücklichen Versuche zu einem grundlegenden personellen Revirement. Die Möglichkeit, im Sinne eines Neuanfangs in den administrativen Kernbereichen Männer der alten Systemzeit abzuberufen und Kräfte aus den eigenen Reihen in leitende Funktionen zu bringen, wurde gar nicht erst ausgetestet. Bei diesem Verzicht auf eine personelle Erneuerung und auf die Einleitung von Reformen spielte neben einem auf das Funktionieren des Staates ausgerichteten Denken die Sorge um die Konsolidierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage eine zentrale Rolle: „Ein Versagen der Organisation […] würde Deutschland der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern“, hatte der neue Reichskanzler Ebert bereits am 9. November gemahnt.29 Eine aktionsfähige Organisation galt als unbedingte Voraussetzung für praktisch-politisches Handeln. Daher ließen die neuen Machthaber das personalpolitische Gefüge der obersten Behörden weitgehend unangetastet und hielten die kaiserlichen Beamten dazu an, sich in den Dienst der neuen Regierung und der Demokratie zu stellen. 4. WEICHENSTELLUNGEN Trotz der aus den Problemlagen resultierenden Konzentration auf die Funktionstüchtigkeit der Verwaltung rammten die Volksbeauftragten wichtige Pflöcke der Neuordnung ein. Mit der bereits am zweiten Tag ihrer Regentschaft erlassenen Verordnung30 legten sie die Spur in Richtung Demokratie. Sie verankerten die Grundrechte und führten neben gesetzesändernden Bestimmungen wie der Aufhebung des Belagerungszustandes, der Amnestie für politische Straftaten und der Inkraftsetzung der bei Kriegsbeginn aufgehobenen Arbeiterschutzbestimmungen den achtstündigen Maximalarbeitstag ein. Damit erfüllten sie die zentrale sozialpolitische Forderung der Arbeiterbewegung aus der Vorkriegszeit. Mit dem Wahlrecht für Frauen, das auch weite Teile des fortschrittlichen Bürgertums als eine Selbstverständlichkeit betrachteten, legten die Volksbeauftragten die Basis für die politische Gleichberechtigung von Mann und Frau; das war nichts weniger als ein historischer

  28 Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 528. 29 Der von Ebert als „Reichskanzler“ unterzeichnete Aufruf vom 9. November 1918 zitiert ebd., S. 114. 30 „Aufruf“ der Revolutionsregierung vom 12. November 1918; Die Regierung der Volksbeauftragten 1 (1969), S. 37.  

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Meilenstein. Gewiss war sie eine „nichtkontroverse Errungenschaft der Revolution“, weil sie eine Selbstverständlichkeit darstellte31, aber dass sie so früh umgesetzt wurde, hatte sie der Revolution und den Sozialdemokraten zu verdanken. Die Frauen der Siegermächte mussten im Gegensatz dazu teilweise noch jahrzehntelang auf ihr Grundrecht warten. Im besiegten Deutschland galt aber ab 1919 überall das gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für alle Personen über zwanzig Jahre. Gleichzeitig ersetzte die Verhältniswahl das seitherige, den Wählerwillen verzerrt widerspiegelnde Mehrheitssystem. Von Reformen in Militär und Verwaltung stand nichts in der Verordnung, auch wenn der den revolutionären Obleuten zuzurechnende Emil Barth dies gefordert hatte. Das erschien der Mehrheit nicht notwendig, denn beides musste erst einmal funktionieren. Das andere wie Wahlrecht und Achtstundentag konnte mit einem Federstrich verordnet werden. Strukturmaßnahmen eben nicht. Hierfür brauchten sie tragfähige Konzepte. Und diese besaß die Regierung nicht. Mit dieser „‚Magna Charta‘ der Revolution“ (Wilhelm Dittmann)32 verwirklichten die Volksbeauftragten sozialdemokratische Kernpunkte, die auch über die eigene Klientel hinaus auf weite Akzeptanz stießen und zu deren Erlass sich die Revolutionsregierung legitimiert sah. Es umfasste, so Hermann Müller Jahre später, das „sozialdemokratische Gegenwartsprogramm, soweit es in der Zeit der Umstellung der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft durchführbar war“.33 In der Folge wurden Schlag auf Schlag weitere sozial- und arbeitsrechtliche Schritte unternommen, die das Reformwerk abrundeten. Alles andere war nach Meinung der SPD Sache des kommenden Parlaments, das mit einer demokratischen Legitimation im Rücken und vor allem in Ruhe und Ordnung die weitere soziale und wirtschaftliche Reformierung zu realisieren hatte. Das Endziel blieb im Visier: „Demokratie und Sozialismus“ lautete die Überschrift eines sozialdemokratischen Flugblatts vom Dezember 1918.34 In diesem Zweiklang kam der Demokratie Priorität zu; in der Revolution besaß sie absoluten Vorrang. Im sozialdemokratischen Wertekanon war klar definiert: Die Demokratie war „der Fels“, auf dem das Proletariat die neue Gesellschaft formen sollte, wie es Ebert zu Beginn des für die weitere Entwicklung entscheidenden Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte in bildhafte Worte kleidete.35 Der Sozialismus sollte auf demokratischer Basis gedeihen – nicht diktatorisch verfügt, sondern vom Volk in seiner Gesamtheit über die schleunigst zu berufene Nationalversammlung beschlossen werden. „Ein Sozialismus, der nicht aus dem Leibe der Demokratie gewachsen ist, bleibt eine lebensunfähige   31 Als „revolutionäre Selbstverständlichkeit“ und „nichtkontroverse Errungenschaft“ wurde das Frauenwahlrecht im Titel des Vortrages von Hedwig Richter bezeichnet, der auf der ursprünglichen Tagung gehalten wurde, seinen Weg aber nicht in diesen Band gefunden hat. 32 So in seinen von 1939 bis 1947 verfassten Memoiren; Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 571. 33 Müller-Franken (1931): November-Revolution, S. 84. 34 Nachweis bei Mühlhausen (2018 I): Ebert, S. 69. 35 Allgemeiner Kongreß (1972), Spalte 4.  

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Missgeburt“36, hieß es schon Mitte Oktober 1918 im „Vorwärts“. Die sozialistische Gesellschaftsordnung könne nur „Schritt für Schritt“ erreicht werden. Von daher war die Nationalversammlung der Hort der Demokratie. Weil die Mehrheitssozialdemokraten sich nur als Treuhänder der Macht mit befristetem Mandat verstanden, erhoben sie es „zur heiligsten Pflicht“, baldmöglichst ein Zentralparlament wählen zu lassen.37 Denn: „Der Sieg der Revolution kann nur gesichert werden durch die auf Grund demokratischer Wahlen von Männern und Frauen berufene Konstituante.“38 Diesem Kurs folgte die Mehrheit der Deutschen. Der alte Reichstag wurde endgültig nach Hause geschickt. Wollte die SPD das neue Reichsparlament tunlichst schnell realisieren, so hegte der auf Parlamentarismus ausgerichtete Flügel der heterogenen USPD, die im Oktober noch auf eine umgehende Konstituierung einer Nationalversammlung gedrängt hatte, Vorbehalte gegen einen frühen Wahltermin. Auch die parlamentarisch-demokratische Kohorte in der USPD wollte bereits vor den Wahlen umfangreiche Reformen verordnen. Andersherum die SPD: Im unerschütterlichen Glauben an den Volkswillen als dem Souverän der Demokratie wies sie der kommenden Nationalversammlung das Recht und die Pflicht zu, jene grundlegenden verfassungs- und gesellschaftspolitischen Entscheidungen zu treffen, die eben nicht zum Allgemeingut gehörten oder zumindest von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wurden. Da spielte vielleicht auch die Hoffnung auf eine Mehrheit in den Wahlen (auch ohne die USPD) mit. Für die Führungsmannschaft der SPD stand nach den Erfahrungen in der Revolutionszeit ein Zusammengehen mit der USPD außer Frage.39 Für die Mehrheitssozialdemokraten war klar: Politik musste sich auf das Votum der Mehrheit des Volkes berufen können. Anders als in dem vom revolutionären Sturm hinweggefegten Kaiserreich wollte die SPD in der neuen Republik allen die Möglichkeit zur Mitgestaltung geben. Und ein weiteres Argument für baldigen Wahlen: Jedes Hinauszögern der freien Wahlen hätte die Legitimationsbasis der Revolutionsregierung geschmälert. Die Politik der Mehrheitssozialdemokratie wurde auf dem Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember bestätigt, der Gradmesser für die Wunschvorstellungen der sozialdemokratischen Basis war. Der Kongress repräsentierte zwar eine Massenbewegung, nicht aber den Querschnitt des ganzen Volkes. Rund 80 Prozent waren Vertreter von SPD (60,5 Prozent) und USPD (19,6 Prozent).40 Es dominierten die sich der Vorkriegssozialdemokratie und deren politischen Zielen   36 37 38 39 40

 

„Vorwärts“ Nr. 286 vom 17. Oktober 1918. „Vorwärts“ Nr. 323 vom 24. November 1918. „Vorwärts“ Nr. 338 vom 9. Dezember 1918. Vgl. für Ebert: Mühlhausen (2018): Ebert (1871–1925), S. 354f. Vgl. Roß (1999): Partizipation, S. 139ff. Wie viele Personen wirklich an den Wahlen teilnahmen (es durften nur „Arbeiter“, verstanden als „Kopf- und Handarbeiter“, sowie Soldaten wählen), ist nicht ermittelbar. Auch war das Verfahren der Delegiertenbestimmung recht unterschiedlich: Es reichte von geheimer Wahl über Akklamation bis zur Abordnung; ebd., S. 39ff.

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verpflichtet fühlenden Delegierten. Auf dem Revolutionskonvent wurde es überdeutlich, dass eine sozialistische Räterepublik oder gar eine Diktatur der Räte bolschewistischer Spielart, wie sie die Linksradikalen erstrebten, nicht auf der Tagesordnung stand. Selbst ihre prominenteste Figur, der Spartakusmann Karl Liebknecht, wurde nicht für den Kongress nominiert. Nichts unterstreicht seine geringe Gefolgschaft in der organisierten Arbeiterbewegung mehr als das Scheitern des Antrages, ihm und Rosa Luxemburg zumindest als Gast Gehör zu verschaffen.41 Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter- und Soldatenräte stützte die auf parlamentarische Demokratie und baldige Wahlen zu einem Nationalparlament ausgerichtete Politik der Mehrheitssozialdemokraten. Nahezu 90 Prozent der Delegierten stimmten für Wahlen schon am 19. Januar 1919 und erteilten mit 344 gegen 98 Stimmen dem Antrag, am Rätesystem als Grundlage der künftigen Verfassung festzuhalten, eine glatte Absage. Wenn der Kongress mit diesen Entscheidungen auch die mehrheitssozialdemokratische Politik bestätigte, so setzte er mit der Forderung, die Sozialisierung der vermeintlich reifen Sektoren, also in erster Linie des stark monopolisierten Bergbaus, sofort in Angriff zu nehmen, und mit der Verabschiedung von Eckwerten eines Militärprogramms die Revolutionsregierung auch in Zugzwang. Doch in strukturpolitischen Fragen übten sich die Mehrheitssozialdemokraten in Zurückhaltung. Das betraf auch die Sozialisierung, die von jeher den wirtschaftspolitischen Nukleus im sozialdemokratischen Forderungskatalog darstellte. Angesichts der gebetsmühlenartigen Wiederholung dieses Postulats seit den Gründertagen stand eigentlich zu erwarten, dass sie sogleich umgesetzt werden würde. Doch besaß die Sozialdemokratie kein tragfähiges und innerhalb der Partei akzeptiertes Konzept, was möglicherweise auch darauf zurückzuführen ist, dass in der marxistischen Gesellschaftsanalyse der Sozialismus nahezu unabwendbar aus der kapitalistischen Wirtschaft erwachsen sollte.42 Sozialismus und Sozialisierung wurden als geschichtliche Zwangsläufigkeit betrachtet. Wissell ging auf diesen Punkt auf dem Parteitag 1919 ein: Die lange Zeit in den Parteikreisen allgemeingültige Annahme vom zwangsläufigen Weg in den Sozialismus aufgrund einer zunehmenden Konzentration des kapitalistischen Systems habe zu einer Vernachlässigung der praktischen Seite geführt. Eine Rechtsform der Sozialisierung mit entsprechenden Selbstverwaltungskörperschaften fehle daher, und ohne die würden jegliche strukturellen Eingriffe ins Wirtschaftsleben für „ein wildes Tohuwabohu“ sorgen. Die aktuelle Lage spreche auch dagegen, denn die erforderlichen Enteignungen könnten nicht entschädigungslos erfolgen. Für eine Entschädigung fehle aber schlicht das Geld. Dies stehe auch einer Sozialisierung des als reif geltenden Bergbaus entgegen. Die stattgehabte exorbitante Teuerung der Kohle seit Kriegsende wäre bei einer Sozialisierung dieser angelastet worden. Alles in allem, und hier zitierte Wissell den mittlerweile in Österreich für die Sozialisierung zuständigen Emil Lederer, das   41 Allgemeiner Kongreß (1974), S. 12. 42 Susanne Miller: Grundwerte in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie (ursprünglich 1976). Erneut in: Dies. (1995): Sozialdemokratie, S. 28–59, hier S. 44.  

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vormalige Mitglied der deutschen Sozialisierungskommission: „Je schwieriger die wirtschaftliche Lage eines Landes ist, desto schwieriger ist auch die Sozialisierung. [...] Wir dürfen nie einen Moment vergessen, dass jeder falsche Schritt auf dem Weg zur Sozialisierung uns in den Abgrund treiben kann.“43 Neben dem Glauben an die Naturnotwendigkeit – eine Floskel, die wie eine „ermüdende Beruhigungspille“ wirkte44 – kamen also aktuelle Hemmnisse hinzu, wie auch Ebert auf der Konferenz der Ländervertreter am 25. November herausstrich: „Jetzt, wo die Produktivkräfte fast völlig erschöpft sind, ist es ungemein schwer, ja fast unmöglich, diese Absicht in die Tat umzusetzen. Deshalb gilt es zunächst, unseren Arbeitern und den von der Front zurückströmenden Soldaten Arbeit und Lebensmöglichkeit zu schaffen.“45 Die MSPD-Führung hielt es in dieser Phase des Übergangs von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft nachgerade für ein Wagnis, den Wiederaufbau der Wirtschaft und die damit eng zusammenhängende arbeitsmarktpolitische Integration der von der Front zurückkehrenden Soldaten durch Umstrukturierungen in Gefahr zu bringen. Sie glaubten sich in einer Situation, in der man zwischen Notstandspakt und Strukturreform zu entscheiden hatte. Hinzu gesellte sich die Furcht, dass in Gemein- oder Staatseigentum überführte Industriezweige viel leichter dem Zugriff der Siegermächte ausgesetzt gewesen wären. Ob die Furcht begründet war oder nicht: Sie stand den Handelnden vor Augen. Selbst Dittmann nennt noch in seinen Erinnerungen die Angst vor einer alliierten Bemächtigung als „großes Hemmnis für die Überführung des großen Privateigentums in Staatseigentum“. Deshalb habe der Rat der Volksbeauftragten in dieser Frage Zurückhaltung geübt.46 Der Druck der Basis erhöhte sich erst später. Die in erster Linie betroffene Bergarbeiterschaft richtete in der ersten Phase der Revolution im November und Dezember 1918 angesichts einer dramatischen Mängelsituation das Hauptaugenmerk auf die Beseitigung der Lebensmittelknappheit und auf sozialpolitische Besserungen. Die von den Bergarbeitergewerkschaften und dem Zechenverband abgeschlossenen Regelungen über die Achtstundenschicht und einen Mindestlohn wurden zunächst begrüßt, dann aber kritisiert, weil mit dem reichseinheitlich verordneten Achtstundentag die Vereinbarung keinen Vorteil für die Bergarbeiter bedeutete, da die Ein- und Ausfahrtzeiten nicht einberechnet wurden. Die Streiks im Ruhrgebiet waren zunächst eine Lohnbewegung; Sozialisierung war nur eine nachgeordnete Forderung. Sie gewann in der zweiten Phase der Revolution 1919 an Gewicht.47   43 SPD-Parteitag 1919, S. 363ff; das von Wissell angeführte Lederer-Zitat auf S. 368. 44 Helga Grebing: Das Erfurter Programm. In: Faulenbach / Helle (2013): Menschen, S. 42–47, hier S. 46. 45 Die Regierung der Volksbeauftragten 1, S. 153. 46 Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 576. 47 Jürgen Mittag: Versäumte Chancen oder realitätsnaher Pragmatismus? Die Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet zwischen Sozialisierungsdebatten und Proteststreiks 1918–1920. In: Führer u.a. (2013): Revolution, S. 211–236, hier S. 215ff.

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Zudem litt die Arbeiterbewegung in erheblichen Maße unter dem Umstand, dass das im Erfurter Programm manifestierte Postulat der Sozialisierung zwar immer noch ideologische Richtschnur darstellte, dass aber dieses Programm schon längst nicht mehr das Handeln der Arbeiterbewegung und explizit der auf Sozialreform, Arbeitsverfassung und Tarifrecht ausgerichteten Gewerkschaften bestimmte. Ganz im Sinne einer auf Konfliktvermeidung und sorgsamen Wandel ausgerichteten Politik der Mehrheitssozialdemokraten schlossen Gewerkschaften und Unternehmerverbände am 15. November das sogenannte „Stinnes-Legien-Abkommen“, mit dem an der Arbeitsfront weitgehend Ruhe herrschte. Die wesentliche sozialpolitische Weichenstellung in den Revolutionswochen wertete die Gewerkschaften beträchtlich auf, die von den Arbeitgebern, auch in der Furcht vor einem Machtverlust und Eingriffen in die Wirtschaftsstruktur, als Tarifpartner anerkannt wurden. Damit wurden die traditionellen Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern entschärft – zumindest für eine gewisse Zeit. Der wegweisende, sich aber doch als brüchig herausstellende sozialreformerische Bund von Arbeit und Kapital zerplatzte in der Krise der Hyperinflation 1923. Die Mehrheitssozialdemokraten betrachteten eine Entscheidung über die Eigentumsordnung als Obliegenheit des künftigen Parlaments, wollten sie doch hierfür einen breiten Konsens über das sozialdemokratische Lager hinaus herstellen. Wie später im Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ von Fritz Naphtali (1928) galt die politische Demokratie als Ausgangspunkt und unerlässliche Voraussetzung für den Sozialismus. Auf dieser Linie bewegten sich auch die Freien Gewerkschaften, deren Vorsitzender Carl Legien auf der Konferenz der Vorstände am 3. Dezember 1918 zwar dazu aufrief, die Sozialisierung vorzubereiten, zugleich aber auch darauf hinwies, dass eine Realisierung Monate oder gar Jahre dauern würde.48 Zunächst sollte eine Kommission von Sachverständigen, der auch bürgerliche Vertreter angehören sollten, klären, welche Industrien eigentlich als sozialisierungsreif gelten konnten. Einzelexperimente wollte die Regierung vermeiden.49 Das Expertengremium konstituierte sich bereits am 5. Dezember 1918 unter der Leitung von Karl Kautsky. Die Sozialisierung wurde nachfolgend von Regierungsseite auf kleiner Flamme weiter gekocht. Eine parlamentarische Mehrheit hierfür fand sich nicht mehr. Insgesamt traten konzeptionelle Fragen bereits während der Revolutionswochen in den Hintergrund angesichts einer Verschärfung der innenpolitischen Lage. Die Auseinandersetzungen verlagerten sich immer mehr auf die Straße, und nicht erst nach den Weihnachtskämpfen, sondern schon mit den Ereignissen vom 6. Dezember, als es zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen war. Die Parole „Kein Bruderkampf“, mit der nach dem Umsturz die sozialdemokratische Basis die Flügel der Arbeiterbewegung zum einheitlichen Handeln gedrängt hatte, wurde von Beginn an von Seiten der Linken torpediert, die mit den Regierungssozialisten nicht   48 Die Gewerkschaften (1985), S. 543. 49 Kabinettssitzung vom 21. November 1918; Die Regierung der Volksbeauftragten 1 (1969), S. 115.

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an einem Tisch sitzen wollten. Die auf ein Rätesystem abzielende revolutionäre Linke mobilisierte ihre Anhänger. Spartakus setzte auf ein Weitertreiben der Revolution und predigte die Weltrevolution mit Deutschland als der zweiten Station nach Russland und ließ keine Gelegenheit verstreichen, die Mehrheitssozialdemokraten zu Todfeinden der Revolution zu erklären. Gewiss zahlte es die SPD-Presse mit gleicher Münze heim. Aber wenn einerseits der verbale Radikalismus der SPD als ein Grund für eine gegen Spartakus gerichtete Pogromstimmung gesehen wird, die dann im scheußlichen Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht eskalierte, so darf andererseits die spartakistische Hetze gegen die Mehrheitssozialdemokratie nicht klein geredet oder gar ignoriert werden. Der Wortradikalismus der Linksrevolutionäre drohte jeden Moment in Aktion umzuschlagen. Das dürfte die Mehrheitssozialdemokraten nicht unbeeinflusst gelassen haben, die dabei zweifelsohne die tatsächliche bolschewistische Bedrohung überschätzten. Die Bolschewistenfurcht mochte angesichts der Schwäche der linksradikalen Kräfte im revolutionären Deutschland überzogen sein; sie war vorhanden und beeinflusste das Handeln aller Akteure. Zudem führte der leichtfertig und in eklatanter Selbstüberschätzung der eigenen Stärke von den Linken entfachte Januar-Aufstand, Ausdruck politischer Ohnmacht, doch allgemein vor Augen, dass eine zu allem entschlossene Minderheit, die keinen Einfluss auf die Neuordnung hatte, durchaus eine reale Gefahr darstellte. In diesen Zwangslagen sahen sich die Volksbeauftragten einer enormen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt: Sie agierten in einem politischen Hexenkessel, in dem man ein „Fell wie ein Rhinozeros“, so Philipp Scheidemann, haben musste.50 Im Gravitationszentrum Berlin ballten sich die Konflikte, polarisierten sich die Kräfte. In diesen zum Bersten aufgeladenen Tagen mussten die Verantwortlichen um Leib und Leben fürchten. Die Arbeitskraft wurde bis zum Äußersten strapaziert. Man kam kaum noch aus der Reichskanzlei raus: „Wir sind ja fast Tag und Nacht hier“, meinte Hugo Haase auf der Sitzung von Kabinett und Zentralrat am 28. Dezember, unmittelbar vor Sprengung des Koalitionskabinetts.51 Nahezu täglich fanden Sitzungen des Kabinetts statt. Hinzu kamen Konferenzen mit dem Vollzugsrat bzw. Zentralrat oder der preußischen Regierung sowie die ganztägige Reichskonferenz mit den Ländervertretern am 25. November.52 Die spätere Feststellung des Volksbeauftragten Otto Landsberg, dass ein Arbeitstag von mindestens achtzehn Stunden die Regierungsmitglieder auch rein körperlich erschöpft habe53, dürfte nicht übertrieben sein. Trotz der Belastungen wurde der Weg in die Demokratie gebahnt. Diese auszugestalten, war Sache der Volksvertretung. Man mag die Politik der Mehrheitssozialdemokraten als richtig oder falsch bewerten – undemokratisch oder gar ein Verrat an den Grundsätzen der eigenen Partei war sie nicht. Wer getragen war von dem   50 Die Regierung der Volksbeauftragten 2, S. 142: Sitzung von Kabinett und Zentralrat, 28./ 29. Dezember 1918. 51 Ebd. 2, S. 85. 52 Chronologische Übersicht in: Die Regierung der Volksbeauftragten 1 (1969), S. CXXXIII. 53 Otto Landsberg 1925; Nachweis bei Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 157.

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Glauben, dass die Republik nur auf einem breiten Bündnis von sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und reformbereitem Bürgertum lebensfähig sein würde und wer den Wählerwillen als Imperativ politischen Handelns nahm, der konnte keinen grundlegend anderen Kurs einschlagen, als ihn die SPD in den Wochen nach dem Sturz der Monarchie steuerte. Eine demokratische Alternative zur Politik der Mehrheitssozialdemokratie gab es nicht. Die Revolution, vom linken Spektrum der Zeitgenossen und Historiker als gescheitert, von anderen als unvollendet oder steckengeblieben charakterisiert, darf insofern doch als eine erfolgreiche gesehen werden, als sie die Demokratie begründete.54 Sicher – es gab Fehleinschätzungen der Handlungsträger, manches Zögern, manches Verharren, vielleicht fehlte es auch mitunter am „Mut zum Risiko“55, aber all dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Sozialdemokratie an der Wiege des demokratischen Verfassungsstaates stand und ihn lebensfähig machte; andere führten die Republik zur Bahre. Das sinkende Staatsschiff hatten die Sozialdemokraten 1918/19 wieder auf Kurs gebracht. Am Untergang der von ihr begründeten Republik 14 Jahre später traf sie keine Schuld. Der Weg in die Diktatur war nicht durch Entscheidungen oder vermeintliche Unterlassungen in den Revolutionswochen vorgezeichnet. Die Sozialdemokraten waren weder Landesverräter im Sinne der das politische Klima so vergiftenden Dolchstoßlegende, noch waren sie Arbeiterverräter im Sinne einer leichtfertigen, gar heimtückischen Preisgabe von Interessen der Arbeiterbewegung, sondern sie waren die Weichensteller und die Verteidiger des von ihr wesentlich begründeten demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Und das bis zum Ende der Republik. LITERATUR Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands. Vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte. Eingeleitet von Friedrich Helm und Peter Schmitt-Egner. Unveränderter Neudruck der Ausgabe Berlin 1919, Glashütten im Taunus 1972. Brandt, Peter / Lehnert, Detlef: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010, Berlin 2013. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Zwei Teile, bearb. von Erich Matthias unter Mitwirkung von Rudolf Morsey, Düsseldorf 1959. Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914–1919. Bearb. von Klaus Schönhoven, Köln 1985. Die Regierung der Volksbeauftragten. Zwei Teile, eingeleitet von Erich Matthias, bearb. von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff, Düsseldorf 1969. Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Zwei Teile, bearb. von Erich Matthias und Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966.

  54 Vgl. etwa Niess (2017): Revolution, der schon im Titel vom wahren „Beginn unserer Demokratie“ schreibt. 55 Brandt / Lehnert (2013): Demokratie, S. 115.

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DAS WAGNIS DER DEMOKRATIE Der Liberalismus zwischen Erneuerung und Existenzkrise Jens Hacke Will man die Novemberrevolution in Deutschland angemessen begreifen, so verdienen die Hoffnungen und Erwartungen der Zeitgenossen besondere Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich gab es wenige Momente in der deutschen Geschichte, in denen optimistischer Aufbruch und Resignation eine derart spannungsvolle Melange eingingen wie in der Gründungsphase der Weimarer Republik. Dies galt vor allem für das sehr heterogene Lager des politischen und intellektuellen Liberalismus. Der Historiker hat es mit der Evaluation von Handlungsspielräumen und Alternativen zu tun, und sicherlich wäre in politischer Hinsicht eine Menge über verspielte Chancen und verpasste Möglichkeiten zu sagen. Natürlich liegt es nahe, hier eine Geschichte des Versagens liberaler Politik zu erzählen. Sie ist hinreichend bekannt: Wir haben es uns angewöhnt, Weimars Ende mit der Erosion der bürgerlichen Mitte und dem politischen und geistigen Niedergang des Liberalismus zu verknüpfen.1 Aber in den letzten Jahren hat sich eine Perspektivverschiebung ergeben. Die erste deutsche Demokratie wird nicht mehr allein als Geschichte des Scheiterns erkundet, sondern die Errungenschaften, die Entwicklungsmöglichkeiten und die mit ihr verbundenen Neuanfänge werden stärker ins Blickfeld gerückt.2 Oder, um es anders zu wenden: Es war nicht selbstverständlich, dass trotz vielfältiger Belastungen überhaupt eine demokratische Ordnung entstehen konnte. Arnold Brecht, ein republikanischer Ministerialbeamter und späterer Politikwissenschaftler, hat diesen Blickwechsel schon viel früher gefordert: „Das eigentlich Erstaunliche“, bemerkte Brecht zur Gründungsphase Weimars in seinen Memoiren, „ist nicht, daß dreizehn Jahre später die demokratische Verfassung in Deutschland zusammenbrach, sondern dass das nicht schon viel eher geschah.“ Statt nach Sündenböcken zu suchen, wäre es logischer, sich zu vergegenwärtigen, „welche Ereignisse und Personen dazu beigetragen haben, dass die demokratische   1 2  

Vgl. die klassische Darstellung bei Langewiesche (1988): Liberalismus in Deutschland, S. 233– 286. Vgl. etwa Gusy (Hrsg.) (2000): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik; Groh, (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik; Müller (2014): Nach dem Ersten Weltkrieg.

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Republik trotz des Widerspruchs zwischen den Spielregeln und den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen so lange funktionieren konnte“.3 Wir haben es also mit einer komplizierten Gemengelage zu tun: Vor dem Hintergrund der alsbald schwindenden Unterstützung für die Weimarer Koalition, ist die Verfassungsschöpfung aus der Revolution und die vorübergehende Stabilisierung innerhalb massiver Krisen außenpolitischer, innenpolitischer und ökonomischer Art das erklärungsbedürftige Faszinosum. Überhaupt gilt es daran zu erinnern, dass das liberale Momentum der Republikgründung zunächst gar nicht absehbar war. Immerhin war es die politische Linke, die im Rat der Volksbeauftragten und auf der Straße die Novemberrevolution prägte, während sich die bürgerliche Mitte erst einmal in der Defensive befand. Insofern erscheint es gerechtfertigt, sich mit den Chancen, dem Neuen und auch den Wagnissen derer zu beschäftigen, die wir zum Kreis der Liberalen zählen können. Dabei werde ich den Liberalismus aus ideengeschichtlicher Perspektive behandeln und die politische Ereignisgeschichte und die komplexe Transformationsgeschichte der liberalen Parteien eher vernachlässigen. Ich möchte dabei in drei Schritten vorgehen: zunächst will ich versuchen zu erläutern, in welcher Weise wir überhaupt von Liberalismus als einem Sammelbegriff in der Novemberrevolution sprechen können; in einem zweiten Abschnitt möchte ich mich dann mit dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie beschäftigen, um Weimar als Durchbruchphase zur liberalen Demokratie – etwas bis dato Neues – begreifen zu können. Drittens möchte ich auf den parteipolitischen Neuanfang unter „massendemokratischen“ Bedingungen eingehen, der in vielerlei Hinsicht revolutionär war, auch wenn der echte Aufbruch nur ein knappes Jahr dauerte. Vierten sollen aus ideengeschichtlicher Perspektive die langfristigen Innovationen des demokratischen Liberalismus in Weimar verdeutlicht werden, um am Ende zu einem knappen Fazit zu kommen. 1. ZUM BEGRIFF DES LIBERALISMUS Es unmöglich, einen klar definierten Liberalismusbegriff zu präsentieren. Meiner Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten: Man nimmt erstens die Selbst- und Fremdbezeichnung der Zeitgenossen ernst und bezieht jeden, der von sich oder anderen als liberal bezeichnet wird, in die Untersuchung ein. Ein solches Vorgehen ist mit dem Problem konfrontiert, dass sich im Revolutionsjahr kaum jemand als liberal exponierte; der Begriff war verbrannt, galt als Relikt des 19. Jahrhunderts und gehörte gewissermaßen zu einer im Weltkrieg untergegangenen Epoche. Zweitens könnten wir uns den Parteien zuwenden, die nach allgemeinem Verständnis dem liberal-bürgerlichen Lager zugerechnet wurden (und bekanntlich auch nicht das Wort liberal im Namen trugen). Dies würde den Blickwinkel allerdings   3

Brecht (1967): Aus nächster Nähe, S. 312, 316.

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politisch einengen, denn der Liberalismus war stets eine unübersichtliche „Familie von Ideen und Verhaltensmustern“ (Sheehan), von Netzwerken und Gruppierungen.4 Es gehört zu seiner Eigenheit, dass er als Ensemble von Ideen und Überzeugungen in viele Richtungen diffundierte. Dies führt uns drittens zu dem Problem, im Liberalismus so etwas wie einen überzeitlichen ideellen oder normativen Kern auszumachen. Auch dies scheint schwer möglich. Ein Blick auf den Theoretiker, der allgemein als wichtigster Vordenker des Liberalismus gesehen wird, nämlich Max Weber, mag das illustrieren.5 Es gibt wichtige Argumente – und ich werde sie gleich vertreten –, Weber als entscheidenden Vordenker der liberalen Demokratie zu würdigen. Aber genauso gut kann man die Auffassung haben, dass an gewissen Wertüberzeugungen gemessen Weber nach heutigen Maßstäben (und wohl auch schon in den Augen anders gepolter liberaler Zeitgenossen) weit entfernt von gängigen liberalen Vorstellungen war: Weder vergötterte er den freien Markt, noch war er ein Vordenker internationaler friedlicher Völkerverständigung; auch der Schutzraum des Einzelnen vor dem Staat interessierte ihn nicht besonders – und einen Fortschrittsoptimisten wird man ihn auch nicht nennen wollen, denn zu düster war sein Blick auf ‚das stahlharte Gehäuse der Hörigkeit‘, welches das moderne Individuum einenge.6 Insofern kann es mir im Folgenden nicht darum gehen, eine Gesamtschau des Liberalismus mit allen Lichtund Schattenseiten zu geben, sondern ich möchte einige Linien herausarbeiten, die in konstruktiver Absicht die im Entstehen begriffene liberale Demokratie konturierten.7 2. LIBERALISMUS UND DEMOKRATIE Der englische Journalist Edmund Fawcett hat in seiner Ideengeschichte des Liberalismus noch einmal daran erinnert, dass der Kompromiss zwischen Liberalismus und Demokratie, die Kombination von Freiheits- und Bürgerrechten und demokratischer Regierungsform (begleitet vom Ringen um eine sozialverträgliche Ökonomie) hart erkämpft und historisch keineswegs zwangsläufig war.8 Ideengeschichtlich ist es ironisch, dass just in dem Moment, da Carl Schmitt die Unverträglichkeit von Parlamentarismus und Demokratie beweisen wollte, progressive Liberale von Max Weber über Hugo Preuß bis zu jüngeren wie Hans Kelsen oder Moritz Julius   4 5 6 7 8  

Sheehan (1983): Der deutsche Liberalismus, S. 11; Ganz ähnlich spricht Michael Freeden vom Liberalismus als „family with loose connections“. Siehe dazu auch Freeden (2011): „Europäische Liberalismen“, S. 1028–1046. Die herausgehobene Rolle Max Webers betonen z. B. Bellamy (1993): Liberalism and Modern Society, S. 157–216; Müller (2011): Contesting Democracy, S. 40–46. Vgl. zu Webers Liberalismus Hennis (1986): Voluntarismus und Urteilskraft, S. 195–236. Die folgenden Überlegungen finden sich ausführlicher in: Hacke (2018): Existenzkrise der Demokratie. Fawcett (2014): Liberalism.

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Bonn die repräsentative Regierungsform als einzig mögliche Realisierung der modernen Demokratie verteidigten. Das ist nicht als Ergebnis eines durch Kriegsniederlage erzwungenen Vernunftrepublikanismus aufzufassen. Schon die Demokratisierungsdebatte während des Ersten Weltkriegs bereitete den Boden für Späteres, denn Deutschlands liberale Intellektuelle stritten in dieser Zeit vehement für Parlamentarisierung und politische Mitbestimmung.9 Auf drei Weltkriegsschriften möchte ich kurz verweisen: Hugo Preuß’ Das deutsche Volk und die Politik aus dem Jahr 1915, Max Webers Artikelserie zur politischen Neuordnung Deutschlands aus dem Sommer 1917 und die etwas unbekanntere Schrift von Leopold von Wiese über den Liberalismus in Vergangenheit und Gegenwart, ebenfalls 1917 erschienen. Preuß war einer der wenigen, die sich nach dem Kriegsausbruch 1914 nicht vom nationalen Überschwang anstecken ließen. Bereits im Frühjahr 1915 veröffentlichte er seine viel diskutierte Stellungnahme, die sich in großer Distanz zu den „Ideen von 1914“ befand.10 Seine massive Kritik am wilhelminischen Obrigkeitsstaat verband er mit einem Plädoyer für den „Volksstaat“. Dieser Begriff war nichts anderes als das Synonym für eine Demokratie mit republikanischem Ethos. Preuß konzipierte den Staat als „Wir-Gemeinschaft“, die sich von einem Untertanenvolk zu einem positiv politisierten Staatsvolk wandeln sollte. Mit Sorge hatte er die „Verachtung des Liberalismus“ als Zeittendenz registriert, was allerdings dazu führte, dass auch er selbst den Begriff mied. Inhaltlich hielt er jedoch daran fest, für eine Politik der bürgerlichen Selbstorganisation zu werben. Preuß wusste, wovon er sprach, denn er hatte sich als sozialliberaler Berliner Kommunalpolitiker einen Namen gemacht; anders als den Vertretern einer liberalen Orthodoxie war ihm völlig klar, dass der Staat die zentrale politische Steuerungsinstitution war, die man mit demokratischen Mitteln handhaben musste. Wichtiger als Freiheit vom Staat war die verantwortliche Gestaltung sozialer Politik. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Weimarer Verfassung, die zu ihrer Zeit als freieste Verfassung der Welt galt, ganz wesentlich auf seinem Entwurf beruhte, dann bekommt man einen Eindruck von Preuß’ intellektueller Statur. Zum zweiten möchte ich an den heute weithin vergessenen Soziologen Leopold von Wiese erinnern, den der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller noch in den 1920er Jahren zu den wichtigsten Vordenkern des „Neoliberalismus“ zählte – und Heller meinte mit Neoliberalismus natürlich nur einen „neuen Liberalismus“.11 Wieses Buch Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft war 1917 im renommierten S. Fischer Verlag erschienen.12 Wiese wagte eine entschlossene begriffspolitische Aneignung des Liberalismus, indem er nicht nur an das normative Wertegerüst, sondern auch an die Fähigkeit des Liberalismus erinnerte, reflexiv zu   9 10 11 12  

Vgl. dazu insgesamt Llanque (2000): Demokratisches Denken im Krieg. Preuß (1915): Das deutsche Volk und die Politik. Heller (1925): Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, S. 89. von Wiese (1917): Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft.

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lernen, sich immer wieder zu erneuern, um sich an veränderte Problemlagen anzupassen. Er wehrte sich vehement dagegen, mit dem Krieg die zivilisatorischen Werte der bürgerlich liberalen Welt zu verabschieden. Gegen den Strom bürgerlicher Kriegsbegeisterung hatte er bereits 1915 seine Gedanken über Menschlichkeit veröffentlicht.13 Menschenwürde, persönliche Freiheit, bürgerliche Selbstverwaltung, aber auch das Eintreten für eine pluralistische offene Gesellschaft bestimmen seine liberale Haltung. Max Webers Forderung nach Demokratisierung im Weltkrieg – für ihn gleichgesetzt mit Parlamentarisierung – ist allgemein bekannt. Es ist auch wahr, dass Weber dazu keine normative Demokratietheorie brauchte. Aber seine „realistische“ politische Theorie führte liberalen Theorieskeptikern vor Augen, wie aussichtslos es war, sich gegen das Schicksal der Massendemokratie zu stellen. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Gewährung der Demokratie ohnehin zum grand bargain gehörte, den der Liberalismus an die gesellschaftliche Modernisierung zu entrichten hatte. Nach dem Weltkrieg konnte man den rückkehrenden Soldaten, aber auch den Frauen an der Heimatfront die politischen Partizipationsrechte nicht mehr verwehren. Weber ging allerdings weiterhin davon aus, dass – wie ihn das Vorbild der Vereinigten Staaten lehrte – der entscheidende politische Einfluss bei den Besitz- und Bildungseliten blieb. Auch deshalb bedeutete für ihn das freie und gleiche Wahlrecht eine notwendige Kompensationsleistung: so würde die Masse zumindest im Wahlakt symbolisch gleichgestellt.14 Bedeutsam blieb auch Webers Einsicht, dass Demokratie nur als parlamentarische Parteiendemokratie vorstellbar war. Im umfangreichen Demokratisierungsdiskurs des Ersten Weltkriegs zählten Preuß, Wiese und Weber fraglos zu den progressiven Stimmen. Um die Dynamik der Novemberrevolution zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Geschwindigkeit jahrelang erhobene Forderungen auf einmal Makulatur wurden und von der Wucht der Ereignisse überholt worden waren: Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, eine parlamentarische Regierungsform, Frauenwahlrecht usw. Im Herbst 1918 waren progressive Liberale in ihrem Selbstverständnis erschüttert: Die noch kaum praktizierte parlamentarische Demokratie sollte revolutionär überwunden werden; Rätesystem und Sozialisierungsforderungen bestimmten die politische Agenda.

  13 von Wiese (1915): Gedanken über Menschlichkeit. 14 Weber (1917): Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), S. 266.  

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3. DER POLITISCHE LIBERALISMUS IN DER NOVEMBERREVOLUTION Das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“15 und die unübersichtlichen Startbedingungen waren zugleich von Hoffnungen und Befürchtungen geprägt – zwischen Selbstüberschätzung und Desillusionierung auf Seiten der Liberalen. In jedem Fall gab es keine einhellige „Kultur der Niederlage“ (Schivelbusch); es herrschte sogar bisweilen ein politischer Neugestaltungswille, der zu ignorieren schien, dass die Kriegsniederlage empfindliche Einschränkungen und Obligationen mit sich bringen würde. Zum Idealismus von 1918 gehört ein spezifisch deutscher Wilson-Mythos, der vom Glauben an einen demokratischen Neubeginn ohne die Belastungen des Besiegten erfüllt war.16 Der Riss, der durch das liberale Lager ging, offenbarte sich am deutlichsten in der Neugründung der liberalen Parteien. Zwar kann man hier von der Kontinuität einer Spaltung im liberalen Lager reden, aber sie wurde unter den Vorzeichen der politischen Neuordnung noch einmal verschärft. Und das, obwohl sich angesichts der nun (aus bürgerlich-liberaler Sicht) drohenden sozialistischen und sozialdemokratischen Dominanz eine Annäherung angeboten hätte. Ich kann den Prozess, der zur separaten Gründung von DDP und DVP führte, an dieser Stelle nicht genauer beleuchten.17 Klar ist, dass sich der Graben zwischen einstigen Annexionisten und Befürwortern eines Verhandlungsfriedens, zwischen Wirtschaftsliberalen und gemäßigt Sozialliberalen, zwischen Republikanern und einstigen Monarchisten vertieft hatte. Die Auseinandersetzung um die Figur Gustav Stresemann, an der sich die Konflikte entzündeten, spielte hier zweifellos eine entscheidende Rolle. Dabei profilierte sich Stresemann recht bald als zukunftsoffener, der parlamentarischen Demokratie durchaus zugewandter Politiker. Der sozialliberale Aufbruch wird vor allem durch den Gründungsaufruf der Deutschen Demokratischen Partei vom 16. November 1918 verkörpert. Wenn man sich die beeindruckende Liste der Unterzeichner (und der später Hinzugestoßenen) vor Augen hält, bekommt man einen Eindruck vom intellektuellen Appeal und von der Aufbruchsstimmung, die damals diese Neugründung begleitete: Zu ihnen gehörten Moritz Julius Bonn, Albert Einstein, Heinrich Herkner, Rudolf Mosse, Hugo Preuß, Alfred Weber, Marianne Weber, Theodor Wolff – später kamen Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ernst Troeltsch und Max Weber hinzu. Ich möchte diesen Aufbruch unter drei Stichworten diskutieren: Utopie der Intellektuellenpolitik, sozialliberale Utopie, Vernunftrepublikanismus.

  15 Troeltsch (1924): Spektator-Briefe, S. 69. 16 Schivelbusch (2001): Die Kultur der Niederlage, S. 26, 237. 17 Vgl. zur Parteiengeschichte Albertin (1972): Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik; Stephan (1973): Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933; Richter (2002): Die Deutsche Volkspartei 1918–1933.  

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1. Utopie einer intellektuellen Politik: Sicherlich hat es nie zuvor oder danach in Deutschland ein derart hochkarätiges Engagement von angesehenen Intellektuellen für die Demokratie gegeben. Darin lag Chance und Gefahr zugleich. Ohne die linksliberale intellektuelle Mobilisierung ist der überwältigende Wahlerfolg der DDP bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung nicht zu erklären. Niemals wieder hat eine linksliberale Partei über 18 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Die Novemberrevolution war daher auch eine bürgerliche Revolution – dies zeigte nicht nur das Engagement in Bürgerräten18, sondern auch die gestaltende Rolle liberaler Politiker und Intellektueller im Prozess der Verfassungsgebung. Die Hoffnung auf „Philosophenkönige“ spiegelte freilich auch ein überkommenes elitär-liberales Moment. Zwar wollte man sich auf linksliberaler Seite gesellschaftlich öffnen, aber in der Personalrekrutierung und in der partizipativen Ausrichtung dominierten honoratiorenliberale bildungs- und großbürgerliche Tendenzen. Eine in Aussicht gestellte Mittelstandspolitik litt damit von Anfang an am Mangel politischer Repräsentanten, wie Lothar Albertin in seiner Pionierstudie herausgearbeitet hat.19 2. Utopie des Sozialliberalismus: In gewisser Weise artikulierte der Weimarer Verfassungskonsens zwischen Sozialdemokratie progressivem Linksliberalismus eine im 20. Jahrhundert nachhaltig wirksame sozialliberale Vision. Sie zielte auf die Einhegung des Kapitalismus, eine gestaltende Rolle des Wohlfahrtsstaates und auf die soziale Demokratie als Leitwert. Im Gründungsmanifest der DDP wurde „die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik“ gefordert.20 Das hieß eine völlig neue Perspektivierung der Staatsaufgaben. Liberale forderten nun einen aktiven Staat; Keynes’ später formulierte Einsicht vom Ende des Laissezfaire war auch in Deutschland verbreitet.21 Die Suche nach sogenannten „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hat eine Wurzel in der Weimarer Debatte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die anfänglich geäußerte Offenheit gegenüber einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien oft mit taktischen Lippenbekenntnissen zu tun hatte, so wurde die Wirtschafts- und Sozialpolitik doch als ein ganz neues Feld begriffen.22 3. Vernunftrepublikanismus: Die lange abschätzig benutzte Formel vom Vernunftrepublikanismus, der wie im Falle Friedrich Meineckes und einiger anderer ein „Herzensmonarchismus“ vorausging, hat in den letzten Jahren eine Neubewertung erfahren.23 Warum sollte die Parteinahme für die Republik aus Vernunft und   18 Vgl. dazu Bieber (1992): Bürgertum in der Revolution. 19 Albertin: Liberalismus und Demokratie, S. 138–144. 20 „Die große demokratische Partei. Männer und Frauen des neuen Deutschland!“, in: Berliner Tageblatt, 16. November 1918, S. 1. 21 Keynes (1926): Das Ende des Laissez-Faire. 22 Vgl. zu diesem Aspekt auch Müller (2014): Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik, S. 569–601. 23 Wirsching/Eder (Hrsg.) (2008): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik.

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Einsicht auch tadelnswert sein? Der undifferenzierte Vorwurf eines liberalen Vernunftrepublikanisus verliert aus dem Blick, wie schnell sich allein zwischen 1918 und 1922 (Marsch auf Rom) der Bezugsrahmen des politischen Denkens wandelte: Zwar finden sich auch schon bei wachen Zeitgenossen wie Ernst Troeltsch Bemerkungen über die Bedrohungslage der Demokratie in der Zange von neuen links- und rechtsextremen Massenbewegungen. Aber es braucht keiner langen Erklärung, um Verständnis dafür aufzubringen, dass im Kaiserreich sozialisierte Vernunftrepublikaner noch ohne Konzept waren, wenn es um die Abwehr neuer rechtsnationaler/faschistischer Republikgegner ging. Allerdings bietet die Ideengeschichte des Liberalismus in Weimar – und darauf haben nicht zuletzt Christoph Gusy und Michael Dreyer hingewiesen – eine reiche Debatte darum, wie sich der demokratische Staat gegen seine Gegner wehren kann.24 Auch dies durchaus innovativ, also etwas Neues, vorher Unbekanntes. Überhaupt liegt spätestens seit der Weimarer Republik das Problem darin, dass Politiker und Parteien, die sich in einer liberalen Tradition verorten (oder von Gegnern als Liberale bezeichnet wurden), mit dem Sammelbegriff des Liberalismus häufig nur sehr kursorisch zu erfassen sind. Wir müssen schon angeben, welche Art von Liberalismus wir meinen – denn normativ anspruchsvolle, an der Demokratie interessierte liberale Denkströmungen hat es in Weimar durchaus gegeben, in nicht geringer Zahl. 4. LANGFRISTIGE INNOVATIONEN LIBERALER THEORIEBILDUNG Es hieße nicht nur, die innovativen Potentiale zu verleugnen, wenn wir die historischen Verlierer von 1933 ein weiteres Mal bestrafen, indem die geringe Resonanz ihrer Ideen zum Maßstab für ihre Beurteilung wird. Es wäre auch in hohem Maße unredlich, wenn wir in irgendeiner Weise davon ausgingen, dass die vielen strukturellen und kontingenten Faktoren der Weimarer Staatskrise durch einen wie auch immer gearteten Politikentwurf hätten bewältigt werden können. Meine These ist deshalb: Der Weimarer Liberalismus wurde zwar parteipolitisch immer schwächer, und die liberale Idee wurde zusehends heimatloser, aber das Bemühen um die intellektuelle Erneuerung des Liberalismus war trotzdem nachhaltig. Man kann deshalb die Zwischenkriegszeit – übrigens nicht nur bezogen auf die Weimarer Republik, sondern innerhalb der „Geschichte des Westens“ (H.A. Winkler) – als eine zweite „Sattelzeit“ des liberalen Denkens begreifen. Innerhalb der ersten Sattelzeit, so wie der Historiker Reinhart Koselleck das Konzept eingeführt hat, bildeten sich die konstitutiven politischen Begriffe der Moderne zwischen 1750 und 1850 heraus25; die zweite passte diese Begrifflichkeiten   24 Gusy (1991): Weimar – die wehrlose Republik?; Dreyer (2009): Weimar als wehrhafte Demokratie – ein unterschätztes Vorbild. 25 Koselleck (1972): Einleitung, S. XIII–XXVII.

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an das demokratische Zeitalter an. Pointiert heißt dies: Nach der Krise des Weltkriegszeitalters war der Liberalismus erstens nicht mehr ohne Demokratie zu denken, und hier liegt die Bedeutung der Novemberrevolution. Zweitens konnten Liberale fortan den Kapitalismus nur noch als ein vom Staat eingehegtes und auf staatliche Steuerungsfunktionen angewiesenes Wirtschaftssystem begreifen. Drittens schließlich gewannen Liberale Distanz zur nationalen Idee; der Radikalnationalismus der Faschisten und Nationalsozialisten kurierte sie davon, den Machtstaat (wie es noch Max Weber vorschwebte) zum Maßstab erfolgreicher Politik zu erheben – das nationale Interesse konnte sich, wie kluge Liberale nach dem Ersten Weltkrieg wussten, nur im Konzert mit anderen Staaten zur Geltung bringen, war auf internationale Kooperation und die Ausweitung kollektiver Sicherheit angewiesen, sollte dem Frieden dienen, der im Anschluss an Kant als das oberste Ziel der Politik zu betrachten war.26 Wenn wir den Liberalismus nicht als eine Ideologie verstehen, deren Grundsätze gleichsam in Stein gemeißelt sind und an deren ewige Wahrheiten lediglich in verschiedenen Lagen zu erinnern ist, sondern als ein wandelbares, konstellationsabhängiges Denken, das Lern- und Transformationsprozessen unterworfen ist, dann lassen sich als langfristige Wirkungen der demokratischen Revolution von 1918 für die 1920/30er Jahre womöglich drei wichtige Gebiete aufzeigen, auf denen es zu neuen liberalen Positionsbestimmungen kam: 1. Kapitalismus und Demokratie: Die Debatte um die politische Gestaltbarkeit der Ökonomie war eine der fruchtbarsten und bewegtesten nach 1918; sie ergriff die liberale Nationalökonomie ebenso wie sie Brücken zwischen demokratischen Sozialisten und Sozialliberalen schlug. Von Weber bis Schumpeter glaubte man einen nahezu unausweichlichen Zeittrend zum Sozialismus diagnostizieren zu können. Wie konnte man ihn abfedern, lenken oder gar mit kapitalistischen Überlegungen in Einklang bringen? Wie ließ sich die Dynamik der Industriemoderne zum Wohl breiter Bevölkerungsschichten nutzen? Die Antworten darauf waren vielfältig – von den allfälligen Sozialisierungsdebatten seit der Novemberrevolution (sogar Konservative und Liberale nahmen die Forderung nach der Sozialisierung von Schlüsselindustrien in ihre Parteiprogramme auf) bis zu den Diskussionen über einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Natürlich gab es weiterhin standfeste Wirtschaftsliberale wie den Wiener Ludwig von Mises, dessen Bücher über die Gemeinwirtschaft (1922) und über Liberalismus (1927) bis heute als Schlüsseltexte des Marktliberalismus gelten.27 Aber sogar Mises sah die Demokratie als günstigste Regierungsform für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem an. Moderner und pragmatischer gab sich der 1873 in Frankfurt geborene, aus einer alten jüdischen Bankiersfamilie stammende Nationalökonom Moritz Julius Bonn. Der anglophile Liberale, der übrigens 1925 ein hellsichtiges Buch über die „Krisis   26 Als Repräsentant einer liberalen Internationale kann Moritz Julius Bonn gelten. Vgl. Bonn: Zur Krise der Demokratie, in: Hacke (Hrsg.) (2015). 27 von Mises (1932): Die Gemeinswirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus (1922); Ders. (1927): Liberalismus.  

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der europäischen Demokratie“ verfasste, wollte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft ein umfassendes Amerikanisierungsprogramm verschreiben. „Demokratischer Kapitalismus“ hieß seine Zauberformel.28 Damit war gemeint, dass das Wirtschaftssystem sich über seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand zu rechtfertigen hatte. Kurz: Nur wenn der Kapitalismus den breiten Bevölkerungsschichten zugutekomme, verdiene er sich seine Legitimität. Für Bonn war damit die – wie man neumodisch sagen könnte – Output-Seite eines demokratischen Kapitalismus entscheidend: seine Konsumentenorientierung, seine Innovationsfähigkeit und seine Gewährleistung sozialer Durchlässigkeit. In seinen Büchern, Broschüren, Aufsätzen und Leitartikeln, die in den großen liberalen Organen seiner Zeit erschienen, griff Bonn denn auch hauptsächlich die Kartellierungstendenzen in der deutschen Industrie an, kritisierte die Bestrebungen der Wirtschaftseliten, sich den Einflüssen demokratischer Politik zu entziehen. Bonn hatte frühzeitig einen Modus industrieller Interessenpolitik identifiziert, der dazu führte, ökonomische Gewinne zu privatisieren und Verluste zu verstaatlichen. Sein Plädoyer für hohe Löhne, ja sogar seine Anregung von Mindestlöhnen zur Steigerung der Kaufkraft zeigten außerdem an, dass er sich bereits deutlich jenseits der rein wirtschaftsliberalen Konzeptionen bewegte.29 Ins breite Spektrum der liberalen Wirtschaftskonzeptionen gehören auch die später so bezeichneten Ordoliberalen, eine recht heterogene Gruppe von Ökonomen, zu denen vor allem Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zählten. Sie gaben Impulse für eine neuliberale Ordnungsökonomik, die die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien. Freilich sahen insbesondere Eucken und Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft eher als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie kaum Sympathien. Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen.30 Es scheint mir wichtig, vor allem die Heterogenität dieser Gruppe zu betonen, die dann in der Bundesrepublik so einflussreich werden sollte, weil sie den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft mit begründete. Eucken kam aus nationalkonservativem Milieu und hatte mit der Weimarer Republik anfangs wenig im Sinn: sein politischer Weg ist ein Lernprozess, der ihn über die Begeisterung für liberale Wirt  28 Bonn (1925): Die Krisis der europäischen Demokratie. 29 Siehe v.a. Bonn (1926): Das Schicksal des deutschen Kapitalismus. 30 Sehr überzeugend interpretiert Uwe Dathe Euckens Denkweg als Geschichte einer Läuterung zum demokratischen Liberalen. Dathes Vortrag „Franz Böhm und Walter Eucken: Liberale Politikberater der ‚Stunde Null‘?“ anlässlich der Tagung „Zur Heterogenität ordoliberalen Denkens 1930–1960“ am 28. November 2014 in Freiburg verdanke ich auch den Hinweis auf Euckens bislang unveröffentlichtes Nachkriegsmanuskript „Öffentlichkeit als ordnende Potenz“.

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schaftstheorie langsam in die moderne Demokratie führte; Rüstow stand ursprünglich sozialistischen Positionen um Franz Oppenheimer nahe, machte aber bereits in Weimar eine Karriere als Lobbyist und gehörte zum Schattenkabinett Kurt von Schleichers; eigentlich war nur Röpke zu Weimarer Jahren schon als politischer Liberaler anzusehen. Die in den letzten Jahren populär gewordenen, sehr gegensätzlichen Interpretationen des Ordoliberalismus zeigen die Schwierigkeit, diese Ökonomen politisch zu interpretieren: So gibt es einerseits Foucaults Lesart von einer neuen ordoliberalen Regierungstechnik (Gouvernementalität), die still und leise dem Liberalismus all seine normativen Elemente nimmt und den Freiheitsbegriff eliminiert.31 Andererseits hat Philip Manow versucht, die vormodernen Sittlichkeitsvorstellungen und die Elemente einer christlichen Ethik im Denken der Ordoliberalen herauszustellen, die es fraglich erscheinen lassen, hier überhaupt noch von Liberalismus zu reden.32 Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins die Weimarer Liberalen waren, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf „The Good Society“ von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus.33 Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären Lippmann-Colloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten.34 2. Antitotalitarismus: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie.35 Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert werden, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den   31 32 33 34 35

Foucault (2006): Die Geburt der Biopolitik. Manow (2001): Ordoliberalismus als ökonomische Ordnungstheologie, S. 179–198. Vgl. die deutsche Ausgabe: Lippmann (1945): Die Gesellschaft freier Menschen. Siehe Plickert (2008): Wandlungen des Neoliberalismus. Vgl. dazu Hacke (2014): „Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“, S. 53–73.

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Diktator jenseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. Die Haltung zum Faschismus wurde zum Lackmustest für liberale Standhaftigkeit. 3. Wehrhafte Demokratie: Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, rückte von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z. B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt.36 Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert. „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen“, forderte er damals.37 Loewenstein sollte später aber auch herausstellen, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege. So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Hinwendung zur Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohungen durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation. 5. FAZIT Die Ereignisse des Jahres 1918/19 werden bisweilen mit der Epochenzäsur von 1989 verglichen. Tatsächlich liegt ein verbindendes Element darin, dass nicht wenige eine vermeintliche Alternativlosigkeit westlicher Werte zu erkennen meinten. Sicherlich, eine solche Sichtweise ignoriert die parallelen zeitgenössischen Hoffnungen, die sich auf den Sozialismus und die Ausbreitung der Revolution stützten. Aber von liberaler Warte aus wähnte man sich mit der Durchsetzung der liberalen Demokratie an einem „Ende der Geschichte“. In einem „Wilsonian Moment“   36 Loewenstein (1937): Militant Democracy and Fundamental Rights (I + II), S. 417–432, 638– 658. 37 Ders. (1932): Diskussionbeitrag, S. 192–194.  

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glaubte man an die Universalisierung des gerade geborenen westlichen Modells, dass Demokratie, liberalen Konstitutionalismus und internationale Verständigung im Rahmen des neu zu gründenden Völkerbunds vereinte.38 So lassen sich – in der Vielfalt der Perspektiven – die Weltkriegsniederlage und die damit einhergehende Staatsgründung in ihren Effekten als eine Transformationsphase begreifen. Unter den Bedingungen der Massendemokratie musste er sich gesellschaftspolitisch in einer Weise modernisieren, die einer Neuerfindung gleichkam. Der ideelle Aufbruch, der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht bedeutete, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit. Die Ideengeschichte lässt sich gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen und Anpassungsleistungen verstehen. Aber die Krise der Demokratie, ihre enttäuschten Erwartungen und die politischen Niederlagen in Weimar bewirkten langfristig unstreitig eine umfassende Neujustierung liberalen Denkens. Es beinhaltete ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und den geschärften Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.39 Demokratie, so die aus der fragilen Weimarer Republik gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig, benötigte eine strikte Gewaltenteilung und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis   38 Diese Überlegung findet sich bei Tooze (2015): Sintflut, S. 20, 27. Eine Fukuyama-ähnliche Überlegung zur liberalen Demokratie als Ende der Geschichte (zumindest in Europa) findet sich auch im Standardwerk von Bryce (1921): Modern Democracies, Vol. I, S. 4. 39 Auch diese Einsicht gewinnt unerfreulicherweise wieder an Aktualität. Vgl. Geiselberger (Hrsg.) (2017): Die große Regression.  

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der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel.40 Diese Haltung rief bei wehrhaften Republikanern Widerspruch hervor. Aber auch sie sahen, dass Republik- und Verfassungsschutzmaßnahmen stumpfe Schwerter blieben, solange sie sich nicht auf breite Mehrheiten stützten. Kelsen hatte erkannt, dass die Demokratie ethisch autark war, also ihre Bestandsvoraussetzungen selbst erhalten und pflegen musste. Dazu braucht es die erneuerungsfähige Vision einer demokratischen Gesellschaft, die Erziehung zur Demokratie, alltägliche Einübung ihrer Praktiken, die Pflege ihrer Institutionen und die Sorge um die sozial Benachteiligten. Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenziellen Ernst der Argumentation nachempfinden. Ihre Einsichten bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist. LITERATUR Albertin, Lothar: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei, Düsseldorf 1972. Bellamy, Richard: Liberalism and Modern Society. A Historical Argument, Pennsylvania 1992. Bieber, Hans-Joachim: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1992. Bonn, Moritz Julius: Zur Krise der Demokratie. Politische Schriften in der Weimarer Republik, hrsg. von Jens Hacke, Berlin / Boston 2015. Ders.: Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925. Ders.: Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin 1926. Brecht, Arnold: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen eines beteiligten Beobachters 1884–1927, Stuttgart 1967. Bryce, James: Modern Democracies. 2 Bde., New York 1921. Dreyer, Michael: Weimar als wehrhafte Demokratie – ein unterschätztes Vorbild, in: Die Weimarer Verfassung. Wert und Wirkung für die Demokratie, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Erfurt 2009, S. 161–189. Fawcett, Edmund: Liberalism. The Life of an Idea, Princeton 2014. Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–79, Frankfurt/M. 2006. Freeden, Michael: „Europäische Liberalismen“, in: Merkur 65 (2011), S. 1028–1046. Geiselberger, Heinrich (Hrsg.): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017. Groh, Kathrin: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatsrechtslehre zur Theorie des modernen Verfassungsstaats, Tübingen 2010.

  40 Kelsen (2006): Verteidigung der Demokratie (1932), S. 229–237.

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Gusy, Christoph: Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991. Ders. (Hrsg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000. Hacke, Jens: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018. Ders.: „Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“. Liberale Faschismusanalysen in den 1920er Jahren und die Wurzeln der Totalitarismustheorie, in: Mittelweg 36 (2014), Heft 4, S. 53–73. Heller, Herrmann: Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1925. Hennis, Wilhelm: Voluntarismus und Urteilskraft. Max Webers politische Anschauungen im Zusammenhang des Werks, in: ders. (Hrsg.), Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographik des Werks, Tübingen 1986, S. 195–236. Kelsen, Hans: Verteidigung der Demokratie (1932), in: Jestaedt, Matthias/ Lepsius, Oliver (Hrsg.): Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, Tübingen 2006, S. 229– 237. Keynes, John Maynard: Das Ende des Laissez-Faire. Ideen zur Verbindung von Privat- und Gemeinwirtschaft (1926). Mit einem Vorwort von Peter Kalmbach und Jürgen Kromhardt, Berlin 2011. Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Ders./ Brunner, Otto/ Conze, Werner: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII. Langewiesche, Dieter: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988. Llanque, Marcus: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000. Lippmann, Walter: Die Gesellschaft freier Menschen, Bern 1945. Loewenstein, Karl: Militant Democracy and Fundamental Rights (I + II), in: American Political Science Review 31 (1937), S. 417–432, 638–658. Ders.: Diskussionbeitrag, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (1932), Heft 7, S. 192–194. Manow, Philip: Ordoliberalismus als ökonomische Ordnungstheologie, in: Leviathan 2001, S. 179– 198. Mises, Ludwig von: Die Gemeinswirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus (1922), Jena 1932. Ders.: Liberalismus, Jena 1927. Müller, Jan-Werner: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe, New Haven/London 2011. Müller, Tim B.: Nach dem Ersten Weltkrieg. Überlebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014. Ders.: Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 569–601. Plickert, Philip: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zur Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pelerin Society“, Stuttgart 2008. Preuß, Hugo: Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915. Richter, Ludwig: Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002. Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865 – Frankreich 1871 – Deutschland 1918, Berlin 2001. Sheehan, James: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, München 1983 Stephan, Werner: Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. Geschichte der Deutschen Demokratischen Partei, Göttingen 1973. Tooze, Adam: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015. Troeltsch, Ernst: Spektator-Briefe, Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, Tübingen 1924.

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Weber, Max: Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, München 1921, S. 245–291. von Wiese, Leopold: Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917. Ders: Gedanken über Menschlichkeit, München 1915. Wirsching, Andreas / Eder, Jürgen (Hrsg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008.

ZUSAMMENBRUCH UND KONTINUITÄTEN Konservative Reaktionen auf die Revolution 1918/19 Kirsten Heinsohn Preußens Königsthron ist zerbrochen. […] Der deutsche Kaisertraum ist ausgeträumt, des Deutschen Reiches Herrlichkeit und Weltgeltung ist vernichtet; das alte ruhmbedeckte preußische und deutsche Heer, die Flotte, der Stolz und Liebling des deutschen Volkes, liegen mit beschmutztem Ehrenkleide am Boden.1 Ich finde keine Worte, um meinen Schmerz über das Geschehen des Novembers 1918 wiederzugeben, um zu schildern, was in mir zerbrach. Ich fühlte eine Welt einstürzen und unter ihren Trümmern alles das begraben, was der Inhalt meines Lebens gewesen war.2

Was diese beiden bekannten Politiker – Kuno Graf von Westarp und Elard von Januschau-Oldenburg – im November 1918 bzw. aus der Rückschau von 1936 schildern, sind erwartbare Reaktionen von Konservativen auf die Ereignisse im November 1918: Fassungslosigkeit und Trauer über den Verlust der monarchischen Ordnung und die militärische Niederlage, Abwehr und Ablehnung gegenüber allem, was daraus folgt. Aus der Perspektive konservativer Politiker brachte der politische und militärische Zusammenbruch den Verlust direkter Einflusskanäle auf die Regierung mit sich, ebenso Unsicherheiten über das Verhalten und die Zukunft des Militärs, und damit verbunden auch die Furcht vor einem Hegemonieverlust des konservativen Ordnungsmodells für Staat und Gesellschaft. Daher konnte es von konservativer Seite keine Zustimmung zu den Ereignissen geben – einerseits. Andererseits verlief die Revolution vor allem außerhalb ihrer Zentren vergleichsweise gewaltlos, an vielen Orten etablierten sich zügig Arbeiter- und Soldatenräte, die sich für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung einsetzten. Die Schreckensbilder der französischen und der russischen Revolution prägten sicherlich die Vorstellungen vieler Konservativer und lösten Ängste aus; tatsächlich waren aber eher linksradikale Kräfte (ab 1919) durch gegenrevolutionäre Gewalt der Freikorps bedroht als Parteigänger der Konservativen oder völkische Gruppen.3 Schließlich waren schon vor 1918 die konservativen Parteien in eine politische Krise geraten, so dass auch ohne die Novemberrevolution eine Neuorientierung hätte erfolgen müs  1 2 3

Westarp (1918), in: Miller / Ritter (1968): Novemberrevolution, S. 35. Oldenburg-Januschau (1936), in: Ebd., S. 36. Eine Ausnahme davon war die Ermordung von Mitgliedern der Thule-Gesellschaft im April 1919 in München, darunter auch Gräfin Hella von Westarp, vgl. Gilbhard (2006): Thule-Gesellschaft.

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sen. Aus dieser Perspektive kommen also eher Kontinuitäten im konservativen Lager über den November 1918 hinaus in den Blick, die teilweise in einen Aufbruch bzw. einen politischen Neuanfang mündeten. Damit stellt sich die Frage, wie weit der politische Zusammenbruch aus konservativer Sicht eigentlich reichte. Waren die Konservativen tatsächlich in einer Welt angekommen, die zusammenbrach? Schaut man sich genauer an, wie konservative Parteien, Repräsentanten und Gruppen in den Novembertagen bis Mitte 1920 agierten, so kann man erkennen, dass die Reaktionen von konservativer Seite aus zwei gegensätzlichen, aber miteinander verbundenen Elementen bestanden: Der Diskurs dazu wurde als offene Ablehnung der Revolution und ihrer Folgen geführt, faktisch aber gab es schon sehr bald eine taktische Anerkennung der neuen politischen Ordnung. Diese Taktik sah vor, innerhalb der neuen Ordnung für das konservative Programm zu werben, womit jedoch sehr verschiedene Optionen verbunden waren, entsprechend der Differenzierungen innerhalb des völkisch-konservativen Milieus. So gab es neben den altkonservativen Kräften, die eine Rückkehr zur Monarchie anstrebten, jung-konservative Gruppen, die eher über modernere Formen der Elitenherrschaft nachdachten, aber auch Befürworter eines konservativ ausgerichteten Parlamentarismus und Vertreter völkischer Ordnungsmodelle. 1. PROBLEME DES THEMAS Schon allein diese historisch gewachsenen Differenzierungen innerhalb des konservativen Spektrums erschweren es, eine einfache Antwort auf die oben gestellten Fragen zu geben. Es gab keine klar definierte konservative Gruppe, die sich etwa in Form einer einzigen Partei organisierte. Karl Rohe unterscheidet in seiner klassischen Analyse der Wählertraditionen in Deutschland drei Lager: das katholische, das sozialdemokratische und das nationale.4 In allen drei Lagern gab es konservative Kräfte, vor allem aber fanden sich konservative Gruppen im Lager der Nationalen wieder. Auch der Begriff des sozial-moralischen Milieus, von Rainer Lepsius geprägt, ist trennscharf eher für die Sozialdemokratie und die Katholiken anzuwenden; schon bei den Liberalen, aber noch stärker bei den Konservativen, greifen zentrale Merkmale dieses Begriffes, wie religiöse Bindung, kulturelle Orientierung oder auch wirtschaftliche Lage, nur begrenzt.5 Für den Blick auf die Konservativen erscheint es aber dennoch sinnvoll, sowohl mit dem Milieu- als auch mit dem Lagerbegriff zu arbeiten. Denn man muss sowohl spezifische sozio-kulturelle Gebilde berücksichtigen, also etwa das „sozial-moralische Milieu“ der ostpreußischen Junker, als auch die Abgrenzung gegen vermeintlich feindliche politische oder kulturelle Gruppen, die konstitutiv für das Denken in Lagern ist. Das Konservative kann in Anlehnung an Karl Mannheim zum einen als eine „historisch und soziologisch erfassbare Kontinuität“ im Denkstil verstanden werden, wobei das zentrale Axiom   4 5  

Zum Lagerbegriff vgl. Rohe (1992): Wahlen. Lepsius (1973): Parteiensystem.

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dieses Denkstils im Widerspruch zur Demokratisierung von Gesellschaften besteht. Zum anderen wandelt sich dieser Denkstil aber auch im „unmittelbaren Konnex mit dem historisch Lebendigen“. 6 Etwas einfacher formuliert: Konservatives Denken und Handeln leiten sich historisch aus der Gegnerschaft zur gesellschaftlichen Demokratisierung her (seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts), doch passen sich diese den historischen Gegebenheiten immer wieder neu an. Das konservative Milieu setzte sich also aus sehr unterschiedlichen Gruppen und Personen zusammen.7 Im Kaiserreich und auch in der Weimarer Republik beinhaltete es die ganze Bandbreite von konservativen Politikern aus dem katholischen Zentrum und den Nationalliberalen bis hin zu völkischen Vertretern, Alldeutschen und Flottenbauförderern. Die meisten Frauen, die im Deutsch-Evangelischen Frauenbund oder im Kapellenverein oder in den vielen katholischen sozialen Hilfsvereinen Mitglied waren, verstanden sich ebenfalls als Konservative, auch wenn sie nicht parteipolitisch organisiert waren (bzw. dies bis 1908 und 1918 auch gar nicht konnten).8 Preußische Junker und bayrische Bauernvertreter traten als konservative Repräsentanten auf, ebenso aber auch Sprecher von Angestelltenvereinigungen wie etwa dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband oder Organisationen selbstständiger Berufe. Parteilich waren die Konservativen in der freikonservativen Reichspartei und in der Deutsch-Konservativen Partei zusammengefasst, die beide bis 1918 eine Vereinigung von Honoratioren, und keine Mitgliedervereine wie die SPD, waren. Eine rechte Bewegung mit konservativen Grundlinien stellte die 1917 gegründete Deutsche Vaterlandspartei dar.9 Erst mit und nach der Revolution kam es zur Gründung einer gemeinsamen konservativen Partei, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Diese Gründung war eine Folgeerscheinung der Parteienkrise der Konservativen seit 1912 und der politischen Notlage dieser Gruppen im November 1918 geschuldet. Schließlich gab es eine Reihe namhafter Publizisten, die sich nicht in Parteien oder Verbänden organisieren wollten, sondern als Intellektuelle am konservativen Diskurs zur Lage der Nation und der Welt beteiligt waren.10 In den folgenden Ausführungen werden jedoch hauptsächlich Parteiorganisationen und ihre Vertreter bzw. Vertreterinnen im Vordergrund stehen, obwohl damit nur ein Teil des konservativen Milieus in den Blick kommt. Dieses Vorgehen ist zum einen den Forschungsinteressen der Verfasserin, zum anderen aber auch dem Forschungsstand geschuldet. So liegen beispielsweise für konservative Vereine und

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Zitate aus Mannheim (1925): Konservatismus, S. 96f. Zum Denkstil: Fleck (1935): Entstehung. Schildt (1998): Konservatismus, S. 16. 7 Anstelle der umfangreichen Spezialliteratur zu den im Folgenden genannten (männlichen) Personen und Gruppen vgl. Schildt (1998): Konservatismus, S. 102–181 und Bösch (2002): Milieu für eine regionale Studie im Zeitraum 1900 bis 1960. 8 Heinsohn (2010): Konservative. 9 Hagenlücke (1997): Vaterlandspartei. 10 Hier v. a. die Vertreter der sog. Konservativen Revolution, vgl. dazu: Breuer (1993): Anatomie und Breuer (2001): Ordnungen.  

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Verbände zwar zahlreiche organisationshistorische Arbeiten vor, doch spielt in diesen die Frage nach den Reaktionen auf die Revolution nur am Rande eine Rolle.11 Die Literaturlage zur Geschichte der konservativen Parteien und ihrer Vertreter ist ebenfalls als gut zu bezeichnen, aber keine der Arbeiten behandelt die Frage nach den konservativen Reaktionen auf die Revolution systematisch.12 Teilweise Ausnahmen von dieser Regel stellen lediglich zwei Werke und ein Aufsatz dar: das Buch von Annelise Thimme aus dem Jahr 1969 mit dem Titel Flucht in den Mythos, Maik Ohnezeits Dissertation zur Geschichte der DNVP sowie ein Aufsatz von Peter Fritzsche, der insbesondere Rechtsintellektuelle behandelt, und weniger die Parteien.13 Ansonsten steht die Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Konservativen im Winter 1918 entweder am Ende eines Abschnittes zum Ersten Weltkrieg oder am Anfang eines solchen zur Weimarer Republik – nie steht diese Fragestellung im Zentrum eines Kapitels. Für die Vertreter des Militärs stellt sich diese Lage kaum anders dar, hier kann man auf die Untersuchung von Ernst-Heinrich Schmidt aus dem Jahre 1981 sowie Peter Kellers Buch von 2014 zurückgreifen oder auf Abschnitte in Biographien zu einzelnen hochrangigen Vertretern, etwa von Wolfram Pyta zu Paul von Hindenburg.14 Das Gleiche gilt für die Lebensbeschreibungen einzelner hochrangiger politischer Vertreter, z. B. Lothar Machtan über Prinz Max von Baden.15 In den Überblickswerken zur Revolution wiederum tauchen die Konservativen nur am Rande auf, da der Fokus zumeist auf der Ereignisgeschichte sowie den Auseinandersetzungen in den Arbeiter- und Soldatenräten liegt. Diese Bestandsaufnahme ist einerseits bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie zentral die Erfahrungen der Novembertage für Konservative gewesen sein müssen. Andererseits erklärt sich diese Lücke aber auch aus dem Verhalten bzw. der Passivität der damaligen konservativen Parteigänger. Mehrheitlich war man so unsicher über die Folgen des 9. November 1918 für das eigene Leben und für die politische Überzeugung, dass die meisten bekannten Konservativen erstmal abwarteten, sich auf ihre Landgüter oder in ihre Stadtwohnungen zurückzogen und hofften, mit dem Leben davonzukommen. Denn als Vorbilder, oder besser aus der Sicht der Konservativen, als Schreckensbilder, für die Einordnung des Geschehens dienten zunächst die französische und die nur ein Jahr zuvor erfolgte russische Oktoberrevolution, die in eine terroristische Gewaltherrschaft bzw. eine kommunistische Revolution übergingen, in denen die Vertreter des alten Regimes radikal politisch entmachtet und sehr viele auch getötet worden waren.   11 So etwa in Publikationen zum Alldeutschen Verband: Hering (2003): Nation, S. 133–138; Jakisch (2012): Pan-German League; Terhalle (2009): Deutschnational, S. 52–56. Es wäre dennoch lohnend, die Literatur zu konservativen Gruppierungen systematisch zur Frage der Reaktionen auf die Revolution auszuwerten. 12 Aktuellste Arbeiten mit Hinweisen zum Forschungsstand dazu Ohnezeit (2011): Zwischen; Heinsohn (2010): Konservative. 13 Thimme (1969): Flucht; Ohnezeit (2011): Zwischen; Fritzsche (1993): Breakdown? 14 Schmidt (1981): Heimatheer; Keller (2014): Wehrmacht; Pyta (2007): Hindenburg. 15 Machtan (2013): Prinz.  

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Ein weiterer Grund für das geringe Forschungsinteresse an den Reaktionen der Konservativen liegt aber auch in den Quellen. Es gibt nicht viele dazu; in den Nachlässen bekannter Konservativer finden sich mal einzelne Hinweise, aber nur wenige direkte Aufzeichnungen aus den revolutionären Tagen. Die Schriften des konservativen Politikers Kuno Graf Westarp sind da eher eine Ausnahme, aber auch diese sind erst nachträglich entstanden.16 Womöglich lässt sich doch noch mehr finden, aber die Forschung zur Weimarer Republik war lange Zeit entweder auf die Bewertung der Arbeiter- und Soldatenräte bzw. die Rolle der SPD und der radikalen Linken konzentriert, oder auf die Endphase der Republik, sodass eine mikrohistorische Untersuchung des Verhaltens von anderen Parteien oder Verbänden 1918/19 noch aussteht. Durch die alltagshistorische und kulturwissenschaftliche Öffnung der Weimarforschung bzw. der Revolutionsforschung (sowie dem diesjährigen „Jubiläum“) deutet sich hier ein Wandel an, der hoffentlich auch neue Beiträge zu den unmittelbaren Erfahrungen und Deutungen der Miterlebenden bringen wird. Schließlich sei noch auf ein drittes Problem hingewiesen: Die vorhandenen Auseinandersetzungen konservativer Persönlichkeiten mit der Revolution sind überwiegend aus der Rückschau verfasst und in diesen zeigt sich eine erstaunliche Verschiebung in der Darstellung, die auch schon von Annelise Thimme benannt wurde. Nachdem nur wenige Tage nach dem 9. November 1918 deutlich wurde, dass die Volksbeauftragten in Berlin sowie die Arbeiter- und Soldatenräte in anderen zentralen Städten daran interessiert waren, Ruhe und Ordnung zu erhalten, nutzten die Konservativen die Gunst der Stunde, um sich zu sammeln und die bisher bekämpften Mittel (Neuaufbau der Parteien, Parlamentarismus) zu nutzen, um eigene Ziele zu verfolgen. Damit setzte sogleich auch eine Deutung der Revolution ein, die die politische Grundlage der Weimarer Republik nachhaltig schwächen sollte: die Dolchstoßlegende – nicht die Schwäche des alten Systems, sondern die Revolution von links und der Verrat an den eigenen Truppen sei verantwortlich für den Untergang des Kaiserreiches.17 Die daraus abgeleiteten Deutungen der Revolution sagten entsprechend wenig über das Verhalten konservativer Kräfte aus, sondern verurteilten linke Parteien und das katholische Zentrum als Verbrecher und „Vaterlandsverräter“.18 Viele Konservative fühlten sich damit in ihrer Einschätzung der politischen Gegner aus der Vorkriegszeit mehr als bestätigt und interpretierten die Revolution entsprechend als Realisierung ihres eigenen Bedrohungsszenarios: Sozialismus und politischer Katholizismus würden auf die Zerstörung der legitimen herrschenden Ordnung hinarbeiten. Im Gegensatz dazu wurde die Kriegszeit bis 1917 als Ausdruck wahrer deutscher Gesinnung und Volksgemeinschaft idealisiert. Für die Frage nach einer Erfahrungsgeschichte der Revolution aus Sicht der Konservativen sind diese Quellen daher schlicht unbrauchbar, als konservative Geschichtsdeutungen dafür umso mehr. Die Bewertung der Revolution ist also nur   16 Westarp (2001): Konservative Politik. 17 Ausführlich dazu Barth (2003): Dolchstoßlegenden. 18 Vgl. etwa: Westarp (1952): Ende.

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schwer mit zeitgenössischen Quellen aus der Feder von Konservativen zu belegen; die spätere Interpretation der Ereignisse steht klar im Vordergrund. 2. KONSERVATIVE REAKTIONEN Trotz der genannten Probleme kann doch Einiges über die Reaktionen von Konservativen auf die revolutionären Ereignisse und ihre Folgen gesagt werden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren Reaktionen um den 9. November 1918 herum einerseits, und den nur wenig später einsetzenden Aktivitäten zur Reorganisation des politischen Konservatismus andererseits. In diesem Prozess zeigte sich, dass insbesondere die parteipolitisch engagierten konservativen Frauen von dem Systemwechsel sehr profitierten. Außerdem spielte die Deutung der Revolution bzw. des Untergangs der Monarchie eine wichtige Rolle in dem Versuch, Handlungs- und Deutungsmacht zurückzugewinnen. Zuerst waren Konservative kurzfristig verunsichert und erschreckt, doch dauerte diese Phase nur wenige Tage an. Der Rittergutsbesitzer Elard von OldenburgJanuschau, 1918 Mitglied des Preußischen Herrenhauses, erinnerte sich 1936, er und seine Freunde seien „ohne Macht und in dem rasenden Taumel dieser Tage auch ohne Einfluß“ gewesen, so dass man keine Möglichkeit gesehen habe, „der Revolution im Innern entgegenzutreten“. Er fuhr deshalb von Berlin nach Westpreußen auf sein Gut, „um wenigstens dort in den mir gezogenen Grenzen für Zucht und Ordnung zu sorgen“.19 Kuno Graf Westarp, 1918 noch Vorsitzender der Reichstagsfraktion der Deutsch-Konservativen Partei, blieb bis zum 11. November in Berlin, um für die konservative Partei Stellung zu beziehen, indem er z. B. direkt bei Friedrich Ebert und Hugo Haase vorsprach. Kurzzeitig wurden er und einige völkisch-konservative Journalisten bei einem privaten Treffen in einem Hotel unter Arrest gestellt, allerdings hatte dies keine weiteren Folgen, denn der wachhabende Matrose war nach zwei Stunden verschwunden. Graf Westarp betonte im Gespräch mit Ebert und Haase, dass die konservative Fraktion die Machtübernahme durch die Volksbeauftragten für nicht rechtmäßig halte, und forderte die Einberufung des Bundesrates und des Reichstages. Er wurde informiert, dass es „ein Recht der Revolution gebe, das das formell bestehende Recht beseitige“.20 Westarp protestierte nochmals und widmete sich dann der Frage, ob es Passierscheine für die in Berlin anwesenden Fraktionsmitglieder geben könne, die nach Hause fahren wollten – dieser Bitte wurde entsprochen.21 Dann machte auch er sich auf den Weg in die Provinz, zusammen mit Albrecht von Graefe nach Mecklenburg, da er „von verschiedenen Seiten“ gedrängt worden sei, Berlin zu verlassen. Dort blieb er aber nur bis   19 Oldenburg-Januschau (1936), in: Miller / Ritter (1968): Novemberrevolution, S. 36. 20 Westarp (2001): Konservative Politik, S. 13. Diese Argumentation wurde auch von Walther Lamp’l in seiner juristischen Dissertation aus dem Jahre 1921 vertreten, vgl. dazu die Beiträge von Daniel Siemens und Manfred Baldus in diesem Band, sowie Ohnezeit (2011): Zwischen, S. 27f. 21 Westarp (2001): Konservative Politik, S. 13.

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zum 18. November, da inzwischen Aktivitäten zur Neugründung einer konservativen Partei eingesetzt hatten. Seine Frau Ada telefonierte in diesen Tagen mit ihm und schrieb ihm Briefe, aus denen ihre Furcht vor Verfolgung, aber auch ihre Verachtung für die revolutionären Kräfte zum Ausdruck kamen. Am 14. November 1918 berichtete sie: Die Stimmung auf den Straßen ist beruhigter wenn man auch bei aufmerksamer Beobachtung sich nicht darüber täuschen wird, dass es in der Tiefe noch sehr gärt. Vorschläge wie: Alle müssten aufgehängt werden! sind viel zu hören, die ‚Reichen‘ sind natürlich an Allem überall schuld. Rote Kokarden und Schleifen werden in Massen gekauft, die jüdischen Equipagen dekorieren ihren Kutscher ausgiebig damit und fahren dann unangefochten spazieren.22

Einen Tag später warnte sie ihn nochmals, er solle abwarten, „was die Spartakusgruppe erreicht“, berichtete aber zugleich, dass langsam wieder Ordnung herrsche: „Der Kommandant von Berlin fängt nun glücklicherweise wieder an zu befehlen – nicht mehr [zu] bitten. Die Schutzmänner bekommen wieder Waffen, das ist auch gut“. Sicherheitshalber habe sie aber das Silber versteckt.23 Am 16. November ging es dann auch um finanzielle Dinge, da die Gräfin gehört hatte, dass das Kapitalvermögen „rigoros gekürzt werden“ solle. Sicher fühlten sich beide immer noch nicht, so dass Graf Westarp auch auf Anraten seiner Frau entschied, in Berlin noch einige Tage nach seiner Rückkehr nicht in seiner Wohnung zu übernachten, sondern bei einem Angestellten der Partei.24 Letztendlich aber passierte ihm und allen anderen Parteivertretern der Konservativen nichts. Schon nach einer Woche waren Westarp und andere Konservative wieder zurück, voll handlungsfähig, im Besitz ihrer Vermögen und Güter und damit bereit, Einfluss auf das Geschehen in Berlin zu nehmen. Eine derartige Einflussnahme beinhaltete aber offenbar keinerlei gemeinsame Aktivitäten zur Vorbereitung einer konservativen, militärisch organisierten Gegenrevolution, weder in den ersten beiden Novemberwochen noch danach. Zwar gab es wohl parteiintern Kritik an der Haltung der deutsch-konservativen Führung, die am 18. November 1918 erklärte, man unterstütze die neuen Machthaber darin, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, ohne aber damit die Rechtmäßigkeit des Systemwechsels anzuerkennen.25 Konservative hatten möglicherweise über konterrevolutionäre Aktionen nachgedacht, aber zur Umsetzung fehlten ihnen schlicht die Mittel: Es gab weder ein organisatorisches Zentrum für solche Planungen, waren die Vertreter der Parteien doch allesamt mit sich selbst bzw. der Gründung einer neuen Partei beschäftigt. Noch gab es Unterstützung durch das Militär (Oberste   22 BA Berlin, N 2329, 277: Brief Ada Gräfin von Westarp an Kuno Graf von Westarp, 14.11. 1918. Antisemitische Stereotype sind auch in anderen Passagen der Briefe erkennbar. 23 Ebd., Brief vom 15. November 1918. 24 Ebd., Brief vom 16. November 1918 und Westarp (2001): Konservative Politik, S. 14. 25 Vgl. dazu Ohnezeit (2011): Zwischen, S. 27–30; Thimme (1969): Flucht, S. 10–15; Westarp (2001): Konservative Politik, S. 184. Westarp bezeichnete in seinen in den 1930er Jahren verfassten Memoiren die Zeit von November 1918 bis 1920 als „Bürgerkrieg“ und sprach ganz im Sinne der Nationalsozialisten von „System“, wenn er die Republik meinte.  

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Heeresleitung) oder die Verwaltung, denn beide Institutionen gingen ebenfalls dazu über, sich an der Aufrechterhaltung der Ordnung zu beteiligen. Generalfeldmarschall Hindenburg hatte bereits am 10. November verlauten lassen, auf seinem „Posten zu verharren“, um seine Pflichten als Oberbefehlshaber zu erfüllen. Überlegungen, das zurückkehrende Heer zu einer konterrevolutionären Aktion unter der Führung Hindenburgs einzusetzen, lehnte er ab.26 Diese Entscheidung basierte auch auf der Gewissheit, dass große Teile des Heeres (vor allem unterhalb der Offiziersränge) wohl letztlich nicht für eine konterrevolutionäre Aktion bereit gewesen wären. Daher wählten auch andere Vertreter des Militärs den Weg Hindenburgs und Westarps, sich der Regierung Ebert zur Verfügung zu stellen, um die befürchtete zweite, bolschewistische Revolution abzuwehren.27 Schon Mitte November war damit deutlich geworden, dass es von konservativer Seite (zunächst) keinen militärischen konterrevolutionären Widerstand geben würde. Einflussnahme von konservativer Seite bedeutete daher in den ersten Wochen nach dem 9. November 1918 vor allem: die Partei neu zu organisieren und den eigenen Beitrag zum Untergang der Monarchie nicht zu thematisieren. Die meisten konservativen Politiker interpretierten den Zerfall der Monarchie (sowie die Niederlage im Krieg) und den revolutionären Übergang in eine Republik nicht als Ausdruck des eigenen Versagens, sondern ausschließlich als illegitimen Rechtsbruch linker und liberaler politischer Kräfte. Der eigene Beitrag zu diesen Entwicklungen – oder besser: die Verantwortung dafür – wurde nicht diskutiert. Annelise Thimme beschreibt diese Verhaltensweise als „Flucht in den Mythos“, die u.a. der eigenen Schuldabwehr diente.28 So stellte etwa Graf Westarp am 10. November 1918 für die Deutsch-Konservativen fest: Erst die Geschichte wird die Größe der Schuld ganz ermessen, mit der diejenigen belastet sind, die die Verantwortung für diesen Ausgang tragen. Durch Parteisucht verblendet, haben die Sozialdemokraten um ihrer eigenen Herrschaft willen das Land dem Feinde preisgegeben. Haltlosigkeit, Schwäche, Furcht bei den regierenden Stellen und im Lager der bürgerlichen Parteien haben mit der unerbittlichen Folgerichtigkeit weltgeschichtlicher Entwicklung dem Ende zugetrieben, vor dem wir jetzt stehen. Wir Konservativen haben das Schicksal nicht wenden können. Gemäß unserer Pflicht und unsere Überzeugung haben wir nicht aufgehört, warnend unsere Stimme zu erheben; man hat schon während der Herrschaft des früheren Regierungssystems uns keinen Einfluß eingeräumt und uns während des Krieges seit über Jahr und Tag von jeder Mitwirkung ausgeschlossen.29

Diese Deutung der Ereignisse, in der die Passivität der Konservativen mit fehlenden Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, gerechtfertigt wurde, wirkt zunächst wie eine erstaunliche Verdrehung der historischen Tatsachen. Zwar stellten die Konservativen schon vor dem Krieg nicht mehr die Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag,   26 27 28 29

Pyta (2007): Hindenburg, S. 384–386. Schmidt (1981): Heimatheer, S. 357–385. Thimme (1969): Flucht, insbesondere S. 76–94; Ohnezeit (2011): Zwischen, S. 27. Neue preußische (Kreuz-)Zeitung (Berlin) Nr. 575, 10.11.1918, in: Westarp (2001): Konservative Politik, S. 11.

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im Preußischen Abgeordnetenhaus gaben sie aber weiterhin den Ton an. Ein Ausschluss von „jeder Mitwirkung“ war allein angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse in Preußen wohl keine adäquate Beschreibung der Machtverhältnisse, zumindest bis 1917. Um eine Erklärung für das individuelle Verhalten konservativer Politiker sowie für ihre mehr oder weniger kontrafaktischen Interpretationen zu finden, ist es jedoch hilfreich, die Novemberrevolution nicht als ein singuläres Ereignis von einigen Tagen zu sehen, sondern in längere Perspektiven mit unterschiedlichen Temporalitäten einzuordnen.30 Für die konservativen Parteien begann der Prozess ihres Hegemonieverlustes – und das ist aus konservativer Sicht das Entscheidende an der Revolution – bereits vor dem Krieg und verstärkte sich dann noch einmal 1917. Im Januar 1912 hatten die Deutsch-Konservativen eine deutliche Niederlage bei den Wahlen zum Reichstag hinnehmen müssen. Wahlsieger war die SPD, die seitdem die stärkste Fraktion stellte. In ihrem desaströsen Wahlergebnis zeigte sich klar die politische Isolation der konservativen Honoratiorenfraktion, die sich im Zeitalter zunehmender Massenagitation weiter einseitig als Partei des Adels, der Junker und des Schutzzolls profilierte und damit immer mehr ins politische Abseits, sogar in Opposition zum Reichskanzler, geriet. In der Partei entwickelte sich daraus eine „Belagerungsmentalität“ (James Retallack), die aus der einst gouvernemental orientierten Gruppe einen Teil der nationalen Opposition, im Bündnis mit dem Alldeutschen Verband, werden ließ.31 Waren die Konservativen ab August 1914 zunächst relativ beruhigt ob der Burgfriedenspolitik und der beginnenden Diskussion über weitreichende Kriegsziele, so sehr alarmierte sie dann aber die schon 1915 einsetzende innenpolitische Debatte um die „Neuorientierung“, womit vor allem eine Veränderung, ja eigentlich Abschaffung des Dreiklassenwahlrechtes in Preußen gemeint war. Nach der Osterbotschaft des Kaisers 1917 nahm diese Debatte wieder an Fahrt auf, wurde aber sogleich verschärft, da sich die Mehrheitsfraktionen im Reichstag (Zentrum, Fortschrittliche Volkspartei und SPD) im Juli zu einem Interfraktionellen Ausschuss zusammenfanden, der auch eine Friedensresolution des Reichstages vorbereitete. Innenpolitisch standen damit die Parlamentarisierung der Regierungspraxis sowie die Wahlrechtsreform in Preußen auf der Tagesordnung, außenpolitisch ein möglichst rasches Friedensabkommen ohne zu großen Gesichtsverlust für die deutsche Regierung – all dies war aber deutlich gegen die Interessen und Überzeugungen der konservativen Parteien gerichtet. Der weitere Verlauf des Krieges bis zum Herbst 1918 sowie die zunehmenden innenpolitischen Spannungen führten schließlich im Oktober 1918 zu einer Umorganisation der Reichsleitung unter dem neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden: Die Berufung von Vertretern der Parteien aus dem Interfraktionellen Ausschuss in die Reichsleitung bedeutete nichts anderes als den Start für die Parlamentarisierung und Demokratisierung der Regierungspraxis und damit eine grundlegende Verfassungsreform. Die neue Reichsleitung stützte sich nun auch auf eine Mehrheit im Reichstag;   30 Vgl. die Einleitung in Weinhauer/ McElligott/ Heinsohn (2015): Germany. 31 Retallack (1988): Notables; Retallack (2006): German. Ähnlich verlief dieser Prozess bei den Freikonservativen, vgl. Alexander (2000): Freikonservative.

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entsprechende Reformgesetze wurden Ende Oktober im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen und der USPD verabschiedet. Die Reform des Dreiklassenwahlrechts wurde allerdings nicht in Angriff genommen. Diese letzte Bastion des konservativen Regierungssystems in Preußen fiel dann tatsächlich erst durch den Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918. Schon vor den Ereignissen im November 1918 waren also die Konservativen mit einer Revolution – im Sinne einer Umwälzung staatlicher Verfassung – konfrontiert und interpretierten dies auch genauso.32 Begonnen hatte dieser Prozess für die Konservativen aber bereits 1912; 1917 setzte eine Beschleunigung ein, bis sich dann im Herbst 1918 die Ereignisse überstürzten und das alte monarchische Regierungssystem an eigener Schwäche und mangelnder Unterstützung durch seine Träger (z. B. das Militär und die Oberste Heeresleitung) zusammenbrach. Die Revolution war daher aus konservativer Sicht eine Art Ereigniskaskade, langsam beginnend 1912, verdichtet und beschleunigt im Jahre 1917, bis dann im Oktober/November 1918 der befürchtete Staatsumsturz tatsächlich stattfand. 3. FOLGEN DER REVOLUTION Zwischen 1912 und 1918 erlebten die Konservativen einen dramatischen Verlust ihrer politischen Wirksamkeit – dies meinte wohl Graf Westarp, wenn er von nicht vorhandenen Einflussmöglichkeiten „während der Herrschaft des früheren Regierungssystems“ sprach. Zugleich hatte es innerparteilich durchaus Auseinandersetzungen über das Verhalten der Fraktion gegeben. Neben Kritik an der passiven, abwartenden Haltung der Parteiführung,33 gab es schon 1912, vermehrt dann aber 1918 Vorschläge für eine energische Reform der Partei, da man sich den gewandelten Zeiten anpassen müsse. Der Historiker und konservative Politiker Otto Hoetzsch schrieb etwa am 5. November 1918 an den Fraktionsvorsitzenden: „Soviel im Kriege von der Neuorientierung geredet worden ist, so ist doch auch heute die Bedeutung der Verfassungsänderung im Reiche, die ohne Übertreibung als Revolution zu bezeichnen ist, in den Kreisen der Rechtsstehenden noch nicht voll erkannt worden.“34 Er forderte die Parteiführung klar auf, eine „Revision des Programms und der Politik der konservativen Partei“ einzuleiten. Ähnlich hatte sich bereits 1912 ein anderes Parteimitglied geäußert, als dieses nach der Wahlniederlage postulierte, die Konservativen sollten von der SPD lernen, um sich zu einer modernen Mitgliederpartei entwickeln zu können.35 Ulrich Kahrstedt, ebenfalls Historiker, eröffnete die Diskussion über den Umgang mit der Revolution nach dem   32 33 34 35  

Vgl. Thimme (1969): Flucht, S. 78–81. Ebd., S. 10–11. Witt/ Hoetzsch (1918): Denkschrift, S. 343. Eisenhart (1912): Lehren.

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9. November 1918 mit der Frage: „Was sollen die Konservativen tun?“. Seine Antwort lautete: Den Parlamentarismus anerkennen und zwar als eine Methode, um „seine Weltanschauung in der Öffentlichkeit, im politischen Leben zu verfechten“ und die Demokratie weiterhin zu bekämpfen- Der Parlamentarismus sei „das von der Zeit diktierte Mittel […], der sogen. Demokratie, d. h. der Ochlokratie, entgegenzutreten“.36 Bis zum November 1918 waren die Appelle der Reformer in der Partei nicht bzw. zu spät gehört worden. Die schon eingesetzte Kommission zur Revision des Programms der Deutsch-Konservativen blieb folgenlos, weil die Ereignisse im Oktober und November 1918 eine völlige Neuausrichtung der konservativen Parteien erforderlich machten. Diese erfolgte dann überraschend schnell: Schon am 24. November 1918 wurde die neue Deutschnationale Volkspartei gegründet, zunächst unter deutlicher Zurückhaltung (bzw. Zurückdrängung) aller prominenter Konservativen aus dem Kaiserreich, etwa Graf Westarp.37 Die neue Partei war von Beginn an ein Sammelbecken verschiedener Gruppen aus dem konservativ-völkischen Milieu. Allerdings erleichterte die gemeinsame Gegnerschaft gegen die neue Republik nur vordergründig den Einigungsprozess dieser sehr unterschiedlichen Gruppen. Die harten Differenzen innerhalb des politischen Konservatismus brachen in den folgenden Jahren immer wieder auf, u.a. an den Fragen, ob und wie die völkische Bewegung integriert werden könne oder wie weit man sich auf das republikanischparlamentarische System einlassen solle, um auch Regierungsverantwortung übernehmen zu können. Die prekäre Einheit der „Volkspartei“ führte zu mehreren innerparteilichen Krisen, die dann 1928 – zehn Jahre nach der Gründung – zu einer erneuten Aufspaltung führten. Ein Großteil der Partei ging unter der Führung Alfred Hugenbergs wieder in die Fundamentalopposition zur Republik, während kleinere Gruppen erneut den gouvernementalen Charakter konservativer Politik betonten, u.a. auch Graf Westarp in der „Konservativen Volkspartei“ ab 1930.38 Die Revolution von 1918 hatte nicht zu einem Untergang der Konservativen geführt – das geschah erst nach der „nationalen Revolution“ der Nationalsozialisten 1933. Im Gegenteil hatten die politischen Bedingungen, die die SPD für den Übergang in die Republik gestaltete, dazu geführt, dass die Konservativen zum einen ein erstaunlich stabiles Wahlergebnis erzielten, und zum anderen bestimmte Gruppen im konservativen Milieu von den neuen Bedingungen profitierten. 10,3 Prozent erhielt die DNVP in den Wahlen zur Nationalversammlung, 15,1, Prozent dann bei der ersten Reichstagswahl im Juni 1920, später sogar 20,5 Prozent (1924).39 Das neue Verhältniswahlrecht sowie das Frauenwahlrecht begünstigten diese Ergebnisse.40 Zu den Gewinnerinnen der Entwicklungen gehörten auch die konservativen   36 Kahrstedt (1918): Was sollen, S. 66 u. 69. Ähnlich dann auch Bry (1919): Was sollen. 37 Zur Geschichte der DNVP liegen zahlreiche Arbeiten vor, u. a. von Liebe (1956): Deutschnationale Volkspartei und zuletzt Ohnezeit (2011): Zwischen. 38 Jonas (1965): Volkskonservative. 39 Falter / Lindenberger / Schumann (1986): Wahlen, S. 44. 40 Heinsohn (2010): Konservative, S. 82–85.  

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Frauen, die sich vor 1918 in einem sehr spezifischen Dilemma befunden hatten. Sie hatten bis zum November das Stimmrecht für Frauen als unvereinbar mit konservativer Weltanschauung angesehen und entsprechend agitiert. Nach dem 9. November aber nahmen sie ebenso schnell wie ihre männlichen Parteikollegen die neue Zeit an und propagierten das Frauenstimmrecht nun als das Mittel zur Rettung des Vaterlandes.41 Außerdem war mit dem politischen Systemwechsel auch verbunden, dass die Organisation von Frauen endlich die Anerkennung der Parteimänner erhielt – dies war vor 1918 ein zentrales Problem für die „Vereinigung konservativer Frauen“ gewesen.42 Die DNVP profitierte in den zwanziger Jahren vom Frauenstimmrecht, was dann auch von den „alten“ Konservativen wie etwa Graf Westarp anerkannt wurde. Aus der Sicht konservativer Politiker wurde das Frauenstimmrecht daher als zentraler „innenpolitischer Fehler“ der republikanischen Kräfte angesehen.43 Konservative Parteien konnten sich also unter den neuen politischen Bedingungen erfolgreich revitalisieren – wenn auch nur für kurze Zeit. Andere Konservative nutzten dagegen zielstrebig das Rätesystem für ihre eigenen Interessen. Allerdings kommt dieses Phänomen nur auf der lokalen und regionalen Ebene in den Blick. In vielen Städten und Kommunen gründete auch das Bürgertum Räte zur Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen, etwa im Bereich der Wirtschaft oder in Kunst und Kultur. Wie Hans-Joachim Bieber betont, hatten diese Räte jedoch überwiegend defensiven Charakter; sie dienten der Zurückdrängung revolutionärer Gestaltungsansprüche sowie der Sicherung der privatwirtschaftlichen Ordnung.44 So wurde etwa in Hamburg bereits am 13. November 1918 ein „Wirtschaftsrat“ gegründet, der unter der Führung der Handelskammer stand. Der Wirtschaftsrat stellte sich politisch auf die Position der SPD (Wahlen und Verfassung) und zog die Kompetenzen zur Regelung dringender wirtschaftlicher Probleme wie Rohstofflieferungen oder die Umstellung auf Friedensproduktion an sich. Der Hamburger Arbeiterund Soldatenrat konnte sich gegenüber diesem Gremium aus Fachleuten nicht mit alternativen Konzepten durchsetzen. Vertreter der SPD und der Gewerkschaften gingen daher schnell dazu über, eng mit dem Wirtschaftsrat zu kooperieren, um auch in den Betrieben Ruhe und Ordnung herzustellen. Der Rat hatte sich für die Vertreter der Wirtschaft in Hamburg so sehr bewährt, dass sie diesen auch nach 1919 noch bestehen ließen.45 Das Rätesystem wurde auf diese Weise zu einem erfolgreichen Modell der konservativen Interessensvertretung auf lokaler Ebene. Schließlich ist noch auf eine weitere Entwicklung nach dem November 1918 hinzuweisen: Trotz blutiger Zusammenstöße an zentralen Orten verlief die erste Phase der politischen Revolution in vielen Orten der neuen Republik recht undramatisch, so z. B. in Hamburg, wo es zwar auch Tote gegeben hatte, aber doch   41 42 43 44 45

Ebd., S. 61–67. Ebd., S. 41–48. Graef (1928): Werdegang, S. 20. Bieber (1992): Bürgertum, S. 358. Graef (1928): Werdegang, S. 96.

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schnell wieder Ordnung herrschte. Nicht nur in der Hansestadt sah sich der amtierende Arbeiter- und Soldatenrat gezwungen, mit den traditionellen Organen (etwa der Finanzverwaltung oder dem Senat) weiter zusammenzuarbeiten, um die Versorgung der Bevölkerung und die Verwaltung der Stadt aufrecht erhalten zu können. Dies war gleichzeitig eine Einladung an nicht-revolutionäre Kräfte, sich an der Gestaltung der neuen Gesellschaftsordnung zu beteiligen. Die Folge davon war, dass ein Elitenwechsel in Verwaltung und Politik auf regionaler oder städtischer Ebene nicht oder nur sehr bedingt stattfand. Auf der lokalen Ebene konnten daher konservative, bürgerliche Eliten nach 1918 weiterhin und kaum eingeschränkt Einfluss auf Verwaltung und Wirtschaft ausüben. 4. FAZIT Die Frage nach den konservativen Reaktionen auf die Revolution ergibt eine klare Antwort: Nach kurzer Aufregung und Verunsicherung fanden sich die Konservativen schnell in die neuen Gegebenheiten ein und gingen zügig daran, auf allen Ebenen ihre Kräfte neu zu organisieren. Der Zusammenbruch des alten Systems führte auch bei den konservativen Parteien zu einem Mobilisierungsschub, in dem schon lange anstehende Organisationsfragen gelöst wurden.46 Mit Hilfe der Dämonisierung und Delegitimierung der Revolution durch die Dolchstoßlegende konnten die Konservativen zugleich erfolgreich der Frage ausweichen, was sie selbst zur Implosion des politischen Systems vor 1918 beigetragen hatten. Das schon 1912 etablierte Selbstbild einer nationalen Opposition wurde als geschichtliche Aufgabe der Konservativen nach der Revolution erneuert. Mit diesem Bild konnten sich die Konservativen gut in die neuen politischen Verhältnisse einfinden, ohne zugleich Verantwortung für die Gestaltung der Verfassung übernehmen zu müssen. So war der politische Zusammenbruch wohl für die meisten Konservativen ein geistiges oder mentales Problem, über das breit in der Presse und in den Memoiren reflektiert wurde – organisatorisch und parteimäßig war es das aber nicht. Die konservative Partei passte sich schnell ein, wahrte aber in zentralen Programmpunkten ihre Kontinuität: Konservatismus wurde weiterhin als Gegnerschaft zur Demokratie gedacht. QUELLEN Bundesarchiv Berlin, N 2329, Nachlaß Kuno von Westarp, 276 und 277: Nachlaßgut Ada von Westarp, Briefe Nov. 1891 – Nov. 1920 Bry, Carl Christian: Was sollen die Konservativen tun? In: Konservative Monatschrift 76 (1919), S. 719–725. Eisenhart, W.: Welche Lehren ergeben sich für die konservative Agitation aus den verflossenen Reichstagswahlen? In: Mitteilungen aus der konservativen Partei 5 (1912), Sp. 73–76.

  46 Vgl. dazu auch Fritsche (1993): Breakdown?

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Graef, Walther: Der Werdegang der Deutschnationalen Volkspartei 1918–1928, in: Weiß, Max (Hrsg.): Der nationale Wille. Werden und Wirken der Deutschnationalen Volkspartei 1918– 1928, Berlin 1928, S. 15–53. Kahrstedt, Ulrich: Was sollen die Konservativen tun? In: Konservative Monatschrift 76 (1918), S. 65–73. Witt, Peter-Christian: Eine Denkschrift Otto Hoetzschs vom 5. November 1918, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 21 (1973), S. 337–353. Westarp, Kuno Graf: Konservative Politik im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, bearb. v. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen. (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Dritte Reihe: Die Weimarer Republik, Bd. 10), Düsseldorf 2001. Ders.: Das Ende der Monarchie am 9. November 1918. Abschließender Bericht nach den Aussagen der Beteiligten. Mit einem Nachw. hrsg. von Werner Conze, Stollhamm/Oldenburg 1952.

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DER KAISER GING, DIE GENERÄLE BLIEBEN? Drei Überlegungen zu politischen Agenden und institutionellen Zielsetzungen der deutschen militärischen Führung zwischen Novemberrevolution und Kapp-Lüttwitz-Putsch Peter Keller Dieser Beitrag beginnt mit dem vielleicht sagenumwobensten Telefonat der deutschen Geschichte. Die Rede ist – natürlich – von dem berühmt-berüchtigten Ferngespräch, das der eben erst zum ‚Volksbeauftragten‘ avancierte Friedrich Ebert in den späten Stunden des 10. November 1918 aus seinem Dienstzimmer in der Berliner Reichskanzlei mit dem Ersten Generalquartiermeister der im belgischen Spa untergebrachten Obersten Heeresleitung (OHL), Generalleutnant Wilhelm Groener, führte. Beide Männer standen noch erkennbar unter dem Eindruck der Ereignisse der vorangegangenen Tage: Groener hatte einem lange uneinsichtigen Wilhelm II. beibringen müssen, dass er sich nicht mehr auf den Gehorsam der Armee verlassen könne und jede Hoffnung auf eine Niederschlagung der revolutionären Unruhen, die von der Heimat Besitz ergriffen hatten, vergebens sei. Ebert wiederum hatte miterlebt, wie die scheinbar so festgefügte Hohenzollernmonarchie unter dem Ansturm der aufgebrachten Massen, die sich auf den Straßen der Reichshauptstadt versammelt hatten, binnen weniger Stunden hinweggefegt worden war. Die Republik war ausgerufen worden und er selbst trug nun die Verantwortung für ein vom Krieg zerrüttetes Staatswesen und ein am Hunger darbendes, politisch aufgewühltes Volk. Im Augenblick war aber nicht die Zeit, über die Bürde des Amtes zu sinnieren. Viel wichtiger war, wie es weitergehen würde. Wirtschaft und Heer mussten demobilisiert, Nahrungsmittelversorgung, Wohnungs- und Arbeitsmarkt so rasch wie möglich neu organisiert werden. Vor aber allem galt es, das staatliche Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Ähnliche Gedanken hegte man auch in Spa. In den letzten Stunden hatte man sich dort zu der Einsicht durchgerungen, dass ein Zusammengehen mit der neuen Reichsleitung gemessen an allen anderen Optionen für das Offizierskorps das kleinste Übel darstellte. Über Groener ließ man deswegen erklären, dass man bereit sei, sich in den Dienst der Regierung Ebert zu stellen, wenn diese im Gegenzug erklärte, konsequent gegen den „Bolschewismus“ vorzugehen – ein Angebot, das Ebert gerne akzeptierte. Der „Ebert-Groener-Pakt“ war geboren.1   1  

Zum Telefongespräch Ebert-Groener vgl. exemplarisch Dolchstoß-Prozeß (1925), S. 223–226; Volkmann (1930): Revolution, S. 44–68 (dort fälschlich auf den 9.11.1918 datiert); Sauer

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Die Öffentlichkeit erfuhr erst im Herbst 1925 von der Absprache aus dem Revolutionsnovember. Groener selbst hatte ihre Existenz während des Münchener Dolchstoßprozesses im Zeugenstand zu Protokoll gegeben.2 Seither hat das Telefongespräch nicht aufgehört, die Phantasie von Schriftstellern, Journalisten und Filmemachern anzuregen. Theodor Plivier etwa zeichnete in seinem berühmten Revolutionsroman Der Kaiser ging, die Generäle blieben aus dem Jahr 1932 ein denkbar düsteres Bild der oben geschilderten Szenerie: Ebert wird von Plivier als ängstlicher, engstirniger, ordnungsversessener Biedermann dargestellt, der aus bloßer Furcht vor der Revolution nur allzu gerne die Anlehnung an die kaiserliche Generalität sucht.3 Noch einmal deutlich kritischer fällt das Urteil aus, das der Publizist Sebastian Haffner 1969 in seinem Buch Die verratene Revolution fällte: Aus dem „Pakt“ wird hier ein offensives „Kampfbündnis gegen die Revolution, von der sich Ebert wenige Stunden zuvor hatte auf den Schild heben lassen“.4 In jüngerer Zeit schließlich war es Klaus Gietinger und Bernd Fischerauer vorbehalten, das legendäre Ferngespräch in ihrem Film Gewaltfrieden von 2010 aufzubereiten. Vor der Kamera findet sogar eine Rollenumkehrung statt: Ein von Selbstbewusstsein überbordender Groener diktiert einem überforderten Ebert in schneidendem Ton förmlich die Bedingungen für die künftige Zusammenarbeit.5 Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Allen populären Verarbeitungen des Themas ist jedoch gemein, dass sie die Absprache vom 10. November 1918 für ein wegweisendes Ereignis halten – eine Auffassung, die sie mit dem Gros der historischen Forschung teilen. Auch wenn die politisch-moralische Bewertung des „EbertGroener-Paktes“ dort durchaus unterschiedlich ausfallen kann, wird ihr Rang als „zentrale Basisentscheidung“6 der Weimarer und vielleicht der neueren deutschen Geschichte eher selten in Frage gestellt. Dadurch, dass Ebert auf Groeners Angebot eingegangen sei, habe er in Kauf genommen, dass die Eliten des alten Regimes den vielleicht wichtigsten staatlichen Machthebel, das Militär, weiter fest in der Hand behielten. Unmittelbare Folge davon sei gewesen, dass sich die Republik mit der Reichswehr eine Armee von mehr oder minder zweifelhafter Loyalität eingehandelt habe.7 Apodiktische Feststellungen wie diese reizen natürlich zum Widerspruch. Auf den kommenden Seiten soll daher eine etwas andere Deutung des „Ebert-Groener 

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(1956): Bündnis Ebert-Groener, bes. S. 41–60; Groener (1957): Lebenserinnerungen, S. 467; Mühlhausen (2006): Ebert, S. 110f. Allgemein zu den folgenden Ausführungen vgl. außerdem Keller (2014): Reichswehr. Zum historischen Hintergrund des Prozesses vgl. Permoser (1996): Dolchstoßprozeß, bes. S. 917f. Plivier (1932): Der Kaiser ging, bes. S. 341–345. Vgl. Haffner (1969): Verratene Revolution, S. 109. „Gewaltfrieden. Die Legende vom Dolchstoß und der Vertrag von Versailles“. Regie: Bernd Fischerauer. Drehbuch: Bernd Fischerauer / Klaus Gietinger. Bayerischer Rundfunk 2010. Wirsching (2008): Weimarer Republik, S. 5. Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 10–13.

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Paktes“ beziehungsweise der hinter ihm stehende Frage nach dem Verhältnis zwischen demokratischem Staat und bewaffneter Macht in der Frühphase der Weimarer Republik präsentiert werden. Den roten Faden markieren dabei drei Überlegungen zu politischen Agenden und institutionellen Zielsetzungen der militärischen Führung zwischen Novemberrevolution und Kapp-Lüttwitz-Putsch. Als erstes wird hierzu darzulegen sein, dass das, was im Kontext dieses Beitrags vereinfacht als militärische Führung bezeichnet werden soll, weit heterogener war, als es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein haben mag. Nicht allein die OHL entschied über das militärisch-politische Schicksal der Streitkräfte. Vielmehr musste sie sich ihren Einfluss mit zahlreichen anderen, oft autonom agierenden Kommando- und Verwaltungsbehörden teilen (1). Aufbauend auf diesem Gedankengang wird anschließend zu zeigen sein, welche verschiedenen Vorstellungen über Aufbau und Ausrichtung der neu zu gründenden Reichswehr existierten. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf der Rivalität zwischen einer eher pragmatischen und einer eher attentistischen Strömung innerhalb der militärischen Führung liegen, die divergierende Auffassungen über die Notwendigkeit einer Annäherung der Streitkräfte an die Republik vertraten (2). Weswegen nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 ausgerechnet die Gruppierung obsiegte, die die Armee eher auf Distanz zum demokratischen Gemeinwesen halten wollte, wird Gegenstand des dritten Abschnitts sein (3). Abgerundet werden die vorliegenden Betrachtungen durch ein kurzes Schlussfazit (4). 1. MILITÄRISCH-ZIVILE KOOPERATIONEN IM ZEICHEN DES „ANTI-CHAOS-REFLEXES“ Der preußische Kriegsminister Heinrich Scheüch erlebte am 9./10. November 1918 die beiden vielleicht anstrengendsten und unübersichtlichsten Tage seiner gesamten Laufbahn. Bereits am Mittag des 9. November war seiner Dienststelle von anonymer Seite die telefonische Nachricht zugegangen, dass Wilhelm II. sich entschlossen habe, seinem Thron zu entsagen und in Berlin ein allgemeines Schießverbot ergangen sei. Die bereits getroffenen Vorkehrungen zur gewaltsamen Niederwerfung der revolutionären Unruhen, die von der Reichshauptstadt seit den frühen Morgenstunden Besitz ergriffen hatten, wären damit hinfällig gewesen. Scheüch hatte allerdings Zweifel daran gehabt, was von der geheimnisvollen Botschaft zu halten war. Um keinem böswillig gestreuten Gerücht aufzusitzen, hatte er sich nach kurzer Bedenkzeit entschlossen, Reichskanzler Prinz Max von Baden in dessen nahegelegenem Dienstpalais aufzusuchen, um sich bei diesem unmittelbar nach dem Stand der Dinge zu erkundigen.8 In der Reichskanzlei angekommen, wartete auf Scheüch allerdings eine Überraschung: Wie er erfuhr, hatte sich der Prinz, der damit ein Signal der Beruhigung   8

Vgl. Böhm (1977): Adjutant, S. 60f. (Eintrag vom 9. November 1918); Keller (2014): Reichswehr, S. 33.

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an die aufgebrachten Menschenmassen senden wollte, kurz vor dem Eintreffen des Kriegsministers dazu entschlossen, von seinem Amt zurückzutreten und die Kanzlerwürde auf den ebenfalls anwesenden SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert zu übertragen. Unversehens war Scheüch damit in die Bredouille geraten. Denn nach den geltenden gesetzlichen Regelungen war mit der Demission des Kanzlers, der zugleich als preußischer Ministerpräsident amtierte, auch sein eigenes Amt vakant geworden. Scheüch erschreckte dieser Gedanke. So kurz vor Kriegsende und inmitten revolutionärer Unruhen wollte er die Verantwortung für einen Wechsel an der Spitze des heimatlichen Heeresapparates nicht auf sich nehmen. Eilends versicherte er dem neuen Regierungschef seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Ebert akzeptierte, Scheüch blieb auf seinem Posten.9 Die Tragweite der damit getroffenen Entscheidung sollte sich schon wenige Stunden später herausstellen. Denn politisch war die Stellung der neuen Regierung alles andere als stabil. Weder konnte sie sich darauf berufen, auf verfassungsmäßigem Weg ins Amt gelangt zu sein, noch konnte sie sicher sein, ob ihr Machtanspruch allgemein anerkannt werden würde. Vor allem in der Reichshauptstadt selbst, wo die linksradikalen, mit der Sozialdemokratie verfeindeten Revolutionären Obleute innerhalb der Arbeiterschaft über guten Rückhalt verfügten, war mit Anfeindungen und vielleicht sogar Absetzung zu rechnen.10 Wenn Ebert und seine Kollegen politisch überleben wollten, mussten sie ihre eigene Machtbasis also so rasch wie möglich erweitern. Hierfür boten sich zwei Wege an: Einerseits war es das Gebot der Stunde, den gemäßigten Flügel der rivalisierenden Schwesterpartei USPD zum Eintritt in eine Koalition zu bewegen, um so die eigene Regierung nach links zusätzlich zu legitimieren. Andererseits musste versucht werden, unter den nun auch in der Reichshauptstadt in der Entstehung begriffenen Arbeiter-, noch mehr aber unter den leichter zu gewinnenden Soldatenräten für die eigene Agenda zu werben, und so den eigenen Rückhalt bei den revolutionsbewegten Massen unmittelbar zu vergrößern. Aus eigener Kraft konnten die Sozialdemokraten allerdings keines der beiden Ziele erreichen. Um erfolgreich auf Stimmenfang gehen zu können, waren materielle und personelle Ressourcen vonnöten, über die die Partei wenigstens im Augenblick nicht verfügte. Die Genossen von der USPD wiederum waren wahrscheinlich nur dann zum Eintritt in ein gemeinschaftliches Kabinett bereit, wenn zuvor gewährleistet war, dass dieses sich nicht von vornherein als politisches Himmelfahrtskommando erweisen würde. Hier wiederum kam Scheüch ins Spiel: Er versprach Ebert die Unterstützung seines Ressorts. Den Sozialdemokraten wurden unter anderem das fernmeldetechnische Verbindungsnetz sowie der Fuhrpark des Ministeriums zur Verfügung gestellt, damit sie in der Lage waren, ihre Kampagne zentral zu organisieren und Werberedner schnell von einer Truppenunterkunft zur anderen zu bringen. Wo immer es ging, versuchte das Ministerium außerdem, seinen noch vorhandenen Einfluss geltend zu machen, um die Bildung der Soldatenräte nachhaltig in sozialdemokratischem Sinn   9 Vgl. Schmidt (1981): Heimatheer, S. 331–351; Keller (2014): Reichswehr, S. 34. 10 Vgl. Ebd., S. 34.  

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zu beeinflussen. Zusätzlich sagte Scheüch zu, bei Bedarf persönlich für die Sicherheit der neuen Regierung zu garantieren.11 Unter diesen Vorzeichen ging es auf den 10. November zu. Die für diesen Tag angesetzte Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte sollte die Entscheidung über die Ausgestaltung der näheren Zukunft bringen. Zur Debatte stand insbesondere die Bestellung eines Koalitionskabinetts aus SPD und USPD. Obschon die Sozialdemokraten dank ihrer erfolgreichen Werbekampagne im Kongress über eine solide Mehrheit verfügten, verlief die Zusammenkunft nicht ohne Zwischenfälle. Insbesondere die Unabhängigen Sozialdemokraten um ihren Vorsitzenden Hugo Haase reagierten verschüchtert auf wiederholte Störungen der aggressiven linksradikalen Minderheit unter den Rätedeputierten und konnten sich lange nicht zum Eintritt in die Regierung entschließen. Erst nachdem Scheüch in einem nächtlichen Sechs-Augen-Gespräch gegenüber Ebert und Haase seine Schutzzusage noch einmal erneuert hatte, gelang es beiden Seiten, sich auf ein gemeinsames Kabinett zu einigen. Der Rat der Volksbeauftragten konnte seine Arbeit aufnehmen.12 Ebert selbst ließ nie einen Zweifel daran, wie sehr er dem Kriegsminister für dessen Hilfestellung danken zu müssen glaubte. Bis an sein Lebensende vertrat er die Auffassung, dass ohne Scheüchs persönlichen Einsatz am 10. November 1918 wohl keine Regierung hätte gebildet werden können.13 Im Kontext der hier verfolgten Fragestellung sind zwei andere Aspekte des „Beitrag[s] des Preußischen Kriegsministeriums zur Machtsicherung der Mehrheitssozialdemokratie am 9./10. November 1918“14 allerdings deutlich bemerkenswerter: Erstens nämlich hatte Scheüch die Entscheidung, sich auf die Seite der neuen politischen Machthaber zu stellen, bereits getroffen, als in der OHL noch immer über der Abdankungsfrage gerungen wurde. Zweitens hatte der Kriegsminister sein Kooperationsversprechen auch unabhängig, also auch ohne jedwede vorherige Rücksprache mit dem Großen Hauptquartier, abgegeben.15 Ähnliche Vorkommnisse wie in Berlin sind für die beiden selben Tage in verschiedenen Schattierungen auch für Städte wie Augsburg, Frankfurt am Main, Kassel, Leipzig, Würzburg und viele andere deutsche Ortschaften dokumentiert.16 Die vielleicht beste Überlieferung liegt für Stuttgart vor, wo sich Stadtkommandant Christof von Ebbinghaus dem Revolutionskabinett des neuen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Blos ebenfalls schon am 9. November zur Verfügung stellte. Wie im Falle Scheüchs hatten politische Überzeugungen dabei keine vor  11 Vgl. Böhm (1977): Adjutant, S. 62f. (Eintrag vom 9. November 1918); Schmidt (1981): Heimatheer, bes. S. 385–435; Keller (2014): Reichswehr, S. 34f. 12 Vgl. Böhm (1977): Adjutant, S. 67–70 (Eintrag vom 10. November 1918); Schmidt (1981): Heimatheer, S. 427–431; Keller (2014): Reichswehr, S. 35. 13 Vgl. Schmidt (1981): Heimatheer, S. 431; Keller (2014): Reichswehr, S. 35. 14 So die treffende Kapitelüberschrift bei Schmidt (1981): Heimatheer, S. 385. 15 Keller (2014): Reichswehr, S. 35. 16 Ebd., S. 40–43.

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dringliche Rolle gespielt. Vielmehr hatte Ebbinghaus seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit gegenüber den neuen Machthabern mit der Notwendigkeit begründet, „die Ordnung in Stuttgart aufrechtzuerhalten.“ Blos und seine Kollegen wiederum waren auf das Angebot des Offiziers gerne eingegangen und hatten ihn wenig später sogar gebeten, es schriftlich zu fixieren, um es als Anhang in ihre erste eigene öffentliche Proklamation aufnehmen zu können. Ebenso wie in Berlin hatte also auch in der württembergischen Hauptstadt ein führender Vertreter des Militärs auf eigene Verantwortung und ohne jede vorhergehende Rücksprache mit vorgesetzten Stellen oder gar der Obersten Heeresleitung gehandelt. Ebbinghaus blieb es dabei vorbehalten, sein Handeln Jahre später in der treffenden Formel zusammenzufassen, dass „Hindenburg […] nachträglich dasselbe getan“ habe wie er selbst.17 Letztendlich zeigen die Beispiele aus Berlin, Stuttgart und den anderen Städten also, dass nicht erst die OHL die bewaffnete Macht dazu anweisen musste, sich in den Dienst der neuen Ordnung zu stellen. Vielmehr war dieser Schritt in vielen Fällen schon vor dem Abschluss des „Ebert-Groener-Paktes“ von lokalen Befehlsbehörden autonom und aus eigenem Recht vollzogen worden. Unmittelbar maßgebend war dabei in aller Regel jenes soziale Reaktionsmuster gewesen, dass Richard Löwenthal einmal passend als den „Anti-Chaos-Reflex“ industrialisierter Gesellschaften bezeichnet hat.18 Hierzu brauchte es nicht erst ein Telefongespräch zwischen Spa und Berlin.19 Die latente Einflusslosigkeit der OHL zeigte sich auch auf anderem Gebiet: Mit ihrer freiwilligen Zurverfügungstellung hatten die lokalen militärischen Dienststellen naheliegenderweise auch die Verantwortung für den Schutz ihrer neuen politischen Partner übernommen. Dieser ließ sich jedoch nur garantieren, wenn im Ernstfall auch genügend einsatzbereite Truppen vorhanden waren. Genau hieran mangelte es aber, da immer mehr kriegsmüde Wehrpflichtige es vorzogen, den Dienst an der Waffe eigenmächtig zu quittieren.20 Die naheliegende Lösung lag in der Umstellung auf das Freiwilligenprinzip. Auch diese wurde aber nicht zentral von der Obersten Heeresleitung angeordnet, sondern dezentral und auf eigene Verantwortung von den jeweiligen militärischen Autoritäten erwirkt. Bereits in den ersten Tagen nach dem 9. November 1918 entstanden in Städten wie Beuthen21, Graudenz22,

  17 Ebbinghaus (1928): Memoiren, S. 45–47; Keller (2014): Reichswehr, S. 42–44. Vgl. im Übrigen auch das Schreiben des stellv. Generalkommandos des XIII. Armeekorps an das Württembergische Kriegsministerium vom 14. Dezember 1918: HStAS M1/3, Nr. 523. 18 Vgl. Löwenthal (1979): Bonn und Weimar, S. 11. 19 Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 45–47. 20 Vgl. ebd. S. 53. 21 Vgl. Hesterberg (1932): Alle Macht, S. 31f. 22 Vgl. Roßbach (1919): Sturmabteilung, S. 7–16.  

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Kattowitz23 oder Lauban24 auf diese Weise und unabhängig voneinander erste behelfsmäßige Schutzformationen.25 Noch viel deutlicher zeigte sich das gerade beschriebene Phänomen allerdings in den drei deutschen Bundesstaaten, die auch 1918/19 noch über gewisse militärische Reservatrechte verfügten: In Württemberg wurden Ende Dezember 1918 auf gemeinsame Veranlassung des Landessoldatenrats und des stellvertretenden Generalkommandos des XIII. Armeekorps die sogenannten Württembergischen Sicherheitstruppen aus der Taufe gehoben.26 Sachsen zog Anfang 1919 mit einem Organisationsstatut für die Schutzwachen nach.27 Der bayerische Freistaat schließlich stellte ab Frühjahr 1919 nacheinander zunächst den Volksheimatschutz und schließlich die Freikorps auf.28 Die Oberste Heeresleitung war an keinem einzigen dieser Vorgänge auch nur mittelbar beteiligt gewesen. Auf mehr als nur eine „gewisse Anerkennung“ konnte sie bis in das Frühjahr 1919 vor allem außerhalb Preußens nicht bauen.29 2. WALTHER REINHARDT UND DIE GRÜNDUNG DER VORLÄUFIGEN REICHSWEHR Im Frühjahr 1919 herrschte im deutschen Militär das organisatorische Chaos: Freikorps, Freiwilligen-Detachements, Sicherheitstruppen, Grenzschutzverbände, Volkswehren und unzählig viele Formationen desselben Schlags existierten in Reich und Bundesstaaten weitgehend berührungslos nebeneinander. Das Durcheinander war so groß, dass mitunter sogar höhere Kommandobehörden eingestehen mussten, keinen Überblick mehr darüber zu besitzen, welche Truppen ihnen unterstellt waren.30 Ein derart dysfunktionaler Zustand konnte keine dauerhafte Lösung sein. Bereits um die Jahreswende 1918/19 nahmen im politischen Berlin, das allmählich der Wahl zur Nationalversammlung und damit einhergehend der Restituierung der zivilen Reichsgewalt entgegenstrebte,31 deswegen Überlegungen Gestalt an, wieder Ordnung in die zerrütteten Streitkräfte zu bringen. Zu diesem Zweck wurde mit   23 24 25 26 27 28 29 30 31  

Vgl. Stinnesbeck (1919): Freiwilligenkorps, S. 2f. Vgl. Hesterberg (1932): Alle Macht, S. 18–20. Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 59–61. Vgl. Organisationsstatut der Württembergischen Sicherheitstruppen vom 20. Dezember 1918: in: HStAS M 1/4, Bü. 1548; Keller (2014): Reichswehr, S. 68f. Vgl. ebd. S. 69. Vgl. ebd.; Keller (2017): Epochenende. So die Aussage des preußischen Kriegsministers Walther Reinhardt auf der Kabinettssitzung vom 15. März 1919. In: Akten der Reichskanzlei. Kab. Scheidemann, Nr. 14b. Vgl. Rundschreiben des Generalkommandos des III. bayerischen Armeekorps an unterstellte Behörden, 25. Juni 1919. In: BayHStA-KA, Freiwilligenverbände, Nr. 131; Keller (2014): Reichswehr, S. 146f. Diese wurde mit dem „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ vom 10. Februar 1919 (RGBl. 1919 S. 169) provisorisch wiederhergestellt.

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Billigung des Rats der Volksbeauftragten im Januar 1919 beim preußischen Kriegsministerium der sogenannte Reichswehr-Ausschuss eingerichtet. Aufgabe des ausschließlich mit Offizieren und Unteroffizieren besetzten Gremiums sollte es sein, die bestehenden Freiwilligenverbände in eine einheitliche Heeresstruktur zu überführen, für eine Angleichung der verschiedenen Vorschriften über Entlohnung, Anwerbung und Kündigung der Freiwilligen zu sorgen sowie Bestimmungen über den inneren Dienst in der neuzuschaffenden Übergangsarmee zu entwickeln.32 Ihren legislativen Hauptausdruck fand die Tätigkeit des formell vom preußischen Oberstleutnant Richard von Pawelsz geleiteten, faktisch aber vom nunmehrigen preußischen Kriegsminister Walther Reinhardt33 dominierten Ausschusses im Entwurf eines „Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr“, der schon am 27. Februar 1919 von der neugewählten Reichsregierung erfolgreich in die Nationalversammlung eingebracht wurde und eine Woche später in Kraft trat. Die Vorlage ermächtigte den mittlerweile als Reichspräsident amtierenden Ebert, „das bestehende Heer aufzulösen und eine vorläufige Reichswehr zu bilden, die bis zur Schaffung der neuen reichsgesetzlich zu ordnenden Wehrmacht die Reichsgrenzen schützt, den Anordnungen der Reichsregierung Geltung verschafft und die Ruhe und Ordnung im Innern aufrechterhält.“34 Sekundiert wurde das Gesetz durch eine am selben Tag von Ebert, Reinhardt und Reichswehrminister Gustav Noske gemeinsam vollzogene Ausführungsverordnung, die spezifizierte, dass die „Ausübung der Befehlsgewalt […], vorbehaltlich der unmittelbaren Befehlserteilung durch den Reichspräsidenten, dem Reichswehrminister und innerhalb seines Kontingents dem preußischen Kriegsminister übertragen [wird]“35. Weitere Bestimmungen regelten unter anderem das Recht des Reichspräsidenten zur Bestellung besonderer Regierungsbeauftragter bei den Kommandobehörden sowie Form und Umfang der Tätigkeit der von den einfachen Dienstgraden als Interessenvertreter zu wählenden Vertrauensleute.36 Gemessen an der wilhelminischen Heeresverfassung war dem ReichswehrAusschuss damit ein respektabler Wurf gelungen. Erstmals in der deutschen Geschichte war die bewaffnete Macht einem zivilen Oberbefehl und über den Reichswehrminister bis zu einem gewissen Grad auch der parlamentarischen Kontrolle   32 Vgl. „Entwick[e]lung und derzeitige Gestaltung der Reichswehr (nach dem Stande vom 15.6.1919)“. In: BayHStA-KA, Reichswehr-Brigade 22, Bd. 2; Keller (2014): Reichswehr, S. 155f. 33 Heinrich Scheüch war am 15. Dezember 1918 als Kriegsminister zurückgetreten. Walther Reinhardt hatte das Amt am 2. Januar 1919 übernommen. – Der aus Württemberg stammende Reinhardt hatte während des Ersten Weltkriegs in verschiedenen Verwendungen als Generalstabsoffizier gedient. Anfang November 1918 war er aufgrund seiner organisatorischen Fähigkeiten als Departementsdirektor an das Preußische Kriegsministerium berufen worden, um die Demobilisierung der heimkehrenden Truppen vorzubereiten. 34 RGBl. 1919, S. 215. 35 Ebd. S. 296. 36 Ebd. Speziell zu den Vertrauensleuten vgl. außerdem Mulligan (2002): Restoring Trust.  

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unterworfen worden. Ebenso neu waren die in den Vertrauensleuten manifest werdenden Ansätze zur Aufwertung der Mannschaften gegenüber ihren Vorgesetzten – ein wesentliches Ziel der Soldatenräte.37 Reinhardt, der als geistiger Vater sowohl des Gesetzes als auch der Ausführungsverordnung angesehen werden kann, hatte sich allerdings nicht aus reiner Sympathie und noch viel weniger aus innerer Überzeugung zu derart weiten Zugeständnissen an den neuen Staat hinreißen lassen. Wegweisend war für ihn vielmehr die Überlegung gewesen, das Reich, vor allem aber dessen Streitkräfte, so rasch wie möglich wieder zu alter Größe zurückzuführen. Seinem Freund Oberstleutnant Albrecht von Thaer hatte der Kriegsminister in spe schon im Dezember 1918 offenbart, wonach ihn eigentlich dürstete: „ein freies Deutschland, möglichst wieder in seinen alten Grenzen, mit starker, modernster Armee, mit neuesten Waffen“.38 Diesem Ziel war Reinhardt alles unterzuordnen bereit. Die Frage der staatlichen Verfasstheit des Reiches – Monarchie oder Republik – spielte in seinen Konzeptionen hingegen keine eigentliche Rolle.39 Walther Reinhardt kann damit als der führende Vertreter einer Strömung innerhalb der militärischen Führung angesehen werden, die man passenderweise als Technokraten oder institutionelle Pragmatiker bezeichnen könnte: Offiziere, die tendenziell schon in erst später aktuell werdenden Termini wie „Massenmobilisierung“, „Millionenheer“ oder auch „totaler Krieg“ dachten und die Niederlage von 1918 in erster Linie auf die innere Uneinigkeit, Schwäche und Zerrissenheit von Volk und Regierung zurückführten. Die Lehre, die die Technokraten daraus zu ziehen bereit waren, lautete, vereinfacht gesagt, dass moderne Konflikte nur im engen Zusammenspiel von Front und Heimat gewonnen werden könnten, die bewaffnete Macht sich im Ernstfall also fest auf die Unterstützung der Bevölkerung verlassen können musste. Der SPD, die man in ihren Kreisen für reif hielt, „einen festeren Anschluss an die rechtsstehenden Parteien zu nehmen“,40 fiel in diesen Überlegungen eine politische Schlüsselrolle zu: Sie sollte die Arbeiterschaft hinter dem Staat und damit auch hinter der Armee versammeln.41 Der von Reinhardt und seinen Kollegen propagierte Kurs war allerdings alles andere als unumstritten. Anfeindungen schlugen ihm nicht nur von der linken Seite des politischen Spektrums entgegen, wo man ohnehin argwöhnte, dass die Regierung daran arbeite, eine „Militärmacht gegen die Arbeiterschaft“ aufzustellen,42 sondern auch aus Teilen der militärischen Führung selbst. Vor allem die beiden führenden Offiziere der in der Abwicklung begriffenen OHL, Wilhelm Groener und   37 Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 159f. Teilweise abweichend hierzu: Heinemann (2018): Rechtsgeschichte, S. 56–62. 38 Thaer (1958): Generalstabsdienst, S. 284 (Eintrag vom 19. Dezember 1918). 39 Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 165. 40 Bericht des Hauptmanns Jacobsen, Generalstab des Freiwilligen Landesjägerkorps, März 1919. In: BayHStA-KA, Reichswehr-Gruppenkommando 4, Nr. 495. 41 Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 166–170. 42 So der USPD-Abgeordnete Otto Brass am 27. Februar 1919 vor der Nationalversammlung. In: Verhandlungen 326 (1920), S. 326.

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Hans von Seeckt, opponierten nach Kräften gegen die Pläne Reinhardts, dessen Bereitschaft zum Kompromiss mit dem demokratischen Staat in ihren Augen deutlich zu weit ging. Nirgendwo zeigte sich das deutlicher als bei dem Streit über die Spitzengliederung der neuen Armee. Reinhardt selbst hatte sich schon im Sommer 1919 auf einen eindeutigen Kurs festgelegt. Seiner Meinung nach hatte es sich nach den von 1914 bis 1918 gewonnenen Erfahrungen als notwendig erwiesen, die hergebrachte Trennung zwischen materieller und personeller Kriegsvorbereitung zu überwinden und innerhalb des Reichswehrministeriums, direkt unter dem Ressortinhaber, eine zentrale militärische Behörde zu errichten, deren „Dienstgewalt sich gleichmäßig auf alle Heeresgebiete erstreckt, und die Leitung nicht in Truppenführung, Verwaltung, Personalia, Generalstab zerfällt“.43 Das Amt, dem Reinhardt die Bezeichnung „Chef der Heeresleitung“ zugedacht hätte, wäre damit zu einer Art unmittelbaren Scharnierstelle zwischen dem politisch verantwortlichen Minister auf der einen und der bewaffneten Macht auf der anderen Seite geworden. Seeckt hingegen forcierte eine andere Lösung: Ihm schwebte vor, deutlich unterhalb der Ministerialebene mehrere strikt nach Aufgabengebieten getrennte militärische Dienststellen (Truppenamt, Quartiermeister, Feldzeugmeister, Intendant, Personalamt) zu errichten, die einzig durch ein noch zu gründendes Heeresamt untereinander koordiniert gewesen wären. Zugang zum Ressortchef sollte den Inhabern der jeweiligen Ämter nur dann gewährt werden, wenn der jeweilige Chef des Truppenamtes hierzu seine Zustimmung erteilte. Gemessen an den Reinhardt’schen Konzeptionen liefen die Seeckt’schen Pläne also schon dadurch, dass mit dem Heeresamt eine zusätzliche Instanz zwischen Minister und Armee geschaffen worden wäre, auf eine deutlichere Separierung der militärischen von der zivilen Ebene hinaus. Hinzu kam, dass sich der Modus, mit dem die jeweiligen Spitzenmilitärs hätten berufen werden sollen, sichtlich voneinander unterschied: Während der Chef der Heeresleitung vom Reichspräsidenten auf Vorschlag des Reichswehrministers ernannt werden sollte, sollte das Heeresamt de facto vom jeweiligen Chef des Truppenamtes, dem institutionellen Nachfolger der OHL, geleitet werden. Durchsetzen konnte sich Seeckt mit seinen Vorschlägen indessen nicht. Reinhardts Vertrauensbonus bei Reichswehrminister Noske ließ die Entscheidung zu dessen Gunsten fallen. Offen geblieben war vorläufig allerdings noch die Frage, inwiefern und in welchem Umfang der Chef der Heeresleitung auch mit militärischer Kommandogewalt ausgestattet werden sollte.44 Die damit skizzierten Auseinandersetzungen illustrieren exemplarisch, dass innerhalb der militärischen Führung neben der Reinhardt-Gruppe eine weitere wichtige Strömung existierte, die näherungsweise am besten als Attentisten bezeichnet werden könnte. Die Anhänger dieser Richtung waren zwar durchaus geneigt, die   43 Reinhardt (1932): Wehrkraft, S. 51. 44 Zu den Einzelheiten der Auseinandersetzungen zwischen Groener, Reinhardt und Seeckt vgl. Meier-Welcker (1956): Stellung, bes. S. 148–155; Mulligan (2005): Creation, S. 121–137.  

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Legitimität von Nationalversammlung, Reichsverfassung und Reichsregierung anzuerkennen, ihr eigentliches Hauptinteresse galt jedoch der Geschlossenheit der bewaffneten Macht, von der sie alle äußeren zivilen Einflüsse fernhalten wollte. In der Kompromissbereitschaft der Technokraten witterten sie naheliegenderweise „nur eine Kapitulation vor der sozialistischen Regierung“.45 Wie sehr dieses Denken das Handeln Seeckts bestimmte, zeigte sich schlaglichtartig an dessen Reaktion während einer Begegnung mit Reichswehrminister Noske im Juli 1919, an deren Rand es ebenfalls um das Verhältnis von Politik und Armee ging. Auf Noskes eigentlich spaßhaft gemeinte Frage, ob er richtig verstanden habe, dass Seeckt danach trachte, „die parlamentarische Drecklinie [zu] vermeiden“ und den Reichswehrminister am liebsten zu seinem „parlamentarische[n] Prügelknaben“ degradieren wolle, hatte dieser ohne jede Spur von Ironie mit einem schlichten „Ja“ geantwortet.46 Die Überlegung, inwiefern es opportun sein könne, die Streitkräfte näher an den neuen Staat heranzuführen, beschränkte sich im Übrigen nicht auf die Generalität. Im Offizierskorps eines württembergischen Reichswehr-Artillerie-Regiments diskutierte man im Januar 1920 ganz offen, welche Vorteile der Armee daraus erwachsen könnten, wenn ihre Angehörigen das Wahlrecht besäßen. Tonangebend war unter den Anwesenden die attentistische Richtung, die auf jegliche politische Entfaltung verzichten wollte. Nichtsdestoweniger war in der Aussprache unter anderem das Argument zu hören, dass es „lediglich im eigenen Interesse der Reichswehr selbst [sei], wenn sie sich politisch auf die Seite der Regierung stellt, zu deren Stütze sie ja doch zählt.“ Daneben wurde darauf hingewiesen, dass mit dem Verzicht auf das aktive auch das passive Wahlrecht wegfiele und somit die „Möglichkeit, dass Mitglieder der Reichswehr in der Nationalversammlung – oder im Reichstag – für die Interessen der Reichswehr eintreten können.“47 Militärpolitik folgte innerhalb der militärischen Führung auch in der beginnenden staatlichen Konsolidierungsphase ab Frühjahr 1919 bei weitem keinem einheitlichen Kurs. Ausschlaggebend für die Frage, wie sich das Verhältnis der Armee zum neugegründeten demokratischen Staat künftig gestalten sollte, waren vielmehr divergierende Nützlichkeitserwägungen. Offizieren wie Reinhardt, die glaubten, gerade durch ein Heranrücken an die Republik das Beste für die bewaffnete Macht herausholen zu können, standen Militärs wie Groener oder Seeckt gegenüber, die Konzepte wie die Reinhardts misstrauisch beäugten und die Streitkräfte lieber auf einem gewissen Abstand zum neuen Staatswesen halten wollten. Zahlenmäßig   45 Aufzeichnungen des Majors Joachim von Stülpnagel über eine Diskussion mit dem preußischen Kriegsminister Reinhardt über die Haltung des Offizierskorps zu den Hamburger Punkten, 5. Januar 1919. Zitiert nach: Keller (2014): Reichswehr, S. 171. 46 Böhm (1977): Adjutant, S. 155 (Eintrag vom 15. Oktober 1919). Allgemein zur attentistischen Strömung innerhalb der militärischen Führung vgl. außerdem Keller (2014): Reichswehr, S. 170f. 47 Reichswehr-Artillerie-Regiment 13 an Hauptmann Wegelin, 23. Januar 1920: HStAS M 376, Bü. 7.

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mochten sie innerhalb der militärischen Führung zwar die größere Gruppierung repräsentieren, doch durch ihren besseren Zugang zu den politischen Entscheidungsträgern dominierten einstweilen die Technokraten den militärisch-politischen Kurs der Reichswehr. 3. DER KAPP-LÜTTWITZ-PUTSCH UND DIE GRÜNDUNG DER SEECKT’SCHEN REICHSWEHR Um die Jahreswende 1919/20 schien sich das Verhältnis von Armee und Republik auf einem recht guten Weg zu befinden. Auf der Habenseite waren vor allem eine verhältnismäßig fortschrittliche, wenngleich bislang nur vorläufige ReichswehrGesetzgebung, sowie eine kleine, aber einflussreiche militärische Führungsgruppe zu verzeichnen, die, obschon aus vorwiegend eigennützigen Beweggründen, bestrebt war, die Annäherung an das aus der Revolution hervorgegangene Staatswesen zu suchen und entsprechende institutionelle Vorarbeiten bereits in die Wege geleitete hatte.48 Wie wenig der scheinbaren Idylle zu trauen war, sollte sich indessen schon nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 zeigen. Die Entwicklungen und Ereignisse, die diesem Umsturzversuch vorausgingen, sind in der Literatur zur Genüge geschildert worden,49 so dass es genügen soll, an dieser Stelle gleich zu seiner militärisch-politischen Aufarbeitung überzuwechseln. Denn eine Vorahnung auf das, was die Zeiten, die nun über Republik und Armee hereinbrachen, noch bringen würden, gab bereits die Neubesetzung der Ämter des Reichswehrministers und des Chefs der Heeresleitung. Die Posten waren vakant geworden, nachdem am 22. März zuerst Noske und wenige Tage später auch Reinhardt ihre Demission erklärt hatten.50 Für beide Ämter mussten rasch geeignete Nachfolger gefunden werden. Im Fall des Chefs der Heeresleitung war dies nicht besonders schwer. Mit Hans von Seeckt, der schon kurz nach dem Rücktritt Reinhardts dessen Amtsgeschäfte kommissarisch übernommen und schon davor als einer der einflussreichsten Angehörigen der Reichswehr gegolten hatte, drängte sich die Lösung geradezu auf.51 Deutlich aufwändiger gestaltete sich hingegen die Suche nach einem neuen Reichswehrminister. Mitunter schien der politische Betrieb über dieser Frage sogar im Chaos zu versinken. Besonders eindrücklich zeigte sich dies während des Treffens des Interfraktionellen Ausschusses der Koalition von SPD, DDP und Zentrum vom 23. März, auf der über die Neubildung der Regierung und die Besetzung des Militärressorts diskutiert werden sollte. Letzteres scheiterte allerdings schon daran, dass keiner der Anwesenden bereit war, die Verantwortung für das unpopuläre   48 Vgl. Keller (2014): Reichswehr, S. 218–222. 49 Immer noch zentral: Erger (1967): Kapp-Lüttwitz-Putsch, bes. S. 108–153 u. 228–262. Vgl. außerdem Keller (2014): Reichswehr, S. 222–243. 50 Vgl. Wette (1987): Noske, S. 660–665; Mulligan (2005): Creation, S. 165–168. 51 Vgl. Meier-Welcker (1967): Seeckt, S. 268–281; Keller (2014): Reichswehr, S. 273f.

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Wehrministerium zu übernehmen. Ihren Tiefpunkt erreichten die Auseinandersetzungen schließlich, als der scheidende sozialdemokratische Reichskanzler Gustav Bauer dem DDP-Vorsitzenden Karl Petersen, der kurz zuvor fast alle Kandidatenvorschläge, die von der SPD für andere Kabinettsposten eingebracht worden waren, brüsk zurückgewiesen hatte, nun seinerseits aus kaum verhohlener Rachsucht die Noske-Nachfolge antrug. Das verantwortungsvolle Amt des Reichswehrministers war zum Gegenstand eines Schwarzer-Peter-Spiels verkommen. Bis mit Otto Gessler endlich ein neuer Ressortchef präsentiert werden konnte, dauerte es daher weitere drei Tage.52 Umso leichter fiel es Seeckt, seine eigene Agenda Wirklichkeit werden zu lassen: Die bewaffnete Macht sollte entpolitisiert und von der Einflussnahme ziviler Dienststellen weitgehend abgekoppelt werden.53 Im Mittelpunkt dieser Überlegungen stand die Frage nach der institutionellen Stellung des Chefs der Heeresleitung; jenes Posten also, dessen Inhaber in den Augen Reinhardts vor allem eine Art Scharnier zwischen Reichswehrminister und Armee hatte sein sollen. Seeckts primäres Ziel hingegen war es, den Chef der Heeresleitung faktisch mit eigenständiger Kommandogewalt über die gesamte Armee zu versehen. Letztlich liefen Seeckts Pläne damit auf eine Degradierung des Reichswehrministers zum „Kugelfang“54 des Chefs der Heeresleitung hinaus.55 Begünstigt wurden die von Seeckt mit großer Energie in die Wege geleiteten Umstrukturierungsmaßnahmen durch die Selbstausschaltung von Parlament und Regierung. Militärpolitische Initiativen gingen von beiden Organen nicht mehr aus. Die freiwillige Indolenz des Gesetzgebers wog umso schwerer, als sie in eine für die bewaffnete Macht besonders sensible Phase fiel. Spätestens zum März 1921 musste das Parlament ein Wehrgesetz verabschieden, das an die Stelle der noch immer gültigen provisorischen Regelungen von 1919 treten sollte. Nachdem sich die politischen Entscheidungsträger nicht zu einem eigenständigen Handeln aufraffen konnten, blieb das Heft des Handelns in den Händen der Militärs. Es kann daher kaum verwundern, dass das am 23. März 1921 verabschiedete Wehrgesetz56 vor

  52 Vgl. Tagebuchaufzeichnung des Reichsinnenministers Koch über die Sitzung des Interfraktionellen Ausschusses, 23. März 1920. In: Akten der Reichskanzlei. Kab. Bauer, Nr. 213; Wette (1987): Noske, S. 665–675; Keller (2014): Reichswehr, S. 274f. 53 Bereits am 27. März 1920 hatte Seeckt während einer Offiziersbesprechung im Reichswehrministerium die „Verbannung aller Politik auf eigene Faust aus der Reichswehr, Beschränkung auf die durch die Verfassung der Reichswehr gegebenen Rechte und Pflichten, Zurückhaltung des Einzelnen wie der Truppe, Zurückstellung von Sonderinteressen und Forderungen und vor allem strengste Beobachtung der militärischen Unterordnung“ gefordert: Wehrkreiskommando V an Reichswehr-Brigade 13, 3. April 1920. In: GLAK, 456 F 134/135, Nr. 378 Bl. 69. Vgl. Schmädeke (1966): Kommandogewalt, S. 91–94. 54 Gessler (1958): Reichswehrpolitik, S. 136. 55 Vgl. Schmädeke (1966): Kommandogewalt, S. 94–101. 56 RGBl. (1921), S. 329.  

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allem den Wünschen und Vorstellungen der Attentisten entgegenkam.57 Es blieb Gustav Noske vorbehalten, in seinen posthum erschienen Memoiren hierüber verbittert Bilanz zu ziehen: „General von Seeckt hat sich dauernd als den alleinigen Schöpfer der Reichswehr feiern lassen. Er hat sie nur verdorben.“58 4. FAZIT Der Kaiser ging, die Generäle blieben? So griffig dieses Motto vielleicht auch sein mag, so kurz greift es doch. Faktisch war die bewaffnete Macht alles andere als ein einheitlicher feldgrauer Block, der von der Obersten Heeresleitung nach Belieben ferngesteuert werden konnte. Gerade in der bis etwa Frühjahr 1919 andauernden Frühphase der Revolution musste sie ihren Einfluss auf die Entwicklung der Streitkräfte mit einer Vielzahl anderer, oft autonom agierender militärischer Behörden teilen. Auch die nachfolgende Debatte über die innere Ausgestaltung der Reichswehr verlief über weite Strecken ergebnisoffener, als es in der historischen Rückschau mitunter scheinen mag. Verschiedene Strömungen wetteiferten miteinander um den künftigen militärpolitischen Kurs und die innere Ausgestaltung der neuen Armee. Tonangebend war lange Zeit eine vom preußischen Kriegsminister Walther Reinhardt geführte Gruppe, die sich aus pragmatischen Gründen für eine weitgehende Annäherung der bewaffneten Macht an die Republik einsetzte und bereit war, dem neuen Staat Zugeständnisse zu machen. Dass am Ende nicht sie, sondern die von der OHL protegierten Attentisten um Hans von Seeckt das Rennen machten, war eine Folge des Kapp-Lüttwitz-Putsches, keineswegs aber eine zwangsläufige Konsequenz des „Ebert-Groener-Paktes“. QUELLEN Bayerisches Hauptstaatsarchiv München. Abteilung IV: Kriegsarchiv (BayHStA-KA) Freiwilligenverbände Reichswehr-Brigade 22 Reichswehr-Gruppenkommando 4 Landesarchiv Baden-Württemberg. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) M 1/3: Kriegsministerium: Zentral-Abteilung M 1/4: Kriegsministerium: Abteilung für allgemeine Armee-Angelegenheiten M 376: Reichswehr-Artillerie-Regiment 13 Landesarchiv Baden-Württemberg. Generallandesarchiv Karlsruhe (GLAK) 456 F 134/135: Badische Freiwilligen- und Reichswehrformationen

  57 Vgl. Schmädeke (1966): Kommandogewalt, S. 132–136; Keller (2014): Reichswehr, S. 272– 276. 58 Noske (1947): Erlebtes, S. 178.

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FRAUEN IN DER DEUTSCHEN REVOLUTION VON 1918/19 Ingrid Sharp1 Seit den 1980er Jahren werden verschiedene Aspekte der deutschen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik aus einer frauen- bzw. geschlechtergeschichtlichen Perspektive erforscht.2 Wie jedoch u.a. Kathleen Canning argumentiert, wird die deutsche Revolution von 1918/19 historisch als überwiegend männlich betrachtet.3 Dies bestätigte Benjamin Ziemann 2011 mit seiner Betonung der Revolution als eine rein männliche Angelegenheit: „When the revolution came in 1918, its gender was male“.4 Es spricht vieles für diese Behauptung: die Revolution begann als Matrosenaufstand und wurde von Soldaten weitergetragen; es steht fest, dass die Arbeiter- und Soldatenräte von Männern dominiert waren und dass die von der Geschichte als führende Persönlichkeiten der Revolution überlieferten Figuren überwiegend Männer sind. Auch bietet Ziemann überzeugende Belege für seine Behauptung, dass viele deutsche Bäuerinnen, Lohnarbeiterinnen und Hausfrauen eher an Frieden als an einen revolutionären Aufbruch interessiert waren. Jedoch gibt es in den überlieferten Erinnerungen von einzelnen Frauen aus dieser Zeit durchaus eine andere Perspektive, die eine genauere Betrachtung verdient, nämlich Erinnerungen an eine aktive, sogar begeisterte Partizipation an der Revolution und die geäußerte Hoffnung, dass diese eine neue Zeit der sozialen Gerechtigkeit anbahnen würde. Auf den Argumenten von Kathleen Canning aufbauend wird dieser Beitrag die Revolution aus frauengeschichtlicher Perspektive darstellen. Ich werde Beispiele von Frauen anführen, die nach eigener Aussage eine aktive Rolle in der Revolution spielten. Bekannte Namen wie die Sozialdemokratin Clara Zetkin (1857–1933) und die Vertreterinnen der radikalen Frauenbewegung und Kriegsgegnerinnen Lida Gustava Heymann (1868–1943) und Anita Augspurg (1857–1943); aber auch weniger bekannte Frauen wie die Kieler Sozialdemokratin Gertrud Völcker (geb. Dürbrook, 1896–1979), die Münchner ‚Rebellin‘ Hilde Kramer (1900–1974), die Frankfurter Gewerkschafterin Toni Sender (1888–1964), die Jungsozialistin Emilie   1

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Eine erweiterte Fassung dieses Artikels mit dem Titel: „In diesen Tagen kamen wir nicht von der Straße...“: Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19, von Ingrid Sharp und Matthew Stibbe, erscheint demnächst in Ariadne 73–74: Die weibliche/n Geschichte/n der Weimarer Republik – ein Jubiläumsheft. Siehe z. B. Stibbe (2014): Women’s Mobilisation; Boak (2013): Women in the Weimar Republic. Siehe u.a. Canning (2008): „Sexual Crisis“, S. 169–213. Ziemann (2011): Germany 1914–1918., S. 387.

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Böckle (1901–1971) aus dem Ruhrgebiet, und die späteren Kommunistinnen Martha Globig (1901–1991) und Franziska Rubens (1894–1971) aus Berlin. Ihre Schilderungen der Ereignisse von 1918/19 belegen, dass sie sich durchaus als Akteurinnen bei einer bedeutenden politischen Umwälzung ansahen, die mehr als den Wunsch nach Brot, Frieden und der Rückkehr ihrer Männer – so sehr sie diese wohl auch herbeisehnten – zum Ziel hatte. Anhand dieser Beispiele werden die Möglichkeiten einer weiblichen Beteiligung an der Revolution und an der Gestaltung der deutschen Demokratie 1918/19 erfasst und neue Forschungsperspektiven eröffnet. Revolutionäre Frauen waren allerdings unterschiedlicher Auffassung in grundsätzlichen Fragen wie: welche Form die Gesellschaftsordnung des neuen Deutschlands anzunehmen hätte; die Grenzen der Demokratie; ob und inwieweit die revolutionäre Gewalt zu rechtfertigen sei, und ob und inwieweit Interessen wie Frieden und Klassenkampf vor Fraueninteressen Vorrang hätten. Die revolutionär aktiven Frauen sahen sich als Gestalterinnen sowohl der Revolution als auch der neuen Gesellschaft und auf keinen Fall lediglich als Zuschauerinnen. Genauso wie wir den Ersten Weltkrieg ohne die Kriegserlebnisse und Zeugnisse von Frauen nicht begreifen können, brauchen wir die Erfahrungen von Frauen, um ein volles Bild vom Ausmaß und der Bedeutung der deutschen Revolution von 1918/19 zu rekonstruieren. 1. FORSCHUNGSTAND 2016 identifizierte Volker Stalmann geschlechtergeschichtliche sowie kulturhistorische Herangehensweisen als Forschungslücken in der historischen Aufarbeitung der Novemberrevolution.5 Die Beteiligung der Frauen an der Revolution ist tatsächlich trotz etwa 40 Jahre Frauen- und Geschlechterforschung immer noch ein weitgehend unterbelichteter Aspekt. Erst in den späten 1980er Jahren wurde die Dominanz des männlichen Subjekts in Frage gestellt. Zwischen 1989 und 1994 erschienen drei wichtige frauengeschichtliche Studien von Christiane Sternsdorf-Hauck, Helga Grebing und Anja Weberling, die den ersten Versuch machten, die politische Beteiligung von Frauen an der Revolution zu erörtern.6 2008 gab das 90. Jubiläumsjahr der Revolution Anregung zu erneuter Forschung, und zu mehreren wissenschaftlichen Veranstaltungen und Ausstellungen zu dem Thema.7 2010 sah die Veröffentlichung von drei Sammelbänden, die auch die Frauenperspektive berücksich  5 6 7  

Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19, S. 521–541. Sternsdorf-Hauck (2008): Brotmarken und rote Fahnen; Grebing (1994): Frauen in der deutschen Revolution 1918/19; Weberling (1994): Zwischen Räten und Parteien. Frauenbewegung in Deutschland 1918/19. Wie z. B.: 90 Jahre Räterevolution München. War es nur ein Traum? Ausstellung November 2008 bis Mai 2009, unter https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/ Veranstaltungen/2008/90Jahre_Raeterevolution_08.pdf (Zugriff: 14.5.2018).

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tigten. Kathleen Cannings Beitrag in ‚Die vergessene Revolution‘ (hrsg. von Alexander Gallus) identifizierte das neuerworbene Frauenstimmrecht als wichtigen Raum für die politische Tätigkeit von Frauen.8 Heidi Beutins Aufsatz in dem im gleichen Jahr erschienenen Sammelband ‚Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glücke‘ bot Kurzbiografien von führenden Frauen sowie einen geschichtlichen Exkurs über die Revolution von 1848/9.9 Wie so häufig musste in beiden Bänden neben den vielen Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der Männererfahrungen ein einziger Aufsatz die Frauenerfahrung der Revolution in ihrer ganzen Komplexität schildern.10 Anders der Sammelband von Heidi Beutin u.a. ‚Die Frau greift in die Politik‘, der als Schwerpunkt die schriftstellerische Darstellung von Frauenerfahrungen während der Revolution hatte, jedoch auch Beiträge über politische Frauen wie Zetkin, Sender, Augspurg und Heymann sowie die Rolle von Frauen in der bayerischen Räterepublik versammelte.11 In der DDR widmete sich bereits in den 1970er Jahren Peter Kuhlbrodt in seiner 1981 abgeschlossenen Doktorarbeit der Beteiligung von Frauen an der Revolution. Anhand seiner akribischen Untersuchung kann festgestellt werden, dass Frauen an den verschiedenen Schauplätzen der Revolution durchaus präsent waren.12 Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte auch die DDR-Historikerin Ursula Herrmann einen sehr lesenswerten Aufsatz über sozialdemokratische Aktivistinnen in der Zeit von der ersten internationalen Konferenz sozialistischer Frauen 1907 in Stuttgart bis zur Novemberrevolution 1918, mit Schwerpunkt auf der aktiven Rolle der Frauen in der Antikriegs-Bewegung und den Streiks von 1917/18.13 Problematisch blieb über die Wende im Jahr 1989/90 hinaus die Abgrenzung der Revolutionsforschung von ihrem historischen Kontext, was im 2010 von Klaus Weinhauer u.a. herausgegebenen Sammelband ‚The Revolution in Context‘ adressiert wurde.14 Der herannahende 100. Jahrestag 2018 bringt die Möglichkeit eines historischen Revidierens der Revolutionsforschung mit sich, jedoch erregen dabei Geschlechterperspektiven außer der Einführung des Frauenwahlrechts nach wie vor nur wenig Aufmerksamkeit.15 Auch die potenziell aufschlussreichen internationalen Aspekte der Revolution wurden bisher weitgehend vernachlässigt, wobei ein   8 Canning (2010): Das Geschlecht der Revolution, S. 84–116. 9 Beutin (2010): Novemberrevolution und Frauenbefreiung, S. 119–37. 10 Vgl. Sharp (2014): Geschlechtergeschichte und die Erforschung des Ersten Weltkrieges in Deutschland, S. 49–66. 11 Beutin et al. (Hrsg.) (2010): Die Frau greift in die Politik. 12 Kuhlbrodt (1981): Die proletarische Frauenbewegung in Deutschland; die Teilnahme von politisch motivierten Frauen an der Revolution auch bei Kampf (2016): Frauenpolitik und politisches Handeln. 13 Hermann (1985): Sozialdemokratische Frauen, S. 213–30. 14 Weinhauer / McElligott / Heinsohn (Hrsg.) (2015): Germany, 1916–23. 15 Eine wichtige Ausnahme bildet hier Käppner (2017): 1918 – Aufstand für die Freiheit., S. 357– 377. Allerdings fehlt bei Käppner eine Diskussion der Folgen seiner Forschungsergebnisse für das Geschlecht der Revolution. Für eine Besprechung von Revolution und Wahlrecht siehe auch Rosenbusch (1998): Weg zum Frauenwahlrecht.  

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solcher Vergleich die Möglichkeiten einer politischen Frauenbeteiligung an der Revolution beleuchten kann.16 2. DAS GESCHLECHT DER REVOLUTION Von der Mehrheit der Historiker wird das Geschlecht der Revolution aus mehreren Gründen überwiegend als männlich angesehen: erstens weil die Hauptakteure der Revolution Soldaten und Matrosen waren, zweitens weil die historisch überlieferten Figuren mit wenigen Ausnahmen auch männlich sind – führende Männer in der SPD, USPD, IKD (Internationale Kommunisten Deutschlands) und im Spartakusbund, die auch in den Arbeiter- und Soldatenräten und später in der KPD der Weimarer Zeit wichtige Rollen spielten,17 und drittens, weil auch in den verschiedenen Betriebsräten in den Großstädten Deutschlands nur eine verschwindend kleine Anzahl Arbeiterinnen oder weibliche Angestellten vertreten waren.18 Die Frauen, die uns heute bekannt sind, sind diejenigen, die auch solche öffentliche ‚männlich-kodierte‘ Rollen gespielt haben wie z.B Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Helene Stöcker und Luise Zietz.19 Augenzeuginnenberichte stören dieses Bild und zeigen, dass manche Frauen sich durchaus als aktive Teilnehmerinnen, sogar als treibende Elemente in den revolutionären Vorgängen sahen. Sie betrachteten sich als Gestalterinnen sowohl der Revolution als auch der neuen Gesellschaft und auf keinen Fall lediglich als Zuschauerinnen. Für viele sozialistische oder friedensbewegte Frauen bot die Revolution eine Chance, lang angestrebte politische oder gesellschaftliche Ziele zu realisieren, nicht zuletzt den Traum von Gleichberechtigung und Staatsbürgerschaft durch politische und zivile Rechte, die durch das Frauenstimmrecht symbolisiert waren. Die Frauen, die sich während des Krieges für den Frieden engagiert hatten, begrüßten die Revolution, weil sie das alte, für den Krieg verantwortliche Regime beseitigt hatte und eine neue friedlichere, weil demokratischere Gesellschaftsordnung ermöglichte. Andere Frauen sahen in der Revolution die Gelegenheit, eine ganz neue politische, soziale und moralische Ordnung aufzubauen. In vielen Fällen standen Frauen auch den Versuchen von revolutionären bzw. proletarischen Männern, sie auszublenden oder zu diskriminieren, äußert kritisch gegenüber. Beispiele hier sind die Versuche von Anita Augspurg in München und Toni Sender in Frankfurt, die Beteiligung von Frauen in den Räten zu erhöhen. Für Augspurg waren Frauenräte vonnöten, um Frauen für eine Politik des Friedens zu gewinnen und „um insbesondere auf dem Lande der Propaganda der Reaktion durch   16 Siehe z. B. Stibbe (2017): Women and Socialist Revolution, S. 123–72. 17 Siehe z. B. die Beiträge in: Hoffrogge / LaPorte (Hrsg.) (2017): Weimar Communism as Mass Movement. 18 Grebing (1994): Frauen, S. 11. 19 Siehe z. B. Meiners (2016): Die Stunde der Frauen 1913–1919.  

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Aufklärung und Politisierung der Frauen entgegenzuwirken“.20 Ihr Antrag, Frauenräte zu bilden, wurde nur unter Protest überhaupt angehört und dann abgelehnt. Sender hingegen befürwortete die Beteiligung von Frauen in den existierenden Betriebsräten durch die Einführung von Quoten für Arbeiterinnen nach ihrem Anteil an der jeweiligen Belegschaft und die Bildung von Wahlverbänden für proletarische Hausfrauen.21 Ihre Vorschläge, obwohl niemals durch die Rätebewegung realisiert, wurden Ende 1919 offiziell vom Zentral-Vorstand der USPD bestätigt und fanden auch breite Zustimmung in der KPD-Presse.22 Revolutionäre Frauen waren auch schnell darin, die überholten Einstellungen mancher Genossen anzufechten, wie z. B. die weitverbreitete Ansicht, dass Frauen von Natur aus unpolitisch, unerfahren oder unreif seien, oder dass es ihnen an Entscheidungskraft und Mut fehle. Zum Beispiel gab es eine heftige Kritik der Demobilisierungspraktiken, die Frauen – und insbesondere uneheliche Mütter – stark benachteiligten, indem sie zugunsten der zurückkehrenden Männer entlassen wurden, um häufig ohne Einkommensquellen dazustehen.23 Wie Heymann und Augspurg es in ihren Memoiren kommentierten: es schien wie selbstverständlich, daß man ihnen (den Soldaten, I.S.) nicht zumuten konnte, erwerbslos zu sein, was man hingegen den Frauen anstandslos auferlegte, die während der Kriegsjahre den Gang der Wirtschaft daheim und notabene leider auch den Nachschub von Waffen und Munition aufrechterhalten hatten. Für die fühlte sich niemand verpflichtet! Ist schreiendste Ungerechtigkeit je krasser in Erscheinung getreten?24

Auch bei Sender wurde diese Praxis als „eine ganz unerhörte Härte“ und Folge der fehlenden Mitwirkung von Frauen in den Räten verurteilt: Wie bitter nötig wäre es da gewesen, dass überall Frauen selbst hätten mitwirken und die männlichen Arbeitskollegen in vielen Fällen von der Unbilligkeit ihres Vorgehens hätten überzeugen können.25

3. TYPOLOGIE DER REVOLUTIONÄREN FRAUEN Es liegt auf der Hand, dass es ebenso wenig eine einheitliche Frauenerfahrung der Revolution gibt, wie es ein einheitliches und undifferenziertes ‚männliches‘ Revolutionserlebnis geben könnte. Selbst innerhalb der Gruppe, die ein revolutionäres Erlebnis für sich in Anspruch nahm, gibt es eine Vielzahl von Motivationen, politischen Einstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen, die eine Rolle bei ihrer Reaktion auf die Revolution spielten. Zusammenfassend kann man sagen, dass die revolutionären Frauen hauptsächlich aus folgenden Hintergründen kamen:   20 21 22 23

Heymann / Augspurg (1972): Erlebtes – Erschautes, S. 190. Sender (1920): Die Frauen und das Rätesystem. Vgl. Stibbe (2017): Women and Socialist Revolution, S. 143. Zu den Problemen von Frauen bei der Demobilmachung siehe: Ohne Autor (1920): Uneheliche Mütter. 24 Heymann / Augspurg (1972): Erlebtes – Erschautes, S. 188. 25 Sender (1981): Autobiographie einer deutschen Rebellin, S. 289.

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(1) Mitglieder der verschiedenen sozialistischen Parteien (MSPD, USPD, IKD, Spartakusbund und KPD), mit entsprechend verschiedenen Einstellungen zum Verlauf der Revolution und zur angestrebten Staatsform (besonders in der Frage Parlamentarismus oder Räterepublik). Die bekanntesten Frauen, die herausragende Theoretikerin Rosa Luxemburg (1871–1919) und die Anführerin der sozialistischen Frauenbewegung und Redakteurin der Zeitschrift Gleichheit, Clara Zetkin, gehörten nach 1919 linksstehenden Gruppierungen und Parteien wie Spartakus und der KPD an, während die Gewerkschafterin Toni Sender, die eine führende Rolle in der Revolution in Frankfurt spielte, bis 1922 Mitglied der USPD war und sich nach der neuerlichen Spaltung der KPD wieder der SPD anschloss. Viele dieser Frauen lehnten eine ausdrückliche Geschlechterperspektive ab und die meisten hielten ideologischen Abstand zu den Frauen des linken Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung. Dieser ideologisch-motivierte Abstand konnte nur kurz und vorübergehend durch Krieg und Revolution überwunden werden. (2) Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Revolution brachte Demokratie und das Frauenstimmrecht, seit Ende des 19. Jahrhunderts entscheidende Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung. Obgleich der Bund Deutscher Frauenvereine die Kriegsziele des Kaiserreiches im Nationalen Frauendienst unterstützt hatte, und obwohl dessen Anführerinnen Gertrud Bäumer (1873–1954) und Helene Lange (1848–1930) viele Aspekte der Revolution ablehnten, nahmen beide Frauen enthusiastisch an den Vorbereitungen für die Wahlen zur Nationalversammlung teil, die am 19. Januar 1919, knapp zwei Monate nach Gewährung des Frauenstimmrechts, stattfanden. Beide kandidierten erfolgreich für die neugegründete Deutsche Demokratische Partei. Bäumer wurde sogar stellvertretende Vorsitzende dieser Partei. Bäumer hielt in ihrer Heimatchronik, die von 1914 bis Juni 1919 erschien, die Herausforderungen und Aufregung der Zeit der Revolution und die Gründung der Republik fest. National gesinnt und gar nicht revolutionär, nahm Bäumer jedoch die durch die Revolution und das Frauenstimmrecht angebotenen Möglichkeiten wahr, um an dem demokratischen Prozess teilzunehmen und in die Politik einzutreten. Wie sie in ihren Memoiren klarstellte, sah sie weder die Möglichkeit, noch eine Notwendigkeit, eine einheitliche Frauenpartei bzw. ‚Frauenfront‘ zustande zu bringen: Im Wahlkampf für die Nationalversammlung ging es um Gegensätze, die unter sich zu überwinden auch für die Frauen nicht möglich war: die Verteidigung des alten Deutschland, die Verteidigung der Revolution... Jetzt standen auch die Frauen, mindestens alle, von denen in irgendeinem Sinne Führung und Maßgeblichkeit ausging, mit ganzer Seele in den Fronten, zwischen denen um die deutsche Zukunft gerungen wurde.26

(3) Die dritte Gruppe waren die pazifistischen Feministinnen, am Bekanntesten die Juristin Dr. Anita Augspurg und ihre Lebensgefährtin Lida Gustava Heymann, in Hamburg und München aktiv während des Kriegs und der Revolution, deren Erlebnisse in dem 1941 im schweizerischen Exil geschriebenen Memoiren „Erlebtes – Erschautes“ geschildert werden. Vor dem Krieg hatten sich diese Frauen stark für   26 Bäumer (1933): Lebensweg durch eine Zeitenwende, S. 352–353.

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das Frauenstimmrecht eingesetzt und bekämpften den Krieg aus einer Geschlechterperspektive als das Ergebnis männlicher Politik: „Der Weltkrieg hat bewiesen, dass der durch Gewalt aufgebaute und beherrschte Männerstaat auf der ganzen Linie versagt hat. ... Das männliche Prinzip ist zersetzend und wird, wenn fortgeführt, die völlige Vernichtung der Menschheit herbeiführen“. Nach dem Krieg waren sie Anhängerinnen des neuen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, ohne der USPD oder irgendeiner anderen sozialistischen Partei beizutreten.27 4. PAZIFISMUS, SOZIALISMUS UND ANTIKRIEGS-BEWEGUNG Während des Krieges selbst gab es zwei Hauptrichtungen unter den sozialistischen Aktivistinnen gegen Militarismus und Krieg. Pazifistinnen wie Augspurg und Heymann – die 1915 den Internationalen Frauenkongress im Haag mitorganisiert hatten – standen dem Männerstaat höchst kritisch gegenüber, erkannten sofort männliche Strategien, Frauen auszuschließen oder zu marginalisieren und sie weigerten sich, den männerdominierten Parteien beizutreten.28 Hingegen waren diejenigen sozialdemokratischen Frauen, die gegen den Krieg und die Bewilligung der Kriegskredite durch die MSPD-Abgeordneten im Reichstag kämpften, nicht bereit, sich getrennt von ihren männlichen Kollegen zu organisieren.29 Stattdessen fanden sie den Weg in die USP(D), die im April 1917 neu gegründete, von Männern geleitete Antikriegs-Partei. Besonders für Männer und Frauen aus dem linken Flügel der USPD und im Spartakusbund war Antimilitarismus und Revolution gleichbedeutend mit der Diktatur der Arbeiterklasse; jegliche Zusammenarbeit mit ‚bürgerlichen‘ Feministinnen galt als unverträglich mit der Parteidisziplin (sowie mit den Lehren von Clara Zetkin, seit 1889 die Haupttheoretikerin der deutschen und internationalen proletarischen Frauenbewegung).30 Mitte Dezember 1918 wurde dennoch in München der heute wenig bekannte Bund Sozialistischer Frauen (BSF) gegründet, der Frauen aus linksbürgerlichen Kreisen mit sozialistischen Frauen aus MSPD und USPD zusammenbrachte, damit sie gemeinsam und ohne Parteizwang für die soziale Erneuerung und für die Realisierung der Gleichberechtigung von Mann und Frau arbeiten konnten. Wie es im ersten Heft der von Heymann und Augspurg herausgegebenen Zeitschrift ‚Die Frau im Staat‘ hieß: Es ist die erste sozialistische Frauenorganisation, die selbständig, unabhängig von den sozialistischen Männerparteien und Fraktionen ist. Der Bund hat keine Satzungen, kein Programm.

  27 Sternsdorf-Hauck (2008): Brotmarken, S. 20. 28 Zum Haager Frauenkongress siehe u.a. Wilmers (2008): Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung (1914–1920); Rupp (1997): Worlds of Women. 29 Gemäß sozialistischer Theorie sind Geschlechterdifferenzen ein Nebenwiderspruch, der per se irrelevant ist und zusammen mit dem Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft gelöst werden wird. Viele Frauen standen dieser Auffassung auch 1918 kritisch gegenüber. 30 Vgl. Thönnessen (1969): Frauenemanzipation.  

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Ingrid Sharp Wer auf sozialistischem Boden steht ... und mitarbeiten will, kann die Mitgliedschaft erwerben.31

Die Wahlen für die Nationalversammlung sahen der BSF sowie die USPD als verfrüht und deren Ergebnisse als enttäuschend an. Heymann, die als parteilose Antikriegs-Aktivistin erfolglos auf Platz 2 der von Eisner zusammengestellten Wahlliste der USPD in Südbayern für die Nationalversammlung kandidierte,32 schrieb später in „Die Frau im Staat“: Der alte Reichstag und die neue Nationalversammlung haben ein verflucht ähnliches Aussehen … dieselben altersschwachen Greise, dieselben Parteigötzen, die seit Jahrzehnten an jedem Kuhhandel beteiligt, zu jeder Konzession bereit waren, die sich von der preußisch-monarchistischen militärischen Regierung so schmachvoll hatten betrügen lassen, die deren verbrecherische Kriegspolitik mitgemacht haben und dadurch eine nie wieder gutzumachende Schuld auf sich luden, diese Männer ziehen wieder in die Nationalversammlung ein.33

Als Gründungsmitglieder der während des Krieges illegalen internationalen pazifistischen Organisation Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) war ihr höchstes Anliegen, Gewalt zu vermeiden. Anders als manche ihrer sozialistischen Schwestern, lehnten sie jegliche revolutionäre oder Kriegsgewalt ab und hielten Vernunft für viel wirksamer als ‚die Faust‘. Diese Gewaltlosigkeit zeigte sich z.B in dem von Frauen und Männern besetzten Revolutionstribunal in München, das beschloss, keine Todesstrafen zu verhängen, eine positive Leistung, die nach Heymann und Augspurg ‚ausschließlich auf Frauen zurückzuführen‘ gewesen sei.34 Der BSF war auch vom pazifistischen Geist erfüllt, was eines der überlieferten Plakate aus dem April 1919 belegt – es ruft zu Gewaltlosigkeit und gegen Blutvergießen und Bruderkrieg auf: Frauen u. Mütter! Wir hassen den Krieg, mehr noch den Bruderkrieg! Wir dulden nicht, dass Proletarier auf Proletarier schiessen. Wir wollen, dass das Neue sich ohne Blutvergiessen verwirklicht. […] Wir wollen jede für sich und alle zusammen diesem Morden ein Ende machen. Proletarierbrüder! Hört uns! Handelt als Menschen einer neuen Gesellschaft!35

5. FRAUEN IN DEN SOZIALISTISCHEN PARTEIEN NACH 1918 Viele der oben erwähnten sozialistischen Frauen sind historisch sichtbar, weil sie bislang männliche Rollen übernommen haben, als Anführerinnen politischer Faktionen, Rätemitglieder, Zeitungsredakteurinnen oder Abgeordnete auf nationaler oder regionaler Ebene. Zetkin und Luxemburg waren seit Jahrzehnten politisch aktiv,   31 Zit. nach Sternsdorf-Hauck (2008): Brotmarken, S. 20. Zum BSF siehe auch Käppner (2017): 1918, S. 368f. 32 Sternsdorf-Hauck (2008): Brotmarken, S. 40. 33 Heymann / Augspurg (1972): Erlebtes – Erschautes, S. 182. 34 Ebd., S. 189; Käppner (2017): 1918, S. 369. 35 Sternsdorf-Hauck (2008): Brotmarken. S. 23

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auf theoretischem Gebiet sehr belesen und ihre Wichtigkeit und ihr Bekanntheitsgrad zeigen sich auch dadurch, dass sie wegen ihrer Agitation längere Gefängnisstrafen vor und während des Krieges erhielten. Interessent wäre eine Untersuchung der Erfahrungen von weniger herausragenden Persönlichkeiten, die eher den typischen Erlebnissen und Einstellungen von revolutionären Frauen entsprächen. Bislang sind aber nur wenige einschlägige autobiografische Zeugnisse vorhanden. In der Lebensgeschichte der Kieler Sozialdemokratin Gertrud Völcker sind die Spuren eines revolutionären Engagements klar erkennbar. 1915 bis 1918 war Völcker im Kieler Gewerkschaftshaus tätig, ein wichtiger Ort für den Verlauf der Revolution und 1918 trat sie aus Überzeugung der MSPD bei. Durch das 2007 herausgegebene Frauenporträt von Nicole Schultheiß sowie ihre erst 1958 aufgeschriebenen Lebenserinnerungen gewinnen wir das Bild einer politisch stark engagierten Frau, die sich als ausgebildete Sozialfürsorgerin und SPD-Stadtratsabgeordnete ihr ganzes Leben lang für soziale Gerechtigkeit einsetzte.36 Allerdings wurden in Völckers Fall geschlechtsspezifische Grenzen gesetzt, die eine volle Anerkennung ihres revolutionären Einsatzes in den Jahren 1918/19 verhinderte. 1975 wurde sie im Rahmen einer Fernsehsendung „War Opa ein Revolutionär?“ interviewt, was schon vom Titel her von vornherein die Möglichkeit einer Behauptung ihrerseits, selber Revolutionärin gewesen zu sein, ausschloss. In der Sendung wurde die Berufspolitikerin lediglich als eine „historisch sehr interessierte“ Frau vorgestellt. Wir erfahren nichts von ihrer Mitgliedschaft in einer radikalen Jugendgruppe, die sie in ihren Erinnerungen als „selbstbewusst und revolutionär“ beschreibt.37 Obwohl sie sich ganz und gar für sozialistische Ziele einsetzte, wurde sie nur gefragt, was sie gesehen, was sie beobachtet hat und gar nicht, was sie selber zu den revolutionären Ereignissen in Kiel beigetragen hätte. Ihr lebenslanges Engagement für soziale Gerechtigkeit und gegen Krieg und Militarismus wird mit der Bemerkung „in ihrem Leben hat sie sehr viel für ihre Mitmenschen getan“ trivialisiert.38 Ein weiteres Beispiel der Banalisierung der weiblichen Beteiligung an der Revolution ist die Abneigung, Frauen als mögliche Teilnehmer an der Anzettelung bzw. Ausübung von Gewalt gegen ‚konterrevolutionäre‘ Kräfte zu erörtern. Für Aktivistinnen in der BSF und IFFF war es unbezweifelbar, dass sich die Gewalt niemals rechtfertigen lasse, auch nicht im Dienste der sozialen Gerechtigkeit – ein Standpunkt, die beim dritten internationalen Kongress der IFFF 1921 in Wien nochmals bestätigt wurde.39 Die mörderischen Aktivitäten der radikalen Revolutionsgegner in der ersten Hälfte des Jahres 1919 in Berlin, München und anderswo hatten jedoch einige sozialistische Aktivistinnen davon überzeugt, dass Gewalt nur mit   36 Schultheiß (2007): „Geht nicht gibt’s nicht ...“. 37 Völcker (1978): Lebenserinnerungen, S. 21. 38 Gertrud Völcker im Gespräch mit Karl-Reinhard Titzek und Tilmann Weiherich, 19.3.1975, Aufruf am 14.1.2018 unter http://www.kurkuhl.de/docs/interview_voelcker.pdf. 39 Stibbe 2017): Women and Socialist Revolution, S. 151.

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Gewalt zu überwinden sei. Beispielsweise sah die 19-jährige Münchner Kommunistin Hilde Kramer die Gewalt, wie sie in ihrem oben erwähnten Brief an ihre ehemalige Lehrerin im Juli 1919 schrieb, als ein Mittel, das „sich eben nicht umgehen lässt“, angesichts der Gewaltexzesse der Konterrevolution durch Regierungstruppen und Freikorpssoldaten: Denn eine herrschende Klasse läßt sich nicht ohne weiteres ihre Herrschaft nehmen, und wenn man uns mit Maschinengewehren angreift, so müssen wir mit Maschinengewehren antworten. Das erscheint uns heilig und hoffnungsvoll. Ihnen erschien der Weltkrieg als heiliges, unabwendbares Mittel zur Wahrung der heiligsten Güter, uns ist es der Bürgerkrieg.40

Die Geschichtsschreibung zur deutschen Revolution 1918/19 hat sich oft mit der Frage der (männlichen) Gewalt (nicht zuletzt gegen Frauen) in der unmittelbaren Nachkriegszeit befasst, aber sehr selten mit der politisch motivierten Gewalt seitens revolutionärer Frauen.41 Wenn Frauen als Täterinnen oder Helfershelferinnen bei gewalttätigen Akten überhaupt erwähnt werden, dann handelt es sich fast ausschließlich um Frauen aus rechtsnationalistischen Kreisen.42 Die Einstellung linker bzw. sozialistischer Frauen zur Gewalt bleibt größtenteils unerforscht. 6. FAZIT Das historische Interesse an der Revolution beschränkte sich bis vor kurzem vor allem auf ihre Interpretation hinsichtlich ihrer Bedeutung für die deutsche Geschichte – Fragen, inwiefern die deutsche Revolution als Revolution zu verstehen sei und in welchem Maß ihr ‚Versagen‘ oder ihr ‚Verrat‘ den Weg für den Nationalsozialismus freilegte.43 Viel weniger Interesse gilt den kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten der Revolution, wo weibliche Akteure am ehesten zu finden wären. Der Zeitraum der Revolution wird häufig auf die Geschehnisse ab Oktober 1918 eingeengt und der breitere Kontext der Antikriegs-Bewegung seit 1914/15 wird oft außer Acht gelassen. Auch werden Einsichten in das subjektive Erlebnis der Geschehnisse fast ausschließlich durch männliche Augenzeugenberichte gewonnen, wie z. B. das kürzlich veröffentlichte Revolutions-Tagebuch des berühmten deutschen Romanisten Victor Klemperer, während das Zeugnis von Frauen meistens übersehen wird.44 Es ist einfach, die Revolution als rein männlich zu betrachten, wenn wir sie in diesem engen Sinne verstehen: Frauen waren nicht im Heer vertreten und – erst   40 Hilde Kramer an Frl. Fischer und Frl. Koch, 16.7.1919, in: Meiners (2016): Die Stunde der Frauen, S. 133. 41 Siehe z. B. Theweleit (1977/1978): Männerphantasien; auch das neue Buch von Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. 42 Vgl. Bloxham / Gerwarth (Hrsg.) (2011): Political Violence in Twentieth-Century Europe, S. 35. 43 Zur Historiographie der Revolution siehe u.a Niess (2013): Revolution von 1918/19; Latzel (2016): Geschichten der Novemberrevolution. 44 Klemperer (2015): Revolutionstagebuch.

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1908 überhaupt zur Politik zugelassen – hatten nur sehr wenige führende Rollen in den sozialistischen Parteien, beides entscheidende Elemente in der Auslösung der Revolution. Frauen spielten untergeordnete bzw. gar keine Rollen in den Räten und Entscheidungsgremien der Revolution und blieben den bewaffneten Zusammenstößen der Gegenrevolution meistens fern. Jedoch gibt es selbst hier eine Frauenbeteiligung, die weitgehend ignoriert wird. Zeitgenössische Bilder zeigen, dass Frauen sowie Männer auf die Straßen gingen, um die Revolution zu unterstützen, und persönliche Zeugnisse belegen, dass viele dieser Frauen politisch motiviert waren und sich den Zielen der Revolution verpflichtet fühlten. Oft befanden sich diese revolutionären Ziele in Übereinstimmung mit ihrem Kampf um soziale und Geschlechtergerechtigkeit und gegen Krieg und Militarismus. Die Behauptung ginge zu weit, dass es eine spezifisch weibliche Variante der Partizipation an der Revolution gab, jedoch ist es klar, dass die Geschichte der Revolution unvollständig bleibt, wenn das Dabeisein von politisch motivierten Frauen weggelassen wird. Die Frauenbeteiligung an der Revolution ist konsequent entpolitisiert, übersehen und heruntergespielt worden und Frauen wurden erstens durcheine Betonung und eine Aufwertung von Orten und Zeiträume der Revolution, in denen Frauen weniger vertreten sind; zweitens durch die anhaltende Tendenz, Frauen zu entpolitisieren und drittens durch Fragestellungen, die eine Frauenbeteiligung von vornherein ausschließen, aus der Geschichte der Revolution ausgeschlossen. Die Jahrhundertfeier sollten wir als Anlass nehmen, dieser Tendenz durch neue Forschungsperspektiven und neue Fragestellungen entgegenzuwirken. Nur wenn wir unseren Revolutionsbegriff erweitern, um den ‚revolutionären Kontext‘ der Streiks, der Antikriegsagitation und der Forderung nach dem Frauenstimmrecht einzuschließen, wird die Beteiligung von Frauen an der Revolution richtig sichtbar. LITERATUR Bäumer, Gertrud: Lebensweg durch eine Zeitenwende, Tübingen 1933. Beutin, Heidi u.a. (Hrsg.): Die Frau greift in die Politik. Schriftstellerinnen in Opposition, Revolution und Widerstand, Frankfurt a.M. 2010. Dies.: Novemberrevolution und Frauenbefreiung – Frauen und die Novemberrevolution. In: Beutin, Heidi / Beutin, Wolfgang / Müller-Beck, Ralph (Hrsg.): Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glück… Die Novemberrevolution 1918 in Grundzügen, Frankfurt a.M. 2010, S. 119–137. Bloxham, Donald / Gerwarth, Robert (Hrsg.): Political Violence in Twentieth-Century Europe, Cambridge 2011. Boak, Helen: Women in the Weimar Republic, Manchester 2013. Canning. Kathleen: „Sexual Crisis“, the Writing of Citizenship, and the States of Exception in Germany, 1917–1920. In: Lüdtke, Alf / Wildt, Michael (Hrsg.): Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 169–213. Dies.: Das Geschlecht der Revolution – Stimmrecht und Staatsbürgertum 1918/19. In: Gallus, Alexander (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 84–116. Grebing, Helga: Frauen in der deutschen Revolution 1918/19, Heidelberg 1994.

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KULTURELLE DEUTUNGEN UND DER ALLTAG DER REVOLUTION

REVOLUTION ALS ÄSTHETISCHE MOBILISIERUNG Kulturhistorische Betrachtungen zur Novemberrevolution Wolfram Pyta 1. DIE NOVEMBERREVOLUTION ALS KULTURHISTORISCHES EXPERIMENTIERFELD Eine politikgeschichtlich akzentuierte Beurteilung der Novemberrevolution changiert zwischen zwei entgegengesetzten Einschätzungen: Während die eine Seite die Revolution zum demokratischen Urknall aufwertet, erscheint sie der anderen Seite als eine gefährliche Eigendynamiken freisetzende und im Sinne eines parlamentarischen Demokratieverständnisses überflüssige Erscheinung.1 Solche nicht selten normativ aufgeladenen Zugänge zur Novemberrevolution schöpfen das Erkenntnispotential dieses Großereignisses vor allem in kulturhistorischer Hinsicht bei weitem nicht aus. Die folgenden Ausführungen verstehen sich daher als ein Plädoyer für eine kulturgeschichtliche Sicht auf die Novemberrevolution und deren unmittelbare Folgen, welche die zwischen November 1918 und Sommer 1919 stattgefundenen Formveränderungen des Politischen ins Zentrum rückt. Wenn sie fragmentarischen Charakter besitzen, ist dies nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass es bis heute keine umfassende Kulturgeschichte dieser Übergangszeit gibt.2 Die Leitfrage der folgenden Überlegungen lautet: Fiel der Beginn der Republik zusammen mit einer aufregenden Experimentierphase, in der neue Formen der Repräsentation des Volkswillens erprobt wurden, die auch unter demokratietheoretischen Aspekten systematische Aufmerksamkeit verdienen? Es geht mithin wie bei jedem kulturhistorischen Zugriff weniger um die politischen Inhalte, sondern vielmehr um Formen und Praxen, mit denen politische Akteure auftraten. Dabei soll der ästhetischen Expression von Politik besonderes Gewicht eingeräumt werden. Dies geschieht nicht allein deswegen, weil sowohl bei der Vermittlung von Politik   1 2

 

Vgl. als Überblick über die historiographischen Deutungskämpfe Niess (2013): Revolution. Vgl. aber die im Einzelnen durchaus anregenden Beiträge von Gallus (Hrsg.) (2010): Die vergessene Revolution; Weinhauer et. al. (Hrsg.) (2015): Germany; Aulke (2015): Räume; Aktueller Forschungsüberblick bei Stalmann (2016): Wiederentdeckung. An primär politik- u. sozialhistorisch orientierten Synthesen, in der Regel für ein breiteres Publikum, herrscht dagegen kein Mangel vgl. z. B. Kluge (1985): Revolution; Ullrich (2009): Revolution; Niess (2017): Revolution; Käppner (2017): 1918.

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als auch hinsichtlich der Legitimation politischen Handelns die adäquate ästhetische Formung eine immer stärkere Bedeutung gewann.3 Zudem deutet das historisch einmalige Engagement von Künstlern in der ersten Reihe der Politik – speziell in der „Künstlermetropole“4 München – darauf hin, dass die Differenz zwischen Kunst und Politik von dieser Seite aus eingeebnet wurde und neuartige Ausdrucksformen Ästhetik und Politik zu vermählen trachteten. Die wirkmächtigsten Praktiken ästhetischer Mobilisierung lassen sich in der Redekultur dieser Umbruchzeit finden, weil die politische Rede die machtvollste Form revolutionär artikulierter politischer Willensbildung darstellte. Verabschiedet man sich von einer Geschichte der Rhetorik als Theorie der Redekunst und nimmt stattdessen die rednerische Praxis in den Blick, vermeidet man eindimensionale Verfallsgeschichten und öffnet den Blick auf eine vielseitige Praxis permanenter Adaption rhetorischer Strategien.5 In diesem Sinne lässt sich auch die Revolution 1918/19 als eine (Neu-) Erfindung der Rhetorik verstehen. Diese Zeitspanne bot neuen politischen Stilmitteln einzigartige Entfaltungsmöglichkeiten, weil die politische Kultur der ersten Nachkriegsmonate keine ästhetischen Anleihen beim Militärischen tätigte. So konnten sich politische Aufführungsformen entfalten, die ihre Wurzeln nicht in militärischen Kommunikationspraxen besaßen. Dies lag vor allem daran, dass die Frontsoldaten erst im Dezember 1918 in die Heimat zurückkehrten und damit die revolutionäre Übergangsphase nicht aktiv mitgestalten konnten.6 Zudem kehrten sie nicht im Triumph zurück, sondern nahmen trotz oder gerade wegen öffentlicher Heimkehrfeiern vorerst still ihre alten Plätze im Zivilleben wieder ein.7 In den sechs Nachkriegsmonaten, in denen sich der militärfromme Obrigkeitsstaat aufgelöst zu haben schien, bestand daher eine einzigartige Möglichkeit zu ernsthaften Versuchen, den demokratischen Neubeginn mit passenden ästhetischen Ausdrucksformen genuin zivil und partizipativ zu gestalten. 2. KÜNSTLER-POLITIKER ALS VORKÄMPFER VERINNERLICHTER DEMOKRATIE Dabei verdienen diejenigen Begebenheiten besondere systematische Aufmerksamkeit, die sich in München in den Wochen seit dem 7. November 1918 abspielten. In der bayerischen Hauptstadt hatte die Revolution bereits in der Nacht vom 7. auf den   3 4 5 6 7  

Ausführlich zur methodischen Grundlegung einer solchen Ästhetisierung des Politischen vgl. Pyta (2015): Hitler, vor allem S. 7–18. Vgl. für eine Historisierung des im 19. Jahrhundert entstandenen Images Münchens als Kunststadt und den sich darum drehenden Debatten Nerdinger (1979): „Kunststadt“; Herrmann (2003): Mythos; Schrick (1994): Kunststadt-Diskussion. Vgl. Göttert (2015): Mythos Redemacht. Vgl. einen impliziten Hinweis bei Max Weber : Ders. (1918): Parlament, hier S. 552. Vgl. Bessel (1993): Heimkehr.

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8. November 1918 gesiegt. Ausgerechnet die Wittelsbacher waren die erste deutsche Dynastie, die überhastet und in wilder Flucht ihre Sache verloren gab und den Revolutionären das Feld überließ.8 München interessiert aber vor allem deswegen, weil hier ein Künstler-Politiker am Werke war, der innovative Wege bei der partizipatorischen Aufladung des demokratischen Neuanfangs beschritt und dabei dezidiert auf eine reiche ästhetische Formensprache zurückgriff: Kurt Eisner. Eisner war dafür prädestiniert, weil ihn sein Weg in die Politik über eine intellektuelle und ästhetische Aneignung von Bildungswissen führte, das nicht Exklusivbesitz politischer Parteiungen war. Es war Immanuel Kant mit seiner Idee des Weltfriedens und seiner Vorstellung von der Ermunterung des vernunftbegabten Menschengeschlechts zu politischer Mündigkeit, die Eisner in die Politik brachte, wo er innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung, in der sich immer mehr ein dogmatischer Marxismus einnistete, ein Paradiesvogel blieb.9 Sein marxistischer Gegenspieler Karl Kautsky sah in Eisner einen Exponenten eines „ethisch-ästhetischen“10 Sozialismus. Dieses Wort, das als Diskreditierung Eisners gedacht war, kam einem ästhetischen Ritterschlag für Eisner gleich, für den Kunst und Politik immer eine Einheit bildeten und der einen großen Teil seiner journalistischen Tätigkeit im Ersten Weltkrieg damit verbrachte, Theaterkritiken zu schreiben.11 Dieser Außenseiter wurde durch besondere Umstände an die Spitze der bayerischen Regierung gespült: Er ergriff am 7. November 1918 die Gunst der Stunde und zündete den revolutionären Funken, der die Monarchie in Bayern binnen weniger Stunden zum Einsturz brachte. Die Revolution beförderte einen Mann an die Spitze der Regierung, der vom Habitus wie von seinem politischen Stil wie ein Gegentyp dessen wirkte, was das bisherige politische Personal wie auch manche revolutionär gezeugte Führungsfigur repräsentierte. Eisner bekannte sich dazu, als „Schwärmer und Dichter“12 die Politik in Gestalt eines demokratischen Großversuchs beleben zu wollen. Dazu wollte er die Arkanbereiche des Politischen öffnen, größtmögliche Transparenz herstellen und die politische Kommunikation mit dem Volk auf Basis von Wahrhaftigkeit und Lauterkeit ausrichten; Taktieren und Finassieren sollte verpönt sein. Vorher und nachher wäre eine solch reine Seele, die Wort   8

Vgl. Machtan (2016): Abdankung, S. 239–263; März (2013): Haus Wittelsbach, vor allem S. 486–510. Vgl. zu den ästhetisch-politischen Aufbrüchen und Veränderungen politischer Formen in der Münchener Räterepublik Kreiler (1978): Schriftstellerrepublik; Geyer (1998): Verkehrte Welt, vor allem S. 50–129; als anregender Großessay Weidermann (2017): Träumer. 9 Vgl. Grau (2001): Eisner, vor allem S. 197–201, S. 244f., S. 259. 10 So die Darstellung der Position Kautskys gemäß Grau (2001): Eisner, S. 201. 11 Vgl. dazu die glänzende Skizze von Fischart (1919): System, S. 359–368, vor allem S. 364. 12 Victor Klemperer hat in nachträglichen Reflexionen wie zeitgenössischen Beiträgen Kurt Eisners Auftritte mit dem analytischen Instrumentarium eines aufgeklärten Intellektuellen unter die Lupe genommen: Klemperer (2015): Revolutionstagebuch, vor allem S. 49–93; das Zitat gemäß Klemperers nachträglicher Wiedergabe einer Rede Eisners auf einer Wahlversammlung der USPD im Dezember 1918, auf der sich Eisner explizit zu seinem Künstlertum bekannte, ebd., S. 52.  

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und Tat in Übereinstimmung zu bringen suchte, niemals an die Spitze einer Regierung gelangt. Doch die revolutionäre Ausnahmesituation kreierte einen Bedarf nach einem neuartigen Politikertypus, dem man die Lauterkeit seiner Gesinnung als Positivum anrechnete, weil sie auf die Authentizität seiner Persönlichkeit verwies. Eisners Demokratieverständnis war von einem Urvertrauen in die aufklärerische Macht der Selbstermächtigung durch Verstandestätigkeit bestimmt. Damit passte er nicht zu einem autoritären Gesellschaftsmodell, das politische Mitbestimmung reservierte für die erlauchten Abkömmlinge von Besitz und Bildung. Aber auch mit dem Modell sozialistischer Funktionärsherrschaft, bei dem erfahrene Berufspolitiker Kontrolle über Verfahrenswege in Parteigremien ausübten und auf diese Weise die Kommunikation in ihrem Sinne steuerten, stand Eisner auf Kriegsfuß. Eisner hegte die feste Zuversicht, dass bislang politikferne Schichten den demokratischen Diskurs durch aktive Betätigung beleben würden. Er wollte – wie er vor den bayerischen Soldatenräten am 30. November 1918 ausführte –, dass „die Massen selbst unmittelbar mitarbeiten an den Angelegenheiten der Gesamtheit“.13 Eisner vertrat mithin die Vorstellung einer partizipationshungrigen Bevölkerung, die sich aktiv in die politische Willensbildung einbringen würde, wenn die Eintrittsschwelle so gesenkt wurde, dass bislang abseits Stehende und durch niedrigen Bildungsgrad Abgehaltene zum Mitmachen ermutigt würden. Wie aber sollte dies geschehen, zumal die politische Kultur des Deutschen Kaiserreichs sich bereits durch eine starke Politisierung auszeichnete und die überaus hohe Wahlbeteiligung bei Reichstagswahlen ein unzweideutiges Indiz war, dass auch bildungsferne Schichten den Gang zur Wahlurne antraten? Wahlen fungierten im Kaiserreich als Motoren der Politisierung, die immer mehr Menschen in den politischen Kommunikationsraum einbezogen. Auch Parteien, die sich eigentlich gegen eine Ausweitung der Partizipation stellten, trugen ihren Teil dazu bei, eine egalisierende Demokratisierung voranzutreiben.14 Bei den Reichstagswahlen der Jahre 1907 und 1912 erreichte die Wahlbeteiligung Spitzenwerte: 84,7 % bzw. 84,9 % der Wahlberechtigten.15 Eisner begnügte sich nicht mit solchen blendenden Zahlen. Die Quantität der an der Wahlbeteiligung ablesbaren Partizipation war für ihn nur ein Faktor; viel stärker fiel deren Qualität ins Gewicht. Eine solche Qualitätssteigerung wollte Eisner dadurch erreichen, dass er neuartige Partizipationsformen einführte, die den politischen Stil beleben und auf diese Weise Demokratie in der Lebenswirklichkeit aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger erlebbarer machen sollten. Die Revolution bot ideale Möglichkeiten für einen solchen demokratischen Großversuch, weil sie als Experimentierfeld für den Aufbruch zu neuen demokratischen Ufern dienen konnte. Es waren hehre, ernstgemeinte Worte, mit denen sich die von Eisner geführte neue bayerische Regierung am 16. November 1918 an das   13 Zit. n. Köglmeier (2001): Die zentralen Rätegremien, S. 73. 14 Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre; auf die performativen und symbolischen Aspekte der Wahlen im Kaiserreich, die zunehmend als legitimer Ausdruck der Volkssouveränität gelesen wurden verweist Biefang (2008): Reichstagswahlen. 15 Vgl. die Angaben in: Ritter (1980): Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 41f.

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bayerische Volk wandte. Nicht weniger als einen grundlegenden Stilwandel der Politik schrieb sich diese revolutionär gezeugte Regierung auf ihre Fahnen: Die revolutionäre Regierung des Volksstaates Bayern ist zu dem großen Versuch entschlossen, die Umwandlung des alten Elends in die neue Zeit in vollkommener verbürgter Freiheit und in sittlicher Achtung vor den menschlichen Empfindungen durchzuführen und damit ein Vorbild zu geben für die Möglichkeit einer Politik, die auf Vertrauen zu dem Geist der Massen, auf der festen und klaren Einsicht in die Notwendigkeiten und Mittel der Entwicklung auf der freimütigen Offenheit und Wahrhaftigkeit beruht.16

Die Regierung Eisner war sich darüber im Klaren, dass eine solche Umpolung der Politik hin auf maximale Transparenz und weitmöglichste Partizipation zu einem Zeitpunkt eingeschlagen werden sollte, an dem Bayern als Teil des Deutschen Reichs unter der Hypothek der Kriegsniederlage litt, deren Folgen unabsehbar waren. Dennoch wollte Eisner die revolutionäre Gunst der Stunde nutzen: „Wir wollen in unbeirrbarer Entschlossenheit diesen gänzlich ungewohnten Weg gehen, obwohl wir uns bewußt sind, daß noch niemals eine Regierung in schwierigeren Zeiten ihr Amt übernommen hat, daß wir verhängnisvoll belastet sind mit einem fluchwürdigen Erbe, das mit dem Zusammenbruch des verfallenen Systems nicht zugleich ausgetilgt ist“.17 Eisners Vision einer weltweiten Verbrüderung fand bühnengerechten Ausdruck in der Revolutionsfeier am 17. November 1918 im Nationaltheater in München, auf welcher der Dichter Kurt Eisner am Schluss des Programms mit einem pathosgeladenen Gedicht „Gesang der Völker“ vertreten war, das den Glauben an die weltbürgerliche Mission Bayerns und Deutschlands in pathosgetränkte Verse goss.18 Eisner stilisierte die Revolution zum politischen Erweckungserlebnis: Es sollte Besitz ergreifen von Verstand und Herzen des Volkes – und wie es in der Gemeinschaft der Erweckten keine Standes- und Geschlechterunterschiede mehr gab, sollten auch die sozialen und kulturellen Unterschiede im bayerischen Volk durch den revolutionären Urknall nivelliert werden. Das Beschwören der Revolution als Königsweg zur Wiedergeburt des Volkes ließ nicht nur gelegentlich Anklänge an prophetisches Reden erkennen.19 Eine Übersteigerung dieses prophetischen Redemodus konnte leicht in das Gegenteil dessen umschlagen, was Eisner bezweckte. Denn sie konnte den dichterischen Künder der revolutionären Geburt der Demokratie in einen prophetischen   16 Die Proklamation der bayerischen Regierung ist abgedruckt in: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 71, Nr. 580 vom 16. November 1918, Abendausgabe, Hervorhebung W. P. 17 Ebd. 18 Das Gedicht Eisners samt des Programmzettels der Revolutionsfeier ist als Faksimile zu finden in: Ay (Hrsg.) (1968): Appelle, Anlage 13. 19 Eisner griff in seiner Ansprache auf eine charakteristische Heilssemantik zurück, wenn er zum Beispiel ausführte, dass die zu Eingang seiner Ausführungen gespielte Leonoren-Ouvertüre aus „Fidelio“ „in prophetischer Voraussicht die Wirklichkeit [schafft], die wir eben erlebt. In dem Augenblicke, da der Wahnsinn der Welt den Gipfel des Entsetzens erreicht zu haben schien, verkünden aus der Ferne Trompetensignale neue Hoffnung, neue Zuversicht“; die Ansprache Eisners wird hier zitiert nach ihrem Abdruck in: Eisner (1919): Zeit, S. 31.  

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Seher verwandeln, der im Unterschied zum Volk über tiefere Einsicht in den Gang der Geschichte verfügte und kraft dieses Sonderwissens die Rolle des politischen Führers beanspruchte. Eine solche prophetische Selbstermächtigung fand sich vor allem in linkssozialistischen Zirkeln, in denen Dichtertum und politischer Aktivismus eine Personalunion eingingen wie in Stuttgart mit den Dichter-Politikern Fritz Rück und Max Barthel.20 Auch der neben Eisner wichtigste und literarisch hervorstechendste Münchner Künstler-Politiker, der Lyriker Gustav Landauer, wandte sich an das Volk im Modus prophetischen Redens.21 Damit einher ging eine Entmündigung des Volks, weil er sich zum Herrscher über den Gang der Geschichte emporschwang und dem Volk nur die Ausführung eines Auftrags übertragen wollte, dessen historischen Sinn er als politischer Prophet erspürt hatte. Eine solche im Kern autoritäre prophetisch legitimierte Führerschaft war mit dem radikal-demokratischen Urvertrauen Eisners in die Vernunft eines neu konstituierten Volkswillens nicht vereinbar. Damit sind zugleich Ambivalenzen einer zunehmenden Ästhetisierung des Politischen markiert, die bei einem Übermaß ästhetisch aufgeladener Führererwartung eine Selbstentmündigung des Volks begünstigen konnte.22 Eisner hingegen verstand seine kraftvollen, in eindrucksvoller Sprachgewalt verpackten Worte stets als Aufforderung an bislang der Politik Fernstehende, das vorhandene, aber bislang brachliegende emanzipatorische Potential zu aktivieren und sich politisch einzumischen. Er hatte daher schon während des Weltkriegs Kommunikationsformate etabliert, die transparenter und hierarchiefreier waren als die eingeschliffenen politischen Verfahren der Sozialdemokratischen Partei, der Eisner selbst ursprünglich angehört hatte. Der Parteirebell war dazu auch deswegen prädestiniert, weil er wegen der Stellung der Mutterpartei zur Kriegszielpolitik der deutschen Reichsleitung mit der Sozialdemokratie gebrochen hatte und damit vor die Herausforderung gestellt war, für seine politischen Überzeugungen außerhalb der Organisationskultur der größten und am besten organisierten sozialistischen Partei der Welt zu werben. Er kreierte mit politischen Diskussionsabenden ab Ende 1916 ein niederschwelliges Kommunikationsformat, das vor allem auf den Kreis nicht akademisch Gebildeter abzielte und dem es durchaus gelang, Arbeiter und Angestellte beider Geschlechter sowie Soldaten so sprechfähig zu machen, dass sie argumentativ ihren Mann und ihre Frau stehen konnten. Diese Diskussionszirkel, in denen kein straffes Zeitregiment herrschte, haben allem Anschein nach auch manche späteren Revolutionäre in der Kunst der politischen Ansprache geschult. Vieles spricht dafür, dass einer der Wortführer der Revolution in München, der durch die Schule Eisners gegangene Unteroffizier Felix Fechenbach, deswegen am   20 Vgl. dazu die materialreiche Studie von Fritton (1986): Literatur, vor allem S. 67–80. 21 Vgl. zu Landauer u.a. Kreiler (1978): Schriftstellerrepublik, vor allem S. 48–52. 22 Hitlers Herrschaft hat aus einer solchen Übersteigerung ästhetischer Führungserwartung einen erheblichen Teil seiner Legitimation bezogen und sich dabei immer wieder in die Tradition prophetischen Redens eingerückt, siehe dazu neben Pyta (2015): Hitler auch ders. / Lange (2016): Darstellungstechnische Seite, S. 48–51.  

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Abend des 7. November 1918 die entscheidenden Worte auf der Theresienwiese fand, mit welchen der Sturm auf die Münchner Kasernen eingeleitet wurde.23 Es ist ein zentrales Anliegen der hier vorgelegten Ausführungen, das Augenmerk darauf zu lenken, dass die Novemberrevolution partizipatorische Formate entweder erschuf oder belebte, die gerade unter demokratietheoretischen Aspekten Beachtung verdienen. Solche Kommunikationsformen sind mit dem Modell parlamentarischer Repräsentation durchaus kompatibel, so dass Erkenntnischancen verschüttet würden, wenn man einen schroffen Gegensatz zwischen parlamentarischen Sprechakten und derartigen neuen Formen konstruierte. Es bietet sich an, ein deliberatives Verständnis von Demokratie zum Ausgangspunkt einer solchen knappen Musterung des heuristischen Potentials der von Eisner und seinen Gesinnungsfreunden propagierten Vertiefung der Demokratie zu erheben. Denn ein deliberatives Demokratieverständnis legt besonderen Wert auf die Partizipation der Bürger in Wort und Tat, sieht also den abwägenden Austausch von Argumenten und Positionen möglichst vieler Bürger als Kern der Demokratie. Kennzeichnend hierfür ist ein optimistisches Bild vom Staatsbürger, welches entsprechende Kompetenz und Beteiligungswillen voraussetzt.24 Kritiker weisen dagegen darauf hin, dass die freie Diskussion durch eine bestimmte Redekultur behindert werden könne, da besonders redegewandte und das Rampenlicht genießende Personen befördert werden, während beispielsweise Frauen durch eine maskuline Gesprächskultur ins Hintertreffen geraten.25 Für eine historische Analyse ist es also unumgänglich, den jeweiligen Regeln, Normen und Praxen zeitgenössischer Diskussionskulturen auf die Spur zu kommen, um neue Politikformen erkennen, ihren Stellenwert bestimmen und ihre Auswirkungen beschreiben zu können.26 Eisner zielte ab auf das Herzstück eines deliberativen Demokratieverständnisses, wenn er die Mündigkeit des Staatsbürgers zur öffentlichen Mitsprache ins Zentrum seines politischen Handelns rückte. Insofern bildete die Wortermächtigung den Kern seines urdemokratischen Anliegens: in dem Grundvertrauen darin, dass alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu einem vertieften diskursiven Austausch über die res publica befähigt seien, sollten ihnen neue Beteiligungsformate offeriert werden, in denen sie von diesem Potential Gebrauch machten. Solche Foren des Austausches konnten den politischen Diskurs beleben, indem sie die Eintrittsschwellen in den öffentlichen Debattierraum bewusst senkten und Kommunikationsregeln etablierten, die bislang der Politik eher Fernstehende ermutigten, das Wort zu ergreifen.   23 Vgl. hierzu Fechenbach (1929): Revolutionär, S. 40; zur Teilnahme Fechenbachs an den Diskussionsabenden Eisners ebd., S. 16f.; zu den Diskussionsabenden siehe auch das Zeugnis des ebenfalls anwesenden Mühsam (1929): Eisner, S. 11. 24 Vgl. zur Einordnung Schmidt (2010): Demokratietheorien, S. 236–253. 25 Vgl. Gambetta (1998): „Claro!“. 26 Vgl. z. B. die aufschlussreichen Analysen der Gesprächskultur in unterschiedlichen Kommunikationsräumen der Bundesrepublik der 1950er und 60er-Jahre und ihre demokratischen Implikationen bei Verheyen (2010): Diskussionslust; dies. (2010): Diskutanten; dies. (2012): Distinktion; Bösch (2004): Politik.

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Die Novemberrevolution schuf vor allem mit den Räten niederschwellige Formate des diskursiven Austausches, die unter dem Aspekt einer deliberativen Belebung von Demokratie einer systematischen Untersuchung wert wären. An dieser Stelle kann allerdings nicht mehr als ein kurzer Streifzug unternommen werden, der die heuristischen Möglichkeiten eines solchen Zugriffs abzustecken sucht. Eisner und der von ihm repräsentierte Phänotyp des „Künstler-Politikers“ sollen dabei als Cicerones dienen. Damit soll zugleich eine Verengung der Revolutionsgeschichte auf eine seit mehr als fünfzig Jahren geführte Debatte über die 1918/19 konkurrierenden politischen Ordnungsmodelle vermieden werden, ohne damit die Bedeutsamkeit dieses Themas anzuzweifeln. In politikhistorischer Hinsicht war und ist die Frage danach, ob die erste deutsche Demokratie ihre zentrale Legitimation durch einen parlamentarisch herbeigeführten Willensakt und damit eine Volkswahl erhalten oder ob in Konkurrenz dazu alternativen Formen der Konstruktion des Volkswillens in Gestalt des Rätemodells der Vorzug gebührte, von grundlegender Bedeutung. Aber man würde das Erkenntnispotential der Novemberrevolution und ihrer Nachwehen nicht ausschöpfen, wenn man nicht auch einen kulturhistorisch geschulten Blick auf jene neuen politischen Verkehrsformen werfen würde, die durch die Revolution zum Leben erweckt wurden. Es scheint so, als würde durch eine solche Blickfeldverlagerung auch die Skepsis der deutschen Sozialdemokratie hinsichtlich der von Eisner propagierten kommunikativen Formate in ein neues Licht getaucht. Denn die Mehrheitssozialdemokratie stand Experimenten mit neuen Partizipationsformen, die auch theatrale Elemente inkludierten, mit ausgesprochener Reserve gegenüber.27 In der SPD führte der Weg nach oben über die Beherrschung innerparteilicher Verfahren der Willensbildung. Gremienarbeit in Partei und Gewerkschaft bildete daher den Königsweg des politischen Aufstiegs in dieser streng auf Disziplin achtenden Solidargemeinschaft. Nur wer sich in der Partei bewährte, konnte etwa auf ein Reichstagsmandat hoffen. Diese Organisationskultur begünstigte die Bildung geschlossener Zirkel, in denen Neuankömmlinge sich hinten anzustellen hatten, da der Gebrauch des Wortes von kommunikativen Regeln eingehegt wurde, welche von den Insidern beherrscht wurden.28 Der Aufstieg Eberts an die Spitze der Partei und im November 1918 auch an die Spitze der Reichsexekutive war der Aufstieg eines Mannes aus dem Parteiapparat, der eine lupenreine Funktionärskarriere absolviert hatte.29 Insofern waren und blieben Eisner und Ebert Antipoden – und das Gegenstück zu Ebert auf Ebene der bayerischen SPD, der Landesvorsitzende Erhard Auer30, vertrug sich   27 Vgl. Warstat (2005): Theatrale Gemeinschaften, vor allem S. 262–265. 28 Vgl. Schröder (1976): Sozialstruktur, S. 88–96; Kolb (1976): Sozialbiographie, S. 103–107; Braun (2005): Generation, vor allem S. 76–84; Mittag (2005): Professionalisierung, vor allem S. 123–124, S. 134–135; Engehausen (2005): Reichstagsfraktion; Mühlhausen (2011): Typus, vor allem S. 108. 29 Vgl. zum (partei)politischen Aufstieg Eberts: Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 42–164; Eberts Karriere war für die Führung der Partei in dieser Zeit durchaus typisch vgl. ders. (2011): Typus. 30 Zu Auer siehe Schmalzl (2015): Erhard Auer, vor allem S. 232f. und S. 239–249.

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allein vom politischen Stil nicht mit dem Nonkonformisten Eisner, der argumentativen Widerspruchswillen dort reifen lassen wollte, wo Parteisoldaten wie Auer auf eiserne Disziplin pochten. Vor allem aber wollte Eisner zur politischen Mitbestimmung ermuntern und den Willensbildungsprozess nicht auf Gremien mit verfestigten Strukturen beschränken. Ob die im November 1918 wie Pilze aus dem Boden schießenden Arbeiter- und Soldatenräte frei von solchen Tendenzen rhetorischer Selbstbespiegelung und kommunikativer Abschottung waren, soll an späterer Stelle noch kurz erörtert werden. In unserem Kontext ist zunächst von Belang, dass Eisner mit dem Rätemodell vor allem deswegen sympathisierte, weil er darin ein geradezu ideales Forum der Ermutigung zur Wortfindung erblickte. Und in der Tat ist es verblüffend, dass gerade Soldaten das freie Wort suchten und fanden in dem Moment, in dem in den Kasernen des Heimatheeres wie im Frontheer Soldatenräte gebildet wurden. Die bisherige Forschung zu den Soldatenräten hat diesem Aspekt wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Gerade wenn man Kasernen nicht für ideale Stätten hält, an denen das freie Wort zu gedeihen vermag und welche der Entfaltung des Wortes optimalen Raum gewähren, wird man nicht ohne Verblüffung registrieren, welches deliberative Potential in den Kasernen durch die Novemberrevolution freigesetzt wurde. Kurt Eisner geriet geradezu ins Schwärmen, als er in einer Ansprache vor den Soldaten in einer für ihn bezeichnenden Räumlichkeit – dem Münchner Nationaltheater – im Rückblick auf die am 30. November 1918 stattgefundene Zusammenkunft des bayerischen Soldatenrats den politischen Stil dieser Versammlung rühmte. Man ist geneigt, Eisners Erstaunen über den Stil und die Qualität der bei dieser Gelegenheit ausgesprochenen Gedanken mit dem Pfingstereignis zu vergleichen: Die Revolution hatte einfache Mannschaftsdienstgrade gelehrt, sich vor größeren Versammlungen rednerisch zu bewähren, weil sie von einer Urgewalt zu oratorischer Befähigung angeleitet worden waren: Wer gestern in der Sitzung des bayerischen Soldatenrates gewesen ist, der vergißt diese Stunde nicht; niemals sind in dem Parlament so viele neue Gedanken aufgetaucht, noch niemals wurde solcher Fülle der Anregungen so andächtig gelauscht, sie so verständnisvoll begrüßt wie gestern in der plötzlich zusammengekommenen Soldatenratssitzung.31

Wie ein Brausen hatte die Revolution die Zungen von Soldaten gelöst, die in der Heimat wie an der Front nicht zu selbstbewussten redegewandten Bürgern erzogen worden waren. Ihnen war die Macht des Wortes zugefallen; und genau deswegen schätze Eisner Soldatenräte als rednerische Erziehungseinrichtungen. Für ihn lag der partizipatorische Urgrund der Demokratie darin, dass sich das freie Wort ungestört Bahn brechen konnte – eine Art demokratische Sprechakttheorie: „Das Wort, das aus der tiefsten Überzeugung dringt, das Wort ist Tat“.32   31 Eisners Ansprache vor den heimgekehrten Soldaten am 1. Dezember 1918 ist abgedruckt bei Eisner (1969): Macht, S. 273–276, Zitat S. 275. 32 Ebd., S. 275.

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Hat Eisner die Soldatenräte dabei in ein allzu idealistisches Licht getaucht? Mustert man versprengte Zeugnisse, dann drängt sich der Eindruck auf, dass Soldatenräte eine nicht zu unterschätzende kommunikative Innovation darstellten, um Redeentwöhnte und Redeungewandte zu oratorischer Selbstentfaltung anzuleiten. Dabei ist immer in Rechnung zu stellen, wie hoch die Hürden waren, um militärische Untergebene in selbstbewusste Sprecher zu transformieren, die sich das Wort nahmen statt bei Vorgesetzten um eine Sprecherlaubnis nachzusuchen.33 Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die Mitgliedschaft in einem Soldatenrat einer Lizenz zum Freireden und Warmreden gleichkam. Soldatenräte hatten das rednerisch hemmende Vorgesetztenverhältnis zumindest so einschränkt, dass oratorisch Begabte sich zu entfalten vermochten und dabei sogar rangmäßig Höhere hinsichtlich ihrer rhetorischen Performanz ausstechen konnten. Das geradezu subversive Potential einer derartig freigesetzten Redekraft scheint in den ersten Revolutionstagen auch dort zum Vorschein gekommen zu sein, wo Soldatenräte an militärischen Führungsentscheidungen beteiligt waren. So berichtet Harry Graf Kessler, dass der Vorsitzende eines Soldatenrats, rangmäßig auf dem Stand eines Gefreiten, im Zivilberuf Dekorateur und dazu noch Träger des Allerweltsnamens „Müller“, bei wichtigen Besprechungen über die Rückführung des deutschen Ostheeres im Kreise hochrangiger Offiziere „die einzige verständige und eindrucksvolle Rede“ gehalten habe.34 Es sei die Frage erlaubt, ob nicht auch der Gefreite Adolf Hitler zu den Profiteuren einer Öffnung der Kasernen für eine gänzlich unmilitärische Redekultur zählte, als er ab dem 21. November 1918 für einige Monate im ersten Ersatzbataillon des zweiten Infanterieregiments in Münchner Kasernen Dienst tat.35 Als Kind der Revolution erschöpften sich Soldatenräte nicht darin, für genuin militärische Belange Mitbestimmung zu fordern. Sie hatten sich eben auch das „politische Erziehungsprogramm“36 der Revolution auf ihre Fahnen geschrieben, welches eine qualitativ wie quantitativ gesteigerte Partizipation zum Ziel hatte. Dabei fiel ihnen die demokratiepolitisch anspruchsvolle Aufgabe zu, politische Talente auch aus den Mannschaftsdienstgraden zu identifizieren und sie zu Multiplikatoren für die Sache der jungen Demokratie im Heer zu machen – und das auf einem überaus schwierigen Terrain, welches keinen idealen Nährboden für solche Partizipationsformen bildete. Die politisch gemäßigten Soldatenräte waren sich der Schwere   33 Interessante Ansätze enthält hierzu der Pionieraufsatz von Hürten (1970): Soldatenräte. 34 Vgl. ebd., S. 314; das Originalzitat findet sich in der Tagebucheintragung Kesslers vom 7. Dezember 1918: Kessler (2006): Tagebuch, S. 683; den ersten Auftritt des Soldatenrats Müller im Speisesaal eines vornehmen Warschauer Hotels beschrieb Kessler am 6. Dezember 1918 wie folgt. „Die Überlegenheit des einfachen Soldaten Müller über den Generalstäbler stellte sich so schnell heraus, dass die Befangenheit verwehte. […] Seine Ascendenz war so unwiderstehlich wie ein Sonnenaufgang. Plötzlich sass er als Führer da.“, ebd. S. 681. 35 Siehe die entsprechenden quellengestützten Ausführungen bei Joachimsthaler (2000): Hitlers Weg, vor allem S. 182–203; siehe auch Pyta (2015): Hitler, S. 137–139. 36 So der Verfassungsentwurf der Siebener-Kommission der badischen Soldatenräte vom Januar 1919, abgedruckt in Brandt/ Rürup (Bearb.) (1980): Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte, S. 292.  

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dieser Aufgabe wohl bewusst und hüteten sich vor einer Glorifizierung der Revolution. Es sei eine Verkennung der Tatsachen, wenn man die revolutionäre Bewegung unisono als eine mächtige soziale Bewegung für ein Mehr an Demokratie hinstellte: Diese Revolution „ist nicht aus der Idee geboren, sondern leider aus dem Zusammenbruch, deshalb haben wir auch keine politisch reifen Menschen vor uns“.37 Auch wenn sich die tatsächliche Arbeit der Soldatenräte häufig in unfruchtbaren verbalen Scharmützeln und internen Streitereien erschöpfte, wird man ihnen dennoch zumindest partiell nicht den ehrlichen Willen absprechen wollen, demokratische Aufbauhilfe zu leisten. Soldatenräte sollten nicht zuletzt durch eine lebendige Debattenkultur Führungspersonal für die noch junge Demokratie heranreifen lassen. Um die tatsächliche Wirkung der Soldatenratsbewegung einschätzen zu können, müsste sich die Forschung stärker der Basisebene zuwenden – mithin den Räten in einzelnen Garnisonen, Bataillonen und Kompanien, in denen die politische Willensbildung unmittelbarer und direkter verlief als auf Reichs-, Landes- oder Kreisebene.38 Manche Indizien weisen darauf hin, dass in einigen Frontsoldatenräten politische Talente aus dem Bereich der Mannschaften und Unteroffiziere erstmals ihre kommunikativen Fähigkeiten vor großen Menschenmengen zu erproben und gerade schwierige Situationen kraft ihres Wortes zu meistern vermochten.39 Dabei kam ihnen zugute, dass die „Herren Offiziere“ wohl auch aus Rang- und Standesbewusstsein zögerten, bei Soldatenversammlungen das Wort zu ergreifen und daher couragierten Unteroffizieren und Mannschaften das Feld überließen, die den öffentlichen Auftritt nicht scheuten.40 3. VOM BOURGEOIS ZUM COTOYEN – PARTIZIPATORISCHE AUFWALLUNGEN IM BÜRGERTUM Eisners Anstöße für eine deliberative Demokratiekultur wurden vor allen Dingen von Künstlern und Akademikern aufgegriffen, die man im weitesten Sinne durchaus dem Bürgertum zurechnen kann. Wie stark sich insbesondere linksbürgerliche   37 So das Mitglied des Landesausschusses des badischen Soldatenrats, Ludwig Hammerschlag, auf einer Konferenz der Soldatenräte des Kreises Konstanz am 29. Januar 1919, ebd., S. 282. 38 In diese Richtung zielt auch das leidenschaftliche Plädoyer des Vorsitzenden des Stuttgarter Garnisonrats, des Unteroffiziers Karl Bissinger, auf der vierten Landesversammlung der Soldatenräte Württembergs, 19. März 1919, abgedruckt bei Kolb/ Schönhoven (Bearb.) (1976): Räteorganisationen, vor allem S. 184f. 39 Vgl. die lebendige zeitgenössische Darstellung von Lewinsohn (1919): Revolution, vor allem S. 6–8, S. 22 und S. 34f. Lewinsohn hatte den Rang eines Unteroffiziers bekleidet und es auch dank seiner Redegewandtheit zum Vorsitzenden des Soldatenrats der IV., in Flandern stationierten Armee gebracht. 40 Vgl. den überaus aufschlussreichen Bericht des Vizefeldwebels Ludwig Bückle über die Wahl des Soldatenrats der Fliegerersatzabteilung 10 in Böblingen vom November 1918, zitiert bei Kluge, Soldatenräte (1975), S. 111.  

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Kreise für die Revolution engagierten, weil sie ihnen als Emanzipationsbewegung41 erschien, die das politische Wort in neue Formen goss, ist bislang nur ansatzweise untersucht. Gerade weil Eisner für ästhetisch sensible Gemüter neue Formen politischer Partizipation in Aussicht stellte, welche die eingefahrenen Muster sozialdemokratischer Organisationskultur in performativer Weise aufbrachen, erschloss er für sein republikanisches Verständnis von Demokratie neue Trägerschichten.42 Er brachte einen neuen erfrischenden Stil in die Politik ein, der auf genuin bürgerliche Künstler abfärbte, die bislang das politische Geschehen eher aus der Distanz betrachtet und jede Form der Massenpartizipation auch aus sozialem Distinktionsbedürfnis eher verächtlich als Konzession an den schlechten Massengeschmack abgetan hatten. Die Welt dieser Feingeister war bislang das gepflegte Salongespräch und das ungezwungene Parlieren nach Tisch gewesen; der öffentliche politische Auftritt wirkte auf sie lärmend, grell und ohne emotionale Selbstkontrolle. Wenn sie mit Politik überhaupt in Berührung kamen, dann in Gestalt des gelehrten Vortrags, der von gravitätisch auftretenden Honoratioren formuliert und abgelesen wurde. Die spontane improvisierte Rede, die allen Teilnehmern offenstehende Diskussionsrunde, der Einsatz des uniformierten, mit politischen Abzeichen geschmückten oder politisch hergerichteten Körpers – all dies waren bis zum November 1918 Verstöße gegen den Comment einer bürgerlich-steifen Honoratiorenkultur gewesen. Es ist eine Kernthese der vorliegenden Ausführungen, dass weniger die Revolution als politischer Systembruch als die durch die Revolution eingeführten Innovationen des politischen Stils auf die politische Kultur gerade bürgerlicher Kreise belebend wirkten. Einem reformbereiten Bürgertum, das mit den hergebrachten Formen ehrwürdiger monarchischer Repräsentation innerlich gebrochen hatte, sich im Gegenzug aber nicht auf eine zeitraubende gremienfixierte sozialistische Organisationskultur verpflichten wollte, ebneten humanistische, der Kunst verpflichtete Akteure wie Kurt Eisner den Weg in die Politik, indem sie demonstrierten, dass mittels der Kraft des gesprochenen Wortes und auf die Vernunft verpflichteter Debattenkultur ein politisches Entrée auch für bislang außerhalb der Politik Stehende ohne großen Aufwand möglich war. In gewisser Weise knüpften solche Vorstellungen an die Wurzeln bürgerlicher Demokratie im Gefolge der Französischen Revolution an. Man brauchte eben nicht den Umweg über den Sozialismus zu nehmen, um sich als genuiner Demokrat auf die Formsprache der Republik einzulassen. Frankreich war hierbei das wichtigste Vorbild – sowohl hinsichtlich der Revolution als stilbildendes Ereignis als auch hinsichtlich des in der Dritten Republik bewährten Modells eines genuin republikanischen Diskurses über Politik. Einige Beispiele sollen andeuten, wie sehr Frankreich für Künstler und Intellektuelle Pate stand, als diese im Windschatten Kurt Eisners und dessen Geistesverwandter diese neue Formensprache erprobten. Einer der wichtigsten Gewährsmänner dafür ist der in Stuttgart geborene Schriftsteller Bruno Frank, ein enger Bekannter von Thomas Mann, zu seinen Lebzeiten ein durchaus einflussreicher Lyriker   41 So auch Almai (2005): Expressionismus, S. 216. 42 Dazu auch Frühwald (1971): Kunst als Tat.  

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und Novellist.43 Bruno Frank befand sich im Herbst 1918 in München am Puls des politischen Geschehens – und an ihm, auf den Thomas Manns Schrift Betrachtung eines Unpolitischen auch hätte gemünzt sein können, lässt sich ablesen, dass sich Kreise des Bildungsbürgertums produktiv auf die neuen deliberativen Formen politischer Artikulation einließen. Bruno Frank scheint so beeindruckt gewesen zu sein von der ungewöhnlichen Formsprache, derer sich Eisner befleißigte, dass er sich politisch anstecken ließ und im Dezember 1918 die erste politische Rede seines Lebens hielt. Der Literat hatte sich nicht nur von den aufklärerischen Ideen Eisners begeistern lassen, er war vor allem von dessen unkonventionellem Politikstil angetan. Eisner brach mit althergebrachten Sitten, indem er wenige Tage nach seiner Regierungsübernahme die Kriegsschuld Deutschlands thematisierte – eine Haltung, die außenpolitisch unklug war, aber dem Schriftsteller Respekt abnötigte.44 So fand Bruno Frank über den von ihm bewunderten „Kollegen Eisner“45 den Weg in die Politik und hielt am 10. Dezember 1918 als Gründungsmitglied des soeben konstituierten „Politischen Rats geistiger Arbeiter“ seine erste politische Ansprache. Der frankophile Bruno Frank orientierte sich dabei am Leitbild des „citoyen“, des um das Gemeinwohl besorgten und von genuin bürgerlichen Tugenden beseelten Staatsbürgers, dessen Weitblick ihn vor bourgeoiser Selbstgefälligkeit feite. Frank plädierte in seinem engagierten Plädoyer dafür, dass das deutsche Bürgertum aufbrechen müsse zu einem Reifungsprozess, der es vom auf seinen ökonomischen Vorteil erpichten Bourgeois zum staatsbürgerlich aufgeklärten Citoyen führe.46 Die Revolution markierte für Frank wie für nicht wenige andere bürgerliche Zeitgenossen dabei einen aufrüttelnden Weckruf, welcher das Bürgertum zu politischer Partizipation jenseits herkömmlichen Honoratiorengebarens anfeuern sollte. Den Künstlern gedachte er dabei eine Schrittmacherrolle zu, weil diese am wenigsten durch partikulare Geschäftsinteressen daran gehindert seien, sich neue Formen der Politik zu eigen zu machen. Heinrich Mann, der ältere Bruder von Thomas Mann, bedurfte nicht der Revolution, um aus selbstgenügsamem Schlummer herausgerissen zu werden. Der sich ästhetisch am französischen Naturalismus orientierende Schriftsteller hatte seine politischen Sympathien für das französische Modell der „république“ immer kundgetan; und auch daher sympathisierte er offen mit Kurt Eisner, dem er anlässlich von dessen Trauerfeier im Münchner Odeon-Theater bewegende Worte widmete. Dabei heftete er dem einem politischen Mord zum Opfer gefallenen Eisner einen

  43 Vgl. als ersten Zugriff Kirchner (2009): Bürger. 44 Darüber informiert die Tagebucheintragung von Thomas Mann vom 12. November 1918; Frank und Thomas Mann standen in regem Austausch, in: Mendelssohn (Hrsg.) (1979): Thomas Mann, S. 72f. 45 Auch Thomas Mann erkannte Eisner den Ehrentitel „Kollege“ zu, vgl. dessen Tagebucheintragung vom 8. November 1918, ebd., S. 60. 46 Frank (1919): Menschenliebe, vor allem S. 9.  

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Ehrentitel – „Zivilisations-Literat“47 – an, den er auch für sich hätte in Anspruch nehmen können. Denn ihn trieb wahre Beseeltheit für die Werte der Demokratie um. In bewusster Umkehrung der Akzente, die sein Bruder Thomas bei seiner Verwendung des Terminus „Zivilisations-Literat“ gesetzt hatte48, wollte Heinrich Mann damit auch der zivilisatorischen Wiege der modernen Demokratie, mithin Frankreich, Reverenz erweisen. „Civilisation“ war gewissermaßen der kulturelle Nährboden der Demokratie; und indem man diesen diskursiv düngte und dem französischen Vorbild entlehnte politische Kommunikationsformen erprobte, wollte man zugleich den kulturellen Graben überbrücken, den der Weltkrieg zwischen Deutschland und Frankreich aufgerissen hatte. Es würde sich lohnen, die ästhetische Mobilisierung in Künstlerkreisen jenseits von München systematisch unter die Lupe zu nehmen. Nicht nur in München begriffen akademisch Gebildete sowie künstlerisch Tätige die Revolution als Signal, die kultivierte bürgerliche Distanz zur Politik aufzugeben und sich aktiv auf die Politik einzulassen. Inwieweit sie sich dabei wie Bruno Frank von dem hehren Anspruch leiten ließen, „Salz der Erde“49 zu sein, bedürfte näherer Untersuchung. Manches spricht dafür, dass die Revolution niederschwellige Formate kreiert hatte, die auf das zögerliche Herantasten solcher bürgerlicher „Geistesarbeiter“ an die Politik zugeschnitten waren. Die Revolution wurde in diesen Kreisen als Einladung zum demokratischen Mitmachen aufgefasst, sofern die dominierenden sozialistischen Kräfte das aufgeschlossene Bürgertum bei diesem Reifungsprozess unterstützten und es nicht als „Klassenfeind“ gezielt ausschlossen. Dabei verdient vor allem ein in der Revolution geborenes partizipatorisches Format Beachtung, welches darauf abzielte, gebildete bürgerliche Kreise zu integrieren: der „Rat geistiger Arbeiter“. Solche Formen der Selbstorganisation konnten dann gerade in deliberativer Hinsicht Wirkungen entfalten, wenn deren Vertretern innerhalb der neuen Formen einer Rätevollversammlungsdemokratie Rederecht zugebilligt wurde. Eine noch zu schreibende Geschichte dieser Zusammenschlüsse von Akademikern und Künstlern könnte aufzeigen, ob und wie stark die von der Revolution angefachte Beteiligungskultur in linksbürgerlichen Kreisen praktiziert wurde. Dabei sollte man sich auf keinen Fall zu sehr auf die Hauptstadt konzentrieren, weil dort unter der Leitung des Linkssozialisten Kurt Hiller50 ein ideologischer Eiferer das Wort führte, der in grotesker Selbstüberschätzung seiner intellektuell-künstlerischen Fähigkeiten wie seiner politischen Wirkmacht die um ihn versammelte kleine Truppe auf einen starren Antikapitalismus einschwor und damit Brücken zum Bürgertum bewusst abbrach. Es ist kein Wunder, das sich die ästhetischen Hochkaräter   47 Die Rede Heinrichs Mann auf der Gedächtnisfeier für Kurt Eisner am 16. März 1919 ist abgedruckt bei ders. (2015): Essays, S. 28–31, Zitat S. 30; vgl. auch den editorischen Anmerkungsapparat ebd., Teil 2: Anhang, S. 474–485. 48 Vgl. dazu den editorischen Anmerkungsapparat, ebd., S. 483. 49 Ebd., S. 27. 50 Zu seiner Person siehe auch Münzner (2015): Hiller  

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Berlins von diesem Privatunternehmen Hillers fernhielten.51 In München stand kein geringerer als Heinrich Mann dieser Zentrale der Geistesarbeiter vor, die ganz im Sinne Eisners innovative politische Kommunikationsformen mit ihren genuin ästhetischen Mitteln anzustoßen versuchten.52 Die Kunstmetropole Dresden brachte ihre eigene Spielart eines Zusammenschlusses linker und linksbürgerlicher Kreise hervor.53 In Württemberg war für bürgerliche Intellektuelle in der Rätebewegung ein fester Platz vorgesehen.54 Diese Willkommenskultur gegenüber dem Bürgertum konnte sogar so weit gehen, dass in den Arbeiterrat von Groß-Stuttgart mit Paul Bonatz, seines Zeichens Architekt und Professor an der Technischen Hochschule Stuttgart, ein politischer Neuling entsandt wurde, der sich dazu bekannte, zu einem aufbauwilligen Bürgertum zu gehören, welches der Arbeiterschaft die ausgestreckte Hand entgegenhielt, um die Demokratie zu vertiefen.55 Es waren nicht zuletzt die neuen Formen politischer Deliberation, von denen sich solche politischen Neulinge anstecken ließen: die Herausforderung, sich mit einem öffentlichen Redeauftritt an eine bunt gemischte Zuhörerschaft zu wenden und sich in der anschließenden Diskussion jedem zu stellen, der einen Diskussionsbeitrag anbringen wollte. Solche riskanten, unberechenbaren Redesituationen waren für viele ein wohltuender Kontrast zur steifen Redekultur bürgerlicher Vereinszirkel; doch für distinguierte Bürgerliche blieben sie reiner Graus. In den Tagebüchern von Thomas Mann findet sich eine dafür überaus charakteristische Eintragung: Der Großschriftsteller hatte der Jungfernrede Franks anlässlich des ersten öffentlichen Auftretens des „politischen Rats geistiger Arbeiter“ beigewohnt und sich nicht ohne Anerkennung über Franks oratorische Performanz ausgelassen. Was Mann jedoch abstieß, war nicht, dass ein Künstler zum politischen Rhetor mutiert war, sondern der unerhörte Umstand, dass es in der anschließenden Diskussion jedem frei stand, das Wort zu ergreifen und seine Anschauungen zum Besten zu geben. Dass „ein rheinischer Jüngling aus ungeistiger Sphäre“ sich erdreistete, das Wort zu nehmen und dass sich überhaupt Personen Gehör verschafften, deren Bildungsniveau weit unter dem von Thomas Mann und Bruno Frank angesiedelt war, stieß Mann geradezu körperlich ab: „Die Luft fürchterlich. Das Benehmen der Versammlung turbulent, kindisch und verroht“.56

  51 Vgl. Gallus (2012): „Weltbühne“, vor allem S. 86–90. 52 Hierzu siehe unter anderem Berle (1983): Heinrich Mann, vor allem S. 84–114. 53 Siehe dazu die instruktiven Ausführungen von Almai (2005): Expressionismus, vor allem S. 201–251. 54 Auf der dritten Vollversammlung des Arbeiterrats Groß Stuttgart am 25. November 1918 kam auch der Repräsentant des Stuttgarter „Rats der geistigen Arbeiter“, Dr. Bernath, zu Wort, vgl. Kolb / Schönhoven (Bearb.) (1976): Räteorganisationen, S. 56. 55 Vgl. die Rede von Bonatz vom 26. November 1918, ebd., S. 66f. 56 Vgl. Manns Tagebucheintragung vom 10. Dezember 1918, bei Mann (1979): Tagebücher, S. 105 (dort auch das vorige Zitat).

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4. VERFLOGENER ZAUBER DES DEMOKRATISCHEN NEUANFANGS Die entschiedenen Revolutionäre hatten Deutschland von Grund auf verändern wollen. Daher wollten sie sich nicht mit der Abschaffung der Monarchie begnügen, sondern zielten darauf ab, die liberaldemokratischen Formen der Repräsentation des Volkswillens einzuschränken und zugleich die auf der bürgerlichen Eigentumsordnung beruhende Wirtschaftsordnung anzutasten. Die Forschung hat sich lange auf den politischen Systemwettbewerb zwischen einer parlamentarisch zentrierten Demokratie und dem Rätemodell konzentriert. Dabei ist ein Aspekt unterbelichtet geblieben, den es bei dieser Gelegenheit zu vertiefen gilt: dass nämlich der demokratische Neuanfang in Deutschland unter besonderen performativen Vorzeichen stand, weil die bewährten und seit Jahrzehnten erprobten Formen parlamentarischen Redens politisch aufgewertet wurden wie nie zuvor in der Geschichte des deutschen Nationalstaats. Gewiss bot auch der Reichstag des kaiserlichen Deutschlands wie die Landtage der Einzelstaaten ausreichend Gelegenheit, durch öffentlichkeitswirksame Reden die politische Agenda auch der Regierung zu beeinflussen.57 Doch fehlte diesen Akten des genuin parlamentarischen Redens eine entscheidende Voraussetzung, um ihre politische Durchschlagskraft zu verstärken: Reden im Reichstag enthielten keine großen politischen Entwürfe, sie wollten nicht die Linien zukünftiger Entwicklung abstecken, weil die kaiserliche Regierung dem Reichstag gegenüber nicht politisch im dem Sinne verantwortlich war, dass sie aus dem Schoße des Parlaments und dessen Majorität heraus konstituiert worden wäre. Als im Weimarer Nationaltheater58 die am 19. Januar 1919 von den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern gewählten Abgeordneten zusammenkamen, um für die erste deutsche Demokratie eine Verfassung auszuarbeiten, hatten sich die Akzente gravierend verschoben. Nun konnte sich die Konstituante mit Fug und Recht als Zentralorgan der politischen Willensbildung betrachten – und damit wurde sie zugleich zur Tribüne, auf der sich der Volkswille – auf den sich alle Parteien, wenngleich mit feinen Differenzen und überformt von einer aus dem Kaiserreich übernommenen Einheitsvorstellung permanent beriefen – im parlamentarischen Willensbildungsprozess formte.59 Dies ist ein klassisches Muster, das sämtlichen parlamentarisch zentrierten Systemen zu eigen ist. Was die Weimarer Nationalversammlung allerdings weit über das parlamentarische Normalverfahren hinausgreifen ließ, war der Umstand, dass   57 Vgl. zur Rhetorik im Reichstag Goldberg (1998): Bismarck; zur hohen medialen Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Reichstagsdebatten und Redner Biefang (2009): Die andere Seite, S. 66–96; Göttert (2015): Mythos Redemacht, S. 198–205. 58 Vgl. zur Entscheidung über diesen Ort, die sich aus sicherheits-, zweckmäßigkeits- und symbolischen Aspekten zusammensetzte Holste (2000): Tagungsort; allgemein auch Richter (1994): Verfassungsgebung. 59 Vgl. zu den kommunikativen Bedingungen und dem Kommunikationsverhalten in der Nationalversammlung mit Fokus auf die Verfassungsdebatten: Bollmeyer (2007): Weg, S. 185–373; ders. (2010): „Volk“.

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sie sich in die Weltgeschichte der Demokratie einschreiben und eine spezifisch Weimarer Gravur hinterlassen wollte. Die Parlamentarier begriffen sich mithin keinesfalls als Insolvenzverwalter des bankrotten Kaiserreichs, sondern gewissermaßen als dynamisches Start-up-Unternehmen, das den Weltmarkt mit einem Demokratiemodell made in Germany erobern wollte. Historisch knüpften sie in gewisser Weise an die französische Konstituante des Jahres 1789 an, die sich zum Sprachrohr des Willens der Nation ausgerufen hatte mit dem Anspruch, im Gefolge der Revolution eine politische Zeitenwende einzuleiten. Der historisch naheliegendere Parlamentarismus der Paulskirche des Jahres 1848 stand weniger Pate – eben weil die Nationalversammlung der deutschen Republik parteiübergreifend mit der Vorstellung sympathisierte, das Demokratiemodell durch einen spezifisch deutschen Beitrag anreichern zu können und zwar dadurch, dass man das Erbe des deutschen Konstitutionalismus, den Sozialstaat, mit dem westlichen Modell des Parlamentarismus verband und so ein Modell sozial-liberaler Demokratie etablierte, das in der Welt seinesgleichen suchte.60 Für den Vater der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß etwa, war im August 1919 klar, dass die „moderne Demokratie [...] stark sozial betont sein“ müsse und er erkannte im „soziale[n] Recht“ einen der „Leitgedanken der Verfassung von Weimar“.61 Durch solche Aussagen trugen die Republikaner „dazu bei, dem deutschen Sozialstaat eine neue, demokratisch-reformerische Identität zu geben“62 – allerdings zu dem Preis, dass die Legitimität der Republik seitdem auch an der Erfüllung sozialpolitischer Standards gemessen werden konnte. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 führte den Bürgern die Grenzen des Sozialstaats nur allzu deutlich vor Augen, so dass sich solche hehren Ansprüche in Argumente gegen die Demokratie verwandeln ließen.63 Insofern standen die politischen Debatten in Weimar nicht im Schatten der Bewältigung eines verlorenen Krieges, wie man es möglicherweise hätte erwarten können. Vielmehr wurde Demokratie als „Zugewinngemeinschaft“64 proklamiert, aus der alle Schichten des Volkes nur Nutzen ziehen würden. Erstaunlich ist, dass im Modus der Verheißung auch dann noch geredet wurde, als im Mai 1919 die Siegermächte dem Deutschen Reich überaus harte Friedensbedingungen auferlegt hatten, gegen die sich ein parteiübergreifender Sturm der Entrüstung erhoben hatte. Der Theologe Ernst Troeltsch, einer der scharfsinnigsten Diagnostiker seiner Zeit, hat wenige Wochen nach der Oktroyierung der Friedensbedingungen das vielzitierte Diktum geprägt, wonach sich die Deutschen vom November 1918 bis zum Mai 1919 in einem „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ befunden hätten, „wo jeder sich ohne die Bedingungen und realen Sachfolgen des bevorstehenden   60 Vgl. Schönhoven (2012): Weimarer Republik, hier vor allem S. 24–31; Mai (2012): Verpflichtung; Pyta (2012): Kommentar. 61 Preuß (1919): Verfassungswerk, Zitate S. 427, S. 428 (Hervorhebungen i. O.). 62 Nolte (2012): Demokratie, S. 219. 63 Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik, S. 132–137; Ritter (1990): Sozialstaat; Schumann (2012): Bewährung S. 83–101; Pyta (2012): Kommentar. 64 Müller (2014): Weltkrieg, S. 11.  

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Friedens die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte“.65 Troeltsch hatte dabei die Mahnung ausgesandt, dass solche Gedankenflüge mit der erzwungenen Annahme des Versailler Vertrags vorbei sein sollten und man sich den Luxus hochfliegender Wunschvorstellungen nicht mehr leisten dürfe. Doch weit gefehlt! Als der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Gustav Bauer, „ein Verkünder demokratischer Visionen“66, am 23. Juli 1919 vor der Nationalversammlung eine Bilanz der Verfassungsarbeit der Konstituante zog, war er weit entfernt davon, dieser Arbeit das pflichtschuldige Lob zu spenden, das man von dem obersten Vertreter der republiktragenden Parteien erwartet hätte. Bauer verstieg sich zu einer Eloge, die angesichts der Problemlast der Republik eine schwere Hypothek aufbürdete und Nebenwirkungen erzeugen konnte, auf die gleich noch einzugehen sein wird. Bauer pries die „demokratischen Errungenschaften“ seit der Novemberrevolution und reklamierte für Deutschland nicht weniger als die Spitzenposition in Sachen Demokratie: „Kein anderes Volk kann sich solch reiner Demokratie rühmen“. Und auch angesichts der wenig verheißungsvollen Friedensbedingungen betätigte sich Bauer als unerschütterlicher Optimist, der „nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen“ beschwor, sondern auch darauf baute, dass Deutschland in der internationalen Staatengemeinschaft einen geachteten Platz einnehmen werde, sofern dort „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern“ herrschten, die durch den „Völkerbund“ verbürgt würden.67 Gustav Bauer stand mit seinem Eigenlob nicht allein. Ihm assistierten prominente Exponenten der frisch aus der Taufe gehobenen Republik, bei denen es sich im Regelfall zudem um in der Wolle gefärbte Parlamentarier handelte, die den Modus parlamentarischen Sprechens beherrschten. Es ist verblüffend, wie diesen Parlamentariern der Rollentausch glückte und sie voller Euphorie über die neuen Gestaltungsmöglichkeiten an dem dazu berufenen Ort – der Konstituante – aufriefen, nach den Sternen zu greifen. Ausgerechnet das im Weltkrieg besiegte Deutschland sollte der Welt in verfassungspolitischer Hinsicht Vorbild sein – nämlich, wenn es darum ging, über die politische Demokratie hinaus der Welt die „wirtschaftliche Demokratie“ zu schenken und damit die Staatsaufgaben massiv auszudehnen. Reichsminister Eduard David, ein Exponent des reformerischen Flügels der Sozialdemokratie, wusste um die Aufgabe, die er damit der Nationalversammlung auflud. Aber ihn fürchtete diese Herausforderung nicht, so dass er sich am 4. März 1919 in der Weimarer Nationalversammlung zu diesem Experiment bekannte: „Wir

  65 Troeltsch (1919): Nach der Entscheidung, S. 131. 66 Vgl. Müller (2017): Gustav Bauer. 67 Alle Zitate gemäß der Rede Bauers vom 23. Juli 1919: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, Zitate S. 1844 sowie S. 1852; siehe auch Müller (2014): Weltkrieg, S. 87.  

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haben kein Vorbild, hier betreten wir Neuland, und hier, meine Damen und Herren, hat das deutsche Volk eine nationale Weltmission zu erfüllen“.68 Es fällt angesichts solcher Aussagen schwer, die Kontinuitäten zwischen den globalen Ambitionen des wilhelminischen Kaiserreichs und dem Sendungsanspruch der Republikaner zu übersehen. Seitdem Kaiser Wilhelm II. den Thron bestiegen hatte, machte er sich zum Sprachrohr einer inhaltlich relativ unbestimmten „Weltpolitik“, die mit dem Globalisierungsschub korrespondierte, den das Reich und die Welt um die Jahrhundertwende erlebten.69 Insbesondere die Flottenrüstung avancierte zu einem erwartungsgeladenen Projekt, welches der immer wieder ausgerufenen Weltpolitik unmittelbare Anschauung verlieh, die durch aufwendige Inszenierungen auf Anklang bei vornehmlich bürgerlichen Schichten traf.70 Es lässt sich vermuten, dass – während das wilhelminische Flottenprojekt spätestens im Weltkrieg enttäuschte – eine Erwartungstransformation eintrat, welche sich nun auf positiv aufgeladene „Erwartungsbegriffe“71 wie Demokratie oder Parlamentarisierung richtete.72 Der kulturelle und politische Sendungsanspruch dagegen blieb ungebrochen. Ernst Troeltsch hielt in einer eindringlichen Rede aus dem Jahre 1919 seinen Landsleuten den Spiegel vor: „Kaum haben die Leute sich erholt von der entsetzlichsten Niederlage, so wollen sie gleich auch wieder die geistige Führung der Welt haben“.73 Während die alten Erwartungen lediglich zu herben Enttäuschungen geführt hatten, konnten die Republikaner nun ein neues Projekt anbieten, das positive Erwartungen zu bündeln vermochte.74 Dabei drängt sich die Frage auf, woher dieser Zukunftsoptimismus kam. Hätte man sich angesichts der gar nicht absehbaren Folgen des verlorenen Krieges nicht bescheidenere Ziele setzen und damit die Erwartungen an die Republik dämpfen sollen? Warum überfrachtete man den demokratischen Neubeginn mit solchen hochfliegenden Plänen?   68 Rede Davids vom 4. März 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, S. 501 (dort auch das vorherige Zitat). 69 Vgl. Conrad / Osterhammel (Hrsg.): Kaiserreich; ders. (2006): Globalisierung; ders. (2008): Transnational Germany; Ullrich (2000): Zukunft; Braun (1992): Welt, S. 488–509. 70 Vgl. hierzu die auf Erwartungsweckung fokussierte Analyse bei Rojek (2017): Versunkene Hoffnungen, S. 63–77, S. 83–93, S. 100–107. 71 Vgl. Koselleck (2010): Geschichte der Begriffe, S. 68–70; vgl. zur Attraktivität u. Verbreitung des Demokratiebegriffs im Kontext der Revolution 1918/19: Meier et. al.: Demokratie, S. 896f. 72 Hoffnungen auf eine grundlegende Neugestaltung von Innen- und Außenpolitik durch Parlamentarisierung und Demokratisierung internationaler Organisationen insbesondere des Völkerbundes kennzeichneten auch einige politische Entwürfe sozialdemokratischer Provenienz in der Weimarer Republik, insbesondere Hermann Müllers. Auch hier zeigt sich ein in unterschiedlichen Graden entwickelter Zukunftsoptimismus, der auf Demokratie und Parlamentarisierung setzt, wenngleich ohne ein ähnlich ausgeprägtes, deutsches Sendungsbewusstsein an den Tag zu legen. Vgl. zu diesen Plänen Behring (2016): Weltfriedensordnung. 73 Auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei am 15. Dezember 1919: Bericht (1920), S. 169. 74 Vgl. zu den Enttäuschungen der Öffentlichkeit, den Erwartungstransformationen auf Seiten der politischen Unterstützer des Flottenprojekts und den langfristigen Konsequenzen ausführlich Rojek (2017): Versunkene Hoffnungen, v. a. S. 220–425.  

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In erster Linie sollte man in Rechnung stellen, dass auf sozialdemokratischer wie auf liberaler Seite allem Anschein nach ein teleologisches Geschichtsbild dominierte, das von ungebrochener Fortschrittsgläubigkeit geprägt war.75 Nun, da der preußische Obrigkeitsstaat und die fortschrittsfeindlichen Eliten aus Adel und Großgrundbesitz nicht mehr das Sagen hätten, könnten sie Deutschland nicht länger an der Erfüllung seiner zivilisatorischen Mission hindern – auf diese Formel könnte man dieses Musternarrativ bringen. Darin offenbart sich das Erbe des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts, in dem Wissenschaft und Technik gerade in Deutschland wahre Triumphe gefeiert hatten. Zu welchen zivilisatorischen Höhen könnte sich das deutsche Volk emporheben, wenn die politischen Fesseln entfielen, die es bislang an der Entfaltung seines politischen Potentials gehindert hatten? Wenn man so will, war es eine Sonderwegsthese avant la lettre, die bei Liberalen und Sozialdemokraten im Raume stand. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Hypothek eines vermeintlichen preußischen Militarismus den demokratischen Neubeginn nicht belastete. Mit der Monarchie schien auch das Militär als kulturelles Kraftzentrum und symbolspendendes Reservoir ausgedient zu haben. In dieser Auffassung wurden die Weimarer Demokraten bestärkt durch die obersten Repräsentanten des Militärs selbst. Den kompromittierten Exponenten der alten Militärelite hatte es vorerst die Stimme verschlagen; ihr Exponent Erich Ludendorff hatte sich nach Schweden geflüchtet, alle anderen verharrten im inneren Exil. Damit war die Bahn frei für kooperationswillige und demokratiekompatible Militärs wie Oberst Walter Reinhardt, der im Juli 1919 als preußischer Kriegsminister amtierte und die Nationalversammlung ausdrücklich in ihrem Vorhaben bestärkte, den deutschen Namen nach außen in Zukunft mit Errungenschaften einer sozialen Demokratie zu schmücken anstatt das deutsche Image über militärische Großtaten zu pflegen. Reinhardt führte am 19. Juli 1919 in Weimar hinsichtlich des internationalen Wettbewerbs, dem sich Deutschland künftig zu stellen habe, das Folgende aus: In diesem werde „das deutsche Volk in freiheitlicher sozialer Betätigung eine neue Höchstleistung unter den Kulturvölkern aufstellen [...], an deren Spitze es sich bisher in kriegerischen Leistungen befunden hatte. Fürwahr ein kühner Gedanke, deutschen Könnens würdig!“76 Reinhardt fiel eine solche Absage an die imageprägende Kraft des Militärischen auch deswegen leicht, weil er ein in Stuttgart geborener Württemberger war, der nicht fest in der Tradition preußischer Militärgeschichte verwurzelt war und daher auf einen kulturellen Hegemonieanspruch des Militärischen leicht verzichten konnte. Das Gros der Republikaner erweckte im Jahre 1919 den Eindruck, dass ein von der Erblast der preußisch-deutschen Geschichte befreite Republik in Sachen Demokratie so richtig durchstarten könne. Es winkte demnach die historisch einmalige Chance, Versäumnisse der deutschen Nationalstaatsgründung von 1871 wettzumachen und Strukturdefizite des Kaiserreichs zu beseitigen. Hierzu zählte nicht zuletzt   75 Vgl. Hölscher (1989): Weltgericht. 76 Rede Walter Reinhardt, 19. Juli 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1729.

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die Errichtung eines wirklichen Einheitsstaates, in dem einzelstaatliche Souveränität keinen Platz mehr haben und zugleich auch die Sonderrolle Preußens beseitigt werden sollte. Hierzu fühlte sich die Weimarer Nationalversammlung auch deswegen berufen, weil die Revolution dieses Thema nicht erledigt und die föderalistische Struktur des Reiches nicht angetastet hatte. Es war der aus Köln stammende Liberaldemokrat Bernhard Falk77, der diesen Gedankengang am 22. Juli 1919 besonders pointiert artikulierte. Falk führte aus: Die großen Gedanken und hohen Erwartungen, die bei Beginn der Revolution diejenigen durchglühten, die nicht Mitträger der Revolution werden wollten, die antirevolutionär blieben, die aber bereit waren, sich auf den Boden dessen zu stellen, was nun Geschichte geworden war – diese großen Gedanken eines unitarischen Deutschlands sind […] durch die Revolution nicht verwirklicht worden.

Aber die Nationalversammlung werde diese Versäumnisse nachholen; denn „heute marschiert der Gedanke des Unitarismus“.78 Bei solch ambitioniertem Pläneschmieden verlor man aus dem Auge, auf welch schmaler Ressourcenbasis der Weg in die erste deutsche Demokratie angetreten worden war. Gewiss war es verständlich, wenn sich die Begründer der ersten deutschen Demokratie mit Idealismus an ihr Werk machten. Doch jedem Neuanfang wohnt nicht nur ein Zauber, sondern auch eine strukturelle Gefahr inne! Diese Gefahr besteht darin, dass Erwartungen und Erfahrungen so auseinanderklaffen, dass anfänglich geschürte Erwartungen durch wenig berauschende Erfahrungen nicht nur gedämpft werden, sondern das gesamte politische System samt dessen Repräsentanten beschädigen. Wir verdanken einem der anregendsten Geisteswissenschaftler, Reinhart Koselleck, zwei Schlüsselbegriffe – „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“79 –, mit denen sich analytisch der Frage nachspüren lässt, was passiert, wenn sich überschäumende Erwartungen nicht einlösen lassen und den Erfahrungstest nicht bestehen. Der Historiker Sebastian Rojek hat den Ansatz von Koselleck in diesem Sinne weiterentwickelt und diese Konstellation mit dem Begriff „Enttäuschung“ markiert. „Enttäuschung“ eignet sich als eine präzise Analysekategorie, weil dieser Begriff den Umschlagpunkt zwischen Erfahrung und Erwartung erfasst.80 Selbstverständlich darf man diese Kategorie nicht inflationär gebrauchen und auf diese Weise verwässern. Doch ein kluger, restriktiver Gebrauch des Terminus „Enttäuschung“ wirft einen erheblichen Mehrwert für eine politische Kulturgeschichte dessen ab, was man in Anschluss an Sebastian Rojek „Erwartungsmanagement“ nennen könnte.81 Politiker sind demnach gut beraten, wenn sie gerade zu Beginn ihres Amtes Erwartungen eher dämpfen als schüren, weil sie die   77 Vgl. zu Person, Biographie und politischer Verortung Stalmann (2012): Einleitung. 78 Rede Bernhard Falk, 22. Juli 1919, in: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1803. 79 Vgl. Koselleck (1989): „Erfahrungsraum“. 80 Rojek (2017): Versunkene Hoffnungen, hier vor allem S. 4: Enttäuschung sei „die Kollision einer positiven Erwartung mit einer negativen Erfahrung“. 81 Vgl. zu diesem Terminus und seinem Potential ebd., vor allem S. 18 und S. 115.

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Fallhöhe bewusst reduzieren, indem sie den Abstand zwischen Erwartung und Erfahrung gezielt verringern. Legt man den Maßstab kommunikativen Erwartungsmanagements an die Beratungen der Weimarer Nationalversammlung an, dann wird man nüchtern konstatieren müssen, dass die führenden Repräsentanten der ersten deutschen Demokratie die kommunikative Beherrschbarkeit dessen, was sie als hehre politische Zielvorgaben proklamierten, aus der Hand gaben. Sie traten mit einem ambitionierten politischen Programm an, obgleich Weitblickende hätten erkennen können, dass ihnen die Hände gebunden waren und sie im eigentlichen Sinne nicht souverän über die Verwirklichung ihres Programms verfügen konnten. Gewiss ist in Rechnung zu stellen, dass man in Weimar ein Demokratiegebäude gewissermaßen für die Ewigkeit errichten wollte. Dies unterschied Weimar strukturell grundlegend von der Bonner Republik, die sich zunächst ausdrücklich als Provisorium verstand und daher zumindest der Theorie nach nur für ein Interim eine brauchbare Zwischenlösung anstrebte. „Festgemauert in der Erden“ sollte das werden, was nach dem Willen der übergroßen Mehrheit der Weimarer Parlamentarier in der Stadt Schillers und Goethes begründet wurde. Es lohnt sich, den Start der Weimarer Republik 1919 mit dem der französischen Republik 1870/71 zu vergleichen. In beiden Fällen hatte die militärische Niederlage eines Kaiserreichs den Weg zur Republikgründung geebnet. Doch was den französischen Fall strukturell vom deutschen Exempel unterschied, war das wesentlich höhere Gefahrenbewusstsein für das kostbare Gut Republik. Obgleich sich Frankreich seit der Französischen Revolution als Ursprungsland zivilisatorischer Weltmissionen sah82, fehlte dem republikanischen Neuanfang das Pathos, welches in Debatten der Weimarer Nationalversammlung mitschwang. Denn die Lage der Republik in Frankreich war politisch prekär, weil die Wahlen zur Konstituante am 8. Februar 1871 eine monarchistische Mehrheit hervorgebracht hatten. Damit stand die Republik geraume Zeit unter dem politischen Vorbehalt, dass bei einer Einigung der Republikgegner die Restauration der Monarchie drohte. Dieser Vorbehalt führte dazu, dass die Republikaner auf kühne Zukunftspläne weitgehend verzichteten und damit ihrem Projekt keine übermäßigen Erwartungen aufbürdeten. Dass die Republik in Frankreich trotz allem gedieh und sich nach schwierigen Anfängen stabilisierte, wird man nicht zuletzt dem Umstand zuschreiben dürfen, dass die Republikaner um ihre prekäre Ausgangslage wussten.83 Ganz anders sah es in Deutschland aus: Die Monarchie war diskreditiert; und bei den Wahlen zur Konstituante waren monarchiefreundliche Parteien in einer klaren Minderheitenposition verblieben. Insofern konnten die deutschen Republikaner   82 Vgl. Jeismann (1992): Vaterland, v. a. S. 113–132 und S. 377f. 83 Vgl. Kolb (1989): Weg, S. 358f.; interessante mentalitätsgeschichtliche Perspektiven bietet Schivelbusch (2001): Kultur der Niederlage, S. 123–224; differenziert zur Stabilisierung der Republik Engels (2007): Geschichte, S. 15–34; Winkler (2009): Geschichte des Westens, S. 817–825.  

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selbstbewusst mit den alten Gewalten abrechnen und den verbliebenen Herzensmonarchisten vorhalten, dass in dem kollektiven Kurzzeitgedächtnis das Schuldkonto der Monarchie gefüllt war.84 Die Weimarer Republik schien ohne echte Gefährdung durch Verfechter des untergegangenen Systems ihren souveränen Weg einschlagen zu können – und auch daher wollten die deutschen Republikaner nach den Sternen greifen. Die Revolution hatte nach allgemeiner Einschätzung so gründlich gesiegt und die alten Autoritäten hinweggefegt, dass eine Konstellation entstehen konnte, in der kommunikative Selbstbeschränkung und Drosselung von Erwartungen nicht hoch im Kurs standen. Dass damit ein fruchtbarer Nährboden für eine breite gesellschaftliche Gruppen erfassende „Enttäuschung“ – um diese ergiebige Kategorie an dieser Stelle ein weiteres Mal anzuwenden – geschaffen wurde, bedeutete für den Beginn der ersten deutschen Demokratie eine schwere Belastung. Zugrunde gegangen ist die Weimarer Republik an dieser Enttäuschungshypothek nicht; aber als Belastungsfaktor sollte sie ernst genommen werden. LITERATUR Almai, Frank: Expressionismus in Dresden. Zentrenbildung der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Dresden 2005. Anderson, Margaret Lavinia: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009. Aulke, Julian: Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918–1920 (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 31), Stuttgart 2015. Ay, Karl-Ludwig (Hrsg.): Appelle einer Revolution. Dokumente aus Bayern zum Jahr 1918/1919, München 1968. Behring, Rainer: Weltfriedensordnung durch Parlamentarisierung. SPD und Parlamentarismus in den internationalen Beziehungen 1923–1932, in: Detlef Lehnert (Hrsg.): SPD und Parlamentarismus. Entwicklungslinien und Problemfelder 1871–1990 (Historische Demokratieforschung, Bd. 9), Köln / Weimar / Wien 2016, S. 163–184. Bericht über die Verhandlungen des 2. ausserordentlichen Parteitages der Deutschen Demokratischen Partei, abgehalten in Leipzig vom 13. – 15. Dezember 1919, Berlin 1920. Berle, Waltraud: Heinrich Mann und die Weimarer Republik, Bonn 1983. Bessel, Richard: Die Heimkehr der Soldaten: Das Bild der Frontsoldaten in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik, in: Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hrsg.): „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 221– 239. Biefang, Andreas: Die Reichstagswahlen als demokratisches Zeremoniell, in: ders. / Michael Epkenhans / Klaus Tenfelde (Hrsg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871– 1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 153), Düsseldorf 2008, S. 233–270.

  84 Vgl. die Reden des sozialdemokratischen Abgeordneten Adolf Braun, 22. Juli 1919 sowie des Reichsministerpräsidenten Bauer, 28. Juli 1919, Verhandlungen der NV, Bd. 328, S. 1824 sowie S. 2017. Vgl. zur Entwicklung des monarchistischen Lagers in der Weimarer Republik: Gaertringen (1980): Monarchismus; Arne Hoffmann (2006): Obsoleter Monarchismus.

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Wolfram Pyta

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„DIE ABDANKUNG UNSERES KAISERS HAT MICH NICHT BESONDERS GETROFFEN...“ Emotionen, Erwartungen und Teilhabe an der deutschen Revolution 1918/19 Nadine Rossol Der siebzehnjährige Essener Schüler Hans Arnswald bemerkte lakonisch in einem Aufsatz, den er Ende November 1918 verfasste, dass die Kaiserabdankung am 9. November 1918 ihn kaum berührte hatte – im Gegensatz, so Arnswald, zu seinen Mitschülern.1 Der Schulleiter der Volksschule Essen-Borbeck teilte diese Gelassenheit nicht. Er hielt in seiner Schulchronik im Januar 1919 erschüttert fest, dass es nun keine Schulfeier mehr zum Kaisergeburtstag geben werde.2 Und während die junge Kindergärtnerin Anna Maria J. ihre Begeisterung über die Revolution in ihrem Tagebuch aufschrieb und bedauerte, dass sie in einem streng konservativen Haus arbeitete, schmerzte es den Karlsruher Verwaltungsdirektor Bernhard Gissler, dass das Deutsche Reich – „das Werk Bismarcks“ – nur 48 Jahre gehalten hatte.3 Ob Begeisterung, Ablehnung oder Verunsicherung, der Ausbruch und Verlauf der Revolution schürte Emotionen und irritierte Erwartungen. Dies galt auch für die, die auf dieses Ereignis hingearbeitet hatten. Noch am 3. November 1918 verständigten sich Essens Spartakisten darüber, dass die Vorbereitung für eine Revolution nicht weit genug vorangeschritten war.4 Fünf Tage später hatten die Ereignisse die Stadt im Ruhrgebiet erreicht. Die Revolution überraschte nicht nur, sie verlief auch nicht wie historische Beispiele es vermuten ließen. Der Erfahrungsraum und Erwartungshorizont vieler Deutscher passte im November 1918 nicht mehr zusammen.5 Bislang spielten Erwartungen, Erfahrungen, und Emotionen – darunter Ängste, Hoffnungen ebenso wie Verlustgefühle – in der geschichtswissenschaftlichen For 

1 2 3 4 5  

Mein Dank geht an die British Academy, die meine Forschung für dieses Projekt mit einem British Academy Small Grant unterstützt hat. Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus, S. 136: H. Arnswald, Meine Landarbeit in Pommern im Revolutionsherbst, 27.11.1918. Stadtarchiv Essen, 200 Nr. 20, Schulchronik der evangelischen Schule Borbeck I, Bl. 55 (Rückseite), Überschrift: Der 27. Jan. 1919 – zum erste Male ohne Schulfeier. Deutsche Tagebuch Archiv Emmendingen, Sign. 2189,2 und Sign. 1875, 1, Tagbücher 1917– 1922, 6.11.1918. Macher (1978): Rätebewegung und politische Arbeiterbewegung 1918/19 in Essen, S. 55 Dieses Begriffspaar geht auf R. Koselleck zurück.

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schung zur Revolution 1918/19 keine große Rolle. Der Fokus lag auf den Gestaltungsmöglichkeiten der politischen Akteure und darauf, wie sie mit der neuen Macht umgingen.6 Damit blieben individuelle Reaktionen auf die Umbruchsphase im Winter 1918/19, die sich in Tagebüchern, Briefen, Aufsätzen oder Eingaben an Behörden finden lassen, oft unbeachtet.7 Ein Blick auf diese Quellenarten ist auch deshalb wichtig, weil sie Alltagserfahrungen aus der Revolutionszeit enthalten und Versuche der Teilhabe und Mitgestaltung, des Verstehens und des Nutzen der neuen Situation aufzeigen. Frauenrechtlerinnen, so die Historikerin Kathleen Canning in ihren Arbeiten, hatten oft ein positives Verhältnis zu dem durch die Revolution Erreichten.8 Im Gegensatz dazu stehen Memoiren, Tagebücher und autobiografische Darstellungen von männlichen Politikern der politischen Linke, die die Revolution häufig als zu ordentlich, zu gesittet und zu wenig radikal bezeichneten.9 Doch ob negativ oder positiv, vielleicht wurde bei individuell formulierten Aktions- und Interpretationsentwürfen gar nicht so groß geträumt oder so viel erwartet.10 Die westdeutsche Industriestadt Essen soll hier als Beispiel dienen für die Beschreibung von Teilhabe, Emotionen und Erwartungen an die Revolution und für die Einschätzungen der Umbruchsphase 1918/19. Schüleraufsätze, Schulchroniken, Behördeneingaben sowie Tagebücher stehen im Mittelpunkt, um Aktions- und Interpretationsräume auszuloten und unterschiedliche Reaktionen und Lebenswege aufzuzeigen. 1. DIE STADT ESSEN UND DIE REVOLUTION: CHANCE ODER UNGLÜCK? Die Revolution in Essen verlief zunächst, wie in vielen anderen deutschen Städten, verhältnismäßig friedlich. Die Stadt war im November 1918 keine sozialdemokra  6

Verschiedenen Aufsätze über die Revolutionsforschung verweisen auf diese Forschungslücke. Gallus (2016): Auf dem Weg zur Reaktualisierung durch Historisierung, S. 9–22; Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19, S. 521–541. Die Konferenz „Living the German Revolution“ am DHI in London (18–20.10.2018) verspricht hier Abhilfe, indem sie sich explizit auf Revolutionserfahrungen konzentriert. 7 Eine Ausnahme sind die Tagebücher von Harry Graf Kessler, die schon ausgiebig genutzt wurden. Der Historiker Martin H. Geyer hat sich schon in seiner wichtigen Arbeit von 1998 mit Erwartungen und Erfahrungen in Umbruchphasen beschäftigt. Leider hat die Forschung über die deutsche Revolution 1918/19 diesen Ansatz lange nicht aufgenommen. Vgl. Geyer (1998): Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914–1924. Für die Formulierung von Zukunftserwartungen vgl. auch den ersten Teil von R. Grafs Studie (2008): Die Zukunft der Weimarer Republik. 8 Vgl. Canning (2015): Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, S. 121–124. 9 Vgl. Föllmer (2018): The unscripted Revolution. 10 Michael Geyer macht diesen Punkt im Gegensatz zu Ernst Troeltsch, der im Juni 1919 vom „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ schrieb, wo sich jeder den Frieden ausmalen konnte, wie er wollte.“ Geyer (2010): Zwischen Krieg und Nachkrieg, S. 195–197.  

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tische oder gar linksradikale Hochburg im Ruhrgebiet, sondern überwiegend katholisch geprägt mit einer starken Zentrumspartei.11 Am Abend des 8. Novembers 1918 besetzten die Revolutionäre – Marinesoldaten aus Köln, Düsseldorf und Hannover – den Essener Hauptbahnhof und errichteten eine Bahnhofkommandantur. Soldaten und Offiziere wurden entwaffnet und schlossen sich schnell den Revolutionären an. Polizei- und Militärgefängnisse wurden geöffnet, während Vertreter der Arbeiterparteien ihr gemeinsames Vorgehen besprachen und Kontakt zur Stadtverwaltung aufnahmen.12 Am 9. November 1918 bestätigte eine Massenversammlung auf dem Sportplatz an der Bismarckstraße den Essener Arbeiter- und Soldatenrat. Rote Fahnen schmückten Verwaltungsgebäude und den Bahnhof, und Nachrichten aus Berlin über die Kaiserabdankung und die Ausrufung der Republik trafen in Essen ein. Ebenfalls am 9. November 1918 wehte die rote Fahne auf dem Krupp-Gebäude. Dies war ein wichtiges Symbol für die Revolutionäre, denn Krupp stand wie kaum ein anderes Unternehmen für die deutsche Rüstungsproduktion des Krieges und die damit verbundenen Machtansprüche.13 Der erste Beigeordnete der Essener Stadtverwaltung Paul Brandis erinnerte sich an die Stimmung in der Stadt am 8. November 1918: Obwohl in Essen alle Gerüchte darin übereinstimmten, dass dieser Ausbruch unmittelbar bevorstand, fand im Saalbau das planmäßige städtische Konzert unter Fiedlers [Dirigent Max Fiedler, N. R.] Leitung statt […] als sich die Saaltüren öffneten und eine große Menge bewaffneter Männer in den Saal stürzte. Ein Mann erstieg das Podium und rief: Die Revolution ist eröffnet, es gibt keinen Militarismus mehr. Das Konzert wurde aber nur ganz kurz unterbrochen.14

Auch Essens Oberbürgermeister, der spätere Reichskanzler Hans Luther, schrieb dass besonders die gute Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung und Arbeiterund Soldatentrat die Revolution in friedliche Bahnen lenkte.15 Mit dieser Behauptung klopfte er sich und seiner Verwaltung selbstgerecht auf die Schulter, denn den Grund der friedlichen und ordentlichen Zusammenarbeit sah er bei der effektiven Arbeit der Stadtverwaltung. Es verwundert nicht, dass die Verwaltungsfachleute Brandis und Luther die Revolution kaum als ein positives Ereignis betrachteten, machte sie doch dringende Probleme, u.a. die Nahrungsmittelversorgung, die Rückkehr der Soldaten oder die Kohleförderung, ihrer Meinung nach, nur noch schwieriger. Oberbürgermeister Luther bemerkte einen deutlichen Gegensatz zwischen seinen Emotionen und denen der Essener Stadtbevölkerung, die seine pessimistische Stimmung nicht teilte. Er betonte:   11 Bajohr (1988): Zwischen Krupp und Kommune, S. 23. 12 Abelshauser (1988): Umsturz, Terror, Bürgerkrieg, S. XIII; Wisotzky (2013): Zwei Essener Karrieren, S. 337–338. 13 Vgl. Bilder von Krupp (2000) S. 265. 14 Brandis (1959): Essener Arbeitsjahre, S.81. 15 Luther (1958): Zusammenbruch und Jahre nach dem ersten Weltkrieg in Essen, S. 25.  

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Nadine Rossol An den folgenden Tagen [nach der Revolution, N.R.] bin ich viel durch die Straßen Essens gegangen, um mir ein Bild von der Wirkung auf die Bevölkerung Essens zu machen. Für mich, der ich das Elend, das uns durch den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung erwartete, in aller Deutlichkeit kommen sah, war es erschütternd, zu beobachten, welch fröhliche Stimmung im Allgemeinen auf den Straßen Essens gerade am Anfang herrschte.16

Luther machte deutlich, dass sein Wissen als Fachmann ihm erlaubte, die Folgen der Revolution besser überblicken zu können. Er bediente damit das Klischee der schnell zu begeisternden, jedoch wenig weitsichtigen Masse. Seine Bemerkungen zeigen allerdings auch deutlich, wie verschiedene Emotionen im Essener Stadtzentrum aufeinandertrafen. Andere begriffen die Revolution und ihre politischen Folgen als Chance für den eigenen Lebensweg. Dr. Gustav Müller-Wolf, Lehrer und Prorektor am evangelischen Lehrerseminar Essen, erfragte die Ansichten seiner Schüler zur Revolution – eine Begebenheit, die in diesem Beitrag noch ausgeführt werden wird – und trat Ende Dezember 1918 in die SPD ein.17 Dies war ein ungewöhnliches Bekenntnis für den Seminarlehrer einer preußischen Ausbildungsstätte, die in den meisten Fällen konservative und der Monarchie nachtrauernde Lehrer versammelte. Preußische Lehrerseminare, ob katholisch oder evangelisch, bildeten Volksschullehrer aus – eine Gruppe Staatsdiener, die im Kaiserreich als Vorbild der nationalen Pflichterfüllung gelten sollte. Viele Seminarlehrer waren entsetzt über die Revolution und ihre Folgen.18 Müller-Wolf hingegen machte seinen SPD-Eintritt mit der Darlegung seiner Gründe in der sozialdemokratischen Essener Arbeiter-Zeitung öffentlich. Unter der unmissverständlichen Überschrift „Wie ich Sozialdemokrat wurde“ beschrieb Müller-Wolf seinen Weg aus „einer bürgerlichen Beamtenfamilie“ zu den Sozialdemokraten, wobei er dem Krieg und der Revolution eine hohe Bedeutung zuwies, die ihn die politische Teilnahme anstreben ließ.19 Müller-Wolf war nicht nur Parteimitglied, er wurde bei den Kommunalwahlen in Essen im März 1919 für die SPD in die Stadtverordnetenversammlung gewählt.20 Er wollte, dass die neuen schulpolitischen Veränderungen das Lehrerseminar erreichten. In einer Unterredung mit dem Direktor des Essener Seminars im März 1919 betonte Dr. Müller-Wolf die Bedeutung seiner politischen Arbeit, der er nun mehr Zeit widmen wollte. Denn er fand „die Revolution ist viel wichtiger als der Krieg, viel wichtiger als viele Kriege zusammen und wir sind jetzt verpflichtet unsere Kraft in erster Linie in den Dienst der Revolution zu stellen.“21 Die Revolution   16 Luther (1958): Zusammenbruch und Jahre nach dem ersten Weltkrieg in Essen, S. 22–23. 17 Arbeiter-Zeitung, Nr. 303, 27.12.1918, Wie ich Sozialdemokrat wurde (Dr. Gustav MüllerWolf). 18 Reissig (1989): Die Lehrerseminare in Preußen, S. 302–305. 19 Arbeiter-Zeitung, Nr. 303, 27.12.1918, Wie ich Sozialdemokrat wurde. 20 Landeshauptarchiv Koblenz, Best. 405, Nr. 1511, (unpaginiert) Königliches Provinzialschulkollegium Coblenz 4.6.1919 an Minister für Wissenschaft, Kunst u. Volksbildung Berlin. Betr: Forderung des Prorektors Dr. Müller auf Entlassung im Hauptamt aus Anlass seiner Wahl zum Stadtverordneten. 21 Landeshauptarchiv Koblenz, Best. 405, Nr. 1511, Anlage 4, S. 14, 19.3.1919.  

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wurde hier als vielversprechende Möglichkeit für positive Veränderungen interpretiert. Den Kollegen Müller-Wolfs erschien sie allerdings wie ein kaum zu erklärender politischer Unfall mit inakzeptablen Folgen für die Schulpolitik. Mehr Teilnahme und Mitbestimmung für seine Schüler kommentierte der Essener Seminaroberlehrer Meyer mit den Worten: „Auch bin ich nicht gewillt, die Unterrichtsstunde mit Parlamentieren über jeden Quark totzuschlagen.“22 Es verwundert daher nicht, dass viele sozialdemokratische Reformversuche für Lehrerseminare und andere höhere Schulen am Widerstand der Lehrerkollegien, der lokalen Schulaufsichtsbehörden, der Elternschaft und der Schüler scheiterten.23 2. „DIE ABDANKUNG DES KAISERS HAT MICH NICHT BESONDERS GETROFFEN…“ ESSENER SCHÜLER SCHREIBEN ÜBER DIE REVOLUTION Anfang Dezember 1918 wurde in einem Essener Klassenzimmer über das Weltkriegsende und die Revolution nachgedacht, da der Seminarlehrer des evangelischen Lehrerseminars Dr. Müller-Wolf seine Schüler Aufsätze zu dem Thema „Revolution im Ruhrgebiet“ schreiben ließ. Hierbei wurden nicht nur die Beschreibung von Emotionen deutlich, sondern auch die Versuche der Schüler, die überraschenden Ereignisse des Winters 1918 in eine geordnete Erzählung umzuwandeln.24 Die Schüler des evangelischen Lehrerseminars Essen waren männliche Jugendliche von 16 bis 17 Jahren, die sich in ihrer Ausbildung zum Volksschullehrer befanden.25 Dieser Beruf war ein Aufsteigerberuf für sie, ihre Väter waren oft Facharbeiter, Handwerker und niedrige Angestellte in der näheren Umgebung – oder wie es Müller-Wolf über die Elternschaft seiner Schüler ausdrückte „Industriearbeiter und sonst kleine Leute.“26 Die Aufsätze wurden benotet, wobei Lehrer Müller-Wolf von inhaltlichen Kommentaren absah und sich auf Anmerkungen zu Sprach- und Grammatikfehlern beschränkte.27 Die Schularbeiten bewegen sich zwischen zwei Extremen, wobei glühende Begeisterung für die Revolution genauso selten war wie völlig Ablehnung. Entsetzten über die Waffenstillstandbedingungen war weit verbreite, aber auch die diffuse Erkenntnis, dass sich etwas ändern musste. Lob für Ruhe, Ordnung und Besonnenheit ging einher mit dem Staunen über den schnellen   22 Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus: Einleitung, S. 46. 23 Donson (2011): The Teenagers’ Revolution, S. 420–446; Weipert (2015): Die Zweite Revolution, S. 258f. 24 Vgl. Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus: Einleitung. Dr. Gustav MüllerWolf stellte seinen Schülern zwei Aufsatzthemen: „Meine Landarbeit in Pommern im Revolutionsherbst“ (26/27.11.1918) und „Revolution im Ruhrgebiet“ (6.12.1918). 25 Die Schülerlisten des Lehrerseminars befinden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. 26 Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus: Einleitung, S. 18. 27 Bei der Notenverteilung für die Aufsätze beschränkte sich Lehrer Müller-Wolf auf die Noten 2 und 3.  

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Verlauf der Ereignisse und über das Tempo der Veränderungen. Das Thema der Aufsätze war außergewöhnlich, besonders weil viele Lehrerseminare die Revolution lieber völlig ignoriert hätten. Neben der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen und der außergewöhnlichen Themenstellung überrascht die emotionale Beschreibung von Erwartungen, Hoffnungen, Vorurteilen, Ungewissheit, Enttäuschungen und Unverständnis in den Arbeiten. Die Schüler verglichen ihre Emotionen und Meinung mit ihrer Umgebung – oft als Abgrenzung zu denen, die ihnen im Essener Stadtzentrum am Revolutionswochenende begegneten.28 Zunächst sahen die Essener Jugendlichen ihre Erwartungen an den Verlauf einer Revolution nicht erfüllt. Keine „russischen Zustände“, kaum Blutvergießen und nahezu überall Ruhe und Ordnung, die so untypisch erschienen für die revolutionären Vorbilder aus dem Schulunterricht. Ein Schüler schrieb: „ganz neu war [an] dieser Revolution wohl, daß sie fast ganz unblutig verlief, eine Tatsache, die ganz ungeheuer erscheint, wenn man z. B. an die große französische Revolution denkt.“29 Die deutsche Revolution irritierte durch ihren ordentlichen Verlauf. Und während die angehenden Essener Lehrer den Beginn der Revolution deutlich benannten, fiel ihnen die Feststellung eines klaren Schlusspunktes deutlich schwerer. Zum Zeitpunkt des Schreibens, am 6. Dezember 1918, war die Revolution vielleicht noch gar nicht völlig beendet. Schüler Adam Adrio trug diesem Umstand Rechnung und bemerkte: „Unstreitig hat die Revolution manches Gute gebracht oder wird es noch bringen, aber in welchem Maße dieses die Schattenseiten überwiegt, wage ich nicht zu entscheiden.“30 Es fielen ihm auch keine positiven Veränderungen durch die Revolution ein. Auch sein Klassenkamerad Heinrich Bohn fand, dass dies erst die Zukunft entscheiden könne, und dann flüchtete er sich in den Allgemeinplatz, dass man trotzdem mithelfen sollte am „Aufbau des entstehenden neuen Deutschland.“31 Eine Nationalversammlung, die offizielle zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht beschlossen war, aber schon seit November 1918 in der Presse diskutiert wurde, wurde häufig als Zukunftskorrektiv vorgeschlagen. Damit stimmten die Schüler allen denen zu, die die Nationalverssammlung als Bollwerk gegen Chaos und Bolschewismus hervorhoben.32 Lehrerseminarist Adolf Schmidt fand, in seinem mit „Hoffnung“ überschriebenen Schlussteil des Aufsatzes, dass die „Pöbelherrschaft“ durch die Nationalversammlung ersetzt werden müsste.33 Sein Klassenkamerad glaubte, dass die Nationalversammlung dazu da war, alle an der Demokratie zu beteiligen.34   28 Vgl. für verschiedene Konzepte der Masse in der Revolution auch Jones (2015): The Crowd. 29 Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus, S. 197: E. Pepping, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. 30 Ebd. S. 173: A. Adrio, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. 31 Ebd. S. 178: H. Bohn, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. 32 Das politische Parteienspektrum, welches eine ähnliche Meinung teilte, reichte von den gemäßigten Linken bis zu den Nationalkonservativen. 33 Rossol (Hrsg.) (2018): Kartoffeln, Frost und Spartakus, S. 202: A. Schmidt, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. 34 Ebd. S. 196: W. Meise, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918.  

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Durch die Revolution Erreichtes, Zerstörtes oder zu Erwartendes nahm bei den meisten Aufsätzen einen viel kleineren Anteil ein, als die detailreiche und emotionale Beschreibung der Ereignisse – außer bei Ernst Pepping, der mit seinen revolutionären Ideen eine Ausnahme blieb. Er schrieb Anfang Dezember 1918 rückblickend auf die Gefühlslage in den Revolutionstagen: In den ersten Tagen der Revolution herrschte eine eigentümliche Stimmung, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit selbst mit den feindlichen Völkern. Man hatte ja auch weiten Spielraum sich die Folgen der Revolution auszumalen. Aus der deutschen Revolution sollte eine internationale werden. […] Doch diese kühnen Träume sind nicht in Erfüllung gegangen und wir müssen uns mit dem begnügen, was die Revolution uns bis jetzt gebracht hat und uns noch zu bringen im Stande ist.35

Hier wurde das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ (Ernst Troeltsch) schon Anfang Dezember 1918 revidiert zu dem, was machbar und realistisch schien. Dazu zählte der Schüler (und später berühmte Kirchenmusikkomponist) Pepping übrigens u.a. die Schulreformen des preußischen Kultusministeriums. Die Schüleraufsätze betonten oft die Fröhlichkeit und die Begeisterung der Essener Bevölkerung, die die Schüler nur bedingt teilen wollten. Karl Leicht bemerkte, dass eine Versammlung von 10.000 Arbeitern ihn so verwirrte und überforderte, dass er erstmal nach Hause ging. „Erst auf dem Heimweg kam ich dazu, einmal darüber nachzudenken, was denn nun eigentlich los sei.“36 Auch Adam Adrio setzte seine Gemütslage in Gegensatz zu dem Rest der Bevölkerung. Als eine Versammlung die Abdankung des Kaisers feierte, stand er aus Neugier dabei und ging „traurig nach Hause.“ Emil Weier beschreibt eine „wehmütige Seelenstimmung“, als er am 9.11.1918 aus der Kirche trat – die dann mit einem „Volkstrubel“ auf der Straße kollidierte.37 Die Schüler beschrieben ihre Teilhabe u.a. durch Abgrenzung zu anderen und sie sahen sich in der Rolle als kritische Beobachter und Chronisten der Geschehnisse in ihrer Heimatstadt. Stadtrundgänge durch Essen wurden angereichert mit angeblich aufgeschnappten Diskussionen und Zitaten, mit genauen Angaben, was man selbst gesehen und was von anderen gehört haben wollte. Veränderungen im Stadtbild wurden notiert – dazu zählten visuelle und akustische. Das Auftauchen der Farbe Rot spiegelte sich in einer großen Mehrheit der Aufsätze. Schüler Hans Erfurth bemerkte ironisch „es schien das Tragen von roten Abzeichen plötzliche Mode geworden zu sein.“38 Die emotionale Abgrenzung und der Versuch sich auf die Rolle des Beobachters und Chronisten einzulassen verdeutlichte auch die Unsicherheit um die eigenen Position der Schüler. Die Essener Seminaristen zählten sich nicht zu denen, die im Ruhrgebiet Revolution machten. Sie kommentierten neugierig und distanziert, mit einem Hauch von Überheblichkeit, wenn sie lobend über „besonnene Arbeiter“, abwertend über „ungelernte Handwerker“ oder Arbeiter  35 36 37 38

Ebd., S. 198: E. Pepping. Ebd. S. 192: K. Leicht, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. Ebd., S. 208: E. Weier, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918. Ebd., S. 180: H. Erfurth, Revolution im Ruhrgebiet, 6.12.1918.

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Frauen schrieben. Diese bedeutete nicht, dass sie die politischen Veränderungen ablehnten, aber es schwierig fanden, mit dem Tempo des Umbruches Schritt zu halten und die ihnen vertraute Welt an diese Veränderungen anzupassen. 3. „DIE REVOLUTION HATTE AUF DEN UNTERRICHTSBETRIEB KEINEN EINFLUSS…“: LEHRER ZWISCHEN ABLEHNUNG UND MITGESTALTUNG Die Veränderungen, die die Revolution in die Schulen bringen sollte, waren enorm, konnten aber nur bedingt umgesetzt werden. Im November 1918 wurde die Leitung des preußischen Kultusministeriums mit dem Sozialdemokraten Konrad Haenisch und dem USPD-Schulpolitiker Adolph Hoffmann besetzt. Dieser Vorgang hatte direkte Auswirkungen auf die Schulpolitik: Bibliotheken und Lehrpläne sollten von kriegsverherrlichender Literatur gereinigt werden, Schülerräte und Schulversammlungen sollten Schülern Teilnahme und Mitsprache sichern und durch Elternbeiräte hofften die Reformer, Eltern und Lehrer besser zu vernetzen. Oft wurden diese Anordnungen nur widerwillig befolgt oder ganz ignoriert – besonders an den höheren Schulen und Lehrerausbildungsanstalten.39 Die größten Proteste gegen die neue Schulpolitik bezogen sich allerdings auf den Religionserlass vom 29. November 1918. Mit diesem Erlass sollte der schulische Religionszwang beseitigt werden, das Schulgebet aufgehoben, der Teilnahmezwang an Gottesdiensten und Religionsunterricht wegfallen, und Religion als Prüfungsfach abgeschafft werden. In einem Schulsystem, welches von den Volksschulen bis zur Lehrerausbildung nach Konfessionen gegliedert war, empfanden Katholiken und Protestanten dies als einen staatlichen Angriff auf die Religion, die Kirche(n) und die Glaubensvermittlung. Die Kirchen mobilisierten zu massiven Protesten und bauten eine breite Front der Ablehnung auf. Ende Dezember 1918 ruderte das preußische Ministerium zurück,40 obwohl die Trennung von Kirche und Staat ein wichtiger Bestandteil sozialdemokratischer Schulpolitik blieb. Viele Lehrer und Schulen hatten zunächst materielle und organisatorische Schwierigkeiten, die ihnen deutlich wichtiger erschienen als das Reflektieren über die politischen Ereignisse. Manche Schulen wurden als Sammelstellen und Lazarette benutzt, Lehrer und Schüler kamen langsam von der Front zurück und mussten integriert werden und die Spanische Grippe riss weitere Löcher in die dünne Personaldecke der Schulen. Die Schulchroniken der Essener Volksschulen bieten einen Einblick in die Art und Weise, wie die Revolution als Ereignis in das Schuljahr eingeordnet wurde. Schulchroniken wurden oft vom Rektor der Schule oder in dessen Auftrag geschrieben und beinhalten eine Zusammenfassung des jeweiligen Schuljahres. Dabei wurden schulinterne Details vermerkt, z. B. die Zahl der Schüler und Lehrer, die Prü  39 Reissig (1989): Die Lehrerseminare in Preußen, S. 311. 40 Bockermann (1998): Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt!, S. 140–144.

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fungsergebnisse, aber ebenso außergewöhnliche Ereignisse des Schuljahrs. Zunächst wird deutlich, welchen geringen Raum die Revolution in den meisten Essener Schulchroniken einnahm. Es war der Erste Weltkrieg, der die Schulen und den Unterricht gravierend beeinflusste und veränderte, und diese Tatsache wurde auch in den Chroniken dokumentiert. Die Schulchronik der evangelischen Schule in Altenessen brachte es auf den Punkt: „Die am 9. November 1918 erfolgte Revolution hatte auf den Unterrichtsbetrieb keinen Einfluss.“41 Allerdings vermerkte der Chronikschreiber die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 und erwähnte somit eine Konsequenz der Revolution.42 Ausführliche Berichte über die Revolution, ob positiv oder negativ, waren selten, wenn auch die Folgen für den Schulalltag benannte wurden. Die Schulchronik der Essener Volksschule in der Keplerstraße Essen-West verlor kein Wort über die politischen Umwälzungen, aber berichtete über den Krankheitsstand bei Schülern und Lehrern wegen der Grippewelle Ende 1918 und vermerkte, wann welcher Lehrer von der Front oder aus dem Lazarett zurückkehrte. Auch die Einberufung eines Elternbeirats für die Schule wurde erwähnt genauso wie der fehgeschlagene Versuch eines Arbeiters, für den Vollzugsrat zwei Räume von der Schule zur Benutzung einzufordern.43 Die Revolution, so schien es hier, machte hauptsächlich Arbeit und Ärger. In der Schulchronik einer katholischen Volksschule verschwand der Verweis auf die Revolution nahezu völlig zwischen Berichten über erkrankte Lehrer und der Feststellung, dass im Januar Nationalwahlen und Wahlen zur preußischen Landesversammlung stattfanden.44 Der Rektor der evangelischen Schule in Essen-Altendorf notierte im Mai 1919 rückblickend, dass sein Schulbezirk unberührt geblieben war „von den Ereignissen des 9. Novembers.“ Er betonte jedoch, dass die Revolution die Auflösung der Front verursacht hatte und das Land wehrlos gemacht habe.45 Dieses Kernargument der späteren Dolchstoßlegende, wonach die Revolutionäre verantwortlich gemacht wurden für die Kriegsniederlage und die schweren Waffenstillstandsbedingungen, findet sich auch in anderen Schulchroniken.46 Ein Rektor vermerkte fatalistisch: „Mit dem Ausbruch der Revolution vom 9. November völliger Zusammenbruch. Gott beschütze uns vor der Rache unserer Feinde.“47 Auch wenn Volksschullehrer den neuen Verhältnissen oft aufgeschlossener waren als Lehrer anderer Schulen, schockierte sie zuerst die Kriegsniederlage   41 Stadtarchiv Essen, Schulchronik Rep. 200, Nr. 67, Bd. 2, Schuljahr 1918/19, Bl. 2. 42 Stadtarchiv Essen, Schulchronik Rep. 200, Nr. 67, Bd. 2, Schuljahr 1918/19, Bl. 3. 43 Stadtarchiv Essen, Schulchronik Rep. 200, Nr. 63, Schuljahr 1918/19, Bl. 39–40 (RS), Bl. 41 (RS). 44 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 60, Chronik der kath. Volkschule XXXI EssenRuhr. 45 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 41, Chronik der evangelischen Schule XXV. 46 Vgl. Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 23, Chronik der evangelischen Schule Bochold II Essen-Borbeck, Bl. 129; Schulchronik, Rep. 200, Nr. 32, ev. Schule II Stoppenberg, Bl. 25. 47 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 89, Chronik der ev. Volksschule zu Essen (unpaginiert).  

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– darin unterschieden sie sich wenig von dem Rest der Bevölkerung. Über die aussichtlose Situation des deutschen Militärs war nichts in den Zeitungen zu lesen gewesen und daher glaubten viele Deutsche auch noch im Herbste 1918 der Kriegspropaganda. Die plötzliche Niederlage traf viele unvorbereitet.48 Die enge konfessionelle Bindung der Schulen an die Kirchen hatte sicherlich bei evangelischen Schulen ebenfalls dazu beigetragen, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. Denn die evangelische Kirche unterstütze nicht nur den Kaiser und die Monarchie bis zum bitteren Ende, sondern hatte auch nie eine Kriegsniederlage in Betracht gezogen, und konnte so dieses Ereignis nicht erklären.49 Die Schulchroniken der evangelischen Volksschule Borbeck und der katholischen Knabenschule Frintrop Borbeck sind zwei außergewöhnlich detailreiche Beschreibungen, die auch den Herbst und Winter 1918/19 in Essen einbezogen. Beide Autoren machten keine Versuche, mit der eigenen Meinung hinter dem Berg zu halten. Für den Chronikschreiber der evangelischen Schulen in Essen-Borbeck, vermutlich der Schulleiter, war die Zeit des Winters 1918/19 in zwei Abschnitte eingeteilt: 1) 1918: Der Zusammenbruch und 2) 1919: Verliert den Glauben nicht. Punkt Nummer 1 wurde mit verschiedenen Elementen der Dolchstoßlegende untermauert, u.a. der angeblichen Wühlarbeit der Sozialdemokraten, dem Auseinanderfallen der Heimatfront und der feindlichen Propaganda im deutschen Heer.50 Dabei wird das Entsetzen über das Verhalten des Heeres und der Bevölkerung in Essen besonders deutlich: Der deutsche Michel hat aus seiner zweitausendjährigen Geschichte nichts gelernt, er hört auf die […] Versprechungen eines Wilsons u. deutscher Demagogen u. Schwärmer, träumt vom Völkerbund und Völkerfrieden und stürzt sich am 9. Nov 1918 in Schmach und Schande. Der Kaiser, von seinem Heer und seinen Generälen verlassen, dankt ab. Das Chaos beginnt!!51

Wie Oberbürgermeister Hans Luther war der Chronist irritiert von der emotionalen und irrationalen Reaktion der Essener Bevölkerung, die sich, seiner Meinung nach, um den Finger wickeln ließ. Die Verteidigung des Kaisers machte deutlich, dass der Berichterstatter schwer getroffen war von den Ereignissen. Selbst viele Konservative hielten das Verhalten des Kaisers ab Herbst 1918 für unverantwortlich und die Monarchie beschädigend.52 Dann wurde um eine Haltung gerungen, die auf die Ereignisse folgen sollte und hier ließ der Autor seiner emotionalen Sprache freien Lauf, wenn er beschwor, dass trotz der Hoffnungslosigkeit der Glaube nicht verloren werden sollte, denn es würden sich die sammeln, die dem Land zu neuer Größe verhelfen würden. Dabei hatte der Schreiber der Schulchronik nicht die demokratische Teilnahme an politischen   48 Barth (2010): Dolchstoßlegende und Novemberrevolution, S. 119–121. 49 Ebd., S. 171. 50 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 20, Chronik der evangelischen Schule Borbeck I, Bl. 52–53. 51 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 20, Chronik der evangelischen Schule Borbeck I, Bl. 54. 52 Winkler (1984): Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 31.  

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Wahlen im Sinn, sondern einer Rückkehr zum Deutschtum: „Das Chaos dieser Tage, wir wissen nicht, ob es uns verschlingt. Der Jugend aber, die noch heute tatenfroh in den neuen Tag blickt, wird die Stunden schlagen, das ihr aus heißem Herzen stammendes Gelöbnis zum Deutschtum zur Tat wird.“53 Die Revolutionäre hatten einerseits eine leicht zu beeinflussende Bevölkerung angetroffen, so die Chronik, andererseits konnte dies nur durch die noch starken und reinen Emotionen der deutschen Jugend bekämpft werden. Die Schulchronik der katholischen Knabenschule Frintrop Borbeck beschrieb die Ereignisse des politischen Umbruchs mit deutlicher, allerdings kenntnisreicher, Zurückhaltung. Ruhe und Ordnung der Revolutionstage wurden gelobt, wofür die Arbeiterorganisationen und die Stadtverwaltung verantwortlich gemacht wurden. Der Chronist erwähnte, ebenfalls nicht weit verbreitet in Schulchroniken, das Frauenwahlrecht, welches er bei den Wahlen zur Nationalversammlung Anfang 1919 in Aktion sah.54 Während auch in diesem Bericht die Rolle des Kaisers beschönigend dargestellt wurde – „der Kaiser begab sich nach Holland, nachdem er seinen Posten der Friedensbewegung geopfert, damit das Werk nicht an seiner Person scheitert“55 – machte der Autor der Schulchronik einen gefassten Eindruck, der das Entsetzten über die neuen politischen Verhältnisse und den Untergang der Monarchie kaum thematisierte. Schulchroniken waren rückwärtsgewandt, da sie das vergangene Schuljahr zusammenfassen sollten. Trotzdem werden auch in diesen Quellen manchmal Zukunftserwartungen und Teilnahme deutlich. Der Chronist der katholischen Volkschule Bredeney bemerkte, dass alles anders gekommen sei, als gedacht und daher könne man kaum sagen, was die Zukunft bringen werde.56 In der katholischen Volksschule Kettwig-Mintard betonte die Chronik eine lokale Mitgestaltung, die die Sozialdemokraten sich vermutlich nicht so vorgestellt hatten. Ende November 1918 trat ein katholischer Bürger- und Arbeiterrat zusammen zum Schutz gegen die Religionspolitik sozialdemokratischer Schulreformer.57 Auch diese Chronik vermerkte, dass die Zukunft zeigen müsse, ob die Hoffnungen, die man auf die Revolution gesetzt habe „nicht trügerisch waren.“58 Der Ton ist allerdings ein deutlich anderer als in den Schulchroniken, in denen den Revolutionären die Schuld an der Kriegsniederlage gegeben wurde. Es gab aber durchaus auch noch andere Arten der Teilnahme und Mitgestaltung. Anfang Dezember 1918 beschloss die preußische Regierung „einen Kursus   53 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 20, Chronik der evangelischen Schule Borbeck I, Bl. 55. 54 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep 200, Nr. 35, kath. Knabenschule Frintrop II Borbeck, Bl. 134–135, Bl. 140. 55 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep 200, Nr. 35, kath. Knabenschule Frintrop II Borbeck, Bl. 133–134. 56 Stadtarchiv Essen, Schulchronik, Rep. 200, Nr. 1, kath. Volksschule Bredeney, Bl. 251–252. 57 Stadtarchiv Essen, Rep. 200, Nr. 5, Schulchronik der katholischen Volksschule Mintard 1918 (unpaginiert). 58 Ebd.  

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für Staatsbürgerkunde“ einzurichten, der sich zunächst an preußische Volksschullehrer wendete, die nach ihrer Teilnahme in ihren heimatlichen Regionen und Gemeinden selbst Kurse veranstalten sollten. Dadurch sollte „die Aufklärung über die politischen und sozialen Errungenschaften der Revolution bis in das letzte Dorf hinausgetragen werden.“59 Die Idee war nicht neu. Auch im Ersten Weltkrieg wurden Lehrer geschult, um in Schulen und Gemeinden Aufklärungsarbeit im Sinne der Kriegsziele zu leisten. Volksschullehrer waren besonders im Fokus dieser Initiative und die Organisatoren hofften auf 300–400 Personen, die sie noch vor den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 über die demokratischen Aufgaben und sozialen Errungenschaften des neuen Staats aufklären könnten.60 Das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung schlug Ende Dezember 1918 zwei Themenbereiche vor: 1) Demokratie und Volksbildung sowie 2) Volksbildung und Volkswohlstand.61 Die Unruhen und Aufstände in Berlin im Januar 1919 lassen vermuten, dass die Schulungskurse nicht stattfanden, die Akte enthält kein weiteres Material zu diesem Thema. Der angestrebten Zahl der Anmeldungen kamen die Organisatoren bis Anfang 1919 ziemlich nah.62 Während oft nur Interesse mit der Bitte um Anmeldung bekundet wurde, begründeten einige Lehrer, warum sie eine Teilnahme an dem Schulungskurs wünschten und warum sie sich für besonders geeignet hielten. Manche führten ihre Begabung als öffentliche Redner an und bemerkten, dass sie diese Rolle schon im Ersten Weltkrieg ausgeübt hatten.63 Talentierte Redner, so die offensichtliche Vorstellung einiger Lehrer, konnten über alles reden, ob Materialsammlungen an der „Heimatfront“ zur Kriegszeit oder die politischen Vorteile von freien und gleichen Wahlen. Andere Lehrer betonten ihre politische Einstellung und ihre langjährige politische Arbeit, die sie für eine Teilnahme qualifizierten. Sie nahmen den Teil der Staatsbürgerkunde des vorgeschlagenen Kurses als Anlass, ihre Mitgliedschaft in der SPD, der DDP oder im sozialistischen Lehrerbund besonders zu erwähnen.64 Ein Lehrer aus Berlin erklärte: „Ich stehe mit ganzem Herzen auf dem Boden des Sozialismus, bin organisiert und Mitglied im Vorstand der sozialistischen Lehrer GroßBerlin.“65 Ein Volkschullehrer aus Recklinghausen bemerkte Ende Dezember 1918, dass er als organisierter Sozialdemokrat schon in den letzten Wochen über das Programm der MSPD gesprochen habe, besonders über die Trennung von Kirche und Staat.66 Dies war ein wichtiges, wenn auch umstrittenes Thema der sozialdemokratischen Schulpolitik.   59 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 3, Auszug: Sitzung des Kabinetts, 12.12.1918. 60 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 5–6. 61 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90, Nr. 3731, Bl. 15, Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung an Staatsministerium Preußen, Berlin 23.12.1918. 62 In der Akte befinden sich verschiedene Nachtragslisten, da viele Lehrer sich erst Anfang 1919 meldeten. Insgesamt scheinen circa 340 Anmeldungen vorzuliegen. 63 Vgl. GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 67, 118, 19, 213. 64 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 45, 137, 208. 65 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 136, 31.12.1918. 66 GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 168, 31.12.1918.  

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Neben dem Verweis auf die eigene politische Tätigkeit, begründeten einige Lehrer die Notwendigkeit ihrer Teilnahme mit der speziellen Situation in ihrer Gegend. So betonte ein Lehrer aus dem Kreis Schivelbein in Pommern, dass besonders dort politische Aufklärung nötig sei.67 Ein Lehrer aus einem kleinen Dorf in Ostpreußen bestätigte dies auch für seine Gegend. Er schmückte diesen Punkt aus und betonte die Eigeninitiative, die er schon unternommen hatte: Mit freudebewegten Herzen habe ich die glänzende Durchführung und die ersten Wirkungen der Umwälzungen, besonders auf schulpolitischen Gebiet, verfolgt und auch bereits die demokratischen Ideen in meinen eigenen Kursen zu verbreiten versucht. Gerade hier im östlichen Osten ist eine aufklärende, rege Propaganda dringend nötig, denn die Reaktion, deren Hort hauptsächlich die Großgrundbesitzer und die Geistlichen sind, erhebt hier kühn wieder ihr Haupt. […] Ich wies den Königberger Soldatenrat auf diese Tatsache hin und schlug vor, Redner auf die einzelnen Dörfer zu entsenden, doch ist in hiesiger Gegend immer noch nichts geschehen! Die Wahlen zur Nationalversammlung müssen einen glänzenden Sieg des demokratischen Gedankens bedeuten.68

Auch für Gütersloh und den Kreis Wittgenstein in Westfalen wurde von der Notwendigkeit der Aufklärung berichtet.69 Der Lehrer aus dem Kreis Wittgenstein fand, dass die Landleute der Gegend „von alldeutsch gesinnten Personen irregeleitet werden.“70 Die kurzen Briefe an das preußische Ministerium erlaubten die eigene Teilhabe, Bedeutung und Expertise in den Vordergrund zu stellen. Emotionale Sprache half dabei, authentisch und überzeugt von der Sache zu schreiben. Einige Volksschullehrer betonten besonders ihr aktives Eintreten für die Demokratie und ihre lokale Initiative, die schon ausgeübt wurde, bevor das preußische Ministerium sie dazu aufgefordert hatte. Vielleicht war damit mehr als die Aufnahme in einen staatlichen Kurs verbunden – es waren gerade die Volksschullehrer, die große Hoffnungen mit der jungen Republik verbanden. Sie verlangten zum Beispiel die lange geforderte Akademisierung des Berufs und seiner Ausbildung. Außerdem waren überproportional viele Volksschullehrer (im Gegensatz zu Lehrern anderer Schularten) in den Revolutionsgremien sowie im preußischen Kultusministerium vertreten und beeinflussten so die Versuche, eine neue Schulpolitik zu gestalten.71 4. SCHLUSS Die Revolution und ihr Tempo überraschte viele, hielt sie aber auch nicht davon ab, die Umbruchphase 1918/19 als Chance zu begreifen. Für einige legitimierten die Revolution und die darauffolgenden Veränderungen ihre Überzeugungen und Vor  67 68 69 70 71

GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 165, 26.12.1918. GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 81, 22.12.1918. GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 131, 185. GStAPK Berlin, I. HA Rep. 90 A, Nr. 3731, Bl. 185. Lamberti (2004): The Politics of Education, S. 44–51.

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stellungen, die sie schon seit Jahren hatten. Für andere war die Revolution der Anlass, sich auf Neues einzulassen und sich an die Ereignisse anzupassen. Die Beschreibungen von Ablehnung, Angst und Überforderung zeigte sich allerdings auch. Die Essener Schüler nahmen eine abwartende Haltung ein, da sie es Anfang Dezember 1918 schwierig fanden, die politischen Ereignisse angemessen einzuordnen. Auch viele Schulchroniken kommentierten die Folgen der neuen Politik für die Schulen in einer zurückhaltenden Weise und gingen kaum auf die Revolution ein. Anders als in den Aufsätzen konnte jedoch in den Schulchroniken schon auf einen längeren Zeitraum zurückgeblickt werden. Ob die Revolution negativ oder positiv bewertet wurde, emotionale Sprache wurde von allen Seiten bemüht, um individuelle Antworten auf die politischen Ereignisse zu rechtfertigen genauso wie das Verhalten anderer zu kritisieren. Die Beschreibung der eigenen Emotionen passte oft nicht zu den Emotionen, die anderen Personen in den Revolutionstagen zugeschrieben wurden. Rationalität und Sachverstand wurden mit den angeblich starken und aufgewühlten Emotionen der Masse (Träumer, Schwärmer) kontrastiert. Andererseits wurden Verweise auf die eigenen Emotionen als Voraussetzung für den Wunsch der Mitgestaltung der politischen Verhältnisse angeführt. Dabei boten die neuen Verhältnisse Möglichkeiten der Teilhabe und der Gestaltung, die auch die ergriffen, die der Revolution und ihren Folgen skeptisch gegenüberstanden. Der katholische Arbeiter- und Bürgerrat zum Schutz der Religion und gegen die neue Schulpolitik des preußischen Kultusministeriums aus Mintard im Ruhrgebiet verwies für seine Gründung auf genauso starke Emotionen, wie der Essener Seminarlehrer Dr. Müller-Wolf für seinen Eintritt in die SPD im Dezember 1918. Beide hatten jedoch deutlich unterschiedliche Ansichten über die politische und gesellschaftliche Zukunft des Landes. LITERATUR Abelshauser, Werner: Umsturz, Terror, Bürgerkrieg: Das rheinischwestfälische Industriegebiet in der revolutionären Nachkriegsperiode, in: Werner Abelshauser / Reinhart Himmelmann (Hrsg): Revolution im Rheinland und Westfalen. Quellen zur Wirtschaft, Gesellschaft und Politik 1918–1923. Essen 1988. Bajohr, Frank: Zwischen Krupp und Kommune. Sozialdemokratie, Arbeiterschaft und Stadtverwaltung in Essen vor dem 1. Weltkrieg. Essen 1988. Barth, Boris: Dolchstoßlegende und politische Desintegration. Düsseldorf 2003. Ders.: Dolchstoßlegende und Novemberrevolution, in: Alexander Gallus (Hrgs.): Die vergessene Revolution von 1918/19. Göttingen 2010. Bilder von Krupp. Fotografien und Geschichte im Industriezeitalter. München 2000. Bockermann, Dirk: Wir haben in der Kirche keine Revolution erlebt! Der kirchliche Protestantismus im Rheinland und Westfalen 1918/1919. Köln 1998. Brandis, Paul: Essener Arbeitsjahre, in: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen, Heft 75. Essen 1959. Canning, Kathleen: Gender and the Imaginary of Revolution in Germany, in: Klaus Weinhauer / Anthony McElligott / Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916–23. A Revolution in Context. Bielefeld 2015.

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DIE TOTEN DER REVOLUTION BEERDIGEN Politische Trauerfeiern im November und Dezember 1918 Mark Jones Revolutionäre Politik ist Straßenpolitik, und die deutsche Revolution von 1918–19 machte da keine Ausnahme.1 Sie begann damit, dass die Militärführung am 4. November 1918 die Kontrolle über die Straßen von Kiel verlor.2 Sie triumphierte, als am frühen Nachmittag des 9. November 1918 Arbeitermassen die Straßen der deutschen Reichshauptstadt in Besitz nahmen.3 In der kurzen Zeit zwischen Ausbruch und Triumph der Revolution wuchsen in einer deutschen Stadt nach der anderen kleine Gruppen revolutionärer Aktivisten zu einer nach dem Eindruck vieler Beobachter unwiderstehlichen Macht heran.4 Es bedurfte einer NaturkatastrophenMetaphorik, um die Erlebnisse der Zeitgenossen in Worte zu fassen: Die Novemberrevolution war ein „Sturmwind“ oder ein „Erdbeben“.5 Sie war einer jener raren geschichtlich-politischen Momente, in denen die Entscheider an der Spitze der Gesellschaftspyramide das sichere Gefühl bekamen, denen in den unteren Etagen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.6 Das plötzliche Auftreten revolutionärer Massen weckte Vorstellungen – vor allem die, dass die vom Bolschewismus ausgehende Verheißung einer neuen Weltordnung drauf und dran war, über Deutschland hereinzubrechen.7 Friedrich Ebert war verängstigt. Spätestens am 9. November war klar, dass seine Partei die Herrschaft über die Straße verloren hatte. In einer seiner ersten Verlautbarungen nach

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Jones (2017): Am Anfang war Gewalt; Alpaugh (2015): Non-Violence and the French Revolution; Reiss (Hrsg.) (2007): The Street as Stage; Jerram (2013): Streetlife. Kinzler / Tillmann (Hrsg.) (2018): 1918. Die Stunde der Matrosen; S. 51–53; Jones (2017): Am Anfang war Gewalt, S. 37–45; Rackwitz (2018): Kiel 1918; Dähnhardt (1984): Revolution in Kiel. Fritzsche (1998): Germans into Nazis; Altenhöner (2018): „Zwischen Triumph und Katzenkammer.“ Kolb (1962): Die Arbeiterräte. Canning (2015): „Gender. Citizenship and the Imaginary of Revolution.“ Vgl. Matthias (Hrsg.) (1969): Die Regierung der Volksbeauftragten, S. 3–21; Matthias / Morsey (Hrsg.) (1962): Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. 603–628. Jones (2017): Am Anfang; Gewarth / Horne (2012): Bolshevism as Fantasy.

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der Ausrufung der Republik richtete er diese Aufforderung an die Deutschen: „Verlasst die Straßen! Sorget für Ruhe und Ordnung!“8 Karl Liebknecht und seine Spartakisten forderten im selben Moment das Gegenteil: Die Umwälzung der Machtverhältnisse werde nur gelingen, argumentierten sie, wenn die Massen, die die Revolution bewerkstelligt hatten, weiterhin auf der Straße blieben, bis der Sieg der Revolution feststand.9 Die Straßen verlassen oder sie in Beschlag halten – das waren die beiden gegensätzlichen politischen Botschaften, die am 9. und 10. November 1918 die Runde machten. Bis zum Ende der heißen revolutionären Phase spielte der Gegensatz zwischen diesen beiden Botschaften eine Schlüsselrolle für den weiteren Verlauf der Revolution. Das zwingende Bedürfnis, zu demonstrieren, dass die eigene Seite die „Herrschaft“ über die Straße besaß, rührte an die innerste Essenz revolutionärer Politik.10 Doch obwohl der Kampf um die politische Mobilisierung auf den Straßen zu den gewichtigsten unter den Faktoren gehörte, die den deutschen Umsturz von 1918–19 in eine Revolution umschlagen ließen, haben die Historiker dieser Revolution erst vor Kurzem begonnen, das politische Straßenleben neu zu entdecken und es wieder in die Geschichtsschreibung der Revolution einzuflechten.11 Dieses Kapitel will einen Beitrag zu diesem noch nicht abgeschlossenen Prozess der historiographischen Neuausrichtung leisten. Sein Thema ist ein wichtiges Beispiel der Straßenpolitik im November 1918: die revolutionären Trauerfeiern des Novembers 1918 in Kiel, Hamburg und Berlin. Die Notwendigkeit, diese Trauerfeiern in den Vordergrund dieses Bandes zu rücken, ist sowohl historisch als auch aktuell begründet. Revolutionäre Begräbnisse waren öffentliche Ereignisse, die wie ein Magnet die wichtigsten politischen Gruppierungen der Revolution anzogen und als Arena fungierten, in der Deutungen zum Wesen der Revolution und zu ihrem Sinn und Zweck aufeinanderprallten. Wenn wir als Historiker diesen Kampf um die Deutungshoheit verstehen und die politischen Prozesse, wie sie im November 1918 abliefen, analysieren wollen, können wir meines Erachtens diese Begräbnisfeiern und die Politik der Straße nicht weiter ignorieren, ohne dass wir Gefahr laufen, zu falschen Schlussfolgerungen über die historische Bedeutung des Novembers 1918 zu gelangen. Die Beerdigungen wieder in den Vordergrund zu rücken, ist auch eine aktuelle Notwendigkeit: Ein hundertster Jahrestag gibt immer Anlass zu historischen ReInterpretationen und Debatten, doch besteht auch die Gefahr, dass er, wenn man das Feld Publizisten überlässt, zu einem Vehikel für verschärfte Mythenbildung wird.12 Wenn ich in diesem Band die Beerdigungen vom November 1918 wieder ins rechte   8 9 10 11

„Aufruf zur Ordnung“, Deutsche Zeitung Nr. 574, 10 November 1918. „Die rote Fahne“, Rote Fahne Nr. 2, 10 Nov. 1918. Jones (2017): Am Anfang. Jones (2015): The Crowd in the German November Revolution; Aulke (2015): Räume der Revolution. 12 Vgl. Niess (2017): Die Revolution von 1918/19; Platthaus (2018): 18/19. Der Krieg nach dem Krieg.

Die Toten der Revolution beerdigen

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Licht setze, eröffnet uns das mindestens die Chance, einer solchen Mythenbildung entgegen zu treten. Die Begräbnisse erinnern uns daran, dass die Anfangsphase der Revolution nicht unblutig verlief und dass die Unfähigkeit oder Nichtbereitschaft der Beteiligten, den Novembertoten eine konsensfähige Deutung zuteil werden zu lassen, den Beginn eines Prozesses markierte, der innerhalb der ersten zwölf Lebensmonate der Weimarer Republik zur Hinnahme Tausender weiterer Todesfälle und zur Vergiftung der Revolution und ihres Vermächtnisses führte. Diese Vergiftung bedeutete nicht, dass Weimar von Anfang an dem Untergang geweiht gewesen wäre, aber sie beraubte die Republik eines wirkmächtigeren, positiven Gründungsmythos.13 1. DIE REVOLUTIONÄREN BEGRÄBNISSE VOM NOVEMBER 1918 Das Gewaltpotential der Novemberrevolution entsprach nicht dem, was Viele befürchteten. Immerhin: Menschen starben, und ihr Tod war eine schockierende Warnung davor, was noch kommen mochte, falls die Gewalt in eine andere Größenordnung umschlüge.14 Die drei bedeutsamsten revolutionären Beerdigungen fanden am 10. November in Kiel, am 12. November in Hamburg und am 20. November in Berlin statt. An allen dreien nahmen viele Tausend Anteil, sei es als Zuschauer, die entlang der Route des Trauerzuges am Straßenrand Spalier standen, sei es als Teilnehmer des Trauerzuges, der den Särgen folgte. In Berlin begann der Trauertag mit einer Gedenkfeier auf dem Tempelhofer Feld. Zehntausende Trauernde wohnten der Veranstaltung bei, an der auch alle Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten teilnahmen. Anschließend wurden die Särge in einer stundenlangen Prozession durch die Stadt gefahren, um schließlich auf dem Friedhof der Märzgefallenen in das vorbereitete Grab hinabgelassen zu werden. Die Auswahl der Grabesstätte beinhaltete offenkundig bereits einen Anspruch auf die Legitimität der Revolution von 1918 aufgrund der hochgradig symbolischen Nähe zu den Grabstätten der Toten von 1848. Die enge symbolische Verbindung zwischen den Toten der Revolution und der sie repräsentierenden politischen Führung wurde durch die prominente Platzierung der Särge thematisiert. Die dem Trauerzug beiwohnenden Massen verkörperten in diesem Moment, da sie so kurz nach dem revolutionären Umsturz einige der wichtigsten und gleichsam ‚heiligsten‘ großstädtischen Schauplätze der Revolution in Beschlag nahmen, eine weitere Möglichkeit, den Besitzanspruch der Revolution auf zentrale politische Räume zu unterstreichen und die Botschaft zu verbreiten, dass tiefgreifende politische Veränderungen im Gang waren. Zugleich waren diese Begräbnisse auch Momente, in denen die Masse, die die Revolution bewerkstelligt hatte, zu der Masse wurde, die trauerte. Zusätzlich zu diesem politischen Schauspiel boten die Begräbnisse, aber insbesondere auch die vor und während der Grablegung   13 Vgl. Barth (2003): Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. 14 Fritzsche (1998): Germans into Nazis, S. 89–90.

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gehaltenen Ansprachen und die Presseberichte darüber die Chance, eine (vorläufige) Gewaltbilanz der Revolution zu ziehen und mit Sinn zu füllen sowie das von den Toten gebrachte Opfer zu ermessen. Das öffentliche Trauern war, so gesehen, ein wichtiges politisches Ereignis in den Tagen nach dem revolutionären Umsturz. 2. REVOLUTIONÄRE BEGRÄBNISSE IN KIEL UND HAMBURG Die ersten Begräbnisse der deutschen Revolution fanden am 9. und 10. November in Kiel statt.15 Danach folgten, am 12. November, Beerdigungen in Hamburg. In beiden Städten begannen die Begräbnisfeierlichkeiten mit einem Aufmarsch vor den offenen Särgen. In Kiel schilderte die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung den Ablauf der Ereignisse: In der Leichenhalle des Pathologischen Institutes sind die fünf Toten in feierlicher Weise unter Lorbeerbäumen und Blumenschmuck aufgebahrt. Friede ruht auf den Gesichtern der Aufgebahrten, die in die neue große Bewegung ihr Leben hergeben mussten. Noch ein letztes Abschiednehmen der Angehörigen und nächsten Freunde, die Särge werden geschlossen und Matrosen heben sie auf die Leichenwagen. Unter Vorantritt einer Musikkapelle, die einen Trauermarsch intoniert, setzt sich der Zug in Bewegung. Hinter den Särgen folgen zunächst die Angehörigen. Dahinter wird das alte historische Banner der Kieler Sozialdemokratie getragen, und eine lange Reihe von Kranzdeputationen schließt sich an. Eine Fülle von herrlichen Kranzgebinden mit entsprechenden Widmungen.16

In Hamburg kam, obwohl die im Zuge der Revolution ausgebrochenen Streiks vorüber waren, die Arbeit in den Fabriken und Werften zum Stillstand. Die organisierte Arbeiterklasse ergoss sich auf die Straßen, um sich dem Trauerzug anzuschließen, der den Särgen folgte. Ein Teil der Arbeiterschaft stellte einfach die Arbeit ein, andere erhielten für den Tag frei. Insgesamt zehn Särge standen im Blickpunkt der offiziellen Trauerfeier, jeder war mit Blumengebinden geschmückt.17 Anfänglich standen die Särge, mit Kränzen überhäuft, aufgereiht auf dem Balkon eines städtischen Gebäudes. Die Angehörigen der Toten umstanden die Särge. Hinter dem Gebäude hatte sich eine nach Tausenden zählende Menschenmenge versammelt. Die Hamburger Nachrichten stellten besonders heraus, dass russische Kriegsgefangene einen Kranz gespendet hatten.18 Im Unterschied zur Tradition der   15 „Bestattung von Opfern der Unruhen. Zur Lage in Kiel“, Kieler Zeitung Nr. 530, 11 Nov. 1918 AA (Abend Ausgabe); „Die Beerdigung der Opfer der Revolution“, Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung Nr. 264, 9 Nov. 1918; „Bestattung der Opfer der Revolution“, Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung Nr.265, 11 Nov. 1918. 16 „Die Bestattung der Opfer der Revolution“, [Kiel, 10. Nov.]. Schleswig-Holsteinische VolksZeitung Nr. 265, 11 Nov. 1918. 17 „Die Bestattung der Umwälzungs-Opfer“, Neue Hamburger Zeitung Nr. 579, 12 Nov. 1918 AA; „Die Bestattung der Umwälzungs-Opfer“, Neue Hamburger Zeitung Nr. 580, 13 Nov. 1918 MA (Morgen Ausgabe). 18 „Trauerfeier in Ohlsdorf“, [Beilage zu] Hamburger Nachrichten Nr. 580, 13 Nov. 1918 MA.  

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Vorkriegszeit, als staatliche und sozialistische Gedenkformate strikt geschieden waren, beteiligten sich am Trauerzug neben Arbeiterchören auch Militärkapellen. Die Toten wurden als Freiheitsbringer gefeiert. Ein Redner unterstrich besonders den von „jugendlichen Kämpfern“ geleisteten Beitrag zur Revolution. „Ihr Tod“, schrieb das sozialdemokratische Hamburger Echo, „bahnte der Freiheit den Weg. Und darum ist es auch zu verstehen, daß Tausende und Abertausende gekommen waren, um den Toten, die im Kampf um die Freiheit ihr junges Leben lassen mußten, die letzte Ehre zu erweisen, sie zu Grabe zu geleiten, die mit ihrem Tode herrlich vollendet, wofür sie ein Leben lang gekämpft.“19 An der Spitze des Trauerzuges wurde eine rote Fahne getragen.20 Das Ganze war detailliert inzeniert. Ein Arbeiterchor marschierte mit, der unterwegs das Lied „Ein Sohn des Volkes“ anstimmte. Jeden der Särge eskortierten acht Soldaten oder Matrosen, gefolgt von den Familien der Getöteten. Der Trauerzug brachte den Straßenverkehr zum Erliegen. Das Hamburger Echo berichtete von einer „riesigen Menschenmenge“, die die Straßen säumte. Den Wagen mit den Särgen und den sie begleitenden Familienangehörigen schloss sich eine Prozession aus Soldaten und Arbeitern an. Diese Gruppen und Delegationen trugen Kränze, aus deren Beschriftung hervorging, welche Einheiten des Heeres oder der Marine bzw. welche der traditionsreichen Arbeitervereinigungen und Gewerkschaften aus den zahlreichen Hamburger Schiffswerften und Docks sie repräsentierten.21 Das Hamburger Echo schlug bemerkenswerter Weise einen versöhnlichen Ton gegenüber der an dem Trauermarsch teilnehmenden Delegation ihrer publizistischen Erzrivalin, der Roten Fahne, an.22 In Hamburg wurden die Särge zum Haupteingang des Ehrenfriedhofs gefahren. Die Familien und der Chor folgten. An der Grabstätte sang die Trauergemeinde die Internationale, und drei Schüsse wurden abgefeuert. Soldaten ließen die Särge in ein Gemeinschaftsgrab hinab, während die Trauernden das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ sangen.23 Hunderte Kränze mit roten Bändern und Widmungen wurden abgelegt. Die Hamburger Neuesten Nachrichten berichteten über das Ereignis unter der Überschrift „Die Bestattung der Umwälzungs-Opfer“.24 Die Begräbnisse verkörperten auf ihre eigene Weise eine Kontinuität zu traditionellen Formen des Trauerns und der Totenehrung. Das Ganze hatte eine große Ähnlichkeit mit dem,   19 BArch Berlin R901/555724 Bl. 52: „Die Bestattung der Revolutionsopfer“, Hamburger Echo Nr. 266, 13. Nov. 1918. 20 „Trauerfeier in Ohlsdorf“, [Beilage zu] Hamburger Nachrichten Nr. 580, 13 Nov. 1918 MA.. 21 BArch Berlin R901/555724 Bl. 52: „Die Bestattung der Revolutionsopfer“, Hamburger Echo Nr. 266, 13 Nov. 1918. 22 BArch Berlin R901/555724 Bl. 52: „Die Bestattung der Revolutionsopfer“, Hamburger Echo Nr. 266, 13 Nov.1918; BArch Berlin R901/555724 Bl. 53: „Beisetzung von Revolutionsopfern“, Vorwärts Nr. 313, 13 Nov. 1918. 23 „Trauerfeier in Ohlsdorf“, [Beilage zu] Hamburger Nachricten Nr. 580, 13 Nov. 1918 MA. 24 „Die Bestattung der Umwälzungs-Opfer“, Neue Hamburger Zeitung Nr. 579, 12 Nov. 1918 AA; „Die Bestattung der Umwälzungs-Opfer“, Neue Hamburger Zeitung Nr. 580, 13 Nov. 1918 MA.  

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was in Kiel ablief – auch in den Berichten über die dortigen revolutionären Begräbnisse war von politischen Gegensätzen keine Rede. Grabreden hielten dort der Gewerkschafter Gustav Garbe, der USPD-Mann Lothar Popp und der rechte Sozialdemokrat Gustav Noske. Die Presseberichte über die Veranstaltungen erwecken den Eindruck, zwischen den Rednern seien trotz ihrer gegensätzlichen politischen Positionen kaum inhaltliche Unterschiede feststellbar gewesen. Von Garbe bekamen die Trauernden zu hören: „Neben der Trauer um die Gefallenen stehe das Symbol der Freiheit. Der Tod der Gefallenen sei nicht umsonst gewesen, die internationale Sozialdemokratie werde der Welt den Frieden bringen.“25 Eine Zusammenfassung der Trauerrede von Gustav Noske in der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung betonte, dass er die Toten als die letzten Opfer des Weltkrieges ansah, deren Opfer eine Zukunft der „Sicherheit“, und „Freiheit“ mit sich bringen werde.26 Nach der Darstellung des Geschehens in der Presse zu urteilen, fielen politische Antagonismen in der aktuellen Situation nicht ins Gewicht. Die Veranstaltung stand vielmehr ganz im Zeichen traditioneller Trauerrituale einschließlich der Respektsbekundung für die Toten. Zudem wurde, da zu der Zeit in Kiel spartakistische Kräfte nur schwach vertreten waren, kein Versuch unternommen, die Begräbnisse als Mobilisierungsplattform für eine radikalere Ausrichtung der politischen Revolution zu nutzen. Die Zeitabläufe spielten ebenfalls eine Rolle: Die Bestattungen in Kiel und Hamburg fanden teils gleichzeitig, teils nur wenig später statt als die Bildung der revolutionären Regierung in Berlin. Angesichts der Tatsache, dass sie unter dem unmittelbaren Eindruck des kurz zuvor errungenen vermeintlichen Triumphs der Revolution veranstaltet wurden, waren sie von einem großen Optimismus durchdrungen, der der Bewegung Flügel zu verleihen schien und die diesen Begräbnissen innewohnende Botschaft mit prägte. So gesehen, gemahnen sie uns daran, dass in diesem geschichtlichen Augenblick noch ein ausreichender Vorrat an politischen Gemeinsamkeiten bestand, um zusammen die Toten zu ehren und die Trauerarbeit in traditionelle Bahnen zu lenken. Diese Gemeinsamkeit sollte nicht von Dauer sein. In der Tat kam es im Gefolge dieser ersten Begräbnisse zu einem Bruch der bis dahin geteilten Deutung und Einordnung der gebrachten Blutopfer, und genau das verleiht diesen Bestattungen ihre Bedeutung als letztes Aufscheinen einer solidarischen Einigkeit quer durch das Spektrum der politischen Gruppierungen links der Mitte. Die ersten Risse, die auf das Auseinanderbrechen dieser revolutionstragenden Einheitsfront hindeuteten, zeigten sich bei den Begräbnisfeierlichkeiten in Berlin am 20. November.

  25 ‚,Zur Lage in Kiel. Bestattung von Opfern der Unruhen“, Kieler Zeitung Nr. 530, 11 Nov. 1918 AA. 26 Schleswig-Holsteinische Volkszeitung Nr. 265, 11 Nov. 1918.  

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3. REVOLUTIONÄRE BESTATTUNGEN IN BERLIN Von den 15 Personen, die in Berlin im Gefolge der Revolution den Tod fanden, wurden nur acht im Zuge der öffentlichen Trauerfeier am 20. November beigesetzt.27 Trotz dieser geringen Zahl wurde das Begräbnis zu einem politischen Großereignis. Es fand in der Stadt statt, in der die Revolution ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss gefunden hatte; die Mitglieder der neuen Regierung (des „Rats der Volksbeauftragten“) waren Teil der Trauergemeinde. Zudem war Berlin der Brennpunkt, von dem aus nach der Erwartung vieler Beteiligten und Beobachter eine zweite Revolution ausgehen würde. Noch ehe die Bestattungsfeierlichkeiten begannen, wurde ihre Bedeutung zum Gegenstand polemischer Auseinandersetzungen. Am Vorabend des Ereignisses bezeichnete die nationalkonservative Deutsche Tageszeitung die Toten als „sogenannte Opfer“ und erklärte, dass sie wegen Schießereien, die von „Radaubrüdern und anderen zweifelhaften Elementen“ geführt wurden, umgekommen seien. Sie warf der neuen Regierung vor, sie wolle das Begräbnis nach sattsam bekanntem historischen Vorbild zu einem „Tag der Buße“ umfunktionieren, um die Bevölkerung in Hochstimmung zu versetzen. Die Zeitung machte ihre Leser darauf aufmerksam, dass unter denen, die am folgenden Tag feierlich beerdigt werden sollten, etliche waren, die bei Schusswechseln in Berlin getötet worden waren. Sie verwies auf einen Bericht im Vorwärts, in dem es hieß, eine Untersuchung durch den Arbeiter- und Soldatenrat sei zu dem Ergebnis gekommen, eine angeblich von im Auswärtigen Amt verschanzten Offizieren veranstaltete Kanonade sei in Wirklichkeit das Werk von Dieben und Plünderern gewesen.28 Was will uns dieser Unkenruf sagen? Die Verwendung des Ausdrucks „zweifelhaften Elementen“ zur Benennung der angeblichen Initiatoren der Kanonade ist der Rede wert. Sie verrät uns, dass die Deutsche Tageszeitung es darauf abgesehen hatte, auf subtile Weise alte Gräben zwischen ihren Lesern und denen, die am Folgetag begraben werden sollten, wieder aufzureißen. Ohne es ausdrücklich zu sagen, deutete dieses elitäre Blatt zwischen den Zeilen an, die Getöteten hätten dem Lumpenproletariat angehört, aus dem die Berliner Unterwelt ihren Nachwuchs rekrutierte („Diebe und Plünderer“). Was die Formulierungen der Zeitung des Weiteren nahelegen, ist die Befürchtung der Konservativen, die als Teilnehmer an dem Begräbnis zu erwartenden Massen könnten durch die Feier radikalisiert werden. Die Bestattung der Toten erfolgte in Berlin nach demselben Muster wie zuvor in Kiel und Hamburg, nur dass der erste Akt sehr viel größer dimensioniert war. Den Auftakt bildete eine öffentliche Großkundgebung auf dem Tempelhofer Feld am südlichen Stadtrand. Diese Wahl des Veranstaltungsorts fand die alldeutsche und nationalkonservative Deutsche Zeitung beklagenswert. Das „rote Berlin“, kommentierte sie, wolle die Toten der Revolution an einem Ort ehren, der einst ein   27 BArch Berlin R901/555724 Bl. 51: „Nur 14 Todesopfer der Revolution?“ Tägliche Rundschau Nr. 586, 15 Nov. 1918; BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA. 28 BArch Berlin R901/555724 Bl. 50: „Die Opfer der Revolution“, Deutsche Tageszeitung Nr. 590, 19 Nov. 1918 AA.

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Zentrum des zeremoniellen Jahreskalenders der Hohenzollern gewesen war. Die kaiserlichen Streitkräfte hätten dort seit Beginn der Regierungszeit Wilhelms II. in jedem Frühjahr und Herbst eine Militärparade abgehalten, und schon davor, unter König Friedrich Wilhelm I. und Kaiser Wilhelm I., habe bekanntlich das GardeKorps auf dem Tempelhofer Feld Siegesparaden veranstaltet. Die Erinnerung an dieses geschichtliche Erbe färbte die Berichterstattung der Deutschen Zeitung über das Begräbnis. So zog sie in einem ihrer Beiträge darüber einen Vergleich zwischen den Gefallenen des deutschen Heers und den Ehrungen und Feierlichkeiten, die man jetzt denen angedeihen ließ, die in den Augen der national Gesinnten in der Revolution Verrat an den Frontsoldaten begangen hatten: „Wie hatten sich die Anwohner auf die Parade gefreut, die den Einzug des siegreichen Heeres nach dem Weltkrieg verherrlichen sollte!“ schrieb die Zeitung und fügte bedauernd hinzu: „Es ist anders gekommen. Das Heer, das 1914 ausgezogen, ist nicht zurückgekehrt; es ruht nach treuer Pflichterfüllung gegenüber Kaiser und Reich auf den Schlachtfeldern.“ Andererseits schlug die Deutsche Zeitung doch auch nicht die provokativen Töne an, die man vielleicht von ihr hätte erwarten können. In ihrer Schlagzeile nannte sie die Toten „Revolutionsopfer“, und auch im Artikeltext wurden sie als „Opfer“ bezeichnet, Opfer „des roten Sonnabends, vielleicht auch der Schießereien der nächsten Tage – Näheres darüber ist wohl nicht veröffentlich worden –, von dem Felde aus zu Grabe getragen. Buß- und Bettag!“ 29 Der Reporter, der das Geschehen für die Deutsche Zeitung von einem das Tempelhofer Feld überschauenden Gebäude aus beobachtete, gab die Zahl der Teilnehmer mit höchstens 35.000 an; das Berliner Tageblatt schätzte sie um 11 Uhr auf 30.000. 30 Die Deutsche Zeitung schilderte die Ankunft der Särge um 10 Uhr: Sie standen, noch ohne Kranzgeschmück, auf denselben mit rotem wie schwarzem Tuch und mit Tannengrün ausgeputzten Arbeitswagen, auf denen sie dann, von Kränzen bedeckt, durchs Brandenburger Tor ihren Weg quer durch die Stadt nach dem Friedhof der Märzgefallenen zurücklegten. Gezogen wurden die Wagen von je vier schweren, stattlichen Arbeitspferden mit dem messingbeschlagenen Geschirr der alten Planwagen. Die Särge fanden ihren Platz auf dem Podest zu Füßen des roten Trauerbaues. Von dem Podest aus sind dann auch die Ansprachen an die Trauerversammlung gehalten worden.31

Im Verlauf der nächsten Stunde wuchs die Menge stetig. Der Reporter sah „scharlachene Flecken überall; die roten Banner, die roten Schleifen der Kränze. Eine Viertelstunde, und die Zahl der Kränze wächst ins Unerhörte; es sind Unsummen dafür verausgabt worden.“32 Die Deutsche Zeitung wunderte sich, woher die unzähligen rot blühenden Blumen kamen, und stellte sogar die Frage, ob die Berliner Gartenbetriebe vorausgesehen hatten, was der „rote Sonnabend“ bringen würde. Rot war aber nicht die einzige in dem Beitrag vorkommende Farbe: Zwischen den roten   29 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 30 Ebd.; BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA. 31 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 32 Ebd.

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Fahnen sah der Reporter auch eine blaue und viele schwarze sowie schwarzrote Flaggen. Manche Unteroffiziere einer Soldatengruppe trugen sogar schwarz-weißrote Armbinden. Eine Kompanie bewaffneter Matrosen führte die Trauerparade an. Der Reporter der Deutschen Zeitung zeigte sich erstaunt über die Zahl der teilnehmenden Militärkapellen – er äußerte sogar die Vermutung, alle Militärkapellen Berlins müssten aufmarschiert sein – und über die Zahl der Fahrzeuge aller Art. Die Trauergemeinde teilte sich in der Mitte, um der Trauerparade den Weg frei zu machen. In der Reportage der Deutschen Zeitung wurde dieser Vorgang so geschildert, als handle es sich um ein Schaumanöver bei einer Militärparade. Auch wenn der Reporter hin und wieder leichten Spott anklingen ließ, bescheinigte er der Veranstaltung einen äußerst geordneten Verlauf. „Es wäre töricht“, schrieb er anerkennend, „sich blind zu stellen gegen die Disziplin, die in diesen Massen steckt, gegen die Sicherheit, mit der die Leitung der Kundgebung sie in der Hand hat. Altpreußische Ordnung [...] die Wirkung des angeblich zum Tode verurteilten Militarismus. Ob sie im neuen Staat ebenso zu finden sein wird?“33 Jeder Gruppe war genau so viel Platz zugeteilt, wie sie brauchte, kein Fußbreit mehr.34 Laut Deutscher Zeitung knatterten Flugzeuge über die versammelte Menge hinweg: „Man sieht sie nicht in dem Nebel, in den sie sich der Feier zu Ehren hineingewagt haben – es ist Gefahr dabei, und zwar keine geringe! – aber man hört ihr Summen in naher Höhe.“35 Das liberale Berliner Tageblatt widmete sein Augenmerk eher der Tribüne, die den Mittelpunkt des Kundgebungsorts bildete. Es war eine Holzkonstruktion und mit den Farben schwarz und rot drapiert. Die acht Särge standen in symmetrischer Anordnung auf der östlichen und westlichen Hälfte der Tribüne. Die Angehörigen der Toten hatten sie mit Kränzen geschmückt. An der Vorderseite der Tribüne war an zentraler Stelle ein Rednerpult aufgestellt. Hinter diesem hingen Kränze mit den Insignien der preußischen Regierung und des Rats der Volksbeauftragten. Auf dem Kranz der Volksbeauftragten prangte auf breiten roten Bändern die schlichte Botschaft „Den Opfern der Revolution – der Rat der Volksbeauftragten“. Vor der Tribüne legte eine aus Matrosen bestehende Ehrengarde weitere Kränze ab. Wie das Berliner Tageblatt schrieb, wurden die acht Toten mit insgesamt mehr als 1000 Kränzen bedacht. Wie schon in Hamburg, kamen auch hier zahlreiche Kränze von lokalen Organisationen der Angestellten und Arbeiter. Dazu gesellten sich Kränze von den neu gebildeten Arbeiter- und Soldatenräten, von der Stadt Berlin, von der Berliner Kommandantur und von vielen Polizeirevieren. Der von der Parteiführung der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) gestiftete Kranz trug die Widmung: „Den tapferen Kämpfern der Revolution, ihr Andenken wird ewig leben.“ Auf der Banderole am Kranz der türkischen Kolonie in Berlin prangte die Inschrift: „An die Helden der Freiheit“.36   33 34 35 36

Ebd. Ebd. Ebd. BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA.

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4. DIE REDEN AUF DEM TEMPELHOFER FELD Auf der Trauerfeier war der Rat der Volksbeauftragten vollständig zugegen; ihre Plätze befanden sich direkt neben denen der Hinterbliebenen. Der offizielle Teil der Feier begann mit einer Trompetenfanfare. Zu den ersten Rednern gehörten Richard Müller als Vertreter der Arbeiterräte und des Vollzugsrates und Brutus Molkenbuhr als Vertreter der Soldatenräte und des Vollzugsrats. Der USPD-Mann Hugo Haase sprach als Vertreter des Rats der Volksbeauftragten, Paul Hirsch im Namen der Regierung von Preußen. Die Presse überlieferte abweichende Darstellungen zu den Inhalten der einzelnen Reden; die Zeitungen wählten unterschiedliche Passagen der Ansprachen aus, denen sie besondere Beachtung schenkten, oder formulierten einzelne Aussagen so gründlich um, dass sie eine andere Bedeutung erhielten.37 Der erste Redner, Richard Müller, erklärte den Versammelten in der Version des Berliner Tageblatts: Ich sende den Gefallenen die letzten Grüße. Am 9. November zogen wir aus und kehrten nach wenigen Tagen siegreich zurück. Es ziemt sich heute nicht, zu klagen. Mit Stolz gedenken wir des Todes dieser Proletarierkinder, deren Namen mit goldenen Lettern für ewig in das Buch der Geschichte eingetragen sind.38

Die Deutsche Zeitung zitierte eine andere, bedrohlicher klingende Passage aus derselben Rede: Noch nie ist eine Revolution mit so geringen Opfern erkämpft worden. Feierlich verspreche ich an dieser Stelle, dass wir nie die Toten und ihre Angehörigen vergessen werden. Wir geloben diesen Toten, all unsere Kraft für die siegreiche Fortführung des siegreich begonnenen Werkes einzusetzen. Neben der politischen Freiheit muss die soziale Freiheit erstritten werden. Mit Fug und Recht können das diese Toten von uns fordern. Sie haben das erreicht, wonach Millionen gestrebt haben.39

Das waren die einzigen Auszüge aus den gehaltenen Reden, die sich in der Deutschen Zeitung finden, abgesehen von einem Hinweis darauf, dass der Volksbeauftragte Emil Barth erklärt hatte, die Regierung wolle weiterhin auf friedlichem Weg vorankommen.40 Dann sprach Brutus Molkenbuhr. Laut dem Berliner Tageblatt erklärte er: Als wir 1914 hinauszogen ins Feld, glaubten wir nicht, dass wir Werkzeuge des preußischen Militarismus werden könnten. Wir haben als Soldaten unser Vaterland gegen jede Angriffe zu verteidigen gewusst, und jetzt waren es wieder die Soldaten, die sich bei Ausbruch der Revolution dem gesamten deutschen Volk an die Spitze stellten. Wir haben das gehalten, was wir

  37 BArch Berlin R901/55724 Bl. 42–43: „Die Lebenden an die Toten“, „Das Begräbnis der Opfer der Revolution“, Die Freiheit Nr. 11, 21 November 1918. 38 BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA. 39 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 40 Ebd.  

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versprochen haben; wir haben unser Vaterland geschützt gegen den Feind nach außen und gegen den Feind von innen. 41

In der Zeitung Die Freiheit wurde Brutus Molkenbuhr hingegen mit der Aussage zitiert, die deutschen Soldaten seien „Werkzeuge der Reaktion“ gewesen; jetzt hätten sie jedoch das deutsche Volk in eine Revolution geführt, die noch nicht zu Ende sei. „So tapfer, wie sie gegen den äußeren Feind gekämpft haben, mit dem gleichen Heldenmut werden sie sich gegen den inneren Feind wenden. Die Republik wird stets auf sie zählen können.“42 Diese von der Freiheit verbreitete Version klang offensichtlich sehr viel kämpferischer als der im Berliner Tageblatt zitierte Wortlaut. Im Anschluss an Molkenbuhr sprach Haase im Namen der ,,Reichsregierung“ (wie viele Zeitgenossen den Rat der Volksbeauftragten weiterhin nannten) zu den versammelten Trauernden. „Die gewaltige Revolution kann nicht vernichtet werden“, rief er ihnen zu und führte laut Berliner Tageblatt weiter aus: Noch nie ist eine politische Umwälzung mit so wenigen Todesopfern vollzogen worden, und doch beklagen wir jeden der Gefallenen. Sie alle sind in das Herz der deutschen Arbeiterklasse, in das Herz der Menschheit eingeschlossen und werden nebst ihren Angehörigen nicht vergessen werden. Die Revolution ist noch nicht beendet. Sie ist im Anfang und muss gesichert werden. Wir müssen wach sein, jeden Augenblick. Es genügt nicht, bloß die politische Freiheit zu erlangen. Wir geloben am Sarge der Opfer, dass wir alle unsere Kräfte einsetzen werden, dass die politische Umwälzung von einer sozialen Umwälzung begleitet wird. Erreichen wir das, dann können wir mit Fug und Recht sagen, die Opfer sind nicht umsonst gefallen.43

Die Freiheit zitierte die folgende Passage aus Haases Rede und setzt etwas andere Akzente: Siebzig Jahre sind vergangen, siebzig Jahre der Enttäuschungen, der Unterdrückung und der Knechtschaft. Alljährlich pilgerten am 18. März die Arbeitermassen nach dem kleinen Friedhof hinaus, um das Gedächtnis jener Revolutionshelden, der Märzgefallenen, zu ehren. Manchmal schien es, als ob die revolutionäre Energie gelähmt sei; aber immer wieder erhob sich in der Arbeiterschaft der Gedanke nach Freiheit. […] Noch nie ist eine Revolution mit so geringen Opfern erkämpft worden. […] Wir geloben diesen Toten, all unsere Kraft für die siegreiche Fortführung des siegreich begonnenen Werkes einzusetzen. Neben der politischen Freiheit muss die soziale Freiheit erstritten werden. Mit Fug und Recht können das diese Toten von uns fordern. Sie haben das erreicht, wonach Millionen gestrebt haben.44

Auf Haase folgte der letzte Redner der Veranstaltung, Paul Hirsch von der SPD, der im Namen der preußischen Regierung sprach. Er schloss seine Rede mit den   41 BArch Berlin R901/55724 Bl. 42–43: „Die Lebenden an die Toten“, „Das Begräbnis der Opfer der Revolution“, Die Freiheit Nr. 11, 21 November 1918. 42 Ebd. 43 BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA. 44 BArch Berlin R901/55724 Bl. 42–43: „Die Lebenden an die Toten“, „Das Begräbnis der Opfer der Revolution“, Die Freiheit Nr. 11, 21 November 1918.  

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Worten: „Die Ideale, für die diese Männer gefallen sind, werden wir verwirklichen. Die neue Freiheit werden wir so fest verankern, daß keine Macht imstande ist, sie zu durchlöchern.“45 Der beachtlichste Versuch, dem Gedenken an die Toten einen anderen Sinn zu unterlegen, kam von links außen. Die Veranstalter der Trauerfeier hatten bemerkenswerter Weise keinen Vertreter des Spartakusbundes als Redner zugelassen, eine Entscheidung, an der die Rote Fahne erbitterte Kritik übte. Sie behauptete, den Rednern seien Anweisungen erteilt worden, was sie sagen dürften und was nicht. „Die Reden waren trotz aller ersichtlichen Vorbereitungen matt“, urteilte die Rote Fahne, „und entsprachen durchaus nicht dem Geiste, von dem die Kämpfer des 9. November erfüllt waren. Es waren die üblichen Leichenreden der vorrevolutionären Zeit. Geradezu als eine Entheiligung der Revolution wirkten die Schwüre und Beteuerungen an die Revolutionsopfer, in ihrem Sinne weiterzuarbeiten, die dort von einem Redner abgegeben wurden, der vor der Revolution alles getan hat, ihren Ausbruch zu verhindern.“46 5. DIE BEGRÄBNISPROZESSION DURCH DIE BERLINER STADTMITTE Nach Ende der Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld mit ihren Reden begann der zweite Akt der Veranstaltung: Die Särge wurden auf große Fuhrwerke geladen, ein Chor sang „Jesus, meine Zuversicht“, und der Trauerzug setzte sich in Richtung Belle-Alliance-Straße (dem heutigen Mehringdamm – einer der Hauptverkehrsadern aus dem Süden der Stadt ins Zentrum) in Bewegung.47 Der Reporter der Deutschen Zeitung berichtete, gegen 11.45 Uhr sei „wieder Leben in die Massen“ gekommen. Erneut äußerte er seinen Respekt vor der organisatorischen Leistung, in einer so großen Menschenmenge die Disziplin aufrecht zu erhalten. („Es verdient Beachtung!“) Einige der Teilnehmer hatten immerhin fast drei Stunden stillgestanden.48 Anstatt den in Friedrichshain gelegenen Friedhof auf direktem Weg anzusteuern, wählte die Prozession eine Route durchs Zentrum, so dass man durch das Brandenburger Tor und die traditionsreichen Straßen von Berlin-Mitte marschieren konnte. Die Zahl der Teilnehmer am Trauerzug wuchs, je näher dieser der Stadtmitte kam. Das Berliner Tageblatt übermittelte seinen Lesern das Bild einer auf die Prozession dekorativ vorbereiteten Innenstadt: Wo früher an Feiertagen der „preußi  45 BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA. 46 BArch Berlin R901/555724 Bl. 36: „Das Begräbnis der Revolutionsopfer“, Rote Fahne Nr. 6 21 Nov. 1918. 47 BArch Berlin R901/55724 Bl. 49: „Opfer und Preis“, Vorwärts Nr. 320, 20.Nov. 1918 MA. 48 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA.  

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sche Adler“ geflattert habe, schrieb es, prangten jetzt die roten Fahnen der Revolution: „Rot war die Wilhelmstraße, rot waren die Linden, rote Banner waren auf den Zinnen des Reichstags befestigt. Die Viktoria auf dem Brandenburger Tor trug in ihrem Siegeskranz ein rotes Fähnlein. Und auch in den Straßen der Stadt hatten Viele rote Fahnen ausgehängt, um nach ihrer Art für die Freiheit zu demonstrieren.“49 Wie die Deutsche Zeitung berichtete, fanden sich entlang der Umzugsroute aber auch die schwarz-rot-goldenen Fahnen der Revolution von 1848, und viele Mitglieder der Soldatenräte hatten sich Armbinden in diesen Farben umgebunden. Von den Soldaten, die an der Prozession teilnahmen, trugen laut dem Bericht der Deutschen Zeitung etliche noch ihren Stahlhelm, andere ihre Dienstmütze. Alle diese Soldaten waren unbewaffnet. An der Spitze paradierte erneut eine Kompanie waffentragender Matrosen, und auch jetzt wieder fiel die große Zahl der Militärkapellen ins Auge, von denen etliche die Abzeichen ihrer Truppeneinheit mitführten. Auch die Berliner Fabriken waren vertreten.50 Was die Zahl der im Trauerzug mitgeführten roten Fahnen betraf, so lieferte die liberale und linke Presse dazu andere Schätzungen als die konservativen Zeitungen. Während das Berliner Tageblatt den Eindruck vermittelte, Berlin-Mitte habe nur so gestrotzt vor roten Fahnen, die von den Gebäudefassaden aus die durchziehende Prozession grüßten, betonte die Deutsche Zeitung, an den Häusern entlang der Belle-Alliance-Straße und der Königgrätzer Straße (die heutige Stresemannstraße und Ebertstraße) habe es „so gut wie keinen roten Flaggenschmuck“ gegeben. Nur hier und da habe vor einem kleinen Ladengeschäft „ein rotes Fähnchen“ geweht, wie sich der Reporter der Deutschen Zeitung ausdrückte.51 Darauf machte er sich den folgenden Reim: „Wie die Tatsache als Stimmungsmoment zu deuten ist, mag dahingestellt bleiben. Auf der Kaserne der ersten Gardedragoner weht die rote Flagge auf Halbstock. Das Publikum demonstriert seiner Mehrzahl nach durch rote Abzeichen, und – rot gekleidete Kinder.“52 Einen anderen Eindruck von der Straßenszenerie gewann der Berichterstatter des Berliner Tageblatts. Seiner Darstellung zufolge wurde die Prozession unweit des Brandenburger Tors von einer Ehrengarde begrüßt, und die Stadt legte gleichsam eine Atempause ein, um der vorüberziehenden Prozession ihre Trauer zu bezeigen. Überall hätten mit „Trauerfloren“ drapierte rote Fahnen geflattert, und Passanten und Anwohner hätten Banner mit Aufschriften hochgehalten, die den Toten ein ehrendes Andenken versprachen. Als Beispiele nannte er: „Den Kämpfern für die Freiheit“, „Brüder, Euch dankt das Volk“ oder „Den Toten der Revolution“. Auf einem Automobil habe eine rote Fahne mit der Aufschrift „Das geistige Proletariat“ gethront. Besonders beeindruckt zeigte sich das Berliner Tageblatt von zwei französischen Kriegsgefangenen, die auf einem Schild ihre Trauer um die „Opfer   49 BArch Berlin R901/55724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 595, 21 Nov. 1918 MA. 50 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 51 Ebd. 52 Ebd.  

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der deutschen Revolution“ bekundeten. Das Blatt verwies in dem Zusammenhang auch auf russische und belgische Kriegsgefangene unter den Trauernden. Für die Freiheit markierten die Trauerfeierlichkeiten einen „Bußtag – voraussichtlich der letzte in Preußen, wie ihn die deutsche Reichshauptstadt noch nie erlebt hat“.53 Beim Passieren der Neuen Wache und des Schlossplatzes „wurden dreimalige Trauersalven abgegeben“.54 Das war ein Detail von hoher Symbolkraft, waren doch diese Orte bis 1914 öffentlichen Trauerakten ganz anderen Zuschnitts vorbehalten gewesen – 1898 hatte unweit von hier, im Lustgarten, die offizielle Trauerfeier für Otto von Bismarck stattgefunden.55 Nach ihrem Zug durch Berlin-Mitte erreichte die Prozession mehr als vier Stunden nachdem am Tempelhofer Feld der erste Redner das Wort ergriffen hatte, den Friedhof der Märzgefallenen. Die Toten vom November 1918 an der Seite der Toten von 1848 zu begraben, war ein Vorgang mit einer unüberhörbaren Botschaft: Die Revolution 1918 war die geschichtliche Erbfolgerin der demokratischen Revolution von 1848. Dies war eine demonstrative politische Geste, darauf berechnet, der Revolution eine symbolische Bedeutung innerhalb der deutschen Geschichte zuzuweisen. Der Symbolgehalt dieser Geste sollte bald noch zunehmen, als die Regierung denen, die im Januar 1919 und danach im revolutionären Kampf den Tod fanden, eine Bestattung an dieser symbolischen Stätte verweigerte. An diesen Symbolgehalt knüpfte das Berliner Tageblatt (das seiner Reportage die Überschrift „Trauerfeier für die Revolutionsopfer“ gab) seine Beschreibung und Einschätzung dessen, was sich an diesem Tag vollzog: Nicht im Frühling, wie im Sturmjahr 1848: an einem grauen Herbsttag wurden gestern die Opfer der Revolution zum Friedrichshain, dem heiligen Hain der Volksbefreier, geleitet. Damals beweinte die Bürgerschaft Berlins hundertdreiundachtzig Tote, die auf den Barrikaden gefallen waren; heute sind in einem Kampf, der gegen das Morden der vierjährigen Schlacht wie ein Kinderspiel erscheint, fünfzehn Menschen gestorben, und nur acht von ihnen wurde die Ehrung der Volksbestattung zuteil.56

Die Deutsche Zeitung wartete mit einer eher kritischen Einordnung des Ereignisses auf: „Buß- und Bettag! Das rote Berlin hat ihr Begräbnis zu einer mächtigen Trauerkundgebung benutzt.“57 Auf dem Friedhof der Märzgefallenen wurden die Särge von den Fuhrwerken gehoben und von Matrosen die letzten Meter zu dem großen Grab getragen, in das alle acht hinabgelassen wurden.58 Von einer großen Trauergemeinde umschlossen, stimmte der Arbeitersängerbund einen Choral an, wonach   53 BArch Berlin R901/55724 Bl. 42–43: „Die Lebenden an die Toten“, Die Freiheit, Nr. 11, 21 Nov. 1918. 54 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 55 Gerwarth (2006): The Past in Weimar History, S. 1. 56 BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“, Berliner Tageblatt Nr. 594 21 Nov. 1918 MA. 57 „Die Bestattung der Berliner Revolutionsopfer“, Deutsche Zeitung Nr. 592, 21 Nov. 1918 MA. 58 BArch Berlin R901/555724 Bl. 44: „Die Trauerfeier für die Revolutionsopfer“ Berliner Tageblatt Nr. 594, 21 Nov. 1918 MA.  

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die Matrosen einen Salut abfeuerten. Die Grabrede hielt der USPD-Mann Emil Barth von den Revolutionären Obleuten, zu der Zeit noch Mitglied im Rat der Volksbeauftragten. Für eine Störung der Liturgie der Trauerfeier sorgten Luise Zietz und Karl Liebknecht, die Grabreden hielten, in denen sie eine ganz andere Sinngebung und Begründung für den Tod der Revolutionäre anklingen ließen.59 6. EINE ABWEICHENDE SINNGEBUNG FÜR DAS GEDENKEN AN DIE TOTEN: KARL LIEBKNECHT UND DIE ROTE FAHNE Nach Meinung der Roten Fahne hatte nicht einmal Barth in seiner Rede den Ernst der Lage adäquat erfasst. „Am offenen Grabe der Opfer polemisierte er gegen die Diktatur des Proletariats“, hielt sie ihm vor.60 Die Spartakisten hätten in ihren nicht vorgesehenen Reden die inhaltlichen Mängel in den „offiziellen Reden“ kritisiert. Wie die Rote Fahne ausführte: Im Gegensatz zu den offiziellen Reden standen die programmwidrigen Ansprachen, die Genossin Zietz und Genosse Liebknecht am Grabe hielten. Sie allein vermochten den Geist des 9. November an der Bahre seiner gefallenen Helden zu rufen und den Zuhörern mitzuteilen. […] So klang die Feier in den Worten Liebknechts aus: ‚Gründet fest die Herrschaft der Arbeiterklasse! Seid entschlossen gegen jeden, der sich ihr widersetzt! Auf zur proletarischen, zur sozialistischen Revolution!‘61

Das Auftreten Liebknechts und die Unstimmigkeiten am Grab wurden zum Thema weit gestreuter, von Wolffs Telegraphischem Bureau und Anderen verbreiteter Meldungen.62 Wie der Vorwärts tags darauf in seiner Morgenausgabe kommentierte: „Fast unblutig ist die größte aller Revolutionen verlaufen, welche die Welt erlebt hat. […] Aber noch hat sich die Erde über den Leibern der Revolutionsopfer nicht geschlossen, und schon hat unter Sozialisten ein Streit darüber begonnen, was eigentlich der Preis sei, für den diese Opfer gefallen sind. Demokratie oder Diktatur, für oder gegen die Nationalversammlung, so hallen die Schlagworte durcheinander.“63 In der Folge bildete das Verhalten Liebknechts einen weiteren Baustein für die Entwicklung des „Liebknecht-Mythos“ – der Idee, dass Karl Liebknecht in der Lage gewesen wäre, die Macht zu ergreifen und eine zweite Revolution durchzuführen, obwohl ihm hierfür faktisch die Unterstützung und die nötigen Machtmittel fehlten. Seine Rede am Grab der Revolutionsopfer lieferte den Beweis für die Gleichsetzung seiner revolutionären Rhetorik mit Gewalt und Blutvergießen. Indem Liebknecht sich eigenmächtig als Grabredner in Szene setzte, half er mit, den   59 BArch Berlin R901/555724 Bl. 39: Wolff’s Telegraphisches Büro Nr. 3280, 21 Nov. 1919 AA. 60 BArch Berlin R901/555724 Bl. 36: „Das Begräbnis der Revolutionsopfer“, Rote Fahne Nr. 6, 21 Nov. 1918. 61 Ebd. 62 BArch Berlin R901/555724 Bl. 39: Wolff’s Telegraphisches Büro Nr. 3280, 21 Nov. 1919 AA. 63 BArch Berlin R901/55724 Bl. 49: „Opfer und Preis“, Vorwärts Nr. 320, 20.Nov. 1918 MA.  

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Mythos zu stärken und forderte seine Gegner heraus sich nochmals intensiver mit ihm zu beschäftigen.64 7. SCHLUSSFOLGERUNGEN Die Begräbnisse vom November 1918 nehmen unter den politischen Beerdigungen der Revolution von 1918/19 eine Sonderstellung ein. Sie waren die einzigen, bei denen sich beide sozialistischen Parteien gemeinsam zu den Toten, die begraben wurden, bekannten. Unmittelbar danach wurden die kulturellen „Regeln“ zum Umgang mit politischen Todesopfern radikal umgeschrieben. Von Mitte Dezember 1918 an agierten die Mehrheits-Sozialdemokraten gegen sozialistische Begräbnisse, die hauptsächlich von USPD oder den Spartakisten organisiert wurden. Schon an den von den Spartakisten inszenierten Begräbnissen der Toten vom 6. Dezember ließen sie kein gutes Haar. Und als am Jahresende die Bestattung der Matrosen nahte, die ihr Leben am 24. Dezember in Berlin verloren hatten, organisierte die Berliner SPD eine politische Parallelveranstaltung. Damit wollte sie verhindern, dass Arbeiter einer „spartakistischen“ Trauerfeier beiwohnen, und zugleich ihre eigene Herrschaft über die Straßen Berlins demonstrieren.65 Ende Januar 1919 ging die sozialdemokratische Regierung noch einen Schritt weiter: Sie sprengte mit Militärgewalt die politischen Beerdigungen von Opfern des Januaraufstandes. Der Rückblick auf das, was kommen würde, macht deutlich, dass die Begräbnisse vom November einen Augenblick der Gemeinsamkeit markierten, in dem sich die beiden die Regierung tragenden sozialdemokratischen Parteien ein letztes Mal gemeinsam zu den Toten der Revolution bekannten.66 Wenn man die Begräbnisse selbst unter die Lupe nimmt, wird deutlich, dass sie historische Reibungspunkte waren, gekennzeichnet durch multiple konkurrierende Versuche, der Revolution Sinn und Bedeutung zu verleihen. Die geringe Zahl der Todesopfer erlaubte es Anhängern der neuen Ära, die positiven Errungenschaften der Revolution zu betonen, wie die Tatsache, dass man eine gewaltige politische Umwälzung geschafft hatte, und zwar ohne die Gewaltexzesse, die viele mit einer Revolution und mit der Erinnerung an 1789, 1848, die Pariser Kommune und die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 assoziierten. Zu den erfreulichen Botschaften, die von den Begräbnissen ausgingen, gehörte auch das Bemühen, die Revolution mit historischer Legitimität auszustatten. Bei den Begräbnisfeiern wurde sie als nachgeholter Triumph der demokratischen Ideale von 1848 gedeutet. Die November-Begräbnisse schöpften nicht zuletzt auch aus einem Fundus politischer Trauerrituale der sozialistischen Vorkriegslinken und konstruierten daraus positive Sinngebungen. Sie bezogen Elemente aus den großen sozialistischen Trauerfeiern für Wilhelm Liebknecht und August Bebel mit ein. Der Erfahrungshorizont   64 Jones (2017): Am Anfang, S. 74–94; 114–116. 65 Ebd., S. 136–148. 66 Ebd., S. 229–233.

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des Ersten Weltkriegs legte dieser Tradition weitere Schichten auf: Bei den Begräbnissen wurde unterstrichen, dass die Getöteten mit dem Opfer, das sie gebracht hatten, mitgeholfen hatten, das für die Brutalität des letzten Krieges verantwortliche Regime zu beseitigen. Die Botschaft lautete: Das in der Revolution vergossene Blut war der notwendige Preis für die gelungene Absetzung eines Regimes, das eine Phase unerhörter Gewalt zu verantworten hatte. Die Rolle, die die Mehrheits-Sozialdemokratie bei den Trauerfeiern spielte, erweckte den Eindruck, die Partei sei zu ihrer Vorkriegs-Programmatik zurückgekehrt, zu dem Vorsatz, eine neue Ordnung zu erschaffen. Die vier Kriegsjahre, in denen die SPD den Burgfrieden mit dem Kaisertum geschlossen und eingehalten hatte, schien sie abgeschüttelt zu haben. Die Begräbnisse markierten einen kurzen Augenblick der symbolischen Eintracht zwischen MSPD und USPD, einen Versuch, die am 9. und 10. November erreichten Kompromisse zwischen den beiden Parteien zu bekräftigen. So gesehen, können wir die November-Begräbnisse als Ouvertüre zu einer Kultur des republikanischen Totengedenkens deuten, die später in der massenhaften Trauer kulminierte, die auf die Ermordung Walther Rathenaus folgte.67 Andererseits waren die Spannungen zwischen den Akteuren des Novembers 1918 unabhängig davon, wie sie zu vergangenen und künftigen Kundgebungen politischer Trauer standen, stets greifbar. Die Begräbnisse waren Momentaufnahmen und Gelegenheiten, anlässlich derer man sich über die Bedeutung der Revolution austauschen konnte. Die in den obigen Abschnitten analysierten Schilderungen zeigen, dass die Begräbnisse einen kurzen geschichtlichen Moment markierten, an dem sich die von der Revolution wachgerufenen Ängste vor den Augen und Ohren eines großen Publikums zu Wort meldeten. Die „Massen“, die den Umsturz der Machtverhältnisse letztlich herbeigeführt hatte, kehrten auf die Straßen zurück, um diejenigen zu betrauern, die in der Revolution ihr Leben gelassen hatten. Bei Konservativen weckte die Rückkehr der Massen auf die Straße die Befürchtung, es gebe keine Macht mehr, die in der Lage wäre, diese Massen von weiteren Akten politischer Gewalt abzuhalten. Dazu kam ein Weiteres: Ungeachtet aller rhetorischen Beschwörungen des friedfertigen Charakters der deutschen Revolution vom 9./10. November gemahnten die November-Begräbnisse einfach nur dadurch, dass sie ganze Großstädte lahmlegten (und sei es auch nur des Trauerns wegen), das politische Publikum an seine eigene physische Verwundbarkeit. Die Zahl derer, die im Zuge der November-Begräbnisse beerdigt wurden, ist unter diesem Aspekt nicht ganz so unwichtig, wie manche Historiker meinen mögen. Dass es bei diesen Begräbnissen nur um Dutzende und nicht Hunderte Tote ging, war nicht von Belang. Der springende Punkt war vielmehr, wo und wie diese Männer gestorben waren: Anders als die Millionen Gefallenen an den Fronten eines Krieges gegen äußere Feinde lieferten die Toten des Novembers 1918 einen Vorgeschmack auf das mögliche Antlitz eines künftigen Bürgerkriegs: Diese Opfer hatten den Tod gefunden, als Deutsche auf Deutsche geschossen hatten, und die Tatorte, an denen sie getötet worden waren,   67 Sabrow (1994): Der Rathenaumord, S. 158.

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waren die Straßen deutscher Städte gewesen, auf denen deutsche Bürger eigentlich vor dem Einsatz tödlicher Kriegswaffen geschützt sein sollten. Dieser Subtext war eines der Treibmittel für die Vorahnung einer Gewalt, die in Zukunft noch schlimmere Ausmaße annehmen könnte. Karl Liebknechts Auftritt am Grab der ersten Toten der Revolution half mit, diese Dynamik in Gang zu setzen, indem er die Befürchtung schürte, dieser Mann werde bald für eine Eskalation der Gewalt in Deutschland sorgen. In diesem Sinn geben uns die Begräbnisse vom November 1918 auch eine wichtige Warnung an die Hand, uns nicht auf den Argumenten derer auszuruhen, die unter Berufung auf die Ideen von Ernst Troeltsch die These vertreten, das Kriegsende sei ein Moment des Loslassens oder der Wiedergeburt gewesen (etwa wenn Wolfgang Schivelbusch von der Hochstimmung im „Traumland des Waffenstillstands“ spricht).68 Die Begräbnisse gemahnen uns daran, dass für viele, die damals lebten, der Winter 1918/19 ein Winter des Schreckens war. Wer würde denn auch ein Begräbnis in Hochstimmung verlassen? QUELLEN BArch Berlin R901/555724: Bundesarchiv, Berlin Lichterfelde (BArch Berlin): Auswärtiges Amt, Teil: Nachrichten und Presseabteilung. Archiv der Nachrichten und Presse (1907–1945). Zeitungsausschnittsammlung – Sachthemen: Revolution: Opfer der Revolution und ihre Bestattungen (Nov. 1918 – Jan. 1919) Zeitungen: Kieler Zeitung Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung Neue Hamburger Zeitung Hamburger Nachrichten Hamburger Echo Vorwärts Tägliche Rundschau Berliner Tageblatt Deutsche Tageszeitung Deutsche Zeitung Die Freiheit Rote Fahne

LITERATUR Alpaugh, Micah: Non-Violence and the French Revolution: Political Demonstrations in Paris, 1787– 1795, Cambridge 2015. Altenhöner, Florian, Zwischen Triumph und Katzenkammer. Der 9. November in Berlin, in: Kinzler, Sonja / Tillmann, Doris (Hrsg.), 1918. Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918, Darmstadt 2018, S. 152–159.

  68 Schivelbusch (2001): Die Kultur der Niederlage; Troeltsch (1924): Spektator-Briefe.

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Aulke, Julian: Räume der Revolution – Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918–1920, Stuttgart 2015. Barth, Boris, Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933, Düsseldorf 2003. Canning, Kathleen: Gender. Citizenship and the Imaginary of Revolution, in: Klaus Weinhauer, Anthony McElligott, Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916–1923. A Revolution in Context, Bielefeld 2015, S. 103–126. Dähnhardt, Dirk: Revolution in Kiel. Der Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik 1918– 19, Neumünster 1984. Fritzsche, Peter: Germans into Nazis, Cambridge, MA 1998. Gerwarth, Robert: The Past in Weimar History, in: Contemporary European History 15 (2006), H. 1, S. 1–22. Ders. / Horne, John (Hrsg.): Bolshevism as Fantasy: Fear of Revolution and Counter-revolutionary Violence, 1917–1923, in: Dies. (Hrsg.), War in Peace. Paramilitary Violence in Europe after the Great War, Oxford 2012, S. 52–71. Jerram, Leif: Streetlife. The Untold History of Europe’s Twentieth Century, Oxford 2013. Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918–19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin / München 2017. Ders.: The Crowd in the German November Revolution, in Klaus Weinhauer / Anthony McElligott / Kirsten Heinsohn (Hrsg.): Germany 1916–1923: A Revolution in Context, Bielefeld 2015, S. 37–57. Kinzler, Sonja / Tillmann, Doris (Hrsg.): 1918. Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918, Darmstadt 2018. Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–19, Düsseldorf 1962. Matthias, Erich (Hrsg.): Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Bearbeitet von Susanne Miller unter Mitwirkung von Heinrich Potthoff (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 6/1), Düsseldorf 1969. Ders. / Morsey, Rudolf (Hrsg.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 2), Düsseldorf 1962. Niess, Wolfgang: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017. Platthaus, Andreas: 18/19. Der Krieg nach dem Krieg. Deutschland zwischen Revolution und Versailles, Berlin 2018. Rackwitz, Martin: Kiel 1918. Revolution. Aufbruch zu Demokratie und Republik, Kiel 2018. Reiss, Matthias (Hrsg.): The Street as Stage: Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century, Oxford 2007. Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), Oldenburg 1994. Schivelbusch, Wolfgang: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001. Troeltsch, Ernst: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/1922, Tübingen 1924.

DIE SPRACHE DER REVOLUTION 1918/19 Heidrun Kämper 1. VORBEMERKUNG Die Sprache der Revolution von 1918/191 beschreiben bedeutet, den Sprachgebrauch einer Umbruchzeit darstellen.2 Unter der Annahme, dass solche Zäsuren Einschnitte im Kontinuum des Geschichtsverlaufs sind, deren Verursacher aufgrund ihres hohen Veränderungspotenzials Politik und Gesellschaft ein neues Gepräge geben, stellt das Jahr 1918/19 eine Zäsur dar, die gesellschaftlich, politisch und damit auch sprachlich eine heterogene Gemengelage mit sich bringt: Erneuerungs- und Beharrungskräfte treffen aufeinander und suchen sich – sprachlich – durchzusetzen, Gewalt und Ethik, gruppenspezifische Ausdrucks- und Kommunikationsstile prägen gleichermaßen den Diskurs. Unter der Voraussetzung dieser Überlegungen exemplifiziere ich im Folgenden zunächst anhand von drei Beispielen den Zusammenhang zwischen Zeitgeschichte und Sprachgeschichte, um dann den Fokus auf ein zentrales Thema der Revolution, die parlamentarische Demokratie, zu richten, diesbezüglich das Searlesche Modell der Institution einzuführen und entsprechende lexikalische Institutionalisierungseffekte zu markieren. Die wortbezogene „Sprache der Revolution 1918/19“ wird dabei stets exemplarisch in Bezug auf Leitwörter und ihre akteursbedingt ideologisch polyseme, also mehrdeutige, an die jeweilige politische Richtung angepasste Ausdeutung beschrieben und mit Verwendungsbeispielen versehen. Denn: Erster sprachlicher Indikator spezifischer Phänomene, wie in diesem Fall der Sprache der Revolution, ist der Wortgebrauch, als derjenige Sprachbereich, der am offensichtlichsten und unmittelbarsten die entsprechenden Kennzeichen aufweist. 2. ZEITGESCHICHTE – SPRACHGESCHICHTE Die Frage nach der Spezifik der Sprache von 1918/19 setzt voraus, dass sich im Wortgebrauch zeitbedingte Veränderungen manifestieren, dass sich mithin in   1 2

Die nachfolgende Betrachtung ist diskursanalytisch angelegt und weist die analytischen Befunde durch zeitgenössische Belege nach. Diese bleiben ggf. nicht auf dieses eine Revolutionsjahr beschränkt. Vgl. Kämper (2008): Sprachgeschichte, S. 211.

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Wortbedeutungen Zeitgeschichte spiegelt. Anhand von drei Beispielen sei dieser mutuelle Bezug nachvollzogen. Frau In Umbruchzeiten kommen Akteure auf, die zuvor nicht beteiligt waren, und es sind solche Akteure nicht mehr beteiligt, die zuvor den Diskurs bestimmt haben. 1918/19 ist die Zeit der politischen und gesellschaftlichen Beteiligung nicht nur der Arbeiter und des Volks, sondern auch der Frauen und damit die Zeit der Erreichung eines der zentralen Meilensteine der Frauenrechtsbewegung. Nicht mehr diskursbestimmend dagegen sind seit der Abdankungswelle im Winter 1918/19 insbesondere die Monarchen.3 Indem Frauen politische und gesellschaftliche Beteiligung wie nie zuvor eröffnet wurde, änderte sich ihr Status und damit auch das Konzept ‚Frau‘: von dem passiven und rechtlosen Mitglied der Gesellschaft zu dem handelnden, gesellschaftlich und politisch beteiligten Subjekt. Die Lebenswelten, in Bezug auf die das Konzept ‚Frau‘ neu gedeutet wird, regelt dann vor allem Artikel 22 (auch 109 und 119) der Weimarer Reichsverfassung, der die Gleichstellung der Frau in Politik und Gesellschaft normiert, indem Frau mit politisierenden Kennzeichen (wie Gleichheit vor dem Gesetz, gleichberechtigt, Wahl) versehen wird.4 Insbesondere das seit 1919 verfassungsmäßig gesicherte aktive und passive Wahlrecht der Frauen bedeutete eine kaum zu überschätzende Zäsur in der neueren Geschichte.5 Es markiert eine im Revolutionsdiskurs lebhaft thematisierte demokratiegeschichtliche Zäsur.6 Darüber hinaus ist der Typ der selbstbestimmten berufstätigen Frau gesellschaftliches Leitbild, intensiviert durch ihre im Krieg erbrachten Leistungen.7 Ergänzt wird die  3

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Abdankung ist daher Ende 1918/Anfang 1919 eines der zentralen Leitwörter und der (hier nicht nachzuvollziehende) hoch frequente Gebrauch von Abdankung in der Revolutionsphase markiert den systemischen Umbruch von der Monarchie zur Demokratie; vgl. Seidenglanz (2011): Mit sofortiger Wirkung. Dass dieses Konzept transitorischen Charakter hatte und die Stärkung der politischen Stellung in ökonomischer Hinsicht z. B. durch die Zahlung gleichen Lohns, durch gleichen Arbeitsschutz, durch Gleichbehandlung lediger Mütter etc. keine Entsprechung hatte und die Entwicklung der Frauenemanzipation und des Frauenrechts gegen Ende der Weimarer Republik nicht nur stagnierte, sondern zurückgenommen wurde, legt z. B. Gordon A. Craig dar; vgl. Craig (1991): Über die Deutschen, S. 184–188. Bessel (2000): 1918–1919, S. 177. „Die Stellung der Frau als Abgeordnete“; Deutsch (1920): Die politische Tat, S. 3; „Es waren insgesamt auf den Listen aller Parteien 310 Frauen als Kandidatinnen aufgestellt“; Deutsch (1920): Die politische Tat, S. 1; „Das erstemal werden die deutschen Frauen zur Ausübung des Wahlrechts ausgerufen werden“; Altmann-Gottheimer (1918): Frauenrechte und -pflichten, S. 78. „Die moderne Frau, die ja beinahe durchweg Berufsfrau ist“; Zepler (1919): Beruf und weibliche Psyche, S. 94; „Durch ihre bewundernswerten Leistungen in der Kriegszeit hat die deutsche

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ses emanzipatorische Frauenkonzept durch das Kennzeichen der akademisch gebildeten, geistig unabhängigen Frau mit gesellschaftlicher Verantwortung. Am Ende dieser durch die Revolution von 1918/19 dynamisierten Entwicklung steht das neue Konzept ‚Frau‘: ein weibliches Wesen, das aufgrund gleicher intellektueller Kompetenz mit gleichen gesellschaftlichen und politischen Rechten wie der Mann ausgestattet ist, dem daher uneingeschränkte Teilhabe in Politik und Beruf möglich ist, das nicht durch geschlechtsbedingte Einschränkungen an dieser Teilhabe gehindert wird und dessen Verhältnis zum (Ehe-)Mann auf dem Prinzip der Gleichberechtigung und Gleichstellung beruht. Die Neuheit dieser Konzeption der politischen, berufstätigen und gebildeten dem Mann ebenbürtigen Frau wird typischerweise markiert mit ein hohes Umbruchbewusstsein ausdrückenden Formeln wie Frauen unserer Zeit, die heutige Frau / Frau von heute, die Frau dieser Tage, moderne / neue Frau. Obrigkeit Im Zuge des Umbruchs von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie bewertet die Diskursgemeinschaft mit Obrigkeit die Vertreter des monarchischen Regierungssystems und des Herrschaftsstaats des Kaiserreichs.8 Insbesondere die von Hugo Preuß geprägten Zusammensetzungen wie Obrigkeitssystem, Obrigkeitsregierung, Obrigkeitsgedanke und vor allem Obrigkeitsstaat sind prodemokratische Argumente im staatsrechtlichen bzw. staatstheoretischen Zusammenhang, indem sie autoritäre politische Verhältnisse des monarchisch und nichtdemokratisch regierten Staates bezeichnen.9 Typischerweise zuschreibende Zeitdeiktika, also solche sprachliche Ausdrücke, die auf Zeit und auf Zeiterscheinungen verweisen wie unzeitgemäß, überkommen, alt kennzeichnen die Zäsur.10

  Frau sich ein volles Anrecht auf die Mitwirkung an der Gestaltung unseres öffentlichen Lebens erworben.“; DNVP (1918): Wahlaufruf der Deutschnationalen Volkspartei, S. 5. 8 „Die Autorität der überkommenen Obrigkeit […] ist nun mit einem Schlage zerstört“; Preuß (1921): Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, S. 159. 9 „Am 9. November war der Obrigkeitsstaat restlos zusammengebrochen“; Scheidemann (1921): Zusammenbruch, S. 16; „Die letzten Rudimente des Obrigkeitsstaates haben dem Volksstaate den Platz geräumt“; Preuß (1921): Vom Obrigkeitsstaat zum Volksstaat, S. 161. 10 „Eine Monarchie, die ein unzeitgemäß gewordener Obrigkeitsstaat und ein von Strebertum und Byzantinismus auf der einen, von Klassenhaß auf der anderen Seite zerfressener Körper war“; Goetz (1924): Deutsche Geschichtsschreibung, S. 422; „Im alten Obrigkeitsstaat konnte man befürchten, daß Forderungen nach einem nationalen Sonderleben vom Staate bekämpft werden“; Blumenfeld (1918): Der deutsche Zionismus, S. 247; „Die Überalterung des Obrigkeitsstaats war die Ursache seines Bankrotts und des gegenwärtigen Umsturzes“; Preuß (1918): Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat, S. 73.  

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Fortschritt Im allgemeinen Gebrauch dieser Bewegungsmetapher ist Fortschritt eine Bezeichnung mit hohem deontischen Potenzial, die eine Entwicklung oder eine Beschaffenheit als erwünscht, erstrebenswert und als Wirkung von Aufklärung und Vernunft bezeichnet. Sie wird im politischen Sinn perspektivenbedingt und weltsichtabhängig ausgedeutet und spezifiziert. Die politische Linke, die Fortschritt signifikant im Sinn einer Bewegungs- und Veränderungsmetapher verwendet, setzt Fortschritt gleich mit der Erreichung von Zielen der Arbeiterbewegung, etwa in Bezug auf soziale Gerechtigkeit, sowie mit Sozialismus und Herrschaft des Proletariats.11 Konservativem, auf Erhalt bedachtem, und extrem rechtem Denken dagegen entspricht der Gebrauch von Fortschritt mit Distanzmarkierungen, wie Anführungszeichen und insbesondere mit distanzierenden Formulierungen wie als Fortschritt bezeichnen oder für Fortschritt halten. Kennzeichnend für den Gebrauch ist die Bezweiflung bzw. Leugnung der Existenz eines mit Fortschritt zu bezeichnenden Sachverhalts.12 Einen weiteren Gebrauchsakzent hat Fortschritt, um ein Vorwärtskommen, einen Vorgang des Voranschreitens in einer bestimmten Hinsicht oder in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt oder eine Höherentwicklung zu bezeichnen. Die politische Linke bezeichnet damit die Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft, zum

  11 „[Wir könnten es nicht verantworten,] wenn wir […] dazu beitragen würden, dass […] dem Fortschritt die Wege wieder verschlossen würden“; Juchacz (1919): Stenografische Berichte, S. 177; „Sozialismus ist Aufstieg und Aufbau, Fortschritt und Erlösung, Menschheitsbefreiung und Glück für alle!“; USPD (1920): Aufruf der Zentralleitung, S. 262; „Der selige Bundesrat hatte die Aufgabe, jedes Vorwärts zu verlangsamen, eine Bremse am Rande des Fortschritts zu sein“; Zetkin (1921): Gesetz zum Schutz der Republik, S. 338f.; „In Sowjetrußland ist durch die Proletarierherrschaft dem Fortschritt in einem Maße das Tor geöffnet worden, wie es in keinem anderen Staate der Welt der Fall ist“; Zetkin (1922): Gegen das reaktionäre Reichsschulgesetz, S. 491f. 12 „Während er von ‚Aufklärung‘, ‚Fortschritt‘, ‚Freiheit‘, ‚Menschentum‘ usw. überzufließen scheint, übt er selber strengste Abschließung seiner Rasse“; Hitler (1925): Mein Kampf, S. 345f.; „Jene Mythen einer Freigeisterei, die von ‚Menschheit‘ sprechen ließen, von ‚Fortschritt‘ und vor allem von ‚Freiheit‘“; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, S. 192; „Das konservative Denken glaubt nicht an „Fortschritt“, es sieht vielmehr, daß die „Geschichte“ ihre großen Augenblicke hat“; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, S. 192.  

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Sozialismus, zum Kommunismus bzw. die Diktatur des Proletariats, den Kommunismus bzw. Sozialismus13, während die extreme politische Rechte Fortschritt autoritär-totalitär und rassistisch deutet.14 Die politische Mitte dagegen versteht Fortschritt als Bezeichnung der politischen Veränderungen hin zu einer parlamentarischen Demokratie und bezeichnet damit einen Prozess ihrer Einführung und der damit möglichen erhöhten politischen Teilhabe und der Verbesserung sozialer Bedingungen der Bürgerinnen und Bürger.15 Im Frauenrechtsdiskurs schließlich steht Fortschritt für den Prozess zur Erreichung der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geforderten Ziele der Frauenemanzipation und der Gleichberechtigung.16 Mit Frau, Obrigkeit und Fortschritt wird exemplarisch das Verhältnis von Zeitund Sprachgeschichte deutlich. Die Bezeichnungen dokumentieren drei zentrale Umbrucheffekte: die Beteiligung von Akteuren, die zuvor ausgeschlossen waren und ihre entsprechende Neukonzeption (Beispiel Frau), die semantische Anpassung einer Kategorie / eines Konzepts, das in der Vorumbruchzeit Gültigkeit und eine den Umbruch auslösende Funktion hatte (Beispiel Obrigkeit) und die verdichtende und bewertende Kodierung von Veränderungen im Zuge des Umbruchs (Beispiel Fortschritt).

  13 „Die Arbeiter sind fest entschlossen, die Republik als einen politischen Fortschritt gegen ihre Feinde zu verteidigen und zu schützen“; Zetkin (1921): Gesetz zum Schutz der Republik, S. 336; „Darin sehe ich […] nichts weniger als einen Fortschritt der Bourgeoisregierung nach der Linken zu, sondern einen Rückschritt der Sozialdemokratie“; Zetkin (1925): Gegen den imperialistischen Locarnovertrag, S. 191; „Sorgt dafür, daß wir als ein freies Volk unserem sozialen Fortschritt dienen können!“; SPD (1925): Flugblatt, S. 273. 14 „Der Mensch, der die Rassengesetze verkennt […], verhindert den Siegeszug der besten Rasse und damit die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt“; Hitler (1925): Mein Kampf, S. 317; „Nicht durch ihn [den Juden] findet irgendein Fortschritt der Menschheit statt, sondern trotz ihm“; Hitler (1925): Mein Kampf, S. 332. 15 „Das […] müssen die älteren Demokraten […] begreifen, wenn sie nicht den demokratischen Fortschritt der Menschheit freventlich verhindern wollen“; Preuß (1919): Rede des Reichsinnenministers, S. 445; „Daß Demokratie und Republik für den sozialen Fortschritt nichts bedeute, das wird von zwei einander entgegengesetzten Seiten behauptet“; Preuß (1925): Bedeutung der demokratischen Republik, S. 281. 16 „Die Mitglieder des Weltbundes dürfen stolz darauf sein, in ihrem Verbandsorgan ‚Jus suffrage‘ die Fortschritte der Stimmrechtsbewegung auszutauschen“; Ledermann (1918): Geschichte der Frauenstimmrechtsbewegung, S. 13; „Wir haben ‚Menschen‘ kennen gelernt, Männer und Frauen, die reif sind für die Idee des Fortschritts, die den Beritt der Frauen in den Staat begrüssen“; Baer (1919): Wall (Wahl!) Fahrt, S. 10; „Führt der unabänderliche Gang der Entwicklung die Frauen allgemein der Berufstätigkeit zu, und ist dies als ein Fortschritt zu begrüßen und zu fördern“; Fischer (1919): Frauenfrage, S. 19.  

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3. WIE ENTSTEHT EINE INSTITUTION? Das Revolutionsjahr ist in Deutschland die Konstituierungsphase der parlamentarischen Demokratie im Sinn einer Institution. Eine Institution nach der Theorie Searles ist „ein System konstitutiver Regeln“.17 Kennzeichen, die Searle als Konstituenten von Demokratisierungsprozessen nennt, sind: Realisierung in der Handlungsform der Deklaration18, dauernde sprachliche Repräsentation19, Zuweisung von „Statusfunktionen“20 und kollektive Akzeptanz der Statusfunktionen.21 „Institutionelle Tatsachen“ wie die Regierungsformen Demokratie oder Monarchie gehen als sprachabhängige Tatsachen aus deklarativen Sprechakten hervor, in deren Vollzug ihnen Statusfunktionen zugeschrieben werden. Diese sind im besten Fall kollektiv anerkannt. Wenn ihnen Zustimmung kollektiv verweigert wird, entstehen Krisen, Revolutionen, Veränderungen der Machtverhältnisse. Es ist also das Kennzeichen von revolutionären Umbrüchen, dass Institutionen in Frage gestellt, konkret: ihren Statusfunktionen die Akzeptanz verweigert wird. Übertragen auf den beginnenden Institutionalisierungsprozess von Demokratie in dem Revolutionsjahr 1918/19 bedeutet dies: Akzeptanz und Akzeptanzverweigerung bzgl. der deklarierten Statusfunktionen sind die, die revolutionäre Dynamik des Institutionalisierungsprozesses ausmachenden Faktoren. Die Institutionengeschichte von Demokratie in ihrer Frühphase 1918/19 ist gekennzeichnet von einer akteurs- und zeitbedingt wechselnden Akzeptierung bzw. Nichtanerkennung der jeweiligen Statusfunktionen von Demokratie (also etwa das Prinzip der Repräsentation, das Abhalten von Wahlen, die Wahrung der Grundrechte etc.), die ihr von   17 Searle (2012): Soziale Welt, S. 24. 18 „Deklaration“ sollte in diesem Zusammenhang als Prinzip verstanden werden, das in sehr verschiedenen sprachlichen Handlungsausführungen realisiert werden kann, von denen die Idealform z. B. in der Verfassung vorkommt: „Das deutsche Reich ist eine Republik.“; Weimarer Reichsverfassung (1919), Art.1; Man denke auch an die zweimalige Ausrufung der Republik zu Beginn der Revolution am 9. November 1918, einerseits durch Philipp Scheidemann (SPD) mit „Es lebe die deutsche Republik!“; Scheidemann (1919): Ausrufung der Republik, S. 46; andererseits durch Karl Liebknecht (Spartakus) mit „ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland“; Liebknecht (1919): Ausrufung der sozialistischen Republik, S. 47. 19 Searle (2012): Soziale Welt, S. 109. 20 Die Statusfunktion ist eine Funktion, „die von einem Gegenstand (Gegenständen), einer Person (Personen) oder einer anderen Entität (Entitäten) erfüllt wird und die nur aufgrund der Tatsache erfüllt werden kann, daß die Gemeinschaft, in der sie erfüllt wird, dem betreffenden Gegenstand, der betreffenden Person oder der betreffenden Entität einen bestimmten Status zuschreibt, und daß die Funktion vermöge der kollektiven Akzeptierung oder Anerkennung des Gegenstands, der Person oder der Entität als Träger dieses Status erfüllt wird“; Searle (2012): Soziale Welt, S. 160f. 21 Diesen Konsens stellt Searle als gesellschaftliches Kontinuum dar, welches Verlässlichkeit, Erwartungssicherheit, geringe Abweichungstoleranz als ein wesentliches Konstituens von Institutionen bedeutet. Searle nennt diese Konstellation „intersubjektiv gewusste intersubjektive Geltung“. Diesen „Sinnzusammenhang“ legen alle Beteiligten ihrem Handeln unter „im Wissen darüber, dass die je anderen es ebenfalls tun“; Searle (2012): Soziale Welt, S. 295.  

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jeweils handlungsmächtigen Akteuren zugeschrieben oder verweigert und die im politischen Diskurs kommunikativ mehr oder weniger konsensuell oder dissensuell, also agonal, ausgehandelt werden. Die Agonalität dieser Phase drückt sich aus in Gewaltmanifestationen, in semantischen Strategien unterschiedlicher Ausdeutungen sowie schließlich in dem Aushandlungseffekt der Verfassung. Gewalt (Kap. 3.1), ideologische Semantik (Kap. 3.2) und die Verfassung mit der Normierung der Grundrechte (Kap. 3.3) also sind diejenigen Aspekte, die die Sprache der Revolution wesentlich prägen. 3.1 Demokratie schaffen und verhindern An dem Diskurs der Revolution von 1918/19 beteiligen sich die Befürworter der politischen Mitte, der sogenannten Weimarer oder der Verfassungskoalition, und die Gegner dieser politischen Veränderung, die, zum Teil gewalttätig, von links und von rechts agieren – der Diskurs und damit die Sprache der Revolution ist davon geprägt. Es wurde geschossen, getötet, misshandelt.22 Entsprechend ist Gewalt ein Kennzeichen dieser Revolution und ihrer Sprache. Ihre Existenz nimmt als eine Dimension von Demokratie die demokratiegeschichtlichen Hürden und Brüche auf, die den Beginn der Weimarer Zeit, also die Phase der Ablösung der konstitutionellen Monarchie durch die parlamentarische Demokratie, als politischer Mord, als Erschießen und Erschlagen kennzeichnen.23 Dieses Phänomen wird „Anfälligkeit der Epoche für Gewalt“ genannt, begründet mit dem Wandel der „Geschlechterordnung“, dem „sozialen Protest“ und dem Fortbestand militärischer Strukturen, ebenso wie mit der „Faszination der Intellektuellen etwa durch das Boxen als der zeitentsprechenden Kampfsportart“.24 Auch Brutalisierungseffekte des Ersten Weltkriegs werden geltend gemacht.25   22 „In einem ganz entscheidenden Punkt bildete 1918/19 [...] einen Bruch im politischen und öffentlichen Verhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Einführung einer neuen politischen Ordnung drängte sich in einem zuvor kaum vorstellbaren Ausmaß die Gewalt ins öffentliche Leben der Deutschen.“; Bessel (2000): 1918–1919, S. 175; vgl. dagegen die jüngst erschienene Studie von Mark Jones; Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. 23 Als „an der Schwelle zum oder im Laufe des 20. Jahrhunderts“ neu hinzugekommenen Grundbegriffen erkennt Geulen u.a. „Gewalt“; Geulen (2010): Plädoyer, S. 12. 24 Hardtwig (2005): Politische Kulturgeschichte, S. 15. 25 Vgl. Bessel (2000): 1918–1919, S. 182; Exemplarisch sei auf ein Flugblatt der KPD von Anfang 1919 und den hier verwendeten, Gewalt repräsentierenden Wortschatz verwiesen: „Der gerichtliche Mord an Leviné: Arbeiter! Parteigenossen! Über siebenhundert revolutionäre Proletarier hat die mehrheitssozialistische Regierung von Bamberg in München aufs Pflaster geschmettert. Ein Blutrausch hatte die Bourgeoisie und ihre sozialistischen Lakaien erfaßt. Das bestialische Mordwerk wird gekrönt durch die standrechtliche Erschießung Eugen Levinés. Diesmal gibt es nicht die fadenscheinige Ausrede von Übergriffen der Soldateska – die vorher immer in den Blutrausch versetzt wird, in dem sie ihre Hunnentaten begehen muß. [...] Die Blutschuld fällt auf die Häupter aller derjenigen Mitglieder der mehrheitssozialistischen Partei, die danach noch mit diesen kaltblütigen Mördern in einer Partei sitzen. Die Mordtat ist ein  

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Die Sprache dieser Gewalt ist ein Diskursgegenstand, etwa in einem Kommentar des, seine umgebende politische und gesellschaftliche Wirklichkeit gründlich dokumentierenden und kommentierenden Tagebuchautoren Harry Graf Kessler, der das politische Szenario in der Formel Maschinengewehr im Klassenkampf 26 verdichtet und der sprachliche Radikalisierung im Zusammenhang mit Reaktionen auf die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts bewertet.27 Wenn Gewalt in der Revolution 1918/19 darzustellen ist, muss der politische Mord thematisiert werden. Er ist ein Interregnums-Phänomen und der „Gedanke, daß die Ermordung politischer Gegner rechtens sei, erschien hier selbstverständlich“.28 Als sogenannte „Fememorde“ werden bis 1924 mehr als 400 politische Gegner von der extremen Rechten umgebracht. Die Morde an Luxemburg und Liebknecht, an Erzberger und Rathenau sind die prominentesten der ersten Jahre, in denen körperliche Aggression bei den politischen Extremen in Frage kommt, in einer Häufigkeit, dass bereits 1922 eine monografische Analyse, „Vier Jahre politischer Mord“ von Emil Julius Gumbel, erscheint. Institutionentheoretisch ist politischer Mord das Phänomen eines ungefestigten politischen Systems, das Akzeptanzverweigerung im Zuge des Institutionalisierungsprozesses in extremer Weise ausdrückt. Es ist ein Phänomen, das einen sprachlichen und einen materiellen Aspekt hat, dessen Sprachlichkeit und Materialität in einem Bedingungsverhältnis stehen: Die Sprachlichkeit von Gewalt geht der Materialität von Gewalt voraus. Dieser Aspekt der vorgängigen Sprachlichkeit ist ein Effekt der extremen Ideologisierung der politischen Konstellationen 1918/19, die sich etwa in der Flugschrift Karl Helfferichs ausdrückt. Er betitelt sie „Fort mit Erzberger“, verunglimpft Erzberger darin als Krebsschaden und Reichsverderber und schließt: „Deshalb gibt es für das deutsche Volk nur eine Rettung. Überall im Lande muß mit unwiderstehlicher Gewalt der Ruf ertönen: Fort mit Erzberger!“29 Diese Schrift und insbesondere dieser Schlusssatz, die in den Zusammenhang mit dem Attentat auf Erzberger am 20. Januar 1920, das er überlebte, und seiner Ermordung am 28. August 1921 gestellt wird, ist ein Beispiel sprachlicher politischer Verrohung, und kein besonders radikales. Ethisch-moralische Enthemmung wird im Forum des Weimarer Reichstags thematisiert: Die gewalttätigen Normbrüche und die Bedeutung der Sprache sind Debattengegenstand und werden mit moralischem Anspruch bewertet. Reichskanzler Wirth spricht am 26. Juni 1922 in seiner Reichstagsrede zur Ermordung Walther  

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Glied in der langen Kette von politischen Morden an den revolutionären Arbeitern, die den Weg der Sozialverräter bezeichnen! Arbeiter. Parteigenossen. Gedenkt! Grabt diese blutige Tat in euer Gedächtnis!“; KPD (1919): Flugblatt, S. 427–428. Kessler (1919–1923): Tagebuch, S. 109. „Auffallend war mir vor Allem die masslose Übertreibung und ans Pathologische grenzende Aufregung, mit der Bloch und Nicolai den Tod Liebknechts als ‚scheusslichstes Verbrechen der Weltgeschichte‘ behandelten. Ich warf als Präzedenzfall den Mord Lichnowskys ein, ohne ihre Konvulsionen zu dämpfen.“; Kessler (1919–1923): Tagebuch, S. 107f. Elias (1990): Studien, S. 247. Helfferich (1919): Fort mit Erzberger, S. 32; S. 73; S. 83.

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Rathenaus die Schuldigen direkt an: „Was Sie zum Beispiel, Herr Abgeordneter Körner, persönlich in Ihren Zeitungen im Schwabenland geschrieben haben, das können Sie nicht wieder gutmachen“ klagt er einen Vertreter der deutschnationalen Rechten an, „steigt Ihnen (zu den Deutschnationalen) da nicht auch die Schamröte ins Gesicht?!“ fragt er sie rhetorisch, „wo ist ein Wort gefallen im Laufe des Jahres von Ihrer Seite gegen das Treiben derjenigen, die die Mordatmosphäre in Deutschland tatsächlich geschaffen haben?!“ mahnt er die Parteivertreter an ihre moralische Pflicht. „Wir haben in Deutschland geradezu eine politische Vertiertheit“ lautet sein Urteil zu extremistischer Radikalität, um abzuschließen mit der berühmten (ursprünglich von Scheidemann stammenden) Anklageformel: „Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“30 Halten wir fest: Die politische Sprache 1918/19 war in hohem Maße radikal, brutal, enthemmt und zeigt in hoher Evidenz, dass ein gewaltbereites politisches Handeln nicht vollkommen tabuisiert war und sprachliche Bezugnahmen diesem Handeln entsprechen. Insofern Sprache und Gewalt in einem mutuellen Bedingungsverhältnis stehen, brutalisieren Bezugnahmen auf Gewalt die Sprache ebenso wie sprachliche Reaktionen beziehungsweise Kommentare dieser Vorfälle. 3.2 Demokratie be- und zerreden Insofern die Gültigkeit der Statusfunktionen durch Akzeptanz erzeugt beziehungsweise durch Akzeptanzverweigerung verhindert wird, ist die Frage nach deren sprachlicher Repräsentierung entscheidend im Zusammenhang mit der „Sprache der Revolution“. Es geht im Folgenden um diejenigen Instanzen, die im Zuge des Institutionalisierungsprozesses 1918/19 als Statusfunktionen thematisiert, reklamiert, diffamiert, für nichtig erklärt werden.31 Die Institutionalisierungsphase der parlamentarischen Demokratie ist nicht nur durch materielle und sprachliche Gewalt gekennzeichnet. Vielmehr unterliegt auch die Konzeption der Institutionen den spezifischen Bedingungen der Topografie eines politischen Diskurses. Diese Topografie bilden die politischen Parteien der Linken, Rechten und der Mitte, einschließlich einiger weiterer Akteure (insbesondere des intellektuellen Diskurses). Diese Konstellation bewirkt den kontroversen, von hoher Agonalität geprägten politischen Diskurs von 1918/19. Er besteht in einem interesse- beziehungsweise machtgeleiteten Reden hochideologisierter, als Beharrungs- und als Neuerungskräfte agierender Diskursbeteiligter der politischen Richtungen, das die Etablierung der parlamentarischen Demokratie beziehungsweise die Verhinderung dieser Etablierung zum Gegenstand hat.   30 Wirth (1922): Reichstagssitzung, S. 214. 31 Vgl. zum Folgenden ausführlich Kämper (2014): Demokratisches Wissen.

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3.2.1 Links: Binäre Weltsicht In Bezug auf Demokratie als Institutionalisierungsobjekt unterscheidet die Weimarer Linke einfache positiv und negativ konstituierende Statusfunktionen. Ihre Institutionalisierungsakte erfolgen – unter Beibehaltung der Institutionenbezeichnung Demokratie – durch Verwerfen unerwünschter und Zuschreibung erwünschter Statusfunktionen. Diese Kodierungen ermöglichen die gleichsam tautologische Formel „Es steht Demokratie gegen Demokratie“.32 Sie ist die Verdichtung einer agitatorisch gemeinten Synopse zweier Demokratiekonzeptionen, die als sprachlicher Institutionalisierungsakt ein Schulbuchbeispiel ideologischer Polysemie33, also der je nach Weltsicht und politischer Orientierung unterschiedlichen Ausdeutung eines Ausdrucks, darstellt: Hier die leere bürgerliche formale, politische Demokratie; dort die blutstrotzende, kampffrohe proletarische, sozialistische Demokratie, die die wirtschaftliche Befreiung und Gleichberechtigung der Arbeiter zur Voraussetzung hat.34

Sozialismus ist im linken Verständnis dann Demokratie, wenn sie nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Gleichberechtigung bedeutet. Damit ist die zentrale Statusfunktion der Institution aus der linken Perspektive benannt, und um hier den Nachdruck zu setzen, wird der Anspruch wahre / tatsächliche / wirkliche / volle Demokratie erhoben. Eine Entsprechung dieses demokratischen Ideals findet sich in dem Konzept der Räteordnung (des Rätemodells, -systems) bzw. der Diktatur des Proletariats.35 Mit Rätesystem erfährt das linke Gesellschaftskonzept eine institutionelle Normierung ausdrückende Klassifizierung, und das damit repräsentierte, nach sowjetischem Vorbild entwickelte Partizipationsmodell bleibt konstante Zielkategorie und Synonym von proletarische, sozialistische Demokratie.36 Mit negativ konstituierenden Zuschreibungen spricht die Linke dem Institutionalisierungsobjekt, das denselben Namen hat, den Institutionenstatus ab, entweder

  32 Zetkin (1919): Ich will dort kämpfen, S. 102f.; Diese Tautologie ist ein besonderes Beispiel, das deutlich macht, „welche Rolle das Vokabular spielt“ und das man „aus manchen Aktivitäten revolutionärer und reformerischer Bewegungen ersehen [kann]. Sie versuchen, das Vokabular in den Griff zu bekommen, um das System der Statusfunktionen zu ändern.“; Searle (2012): Soziale Welt, S. 176f. 33 Dieckmann (1972): Sprache und Ideologie, S. 50. 34 Zetkin (1919): Ich will dort kämpfen, S. 102f. 35 „Das Rätesystem erfasst die werktätige Bevölkerung zu einheitlichem Handeln. Es kommt damit der wahren Demokratie näher, denn es [...] macht aus der Diktatur des Proletariats den Willensausdruck der überwältigenden Mehrheit des Volkes.“; Müller (1921): Rätesystem, S. 63f. 36 Der Einsicht folgend, dass dem „Rätegedanken […] soweit ein Recht zuzugestehen war, als er sich in die Verfassung eingliedern läßt“ wurde das Rätemodell als Verfassungsrealität des Artikels 165 mit den Bezeichnungen Betriebs-, Bezirks- und Reichsarbeiterrat manifestiert; Preuß (1923): Reichsverfassungsmäßige Diktatur, S. 536.  

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mit Ideologemen wie (klein)bürgerlich, formal, kapitalistisch37, oder durch den Gebrauch von explizit Werthaltungen ausdrückenden Bezeichnungen und entsprechenden Formeln und Formulierungen. Evident und musterhaft ist der Gebrauch ethisch-moralisch abwertender sprachlicher Bilder des Scheins, der Maske und der Lüge38, mit denen der parlamentarischen Demokratie der Institutionenstatus abgesprochen wird. Deinstitutionalisierungsakte der Linken sind mithin Akte der Entmoralisierung, indem die Linke den ethischen Verstoß gegen das Verbot der Lüge, das sie mit ihrer Metaphorik des Scheins und der Maske ausdrückt, ideologisiert.39 3.2.2 Rechts: Untergang Auf der Rechten überwiegen Deinstitutionalisierungsakte der denunzierenden Paraphrasen und Schmähungen, die sich zum einen in der auch von der Linken als Verdichtung ihrer Demokratiekritik intensiv verwendeten Formel formale Demokratie manifestiert.40 Wenn die Rechte diese Formel verwendet, denunziert sie, wie die Linke, die institutionenrelevanten Instanzen Wahlen41, Parlament, Parteien. Darüber hinaus verortet die politische Rechte Demokratie zu denunzierenden Zwecken erstens mit territorialem oder historischem Bezug zum Westen, das bedeutet

  37 „Die an die Wand gedrückte kleinbürgerliche Demokratie des Zentrums und der Deutschen Demokraten.“; Zetkin (1920): Das erste Wort, S. 219; „Die revolutionären Sozialisten erkannten im November 1918, dass die Verwirklichung der formalen Demokratie, der politischen Gleichberechtigung, die Einberufung der Nationalversammlung gleichbedeutend war mit der Aufrichtung der erschütterten Klassenherrschaft des Bürgertums“; Müller (1921): Rätesystem, S. 62; „Treffend hat Karl Marx die kapitalistische Demokratie gegeißelt“; Müller (1921): Rätesystem, S. 62. 38 „Sie [täuscht] die proletarischen Massen durch das Gaukelspiel der Demokratie“; Zetkin (1920): Richtlinien, S. 274; „In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind demokratische Rechtsformen Truggebilde“; USPD (1919): Revolutionsprogramm, S. 23f.; „Wir haben jetzt die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die seit der Revolution durch die Demokratie maskiert ist“; Zetkin (1920): Das erste Wort, S. 218. 39 In diesen Zusammenhang gehört auch die hoch frequente Anklagekategorie Verrat, die im Diskurs der politischen Linken delegitimierende Funktion hatte; vgl. Seidenglanz (2014): Wer hat uns verraten. 40 „Die formale Demokratie […], die auch bei uns jetzt einen Staat vortäuscht, während sich nur ein Klüngel über uns befindet, ist einer Verachtung anheimgefallen, vor der es auf Dauer keine Rettung mehr gibt“; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, S. 32. Dieser Gebrauch „zeugt [davon], daß das Wort Demokratie zu den großen Losungsworten der Epoche gehörte, und, mit neuem Inhalt gefüllt, der eigenen Sache dienen konnte. Indem man die liberale Demokratie mit dem Schimpfwort Formaldemokratie abstempelte, konnte man die eigene ideologische Definition als die ‚wahre‘ Bedeutung des Wortes herausstellen.“; Clason (1970): Schlagworte, S. 153; Das ist auch die Strategie der Linken, wie wir gesehen haben. 41 Wahlen gehören zu denjenigen Ereignissen, „die fortdauernde institutionelle Tatsachen schaffen“; Searle (2011): Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 123.  

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Frankreich, England, USA.42 Eine Variante dieser territorial-nationalen negativen Funktionszuschreibung ist – mit der Überzeugung: „deutsche Demokratie kann nicht echte Demokratie“ sein43 – die Gleichsetzung mit un-/widerdeutsch, deutschfeindlich44 und deutsches Wesen als Bezeichnung derjenigen Instanz, die die Institution gefährdet.45 Zweitens konstruiert sie mit völkisch-rassistischen Ideologemen einen Kausalzusammenhang zum Beispiel zwischen Demokratie und Jude.46 In der Logik der Konzeption ‚Deutschtum und Demokratie sind Widersprüche und schließen einander aus‘ liegt die existenzielle Argumentation mit dem Untergangstopos, der konsequent rechtes Denken prägt. Untergang – eine Universalie ohnehin – kann als Bezeichnung einer elementaren „diskursiven Grundfigur“47 konservativ-nationalistischen Denkens der frühen Weimarer Zeit gelten, die im Titel des Spenglerschen Monumentalwerks, Der Untergang des Abendlandes (1918), lediglich seinen direktesten Ausdruck gefunden hat, keineswegs aber den einzigen: „Hat die deutschen Demokraten noch niemals der Schrecken bei dem Gedanken erfaßt, daß eine liberale Demokratie vielleicht diejenige schicksalbestimmte Form ist, in der das deutsche Volk zu Grunde gehen wird“ polemisiert etwa Moeller van den Bruck.48 Die politische Rechte der frühen Weimarer Zeit formuliert kaum konstituierende Statusfunktionen eines zu erreichenden Politik- und Gesellschaftsmodells. Ihr Revolutionsdiskurs ist ein die Institutionalisierung von Demokratie verweigernder Diskurs, und es entspricht rechtem, theoriefernem Denken, das politische System im Vagen zu halten und auf irrationale, momentbestimmte Eingebung zu setzen.49 Diese „Bedeutung der Intuition“50 hat eine antidemokratische Dimension,   42 Hitler denunziert die „Demokratie des heutigen Westens als den Vorläufer des Marxismus, der ohne sie gar nicht denkbar wäre. Sie gibt erst dieser Weltpest den Nährboden, auf dem sich dann die Seuche auszubreiten vermag“; Hitler (1925): Mein Kampf, S. 85. 43 Mann (1918): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 37. 44 „Demokratische Aufklärung und menschliche Zivilisation [...] psychisch widerdeutsch [...] politisch deutschfeindlich“; Mann (1918): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 32. 45 „Soviel ist sicher, daß bei einem Zusammenschluß der nationalen Demokratien zu einer europäischen, einer Weltdemokratie von deutschem Wesen nichts übrigbleiben würde: Die Weltdemokratie, das Imperium der Zivilisation, die ‚Gesellschaft der Menschheit‘ könnte einen mehr romantischen oder mehr angelsächsischen Charakter tragen, – der deutsche Geist würde aufgehen und verschwinden darin, er wäre ausgetilgt, es gäbe ihn nicht mehr“; Mann (1918): Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 39. 46 „Diese Art von Demokratie [des demokratischen Parlamentarismus ist] auch das Instrument derjenigen Rasse geworden, die ihren inneren Zielen nach die Sonne zu scheuen hat, jetzt und in allen Zeiten der Zukunft. Nur der Jude kann eine Einrichtung preisen, die schmutzig und unwahr ist wie er selber.“; Hitler (1925): Mein Kampf, S. 99. 47 Busse (2003): Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte. 48 Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, S. 123. 49 Am Beispiel Moeller van den Brucks verweist von dem Bussche darauf, dass „im Positiven alles gewollt unbestimmbar“ bleibe, während „die Beschreibung des Negativen“, in diesem Fall des Liberalismus, „ständig grotesker werdende Formen der Dämonisierung an[nimmt]“; Von dem Bussche (1998): Konservatismus, S. 160. 50 Sontheimer (1978): Antidemokratisches Denken, S. 49.  

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woraus sich Statusfunktionen wie die einer starken Zentralgewalt, auf die im Programm der NSDAP Bezug genommen wird, ableiten lassen. Eine „Diktatur der nationalen Reinigung“ bezeichnet ebenso unbestimmt-thymokratische Politikeinfälle, wie die „Regierung der Tat“ und der „über allem Kampf der Berufsstände und der Parteien“ stehende Staat der Kapp-Putschisten.51 Es entspricht darüber hinaus dem konservativen bzw. nationalistischen antidemokratischen Denken der Rechten, die die Funktionselemente Wahlen und Parlament verwirft, und das Funktionselement des Führerprinzips stark macht.52 Demokratie wird in diesem Sinn als „die wahrhaftige germanische Demokratie der freien Wahl des Führers“ kategorisiert, „mit dessen Verpflichtung zur vollen Übernahme aller Verantwortung für sein Tun und Lassen“.53 So versieht auch Moeller van den Bruck seine Idee des Dritten Reichs54 mit der Funktionsspezifizierung einer geführten Demokratie.55 3.2.3 Mitte: Unabdingbar Der revolutionäre Diskurs der politischen Mitte ist ein Akzeptanzdiskurs. Sie drückt ihre Überzeugung von der Unabdingbarkeit der parlamentarischen Demokratie mit der Geltendmachung des Existenztopos aus, mit dem diejenigen argumentieren, die den Weimarer Staat zu tragen bereit sind: Friedrich Ebert formuliert seine entsprechende Überzeugung56, vom Vorwärts ergeht der Ruf an die Arbeiter und ihr Klassenbewusstsein57 und Hugo Preuß, der Architekt der Weimarer Verfassung, der nach der von Friedrich Ebert angestoßenen Grundrechtsdiskussion (s.u.) nicht mehr   51 Hitler (1923): Rede Adolf Hitlers, S. 183; „Zur Durchführung alles dessen fordern wir die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches. Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisation im allgemeinen“; NSDAP (1920): Programm, S. 159; „Der Reichstag wird entweder weichen der Diktatur des internationalen Judentums, genannt Diktatur des Proletariats, oder der Diktatur der nationalen Reinigung! Diese wird dann das deutsche Reich mit einer harten Wirklichkeit zwar, aber nicht mit Lug und Trug sanieren“; Hitler (1923): Mein Kampf, S. 183f.; „Die Stunde der Rettung Deutschlands geht verloren. Darum bleibt kein anderes Mittel übrig, als eine Regierung der Tat“; Kapp (1920): Programm, S. 113. 52 Vgl. Beyme (2009): Geschichte der politischen Theorien, S. 479; Goelbel (1994): Revolution, S. 44. 53 Hitler (1925): Mein Kampf, S. 99f. 54 „Wir setzen an die Stelle der Parteibevormundung den Gedanken des Dritten Reichs“; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, o.S. 55 „Ihr [der Demokratie] Daseinsrecht [hängt] davon ab, ob es ihr gelingt, vom Volke aus für die Nation das zu sein, was früher die Monarchie für das Volk gewesen ist: geführte Demokratie – nicht Parlamentarismus.“; Moeller van den Bruck (1923): Das dritte Reich, S. 121. 56 „Nur auf der breiten Heerstraße der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung lassen sich die unaufschiebbaren Veränderungen auch auf wirtschaftlichen und sozialen Gebieten vorwärtsbringen“; Ebert (1919): Eröffnungsrede, S. 15. 57 Es gebe „jetzt, nachdem die Verfassung zustande gekommen ist, gar keinen anderen Weg zum Sozialismus [...] als über die Demokratie“; Vorwärts (1919): S. 125f.  

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als solcher gelten wollte, beschwört die „unbedingte Notwendigkeit der parlamentarischen Demokratie für die politische Zukunft Deutschlands“.58 Angesichts der explizit und dezidiert antidemokratischen Akzeptanzverweigerung der Linken und der Rechten versieht die politische Mitte Demokratie als ideales Gesellschaftskonzept mit Statusfunktionen der hohen Werte und der Ethik und konzipiert sie vor diesem Hintergrund als eine auf Werten und Normen beruhende, die Idee der Aufklärung und der Menschenrechte realisierende, den Freiheits- und Gleichheitsgedanken umsetzende und den Frieden wahrende Regierungsform, die auch die Instanzen der Geistesgeschichte einbezieht.59 In diesem werteorientierten Deutungszusammenhang bezeichnet insbesondere die Formel soziale Demokratie60 eine neue, ethisch fundierte soziale Ordnung. 3.3 Demokratie normieren Die Sprache der Revolution beschreibt einen Spannungsbogen, an dessen einem Ende die Sprache der Gewalt, an dessen anderem Ende die Sprache der Ethik und der Menschenrechte steht. Die Weimarer Reichsverfassung von August 1919, die die parlamentarische Demokratie als Regierungssystem festschreibt, ist der normierende Ort dieses sprachlichen Aspekts. Wesentliche Statusfunktionen des Systems der parlamentarischen Demokratie sind die Grundrechte. Menschenrechte haben eine demokratierelevante Statusfunktion und die Institution der Menschenrechte und die Institution der Demokratie sind in höchstem Maß aufeinander bezogen.61 Mit dieser Feststellung muss der dritte Aspekt des Themas „Sprache der Revolution 1918/19“ fokussiert werden: Dem Umbruch von einem politischen System in ein anderes folgt die Verfassung. Auf sprachliche Entwicklungen bezogen bedeutet dies: die Kodierung und Normierung

  58 Preuß (1919): Deutschlands Staatsumwälzung, S. 108. 59 „Demokratie kann menschliche Würde und Persönlichkeit jedes Bürgers zu größerer Geltung bringen“, Troeltsch (1918): Spektator-Briefe, S. 305f.; „Unsere klassische Geisteswelt bietet Verbindungslinien zu einer geistig-ethischen Auffassung der Demokratie genug“, Troeltsch (1918): Spektator-Briefe, S. 310; „Das Menschlich-Große und Edle, das in der Demokratie liegen kann“, Troeltsch (1918): Spektator-Briefe, 306f.; „was Demokratie genannt wird und was ich Humanität nenne“, Mann (1922): Von deutscher Republik, S. 831. 60 Troeltsch (1918): Spektator-Briefe, S. 307. 61 Die „normative Entwicklung der Menschenrechte hat im Rahmen nationaler Verfassungen stattgefunden“ und „Menschenrechte im rechtlichen Sinn existieren erst seit der Herausbildung von Verfassungen“; Nowak (2002): Einführung, S. 27; Die Schaffung der Menschenrechte ist für Searle die „vielleicht erstaunlichste Form von Statusfunktion“. Bei der Idee der Menschenrechte wurde „kollektiv akzeptiert, daß man eine Statusfunktion einzig dank der Eigenschaft haben könnte, ein Mensch zu sein“; Searle (2011): Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, S. 102.  

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von Regeln.62 Die Verfassung verleiht mit dieser Normierungsfunktion den die Grund- und Menschenrechte 1919 repräsentierenden sprachlichen Einheiten als Kodierungen den Rang von Statusfunktionen.63 Insofern muss eine sprachliche Beschreibung der Revolution auch die ethische Dimension des Institutionalisierungsprozesses einbeziehen: Die Einführung der Grundrechte in die Verfassung von 1919 verleiht ihnen die Statusfunktion der Institution ‚Demokratie‘. Ihre Aufnahme in den Verfassungstext ist Friedrich Ebert zu verdanken, der sich bei der Beratung der ersten Fassung, in der die Grundrechte nicht enthalten waren, dafür eingesetzt hat.64 Wenn er auf die „politischen und taktischen Gründe“ verweist, deretwegen ihm die Normierung – bezeichnenderweise die der Leitkategorie Freiheit – geboten erscheint, dann dokumentiert Ebert mit diesem Hinweis sein Demokratiekonzept, welches Demokratie und Grundrechte – insbesondere das der Freiheit – als zwei mutuell aufeinander bezogene Instanzen versteht. Hugo Preuß indes, der den Verfassungsentwurf vorgelegt hat, hatte pragmatische Gründe dafür, dass er die Grundrechte zunächst nicht aufnahm. Gemahnt von der langwierigen Grundrechtediskussion in der Nationalversammlung von 1848, wollte er der von 1919 nicht die Diskussion von Grundrechten aufzwingen, um durch die rasche Verabschiedung der Verfassung stabile politische Zustände herbeizuführen. Der Mitarbeiter Hugo Preuß’, Alfred Schulze, endete die Auseinandersetzung über die Frage, ob die Grundrechte in die Verfassung aufgenommen werden oder nicht schließlich, „indem er sich bereit erklärte“, die Grundrechte „‚aus der 48er Verfassung ab[zu]schreiben, soweit sie heute noch paßt [sic!].‘“65 Neue institutionelle Konstituante ist in diesem Zusammenhang Gerechtigkeit. Während Freiheit eine zentrale Statusfunktion in der Paulskirchenverfassung bezeichnet und dann wieder die politische Ethik der zweiten Nachkriegszeit nach 194566, ist der Gebrauch von Gerechtigkeit im Text der Weimarer Reichsverfassung   62 Die Verfassung ist eine „grundgesetzliche Rahmenbedingungen setzende Satzung“, deren Bestimmungen „normativ den Rahmen des Systems abstecken“. In unserem Kontext der Normierung der Grundwerte und ihrer lexikalischen Repräsentation wesentlich ist, dass zur „Institutionalisierung der Verfassung […] auch die Setzung der zentralen Begriffe [gehört], die aus den ‚Leitideen‘ des zu konstituierenden Gemeinwesens hervorgehen und damit den Status symbolischer Eckpfeiler des Systems erhalten“; Burkhardt (2003): Parlament, S. 168. 63 Da ein Verfassungstext das Resultat eines agonalen, im Kontext der Politik eines in hohem Maß ideologisch geführten Diskurses ist, da er also ein Einigungsprodukt darstellt, hat er normsetzende Kraft. Insofern die Staatsverfassung als typisches Beispiel dafür gelten kann, dass „die konstitutiven Regeln als fortwährende Deklarationen fungieren“ sind sie ganz generell ein zentraler Stabilisierungsfaktor. 1919 war dies so – zumindest für eine bestimmte Zeit; Searle (2012): Soziale Welt, S. 28. 64 „Vor allem vermisse ich in der Vorlage die scharfe, ins Auge fallende Betonung gewisser demokratischer Gesichtspunkte: persönliche Freiheit, Freiheit der Wissenschaft in ihrer Lehre, Gewerbefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw. Aus politischen und taktischen Gründen muß das in prägnanter Form hervorgehoben werden, wenn es auch sachlich schon in der Vorlage steht.“; Ebert (1919): Friedrich Ebert, S. 10. 65 Bollmeyer (2007): Der steinige Weg, S. 244. 66 Vgl. Kämper (2005): Der Schulddiskurs, S. 431–441.  

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neu. Die Präambel der Weimarer Reichsverfassung nennt als Grundwert Gerechtigkeit, formelhaft mit Freiheit eine Ligatur bildend.67 Im weiteren Textverlauf dann kommt Gerechtigkeit noch zwei Mal in institutionalisierender Funktion vor.68 Damit ist Gerechtigkeit eine wesentliche Normkategorie der Weimarer Reichsverfassung, die erstmals dieses Grundrecht kodifiziert und die bereits seitens der Autoren als Prinzip thematisiert wird.69 Die Verwendung von Gerechtigkeit in der Weimarer Reichsverfassung ist zwar nicht rechtsverbindlich, denn kein Artikel normiert einen mit Gerechtigkeit bezeichneten Sachverhalt. Aber der bekenntnishafte Gebrauch in Präambel und Eidesformel ist dennoch als institutionenkonstitutiv zu bewerten. Im strengen Sinn normiert sind dagegen die Grundrechte der Freiheit70, der Gleichberechtigung71 und der Gleichheit72.

4. FAZIT Die Frühphase der Institutionengeschichte von Demokratie im 20. Jahrhundert – die Jahre 1918/19 – ist dadurch gekennzeichnet, dass ihr zeitgleich kollektive Anerkennung gezollt und verweigert wird, dass ihr zeitgleich Statusfunktionen zu- und abgesprochen werden, dass gleichzeitig kollektiv Akzeptanz und Nichtakzeptanz,   67 „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ 68 Artikel 42 legt die Formel des Schwurs fest, den der Reichspräsident bei der Übernahme seines Amtes leistet: „Ich schwöre, daß ich […] Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Artikel 151 sucht ethische Prinzipien mit ökonomischer Praxis engzuführen: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Eine implizit nach dem Prinzip der Gerechtigkeit angelegte, in der Verfassung festgelegte Normierung ist darüber hinaus die Gewährleistung der Bildung der Jugend. Artikel 146 bestimmt: „Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung der Ausbildung.“ 69 „Im Zeichen der Freiheit und der genossenschaftlichen Gleichberechtigung … und der ausgleichenden Gerechtigkeit … wollen wir die Verfassung schaffen.“; Beyerle (1919): Stenografische Berichte, S. 470. 70 Artikel 114 bestimmt: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig.“ Als Freiheitsrechte werden außerdem normiert die Wahlfreiheit (Artikel 125), die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 135), die Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Artikel 142), die freie Meinungsäußerung (Artikel 118), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 159). Hinzu kommt der wirtschaftliche Freiheit gewährende Artikel 151. 71 Artikel 119 regelt mit dieser Kategorie die Gleichstellung von Mann und Frau in der Familie. Als arbeitsweltbezogener Wert bezieht Artikel 165 Gleichberechtigung auf Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in Unternehmen. 72 Artikel 109 bestimmt die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetz.  

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Funktionszuweisung und Funktionsaberkennung ausgesprochen werden. Symptomatisch wie für jede Revolutionszeit ist diese Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Haltungen. Die Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Geschichte des Umbruchs und radikalen Wandels macht die Regel deutlich, dass sozialer Wandel dann eintritt, „wenn Institutionen nicht mehr akzeptiert werden und das System der Statusfunktionen einfach zusammenbricht“.73 Zusammenbruch des Systems der Statusfunktionen aufgrund fehlender Akzeptanz ist die aus der Perspektive der Handlungstheorie formulierte Paraphrase zur Beschreibung des demokratiegeschichtlichen Umbruchs von 1933. Der Umbruch von 1918/19 dagegen bedeutet den Zusammenbruch der Institution der Monarchie (also mehrheitliche Akzeptanzverweigerung diesbezüglich), gleichzeitig die Institutionalisierung von Demokratie (mit starken akzeptanzverweigernden Kräften, die 1933 dann die deinstitutionalisierende Macht wurden). Symptomatisch hinsichtlich der „Sprache der Revolution“ ist damit die Kontroverse ihrer Elemente. Semantische Gegensätzlichkeit ist ihr Kennzeichen, die von sprachlicher Gewalt über die ideologisch geprägte Zuschreibung bis zur ethischen Normierung reicht. QUELLEN Altmann-Gottheimer, Elisabeth: Frauenrechte und -pflichten im neuen Deutschland. In: Neue Bahnen 23/24 (1918), 77–79. Baer, Gertrud: Oberbayrische Wall (Wahl!) Fahrt. In: Die Frau im Staat (1919), H. 1, 9f. Beyerle, Konrad: Stenografische Berichte (19. Sitzung, 3. März 1919). In: Verhandlungen der verfassungsgebenen Deutschen Nationalversammlung: Stenografische Berichte, Bd. 36, Berlin 1920, 464; 470. Blumenfeld, Kurt: Der deutsche Zionismus am Ende des Ersten Weltkriegs. Protokoll des XV. Delegiertentages der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. In: Reinharz, Jehuda (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933, Tübingen 1981, zuerst 1918, 245–254. Deutsch, Regine: Die politische Tat der Frau. Aus der Nationalversammlung, Gotha 1920. DNVP: Wahlaufruf der Deutschnationalen Volkspartei, Dezember 1918. In: Hohlfeld, Johannes (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1919–1933 (Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Ein Quellenwerk für die politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung, Bd. 3), Berlin 1973, 4–5. Ebert, Friedrich: Eröffnungsrede des Volksbeauftragten Ebert bei der Eröffnung der NV in deren 1. Sitzung am 6. Februar 1919. In: Hohlfeld, Johannes (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1919– 1933 (Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. Ein Quellenwerk für die politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung, Bd. 3), Berlin 1973, 14–17. Ders.: Friedrich Ebert während der Beratungen zu Entwurf I am 14. Januar 1919. In: Pauly, Walter (Hrsg.): Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919 unter Mitarbeit von Olaf Hünemörder, Tübingen 2004, zuerst 1919. Fischer, Edmund: Die Frauenfrage. In: Zepler, Wally (Hrsg.): Sozialismus und Frauenfrage, Berlin 1919, 18–31.

  73 Searle (2012): Soziale Welt, S. 237.

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DIE REVOLUTION IM DEUTSCHEN RECHT

DIE NOVEMBERREVOLUTION UND IHRE FRAGEN AN DAS RECHT* Manfred Baldus 1. „NOVEMBERREVOLUTION“ ALS REVOLUTION IM JURISTISCHEN SINN Für Verfassungsjuristen und Staatsrechtslehrer ist das hervorstechende Kennzeichen einer Revolution der Rechtsbruch, und zwar der Bruch auf der obersten Stufe der Normenordnung, der Stufe der Verfassung. Hinzukommen muss sodann die Ersetzung des gebrochen, des missachteten Rechts durch neues Verfassungsrecht, das seine Legitimität nicht aus der alten Verfassungsordnung herleitet.1 Ob dieser Rechtsbruch und die Ersetzung des alten Verfassungsrechts durch neues Recht mit einer tiefstürzenden Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse einherging oder mit einem Wechsel der Staatsform, ist für die staatsrechtliche Bewertung ohne Belang. Dieses Verständnis von Revolution, dieser juristische Revolutionsbegriff, hat gewiss einen seiner Gründe darin, dass für die juristische Betrachtung die grundsätzliche Trennung von Normativität und Faktizität, von Rechtsnorm und politischem Geschehen maßgeblich, ja unverzichtbar ist. Nach diesem juristischen Revolutionsbegriff müssen die Ereignisse im November 1918 ganz ohne Zweifel als Revolution qualifiziert werden. Die Novemberrevolution war eine Revolution im klassischen staatsrechtlichen Sinne. In einem entscheidenden und folgeträchtigen Moment wurde die überkommene Verfassung gebrochen, die alte Rechtsordnung an einer entscheidenden Stelle negiert und ersetzt durch neue Normen, die dann auch rasch Geltung erlangen konnten. Es kam zu einem Bruch des alten Rechts und dessen Ablösung durch neue, sich auch durchsetzende Normen. Die Ereignisse, die diese Sichtweise belegen, wurden oft beschrieben: Am 9. November 1918, hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann – zu diesem Zeitpunkt immer noch als kaiserlicher Staatssekretär im Amt2 – vom Balkon des Reichstages die Republik ausgerufen. Den damaligen Zeitungsberichten zufolge   *

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Der folgende Text deckt sich teilweise mit einem Beitrag, der unter dem Titel „Das Engagement für Kontinuität – Die Staatsrechtslehre zwischen Novemberrevolution und Weimarer Reichsverfassung“ im Archiv des öffentlichen Rechts, Band 127 (2002), S. 97–117 erschienen ist. Vgl. dazu nur etwa Hans Kelsen (1960), S. 213. Zu dessen Genese: Dreier (2014): S. 822ff. Huber (1978): Verfassungsgeschichte, S. 691. Zu Scheidemann nun die Biographie von Schmersal (1999): Philipp Scheidemann 1865–1939.

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hatte Scheidemann der auf dem Reichstagsplatz versammelten Menge die Worte zugerufen: „Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt; das Alte ist nicht mehr. Ebert ist zum Reichskanzler ernannt. [....] Die Hohenzollern haben abgedankt. Es lebe die Deutsche Republik.“3 Das nach Scheidemanns Worten „Alte“ war die konstitutionelle Monarchie der Bismarckschen Reichsverfassung. Der noch im Oktober des Jahres 1918 erfolgte Versuch, diese Verfassung zu parlamentarisieren,4 wurde schnell von den revolutionären Ereignissen überholt. Ende Oktober und Anfang November meuterten Matrosen der Hochseeflotte in Wilhelmshaven und Kiel. Sie verweigerten den Befehl, in den Ärmelkanal auszulaufen, um dort die englische Hauptflotte zu bekämpfen.5 Im Anschluss an diese Aufstände bildeten sich in zahlreichen Städten des Reichsgebietes Arbeiter- und Soldatenräte, die die politische Macht übernahmen.6 Am 7. November forderten die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) ultimativ die Abdankung des Kaisers bis zum nächsten Tag. Der damalige Reichskanzler Prinz Max von Baden wandte sich ebenfalls mehrmals an den Kaiser: Nur wenn er abdanke, könne ein Bürgerkrieg verhindert werden.7 Wilhelm II. hielt aber an der Macht fest, notfalls wolle er die Monarchie mit der Waffe verteidigen. Daraufhin schloss sich die MSPD am Morgen des 9. November der revolutionären Massenbewegung an. Zugleich erklärten ihre Staatssekretäre Scheidemann und Bauer den Rücktritt aus der Reichsregierung.8 Am Vormittag des 9. November gingen dem Reichskanzler Nachrichten zu, die dann doch auf eine Bereitschaft zum Thronverzicht des Kaisers hindeuteten. Daraufhin wies Prinz Max von Baden gegen Mittag die Presseabteilung der Reichskanzlei an, die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen bekanntzugeben, ohne dabei vom Kaiser autorisiert zu sein.9 Um die gleiche Zeit forderte der sozialdemokratische Parteivorstand vom Reichskanzler die Übergabe der Regierungsgewalt.10 Dies sei notwendig, um Ruhe und Ordnung zu bewahren und Blutvergießen zu vermeiden.11 Prinz Max von Baden gab dieser Forderung nach

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So der Text in der Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 9. November 1918; zitiert nach Huber (1991): Dokumente, S. 2. Scheidemanns Memoiren nach (Band 2, 1928, S. 311) lautete die Formulierung dagegen: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue. Es lebe die Republik.“ 4 Zu den Reformen vom 26. Oktober 1918 und ihrem Verhältnis zur Novemberrevolution ausführlich Nipperdey (1998): Deutsche Geschichte 1866–1918. 5 Huber (1978): Verfassungsgeschichte, S. 646ff.; 650ff.; Winkler (1998): Weimar, S. 27–28. 6 Gusy (1997): Weimarer Reichsverfassung, S. 11–12; Hans Mommsen (1998): Aufstieg und Untergang, S. 41. 7 Huber (1978): Verfassungsgeschichte S. 662–664, 666. 8 Huber (1978): Verfassungsgeschichte, S. 674f. 9 Bekanntgabe des Reichskanzlers Prinz Max von Baden über die Abdankung Kaiser Wilhelm II., abgedruckt in: Huber (1991): Dokumente, S. 309. 10 Erklärung des sozialdemokratischen Parteivorstands gegenüber dem Reichskanzler Prinz Max von Baden vom 9. November 1918, abgedruckt in: Huber (1991): Dokumente, S. 310. 11 Winkler (1998): Weimar 1918–1933, S. 31.  

Die Novemberrevolution und ihre Fragen an das Recht

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und übertrug Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers.12 Kurze Zeit nach dieser Übergabe der Regierungsgewalt kam es dann zur Ausrufung der ersten deutschen Republik durch Philipp Scheidemann. Die Übertragung der Macht durch den Reichskanzler der alten Ordnung mag noch eine gewisse Legitimationsspende für die neue Ordnung gewesen sein. Aber sie geschah ohne Zweifel unter Verletzung des Art. 15 der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871. Danach war der Reichskanzler vom Kaiser zu ernennen, ein Kanzler konnte nicht selbst sein Amt auf einen anderen übertragen, wie es Prinz Max von Baden aber getan hatte. Und hinzu kam, dass danach der Rat der Volksbeauftragten in den folgenden Tagen daranging, Aufrufe, Erlasse und Verordnungen zu verkünden, die wichtige Neuregelungen enthielten. So erging etwa schon drei Tage nach der verfassungswidrigen Übertragung der Kanzlerschaft auf Friedrich Ebert – also verfassungswidrig nach der Reichsverfassung von 1871 – ein Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk. In diesem am 14. November 1918 im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Aufruf verkündete die „aus der Revolution hervorgegangene Regierung ... mit Gesetzeskraft“ unter anderem die Aufhebung des Belagerungszustandes, die Beseitigung von Vereins- und Versammlungsverboten sowie der Zensur, die Gewährleistung der Religionsausübung und Meinungsfreiheit, die Gewährung einer Amnestie für politische Straftaten sowie die Inkraftsetzung sozialpolitischer Regelungen wie etwa die Einführung des Achtstundentages oder die Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht und, nicht zuletzt, auch das allgemeine Wahlrecht „für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen“.13 Dieser Aufruf, der in den Folgetagen auch befolgt wurde, hatte keinen verfassungsrechtlichen Grund. Er fand seine Legitimation nicht im Recht sondern allenfalls im revolutionären Geschehen selbst.14 Mithin lautete die erste fundamentale Frage, die die Revolution an das Recht stellte: War das, was der Rat verkündete, auch geltendes Recht? Die revolutionäre Regierung bediente sich dabei gewiss der Formen des Rechts – der Rat der Volksbeauftragten erklärte etwa in seinem ersten Aufruf, dieser habe „Gesetzeskraft“ und veröffentlichte den Aufruf auch im Reichsgesetzblatt. Aber war das, was sie anordneten, nicht nur der Form, sondern auch seinem Inhalt nach Recht? 2. RECHTSENTSTEHUNG DURCH RECHTSBRUCH? Diese Frage der Rechtsqualität der Anordnungen des Rates der Volksbeauftragten war keineswegs nur von theoretischem Interesse, sie besaß auch eine eminent   12 Vgl. den Aufruf des Reichskanzlers Ebert an das deutsche Volk vom 9. November 1918, abgedruckt in: Huber (1991): Dokumente, S. 311; vgl. dazu auch Gusy (1997): Aufstieg und Untergang, S. 14–15; Mühlhausen (2006): Ebert, S. 105f.. 13 RGBl 1918, Nr. 153, S. 1303f. 14 Dazu Dreier (2016): Staatsrecht, S. 34f.  

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rechtspraktische Bedeutung. Es waren insbesondere die Gerichte, die sich mit ihr auseinanderzusetzen hatten.15 So hatten etwa die Strafsenate des Reichsgerichts schon im Frühjahr 1919 zu entscheiden, ob die Amnestieverordnung des Rates der Volksbeauftragten überhaupt zu beachten war.16 Und die Zivilsenate mussten anlässlich von Staatshaftungsklagen klären, ob Aktionen der Arbeiter- und Soldatenräte hoheitliches und damit in den konkreten Fällen auch amtshaftungspflichtiges Handeln darstellte.17 In der rechtswissenschaftlichen Literatur äußerte sich Gerhard Anschütz als einer der ersten zur Frage der Rechtsqualität der genannten Anordnungen. Schon Anfang Dezember 1918 nahm er im Aufsatz „Über das Programm der Reichsregierung“ Stellung zu dem eingangs zitierten Aufruf des Rates der Volksbeauftragten. Für Anschütz gab es keine Zweifel, dass die in jenem Aufruf als Gesetzgeber auftretende Reichsregierung zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt befugt sei. Denn allen „legitimistischen Bedenken“ gegenüber sei immer daran festzuhalten, dass die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt „nicht durch den rechtmäßigen Erwerb, sondern nur durch den tatsächlichen Besitz derselben bedingt“ sei; im Besitz der Staatsgewalt sein, heiße „im Rechte wohnen“. 18 In gleicher Weise bekannte sich Richard Thoma zur positivistischen Lösung des Legitimitätsproblems. Die „Irrlehren des Legitimismus“, gleich welchen Ursprungs, rebellierten vergebens gegen die Einsicht, dass die Notwendigkeit einer Rechtsordnung höher stehe als das Interesse an dieser oder jener Rechtsordnung. Deshalb sei „eine wie immer zur wirklichen Macht gelangte Staatsgewalt eine Recht schaffende Gewalt“. Es gebe dagegen „politisch-revolutionäre Einwände“ – auch der Legitimist, der das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückdrehen wolle, sei ein Revolutionär –, aber „keine Einwände des Rechts“. 19 Diese Antwort auf die Legitimitätsfrage war damals Mehrheitsmeinung. Nicht durchzusetzen vermochten sich etwa Otto von Gierke und Philipp Zorn, die die These vertraten, dass die vom Rat der Volksbeauftragten ausgeübte öffentliche Gewalt „vom Standpunkte des geltenden Rechts nur angemaßt“20 und der ganze „durch die Revolution geschaffene Zustand“ lediglich eine „Tatsache der Gewalt“21   15 16 17 18 19

Zu dieser Frage die zusammenfassende Darstellung von Huber (1975): Rechtsfragen, S. 53ff. RGSt (Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen) Band 53, S. 39; 53, 52. RGZ (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen) Band 99, S. 285; 100, 25. Anschütz (1918): Programm, S. 761f. Thoma (1919): Deutsche Verfassungsprobleme, S. 409, unter Berufung auf Kants Wort, dass dann, wenn die Revolution gelungen ist, man ihr gehorchen müsse (ebd., S. 410). 20 Gierke (1919): Haftung, Sp. 8/13. 21 Zorn (1919): Staatsumwälzung, Sp. 126/131f. Zorn zufolge lag die staatsrechtliche Sache so, dass nach den Verzichtserklärungen von Kaiser und Kronprinz dessen ältester Sohn der berechtigte Nachfolger des preußischen Königs und damit auch des deutschen Kaisers sei, wegen der Minderjährigkeit dieses Sohnes aber die Vorschriften der preußischen Verfassung über die Regentschaft eingriffen (ebd.). Die Position Zorns kann dabei nicht überraschen. Er hatte sich selbst als „Monarchist Bismarckscher Prägung“ bezeichnet (Zorn (1927): Universitätsleben, S.

 

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sei. Dagegen plädierten für den positivistischen Ansatz sogar die, die später in der Weimarer Zeit als führende Vertreter der anti-positivistischen Richtung hervortreten sollten. So sprachen sich etwa Erich Kaufmann und Heinrich Triepel Anfang 1919 – wenn auch spürbar widerwillig und zähneknirschend – dafür aus, sich auf „den Boden der gegebenen Tatsachen“ zu stellen22 – und dies hieß nichts anderes, als die Frage der Rechtmäßigkeit der fraglichen Anordnungen zu bejahen. Die These, die Legitimität der Staatsgewalt sei für den Nachweis ihrer Rechtmäßigkeit bedeutungslos, war dabei keine Erfindung von Anschütz und Thoma. Die Staatsrechtslehre hatte sie schon im Spätkonstitutionalismus hervorgebracht, zum einen anlässlich der Frage, ob im Falle der Vertreibung eines Herrschers und seiner späteren Wiedereinsetzung der „illegitime“ Zwischenherrscher gültige Rechtsverhältnisse begründet habe, zum anderen hinsichtlich des Problems, ob die Legitimität der neu gegründeten Staatsgewalt des Norddeutschen Bundes in den Landesverfassungen oder in der Bundesverfassung wurzele. Schon bei diesen Fragen erfolgte der Vorschlag, ganz auf die Erörterung des Legitimitätsproblems zu verzichten. Denn auch der illegitime Zwischenherrscher habe Recht geschaffen, da die Frage der Legitimität „ganz aus dem Juristischen“ heraustrete.23 Und für „das Dasein oder Nichtdasein“ der neuen Staatsgewalt des Norddeutschen Bundes spiele die Legitimität keine Rolle: „Legitimität“ sei „kein Wesensmoment der Staatsgewalt“.24 Es war gerade dieser Satz, den Anschütz in seine Bearbeitung von Georg Meyers „Lehrbuch des deutschen Staatsrechts“ aufgenommen hatte25, und auf den er 1918 in dem zitierten Aufsatz26 verwies. Bemerkenswert ist dabei, dass die im Spätkonstitutionalismus begründete Lehre von der Irrelevanz der Legitimitätsfrage nach der Novemberrevolution einen überraschenden Funktionswandel erfuhr. Sie war entwickelt worden, um Rechtsfragen des monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts zu lösen und kehrte sich nun gegen dieses Staatsrecht selbst. Sie diente nun dazu,  

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133) und noch im Herbst 1917 vom Kronprinzen einen Gutachtenauftrag zur Frage angenommen, ob tatsächlich das Verfassungsrecht – wie dies vor allem der zu jener Zeit amtierende Reichskanzler Bethmann-Hollweg behauptete – eine Teilnahme des Kronprinzen an der „obersten Leitung der Staatsgeschäfte“ verbiete (ebd., S. 125). Im Übrigen fiel das Gutachten ganz zur Zufriedenheit des Kronprinzen aus (ebd., S. 127). Kaufmann (1919): Grundfragen, Vorwort; Triepel (1919): Entwürfe, S. 55 und S. 63. So die These des Jenenser Privatdozenten Friedrich Brockhaus in seiner 1868 erschienenen Schrift „Das Legitimitätsprinzip“ (S. 322ff.). Als historisches Beispiel für die Rechtmäßigkeit der Anordnungen eines illegitimen Zwischenherrschers lässt sich die Lage in Westfalen nach dem Sturz Napoleons anführen, als das Königreich Westfalen auseinanderfiel und die von Napoleon vertriebenen Fürsten wieder zurückkehrten; dazu mit weiteren Hinweisen Paul (1918): Gesetzgebungstätigkeit, Sp. 346/350. Pohl (1905): Bundesstaatsschöpfung, S. 173/180; dazu auch Stolleis (1999): Geschichte, S. 92. Anschütz/ Meyer (1919): Lehrbuch, S. 26. In der staatsrechtlichen Literatur wurde die These von der Irrelevanz der Legitimitätsfrage für die Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt auch etwa vertreten von: Laband (1895): Staatsrecht, Bd. 1, S. 32; Loening (1911): Staat, S. 705; W. Jellinek (1913): Gesetz, S. 27. Zum Umgang der französischen Staatsrechtslehre mit dem Legitimitätsproblem: Herrfahrdt (1930): Revolution und Rechtswissenschaft, S. 61ff. Anschütz (1918): Programm, S. 761.

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das Ende des monarchischen und den Beginn eines neuen, republikanischen Staatsrechts zu begründen. Sucht man diesen Vorgang auch in Hinsicht auf das damalige rechtstheoretische Diskussionsfeld einzuordnen, so drängt sich die Vermutung auf, dass Anschütz und Thoma lediglich die um 1900 von Georg Jellinek eingeführte These von der normativen Kraft des Faktischen27 auf die Geschehnisse der Novemberrevolution übertrugen. Betrachtet man die Jellineksche Formel indessen genauer, so lassen sich wesentliche Unterschiede feststellen. Die Formel von der normativen Kraft des Faktischen suggeriert zwar ihrem bloßen Wortlaut nach, dass schon dem Faktischen etwas Normatives anhaftet – das Faktische dabei im Sinne tatsächlicher Machtverhältnisse verstanden. Doch Jellinek lässt entgegen des Wortlauts keine Zweifel, dass diese Machtverhältnisse für ihn gerade nicht die „letzte Quelle des Rechts“ sind. Diese Quelle ist für ihn vielmehr die Überzeugung der von der Macht Unterworfenen, dass die tatsächlichen Verhältnisse auch „als rechtliche anzuerkennen seien“.28 Zum Anspruch der Machthaber, dass ihre Macht eine rechtmäßige sei, muss also noch etwas hinzutreten, nämlich die Vorstellung der von der Macht Unterworfenen, dass jene Faktizität auch etwas Normatives in sich birgt. Und dieser Prozess vollzieht sich – so Jellinek – „rein innerlich, in den Köpfen der Menschen“.29 Anders dagegen Anschütz und Thoma: Der „tatsächliche Besitz der Staatsgewalt“ ist entscheidend, „eine wie immer zur wirklichen Macht gelangte Staatsgewalt“ ist für sie „eine Recht schaffende Gewalt“.30 Ob diese Staatsgewalt von den Betroffenen als rechtmäßige anerkannt wird, ist unerheblich. Es genügt, dass sie ihren Anspruch auf Gehorsam faktisch durchsetzen kann. Diese ausgesprochen schroffe positivistische Rechtsentstehungslehre, die sich im Übrigen von dem sonst von Anschütz und vor allem von Thoma vertretenen Gesetzespositivismus durchaus unterschied,31 erklärt sich aus den Besonderheiten der revolutionären Situation im Jahre 1918. Denn diese Lehre ermöglichte eine Entlastung der juristischen Diskussion. Zunächst verbannte sie die Frage nach der Legitimität aus der juristischen Auseinandersetzung; über diese Frage durfte weiter   27 G. Jellinek (1913): Staatslehre, S. 338ff. 28 Jellinek, ebd., S. 341f., 355. Zu diesem subjektiven Moment der Anerkennung vgl. jetzt auch die zahlreichen Stellungnahmen in Paulson/ Schulte (2000): Georg Jellinek; darin insbesondere Anter (2000): Max Weber und Georg Jellinek, ebd., S. 67, 75; Wolff (2000): Verfassungswandel, ebd., S. 133, 149f.; Bernstorff (2000): Völkerrecht, ebd., S. 183, 196; Landau (2000): Rechtsgeltung, ebd., S. 299, 300ff. 29 G. Jellinek (1913): Staatslehre, S. 342. 30 Anschütz (1918): Programm, S. 761f.; Thoma (1919): Deutsche Verfassungsprobleme, S. 409. 31 Vgl. etwa die Äußerung von Anschütz (1918): Paul Laband, S. 268f., wo er die in den Verfassungsinstitutionen „wirkenden historisch-politischen Kräfte“ aufzuzeigen fordert, um so „mit dem Sinn und Zweck auch das Wesen der Institutionen dem staatsrechtlichen Verständnis voll zu erschließen“; ähnlich auch Thomas Distanzierung von einer „nur-positivistischen Selbstbeschränkung“ und einem „einseitige(n) Logizismus“ in dem Beitrag „Gegenstand – Methode – Literatur“, mit dem er in das von ihm und Anschütz herausgegebene „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“ (Band 1, 1930, S. 4) einleitet.  

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debattiert werden, aber eben nur auf anderen, außerrechtlichen Argumentationsfeldern. Sodann fragte sie allein nach den Machtverhältnissen und nicht nach dem mit einer viel größeren Unsicherheit zu handhabenden Faktor der inneren Anerkennung dieser Verhältnisse durch die der revolutionären Macht Unterworfenen. Auf diesem Wege konnte das Legitimationsproblem entschärft und eine klare Antwort gegeben werden. Möglich war dies aber nur, weil man die unsicheren und sperrigen Größen aus der Betrachtung hinausdrängte. Die Entscheidung von Anschütz und Thoma für diese positivistische Antwort war damit weder wertfrei noch unpolitisch. Sie diente der Neutralisierung des politischen Konflikts, der Beruhigung und Stabilisierung in einer revolutionären und damit unsicheren Zeit. Dies kann auch erklären, warum die von Anschütz schon so früh nach den revolutionären Ereignissen vorgebrachte These vor allem vom Reichsgericht und dem preußischen Oberverwaltungsgericht so rasch und fast uneingeschränkt übernommen wurde.32 3. UNTERGANG DER ALTEN RECHTSORDNUNG? Die zweite fundamentale Frage, die die Revolution aufwarf, betraf deren Auswirkung auf die überkommene, die alte Rechtsordnung. Durch die Revolution war neues Verfassungsrecht entstanden, insbesondere die Schaffung einer rechtsetzenden Kompetenz des Rates der Volksbeauftragten. In welcher Weise aber wirkten sich die revolutionären Akte auf die alte Rechtsordnung, das Zivilrecht, das Strafrecht oder das Verwaltungsrecht aus? Galten diese Teile der alten Rechtsordnung weiter oder waren sie auch durch die Revolution beseitigt? Ein Jahr zuvor hatte man diese Frage in Russland mit einem vollständigen Bruch beantwortet: Die Volksgerichte durften nur die Dekrete der Arbeiter- und Bauernregierung anwenden, der Verweis auf die Gesetze der gestürzten Regierung war verboten. Bei Lücken sollten die Richter sich vom „sozialistischen Bewußtsein“ leiten lassen – was offenbar in einem heillosen Chaos endete.33 Auf die Frage, was durch die Novemberrevolution in Deutschland gebrochen und beseitigt worden war, boten sich mehrere mögliche Antworten: Die Bestimmungen der Bismarckschen Reichsverfassung, die die Ernennung der Reichskanzlerschaft regelten, die gesamte alte Verfassung oder gar die gesamte alte Rechtsordnung. Auch diese Frage war nicht nur theoretisch attraktiv, sondern besaß ebenfalls hohe praktische Relevanz. Sie verunsicherten den Rat der Volksbeauftragten sogar so sehr, dass er sie den Juristen im Reichsministerium des Innern zur Prüfung vorlegte. 34   32 Dazu Huber (1975): Rechtsfragen, S. 56ff. 33 Dazu Reich (1971): Oktoberrevolution, S. 133, 139. 34 Vgl. etwa die Memoiren des damals im Reichsministerium des Innern tätigen Arnold Brecht (1966): Lebenserinnerungen, S. 201f.: „Die allgemeinen politischen Probleme erwog Ebert natürlich in erster Linie mit anderen Politikern. Aber auch damit waren oft Fragen der rechtlichen  

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Die Staatsrechtslehre blieb hier im Unterschied zur Behandlung des Legitimitätsproblems gespalten. Einige Autoren sprachen sich für eine Diskontinuität zwischen alter und neuer Rechtsordnung aus.35 Sie argumentierten unter anderem mit der Maßgeblichkeit der Verfassung für die Geltung der unterrangigen Rechtsnormen. Wenn die Verfassung ihre Geltung verloren habe, dann auch die Rechtsnormen, die auf ihrer Grundlage entstanden seien. Die Gegenauffassung, die insbesonders von Anschütz und Otto Mayer repräsentiert wurde, nahm grundsätzlich die Fortgeltung des alten Rechts an,36 wie im übrigen auch das Reichsgericht in einer Entscheidung über eine Strafsache im April 1919: Der Gedanke, es seien mit dem Zusammenbruch der alten Staatsverfassung ohne weiteres auch die auf ihr beruhenden Gesetze und gesetzlichen Einrichtungen hinfällig geworden, sei abzulehnen; das Strafgesetzbuch gelte weiter.37 Eine halbwegs greifbare Begründung wurde dafür allerdings nicht geliefert. Otto Mayer meinte lediglich, seinerzeit sei man bei der Einrichtung der deutschen Staatsgewalt in Elsass-Lothringen ebenso verfahren. Man hätte das Kontinuitätsproblem damals im Sinne einer „selbstverständlichen Fortgeltung der französischen Gesetze“ gelöst.38 Dass man der Diskonitinuitätsthese nur mit diesem etwas schlichten Argument begegnete – man sei damals ebenso verfahren –, mag auch daran liegen, dass die Vertreter dieser These ja keineswegs für die russische Lösung plädierten und eine vollständige Beseitigung der alten Rechtsordnung bejahten. Ihrer Sicht nach hatte die Revolution kein Vakuum entstehen lassen, das nun erst nach und nach in einem aufwendigen und beschwerlichen Rechtssetzungsprozess gefüllt werden musste. Man bejahte zwar einen „tabula-rasa-Effekt“ der erfolgreichen Revolution, präsentierte zugleich aber einen Rettungsanker. Die Autoren gingen nämlich davon aus,

 

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Konstruktion verbunden – Stellung der Volksbeauftragten, Stellung des Vollzugsrats, ihr Verhältnis zueinander und zu den Landesregierungen, Befehlsbefugnisse gegenüber Beamten und Militär, Fortgeltung der alten Gesetze, Stellung des noch vorhandenen Reichstages und so weiter“. So die monarchistisch gesinnten Autoren Zorn (1919): Staatsumwälzung, Sp. 128 und Gierke (1919): Haftung, Sp. 9. Beide gingen davon aus, dass erst durch die Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung der Boden einer neuen Rechtsordnung geschaffen werden könne; in der Zeit zwischen Revolution und Zusammentritt dieser Versammlung sahen sie einen „rechtsfreien Raum“. Die Diskontinuitätsthese wurde in den Jahren danach aber auch von Hans Nawiasky (1920): Bundesstaat, S. 150ff., Leo Wittmayer (1922): Reichsverfassung, S. 8ff. und Friedrich Giese (1927): Verfassung, S. 5f., vertreten. Anschütz (1918): Programm, S. 761f. (Keine staatsrechtliche Kontinuität zwischen den alten und neuen Gewalten, wohl aber Fortgeltung des alten Begnadigungs- und Niederschlagungsrechts); Apelt (1919): Reichsverfassung, Sp. 205 (die Revolution habe eine klaffende Lücke in den alten Verfassungsstaat geschlagen, was die obersten Organe anginge, „in den übrigen Teilen“ sei „die Verfassung in Geltung geblieben“); Stier-Somlo (1919): Deutschland, S. 41 („Die Reichsverfassung ist nicht mehr in Kraft“); Mayer (1921): Verfassung, S. 125, 128. RGSt 53, 65/66. Mayer (1921): Verfassung, S. 128.

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dass das alte Recht durch die neue Rechtsordnung – stillschweigend oder ausdrücklich – rezipiert wurde.39 Zunächst verwiesen sie auf das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom Februar 1919, das eine Reihe von Vorschriften der alten Reichsverfassung, die den Reichstag betrafen, für anwendbar erklärte.40 Sodann stützten sie sich auf das Übergangsgesetz von März 1919. Dieses Gesetz bestimmte ausdrücklich, dass die bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reichs „bis auf weiteres in Kraft bleiben sollten“ – natürlich unter dem Vorbehalt, dass sie nicht den nach der Revolution erlassenen Gesetzen und Verordnungen des Rates der Volksbeauftragten widersprachen.41 Der Umstand, dass man überhaupt über diese Fragen der Fortgeltung alten Rechts stritt,42 obgleich man sich im Ergebnis einig war, lässt sich nicht einfach mit einem Hinweis auf die jeweiligen politischen Positionen der Autoren erklären. Es gab nämlich Demokraten, die für eine Fortgeltung des alten Rechts eintraten43 und es gab Monarchisten, die sich für das Gegenteil aussprachen.44 Aber dass bei dieser Frage auch politische Orientierungen, insbesondere tieferliegende Grundhaltungen gegenüber revolutionären Eingriffen in den überkommenen Rechtszustand, hineinspielten, lässt sich zumindest vermuten. Denn die Annahme einer grundsätzlichen Fortgeltung der alten Rechtsordnung sorgte in stärkerem Maße für Rechtssicherheit. Zudem zwang sie die revolutionäre Gewalt zur Begehung eines neuen revolutionären Akts, wenn sie sich von Teilen der alten Rechtsordnung lösen wollte. Sie musste dann altes Recht eigens aufheben. In revolutionären Zeiten stellt dies eine zusätzliche Erschwernis, eine weitere Veränderungshürde dar. Die These der Diskontinuität mit anschließender stillschweigender oder ausdrücklicher Rezeption des alten Rechts verlieh dagegen den revolutionären Kräften eine größere Gestaltungsfreiheit. Die revolutionäre Regierung musste das alte Recht nicht jeweils durch eine Vielzahl von Aufhebungsakten mühsam beseitigen. Sie schaffte vielmehr Neues und setzte dabei altes Recht wieder in Kraft. Entschied sie sich für die Übernahme des Alten, so wurde sie nicht erneut negativ, beseitigend tätig, sondern neuschaffend und neugestaltend. Die These der Diskontinuität zeigte sich damit im Kern revolutionsfreundlicher als die Annahme, altes Recht gelte fort – wobei allerdings die prekäre Folgeproblematik dieser These durch die Annahme ausdrücklicher oder stillschweigender Rezeption sogleich wieder entschärft wurde. Im Grunde redeten   39 Vgl. Wittmayer (1922): Reichsverfassung, S. 8ff. (mit Nachweisen). 40 §§ 5 und 10 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt, RGBl 1919, Nr. 33, S. 169. 41 Übergangsgesetz, RGBl 1919, Nr. 55, S. 285: Soweit in den alten Gesetzen die Rede vom Reichstag, Bundesrat, Kaiser oder Reichskanzler die Rede war, sollten nun an deren Stelle Nationalversammlung, Staatenausschuss, Reichspräsident bzw. Reichsministerium eingefügt werden. 42 Anders Hattenhauer (1984): Von Weimar zu Hitler, S. 281, 288, wonach es keinen Streit über die Fortgeltung des aus dem Kaiserreich stammenden vorkonstitutionellen Rechts gegeben habe. 43 So Anschütz und Stier-Somlo (oben bei Fn. 36). 44 So Zorn (1919): Staatsumwälzung.  

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damit auch die Vertreter der Diskontinuitätsthese einer möglichst bruchlosen Fortentwicklung des alten Rechtszustandes das Wort. Die Vermeidung von Rechtsunsicherheit war mithin die Leitgröße, an der man sich auch im Hinblick auf die zweite wichtige Rechtsfrage, die Frage nach der Fortgeltung der alten Rechtsordnung unterhalb der Verfassungsebene, orientierte – was im Übrigen auch für eine dritte bedeutende Frage galt, die sich ebenfalls in jener Zeit stellte, nämlich für die Frage, wie sich die revolutionären Ereignisse auf die Existenz des deutschen Staates ausgewirkt haben. Auch bei dieser Frage war die Mehrheit der Meinung, dass der Staat keineswegs durch die Revolution untergegangen sei, sondern weiter existiere und lediglich der Träger der Staatsgewalt ein neuer sei.45 4. RECHTSSICHERHEIT ALS LEITWERT Was lässt sich nun aus diesen Antworten der Rechtspraxis und Rechtswissenschaft auf die wesentlichen Fragen ableiten und erkennen, die die Novemberrevolution an das Recht gestellt hatte? Es wäre gewiss unangemessen und verzerrend, die Antworten – also die Bejahung der Rechtsqualität der Anordnungen des revolutionären Rates der Volksbeauftragten, die Bejahung der Fortgeltung des alten Rechts unterhalb der Ebene der Verfassung sowie die Bejahung der Weiterexistenz des deutschen Staates – unvermittelt in Relation zu setzen zu den damals wirkenden politischen Kräften, den Monarchisten und Vertretern der alten Ordnung, den auf eine Rätediktatur hinarbeitenden Kommunisten und den für eine parlamentarische Republik eintretenden Sozialdemokraten. Die Bejahung der Rechtsqualität der Anordnungen der Volksbeauftragten nützte gewiss der Revolution und den revolutionären Kräften. Doch in der Fortgeltung der alten Rechtsordnung und im Fortbestand des deutschen Reiches manifestierte sich auch das Bemühen um eine Bewahrung der in Frage stehenden Elemente der alten Ordnung. Am ehesten scheint daher in den Antworten auf die Rechtsfragen der Novemberrevolution eine Haltung zu Tage treten, die sich als unvermeidliche Akzeptanz des Neuen bei möglichst großer Bewahrung des Überkommenen charakterisieren lässt, als systemstabilisierende Verarbeitung dessen, was nicht mehr zu ignorieren war. Diese Haltung der damals tätigen Juristen dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass Juristen, die sich aufgrund ihrer Profession tagtäglich mit dem geltenden Recht beschäftigen, unweigerlich auch eine gewisse mentale Verbundenheit mit diesem Recht und mit der in ihm zum Ausdruck kommenden politischen und sozialen Ordnung entwickeln, insbesondere wenn sie in amtlichen Funktionen wirken. Zugleich wird ihr Denken meist vom besonderen Wert geordneter, geregelter, ja   45 Zu dieser Frage: Baldus (2002), S. 109ff.; Dreier (2016): Staatsrecht, S. 812ff.

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rechtssicherer Verhältnisse geprägt. Rechtssicherheit ist eine herausragende, leitende Größe der juristischen Arbeit. Daher scheint es meines Erachtens am plausibelsten, die Positionen des Rechtssystems zu den Rechtsfragen der Novemberrevolution mit dem „Anti-Chaos-Reflex“ moderner Gesellschaften auf revolutionäre Entwicklungen zu erklären, um dabei ein Deutungsmuster von Historikern zu den Geschehnissen vor rund hundert Jahren heranzuziehen.46 Dieser Anti-Chaos-Reflex scheint bei Juristen in besonders starkem Maße ausgeprägt. Er dürfte sich auch bei den Antworten des Rechts auf die Fragen der Novemberrevolution wirkungsvoll und entscheidend niedergeschlagen haben. LITERATUR Anschütz, Gerhard: Das Programm der Reichsregierung. In: JW 47 (1918), S. 761–762 Ders., Paul Laband. In: DJZ 23 (1918), S. 265–268. Anter, Andreas: Max Weber und Georg Jellinek. In: Paulson, Stanley L. / Schulte, Martin (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk. Tübingen 2000, S. 67–86. Apelt, Willibalt: Das Werden der neuen Reichsverfassung. In: DJZ 24 (1919), Sp. 205–208. Baldus, Manfred: Das Engagement für Kontinuität. Die Staatsrechtslehre zwischen Novemberrevolution und Weimarer Reichsverfassung. In: AöR 127 (2002), S. 97–117. Bernstein, Eduard: Die deutsche Revolution. Die Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Bd. 1, Berlin-Fichtenau 1921. Bernstorff, Jochen von: Völkerrecht als modernes öffentliches Recht. In: Paulson, Stanley L. / Schulte, Martin (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk. Tübingen 2000, S. 183– 196. Brecht, Arnold: Lebenserinnerungen. Stuttgart 1966. Brockhaus, Friedrich: Das Legitimitätsprinzip. Leipzig 1868. Dreier, Horst: Staatsrecht in Demokratie und Diktatur. Studien zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus, herausgegeben von Matthias Jestaedt und Stanley Paulson. Tübingen 2016. Ders., Revolution und Recht, in: ZÖR 69 (2014), S. 805–853. Gierke, Otto von: Haftung für Plünderungsschäden. In: DJZ 24 (1919), Sp. 8–13. Giese, Friedrich: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Berlin 1919. Ders.: Die Verfassung des deutschen Reichs. 7. Aufl., Berlin 1927. Gusy, Christoph: Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997. Hattenhauer, Hans: Von Weimar zu Hitler. In: Jura 6 (1984), S. 281–288. Herrfahrdt, Heinrich: Revolution und Rechtswissenschaft. Greifswald 1930. Huber, Ernst Rudolf: Rechtsfragen der Novemberrevolution. Die Anerkennung der revolutionären Staatsgewalt und Staatsordnung in der deutschen Rechtsprechung nach 1918. In: Grünwald, Gerald (Hrsg.): Festschrift für Friedrich Schaffstein zum 70. Geburtstag am 28. Juli 1975, Göttingen 1975, S. 53–76. Ders.: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 5, Stuttgart u.a. 1978.

  46 Zum revolutionsfeindlichen „Anti-Chaos-Reflex“ industrieller Gesellschaften: Löwenthal (1979): Bonn und Weimar, S. 9, 11. Die These, dass der industrielle Entwicklungsstand Deutschlands einer revolutionären Umwälzung 1918/19 entgegenstand, wurde freilich schon in den ersten Jahren der Weimarer Zeit vertreten und begründet: vgl. Ströbel (1920): Revolution, S. 172; Bernstein (1921): Revolution, S. 172; dazu auch Winkler (1998): Weimar, S. 13f.

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Ders.: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. 3. Aufl., Bd. 4, Stuttgart u.a. 1991. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1913. Jellinek, Walter: Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung: zugleich ein System der Ungültigkeitsgründe von Polizeiverordnungen und -verfügungen; eine staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung. Tübingen 1913. Kaufmann, Erich: Grundfragen der künftigen Reichsverfassung (1919). In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Göttingen 1960, S. 252–264. Laband, Paul: Staatsrecht des deutschen Reiches. Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 1895. Landau, Peter: Rechtsgeltung bei Georg Jellinek. In: Paulson, Stanley L. / Schulte, Martin (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk. Tübingen 2000, S. 299–308. Loening, Edgar: Staat, Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3. Aufl., Bd. 7, Jena 1911. Löwenthal, Richard: Bonn und Weimar: Zwei deutschen Demokratien. In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945–1953. Göttingen 1979. S. 9–25. Mayer, Otto: Rezension von Friedrich Giese. Die Verfassung des Deutschen Reichs. 1919. In: AöR 40 (1921), S. 125–128. Mommsen, Hans: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, Berlin 1998. Mühlhausen, Walter: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006. Nawiasky Hans: Der Bundesstaat als Rechtsbegriff. Tübingen 1920. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 2, Machtstaat vor der Demokratie (Sonderausgabe), München 1998. Paul, Die Gesetzgebungstätigkeit der Revolutionsregierung und ihre rechtliche Grundlage. In: DJZ 23 (1918), Sp. 346–350. Paulson, Stanley L. / Schulte, Martin (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk. Tübingen 2000. Pohl, Hans: Bundesstaatsschöpfung und Kuntzes Gesamtaktstheorie. In: AöR 20 (1905), S. 173– 180. Reich, Norbert: Oktoberrevolution und Recht. In: KJ 4 (1971), S. 133–147. Schmersal, Helmut: Philipp Scheidemann 1865–1939. Ein vergessener Sozialdemokrat. Frankfurt am Main 1999. Stier-Somlo, Fritz: Die Vereinigten Staaten von Deutschland (Demokratische Reichsrepublik). Ein Entwurf mit Begründung. Tübingen 1919. Ders.: Reichs- und Landesstaatsrecht. Bd. 1, Berlin 1924. Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band 1914–1945. München 1999. Ströbel, Heinrich: Die deutsche Revolution. Ihr Unglück und ihre Rettung. Berlin 1920. Thoma, Richard: Deutsche Verfassungsprobleme. In: Annalen für Soziale Politik und Gesetzgebung 16 (1919), S. 409–439. Triepel, Heinrich: Die Entwürfe zur neuen Reichsverfassung. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 43 (1919), S. 459–466. Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1998. Wittmayer, Leo: Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1922. Wolff, Heinrich Amadeus: Verfassungswandel im Werk von Georg Jellinek. In: Paulson, Stanley L. / Schulte, Martin (Hrsg.): Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk. Tübingen 2000, S. 133–154. Zorn, Philipp: Die Staatsumwälzung im Deutschen Reiche. In: DJZ 24 (1919), Sp. 126–132. Ders.: Aus einem deutschen Universitätsleben, Bonn 1927.

REVOLUTIONÄRE JUSTIZ? Volkssouveränität und Recht bei Erich Kuttner und Walther Lamp’l in der frühen Weimarer Republik Daniel Siemens Gewaltiges hat sich in den letzten Wochen vor unseren Augen abgespielt. [...] Der innere Umschwung ist so radikal, der Gegensatz des neuen werdenden Staates gegen das alte kaiserliche Deutschland so ungeheuer, daß kommende Geschlechter staunend fragen werden, wie war dieser Wandel möglich? [...] Vor der Geschichte, vor all den vergangenen Generationen, die für Deutschland gearbeitet, gekämpft, geblutet haben, vor unseren Kindern und vor allen späteren Geschlechtern sind wir haftbar für die Ordnung, die wir schaffen werden.1

Mit diesen, im Januar 1919 niedergeschriebenen Zeilen voller Pathos begann das Buch Die Bedeutung der Revolution. Eine Einführung in die Grundfragen des neuen Staates aus der Feder des Düsseldorfer Nationalökonomen und Verwaltungsfachmanns Prof. Dr. Karl Kumpmann. Für ihn war die Frage der zukünftigen nationalen Ordnung vor allem eine wirtschaftspolitische – und so erörterte Kumpmann in seinem Buch ausgiebig die Positionen liberaler, konservativer und sozialistischer Wirtschaftspolitik. Im Gegensatz dazu gehörte das Thema Recht für ihn nicht zu den Punkten, die es zu behandeln galt. Überlegungen, die sich mit der anstehenden Neuordnung des Rechts und Justizapparats befassen, sucht man in seinem Buch vergeblich. Kumpmann war mit dieser Schwerpunktsetzung nicht allein. Auch die historische Forschung hat sich mit der Bedeutung der Novemberrevolution von 1918 für Recht und Justiz nur selten beschäftigt.2 Im Gegensatz dazu sind zahlreichen Analysen und Studien aus der Weimarer Republik überliefert, die das Thema entweder   1 2

 

Kumpmann (1919): Die Bedeutung der Revolution, S. 1, 3 (Hervorhebung im Original, D.S.). Vgl. etwa den jüngsten Forschungsüberblick von Kesper-Biermann (2016): Aushandlung und Herrschaft. Ein Thema wie die Novemberrevolution und ihre Bedeutung für die Kulturgeschichte des Rechts in der Weimarer Republik wird hier mangels einschlägiger Untersuchungen weder behandelt noch als Forschungsdesiderat benannt. Aus juristischer Perspektive zu diesem Themenkomplex siehe Dreier (2014): Revolution und Recht; Spoerr (2011): Recht und Revolution; Danz (2008): Rechtswissenschaft und Revolution; sowie die Beiträge in Gusy (2000): Demokratisches Denken. Zur partiellen Neubewertung der Revolution von 1918/19 in der neueren historischen Forschung siehe Braune / Dreyer (2016): Weimar als Herausforderung; Weinhauer / McElligott / Heinsohn (2015): Germany 1916–23; Gallus (2010): Die vergessene Revolution.

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politisch oder fachjuristische behandeln und – unabhängig von den mitunter diametral entgegengesetzten politischen Positionen und Ergebnissen – deutlich machen, welch hohe Bedeutung dem Recht für die Legitimation oder Delegitimation der Revolution und ihrer Folgen seinerzeit zugeschrieben wurde.3 Die meisten Juristen jener Zeit argumentierten, dass die Revolution die bisherige Staatsordnung „als solche“ nicht aufgehoben, sondern lediglich eine neue an die Stelle der bisherigen gesetzt hätte.4 Dabei wurde den revolutionären Kräften durchaus ein erheblicher Gestaltungsspielraum zugestanden. Alwin Saenger, Rechtsanwalt in München und Mitglied des bayerischen Nationalrats, formulierte etwa überaus pragmatisch: „Der Staat lebt und muss leben, und darum wird die ergiebigste Rechtsquelle des heutigen Handelns der Notstand des Staates sein. Aus diesem Notstand heraus ist zu begreifen und zu rechtfertigen, was an neuem Recht geschaffen wird.“5 Von besonderer Wichtigkeit war das Thema des Rechts und seiner Durchsetzung für die frühe Sozialdemokratie. Obwohl erst die Revolution den Sozialdemokraten die politische Macht in Deutschland gebracht hatte, vertrat die SPD als den Weimarer Staat tragende Partei früh den Anspruch, die Exzesse dieser Revolution eingedämmt und damit die Kontinuität staatlichen Rechts gesichert zu haben.6 Ich frage im Folgenden, wie die Sozialdemokratie in der frühen Weimarer Republik die unmittelbaren revolutionären Ereignisse des Jahres 1918/19 im Hinblick auf ihre rechtliche und politische Relevanz interpretierte. Zwei Politiker stehen dabei im Mittelpunkt: Erich Kuttner und Walter Lamp’l. Der langjährige Vorwärts-Redakteur und spätere Abgeordnete des Preußischen Landtags Erich Kuttner war in der Weimar Republik einer der profiliertesten Justizkritiker seiner Partei und nicht zuletzt deshalb das Ziel fortgesetzter Angriffe der politischen Rechten. Walther Lamp’l amtierte von Dezember 1918 bis Februar 1919 als stellvertretender Vorsitzender des Obersten Soldatenrates für Hamburg, Altona und Umgebung, sowie anschließend bis Juli 1919 als Kommandant für Groß-Hamburg. Der spätere Magistratsrat für Polizeiwesen in Hamburg, eine Art Senator, legte zudem 1921 eine ausführliche juristische Dissertation vor, in der er nicht nur für die politische, sondern auch für die rechtliche Legitimation der Novemberrevolution eintrat.7   3 4 5 6

7

Vgl. Freytagh-Loringhoven (1919): Revolution und Recht; Preuß (1919): Deutschlands Staatsumwälzung; Beling (1923): Revolution und Recht. Spoerr (2011): Recht und Revolution, S. 155. Siehe hierzu auch den Beitrag von Manfred Baldus in diesem Band. Saenger, Alwin: Die Revolution als Rechtsquelle. In: Recht und Wirtschaft (1919), S. 26ff., zit. n. Spoerr (2011): Recht und Revolution, S. 156. Dies zeigen in besonderer Weise die Schriften von sozialdemokratischen Politikern wie Friedrich Stampfer oder auch von Liberalen wie Hugo Preuß, die die Reichsverfassung von 1919 der Allgemeinheit näherbringen wollten und sich zumindest darin einig waren, dass die neue Ordnung ein demokratischer „Rechtsstaat“ sein müsse. So etwa Preuß (1919): Deutschlands Staatsumwälzung, S. 15. Siehe auch die Beiträge in Saage (1986): Solidargemeinschaft und Klassenkampf, und Heimann / Meyer (1982): Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zu den Lebensläufen beider Politiker siehe Schröder (1995): Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 575 (Kuttner) und S. 576 (Lamp’l).

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Wir haben es also bei Kuttner mit einem Rechtswissenschaftler zu tun, der in die Politik ging, während Lamp’l ein Revolutionär war, der anschließend zum Doktor der Rechte promoviert wurde. Für beide Autoren war die Verbindung von Wissenschaft und Praxis konstitutiv, und die Analyse ihrer Schriften verspricht daher in besonderer Weise Aufschluss über die pragmatische Orientierung wie die theoretische Einbettung des revolutionären Rechts. 1. REVOLUTION UND JUSTIZKRITIK BEI ERICH KUTTNER Erich Kuttner, von 1921 bis 1933 Abgeordneter für die SPD im Preußischen Landtag, war in der Weimarer Republik eine der wichtigsten Stimme seiner Partei, wenn es um Fragen des Rechts und der Rechtsprechung ging. Geboren 1887 in Berlin in eine bürgerliche deutsch-jüdische Familie – der Vater war Handelsvertreter für einen Lausitzer Tuchfabrikanten –, besuchte der junge Kuttner das Königliche Wilhelmsgymnasium unweit des Potsdamer Platzes und machte dort im Frühjahr 1905 das Abitur. Anschließend studierte er drei Jahre lang Rechtswissenschaften an der Berliner Universität sowie in München. Das erste Staatsexamen bestand Kuttner 1908; ein Jahr später begann er ein Referendariat beim Berliner Kammergericht, das er jedoch bald darauf wegen politischer Differenzen abbrach. Schon zuvor hatte er – gefördert unter anderem von Rudolf Breitscheid – erste journalistische Arbeiten im „Freien Volk“, dem Publikationsorgan der linksliberalen „Demokratischen Vereinigung“, veröffentlicht. Nach dem Abbruch seines Referendariats trat Kuttner mit immer schärfer werdender Kritik an der deutschen Rechtsprechung an die Öffentlichkeit, wovon nicht nur seine Zeitungsartikel, sondern vor allem auch die Broschüre Klassenjustiz! aus dem Jahr 1913 Zeugnis ablegen. Sie enthält zahlreiche Fallbeispiele aus dem Alltag der deutschen Justiz der vorangegangenen Jahre, die Kuttner skandalisierte und mit denen er nach eigener Aussage den Beweis antreten wollte, dass die „Klassenjustiz“ weder bloße Propagandaformel im politischen Meinungskampf noch eine inzwischen überwundere Erscheinung sei. Er richtete sich in erster Linie an die gebildeten Arbeiter, denen er das „Wesen unseres Klassenstaates“ nachdrücklich vor Augen führen wollte.8 Diese Phase der starken Politisierung Kuttners am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist wichtig hervorzuheben, um seine Justizkritik in der Weimarer Republik sinnvoll einordnen zu können. Während viele seiner Parteigenossen seinerzeit trotz der im Kaiserreich erlittenen Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen daran glaubten, dass sich die deutsche Justiz nach 1918 den neuen politischen Verhältnissen anpassen werde und frühere Vorbehalte gegen die Sozialdemokratie rasch ablegen würde, hatte Kuttner kein Vertrauen in den mutmaßlichen guten Willen der deutschen Richter zur weltanschaulichen Neutralität. Sein scharf ablehnendes Urteil über deutsche Richterschaft stand zu dieser Zeit bereits seit einem Jahrzehnt   8

Kuttner (1913): Klassenjustiz, S. 5.

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fest. Kuttner, der im Ersten Weltkrieg schwer verletzt worden war und von 1916 an als Redakteur beim Vorwärts arbeitete, ehe ihm gegen Ende des Krieges der Sprung in die aktive Politik gelang, blieb jedoch auch nach 1918 ein bürgerlicher Idealist. Besonders deutlich wird dies in seinem 1924 im Dietz Verlag erschienenen, in einer ersten Fassung allerdings bereits 1912 vollendeten Roman Schicksalsgefährtin. Es handelt sich dabei um eine eigenwillige Mischung aus Kitsch, Sex und politischem Ideenkampf, die den Helden des Buches namens Leonhard, einen Studenten der Rechte mit erkennbar autobiographischen Zügen des Autors, durch allerlei Wirren hindurch schließlich zu festen ideologischen wie privaten Banden führt. Charlotte, die weibliche Hauptfigur des Romans, gibt dem zunächst unsteten Jüngling die politische Zielrichtung vor: ‚Meine Sache ist der Kampf wider die Not und das Grauen der Zeit. Meine Sache ist der Glaube an das Menschengeschlecht, das edler, freier und schöner leben wird als wir. Der einzelne vielleicht nicht glücklicher, aber tiefer in Freude und Leid. Das größte Elend ist doch der Stumpfsinn, in dem die große Masse der Menschen dahindämmert, die flache Alltäglichkeit, geboren aus der leiblichen Not.‘ [...] An diesem Tag fiel zum erstenmal zwischen ihnen das Wort: Sozialismus. [...] In Charlottes Mund aber wandelte das Wort Sozialismus seinen Klang. Was andere als das Ziel des Sozialismus bezeichneten, das Aufhören des Elends und der Unterdrückung, die größere Sättigung und bessere Kleidung, das war ihr nur Vorstufe einer neuen Gesinnung.9

Im Preußischen Landtag der Weimarer Republik war Kuttner einer der führenden Köpfe, die sich – ganz ähnlich wie auf publizistischer Front der heute bekanntere Heidelberger Privatdozent Emil Julius Gumbel – eine Aufdeckung der zahlreichen „Fememorde“ der Nachkriegszeit zum Ziel gesetzt hatten.10 Eine erste Bilanz der frühen nachrevolutionären Rechtsprechung zog Kuttner 1921 mit seinem Buch Warum versagt die Justiz?, einer einhundertseitigen politischen Kampfschrift gegen die, wie er es sah, skandalösen Auswüchse fortwährender Klassenjustiz gegen die politische Linke in Deutschland. Kuttners Ausführungen knüpften nahtlos an seine Kritik von 1913 an, betonten jedoch, dass durch die Umkehrung der Verhältnisse – also die Demokratisierung der Gesetzgebung – die Justiz nicht mehr als verlängerter Arm des alten Obrigkeitsstaates agiere, sondern inzwischen zum aktiven Gegner sozialer und politischer Reformanliegen mutiert sei.11 Dies macht Kuttner besonders in zwei Unterkapiteln deutlich, die sich mit der vorrevolutionären und nachrevolutionären Justiz befassten. Trotz der Umwälzungen habe sich der „innere Geist der Gerichte“ nicht geändert.12 Lediglich bei der Auswahl der Schöffen konstatierte Kuttner eine gewisse Verbesserung, weil in der Weimarer Republik vermehrt darauf geachtet werde, dass auch bislang übergangene Bevölkerungsgruppen, allen   9 Kuttner (1924): Schicksalsgefährtin, S. 339–341. 10 Vgl. in diesem Zusammenhang die inzwischen „klassischen“ Schriften Emil Julius Gumbels: Gumbel (1922): Vier Jahre politischer Mord; ders. (1921): Zwei Jahre Mord; sowie Jansen (1991): Gumbel. 11 Kuttner (1921): Warum versagt die Justiz? S. 20–22. 12 Ebd., S. 22.  

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voran vermeintliche Anhänger der Sozialdemokratie, auf den Wahllisten platziert wurden.13 Trotz dieser eindeutigen Analyse blieben die Reformvorschläge Kuttners erstaunlich zurückhaltend. Eine „Rotjustiz“ – so sein Begriff – lehnte er wie viele andere Sozialdemokraten ab. Stattdessen solle, im Einklang mit dem Görlitzer Programm der SPD vom September 1921, eine „soziale Rechtsauffassung“ an die Stelle der bisherigen „privatrechtlichen“ Rechtsauffassung treten: Zwar dürfe „für die hasserfüllten Feinde unserer republikanischen Verfassung [...] in der republikanischen Justiz keine Stätte sein“, doch waren die konkreten Vorschläge, diesen Anspruch auch zu verwirklichen, bescheiden: Die Justizministerien wurden angehalten, den juristischen Nachwuchs sowie neue Staatanwälte sorgfältig auszuwählen, um mittelfristig „für die Erneuerung des Geistes in unserer Justiz“ sorge zu tragen. Die Justizausbildung sei zu reformieren. Den Justizministern müsse die Kompetenz zugebilligt werden, die Urteile aller außerordentlichen Gerichte der letzten Jahre zu überprüfen und bei Bedarf Begnadigungen auszusprechen. Die Strafgerichte seien anteilig mit Laienrichtern zu besetzen, und der gesamte Justizapparat weiblichen Bewerbern „schleunigst“ zu öffnen.14 Dass all diese Forderungen dazu geeignet gewesen wären, die Realität der Weimarer Justiz im Sinne der Sozialdemokraten zu verändern, steht außer Frage. Ebenso klar scheint jedoch auch, dass es sich dabei um mittel- bis langfristig wirkmächtige Reformziele handelte, die am gegenwärtigen Zustand einer reaktionären Justiz im aktiven Kampf gegen die Republik allenfalls minimal etwas würden ändern können. Bemerkenswert ist weiterhin, dass selbst ein so scharfer Kritiker wie Kuttner das eigentlich Naheliegende nicht einmal formulierte – nämlich den aktiven politischen Eingriff in die Justiz, gestützt auf die Idee der sich in der Revolution artikulierenden Volkssouveränität. Diese spielte in Kuttners Überlegungen durchaus eine wichtige Rolle, jedoch immer nur in Verbindung mit bzw. als Begründung für mittel- bis langfristige Reformvorhaben. Er glaube gewissermaßen an „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann), und nicht an Legitimation durch revolutionären Umsturz.15 Die Novemberrevolution als Grundlage für ein neues demokratisches Recht wird in den Schriften Kuttners allenfalls abstrakt, nie jedoch konkret als Begründung angeführt. Diese Leerstelle zeigt zumindest zweierlei: Erstens belegt sie, wie stark Kuttners Denken trotz aller anhaltenden Kritik an der Justiz in der bürgerlich-idealistischen Vorstellung verhaftet blieb, soziale und politische Gegensätze durch Einsicht in die Überlegenheit der fortschrittlich-modernen, also der sozialdemokratischen Position zu überwinden. Worauf sich Kuttners wohlwollende Vermutung stützte, auch die entschlossenen Gegner umstimmen zu können, wird aus seinen Schriften nicht deutlich. Zweitens verweist die angesprochene Leerstelle auf das grundsätzliche Dilemma sozialdemokratischer Politik in den frühen 1920er Jahren, einerseits   13 Ebd., S. 29. 14 Ebd., S. 79–80. 15 Luhmann (1969): Legitimation durch Verfahren.

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den Status quo mit guten Gründen zu kritisieren und auf Veränderungen zu drängen, andererseits aber die als defizitär erkannten Strukturen und Institutionen „staatstragend“ verteidigen zu müssen, um nicht dem (auch innerparteilichen) Vorwurf ausgesetzt zu sein, einer Klassenjustiz von Links das Wort zu reden. Angesichts dieser Problemlage scheint es denn auch nur folgerichtig, dass die optimistische Angriffslust, die Kuttners Interventionen in den ersten Nachkriegsjahren prägte, in seinen späteren Beiträgen zur „Vertrauenskrise der Justiz“ in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bereits deutlich nachgelassen hatte und beinahe schon resignative Züge trug.16 2. WALTHER LAMP’L UND DAS „RECHT DER DEUTSCHEN REVOLUTION“ Walter Lamp’l wurde am 10. Mai 1891 in Hamburg als Sohn eines Büroangestellten geboren. Durch seine ausgezeichneten schulischen Leistungen erhielt er eine Freistelle für die Oberrealschule vor dem Holstentore, wo er 1910 das Abitur bestand. Ein Stipendium für ein Theologiestudium schlug er aus; stattdessen bewarb sich der weitgehend mittellose junge Mann auf eine Zeitungsannonce als Hauslehrer und Kaufmannslehrling bei einer deutschen Familie in Mexiko.17 In den Wirren des mexikanischen Bürgerkrieges kämpfte er eine Zeit lang gegen die Rebellen; er selbst gab in einem späteren Lebenslauf als Beschäftigung „Offizier der mexikanischen Armee in Nord- und Mittelamerika“ an.18 Nach einer schweren Erkrankung kehrte Lamp’l Ende 1912 nach Deutschland zurück und nahm, trotz äußerst widriger finanzieller Umstände, das Studium der Rechte an der Berliner Universität auf. Von 1914 bis 1917 war er Soldat im Ersten Weltkrieg. Im Offiziersrang stehend wurde er im Dezember 1917 schwer verwundet und anschließend in ein Lazarett nach Hamburg verlegt.19 An der Novemberrevolution 1918/1919 wirkte Lamp’l in der ersten Reihe mit: So wurde er im Dezember 1918 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Soldatenrates für Hamburg, Altona und Umgebung gewählt, eine Funktion, die er bis Februar 1919 ausübte. Der Soldatenrat konkurrierte mit dem am 11. November „gewählten“ Arbeiter- und Soldatenrat unter Führung Heinrich Laufenbergs, eines langjährigen Sozialdemokraten des äußersten linken Parteiflügels, um die tatsächliche Macht im Großraum Hamburg.20 Zudem wurde Lamp’l im Dezember 1918 als Delegierter zum 1. Rätekongress nach Berlin entsandt und war dann einige Wo  16 Grundlegend zur „Vertrauenskrise“: Siemens (2005): Die „Vertrauenskrise“ der Justiz; Kuhn (1983): Die Vertrauenskrise. 17 Hansen (2001): Lamp’l, S. 236; anders dagegen Lippmann (1964): Mein Leben, S. 283. 18 Schröder (1995): Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 576. 19 Für detaillierte Angaben zur Biographie Lampl’s siehe vor allem Hansen (2001): Walther Lamp’l und die „Hamburger Punkte“, S. 166–168. 20 Zu Laufenberg siehe Grolle (1997): Hamburg und seine Historiker, S. 77–98.  

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chen Mitglied des kurzlebigen „Zentralrats der deutschen Sozialistischen Republik“, eines von der MSPD kontrollierten Gremiums zur Überwachung des Rats der Volksbeauftragten, also der provisorischen Reichsexekutive. Lamp’l war in dieser Zeit vor allem durch die sogenannten „Hamburger Punkte“, ein ambitioniertes Programm zur Demokratisierung des deutschen Militärs, überregional bekannt geworden, das die Errichtung eines „Volksheeres“ forderte, dessen militärische Führer gewissermaßen basisdemokratisch, per Wahl durch die Truppen, bestimmt werden sollten.21 Am 28. Februar 1919 ernannte der damalige Volksbeauftragte für Heer und Marine, Gustav Noske, den inzwischen offiziell in die SPD eingetretenen Lamp’l zum Kommandanten für Groß-Hamburg.22 Von August 1919 an führte er dann den Titel Reichskommissar für Groß-Hamburg, ehe er in den zwanziger Jahren als Magistratsrat für Polizeiwesen in Hamburg amtierte und von 1925 bis zu seinem frühen Tod am 4. Januar 1933 im Provinziallandtag Schleswig-Holstein saß.23 Trotz dieser eindrucksvollen politischen Karriere (oder vielleicht auch gerade deshalb) gelang es Lamp’l, sein im Herbst 1919 wieder aufgenommenes Studium der Rechte im April 1921 mit einer Promotion beim Hamburger Staatsrechtler Rudolf Laun abzuschließen. Auf dieser Arbeit beruht die Publikation seiner im selben Jahr erschienenen drei Schriften Die Revolution in Groß-Hamburg, Das großhamburgische Revolutionsrecht sowie vor allem Das Recht der deutschen Revolution. Das Problem des Revolutionsrechts in der deutschen Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und Rechtsprechung. Während es sich bei den beiden erstgenannten Büchern um eine Geschichtsdarstellung mit erkennbar defensivem Charakter sowie um eine Quellensammlung von Gesetzestexten und Verordnungen aus der Revolutionszeit handelt, war letzteres eine rechtsphilosophisch informierte wissenschaftliche Analyse des Zusammenhangs von Recht und Revolution im Allgemeinen sowie von Recht und der Novemberrevolution von 1918 im Besonderen. Insbesondere diese Schrift erlaubt Einblicke in Lamp’ls Rechts- und Revolutionsverständnis und soll daher im Folgenden eingehender betrachtet werden. Lamp’ls Sicht auf das Revolutionsrecht war überaus ambivalent, wie schon aus dem Vorwort seines Buches deutlich wird. So stellt er einerseits unzweideutig fest, dass „das Recht der deutschen Revolution von 1918“ die „Grundlage für die neuen deutschen Verfassungen, für die heutigen deutschen Volksvertretungen und Regierungen“ sei, um gleich darauf einzuschränken: „Allerdings verstehen wir unter dem Begriff ‚Revolution‘ nicht sinnlose, mehr oder weniger lediglich parteipolitische ‚Putsch‘-taktik, die nur als pathologische Erscheinung des durch den Weltkrieg verursachten allgemeinen Zusammenbruchs zu werten ist.“24 Wenig später findet sich   21 Büttner (1985): Politische Gerechtigkeit und Sozialer Geiste, S. 35–42, 86–87; Hansen (2001): Walther Lamp’l und die „Hamburger Punkte“. 22 Schulte-Varendorff (2010): Die Hungerunruhen in Hamburg, S. 35. 23 Hansen (2001): Lamp’l, S. 236; Schröder (1995): Sozialdemokratische Parlamentarier, S. 576. 24 Lamp’l (1921): Das Recht der deutschen Revolution, S. 11–12.  

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dieser Gegensatz erneut: Lamp’l nennt die Revolution ein „geschichtliches Ereignis“, das dem „neuen, mehr zeitgemäßem Rechte die Bahn freigemacht“ habe, hebt aber sogleich als „Verdienst der Revolution“ hervor, dass sie „dem deutschen Volk die Grenzen seines revolutionären Willens und das Maß seines tatsächlichen Könnens gelehrt“ habe. Auch der Volksstaat sei Obrigkeitsstaat, andernfalls drohe Anarchie.25 Eine vermittelnde Position kennzeichnet auch Lamp’ls Auswertung der einschlägigen juristischen Fachliteratur, die im Buch den meisten Platz einnimmt. Weder die jede Revolution verwerfende „Legitimitätstheorie“ noch ihr Gegenteil, die sogenannte „reine Machttheorie“, könne zur rechtlichen Bewertung der Novemberrevolution herangezogen werden. Vielmehr nimmt Lamp’l ein prinzipielles Widerstandrecht des Volkes an, das von einem von einer Rechtsidee beseelten Kollektivwillen getragen sein müsse. Die Revolution als Widerstand des Volkes müsse zudem ex post durch die Errichtung einer neuen Verfassungsordnung ihren tatsächlichen Niederschlag im positiven Recht finden.26 Anders gesagt: nicht jede gewaltsame politische Umwälzung war für Lamp’l auch eine Revolution, die Anspruch auf Rechtssetzungskompetenz geltend machen kann.27 Ein bloßer Verweis auf das Naturrecht seitens der Revolutionäre sei unzureichend; vielmehr komme es auf die Geltung des positiven Rechts an, das auch die Revolution habe setzen können. Lamp’l verband diese Einsicht mit scharfer Kritik: Vereinzelt haben radikale revolutionäre Gewalthaber im Revolutionswinter 1918/19 die Bedeutung und die Unentbehrlichkeit des positiven Rechts aus Unfähigkeit oder politischem Fanatismus vollständig verkannt. Die Revolutionswirren haben [...] nicht selten Persönlichkeiten in verantwortliche Stelle gebracht, die [...] unbewusst in echt naturrechtlicher Vorstellungswelt befangen, vermeinten, [...] in ihrem ‚gesunden Menschenverstand‘ gebrauchsfertige Rechtssätze zu besitzen.28

Ebenso scharf aber wandte sich Lamp’l gegen Versuche, die Legitimation des Revolutionsrechts ausgerechnet mit Verweis auf die pouvoir constituant, also die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, anzuzweifeln, etwa wenn Gegner der Revolution ihre politische Ablehnung mit dem formalen Argument begründeten, dass das Revolutionsrecht ohne den maßgeblichen souveränen Volkswillen zustande gekommen sei.29 Das Gegenteil sei richtig, so Lamp‘l: Erst die Revolution habe dem Satz Geltung verschafft, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehe. Die deutschen Volksvertretungen der Weimarer Republik leiteten ihre Legitimität direkt und rechtlich einwandfrei aus den revolutionären Umwälzungen des November 1918

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Ebd., S. 12–13. Ebd., S. 15–20. So explizit ebd., S. 23. Ebd., S. 26. So etwa Freytagh-Loringhoven (1919): Revolution und Recht, S. 9–15. Für eine differenziertere zeitgenössische Diskussion siehe Beling (1923): Revolution und Recht, S. 17–23.

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ab.30 Wie alle echten Revolutionen so habe auch diese neues Recht geschaffen, zumindest „vorläufiges Recht, Notstandsrecht, um das Weiterbestehen des Staates zu sichern, dann aber die Entwicklung freizumachen für neues Recht, das in deutschen Landen seit langem der Entbindung harrte.“31 Entsprechend dieser Konzeption bewertete Lamp’l in seinem Buch Die Revolution in Groß-Hamburg auch die Arbeit des im November 1918 tonangebenden Arbeiter- und Soldatenrates. Seine Bedeutung für die Justiz sei, so führte er aus, eine primär bewahrende und schützende gewesen. Bereits die Ratsverordnung vom 13. November 1918, die Lamp’l zustimmend zitiert, habe die Bekanntmachung enthalten, dass die Gesetze in Kraft und die Gerichte in Tätigkeit blieben.32 Präzisiert worden sei dieser Gedanke wenig später, am 25. November 1918, durch eine „Verordnung über die Rechtspflege“: Der A[rbeiter]- und S[oldaten]-Rat hat eine Kommission für Justiz und Gefängniswesen gebildet. Die Kommission hat nicht die Aufgabe, die Rechtspflege auszuüben. Die Ersetzung der gegenwärtigen Gerichte durch eine volkstümliche Justiz, die von demokratischen und sozialen Anschauungen geleitet ist, kann nicht im örtlichen Raum Hamburg erfolgen, sondern nur im Rahmen der Reichsverwaltung und durch die Reichsgesetzgebung.33

Allein das Begnadigungsrecht nahm der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat für sich in Anspruch.34 Dieses auf strenge Legalität bedachte Vorgehen der revolutionären Gewalt macht deutlich, dass in Hamburg selbst in der Hochphase der Revolution von einer tatsächlich revolutionären Beseitigung bisheriger Machtstrukturen kaum gesprochen werden kann, ja dass nicht einmal moderate Forderungen nach einer sozial ausgewogeneren – und damit weniger klassenbewussten – Justiz im Kreise der Revolutionäre mehrheitsfähig waren. Ich will keinesfalls in Abrede stellen, dass es nicht gute Gründe gab, sich im November 1918 für die Kontinuität in der Rechtspflege einzusetzen und die Aufgabe einer grundsätzlichen Neuordnung an die Reichsgewalt zu delegieren, doch ist ebenso wenig von der Hand zu weisen, dass die Revolutionäre in die gleiche legalistische Falle wie ihre Vorgänger von 1848 traten. Diese hatten bekanntlich im Frühsommer 1848 die soziale und revolutionäre Dynamik der Straße zugunsten einer zentralstaatlichen Lösung der deutschen Frage abgeschwächt und so den Gegenrevolutionären eine Sammlung der Kräfte ermöglicht, die diese ab dem Herbst 1848 zu letztlich erfolgreichen Gegenschlägen nutzen konnten.35 Lamp’l und viele   30 Lamp’l (1921): Das Recht der deutschen Revolution, S. 82–84. Ebenso Dreier (2010): Die deutsche Revolution, S. 172–173. 31 Lamp’l (1921): Das Recht der deutschen Revolution, S. 33. 32 Lamp’l (1921): Die Revolution in Groß-Hamburg, S. 31. 33 Ebd. [meine Hervorhebung, D.S.]. 34 Ebd., S. 32. 35 So bereits Valentin (1997): Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 2, S. 545–550, dessen engagierte Parteinahme für die Revolutionäre von 1848 Anfang der 1930er Jahre unter Historikern ein ebenso seltenes wie eindeutiges Bekenntnis zur bereits schwer angeschlagenen Republik von Weimar war.  

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andere Sozialdemokraten haben diese Gefahr gesehen, aber dennoch unterschätzt, und zwar nicht zuletzt aus dem Grund, dass sie optimistisch an ihrer Denkfigur des sich im Recht Geltung verschaffenden Volkswillens festhielten und als Sozialdemokraten vielleicht auch festhalten mussten, selbst wenn im Verlauf der 1920er Jahre die „Rechtsanerkennung durch die Rechtsunterworfenen“36 – anders gesagt: die Akzeptanz des Weimarer Rechtsstaats durch seine Bürger – zunehmend fraglich wurde. 3. REVOLUTION, RECHT UND GEWALT „Das Ausmaß, in dem die Ziele der Revolution schließlich in das neue Recht eingingen, ist ein Kriterium für ihren Erfolg.“37 Dieses Diktum Harold J. Bermans, basierend auf seiner vergleichenden Analyse der großen politischen Revolutionen im westlichen Kulturraum, ist auch auf die deutsche Novemberrevolution von 1918/19 zu übertragen. Welche Ziele der Revolution fanden ihren Platz im Recht der Weimarer Republik, sei es in kodifizierter oder gerichtspraktischer Form? Von den Zielen ist die Art ihrer möglichen Erreichung klar zu unterscheiden. Eine Revolution als gewaltsame Beseitigung etablierter Strukturen ist jeder Rechtsordnung von Natur aus wesensfremd, denn das Recht ist ja gerade auf Verlässlichkeit und Vorhersagbarkeit in der Zukunft gerichtet. Das Recht strebt danach, Kontingenz und Komplexität zu reduzieren, während eine Revolution im Gegenteil Möglichkeitsräume eröffnen und das Utopische real werden lassen möchte. Auch wenn kein Zweifel daran besteht, dass die Novemberrevolution im Sinne Bermans ein Erfolg war – eine neue staatliche Ordnung auf Basis des Prinzips der Volkssouveränität wurde etabliert, ein ambitionierter Katalog von sozialen Freiheitsrechten erhielt Verfassungsrang – so fanden sich selbst im Kreise der Revolutionäre nicht viele, die sich dauerhaft und vorbehaltlos zu ihrer rechtsetzenden Kraft bekannten. Dies hing – so meine abschließende These – mit einer auffälligen Leerstelle zusammen, nämlich dem Verschweigen bzw. der Verharmlosung der tatsächlichen, physischen Gewalt. Bei Kuttner und Lamp’l erfährt man schlechterdings nichts über die sich intensivierenden und gegenseitig verstärkenden Gewalttaten zwischen November 1918 und Mai 1919. Verantwortlich für diese Akte des „Tabubruchs“ und die sich rasch drehende Gewaltspirale war, so hat jüngst Mark Jones argumentiert, nicht zuletzt die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung, die militärische Gewalt als Kommunikationsmittel einsetzte, um die eigene Legitimität und unbedingte Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren.38 Vielfache Gewaltexzesse und ein rasches Wiedererstarken rechtsnationalistischer Kreise waren

  36 Lamp’l (1921): Das Recht der deutschen Revolution, S. 51. 37 Berman (1995): Recht und Revolution, S. 45. 38 Jones (2017): Am Anfang war Gewalt, S. 335–336.  

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der Preis, den die gemäßigte Linke in Deutschland dafür zahlen musste – und, von Ausnahmen abgesehen, auch zu zahlen bereit war.39 Dass die blutige Seite der Revolution von den Sozialdemokraten Erich Kuttner und Walter Lamp’l in der frühen Weimarer Republik mit Schweigen übergangen wurde, ist einerseits naheliegend und nicht nur aus politisch-taktischen, sondern auch aus biographischen Gründen verständlich. Für Kuttner gilt dies in besonderer Weise. Als Führer des „Regiment Reichstag“, einer regierungstreuen Militärformation, die Anfang Januar gegen die aufständischen „Spartakisten“ in der Hauptstadt kämpfte, erschoss er am 10. Januar 1919 im Hof des Hauses Schiffbauerdamm Nr. 35 einen bewaffneten Mann, als dieser sich seiner Entwaffnung durch das Regiment widersetzte. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren, das Kuttner selbst gegen sich angestrengt hatte, zwar mit der Begründung ein, dass dieser zweifelsfrei in Notwehr gehandelt habe. Dennoch erhob das USPD-Mitglied Georg Davidsohn, der Mitbegründer des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten, im April 1920 öffentlich schwere Vorwürfe gegen Kuttner, der daraufhin eine Beleidigungsklage gegen Davidsohn anstrengte und diese drei Jahre später auch in zweiter Instanz gewann. Politisch war dieser juristische Sieg von geringem Nutzen. Ähnlich wie auch der Reichspräsident Friedrich Ebert mit seinen Bemühungen, auf dem Rechtswege gegen Schmähungen und Beleidigungen vorzugehen, konnte auch Kuttner die anhaltende Kritik an seiner Person – gipfelnd im Vorwurf des „Arbeitermörders“ – nicht dauerhaft unterdrücken.40 Die in vielerlei Hinsicht geradezu traumatischen gewaltsamen Auseinandersetzungen auf der politischen Linken in den Jahren 1918–1919 führten zu einem unüberbrückbaren Misstrauen zwischen Führern wie Anhängern der SPD, USPD und KPD. Um nicht die nur notdürftig vernarbten Wunden wieder neu aufzureißen, entschieden sich daher viele der ehemaligen Revolutionäre, die politischen wie paramilitärischen Kämpfe im Innern in den 1920er Jahren allenfalls abstrakt zu erinnern, wenn nicht gar ganz zu verschweigen. Auch das gemäßigte Bürgertum, die sogenannten Vernunftrepublikaner, konnten mit der Revolution wenig anfangen. Die Ausführungen des Heidelberger Ordinarius für Strafrecht, Alexander Graf zu Dohna-Schlodien, waren für diese Haltung charakteristisch. In einer Rede zur „Feier des Gedächtnisses an die Aufrichtung des Deutschen Reiches“ vom Januar 1923 – Dohna erinnerte in der Aula der Universität an die Reichsgründung im Jahr 1871 und nicht etwa an die Gründung der Republik von Weimar im Jahr 1919, die im August gefeiert wurde – führte er scheinbar versöhnlich, aber innerlich distan  39 Vgl. hierzu Keller (2014): „Die Wehrmacht der Deutschen Republik“; Bergien (2012): Die bellizistische Republik. 40 De Cort (1990): „Was ich will, soll Tat werden“, S. 38–40; Ingenthron (2000): „Falls nur die Sache siegt“, S. 163–166, 173–174. Zu Ebert, der als Reichspräsident sein bzw. das Ansehen seines Amtes durch weit mehr als 100 Prozesse gegen Kritiker schützen wollte, siehe Siemens (2005): Die „Vertrauenskrise“ der Justiz, S. 146 sowie umfassend Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert.  

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ziert aus: „Der neue Staat hat seine Herrschaft unter den denkbar schwersten Verhältnissen angetreten. Nur völlige Gedankenlosigkeit oder bewußte Unwahrhaftigkeit wird die Verantwortung für das grausame Schicksal, das seit vier Jahren auf uns lastet, in ihrem ganzen Umfange den Geschehnissen aufbürden können, die wir mit einiger Übertreibung die Deutsche Revolution uns zu nennen gewöhnt haben.“41 Einige Seiten später ließ sich Dohna sogar zu der Aussage hinreißen, dass die Revolution als „ein Vorgang, der unser Volk wehrlos machte im Angesicht unserer vernichtungslüsternen Feinde, [...] nicht den Anspruch erheben [sollte], als Ausfluß seiner vitalen Interessen gewertet zu werden.“42 Die Revolution, so wird man Dohna verstehen müssen, mag am Ende des Krieges unausweichlich gewesen sein, doch komme ihr deshalb nicht automatisch Legitimität zu. Solch Verschweigen oder Distanzierung standen nicht nur einem positiven Erinnern der Revolutionsereignisse im Weg,43 sondern boten auch dem politischen Gegner auf der sogenannten nationalen Rechten eine offene Flanke, in die dieser in den folgenden Jahren immer wieder stoßen sollte. Statt von Volkssouveränität und revolutionärem Recht zu reden, prangerte diese die vermeintliche Pöbelherrschaft an, die sich ein allzu dürftiges Mäntelchen des Rechts zugelegt habe, um den wahren Kern des revolutionären Umsturzes zu verhüllen, nämlich die nackte und durch nichts zu legitimierende Gewalt der Straße, der durch Leidenschaften und Agitation aufgeputschten Menschenmenge.44 Unter dem Pseudonym Gottfried Zarnow giftete etwa der Journalist Ewald Moritz, ein ehemaliger Proviantamtsinspektor aus dem pommerschen Groß-Zarnow, gegen die „parlamentarische Kanaille [...], die es versucht, die Rechtspflege in ihre Gewalt zu bekommen und gegen jene Justiz, die sich zur Dirne hat machen lassen“.45 Erich Kuttner beklagte bereits 1922, dass das im Januar 1919 zum Schutz der Republik aufgestellte „Regiment Reichstag“ der gesamten bürgerlichen Presse als „Bande, die den Reichstag geplündert und verlaust hat“, galt.46 Dies kam einer vollständigen Umkehrung der tatsächlichen Ursachen und paramilitärischen Machtverhältnisse in der Weimarer Republik gleich, zeigte aber durchaus Wirkung – nicht zuletzt im Kreise der deutschen Richterschaft.  

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Dohna (1923): Die Revolution als Rechtsbruch und Rechtsschöpfung, S. 7–8. Ebd., S. 28. In der Bewertung ähnlich Rossol (2015): „Incapable of Securing Order?“, S. 76–82. Zur „Menschenmenge“ [crowd] als zentraler Topos der Erinnerung an die Revolution von 1918/19 siehe auch Weinhauer / McElligott / Heinsohn (2015): Introduction, S. 33–34. 45 Zarnow (1931): Gefesselte Justiz, Bd. 1, S. 5, sowie Siemens (2005): Die „Vertrauenskrise“ der Justiz, S. 157–160. Zur politischen Einstellung der Richter in der Weimarer Republik siehe außerdem Angermund (1990): Deutsche Richterschaft. 46 Zit. n. Ingenthron [2000]: „Falls nur die Sache siegt“, S. 165, Anm. 448.

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VOM EREIGNIS ZUM ERINNERUNGSORT

DIE LITERARISCHE VERARBEITUNG DER NOVEMBERREVOLUTION IN DER WEIMARER REPUBLIK Helmuth Kiesel Die deutsche Revolution war nicht nur ein politisches, sondern auch ein literarisches Ereignis. Schriftsteller haben zur Entstehung einer revolutionären Stimmung beigetragen, haben die Revolution, nachdem sie Berlin erreicht hatte, durch Manifeste, Gedichte und Zeitungsartikel unterstützt,1 wurden in München führend aktiv und begannen alsbald, die Revolution in literarischer Form zu reflektieren. Manifeste und Gedichte wurden während der ersten Revolutionswochen gedruckt. Erste Essays erschienen gegen Ende des Jahres 1918, erste Dramen und Romane entstanden 1919 und erschienen 1920. Zu all dem liegen zahlreiche Studien vor, seien es Aufsätze zu einzelnen Autoren und Werken oder spezielle Kapitel in Biographien und Werkdarstellungen. Die folgenden Ausführungen sind der Versuch einer Zusammenfassung,2 die zugleich den Blick auf besonders bemerkenswerte Texte lenken will. 1. VORBEREITUNGSRUFE Als Anbahnung einer revolutionären Stimmung kann ein guter Teil der expressionistischen Literatur betrachtet werden, die ja nicht zuletzt durch ein starkes Krisenbewusstsein und „allgemeines Erneuerungspathos“ gekennzeichnet war.3 Bei einigen Autoren verdichtete sich dies zu Revolutionshoffnungen oder zumindest Revolutionsphantasien. In München erschien 1913 unter wechselnder Herausgeberschaft von Hans Leybold, Franz Jung und Erich Mühsam die „Zweiwochenschrift“ Revolution, deren erste Nummer (vom 15. Oktober) sofort „polizeilich beschlagnahmt“ wurde., allerdings nicht aus unmittelbar politischen Gründen, sondern weil einige Beiträge sittlichen Anstoß erregten. Die Revolutionsvorstellungen, die sich in den fünf Nummern der Zeitschrift artikulierten, waren vage und phantastisch, eher ästhetizistisch als politisch. Unter der Überschrift „Revolution“ schrieb Erich Mühsam im Eröffnungsartikel des ersten Hefts:   1 2 3  

Vgl. dazu die Überblicksskizze von Scheideler (2000): Kunst als Politik – Politik als Kunst. Der vorliegende Artikel ist eine Zusammenfassung der Darstellung der Revolutionsliteratur in meiner 2017 erschienenen Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933, S. 207–251 sowie 807–840. Vgl. Anz / Stark (1982): Expressionismus, S. 115ff.

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Helmuth Kiesel Revolution ist die Bewegung zwischen zwei Zuständlichkeiten. Hierbei stelle man sich nicht das Bild einer sich langsam drehenden Rolle vor, sondern eines ausbrechenden Vulkans, einer explodierenden Bombe oder auch einer sich entkleidenden Nonne. Alle Revolution ist aktiv, singulär, plötzlich und ihre Ursachen entwurzelnd. […] Einige Synonyma für Revolution: Gott, Leben, Brunst, Rausch, Chaos. Laßt uns chaotisch sein.4

Auch bei anderen Autoren überstieg der Wille zur revolutionären Veränderung der Welt und zur Führerschaft die konkreten politischen Ziel- und Verfahrensvorstellungen bei weitem. Exemplarisch ist Johannes R. Bechers Gedicht Vorbereitung aus dem Jahr 1916: Der Dichter meidet strahlende Akkorde. Er stößt durch Tuben, peitscht die Trommel schrill. Er reißt das Volk auf mit gezackten Sätzen. Ich lerne. Ich bereite vor. Ich übe mich. […] Die neue Welt (– eine solche: die alte, die mystische, die Welt der Qual austilgend – ) Zeichne ich […] Eine besonnte, eine äußerst gegliederte, eine geschliffene Landschaft schwebt mir vor, Eine Insel glückseliger Menschheit. Dazu bedarf es viel. […] O Trinität des Werks: Erlebnis, Formulierung, Tat. Ich lerne. Bereite vor. Ich übe mich. … bald werden sich die Sturzwellen meiner Sätze zu einer unerhörten Figur verfügen. Reden. Manifeste. Parlament. Das sprühende politische Schauspiel. Der Experimentalroman. Gesänge von Tribünen herab vorzutragen. Menschheit! Freiheit! Liebe! Der neue, der Heilige Staat Sei gepredigt, dem Blut der Völker, Blut von ihrem Blut, eingeimpft. Restlos sei er gestaltet. Paradies setzt ein. – Laßt uns die Schlagwetter-Atmosphäre verbreiten! – – Lernt! Vorbereitet! Übt euch!“5

Bechers Gedicht ist Ausdruck jenes literarisch-politischen Avantgardismus, der sich im Umkreis der Juli-Revolution von 1830 herausbildete und in der avantgardistischen Bewegung der 1910er in prononcierter Form zu Tage trat.6 Wenn er politisch zunächst eher diffus war, so fand er während des Ersten Weltkriegs im massenhaften Tod von Soldaten, im Elend der Verwundeten und Versehrten, im Leid der Angehörigen und in den erbärmlichen Lebensumständen der von der Kriegs  4 5 6  

Revolution 1 (15. Oktober 1913), S. 2. Zit. nach Pinthus (1984): Menschheitsdämmerung, S. 213. Vgl. dazu Hardt (1989): Literarische Avantgarden, und Schmidt-Bergmann (1991): Anfänge der literarischen Avantgarde.

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wirtschaft ausgemergelten Bevölkerung genügend Anlass für Empörungs- und Revolutionsrufe, die von Hass auf die Herrschenden getragen waren und auf eine Veränderung des politischen Systems zielten. Walter Hasenclever schrieb 1916 ein Gedicht, dessen Schlußverse lauten: Halte wach den Haß. Halte wach das Leid. Brenne weiter, Flamme! Es naht die Zeit.7

In der Anthologie Menschheitsdämmerung, die Kurt Pinthus 1919 als Dokumentation „jüngster Dichtung“ zusammenstellte, ist dieses Gedicht von mehreren anderen umgeben, die zur „Empörung“, zum „Aufbruch“ und „Marsch“, zum „Aufstand“ oder „Aufruhr“ und ausdrücklich auch zur „Revolution“ aufrufen.8 2. MANIFESTE UND GEDICHTE DER REVOLUTIONSZEIT Während der Revolutionsmonate nach dem 9. November 1918 muss, wie Zeitschriften wie die Aktion und Werkverzeichnisse zeigen, eine Unzahl von Manifesten und Gedichten erschienen sein, in denen zur Fortführung der Revolution aufgerufen oder ihr Verlauf reflektiert und kommentiert wurde. Eine erste Dokumentation literarischer Beiträge zur Revolution erschien wohl im Februar 1919 im Rahmen eines Deutschen Revolutions-Almanachs für das Jahr 1919, herausgegeben von Ernst Drahn, dem Leiter des sozialdemokratischen Parteiarchivs wie der Revolutionssammlung der Preußischen Staatsbibliothek, und dem österreichischen Journalisten Ernst Friedegg, der am 9. November Scheidemanns Ausrufung der Republik stenographisch festgehalten hatte. Das Büchlein umfasst 160 Seiten und bietet auf den ersten 110 Seiten Stellungnahmen von führenden Politikern (Ebert, Haase, Scheidemann usw.) sowie Auszüge aus Schriften von Vordenkern der Revolution (Engels, Kautsky usw.) und Berichte über die Verhältnisse und Ereignisse um den 9. November. Die restlichen 50 Seiten gehören dann den Themen „Der geistige Arbeiter“ sowie „Literatur / Kunst“ und bringen zunächst einige teils essayistische, teils manifestartige Artikel, die sich mit dem Verhältnis von Literatur, Revolution und Republik befassen. Abgeschlossen wird der Literaturteil mit sieben Gedichten von Paul Zech, Franz Werfel, Armin T. Wegner, Walter Hasenclever, Berta Lask, Alfred Wolfenstein und Johannes R. Becher, die man als Mobilisierungslyrik bezeichnen kann. So endet Werfels Revolutions-Aufruf mit den appellativen Versen: Komm Sintflut der Seele, Schmerz, endloser Strahl! Zertrümmre die Pfähle, den Damm und das Tal. Brich aus Eisenkehle! Dröhne du Stimme von Stahl! [...] Wachsend erkenne das Vermaledeit! Brüllend verbrenne in Wasser und Feuer – Leid! Renne, renne, renne gegen die alte, die elende Zeit!

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Hasenclever (1994): Sämtliche Werke 1: Lyrik, S. 144f. und 301. Vgl. Pinthus (1984): Menschheitsdämmerung, S. 250ff.

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Beispielhaft für den revolutionären Manifestismus sind die Manifeste von Armin T. Wegner, der im Berliner „Rat geistiger Arbeiter“ mitwirkte, zwei Zeitschriften herausgab und gute Kontakte zur Presse hatte. Wegner nutzte diese Möglichkeiten, um eine Reihe von Manifesten zu publizieren, in denen er Missstände verschiedener Art anprangerte und den revolutionäre Impetus zu steigern suchte: – – – – – – – – – – – – – –







Ich scheide mich von Euch: eine Absage an die bürgerliche Gesellschaft Der Ankläger: eine Verwerfung der ganzen bestehenden Welt Tod der Presse!: eine Verurteilung der Presse als gigantischer Lügenschmiede Ihr Richter auf den Tribünen!: Forderungen nach gerechter und humaner Justiz Gold: eine Verurteilung des Goldes als Motiv fast allen Unheils auf der Welt Der Bourgeois: eine Verurteilung der Geschäftswelt, die nur an Profit denkt Herab mit Dir, Du Gekrönter!: eine Aufforderung an den Kaiser, sich dem Volk zu stellen Aufruf zum Bürgerkrieg!: eine Aufforderung zur Zerschlagung der staatlichen Institutionen, zum Hass und zur Vergeltung, aber jenseits davon auch zu Barmherzigkeit und Liebe, denen die Zukunft gehören soll Dem Führer!: ein Hymnus auf den noch unbekannten Führer der Revolution, der alles Leid der Menschen kennt und die Massen mit sich reißen wird An die Soldaten der Freiheit!: ein Appell an die heimkehrenden Soldaten, Krieg und Vernichtung hinter sich zu lassen und sich eine friedliche Existenz zu schaffen An die Bräute der Revolution!: ein Hymnus auf die vom Krieg erlöste und von vielen Einengungen befreite Liebe An die Politiker der Eitelkeit: ein Aufruf an die Politiker der Revolution zum Verzicht auf Dünkel und Eigenliebe, um sich uneingeschränkt dem Volk zuwenden und allein seinem Wohl dienen zu können Brot! Friede! Freiheit!: Leitworte der Revolution: „Drei Worte, und soviel Blut vergossen um ihretwillen! Soviel Finsternis, Verblendung, Gewalt. Soviel Tränen . . . und soviel Freude!“ Brief an Karl Liebknecht (zwei Tage vor dem Tode Liebknechts geschrieben): eine Kritik an dem Aufruf zur Bewaffnung der Massen, der zum sogenannten Spartakusaufstand führte, als „Bruch“ mit dem Konzept einer Revolution, die eine neue Gesellschaft nicht mit Gewalt, sondern mit Liebe herbeiführen wollte Der Bürger und der Kommunist: ein Dialog, in dem ein begeisterter Kommunist vor den Resten einer Barrikade im Berliner Zeitungsviertel einem skeptischen Bürger seine Vorstellungen von gewaltfreier Revolution und versöhnter Gesellschaft verkündet, während „aus der Ferne die Musik einziehender Regimenter klingt, unterbrochen von den Zurufen des Volkes“ Deutscher Geist!: eine an Hölderlins Hyperion erinnernde Scheltrede auf die militaristische und imperialistische Perversion des deutschen Geistes, der alle seine Errungenschaften nur als Mittel der Eroberungssucht und der Zerstörung verwendete Genug vom Kriege: eine Ermahnung an diejenigen, die das Elend und die Verbrechen des Kriegs vergessen wollen

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Ihr habt uns besiegt – seid gesegnet Feinde!: eine paradox wirkende Dankadresse an die Kriegsgegner, die als Wohltäter zu betrachten sind, weil nicht der Sieg auf den Weg des Heils führt, sondern die Niederlage, die zum Umdenken zwingt Dich meine ich!: ein Appell an jedweden Zeitgenossen, bei sich selbst, in seinem Herzen mit der Revolution zu beginnen, weil es „keine Erhebung der Masse ohne den Umsturz des Ich“ geben kann Der Dreiklang: Plädoyer für einen achtstündigen Arbeitstag, der acht Stunden für die schönen Dinge des Lebens – Kunst, Natur, Geselligkeit – und weitere acht Stunden für die Ruhe lässt Sieger Geist!: ein Hymnus auf den Geist der großen Menschheitslehrer von Christus und Konfutse über Michelangelo und Marx bis zu Jaurès und Liebknecht, den Geist also der „Sanftmut“ und der „Brüderlichkeit“, der „Vernunft“ und des „Gewissens“, der allemal noch über seine Widersacher gesiegt hat Der rote Mai: ein Gesang der Zuversicht, dass die Revolution mit dem Jahr voranschreiten wird Wir schwören Feindschaft!: eine Absage an die habgierige, satte, träge, geknechtete Vergangenheit Woran sollen wir denn glauben?: ein Glaubensbekenntnis, aber nicht an das Reich Gottes, sondern an „das Reich des Menschen – der Demut, des Verzichtes, der Genügsamkeit“ und an den „Heiland Mensch“: Heiland: Mensch. Wir wissen, daß du vom Tiere gekommen bist, gezeugt vom Samen des Mannes, aufgewachsen im Leibe der Mutter. Wir glauben, daß du geschaffen wurdest, die Erde zum Hause der Schönheit und Freude zu machen. Wir glauben an die irdische Vollendung!

Es sind fünfundzwanzig Manifeste, die Wegner zwischen November 1918 und Mai 1919 schrieb und zum größten Teil wohl auch publizierte. Nur drei sind länger als zwei Druckseiten; acht passen auf eine Seite, die restlichen auf zwei Seiten. Der größte Teil konnte also leicht auch als Flugblatt gedruckt und verteilt werden. Die meisten dieser Manifeste gelten grundsätzlich wichtigen Themen (Menschenrecht, Gerechtigkeit, Presse, Bourgeoisie usw.); einige wenige betreffen aktuelle Vorgänge (Abdankung des Kaisers, ‚Spartakus‘-Aufstand). Der Ton ist – unter Ausnahme des eher reflektorisch-kritischen Briefs an Karl Liebknecht – in den anklägerischen wie in den prophetischen und agitatorischen Passagen immerzu ekstatisch, überschießend und anspringend. Als Wegner diese Manifeste 1921 unter dem Titel Der Ankläger: Aufrufe zur Revolution als Broschüre von 54 Seiten Umfang herausgab, war ihm bewusst, das „manche von ihnen bereits Geschichte geworden und nur aus dem Geist jener Tage zu verstehen“ waren; er wollte sie trotzdem publiziert haben, und zwar nicht nur als Dokumente der Revolutionszeit, sondern als Bekenntnis zu einem bleibenden „Grundgefühl“, das aufrecht erhalten werden sollte.

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Ein systematisch angelegter Überblick über die revolutionäre Lyrik ist in der 1970 erschienenen Studie Engagierter Expressionismus von Eva Kolinsky zu finden.9 Sie unterscheidet fünf Gruppen: (1.) Gedichte, die generelle Umbruchspostulate formulieren, das heißt: alle Menschen unabhängig von ihrer sozialen Situierung zu einem zuvörderst innerlichen Umbruch aufrufen und die Möglichkeit des Neubeginns beschwören, dabei aber sehr formelhaft und abstrakt bleiben. (2.) Gedichte, die auf die Situation nach den ersten Revolutionswochen anspielen, die nun gegebenen Verhältnisse kritisieren und die Fortsetzung der endlich erlösenden Revolution verlangen. Beispiele dafür sind Bechers Gedicht Vergewaltiger, das in der Aktion vom 4. Januar 1919 einen konkretisierenden Untertitel hatte, nämlich „Den Volksbetrügern Ebert-Scheidemann gewidmet“, und Kanehls Gedicht Der neue Krieg, das am 7. Juni 1919 in der Aktion erschien: Haßgesänge toben durch die Gassen. Auf breiten Plätzen schreit der Patriotenmob nach Waffen. Krieg. Und neuem Blut. Königlich gebärdet sich der Präsident der Republik. Ministerielle Maulhelden schlagen Werbetrommel. Haudegen putzen ihre Ordensschnalle. Söldner werden gemästet. Maschinengewehre, Handgranaten, Soldateska exerziert an friedensfanatischem Arbeitervolk. [...] Aber der Mensch kommt über euch.» Ihr werdet einen Morgen nicht erwachen. [...]

(3.) Gedichte, die zwar an der Vorstellung der Menschheitsrevolution und am generellen Umbruchspathos festhalten, zugleich aber das Proletariat als Träger der Revolution benennen und ansprechen, wie dies in Erich Mühsams Räte-Marseillaise geschieht, die kurz vor der Ausrufung der Münchner Räterepublik geschrieben wurde; mit der dritten ihrer vier Strophen fordert sie zur Bildung von Räten auf und qualifiziert diese zugleich als entscheidende Organisationsform der Revolution: Auf, Arbeitsmann, Soldat und Bauer! Schafft Räte aus den eignen Reihn! Und stoßt damit die morsche Mauer jahrhundertalter Knechtschaft ein! Längst steht der Russe auf dem Walle. Ihm folgt der tapfere Magyar. Wie lange säumst du, Proletar? Wie lange säumt ihr Völker alle? Auf, Völker, in den Kampf! Zeigt euch der Brüder wert! Die Freiheit ist das Feldgeschrei, die Räte sind das Schwert!

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Vgl. Kolinsky (1970): Engagierter Expressionismus, S. 127–145.

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(4.) Gedichte, die in der russischen Revolution ein Vorbild für Deutschland sehen und Russland zum Heiligen Land der Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung verklären. Erich Mühsam schrieb bereits im März 1918 ein Gedicht mit dem Titel Das Beispiel lebt, Karl Otten erneuerte es gleichsam im März 1919 mit dem Gedicht Ex Oriente Lux. (5.) Gedichte, die den Tod der ermordeten Revolutionsführer – Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Gustav Landauer – beklagen und diese zu messianischen Figuren erheben. Von Iwan Goll erschien in der Aktion vom 1. Februar 1919 eine Litanei zu Liebknechts Tod, die Liebknecht in einer langen Reihe von preisend-anrufenden Zeilen („Nun, Liebender, stirbst du, der Welt Geliebter!“) als Märtyrer des menschlichen Freiheits- und Glückstraums feiert und nach jeder zweiten Zeile ein liturgisches „Ave Liebknecht“ einfügt; ein Holzschnitt von Karl Jakob Hirsch, der in das Gedicht eingeschoben ist, zeigt Liebknechts Haupt in der Gloriole des Heiligen. Ähnlich verklärende Gedichte auf Liebknecht und Luxemburg gibt es von Johannes R. Becher, Oskar Kanehl und anderen weniger bekannten Autoren. Die eindrücklichsten Revolutionsgedichte stammen von Oskar Kanehl, der zu Franz Pfemferts „Aktionskreis“ zählte, am 8. November 1918 in den Berliner Vollzugsrat der Arbeiter und Soldaten gewählt wurde und der DKP beitrat. Während des Kriegs, den Kanehl in nahezu ganzer Länge an der Front hatte mitmachen müssen, hatte er eine Reihe von kriegskritischen Gedichten geschrieben und sich dabei nicht nur den pathetischen Ton des Expressionismus, sondern auch die Techniken des Futurismus und der Wortkunst – Einwortverse, Wortreihen mit teilweise ungewohnten Wortformen, hämmernder und aufpeitschender Stakkatostil – angeeignet. Diese verwendete er nun für Revolutionsaufrufe, zum Beispiel in dem langen Gedicht Demonstration, das 1919 mehrfach publiziert wurde: Auf Brüder! Marschiert. Schwestern. Brüder. Kameraden. Auf! Marschiert! Jammer. Jubel. Herzschlag. Faustschlag. Schritt um Schritt. Ein Auge. Ein Atem. Eine Flamme. Ein einiger Schrei. [...]

Am Schluß steht die Vision der geglückten Revolution und einer befreiten und versöhnten Menschheit: Freude. Friede. Menschenrechte. Menschenwürde. Menschenliebe. Hoch! Die ganze Macht. Arbeit. Menschen. Freiheit. Revolution. Herrliche. Endliche.

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Helmuth Kiesel Brüder. Marschiert. Hoch hoch hoch! Nach der Fahne! Rot entrollte! Frohe! Frohe!

Die Wirkung der Revolutionslyrik dürfte sehr begrenzt gewesen sein. In der einschlägigen Forschungsliteratur, die meist von politischer Sympathie geprägt ist, wird immer wieder beklagt, dass die ‚bürgerliche‘ Kritik keinerlei Notiz von ihr genommen habe und die Verbreitung auf den Bereich der proletarisch-revolutionären Publizistik beschränkt geblieben sei; aber selbst für eine bemerkenswerte Wirkung in diesem Kreis gibt es keine überzeugenden Belege. Hingegen ist dokumentiert, dass die ästhetische Qualität dieser Lyrik sogar in revolutionären Kreisen umstritten war. Als im Sommer 1920 Erich Mühsams Anthologie Brennende Erde erschienen war, schrieb Oskar Maria Graf, der sich in der Münchner Revolution sichtbar engagiert hatte, in einer Rezension, die im Oktober 1920 in der Münchner Neuen Zeitung publiziert wurde, Mühsams Gedichte seien zwar „propagandistisch gut“, künstlerisch aber „beinahe wertlos“, und dies gerade auch unter revolutionären Gesichtspunkten, weil in ihnen nicht im entferntesten ein Versuch unternommen werde, den Menschen neu zu sehen und in einer neuen Sprache zu gestalten. Mühsam trat dieser Kritik mit einem Artikel entgegen, der im November 1920 ebenfalls in der Neuen Zeitung erschien. Grafs Feststellung, dass seine Gedichte „Manifeste“ seien und dass es ihm mit einigen gelungen sei, „volkstümlich zu sein“, betrachtete Mühsam als höchstes Lob und als die allein entscheidende Qualifizierung seiner Gedichte; er wünsche ja „die arbeitenden Menschen zu revolutionieren und nicht die deutsche Grammatik“. Aber die Wirkung nicht nur seiner Revolutionsgedichte blieb, wie gesagt, vermutlich sehr gering. Zur „Marseillaise“ der deutschen Revolution wurde jedenfalls keines. 3. ESSAYISTISCHE REFLEXIONEN DER REVOLUTION Neben Manifesten und Gedichten entstanden früh auch schon essayistische Reflexionen der Revolution. René Schickele, der die Revolution in Berlin erlebte, begann noch am 9., spätestens am 10. November, seine Eindrücke und Überlegungen in einem Text festzuhalten, der im Dezember 1918 unter dem Titel Der neunte November in der Tribüne der Kunst und Zeit erschien. Carl Sternheim, der in Brüssel lebte, begann am 9. oder 10. November mit einer Serie von Artikeln, die zwischen dem 12. und 19. November in einer holländischen Zeitung unter dem Titel De Duitsche Revolutie gedruckt wurden und Mitte Dezember auch in Pfemferts Aktion erschienen. Alfred Döblin, der seit Mitte November wieder in Berlin lebte und das revolutionäre Geschehen beobachtete, begann im Dezember, Artikel zu schreiben, die ab Januar 1919 in verschiedenen Zeitschriften wie dem Neuen Merkur und der Neuen Rundschau erschienen. Victor Klemperer schrieb vom Februar 1919 bis zum Januar 1920 für die Leipziger Neuesten Nachrichten achtzehn Artikel über die Mün-

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chener Boheme-Revolution. Otto Flake publizierte 1919 einige Artikel über die ideellen Grundlagen und mentalen Effekte der Revolution, die 1920 unter dem Titel Das Ende der Revolution in einem neunzig Seiten umfassenden Broschurband erschienen. Und als reichten die bestehenden Zeitschriften nicht aus, um dem Artikulationswillen der revolutionär gestimmten „Geistigen“ zu genügen, wurden neue Zeitschriften gegründet, so z. B. Die Erde, eine von Walther Rilla herausgegebene „politische und kulturpolitische Halbmonatsschrift“, die ab Januar 1919 erschien, die Revolution zum Hauptthema hatte – und bald wieder eingestellt wurde. Die Zahl der essayistischen Reflexionen der Revolution ist unüberschaubar groß, ihre Art ist von großer Vielfalt. Hält man sich an die Artikel, deren Verfasser auch in anderer Form als literarische Autoren hervorgetreten sind, so lassen sich folgende Grundformen registrieren: der erzählerisch-berichtende Essay, der die persönliche Wahrnehmung der Revolution festhält und reflektiert (mustergültig: Schickele, Döblin, Klemperer); der historisch ausgreifende Essay, der die Revolution in einen geschichtlichen Zusammenhang stellt und auf die Kritik der vorrevolutionären Vergangenheit abhebt (mustergültig: Heinrich Mann); der politisch zentrierte Essay, der den Verlauf der Revolution oder einzelne Probleme in einer Weise erörtert, die trotz erkennbarer Präferenzen sachlich wirkt (mustergültig: Flake, Rilla, Jung, Rathenau, Broch); der bekenntnishaft-programmatische Essay, in dem der Autor seine eigene Option zur Kenntnis bringt und mehr oder minder emphatisch als bestes Rezept anpreist (mustergültig: Rilla); der manifestartige Essay, der mit Schlagworten und Imperativen für bestimmte Ziele eintritt (mustergültig: Kanehl); der kritische Essay, der auf die Entwicklung positiver Perspektiven verzichtet und sich darauf konzentriert, den Gang der Revolution oder einzelne Phänomene mit sarkastisch oder satirisch zugespitzter Kritik zu bedenken (mustergültig: Döblin alias Linke Poot). An manchen Essays – insbesondere an denen von Schickele, Döblin und Sternheim – ist eine Kombination solcher Grundformen zu beobachten. Thematische Schwerpunkte ergaben sich aus der politischen Entwicklung zwischen November 1918 und Herbst 1919 sowie aus den programmatischen Debatten dieses Jahres. Das sei wiederum systematisch rubriziert und stichwortartig vergegenwärtigt: Ursachen und Zustandekommen der Revolution: Döblin und Schickele schildern den Beginn der Revolution als Soldatenmeuterei, ohne mitreißende Ideen und Parolen, nur geleitet von dem Wunsch nach Beendigung des Kriegselends. Es fehlten, so auch Heinrich Mann und Walther Rathenau, zündende Ideen und mitreißende Parolen, vor allem aber auch eine wirklichkeitsbewusste revolutionäre Schulung. Wert und Aussichten der Revolution: Trotz der negativen Urteile über den Beginn und den Verlauf der Revolution kommt es auch zu positiven Einschätzungen, und dies auch bei Autoren, bei denen – wie bei Döblin und Rathenau – die Kritik überwiegt. Aber alle Autoren sind der Ansicht, dass die politische oder ‚bürgerliche‘ Revolution fortgeführt und ergänzt werden muss durch eine soziale und gesinnungsmäßige oder geistige. Vorbild Russland und „Diktatur des Proletariats“: Die russische Revolution war ein wichtiger Impuls für die Entstehung jener Stimmung, aus der heraus die

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deutsche Revolution möglich wurde, und immer wieder fragen die Aktivisten der Revolution wie die distanzierteren Beobachter, ob die bolschewistische Revolution in Russland der deutschen Revolution als Vorbild dienen könne und solle. Die meisten Autoren lehnen den von Lenin beschrittenen Weg ab. Für Schickele ist Lenin ein Gewaltmensch, der das „Dekret“ als „Ausdrucksform“ bevorzugt und eine brutale Vernichtungsrhetorik pflegt: „Lenin, als der Militarist, der er ist, übt die willkürlichste, die grausamste Form der Verbannung, die Vernichtung. Dieses Wort wimmelt in seinen Schriften und springt aus jedem dritten Satz seiner Reden: Unterdrückung, Ausrottung, Vernichtung. [...] In Lenin und seinen Freunden rast der Krieg ideell in seiner ganzen Erbarmungslosigkeit weiter. Es ist die neueste, wohl kaum die letzte Phase der Gewalt und nicht einmal die vorletzte Phase der Liquidation, in die die alte Welt im August 1914 eingetreten ist.“ Für Heinrich Mann kann die russische Revolution nicht als Vorbild dienen, weil in ihr vormoderne und hypermoderne Elemente zusammentreffen und weil Russland immer noch, auch unter der Herrschaft der Bolschewiken, im „Zarismus“ befangen ist: „Eine andere Wunderdoktrin, und andere Zaren! Weiter gefoltert, weiter getötet, in Massen, ganzen Klassen, und auch die Ausbeutung wechselt einzig ihr Personal.“ Und im Sinn der alten Völkerstereotypik schließt er: „In Rußland denkt zuweilen Europa, handeln wird zuletzt Asien.“ Freilich gab es auch Autoren, die von der „Diktatur des Proletariats“ eine geradezu heilsgeschichtliche Wende erwarteten, so etwa Oskar Kanehl im Frühsommer 1919 in der Erde: „Diktatur des Weltproletariats ist der letzte Kriegszustand. Denn sie überwindet nicht nur den Krieg des Staates gegen die Staaten, sondern auch den Krieg der Klasse gegen die Klassen. […] Heil uns, die wir am Werke sind. Am ersten Tage kommender Jahrhunderte. Heil der Menschheit, die uns nachfolgt.“ Parlamentarische Demokratie oder Räte-Demokratie: Republik und Demokratie finden in den Essays der Revolutionszeit nicht eben begeisterte Zustimmung. Zu den wenigen, die sich entschieden und uneingeschränkt für die parlamentarische Demokratie in ihrer Weimarer Form aussprechen, gehören Heinrich Mann und Otto Flake. Zwar übersieht auch Mann nicht die Schwächen und Probleme der jungen Republik; aber er preist die Demokratie als die „arbeitende Vernunft“ und ruft dazu auf, sich für die Demokratie und die Republik zu engagieren: „Wir wollen, daß unsere Republik, bis jetzt noch ein Zufallsgeschenk der Niederlage, nun auch Republikaner erhalte.“ Auch Flake nennt Ende 1919 als wesentliche Errungenschaften der Revolution die „radikaldemokratische Verfassung“ und die „Schwächung und dauernde Kontrolle des militärischen Instruments, des Heers“. Diese „Bilanz“ verbindet er mit einem Plädoyer für den Ausbau der Demokratie: Kurz und gut, es gilt, die Idee der Demokratie mit allen ihren Ausbreitungen wie Antimilitarismus, Pazifismus, Völkerbund, menschliche Gleichheit, Kampf gegen Hochmut, Überhebung, Klassenstolz, Herrscherallüre zu gestalten, und es ist uns unbenommen, ihr die Züge einer deutschen Demokratie, d. h. einer philosophisch und religiös durchdachten zu geben.

Spartakistisch eingestellte Autoren hingegen verwerfen die Demokratie schlechthin als „Ausdruck der bürgerlichen Klassendiktatur“. Unter dem Titel Demokratie – Lügendemokratie befindet Oskar Kanehl im Mai 1919 in der Erde:

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Demokratie ist so lange ein utopisches politisches Mittel, wie die Grundlagen des Gemeinwesens, in dem sie zur Anwendung kommen soll, und die Bedingungen, unter denen sie in diesem Gemeinwesen wirksam werden soll, undemokratisch sind. [...] Gleiche Stimmen sind ein Hohn, so lange noch die eine Stimme einen Säbel in der Hand trägt, die andere einen Geldsack auf dem Rücken. [...] So lange eine Minderheit mit terroristischen Gewaltmitteln ausgestattet bleibt, mit denen sie [die] Mehrheit hinter sich zwingt. [...] Demokratie ist nicht das politische Mittel, die Erfüllung der Revolution zu gewährleisten. Sondern im Angesichte der Revolution ein konterrevolutionäres politisches Mittel, Revolution zu verhindern. Rettung und Schutz der alten, widergeistigen Mächte. Demokratie ist Kapitaldemokratie. Militärdemokratie. Nationaldemokratie. Lügendemokratie.

Das Miterleben der Revolution mag solche Vereinseitigungen erklären. Dass sie der Idee der Demokratie nicht gerecht werden, liegt auf der Hand, und ebenso, dass sie nicht dazu angetan waren, die Weimarer Republik als Chance zu begreifen. Dies wollte Kanehl allerdings auch nicht. Im Juni-Heft der Erde preist er das Rätesystem als die eigentliche „Regierungsform des Proletariats“ und als die „politische Weltordnung, die schlechthin alle Gewalt in der Geschichtsentwicklung überwindet“. Die Position der ‚Geistigen‘: In einigen Essays der Revolutionszeit wird mehr oder minder explizit auch die Position der ‚Geistigen‘ thematisiert. Zu welcher Klasse gehören sie? Zum Bürgertum oder zum Proletariat? Und für wen sollen sie Partei ergreifen? In den Antworten spielen zwei Motive eine wichtige Rolle: zum einen die unter Künstlern weit verbreitete Verachtung des wilhelminischen Bürgertums; zum andern die expressionistische und zumal revolutionäre Affinität zum Proletariat. Döblin stellt 1920 im Essay Republik fest: Das Bürgertum habe, indem es in kaiserlichen Zeiten „die Politik verlassen“ hat, auch „die Kultur verraten“. Es könne daher für Künstler kein Bündnispartner mehr sein. Döblins Essay schließt mit der Aufforderung: „Freunde der Republik und Freiheit. Herüber nach links. An die Seite der Arbeiterschaft.“ Dies ist die Position auch von Autoren wie Rubiner und Kanehl. Rubiner erklärt 1918/19 in seinem manifestartigen Artikel Die Erneuerung die ‚Masse‘ des Proletariats zur Kraft der Zukunft und verlangt vom Dichter, dass er sich dem Proletariat anschließe: „Mein Freund, dein Weg geht zum Proletariat. Proletariat, darum kommt kein Gehirn von morgen mehr herum.“ Drängender noch Kanehl, der 1919 im April-Heft der Erde die „Geistarbeiter“ auffordert, dem Proletariat als dem „Träger der Exekutive des politischen Geistes der Menschenliebe und Menschenwürde“ mit allen ihren Fähigkeiten und Künsten zu Hilfe zu eilen. Er selbst rechnet sich bereits dem Proletariat zu, spricht als Angehöriger des Proletariats, versteht sich wohl auch 1919 schon als „proletarischer Klassenkämpfer“ und „proletarischer Dichter“, wie er 1924 vor Gericht sagt. Bindungen ans Bürgertum will der Lehrersohn und promovierte Germanist ganz abgestreift haben; gegenüber dem Bürgertum empfindet er, wie seine Gedichte zeigen, nur noch Hass, weil es – Kanehl zufolge – von der Ausbeutung des Proletariats lebt und am fortdauernden Elend des Proletariats schuldig ist. Der Literat als Revolutionär: Immer wieder wird gefragt, welche Rolle Schriftsteller in der Revolution spielen können und sollen. An prominenter Stelle, nämlich auf der Titelseite des Literarischen Echos vom 1. Januar 1919, durfte der 1892 ge-

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borene Hans Natonek, der gerade dabei war, sich einen Namen als Publizist zu machen, seine Meinung darlegen. Natonek zufolge sind die Literaten die „geborenen Revolutionäre“: Wenn man Kritik und Phantasie als wesentliche Züge des Literaten feststellt und noch die Fähigkeit hinzunimmt, heftigere Empfindungen in heftigeren Worten kundzugeben, so wird man zugeben müssen, wie nah verwandt der Literat dem Revolutionär ist. Denn die Kritik wie die Phantasie sind Auflehnungen gegen das Gegebene (das ist: das Schlechte); jene ist die Auflehnung der Vernunft, diese die des Gefühls. Aber noch etwas tiefer wurzelt sein Empörertum; es wurzelt, wie ja der Literat selbst, im Worte. Das Wort ist [...] Auflehnung gegen die Wirklichkeit.

Der Literat kann Natonek zufolge aber nur „Prophet“ und „Vorläufer“ der Revolution sein, nicht ihr „Praktiker“, weil er gegen jeden neuen Zustand, der geschaffen wird, ebenfalls opponiert. Er ist dazu verurteilt, von der Revolution enttäuscht zu werden. Das Resultat ist Quietismus. Zur Führerschaft ist der Literat wenig geeignet, so Natonek in einem weiteren Artikel, der am 1. März erschien. Revolution und Kunst: Mehrfach wird in der Essayistik des Revolutionsjahres 1918/19 die Bedeutung der Kunst für die Revolution thematisiert. Meist geschieht dies beiläufig, etwa wenn Heinrich Mann den Revolutionär Eisner als „Zivilisationsliteraten“ bezeichnet und solchermaßen auf den literarischen Hintergrund von Eisners politischem Engagement verweist. Einige Essays machen die Literatur aber zum Hauptthema. Der bemerkenswerteste davon ist wohl der knapp zehn Seiten umfassende Artikel Revolution und Kunst von Willi Wolfradt, der im Juni 1919 in der Neuen Rundschau erschien. Er charakterisiert die Literatur der zehner Jahre als Literatur der „Empörung“ oder „Aufwiegelung“, sei es der mittelbaren „Aufwiegelung“ durch die krasse, karikaturistische oder zynische Darstellung der pervertierten Lebensverhältnisse, sei es der unmittelbaren „Aufwiegelung“ durch den aktivistischen Aufruf zur Revolte, zur Wendung gegen die Bourgeoisie und zum Bündnis mit dem Proletariat. Die Form lieferte – Wolfradt zufolge – der italienische Futurismus mit seinem Dynamismus und mit seiner „Rhetorik der Aggressivität“; hinzutreten aber musste das Ethos des deutschen Aktivismus. Aus deren Zusammenwirken ergab sich gleichsam ein revolutionärer Zeitstil, der sich in allen Kunstarten zeigt: „Die ganze moderne Malerei fast ist Plakat und Karikatur, die ganze neue Musik ist Jerichoposaune, die jüngste Bühne ward zum Tribunal und die heutige Lyrik Abscheugekrächz und Sonnenhymnus, Jeremiade und Weissagung.“ Die Revolution, so Wolfradt, ist mit dem künstlerischen Schaffen des letzten Jahrzehnts „viel tiefer verbunden als nur durch eine akzidentielle Inhaltsbeziehung“: Das Fieber der Revolution hämmert in jeder Kurve, Farbe, Metrik, Dissonanz; auf allen künstlerischen Gebieten hat die Form sich gegen Regel, Tradition und ästhetische Theorie durchgesetzt und mit großer Bewußtheit nicht nur in der Sprengung der üblichen Form, sondern des Formgefüges überhaupt ihre gesetzfeindliche Gesinnung bekundet. Die Kunst lieh sich nicht der Revolution, sie war sie selbst.

Und so wird es – nach Wolfradt – auch bleiben: „In der Kunst gestaltet sich das Revolutionäre. [...] Denn Kunst ist [...] gestaltete Sehnsucht, ist das Wappenzeichen der ewigen Revolution, die jede zweckhafte und erfüllbare überdauert.“

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Proletkult / Proletarische Kultur: Im Sommer 1919 erschien in Pfemferts Verlag Die Aktion Lunatscharskijs Schrift Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse. Anatolij W. Lunatscharskij war seit 1917 Volkskommissar für die Kulturpolitik in der Sowjetunion und versuchte in dieser Funktion, eine spezifisch proletarische Kultur auf den Weg zu bringen. In den Kulturaufgaben skizzierte er seine konzeptionellen Vorstellungen und die praktische Arbeit im Institut für proletarische Kultur und in den mit ihm verbundenen Volkshochschulen, Arbeiterklubs, Bibliotheken und Jugendorganisationen. Das Erscheinen dieser Schrift erregte in linksliterarischen Kreisen Aufsehen und initiierte eine sich länger hinziehende Debatte über die Möglichkeit und das wünschenswerte Aussehen einer proletarischen Kultur. In der Erde gab Walther Rilla im Juli 1919 unter dem Titel Proletkult einige Hinweise, und im letzten Heft vom Januar 1920 erschien unter dem Titel Proletarische Kultur ein prägnanter programmatischer Artikel von Kaspar Hessel. Für ihn tritt die proletarische Kultur in Opposition zur bürgerlichen Kultur und löst sie ab. Hessel zufolge beruht proletarische Kultur im Gegensatz zu bürgerlicher Kultur auf einem „Gemeinschaftsgefühl“, das keine Vereinzelung, keinen Kult der Persönlichkeit, keine Konkurrenz und keine Zerrissenheit kennt, sondern die Realisierung einer möglichst dichten „Gemeinschaft“ aller Menschen erstrebt. Die gegenwärtige proletarische Kunst zeigt davon noch nichts, denn sie ist notwendigerweise noch „auf den Kampf eingestellt“, ist aggressive „Tendenzkunst“ und muss sich um der Wirkung willen „noch in Formen der bourgeoisen Kultur kleiden“. Nach dem Ende der Kämpfe aber wird die proletarische Kultur, wie Hessel meint, auch das Dynamische und Agonale der bürgerlichen Kultur abstreifen und „konservativ“ werden, „weil alle Gründe zum Fortschritt, die Gegensätzlichkeiten, wegfallen, nach außen sowohl wie vor allem nach innen“. 4. DRAMATISCHE REFLEXIONEN DER REVOLUTION Gedichte, Manifest und Essays, die zur Revolution aufriefen oder die Revolution reflektierten, konnten noch während der ersten Wochen und Monate nach dem 9. November 1918 verfasst und publiziert werden. Dramen und Romane brauchten etwas mehr Zeit, doch entstanden schon 1919 auch die ersten dramatischen und epischen Texte und kamen 1920 auf die Bühne oder in die Buchhandlungen. Das Bild der Revolution, das in diesen Texten gezeichnet wird, ist differenziert sowohl in der Darstellung der Vorgänge als auch in der Bewertung einzelner Episoden, ebenso der Revolution als Großereignis von einschneidender und fundamentaler Bedeutung. Allerdings gibt es kaum Texte, in denen die Revolution als geglücktes Ereignis dargestellt oder gar gefeiert wird; zumeist wird sie problematisiert, oder es wird ihr Scheitern konstatiert. Glaubt man den frühen dramatischen und epischen Revolutionsdarstellungen, so hat die Revolution den Deutschen vor allem ein schlechtes Gewissen gemacht. Insbesondere wurde die Anwendung von Gewalt äußerst kritisch bedacht und in der Regel abgelehnt. In Ernst Tollers Masse–Mensch (1919–21) stimmt die Anführerin der Revolte wohl einmal der Gewaltanwendung zu; nach dem Scheitern des Aufstands beklagt sie dies aber als Fehler und weigert

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sich vor ihrer Exekution, sich aus dem Gefängnis befreien zu lassen, weil dafür ein Wärter getötet werden müsste. Auch in Herbert Kranz’ Freiheit (1919) verzichten eingekerkerte und zum Tod verurteilte Revolutionäre auf die Flucht, weil diese einen Wächter das Leben kosten würde. Wenn aber Gewalt geschehen ist, soll sie nicht fortgeführt, sondern durch Versöhnung aufgehoben werden. In Kranz’ Richterin (ebenfalls 1919) vergibt die Witwe eines Marschalls, der von einem revolutionären „Feuerkopf“ erschossen wurde, dem Täter öffentlich, um der allseitigen „Heimsuchung“ ein Ende zu setzen. Bis 1922 entstand ein gutes Dutzend von Revolutionsdramen, teils von literarisch tätigen Aktivisten der Revolution (Ernst Toller: Masse–Mensch, 1921; Erich Mühsam: Judas, 1921), teils von älteren und arrivierten Autoren (Heinrich Lilienfein: Die Überlebenden, 1920; Lion Feuchtwanger: Thomas Wendt, 1920), teils von jüngeren Autoren (Johannes R. Becher: Arbeiter, Bauern, Soldaten, 1919; Paul Zech: Verbrüderung, 1920/21; Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht, 1922). Die meisten haben Tragödiencharakter. Nur zwei Stücke – Carl Rösslers Der pathetische Hut (1920) und Max Pulvers Das große Rad (1921) – sind reine Komödien und zeigen die Revolution als politische Farce. Brecht, dem es nicht leicht fiel, eine klare Haltung gegenüber dem Verlauf der Revolution zu gewinnen, deklarierte Trommeln in der Nacht zunächst als „Komödie“, dann als „Drama“, dann wieder als „Komödie“. – Die meisten dieser Revolutionsdramen wurden nur kurzfristig rezipiert und verschwanden dann wieder aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen; nur zwei – Tollers Masse–Mensch und Brechts Trommeln in der Nacht prägten sich auf Dauer ein. Masse–Mensch entstand im Herbst/Winter 1919/20 im Festungsgefängnis Eichstätt, wo Toller wegen seiner führenden Funktion in der Münchener Räterepublik eine fünfjährige Haftstrafe zu verbüßen hatte und, seelisch aufgewühlt, versuchte, mit seiner Rolle ins Reine zu kommen und zugleich die Möglichkeiten und Probleme der Revolution generell zu reflektieren. Der Titel steht für eine Antithese oder zumindest eine Spannung, die als Frage zu formulieren ist: Konstituiert sich mit den revolutionären Massen ein Potential, das zur Gewalt drängt und durch die Anwendung von Gewalt jene Menschlichkeit, die durch die Revolution freigelegt und ermöglicht werden soll, vernichtet? Diese Frage wird in sieben visionären Bildern in expressionistisch geballter Formelsprache entfaltet und durchgespielt. Sie zeigen die soziale Wirklichkeit, die durch skrupelloses Gewinnstreben der Kapitalisten sowie Ausbeutung und polizeiliche Unterdrückung der Arbeiterschaft geprägt ist, berichten dann von einem Aufstand, der niedergeschlagen wird, zeigen das Dilemma der Revolution – inhumane Gewaltausübung oder Selbstpreisgabe – und enden mit einem Bekenntnis zum Verzicht auf Gewalt und zur Hoffnung auf eine friedliche Versöhnung der Menschen in einer „Gemeinschaft“, die durch Liebe oder Solidarität und Gerechtigkeit geprägt ist. Die ersten Aufführungen im November 1920 in Nürnberg und Fürth in gewerkschaftlichem Rahmen hatten nur mäßigen Erfolg, eine zweite Inszenierung im September 1921 an der Berliner Volksbühne unter der Regie von Jürgen Fehling erregte jedoch größte Aufmerksamkeit und machte das Stück – und mit ihm auch wieder die Revolution – zum Gesprächsgegenstand.

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Anders als das idealistisch-expressionistische Problemdrama Masse–Mensch, das der Kritiker Alfred Kerr als ein „Oratorium“ bezeichnete, ist Brechts Nachkriegs- und Revolutionsdrama Trommeln in der Nacht (1919–1922) eine nüchterne, wenn nicht gar zynische Darstellung der – nach Brechts Meinung – versäumten deutschen Revolution. Die Nachkriegs- und Revolutionszeit, die Brecht teils in Augsburg, teils in München erlebte, lieferte ihm zwei erregende Motive: das des heimkehrenden Soldaten, der seine Braut im Bett eines andern findet, und das des sozialen Aufstands, dem ein solcher Soldat sich hätte anschließen können, ja müssen. Brecht verband diese beiden Motive zu einem Stück, das nicht weniger ein Revolutions- als ein Heimkehrerdrama ist: Der 1914 mobilisierte Artillerist Andreas Kragler kommt (laut Regieanweisung im November 1918, vor dem Hintergrund der dargestellten revolutionären Ereignisse aber erst im Januar 1919) gerade an dem Abend nach Berlin zurück, an dem seine Braut Anna Balicke, die inzwischen von dem Geschosskörbefabrikanten Friedrich Murk geschwängert worden ist, auf Drängen der Eltern mit diesem Kriegsgewinnler verlobt werden soll. Von den Eltern der Braut wie vom Konkurrenten Murk gedemütigt, flieht Kragler aus der Piccadillybar, in der die Verlobung gefeiert werden soll, auf die Straße und gerät in Bezirke, die jenem „Zeitungsviertel“ benachbart sind, das in dieser Nacht (wie tatsächlich während des sogenannten Spartakusaufstands) zu einem Zentrum der revolutionären Kämpfe wird. Kragler wirkt radikalisiert, wird als „Raubtier“ bezeichnet und würde – als ausgebildeter Artillerist – auf der Seite der Revolutionäre gebraucht. Aber Kragler, durch Fronteinsatz und Gefangenschaft psychisch wie physisch zermürbt, hat nur einen Wunsch: „kein Lamm mehr“ zu sein und nicht „verrecken“ zu müssen, sondern seine „Haut“ ins Hochzeitsbett zu retten, auch wenn die Braut von einem andern schwanger ist. Die Frage, ob er „kein Mitleid“ mit den Revolutionären im Zeitungsviertel habe, lässt ihn kalt, ebenso der Vorwurf, dass er, indem er mit seiner Braut nach Hause eile, nur seinen „Hoden“ oder seiner Geschlechtsgier folge. Zynisch bekennt er mit einem ebenso plumpen wie direkten Reim: „Ich bin ein Schwein, und das Schwein geht heim.“ Dieser Zynismus ist freilich das Resultat einer Erfahrung, die diesen ausgemergelten Heimkehrer beim Anblick der revolutionären Kulisse mit dem „großen roten Mond“ über dem Zeitungsviertel auf sozusagen metatheatralische Weise sagen lässt: „Es ist gewöhnliches Theater. Es sind Bretter und ein Papiermond und dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig.“ Auch die Revolution ist nur Theater. Wirklich ist allein das Abgeschlachtetwerden. Mit Brechts Trommeln in der Nacht geht die Reihe der frühen Dramatisierungen der Revolution zu Ende. In den nächsten Jahren kam kein Revolutionsstück auf die Bühne, das größeres Aufsehen erregt und sich in die Annalen eingeschrieben hätte. Offensichtlich ließ das Interesse von Autoren, Lektoren und Intendanten am Thema Revolution nach. Ein Grund dafür dürfte in der politischen Entwicklung liegen: Die Putsch- und Aufruhrzeit ging zu Ende; revolutionäre Impulse, wie sie etwa Jung mit seinen Stücken geben wollte, wirkten unzeitgemäß. Andere politische und soziale Probleme – der Ruhrkampf und die Inflation – traten in den Vordergrund. Dann kam die Zeit, die sich in einem Fröhlichen Weinberg spiegelte (1925) und Hoppla, wir leben! als Devise hatte (1927). Erst die Erinnerung an den

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Krieg, die 1928 mit Macht einsetzte, lenkte den Blick dann auch wieder auf die Revolution. 1930/31 entstanden nicht weniger als drei Stücke, die den norddeutschen Matrosenaufstand von 1917 und die Meuterei österreichischer Matrosen in Cattaro zum Gegenstand haben (Theodor Plievier: Des Kaisers Kulis; Ernst Toller: Feuer aus den Kesseln; Friedrich Wolf: Die Matrosen von Cattaro). 5. EPISCHE REFLEXIONEN DER REVOLUTION Auch die Reflexion der Revolution in Romanen10 und Erzählungen setzte früh ein. Gleich in den Jahren 1919 bis 1921 erschienen mindestens vier voluminöse Romane, die die Revolution zum Gegenstand hatten. Der heute vergessene Max Glass entwarf 1919 mit dem Roman Die entfesselte Menschheit das Bild einer Revolution, die Berlin, weit über die tatsächlichen Geschehnisse hinausgehend, für ein paar Wochen mit brutaler Gewalt überzieht – und die Menschen erkennen lässt, dass es gilt, solch einer Umwälzung durch konstruktive zivilisatorische Arbeit vorzubeugen. Bernhard Kellermann legte mit dem auf 1921 datierten, aber schon 1920 erschienenen Roman Der 9. November ein Werk vor, das über vierhundert Seiten hinweg jene sozialen Verhältnisse im letzten Kriegsjahr zeigt, die zu den Voraussetzungen der Revolution gehörten. Diese wird dann auf den letzten fünfzig Seiten mit sakralen Wendungen als ein geradezu heilsgeschichtliches Ereignis dargestellt. Von der Niederschlagung des Spartakusaufstands und vom „Versanden“, wie manchmal gesagt wurde, der deutschen Revolution weiß dieser Roman nichts. Die Revolution, soll dies wohl heißen, ist nicht wirklich liquidiert und schon gar nicht vergessen, sondern immer noch auf dem Weg und eine Hoffnung. Zwei weitere Romane aus dem Jahr 1921, Der Tod von Falern von Frank Thieß und Rufus Nemian von Andreas Thom verlegen die Revolution in historische beziehungsweise geographische Distanz, nämlich in die Zeit der Renaissance beziehungsweise in die pazifische Inselwelt, um in modellhafter Form den typischen Verlauf von Revolutionen zu zeigen, und das heißt: das Scheitern aufgrund von Fehlplanung, Überforderung, Führungskämpfen, Korruption, Misswirtschaft und unkontrollierbaren Gewaltpotentialen („Pöbelherrschaft“). In ähnlicher Weise erscheint die Revolution auch in anderen, wiederum wirklichkeitsnäheren Romanen wie den 1922 erschienenen Kameraden von Rudolf Herzog und der 1923 erschienenen Diktatur von Rudolf Haas. Und das heißt: In allen Romanen (außer dem von Herzog) wird die Berechtigung der Revolution mehr oder minder anerkannt; aber nur in Kellermanns 9. November wird sie uneingeschränkt bejaht und als Postulat aufrechterhalten, während in den anderen Romanen ihr Scheitern gezeigt und mehr oder minder als zwangsläufig dargestellt wird. Dies bleibt so auch in den vielen Zeit- und Epochenromanen der folgenden Jahren, in denen die Revolution thematisiert wird, bis hin zur Welle der Revolutionsromane, die im Zuge der Erinnerungsliteratur um 1930 erschienen (November achtzehn von Georg Hermann, 1930; Frieden von Ernst   10 Vgl. hierzu auch Kittstein / Zeller (2009): „Friede, Freiheit, Brot!“.

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Glaeser, 1930; Das Slawenlied von Franz Carl Weiskopf, 1931; Der Kaiser ging, die Generäle blieben von Theodor Plievier, 1932, und andere mehr). In der epischen Literatur wird die Geschichte der deutschen Revolution als die Geschichte ihres Scheiterns erzählt. 6. FAZIT DER PERSPEKTIVEN Obwohl die Novemberrevolution in der Beendigung eines sinnlosen Sterbens von Soldaten und in der Begründung der ersten deutschen Republik ein glückliches und anerkennenswertes Ergebnis hatte, galt sie nicht als erfolgreich oder einschneidend, geschweige denn als mutig oder gar heroisch, sondern als halbherzig oder lahm, als verraten und niedergeknüppelt, als steckengeblieben oder versandet, als lächerlich oder verbrecherisch – je nach Standpunkt und Temperament des Betrachters. Harry Graf Kessler hatte schon am 2. September 1919 ein ernüchterndes Fazit gezogen. In seinem Tagebuch notierte er unter diesem Datum: Wieland Herzfelde [der Gründer des linken Malik-Verlags] besuchte mich. Politisch sehr niedergeschlagen. Er glaubt nicht, daß noch irgendwelche revolutionäre Ereignisse in Aussicht stünden. Nach seinen Nachrichten seien die Berliner Arbeiter entschlossen, sich auch nicht provozieren zu lassen. Mein Eindruck ist jetzt auch, daß die Revolution vorläufig zu Ende ist. Was gegenwärtig marschiert, ist die Gegenrevolution, hinter der die Monarchie schon deutlich wiederauftaucht.11

Die Auffassung, dass die Revolution gar nicht richtig zum Zuge gekommen und letztlich ineffektiv geblieben sei, wurde durch Literaten und Publizisten früh schon bekräftigt und immer wieder beschworen, sei es durch Stellungnahmen oder durch Texte, die auf die Schwächen der Akteure und die Versäumnisse der Revolution aufmerksam machten oder prinzipiell konterrevolutionäre Positionen vertraten. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Versailler Vertrag wogen auch für manchen prorevolutionären und prorepublikanischen Zeitgenossen schwerer als die Revolution. Als Heinrich Mann am 13. November 1918 vor dem Münchener „Politischen Rat geistiger Arbeiter“ eine Ansprache hielt, bezeichnete er die Republik nicht etwa als Errungenschaft der Revolution, sondern als „Zufallsgeschenk der Niederlage“,12 das erst noch mit republikanischem Geist erfüllt und mit republikanischem Personal ausgestattet werden müsse. Das „Fazit der Perspektiven“ (wie Gottfried Benn 1930 einen geschichtsphilosophischen Essay überschrieb) fiel bald rein negativ aus. Kurt Tucholsky bemerkte in einem Artikel, der am 8. Mai 1919 in der Weltbühne erschien: Wir leben in keiner Republik. Wir leben in einem verhinderten Kaiserreich, in einem Kaisertum, dessen Oberhaupt gerade einmal hinausgegangen ist. Die volle Sympathie der sogenannten gebildeten Stände ist auf der Seite des verjagten und geflohenen Monarchen; käme er heute

  11 Kessler (1982): Tagebücher, S. 201f. 12 Mann (1989): Macht und Mensch, S. 160.  

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Helmuth Kiesel wieder, sie steckten alle ihre Flaggen zum Fenster hinaus. […] Was uns fehlt, ist eine Revolution. Die Gegenrevolution haben wir.13

Noch harscher verurteilt Johannes R. Bechers Roman Levisite (1926) die Weimarer Verhältnisse. Dort versammeln sich in einer Episode, die um 1922/23 zu denken ist, Arbeiter im Bewusstsein, dass die Revolution wiederbelebt werden muss, und schwören einander: „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als elend verrecken auf dem Misthaufen dieser Republik ...“.14 So dachten im übrigen nicht nur Kommunisten. Auch die Vertreter der sogenannten Konservativen Revolution und des Neuen Nationalismus waren der Meinung, dass die deutsche Revolution nicht schon stattgefunden habe, sondern noch bevorstehe: „Unter dem Schlammspiegel der sogenannten Revolution“, schrieb Ernst Jünger Ende August 1925 in der Zeitschrift Gewissen unter der Überschrift Revolution und Frontsoldatentum, „muß an einer wirklichen Revolution gearbeitet werden“.15 Je länger die Republik bestand, desto mehr setzte sich – paradoxerweise – die Meinung fest, dass eine schwächliche Revolution, die eigentlich keine war, eine Republik auf den Weg gebracht hatte, die ebenfalls keine war und keine sein wollte. Viele Zeitgenossen führten dies auf den Mangel an Republikanern zurück. Andere, die sich als Republikaner fühlten, waren allerdings gegenteiliger Ansicht. Carl von Ossietzky schrieb im September 1924 in der Berliner Wochenschrift Das Tage-Buch: „Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik.“16 Aber wie auch immer man das sah, in jedem Fall schien die Republik nichts anderes zu sein als ein „Betriebsunfall“, wie es 1929 in Döblins Berlin Alexanderplatz heißt;17 eine „zufällige Republik“, wie nach Heinrich Mann auch Tucholsky befand;18 eine Republik, die „ohne Gebrauchsanweisung“ auskommen musste, wie Döblin 1920 schrieb,19 „keinen Mut für sich selbst“ fand, wie Tucholsky später konstatierte,20 und deswegen keine Demokratie wurde, sondern „ein Staat autonomer Beamter“ blieb, wie wiederum Döblin feststellte,21 eine Republik, die durch die militärische Niederlage und die harten Friedensbedingungen, durch die allzu tief empfundene nationale „Kränkung“ und durch eine infame geschichtspolitische Legendenbildung („Dolchstoß“ und „Judenrepublik“) schwer belastet war und der es niemals gelang, eine positive Gründungslegende und eine allgemein respektierte Symbolik zu schaffen. Am 6. November 1928 schrieb Carl von Ossietzky in der Weltbühne:   13 14 15 16 17 18 19 20 21  

Die Weltbühne 15 (1919/Erstes Halbjahr), S. 535 (Ignaz Wrobel: Preußische Studenten). Becher (1969): Levisite, S. 79. Jünger (2001): Politische Publizistik, S. 63. Das Tage-Buch 5 (1924), S. 1322f., Zitat: 1323 (20. September 1924: Deutsche Linke). Döblin (1996): Berlin Alexanderplatz, S. 85. Vgl. Tucholsky (1985): Gesammelte Werke 3, S. 219 Döblin (1972): Maskenball, S. 100 (Der deutsche Maskenball). Vgl. Tucholsky (1985): Gesammelte Werke 4, S. 91 (Die Inszenierung der Republik). Döblin (1972): Schriften zur Politik und Gesellschaft, S. 239 (Das Recht der freien Meinungsäußerung).

Die literarische Verarbeitung der Novemberrevolution in der Weimarer Republik

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Deutschland ist […] das einzige Land, das ohne Erhebung an seine Revolution zurückdenkt. Im Grunde weiß man durchschnittlich von ihr nicht mehr, als daß sie unsern gloriosen Heerführern freventlich in den bis zum letzten Schlag erhobenen Arm gefallen ist. In keiner Schule wird gelehrt, daß sie lange veraltete Einrichtungen beseitigt, viel Schutt und Moder fortgefegt hat. Die Leute, die sie emporgetragen hat, heißen Novemberverbrecher, und daran sind sie selbst schuld, denn sie zitterten vor der Macht, die ihnen plötzlich zufiel. Sie waren stolz darauf, möglichst viel unversehrt gelassen zu haben. So lebt die Revolution kaum mehr als Erinnerung, und einzelne Episoden daraus wirken heute schon unglaubwürdig und wie aus einer Fabelwelt. Wo sind die Bemühungen, den 9. November zu feiern? Verlautet irgend etwas von einer Kundgebung der Regierung? […] Der 9. November ist der schwarze Tag, von dem man nicht spricht.22

Einige der Revolutions- und Nachkriegsromane, die um 1930 erschienen, versuchten wohl, dieser Amnesie entgegenzuwirken. Aber sie sprachen kaum von den Erfolgen der Revolution, feierten sie jedenfalls nicht als Inauguration der immer noch bestehenden Republik, sondern bagatellisierten sie oder zeigten ihre Schwächen und nährten den Verdacht, dass die Revolution nicht weit genug gegangen war, sondern vorzeitig der Konterrevolution das Feld überlassen hatte – wofür die Republik nun büßen musste. Am 16. Mai 1932 hielt Harry Graf Kessler, der eben Plieviers Revolutionsroman gelesen hatte, in seinem Tagebuch eine Unterhaltung mit Wieland Herzfelde fest: Ich sagte ihm, der Titel von Plieviers Buch ,Der Kaiser ging, die Generäle blieben‘ werde von Tag zu Tag aktueller. In der Tat sind wir jetzt wieder fast schon da, wo wir vor vierzehn Jahren unter Ludendorff waren; in einem großen Bogen hat die Entwicklung, die durch Noske und Ebert eingeleitet wurde, so wie Plievier sie schildert, zur Herrschaft des Militärs über Deutschland zurückgeführt; und an der Spitze steht merkwürdigerweise wieder derselbe Mann, Hindenburg.23

Nach der „braunen Revolution“ vom Januar und Februar 1933 schien diese konterrevolutionäre Volte vollends deutlich zu sein. Am 7. Februar 1933 stellte Ossietzky in einem seiner letzten Artikel in der Weltbühne fest: „Die Republik hat diese Bataille verloren […], weil es ihr an dem notwendigen Lebenswillen fehlte, über den die Rechte in hohem Maß verfügt. [...] Die Gegenrevolution hat kampflos die Höhen besetzt.“24 Ein Jahr später, am 12. Januar 1934, schrieb Alfred Döblin aus Maisons-Lafitte an den Verleger Gottfried Bermann[-Fischer] sarkastisch (und mit einer ungerechtfertigten und bösartigen Gleichsetzung von Noske und Hitler, die indessen durch die linksradikale Kritik an Noske und Ebert, die noch während der Revolution einsetzte und nie ganz verstummte, vorbereitet war): „Schimpfe niemand auf Hitler, er ist der Mann, einschließlich Göring etc, der für Deutschland paßt, er ist die glatte Fortsetzung von Noske, mit Hitler kehrt die 1918 geschlagene Armee nach Deutschland zurück.“25 Von 1937 bis 1943 schrieb Döblin dann – zunächst in Paris, ab 1940 in Kalifornien – die eindrucksvollste und erschütterndste   22 23 24 25  

Die Weltbühne 24 (1928/Erstes Halbjahr), S. 691 (Deutschland ist …). Kessler (1982): Tagebücher, S. 707. Die Weltbühne 29 (1933), S. 195 (Kavaliere und Rundköpfe). Döblin (1970): Briefe, S. 185.

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Helmuth Kiesel

literarische Darstellung der deutschen Revolution vom 9. November 1918 bis zum 15. Januar 1919: das rund zweitausenddreihundert Druckseiten umfassende „Erzählwerk“ November 1918, dessen Untertitel „Eine deutsche Revolution“ durch Döblins „Erzählung“ restlos desavouiert wird. Sie war Döblin zufolge praktisch nicht viel mehr als „eine gut geordnete kleinbürgerliche Veranstaltung in riesigem Ausmaß“,26 zugleich aber auch ein „abgrundtiefes Trauerspiel“27 aus Verrat (Ebert und Noske), Versagen (Liebknecht und Luxemburg) und brutaler konterrevolutionärer Gewalt. LITERATUR Die folgende Literaturliste nennt nur Titel, die in den Fußnoten erwähnt sind. Eine umfassende Liste der Forschungsliteratur zur Reflexion der Literatur bei den Autoren der Weimarer Republik würde den hier zur Verfügung stehenden Raum um ein Mehrfaches überschreiten. Anz, Thomas / Stark, Michael (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982. Becher, Johannes R.: (CHCl=CH)3As(Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg. Berlin und Weimar1969. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hrsg. von Werner Stauffacher. Zürich und Düsseldorf 1996. Ders.: Briefe. Hrsg. von Heinz Graber. Olten und Freiburg im Breisgau 1970. Ders.: Der deutsche Maskenball / Wissen und verändern. Hrsg. von Heinz Graber. Olten und Freiburg im Breisgau 1972. Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Hrsg. von Heinz Graber. Olten und Freiburg im Breisgau 1972. Ders.: November 1918. Eine deutsche Revolution. 4 Bände. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt am Main 2013. Hardt, Manfred (Hrsg.): Literarische Avantgarden. Darmstadt 1989. Hasenclever, Walter: Sämtliche Werke, Bd. 1: Lyrik. Hrsg. von Annelie Zurhelle und Christoph Brauer. Mainz 1994. Jünger, Ernst: Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hrsg. von Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Kessler, Harry Graf: Tagebücher 1918 bis 1937. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982. Kiesel, Helmuth: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933. München 2017. Kittstein, Ulrich / Zeller, Regine (Hrsg.): „Friede, Freiheit, Brot!“: Romane zur deutschen Novemberrevolution. Amsterdam und New York: Rodopi, 2009. Mann, Heinrich: Macht und Mensch. Essays. Hrsg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 1989. Pinthus, Kurt: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Berlin 1984.

  26 So Döblin schon im Januar/Februar 1919: vgl. Döblin (1972): Schriften zur Politik und Gesellschaft, S. 71. 27 Döblin (2013): November 1918, Bd. 4, S. 350.

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Scheideler, Britta: Kunst als Politik – Politik als Kunst: „Literatenpolitik“ in der Revolution 1918/19. In: Hübinger, Gangolf / Hertfelder, Thomas (Hrsg.): Kritik und Mandat: Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, S. 117–137. Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Ein literarhistorischer Beitrag zum expressionistischen Jahrzehnt. Stuttgart 1991. Tucholsky, Kurt: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1985.

EINE „SCHÄDLICHE REVOLUTION“? Überlegungen zu den Ereignissen im Winter 1918/19 Karl Heinrich Pohl Das Thema Revolution1 1918/19 boomt gegenwärtig.2 Das hängt zum einen mit dem 100-jährigen Jubiläum, zum anderen damit zusammen, dass dieses Thema viele neue Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft stellt.3 Die Bedeutung von politischen Räumen4, die Rolle von Frauen5, der Einfluss von Medien, der Umgang mit Gewalt,6 eine stärker an der Kulturgeschichte orientierte Betrachtungsweise, die räumliche und zeitliche Ausweitung der Perspektive,7 sowie neue regionale Forschungen8 sind nur einige Aspekte, die im Mittelpunkt des gegenwärtigen Interesses stehen. An dieser Stelle geht es jedoch um etwas Anderes. Die grundsätzliche erkenntnisleitende Fragestellung dieses Aufsatzes ist vielmehr, warum es so selten gelingt, das Modell einer parlamentarischen Demokratie in nichtdemokratischen Ländern zu etablieren? Und: Warum setzt(e) sich dieses von vielen Ländern favorisierte, als modern9 geltende Modell einer Gesellschaftsordnung nur schwer durch, jetzt, aber auch im vergangenen Jahrhundert?10   1

Im Folgenden werden für die „Ereignisse“ vom Winter 1918/19 bewusst verschiedene Begriffe benutzt, z. B. Revolution, Unruhen, Revolte, Ereignisse, Vorgänge usw. Auf diese Weise soll die Ungeklärt- und Offenheit, die bis heute bei der Beurteilung herrscht, auch begrifflich deutlich gemacht werden. Die Frage, ob es sich bei den Vorgängen um eine einheitliche Revolution, um Teilabschnitte oder verschiedene Revolutionsschübe gehandelt habe, bleibt offen. Zu diesem Revolutionsbegriff vgl. Platt (2017): Deutschland 1918. 2 Gallus (2010): Vergessene Revolution; Käppner (2017): „1918“; Niess (2017): Revolution; Niess (2013): Revolution in der Geschichtsschreibung. Zudem wird eine Fülle weiterer Werke noch in diesem Jahr erwartet. 3 Stalmann (2017): Wiederentdeckung. 4 Vgl. hierzu Aulke (2015): Räume der Revolution. 5 Vgl. Heinsohn (2010): Konservative Parteien. 6 Jones (2017): Gewalt. 7 Weinhauer (2015): Germany. 8 Vgl. dazu u.a. Lehnert (2018): Revolution in Norddeutschland. 9 „Modern“ wird hier, jenseits aller umstrittenen wissenschaftlichen Diskussionen, unbefangen heuristisch benutzt. Vgl. dazu Richter (2017): Moderne Wahlen, S. 12f. 10 Die Begriffe „Demokratie“, „Parlamentarismus“ u. a werden im Folgenden bewusst unscharf benutzt. Das entspricht dem Duktus der Zeit, in dem die Begrifflichkeit von verschiedenen politischen Akteuren ebenfalls höchst unterschiedlich genutzt wurde. Gemeint ist in jedem Fall immer ein mehr an Partizipation für alle gesellschaftlichen Gruppen.  

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Viele Gründe scheinen auf der Hand zu liegen: Der Zeitpunkt ist oft nicht passend, weil notwendige politische, ökonomische und kulturelle Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die äußeren Rahmenbedingungen sind schlecht; die Verpflanzung wird in Krisenzeiten versucht; die alten politischen Eliten behindern den Neustart u.a.m. Ein weiterer Grund dürfte jedoch darin liegen, dass das System Demokratie nicht wie andere, etwa autoritäre Herrschaftsformen, oktroyiert werden kann und dann leidlich funktioniert, sondern dass Demokratie von der Mehrheit der Bevölkerung bewusst gewollt und in freier Entscheidung aktiv getragen werden muss. Dabei müssen auch Skeptiker und Gegner, also die möglichen Verlierer des Systemwechsels, integriert werden, um das neue System zu festigen. Für die Schwierigkeiten einer solchen Transformation kann Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges geradezu paradigmatisch stehen. An seinem Beispiel soll daher analysiert werden, warum es nicht gelang, ein demokratisches System nachhaltig zu installieren. Das Scheitern dieses Prozesses ist umso bemerkenswerter, als dass das Reich demokratieaffin zu sein schien.11 Erwähnt seien nur die fortgeschrittene Alphabetisierung, die freie Presse, das ausgebildete Parteiensystem, die regelmäßigen Wahlen oder die liberalen Verhältnisse in den süddeutschen Staaten.12 Auch die weltweit bewunderte Kommunalpolitik,13 die allmähliche Parlamentarisierung im Reich insgesamt,14 die Stärke der reform- und parlamentarisch orientierten Sozialdemokratie15 schienen wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratisierung zu sein. Dass das alte Regime im Ersten Weltkrieg politisch und ökonomisch weitgehend abgewirtschaftet zu haben schien, sprach ebenfalls für einen erfolgreichen Systemwechsel. Nicht zuletzt wurde er auch von den Siegern des Weltkrieges gefordert.16 Trotzdem aber scheiterte der Versuch. Bei der Ursachenforschung ist sich die öffentliche Meinung (Publizistik, populäre Geschichtsschreibung und Politische (Schul-)Bildung), weitgehend einig darin, dass die nach Demokratie strebenden Kräfte nicht stark genug waren. Dieses Bild hält sich trotz mancher ‚revisionistischer Ansätze‘ der Weimar-Forschung in den letzten Jahrzehnten, die diese Sichtweise zumindest relativieren17 Die nach Demokratie strebenden Kräfte hätten – so die nach wie vor in der deutschen Gesellschaft dominierende Deutung – die neue Staatsform nicht durchsetzen, ausbauen und gegen ihre vielen Feinde verteidigen können. Hemmend hätten zudem die ungeheuren Herausforderungen der Zeit (etwa der verlorene Krieg) und die obrigkeitsstaatlich   11 Vgl. Anderson (2009): Lehrjahre der Demokratie; Richter (2017): Moderne Wahlen und vor allem Kroll (2013): Geburt der Moderne. 12 Pohl (2017): Politische Regionalkulturen und derselbe (2016): Süddeutsche Wege. 13 Pohl (2017): Die deutschen Kommunen. 14 Anderson (2009): Lehrjahre der Demokratie; Richter (2017): Moderne Wahlen. 15 Brandt/Lehnert (2013): „Mehr Demokratie wagen“. 16 Vgl. dazu Büttner (2008): Weimar. 17 Vgl. dazu u.a. Kolb/Schumann (2012): Weimarer Republik; Kluge (1985): Deutsche Revolution; Rürup (1968): Probleme der Revolution; Ullrich (2009): Revolution; Winkler (1979): Die Sozialdemokratie und derselbe (1997): Vom Kaiserreich.  

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geprägten Strukturen des alten Systems gewirkt. Genannt werden in diesem Zusammenhang u.a. Schwerindustrie, Militär, Großgrundbesitz, Bürokratie oder Adel.18 Die Erfolge, wie etwa die Einführung des Frauen- und die Abschaffung des DreiKlassenwahlrechtes in Preußen, seien nicht ausreichend gewesen. Die Revolution sei, so das skeptische Fazit, „steckengeblieben“.19 Die „unvollständige Revolution“ habe insofern einen erheblichen Anteil am späteren „Untergang“ der Weimarer Republik gehabt. 1. FRAGESTELLUNGEN, STAND DER FORSCHUNG, WISSENSCHAFTLICHER KONTEXT Im Folgenden soll nun zum einen gefragt werden, ob (und wenn ja, welche) alternative Politik hätte erfolgreicher sein können und zum anderen – etwas spekulativ –, wie die Bevölkerung, insbesondere das Klientel der SPD, der stärksten politischen Kraft in dieser Phase, eine solche alternative Politik aufgenommen hätte. Konkret wird also analysiert, ob der Misserfolg der Transformation tatsächlich vor allem den zögerlichen Revolutionären und ihren vermeintlichen Unterlassungen anzulasten ist, oder ob er nicht eher strukturelle Ursachen hatte. Die Forschung hat bei der Suche nach vorstellbaren Alternativen sowohl das Modell einer Räterepublik nach variiertem sowjetischen Muster, als auch die Weiterexistenz des kaiserlichen Systems, ohne größere Reformen, als realistische Alternativen ausgeschlossen.20 Demgegenüber werden einem sogenannten „dritten Weg“ Chancen eingeräumt. Damit ist ein stärker sozialistisch orientiertes System als das von Weimar gemeint, ein System, das die bestehenden Strukturen deutlicher aufgebrochen und vor allem die alten Eliten stärker entmachtet hätte. Auf diese Weise hätte die Republik, so die Meinung vieler Forscher, eine echte Chance gehabt, langfristig zu reüssieren. Damit ist zugleich eine deutliche Kritik an den aktiv Handelnden verbunden, die diese gebotenen Chancen nicht ausreichend genutzt, wichtige Veränderungen unterlassen und insofern wegen ihrer Passivität versagt hätten.21 Die andere, von der Forschung gegenwärtig allerdings kaum noch ernsthaft vertretene theoretische Variante, wäre ein etwas konservativerer Weg gewesen, nämlich die Installierung eines deutlich weniger demokratischen Systems als das von Weimar, systematisch gesehen also eine Variante rechts von der dann etablierten Republik, aber deutlich links vom alten kaiserlichen System. Genau diese Variante soll hier erneut diskutiert und zugleich in ihrer Bedeutung aufgewertet werden.22   18 19 20 21 22  

Winkler (1990): Revolution von 1918, S. 305 Kolb (2003): Steckengebliebene Revolution. Büttner (2008): Weimar; Kolb / Schumann (2012): Weimarer Republik. Kolb (2003): Steckengebliebene Revolution; Rürup (1968): Probleme der Revolution. Erdmann (1979): Rätestaat.

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Ausgangspunkt ist folgende Überlegung: Wenn eine funktionierende Demokratie eine Mehrzahl überzeugter Demokraten benötigt, diese aber 1918 nicht vorhanden waren, war dann eine Revolution, die das Ziel einer Demokratie westlichen Vorbilds, wie etwa in den USA, Frankreich oder Großbritannien, vor Augen hatte, wirklich sinnvoll? Wäre unter diesen Umständen nicht die Installierung einer ‚demokratieähnlichen Staatsform‘,23 die von breiteren gesellschaftlichen Kreisen getragen worden wäre, sinnvoller gewesen? Hat somit die Revolution durch ihre für die damalige deutsche Gesellschaft zu weitgehende Zielsetzung eine tragfähige, aber zugleich auch etwas bescheidenere Transformation des kaiserlichen Systems verhindert und dadurch, überspitzt ausgedrückt, das Scheitern der ersten Republik mit herbeigeführt? Handelte es sich mithin um eine „schädliche“, weil kontraproduktive Revolution? Damit steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass die deutsche Revolution 1918 nicht nicht weit genug, sondern dass sie, im Gegenteil, für das Deutschland dieser Zeit deutlich zu weit gegangen sei, dass sie das Land und seine Menschen überfordert habe und aus diesem Grunde gescheitert sei. Nicht die demokratische Staatsform, sondern eine Weiterentwicklung des bestehenden kaiserlichen Systems, etwa eine dauerhafte Praxis auf der Basis der Umformungen durch die Oktoberreformen plus sukzessiver Wahlrechtsreformen, hätte – so die hier vertretene These – einen weitgehenden Konsens von rechts bis links gefunden, wäre stabiler gewesen als das System der Weimarer Republik. Eine solche evolutionäre Weiterentwicklung des wilhelminischen Systems hätte vielleicht einen sanften Übergang zu einer dann später zu installierenden Demokratie ermöglicht und hätte vielleicht auch die gewaltigen Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts meistern können.24 Das klingt reichlich spekulativ. Gegen eine solche Interpretation scheint vor allem die auf den ersten Blick überzeugende Tatsache zu sprechen, dass die Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 eine demokratische Überzeugung der großen Mehrheit der dort Versammelten, mehr als drei Viertel, zu belegen scheinen, von einer Ablehnung der Demokratie also keine Rede zu sein scheint. Das aber änderte sich bereits 1920, als diese Mehrheit schon wieder verloren ging. Viele der 1919 gewählten Abgeordneten gebärdeten sich zudem nur anfangs, den Zeitumständen angepasst, als überzeugte Demokraten. Was davon wirklich zu halten war, sollte sich alsbald zeigen: 25 Bereits 1920 ging diese Mehrheit wieder verloren. Das   23 Hier geht es nicht um die genaue Begrifflichkeit, sondern um den Grad der „Modernisierung“. Die Unklarheit wird bewusst in Kauf genommen, da sie auch der Realität weitgehend entsprach. 24 Dass für das Scheitern der Weimarer Demokratie auch andere Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben, etwa der verlorene Krieg, das Verhalten der Siegermächte, ökonomische Probleme, instabile Zeitumstände u.a. sei nicht verschwiegen – um diese Aspekte soll es aber im Folgenden nicht in erster Linie gehen. 25 Bei den Wahlen vom 19.1.19 erhielten SPD 37,9 %, DDP 18,6 % und das Zentrum 19,7 % der Stimmen (= 76,2 %), die USPD 7,6 %, DVP 4,4 % und DNVP 10,3 % (=22,3 %). 1920 hingegen erhielten die „demokratischen“ Parteien insgesamt nur noch 48 % der Stimmen. Zudem  

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Resultat der 1919er Wahlen lässt sich daher durchaus auch als Ausdruck einer revolutionären Euphorie interpretieren, die rasch wieder verflog und dann den eher autoritären Einstellungen der Mehrheit der Deutschen wieder Platz machte. Die von einer Minderheit in der Revolution von 1918/19 geradezu erzwungene Demokratisierung fand also unter falschen Voraussetzungen, zur falschen Zeit und unter den falschen Bedingungen statt. Sie überforderte – so auch Ursula Büttner in ihrer Studie über die Weimarer Republik, wenn auch mit einer anderen Interpretationsrichtung26 – das Land. Wie wenig Rückhalt das neue Weimarer System genoss, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die dann zustande gekommene Republik – so Andreas Wirsching27 – praktisch von keiner wichtigen gesellschaftlichen Gruppe voll mitgetragen, geschweige denn wirklich gewollt wurde. Der Beginn, der weitere Verlauf und die spätere Entwicklung im deutschen Reich unterstützen die These von der Notwendigkeit, aber auch den Chancen eines behutsamen Übergangs zu einer demokratischen Staatsform und zugleich von der Schädlichkeit des Umsturzes. Das zeigt ein Blick auf die drei Politikebenen Reich, Länder und Kommunen. Vor allem dürfte die Berücksichtigung des Geschehens über Berlin und München hinaus, wie es hier favorisiert wird, für eine solche Sicht sehr fruchtbar sein.28 Beispielhaft für die Tragfähigkeit dieser Überlegungen kann bereits das Geschehen in Kiel stehen, dem Ursprungsort der Revolution.29 Der zündende Funke des Aufstandes kam dort nicht etwa aus der Stadt selber, bildete sich nicht aus einem revolutionären Ethos der Kieler Arbeiter und Matrosen, die das System völlig verändern wollten, sondern der Umsturz wurde von außen eingeleitet. Anlass war der Widerstand von Wilhelmshavener Matrosen, die nicht in einen sinnlosen Endkampf gegen England eintreten wollten und die wegen ihrer Meuterei nach Kiel verlegt wurden. Dort initiierten sie alsbald einen Aufstand. Der Träger der Revolution war also nur eine kleine, neu hinzu gekommene Minderheit mit einer sehr begrenzten Zielsetzung. Diese Minderheit erweiterte sich auch in den weiteren Wirren der Jahre 1918/19 nicht wesentlich, selbst wenn es zeitweise eine große Zahl von Mitläufern gab. Die demokratischen Wahlen, die in den folgenden Wochen in Kiel stattfanden, belegen das ganz deutlich: Die revolutionäre USPD entpuppte sich dabei geradezu als Splitterpartei.30 Nachdem jedoch die beklagenswerten Zustände in der Flotte abgestellt, die Macht der Offiziere (scheinbar) gebrochen und das Selbstmordunternehmen des Kampfes gegen Großbritannien weggefallen waren, verpuffte der revolutionäre  

26 27 28 29 30  

bleibt offen, ob tatsächlich die Mitglieder aller dieser Fraktionen überzeugte oder sogar glühende Demokraten waren. Büttner (2008): Weimar. Wirsching (2008): Paradoxe Revolution, S. 11f. Siehe hierzu auch den Beitrag von Detlef Lehnert in diesem Band. Dazu nur Dähnhardt (1978): Revolution in Kiel; Rackwitz (2018): Kiel 1918 und Pohl (2018): Revolution in Kiel? Pohl (2018): Revolution in Kiel?

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Elan, trotz der roten Fahnen, die zeitweise auf den Schiffen und auch auf dem Kieler Rathaus wehten. Am 6. November war alles vorbei, der (nahezu) unblutige Umsturz zu Ende.31 Der Krieg schien vorbei, die Mehrzahl der Matrosen wollte nach Hause, um sich wieder in ein normales Leben zu integrieren. Alles Weitere überließen sie ihren gewählten Vertretungen, denen sie wie schon seit Jahrzehnten vertrauten. Die von einigen Revolutionären favorisierte Vorstellung, ein Rätesystem nach russischem Vorbild zu installieren oder auch nur eine deutlich stärkere direkte Beteiligung der Bevölkerung in der Politik anzustreben, eine Zielsetzung also, die über die Bewältigung der konkreten gegenwärtigen Schwierigkeiten und eine eher bescheidene Reform des politischen Systems in Richtung konstitutionelle Monarchie hinausgegangen wäre, war der Mehrheit der Kieler Bevölkerung fremd. Diese ablehnende Einstellung wurde auch von der Mehrheit der Arbeiter und Parteianhänger der SPD geteilt, wie die nachfolgenden Wahlen bewiesen.32 Die Aufstände vor allem in Berlin, aber auch in München und anderen Regionen, fanden in der Regel ebenfalls ohne die Mehrheit und zumeist gegen den Willen der meisten Arbeiter und der sozialdemokratischen Organisationen statt, die sich davon distanzierten. Er führte jedoch dazu, dass die SPD ihre eher bescheidenen Forderungen für eine Umgestaltung des politischen Systems nicht länger aufrechterhalten konnte, sondern nun politisch mehr fordern musste, um ihre Anhänger zu befriedigen und die Massen zu beruhigen. Das aber erschwerte eine Einigung mit der politischen Mitte und erst recht mit der politischen Rechten. Zugleich hatte die SPD mit der Wirkung des Schreckgespenstes Räterepublik – Beispiel München33 – auf die öffentliche Meinung zu leben. Ihre scheinbare Nähe zu den (links)sozialistischen, gar bolschewistischen Vorstellungen, also nicht etwa faktische Übereinstimmungen, diskreditierte das von vielen Sozialdemokraten favorisierte, reformorientierte, gemäßigte Politikmodell.34 Obwohl sich die SPD gegen den Vorwurf, räteaffin zu sein, mit aller Macht, auch mit Gewalt, wehrte, erschien sie vielen Bürgern doch auf eine unbestimmte Weise als revolutionär.35   31 32 33 34

Danker (2014): Revolutionsstadt. Vgl. dazu die Wahlen im Januar 1919 auf kommunaler, regionaler und Reichsebene. Vgl. nur Weidermann (2017): Träumer; Grau (2001): Kurt Eisner; Pohl (2015): Kurt Eisner. Diese Schwierigkeiten hingen auch mit der manchmal noch aufflackernden revolutionären Sprache der SPD zusammen, die sich jedoch im Allgemeinen eher einer ausgleichenden, integrativen Sprache zu bedienen versuchte. Durch den ‚Rückfall‘ in revolutionäres Vokabular verloren die bescheidenen Wünsche der Sozialdemokraten, die ja keine revolutionären Ziele verfolgten, an Glaubwürdigkeit. Das wiederum erschwerte Gemeinsamkeiten. 35 Vgl. dazu Graf Westarp (1935): Konservative Politik, S. 630–631. „Eine unmittelbare Teilnahme an den Revolutionsvorbereitungen mag ihnen [SPD] nicht nachgewiesen werden können. Das ändert nichts an der geschichtlichen Verantwortung der Sozialdemokratie als Ganzes. Spartakisten und Unabhängige waren aus ihr hervorgegangen. Sie zogen nur die Folgerungen aus dem Geiste der internationalen, pazifistisch-antimilitaristischen, proletarisch-antikapitalistischen, republikanisch-revolutionären Politik – Fremdworte für dem deutschen Wesen fremde Begriffe –, den die gesamte Sozialdemokratie großgezogen hatte und vertrat. Von diesem Geiste war die Kriegspolitik der Partei Ebert-Scheidemann nicht minder beherrscht als die radikalen Gruppen“.

 

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2. DAS REICH UND DIE REVOLUTION Werfen wir im Folgenden einen Blick auf die Ebene des Reiches: Eine Kooperation der SPD mit weiten Kreisen des Bürgertums und sogar der politischen Rechten (über SPD, DDP und Zentrum hinaus) schien durchaus nicht utopisch zu sein. Reformbereitschaft hatte sich dort bereits im späten Kaiserreich gezeigt und war dann durch die drohende Kriegsniederlage noch verstärkt worden.36 Zudem wurde klar, dass ein erträglicher Frieden nur mit Hilfe des amerikanischen Präsidenten zu erreichen schien, der aber wiederum einen Umbau des deutschen politischen Systems forderte37. Die, auch aufgrund dieser Ausgangslage, in verschiedenen sozialdemokratischen, bürgerlichen, konservativen und Regierungskreisen ventilierten Reformüberlegungen mündeten schließlich in die Oktoberreformen und das kurzlebige System Max von Baden.38 Dieses System wurde von den Führern breiter Bevölkerungsschichten und wichtiger politischer Eliten (mit)getragen, auch wenn es von oben oktroyiert worden war, sich nicht besonders publikumswirksam darstellte und vielen Deutschen unbekannt blieb.39 Mit ihm wurden Anfang Oktober zumindest gewisse Grundlagen für eine parlamentarische Demokratie gelegt. Die Reformen erlaubten, obwohl die Militärgewalt nach wie vor dem Kaiser unterstand,40 eine „Mitwirkung von Parlamentariern an den Regierungsgeschäften, Übernahme der Regierungsverantwortung des Kanzlers nach vorherigem Einvernehmen mit den Führern der Mehrheitsparteien und eine gewisse Mitverantwortung des Reichstags für die Regierungspolitik“.41 Nicht zuletzt gehörten dem engeren Kabinett vier parlamentarische Staatssekretäre, darunter Scheidemann von der SPD, an. Mit diesen Veränderungen waren die Führer der SPD durchaus zufrieden.42 Eine solch gemäßigte Reform stellte offenbar den Schlüssel für eine allmähliche Systemumwandlung dar, die mehrheitsfähig war und zugleich die Installierung einer (späteren) Demokratie hätte ermöglichen können.43 Alle darüber hinaus ge  36 Anderer Meinung Machtan (2008): Abdankung, S. 234, der dafür zu wenige Belege in der Realgeschichte findet. 37 Vgl. ebd. und ders. (2013): Prinz Max von Baden; danach, S. 341–469, auch die folgenden Gedanken. 38 Ebd., S. 341–399; danach auch die folgenden Gedanken. Zum Gesamtkomplex auch von Baden (1928): Erinnerungen, S. 335–650. Siehe auch den Beitrag von Lothar Machtan in diesem Band. 39 Vgl. dazu etwa die Berichterstattung in der Kieler Presse, Pohl (2018): Revolution in Kiel? 40 Machtan (2013): Prinz Max von Baden, S. 395; Brandt/Lehnert (2013): „Mehr Demokratie wagen“, S. 111–114. 41 Machtan (2013): Prinz Max von Baden, S. 395. 42 Mühlhausen (2007): Ebert, S. 98–106. Siehe auch den Beitrag von Walter Mühlhausen in diesem Band. 43 Rosenberg (1970, Entstehung, S. 223: „Die Reichstagsmehrheit hat im Oktober im Wesentlichen all das erfüllt, was die großen Massen des deutschen Volkes verlangten“.  

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henden Veränderungen waren für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt offenbar (noch) zu viel, wie aus dem Schicksal der Republik deutlich wird. Die bescheidene Reform berücksichtigte zudem, dass das Vertrauen in Kaiser und militärische Führung in weiten Kreisen des Bürgertums und der konservativen Eliten nach wie vor bestand.44 Beide Gruppierungen hatten das Kaiserreich vielfach nicht nur geschätzt, sondern von ihm auch erheblich profitiert. Insofern war ihr Wunsch nach einer gravierenden Veränderung höchst beschränkt. Keine wichtige bürgerliche Gruppierung, vielleicht mit Ausnahme einiger Demokraten, trat beispielsweise bereits vor dem Krieg für ein allgemeines Wahlrecht auf allen Politikebenen ein. Diesen Vorbehalten kam daher entgegen, dass das System Max von Baden nur bescheidene Fortschritte zeigte.45 Insofern war der Mangel an demokratischer Substanz kein Nach-, sondern geradezu ein Vorteil. Ein tragendes Element für einen Kompromiss stellte vor allem eine Bestandsgarantie der Monarchie dar. Um sie noch zu retten, schien es allen Beteiligten notwendig, das politische System nur etwas zu modifizieren, das preußische Wahlrecht nur moderat zu ändern, generell also den Arbeitern und ihren Organisationen nur partiell entgegenzukommen. Gustav Stresemann kann für diese Auffassung geradezu paradigmatisch stehen. Seiner Meinung nach waren diese (wenigen) Zugeständnisse an die Sozialdemokratie notwendig, um sie, die sich im Krieg seiner Meinung nach höchst anständig benommen hatte, soweit wie möglich zu integrieren, die „vernünftigen“(!) Sozialdemokraten zu stärken, um der USPD den Wind aus den Segeln zu nehmen – und somit das System zu retten.46 Wie weit Militär, Großgrundbesitz und Industrie ein reformiertes kaiserliches System und die allmähliche Transformation des Systems mitgetragen hätten, muss allerdings offen bleiben. Immerhin werfen, um nur ein Beispiel zu nennen, neuere Studien ein sehr differenziertes Bild etwa auf die Reichwehr und ihre Einstellung zu einer partiellen Systemveränderung.47 Auch in diesen Kreisen hätte es möglicherweise mehr Anknüpfungspunkte für eine gemäßigte, konstitutionelle Demokratie gegeben als bislang bekannt ist.48 Zudem gab es erhebliche Übereinstimmungen zwischen links und rechts: Alle politischen Gruppen rechts von der USPD wollten beispielsweise keine Revolution oder gar ein Rätesystem. Alle hassten rote Fahnen und Unruhen auf der Straße, die SPD vielleicht noch mehr als die Konservativen. Zudem hätten das übergreifende Symbol des alten Herrscherhauses, wenn auch ohne Wilhelm II. und seine Söhne, der garantierte Bestand des nur zu modifizierenden politischen Systems, die Garantie der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der Glaube an die deutsche Nation, der gemeinsame Kampf gegen den Vertrag von Versailles, das Ideal einer deutschen   44 Beispiel dafür Gustav Stresemann. Vgl. Pohl (2015): Gustav Stresemann. 45 Hierzu immer noch wegweisend Rosenberg (1970): Entstehung, S. 224; Machtan (2013): Prinz Max von Baden, S. 395. 46 Vgl. Pohl (2015): Gustav Stresemann, insbesondere S. 203. 47 Keller (2014): „Die Wehrmacht“, S. 282. 48 Vgl. dazu Platt (2017): Deutschland, S. 15.

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Volksgemeinschaft u.a.m. vielleicht – so ein spekulativer Gedanke – wie Kitt und damit stabilisierend wirken können. 3. DIE ROLLE DER SPD Die Mehrheitssozialdemokratie stellte zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich den entscheidenden Faktor in der deutschen Politik dar. Auf ihre Haltung kam es daher in besonderem Maße an. Wenige Tage vor Ausbruch der Revolution, am 31. Oktober, artikulierte Friedrich Ebert, einer ihrer wichtigsten Repräsentanten, seine politischen Vorstellungen und zugleich die politischen Ziele seiner Partei im Kreise von liberalen Parteiführern (u.a. Eugen Schiffer, Conrad Haußmann) im Rahmen eines von der HAPAG arrangierten Frühstücks höchst eindrucksvoll und äußerst klar: Ich bin dafür, dass die deutsche Monarchie bestehen bleibt. Deutschland ist nicht reif für die Republik, und wir Sozialdemokraten, die dies wissen, fürchten den Augenblick, da die Masse, die Straße, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unseres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert. Aber damit wir die Monarchie erhalten und eine Republik vermeiden können, muß der jetzige Monarch zurücktreten […], weil er diesen Krieg verloren und damit Bankrott erlitten hat. Die Firma aber kann und muss erhalten bleiben. […] In einem Wort: Der jetzige Monarch muß abdanken. Um die Monarchie selbst zu retten.49

Mit diesem Statement kennzeichnete Ebert sehr konkret die politischen Vorstellungen der Parteispitze der SPD am Vorabend des Umsturzes, und zwar in einer Weise, die die reformorientierte Politik der SPD genau wiedergibt. Offensichtlich kannte Ebert als langjähriger Parteivorsitzender die Mehrzahl seiner Parteigenossen und ihre Mentalitäten sehr genau, wusste, dass sie ähnlich wie er dachten. Vor allem kalkulierte er die Chancen seiner Partei bei zukünftigen Wahlen realistisch ein, bei denen eine absolute Mehrheit für die SPD kaum möglich erschien.50 Insofern erkannte er, was in Deutschland politisch opportun, mehrheitlich durchsetzbar und langfristig tragfähig war: Er positionierte seine Partei mithin sehr konsequent als sozialistische Reformpartei, die (vielleicht) erst in der Zukunft eine Republik errichten würde.51 Grundbedingung dieser Politik war allerdings, das Wilhelm II. abzudanken hatte. Was aber war aus einer solchen Perspektive schädlicher als eine Revolution, die die Verwirklichung der reformerischen sozialdemokratischen Ziele unmöglich machen und den unausgesprochenen gesellschaftlichen Kompromiss von SPD, Bürgertum und gemäßigten Konservativen aufkündigen musste? Insofern ist Arthur Rosenberg nur zuzustimmen, der von einer Revolution sprach, die die SPD nicht gewollt hatte und von der sie völlig unvorbereitet überrascht wurde.52   49 Zitiert nach Mühlhausen (2007): Friedrich Ebert, S. 98; danach auch die folgenden Gedanken. 50 Vgl. die Wahlergebnisse aus den Jahren 1912, 1919, 1920 und 1924. 51 Platt (2017): Deutschland, S. 14: „Den Kern der Ebertschen Bündnispolitik bildet der Versuch, eine innenpolitische Polarisierung zu verhindern. Daran war das Gebot geknüpft, selbst auf Handlungen zu verzichten, die eine solche Polarisierung provozieren konnten.“ 52 Rosenberg (1970): Entstehung, S. 11.

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Die sozialistischen Führer wollten das, was sozialdemokratische Funktionäre seit Jahrzehnten wollten: Ruhe und Ordnung, geregelte Verfahren, organisiertes Handeln, Akzeptanz der Führung durch die Basis – und nicht umgekehrt. Sie wollten keine roten Fahnen auf der Straße, keine unkontrollierbaren Aktionen und vor allem nicht das, was sie Bolschewismus nannten. Die revolutionäre Praxis in Russland war der sozialistischen Elite geradezu ein Horror. Dieser Horror wurde durch ihre lange Geschichte noch verstärkt, die durch ein festes Bekenntnis zu demokratischen Verfahren, ein nichtrevolutionäres Ordnungssystem (trotz gegenteiliger verbaler Beteuerungen) und der Angst vor unkontrollierbaren Eruptionen der Basis geprägt war. Bemerkenswert ist, dass trotz der Spaltung der Sozialdemokratie die SPD und die Freien Gewerkschaften ein enormes Vertrauen bei der Mehrzahl der organisierten Arbeiterschaft genossen. Das beste Beispiel dafür ist Gustav Noske und seine Tätigkeit in Kiel.53 Die Revolution war dort auf dem Höhepunkt, als Noske – wahrlich kein Revolutionär – von der Reichsregierung nach Kiel geschickt wurde, um die Situation zu beruhigen. Kaum hatte er Kiel erreicht, übertrug ihm die revolutionäre Arbeiterbewegung, und zwar alle ihre Flügel, das Amt des Vorsitzenden der Räte in Kiel. Zugleich aber besaß der Reformist auch das Vertrauen der Regierung, so dass er binnen Kurzem zum Gouverneur der Stadt ernannt wurde. Neben einer raschen Beendigung des Krieges, neben Arbeit, Brot und Normalität, wünschte sich die Mehrheit der Sozialdemokraten – wie das Beispiels Noskes erneut belegt – vor allem Reformen, die praktisch bald umsetzbar waren.54 Um es noch einmal zu betonen: Alle führenden Mehrheitssozialdemokraten lehnten die Revolution ab – und der „Vorwärts“ unter Friedrich Stampfer blies in das gleiche Horn.55 Ja, die sozialdemokratische Führung (und auch die Mehrzahl der organisierten Mitglieder) lehnten eine weitergehende Veränderung fast genau so vehement ab wie die alten Machteliten und selbst das Militär.56 Die SPD empfand die alten Eliten zwar als politischen Gegner, nicht aber als Todfeind, auch nicht im Krieg. Dafür stehen erneut Namen wie Noske,57 Severing,58 Ebert59. Viele Sozialdemokraten hatten bereits vor Kriegsbeginn im alten System mitgearbeitet, hatten versucht, manchmal auch mit Hilfe der liberalen Bürokratie, das System ein wenig zu verändern. Dabei hatten sie fortschrittliche und weniger fortschrittliche Eliten kennengelernt. Im Übrigen beruhte das auf Gegenseitigkeit. Viele Bürger (etwa Stresemann) trauten den aus ihrer Sicht vernünftigen Sozialdemokraten viel zu, vertrauten ihnen, setzten auf ihre Verlässlichkeit und waren bereit, mit ihnen zusammen zu arbeiten.   53 54 55 56 57 58 59  

Pohl (2018): Revolution in Kiel und Noske (1920): Von Kiel, S. 7–24. Mühlhausen (2007): Friedrich Ebert, S. 150–164. Stampfer (1957): Erfahrungen und Erkenntnisse, S. 217–235 Machtan (2013): Prinz Max von Baden, S. 400–410. Noske (1920): Von Kiel. Alexander (1992): Carl Severing; Severing (1950): Mein Lebensweg. Mühlhausen (2007): Friedrich Ebert, S. 217–235.

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Besonders viele der mächtigen Gewerkschaftsführer waren bereits weit in das kaiserliche System integriert, schätzten ihre staatlichen Partner, waren zudem auch nicht gegen einen überbordenden Nationalismus gefeit, der sie mit dem Bürgertum verband. Vor allem aber schätzten sie die alten Eliten als unentbehrliche Fachleute. Und im Übrigen: Die Gewerkschaftsbürokratie unterschied sich nicht in jedem Fall von staatlicher Bürokratie. Angestrebt wurde mithin auch dort Kontinuität vor Diskontinuität.60 Das Motto galt für alle: „Keine Freiheit ohne Ordnung“.61 Auch wenn es nur selten so deutlich gesagt wurde: Der Feind stand für viele Sozialdemokraten oftmals eher links als rechts. Selbst mit den Konservativen, so ein Teil der politischen Führung der MSPD, ließen sich Gemeinsamkeiten finden, politische Kompromisse verwirklichen, kurzum: Politik machen. Carl Severing62 etwa und seine Politik in Bielefeld während der Revolution und dann später im Ruhrgebiet sind hier ein exemplarisches Beispiel für einen solchen Ansatz. In der Frage der Revolution ging es den alten Eliten und der MSPD einzig und allein darum, den Einfluss der USPD im Keime zu ersticken. Was auch gelang. Das Ideal einer sich allmählich wandelnden, nur bedingt demokratischen deutschen „Volksgemeinschaft“ (allerdings mit einer Führungsspitze ohne Wilhelm II), die bereits 1914 beschworen worden war, wäre 1918, anders als das politische System der Weimarer Republik, von weit rechts (etwa bis rechts von Gustav Stresemanns Nationalliberalen)63 bis weit links (in der gesamten SPD) durchaus tragfähig gewesen. 4. DIE SITUATION IN DEN LÄNDERN Auf Länderebene – einer zweiten wichtigen Politikebene – zeichnete sich zudem, stärker noch als im Reich, bereits im späten Kaiserreich eine Kooperation der verschiedenen politischen Gruppierungen (einschließlich der Sozialdemokratie) und ein ganz allmählicher Weg hin zu einem modifizierten parlamentarischen System ab.64 Eine Reihe von Ländern befand sich bereits vor 1914 auf dem Weg zu einer faktischen, wenn auch noch nicht rechtlich abgesicherten, parlamentarischen Monarchie. Das gilt nicht für Preußen, wohl aber für Bayern65 und Württemberg66 oder   60 Ein herausragendes Beispiel für die extreme Affinität zum Kaiserreich und seinem System (wenn auch nicht exemplarische für alle Gewerkschaften) sind der Bauarbeiterverband und sein langjähriger Vorsitzender August Winnig. Vgl. dazu: Winnig (1932): Der weite Weg; derselbe (1930): Vom Proletariat und Ribhegge (1973): August Winnig. 61 Aus der Fülle Kieler Zeitungen nur: „Kieler Neueste Nachrichten“, 6.11.1918: Aufruf des Kieler Magistrats: „Wer Freiheit will, muß Ordnung halten!“ 62 Severing (1950): Lebensweg, S. 220–235. 63 Pohl (2015): Gustav Stresemann, vor allem S. 191–204. 64 Anderson (2009): Lehrjahre der Demokratie. 65 Pohl (2017): Politische Regionalkulturen, S. 162–169. 66 Für Baden z. B. Schmidgall (2012): Revolution in Baden.  

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sehr abgeschwächt sogar für Sachsen.67 Dort hatte sich, trotz aller grundsätzlichen Differenzen, ein erhebliches gegenseitiges Vertrauen aufgebaut.68 Auf dieser Basis sollte nach Auffassung sowohl der bürgerlich/konservativen Eliten als auch der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften ohnehin, auch nach dem Kriege weiter voran geschritten werden. In Bayern etwa fühlte sich die Sozialdemokratie bereits vor 1914 als geachteter und weitgehend gleichberechtigter Partner, arbeitete im Parlament mit, erlebte (kleine) Erfolge und bewilligte gegebenenfalls das bayerische Budget. Die Partei war mit dem existierenden System, das sie als reformierbar erlebte, durchaus zufrieden und gedachte, von Süden her auch Preußen Schritt für Schritt zu demokratisieren.69 Diese auf Kontinuität aufbauenden, auf langjähriger Erfahrung beruhenden Mentalitäten dominierten bei der Führung und bei den Mitgliedern, und sie behaupteten sich zäh, und setzten sich auch gegen den Widerstand des linken Flügels der SPD durch. Dieser erfolgreiche Weg sollte nach Auffassung sowohl der dortigen bürgerlich/konservativen/klerikalen Eliten als auch der Sozialdemokratie kontinuierlich weiterverfolgt werden, auch wenn sich das Zentrum und der linke Flügel der SPD dagegen sträubten. Alles sprach damit für einen allmählichen Übergang zur parlamentarischen Monarchie, wie bereits die Landtagswahlen von 1912 gezeigt hatten. Bayern schien reif für einen schleichenden Systemwandel. Für die Sozialdemokratie in Bayern stellte der Erste Weltkrieg daher auch insofern eine Katastrophe dar, als er diese kontinuierliche Entwicklung abrupt unterbrach.70 Aus tiefster Überzeugung bekämpften daher Erhard Auer71 und Genossen die Revolution, die gegen ihren ausdrücklichen Willen durch Kurt Eisner und die USPD inszeniert wurde.72 Sie kannten die Stimmung auf dem Lande und wussten, dass ein abrupter Wechsel, mochte er auch noch so edle Ziele verfolgen, langfristig keine Unterstützung in der Bevölkerung finden würde. Aus ihrer Sicht beendete die Revolution daher mutwillig eine erfolgversprechende und vor allem auch tragfähige Entwicklung. Tatsächlich war in Bayern nach der Revolution nichts mehr wie zuvor, ein Anknüpfen an die Zeit vor 1914 kaum noch vorstellbar, die Gräben zwischen links und rechts nach der Zeit der Räterepublik nahezu unüberwindbar.73 Auch in Württemberg verstand sich die Sozialdemokratie als eine sozialistische Reformpartei, die auf einen allmählichen Wandel des Systems hinarbeitete und seit   67 Zuletzt Pohl (2015): Gustav Stresemann, S. 113–190. 68 Offen muss allerdings die wichtige Frage bleiben, ob eine Entwicklung zu einer gleitenden Modernisierung, wie sie bereits vor 1914 eingeleitet worden war, nach vier Jahren Krieg einfach hätte wiederaufgenommen werden können. War das nach den Opfern noch möglich? Oder aber erwarteten die Arbeiter nun „mehr“ als einen allmählichen Transformationsprozess? Das muss, wie manches in diesem Beitrag, Spekulation bleiben. 69 Pohl (1986): „Bayerischer Separatismus“. 70 Pohl, (1992): Die Münchener Arbeiterbewegung. 71 Zur Biografie Auers vgl. Schmalzl (2013): Auer. 72 Zu Eisner vgl. u.a. Grau (2001): Eisner und Pohl (2015): Eisner. 73 Vgl. dazu u.a. Weidermann (2017): Träumer.  

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der Jahrhundertwende durchaus auf Augenhöhe mit Regierungschef und König verhandelte.74 Es fehlte somit in den süddeutschen Einzelstaaten jeder Grund, anläßlich des militärischen Zusammenbruchs, einen Kampf gegen die Monarchen, die Monarchie als Staatsform oder gegen die Grundlagen des bestehenden Verfassungszustands zu organisieren. […] Soweit ich [Keil] sehen konnte, dachte denn auch innerhalb meiner Partei in Süddeutschland niemand daran, auf den gewaltsamen Sturz der Regierungs- und Staatsform hinzuarbeiten.75

Im Gegenteil: In Württemberg kämpften die Sozialisten geradezu verzweifelt darum, so zu tun, als ob es keinen Umsturz gegeben hätte und man ruhig und gemäßigt in der gewohnten Kooperation mit den alten Mächten voranschreiten könnte.76 Mitte Oktober begannen Sozialdemokraten und Vertreter der Volkspartei dementsprechend, in Kooperation mit dem Zentrum und den Nationalliberalen ein gemeinsames Regierungsprogramm zu entwerfen und auf dieser Basis Ministerpräsident von Weizsäcker zum Rücktritt aufzufordern.77 Alles schien auf eine allmähliche Transformation des Systems hinauszulaufen, wobei nicht daran gedacht war, die Monarchie zu stürzen.78 Den Ereignissen im Reich konnte sich jedoch auch die reformorientierte SPD in Württemberg nicht entziehen. Der Monarch musste Ende November abdanken, allerdings in höchst ehrenvollen Formen.79 Sachsen galt neben Preußen als besonders konservativ. Tatsächlich aber entpuppt sich das Königreich vor dem Ersten Weltkrieg als ein „Experimentierfeld der Moderne“.80 In der „roten Hochburg“, gelang es, anders als etwa in Preußen, dank der Bemühungen der Liberalen und des Drucks der Sozialdemokratie, immerhin allmählich eine erweiterte Partizipation der Unterschichten zu erreichen, ohne dass damit allerdings das Land schon auf einem Weg zu einer parlamentarischen Monarchie gewesen wäre.81 Hier war es Gustav Stresemann, der bereits in der Vorkriegszeit und dann als Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen im Reich seit 1917 kontinuierlich daran arbeitete, die SPD in den bestehenden Staat einzubinden, was auch Konsequenzen für Preußen gehabt hätte.   74 Quellen dazu in: Regionale und lokale Räteorganisationen. 75 Keil (1948): Erlebnisse eines Sozialdemokraten, S. 12 76 Vgl. etwa die Berichterstattung in der „Schwäbischen Tagwacht“, 38. Jg., 7. November bis 12. November. 77 Wein (1988): Weizsäcker, S. 190f. 78 Vgl. dazu Schwäbische Tagwacht, 9.11.19: „Vom Tage: Mitbürger: Heute vormittag wird die Arbeiterschaft Stuttgarts sich auf dem Schloßplatz und den benachbarten Plätzen versammeln, um von ihren berufenen Führern Mitteilungen über die innenpolitische Lage entgegenzunehmen. Diese Versammlung will der ruhigen und geordneten Ueberleitung in andere staatsrechtliche Verhältnisse dienen. Die gesamte Einwohnerschaft bitte ich, Ordnung und Ruhe zu halten. Damit dient jeder am besten unserer Stadt und dem Vaterland. Stuttgart 9. November 1918, Namens der Gemeindekollegien, gez. Lautenschlager, Oberbürgermeister.“ 79 Machtan (2008): Abdankung, S. 322f. 80 Pohl (2017): Regionalkulturen, S. 188. 81 Grundsätzlich zur Thematik: Lässig/Pohl (1997): Sachsen im Kaiserreich.  

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Die Entwicklung zu einer parlamentarischen Monarchie war allerdings längst noch nicht so weit gediehen wie in den süddeutschen Staaten.82 Die vom sächsischen Staatsministerium Ende Oktober eingeleiteten ersten Schritte zur Prävention revolutionärer Unruhen, die besonders in dem stark industrialisierten Sachsen befürchtet wurden, kamen daher zu spät – und besaßen auch keinen Unterbau. Die Ernennung eines sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten zum Staatsminister änderte nichts mehr daran, dass diese Reformversuche zu spät kamen83. Zugleich schlug in Sachsen der Konflikt zwischen gemäßigten und radikalen Sozialisten deutlicher als noch in Württemberg durch. Hier riefen zwar auch, wie überall im Reich, die Führer der SPD zur Ruhe und Ordnung auf, rieten zu einer allmählichen Umformung des Staates und versuchten alle revolutionären Umtriebe zu unterdrücken. Sie konnten sich damit aber nur partiell durchsetzen.84 Ein „geordneter Übergang“ von der Monarchie zur Demokratie wurde durch die USPD und die Arbeiter- und Soldatenräte verhindert – der Bruch war da und wurde auch in der Weimarer Republik nie wieder gekittet.85 5. DIE KOMMUNEN UND DIE REVOLUTION Im kommunalen Bereich – der dritten Politikebene – war ein allmähliches Hinübergleiten in ein (vor)parlamentarisches System zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon weit gediehen. In den meisten Kommunen hatte sich, trotz des höchst ungerechten Wahlrechtes, im Laufe der Jahrzehnte ein großes Vertrauensverhältnis in den entsprechenden Gremien gebildet, zumal die Sozialdemokraten, waren sie dort erst einmal Mitglieder, nahezu gleichberechtigt behandelt wurden.86 Fast überall im Reich, z. T. auch in Preußen, gab es daher bereits Ansätze zu einer ansatzweisen Parlamentarisierung, allerdings noch ohne einen Trend zu einer Demokratisierung. Durch diese Entwicklung wurde ein gemeinsames Einüben in eine parlamentarische politische Kultur gefördert. Dieses Potential hätte durch eine allmähliche Demokratisierung des kommunalen Wahlrechtes (im Konsens der beteiligten Parteien), ohne revolutionäre Veränderungen, konstruktiv genutzt sowie weiterentwickelt werden können und hätte einen Übergang zur Demokratie gebildet. So ähnlich war die Entwicklung auch in anderen westlichen Ländern, wie etwa Großbritannien, vor sich gegangen: Parlamentarisierung vor Demokratisierung.87 Eine solche   82 Retallack (2017): Red Saxony und derselbe (2000): Sachsen in Deutschland. 83 Machtan (2008): Abdankung, S. 308. 84 Schmeitzner (2006): Dresden in der Novemberrevolution, S. 253. Vgl. dazu auch Rüdiger (1989): Geschichte, S. 429: „Die Sozialchauvinisten [SPD] die bis zuletzt versucht hatten, die Revolution zu verhindern, sahen sich gezwungen, ihre Taktik zu ändern. Sie versuchten, an die Spitze der Bewegung zu gelangen, um sie zu desorientieren“. 85 Pohl (2006): Linksrepublikanisches Projekt. 86 Pohl (2017): Die deutschen Kommunen. 87 Richter (2017): Moderne Wahlen, S. 30.  

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Entwicklung wäre auf eine breite Akzeptanz in der Mitte der Gesellschaft gestoßen – und wohl auch von den Sozialdemokraten akzeptiert worden. Revolutionäres Ungestüm konnte in den Kommunen nur schaden. Man erörterte dort schließlich, so behaupteten fast alle Kommunalpolitiker, nur Sachfragen, aber keine Politik. Die Kommunen, in denen die Liberalen in fast 90 % aller großen Städte in Kooperation mit Konservativen und auch mit Sozialdemokraten an der Stadtregierung beteiligt waren,88 hätten mithin der Kristallisationspunkt einer politischen Modernisierung werden können, bei der Liberale, Sozialdemokraten und Konservative gemeinsam eingebunden gewesen wären. In den Kommunen zeigte sich daher in besonderem Maße das Potential für eine zukünftige evolutionäre Entwicklung auf einer breiten politischen Basis. Revolutionäre Ereignisse wurden hier, so gut es möglich war, schlichtweg übergangen. In Kiel etwa änderte sich im Jahr 1919 im kommunalen Bereich fast gar nichts. Die SPD besaß nach wie vor keine absolute Mehrheit, auch unter dem neuen, demokratischen Wahlrecht nicht, da es zu keiner Einigung mit der USPD gekommen war. Statt mit der unbequemen Linken paktierte sie lieber mit den Demokraten. Die im Kaiserreich gewählten (liberalen) Bürgermeister und die meisten Magistratsmitglieder blieben erst einmal in ihren Ämtern – allseits akzeptiert.89 Die Versammlung der Gemeindebevollmächtigten wahrte zudem eine hohe personelle Kontinuität. Etwa zwei Drittel der sozialdemokratischen Gemeindebevollmächtigten von 1912 blieben z. B. auch nach den Wahlen von 1919 im Amt. Vor allem aber wurde der ritualisierte Betrieb im Rathaus beibehalten. Druck von der Straße, auch wenn er von links und den Arbeitslosen kam, wurde einhellig von allen Stadtverordneten, auch denen der SPD, abgelehnt, obwohl die Forderungen von der SPD inhaltlich weitgehend anerkannt wurden. Außerparlamentarische Störungen waren unerwünscht, geregelte Verfahren wurden hingegen als verpflichtend angesehen. Das war das Politikverständnis der sozialdemokratischen Revolutionäre im Kieler Rathaus.90 Die Gemeinsamkeit kommunaler Politik zeigte sich schließlich auch in Krisensituationen, wie etwa bei der gemeinsamen Ablehnung des Kapp-Putsches. Dieser Weg, nicht der der Revolution, hätte erfolgreich sein können. Das aber war durch die Revolution verhindert worden. 6. FAZIT Es gab 1918/19 also keinen tragfähigen Boden für eine revolutionäre Veränderung in Deutschland, sondern nur für eine Reform, mit dem Ziel einer eingeschränkten parlamentarischen Monarchie. Das tragfähigste politische System für die Nachkriegszeit in Deutschland hätte insofern in der Mitte zwischen den Vorstellungen der politischen Rechten und den (links)bürgerlich – (rechts)sozialdemokratischen   88 Langewiesche (2014): Kommunaler Liberalismus im Kaiserreich. 89 Auch der Anfang der 20 Jahre gewählte Bürgermeister Dr. Lueken war ein Liberaler. 90 Pohl (2018): Revolution in Kiel?  

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Vertretern der Weimarer Ordnung gelegen. Das tatsächlich installierte politische System der Weimarer Verfassung erfüllte diese Funktion jedoch nicht. Ein konservativerer Weg wäre daher erfolgreicher gewesen. Zutreffend ist mithin, dass Weimar eine Demokratie mit (noch) zu wenig Demokraten war.91 Wenn man dem zustimmt, dann lag das Problem der Weimarer Republik darin, dass sie unzeitgemäß war, zu früh und zu überraschend kam, in einer Krise installiert wurde und daher kaum Chancen besaß. Demokraten hätten sich erst sukzessive bilden müssen; ihr Vorhandensein hätte man nicht voraussetzen dürfen. Die Chance jedoch, Demokraten zu bilden, war in den Jahren 1919 bis 1933, anders als in (West)Deutschland nach 1945, nicht gegeben. LITERATUR Alexander, Thomas: Carl Severing. Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden. Bielefeld 1992. Anderson, Margaret L.: Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im deutschen Kaiserreich. (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 22), Stuttgart 2009. Aulke, Julian: Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918–1920. (= Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 31), Stuttgart 2015. Baden, Max von: Erinnerungen und Dokumente. Berlin/Leipzig 1928. Brandt, Peter / Lehnert, Detlef: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010. Berlin 2013. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Stuttgart 2008. Dähnhardt, Dirk: Revolution in Kiel. Der Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik 1918/19. Neumünster 1978. Danker, Uwe: Revolutionsstadt Kiel. Ausgangsort für die erste deutsche Demokratie. In: Demokratische Geschichte 25 (2014), S. 285–306. Erdmann, Karl Dietrich: Rätestaat oder parlamentarische Demokratie: neuere Forschungen zur Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Kopenhagen 1979. Ders. / Schulze, Hagen (Hrsg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Düsseldorf 1979. Gallus, Alexander (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19. Göttingen 2010. Grau, Bernhard: Kurt Eisner. 1867–1919. Eine Biographie. München 2001. Heinsohn, Kirsten: Konservative Parteien in Deutschland 1912 bis 1933. Demokratisierung und Partizipation in geschlechterhistorischer Perspektive. (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 155), Düsseldorf 2010. Jones, Mark: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik. Berlin 2017. Käppner, Joachim: „1918“. Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen. München 2017. Keil, Wilhelm: Erlebnisse eines Sozialdemokraten, Bd. 2. Stuttgart 1948. Keller, Peter: „Die Wehrmacht der deutschen Republik ist die Reichswehr“. Die deutsche Armee 1918–1921. (= Krieg in der Geschichte, Bd. 82), Paderborn 2014. Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/19. Frankfurt1985. Kolb, Eberhard / Schumann, Dirk: Die Weimarer Republik. (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Bd. 16), 8. Auflage, München 2012.

  91 So der Tenor des Sammelbandes Erdmann / Schulze (1979): Weimar. Selbstpreisgabe.

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DIE UNGELIEBTE REVOLUTION Die verdrängte und politisierte Erinnerung an 1918/19 im geteilten Deutschland Wolfgang Niess 1. VORBEMERKUNG: DEUTUNGEN DER REVOLUTION VOR 1945 Schon in den Jahren der Weimarer Republik war die Revolution von 1918/19 eine „ungeliebte“ Revolution. Je nach politischer Orientierung deutete man sie als Vaterlandsverrat oder als Verrat an Kaiser und Kaiserreich. Sie galt als Dolchstoß in den Rücken des Heeres, der wesentlich verantwortlich war für die militärische Niederlage im Weltkrieg. Man sah in ihr ein nationales Unglück oder eine unnötige Störung des geordneten Reformprozesses, der 1917 begonnen hatte. Während die einen betonten, sie sei in erster Linie ein Abwehrkampf gegen den drohenden Bolschewismus gewesen, erkannten die anderen im Revolutionsgeschehen vor allem einen großen Verrat der Sozialdemokratie. Auch als versäumte Chance der Demokratisierung wurde die Revolution bereits in der Zeit der Weimarer Republik betrachtet, und schon nach wenigen Monaten war auch die Meinung verbreitet, es habe sich bei dem Geschehen zwischen November 1918 und Sommer 1919 um gar keine wirkliche Revolution gehandelt. Lediglich die vom Vorwärts repräsentierte Hauptströmung der Sozialdemokratie sah die Revolution von 1918/19 – trotz aller Kritik im einzelnen – als Geburtsstunde der deutschen Demokratie und erinnerte im positiven Sinn an den 9. November 1918.1 Der offiziöse Staats-Gedenkband Zehn Jahre deutsche Geschichte stellte sich 1928 selbstverständlich klar auf den Boden der Republik, distanzierte sich aber genauso klar von den revolutionären Wurzeln dieser Republik. Ausgerechnet Gustav Noske, zunächst als Volksbeauftragter, dann als Minister verantwortlich für die äußerst blutige Niederschlagung von Streiks und Aufständen im Frühjahr 1919, schrieb für diesen Band das Revolutionskapitel. Dessen Überschrift: Die Abwehr des Bolschewismus.2 Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten verengte sich die Deutungsspanne massiv. In Hitlers Augen war die Novemberrevolution nicht nur verantwortlich für die deutsche Niederlage, sie war Hochverrat und Landesverrat. Für ihn persönlich war sie ein Alptraum. Die Novemberverbrecher müssten zur Rechenschaft   1 2  

Vgl. Niess (2013): Revolution 1918/19 in der Geschichtsschreibung, S. 17–124. Noske (1928): Abwehr, S. 21.

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gezogen werden, hatte er schon vor 1933 in unzähligen Reden gefordert. Die Errichtung des so genannten Dritten Reiches war die Antwort des Nationalsozialismus auf die Novemberrevolution.3 Man kann durchaus von einem Novembersyndrom der NSDAP sprechen. Der Putschversuch von 1923, die Gründung der SS im Jahr 1925 und die Judenpogrome von 1938 wurden gezielt und symbolträchtig auf den 9. November terminiert. Die Korrektur des November 1918 wurde stets als eines der herausragenden Ziele der NS-Bewegung propagiert. Eine genuin nationalsozialistische Deutung der Revolution von 1918/19 lässt sich jedoch nicht ausmachen. Untersucht man Gesamtdarstellungen damaliger deutscher Historiker zur deutschen Geschichte, dann zeigt sich, dass 1933 Kontinuität dominierte und keine substanziellen Überarbeitungen der Texte nötig waren oder schienen. Generationsübergreifend hatte die Historikerschaft der Weimarer Republik ihre wichtigste Aufgabe darin gesehen, ihren Beitrag zu einer Revision des Versailler Vertragssystems zu leisten. Daran änderte sich nach 1933 nichts. Im Protest gegen den Versailler Vertrag wurzelte auch ein großer Teil der Zustimmung für die Revisions- und Eroberungspolitik Hitlers. Es bedurfte keines politischen Drucks, diese Geschichtswissenschaft von intensiverer Beschäftigung mit dem Novemberverbrechen abzuhalten. Für die in Deutschland verbliebenen Historiker war die Revolution von 1918/19 auch nach 1933 kein Thema. Völlig anders stellte sich die Situation für diejenigen Deutschen dar, die ab 1933 vom Regime verfolgt wurden. Für die gesamte politische Linke, aber auch für liberale Demokraten bedeuteten der Machtantritt Hitlers und die rasche Stabilisierung des nationalsozialistischen Regimes einen entscheidenden Einschnitt, der um so mehr zum neuen Fluchtpunkt jeder Geschichtsbetrachtung wurde, je mehr das Regime seine terroristischen Seiten offenbarte. Die Rahmenbedingungen für die Deutung der Revolution von 1918/19 änderten sich grundlegend. In der Sozialdemokratie begann bereits 1933 ein neues und sehr kritisches Nachdenken darüber, ob nicht in der Revolutionszeit entscheidendes versäumt worden sei. Julius Leber beispielsweise beklagte in seinen „Gedanken zum Verbot der deutschen Sozialdemokratie“ – geschrieben im Gefängnis im Juni 1933, veröffentlicht 1952 – den bewussten oder unbewussten Verzicht der führenden Sozialdemokraten auf die Revolution. Unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Republik deutete Leber die Revolution von 1918/19 als verpasste Chance der Demokratisierung und machte dafür ein Versagen der Führung verantwortlich.4 Der Gedanke, dass Versäumnisse während der Revolutionszeit zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen haben könnten, wurde jedoch nicht nur unter Sozialdemokraten vertreten, sondern auch von emigrierten liberalen Demokraten wie Theodor Wolff5 und Hellmut von Gerlach.6 Nach wie vor gab es allerdings auch   3 4 5 6  

Mommsen, Hans (1989): Freiheit, S. 8. Leber (1952): Gedanken, S. 190. Wolff (1936): Marsch, zit. nach: Miller / Ritter (1968): November-Revolution, S. 20. Gerlach (1937): Von Rechts, zit. nach: Miller / Ritter (1968): November-Revolution, S. 19.

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ehemals führende Sozialdemokraten, namentlich Otto Braun7 und Friedrich Stampfer,8 die an der Deutung der Revolution als Abwehrkampf gegen die bolschewistische Gefahr festhielten. Von herausragender Bedeutung für die weitere Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19 war Arthur Rosenbergs Geschichte der Deutschen Republik, die erstmals 1935 in Karlsbad erschien. Rosenberg war Althistoriker und hatte aus rassistischen Gründen 1933 die Lehrbefugnis verloren. Er hatte bis 1927 der KPD angehört und war Mitglied des Reichstags gewesen, sich dann jedoch dem linken Flügel der SPD angenähert. Ein unabhängiger linker Kopf also, eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Historikern der Weimarer Republik. Rosenberg emigrierte zunächst nach Zürich, dann nach England, schließlich in die USA, wo er Professor für Geschichte am Brooklyn College in New York wurde. Rosenbergs Darstellung stand ganz unter dem Eindruck des Scheiterns der Republik. Als große Leitfrage durchzog die Suche nach Versäumnissen und Fehlern das gesamte Buch. Rosenberg deutete die Revolution von 1918/19 als verpasste Chance der Demokratisierung. Er sah den Bolschewismus nicht als akut drohende Gefahr und die Räte der ersten Revolutionsphase als sehr stark sozialdemokratisch geprägt. Bei anderer Politik der führenden Sozialdemokraten beider Parteien und anderer parteipolitischer Struktur der sozialistischen Arbeiterbewegung hätte sich, so Rosenbergs These, durch eingreifende Reformen eine demokratische Republik mit stabilerer Grundlage schaffen lassen. Ausdrücklich kritisierte er die Militärpolitik der Volksbeauftragten, ihren vollständigen Verzicht auf Reformen im Verwaltungs- und Justizapparat sowie ihren Verzicht auf ernsthafte Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse beim Großgrundbesitz und beim Bergbau. Für einen großen Fehler hielt Rosenberg es auch, dass die Republikaner sich nicht zu einer umfassenden Aufklärung der Kriegsursachen entschließen konnten.9 Rosenbergs Geschichte der Deutschen Republik wurde bereits in den Dreißigerjahren in zahlreiche Sprachen übersetzt und war vor allem in den USA und in England einflussreich. Das Buch traf dort auf eine politische Klasse und eine Historikerschaft, die sich insbesondere nach Kriegsbeginn intensiv mit dem deutschen Problem beschäftigten. Zweimal im Verlauf kurzer Zeit hatte Deutschland Europa mit Krieg überzogen. Es stellte sich die Frage nach den Ursachen, und sie wurden auch in der deutschen Geschichte gesucht. Insbesondere war zu klären, welche Fehler möglicherweise 1918/19 gemacht worden waren. Rosenberg lieferte dazu in den Augen der angelsächsischen Historiker plausible Ansätze, die sie in ihren Publikationen aufgriffen.

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Braun (1940): Von Weimar zu Hitler. Stampfer (1947): Die vierzehn Jahre. Rosenberg (1961): Entstehung und Geschichte, S. 92.

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2. DIE DEUTUNGEN DER REVOLUTION IM WESTEN Mit dem Ende des Nationalsozialismus verschwanden einige der zuvor sehr dominierenden Deutungsmuster der Revolution sang- und klanglos. Von Verrat am Kaiser und Kaiserreich war jetzt nicht mehr die Rede, auch nicht von Vaterlandsverrat oder einem nationalen Unglück. Die Dolchstoßthese, die in der Weimarer Republik das politische Klima geprägt und vergiftet hatte, wurde ohne jede Diskussion verabschiedet. Man war sich jetzt einig, dass es sich um eine Legende gehandelt hatte. Im Übrigen aber war der Umgang mit der Novemberrevolution in den westlichen Besatzungszonen ein völlig anderer als in der sowjetischen Besatzungszone. Im Westen war sie kein Bezugspunkt bei aktuellen politischen Überlegungen. Selbst in historisch-politisch argumentierenden Aufrufen aus den Reihen der Sozialdemokratie ging es in allererster Linie um die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und die Notwendigkeit, jetzt ein friedliches und demokratisches Deutschland neu aufzubauen. Auf die Revolution von 1918/19 wurde nicht Bezug genommen. Die sozialdemokratische Memoirenliteratur der späten Vierzigerjahre knüpfte an die Revolutionsdeutung an, die auch in der Weimarer Republik in den Erinnerungen der SPD-Spitze vorherrschend war: Das wesentliche Merkmal der Revolution von 1918/19 war in diesen Darstellungen die Abwehr der bolschewistischen Gefahr.10 In den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren waren es vor allem Werke angelsächsischer Historiker, die sich mit der Weimarer Republik und der Revolutionszeit beschäftigten. Sie formulierten deutliche Kritik an der Politik der SPD-Führung in der Revolutionszeit und vertraten die Meinung, ein klarer Bruch mit der Vergangenheit hätte der Weimarer Republik eine stabilere Basis geben können. Vorherrschendes Urteil in der angelsächsischen Literatur der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre war es, die Revolution von 1918/19 als versäumte Chance der Demokratisierung zu deuten. Es ist sicher auch nicht falsch, dies mit einem gewissen Einfluss Arthur Rosenbergs in Verbindung zu bringen, der im Exil seine Bücher über die Entstehung und die Geschichte der deutschen Republik veröffentlicht hatte. Aber diese Revolutionsdeutung passte zugleich vorzüglich in die politische Gesamtsituation, wie sie sich aus der Perspektive der westlichen Alliierten darstellte. Sie untermauerte als historisches Argument das politische Bestreben, nun die demokratischen Reformen nachzuholen, die 1918/19 unterblieben waren. Die deutsche Geschichtswissenschaft war in den unmittelbaren Nachkriegsjahren dagegen vor allem mit Schadensbegrenzung befasst. Die Revolution von 1918/19 gehörte nicht zu ihren Themen. Theodor Eschenburg hat 1951 als einer der ersten Wissenschaftler über die Weimarer Republik geschrieben. Sein großer Essay hat sich zur Hälfte mit dem Bismarck-Reich beschäftigt, ging dann auf die Oktoberreform ein und in großem   10 Vgl. z. B.: Noske (1947): Erlebtes; Braun (1949): Von Weimar zu Hitler; Severing (1950): Mein Lebensweg.  

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Schwung über die Revolutionszeit hinweg zur Weimarer Verfassung. Die improvisierte Demokratie11 sah er als Notlösung, die Situation habe keine andere Regelung zugelassen – mit Ausnahme der Diktatur des Proletariats. Die Revolution erschien als unnötige Störung eines ohnehin überhasteten Reformprozesses, die Abwehr des Bolschewismus als ihr wesentliches Merkmal. Ein Motiv für eine Revolution vermochte Eschenburg nicht zu erkennen, er konstatierte weitgehende Zufriedenheit der Deutschen mit der Gesellschaft des Kaiserreichs. Ähnlich sah das der liberale Erich Eyck. In seiner zweibändigen Geschichte der Weimarer Republik nannte er 1954 die Frage: „Deutsche Demokratie oder Diktatur des Proletariats nach russischem Muster?“ den wahren Streitpunkt der Revolutionszeit.12 Auch Herzfeld13 und Conze14 betonten die Abwehr des Bolschewismus. In dieser Publikationslandschaft wirkte Walter Tormins Studie über die Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19 wie ein Fremdkörper, sie erschien 1954 unter dem Titel Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Tormin kam zu dem Urteil, bei den Arbeiter- und Soldatenräten habe es sich keineswegs um bolschewistische Kampforgane gehandelt, die Gefahr einer bolschewistischen Unterwanderung oder gar Machtübernahme sei gering gewesen. Es sei ihnen um eine parlamentarische Demokratie gegangen, die die Möglichkeit bot, den Sozialismus einzuführen.15 Das große Thema der Revolution sei die Demokratisierung der Gesellschaft, insbesondere auch die Sozialisierung der Wirtschaft gewesen. Er deutete die Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung. In der Literatur wird Tormins Arbeit gelegentlich als Vorläufer von Eberhard Kolbs großer Studie über die Arbeiterräte aus dem Jahr 1962 gesehen. Bei genauerer Betrachtung rückt sie das jedoch in den falschen Kontext. Tormin hatte seine Dissertation bereits Mitte 1952 abgeschlossen. Er schrieb sie primär in Auseinandersetzung mit den angelsächsischen Autoren und den Thesen Arthur Rosenbergs, die Ende der Vierziger- und Anfang der Fünfzigerjahre einflussreich waren. Ausdrücklich grenzte er sich in einem – für ihn offenbar wichtigen – Punkt von Rosenberg und den Angelsachsen ab: Er bewertete die Rolle der SPD positiver.16 Als die Arbeit dann aber 1954 gedruckt wurde, wirkte diese Auseinandersetzung bereits überholt, denn inzwischen hatte sich in der Bundesrepublik ohne große Debatte eine andere Revolutionsdeutung durchgesetzt, die die Revolution nicht als versäumte Chance der Demokratisierung, sondern als erfolgreichen Abwehrkampf gegen die bolschewistische Gefahr charakterisierte. Mit dieser Deutung aber setzte sich Tormin in seiner gesamten Schrift nicht auseinander – auch ein Indiz dafür, wie schnell sich das vorherrschende Bild in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre verändert hatte. Tormins Arbeit blieb ohne jeden Einfluss auf die in den Fünfzigerjahren erarbeiteten Handbuchdarstellungen, obwohl sie damals die mit Abstand gründlichste und   11 12 13 14 15 16

Eschenburg (1951): Die improvisierte Demokratie. Eyck (1954): Geschichte der Weimarer Republik. Bd 1, S. 72. Herzfeld (1952): Die moderne Welt. Conze (1953): Die Weimarer Republik, S. 620. Tormin (1954): Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie, S. 135. Ebd., S. 132.

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ausführlichste Aufarbeitung der Revolution von 1918/19 darstellte. Sie fand auch keine Berücksichtigung, als sich Karl Dietrich Erdmann 1955 in einem Zeitschriftenbeitrag mit der Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft beschäftigte und dabei einen Überblick über wichtige in den Jahren zuvor erschienene Literatur gab. Dieser bis heute viel zitierte Aufsatz ist eines der zentralen Dokumente der Geschichtsschreibung über die Revolution von 1918/19. Dabei stand sie keineswegs im Mittelpunkt von Erdmanns Interesse. Dreh- und Angelpunkt in Erdmanns Argumentation waren geschichtspolitische Überlegungen im Zusammenhang mit dem Jahr 1933. Sein Bemühen galt nach eigenem Bekunden dem Ziel, den elementaren Bruch, den der Machtantritt Hitlers nach seiner Überzeugung in der deutschen Geschichte darstellte, möglichst klar und deutlich herauszustellen. Jede andere Sichtweise war in seinen Augen nicht hinnehmbar, weil sich daraus inakzeptable Folgen für das deutsche Geschichtsbild insgesamt ergeben hätten: „Während die Forschung, wenn anders sie nicht in einer Kollektivverurteilung der deutschen Geschichte enden will [!], notwendigerweise [!] davon ausgeht, daß sich im Jahre 1933 ein Bruch in unserer Tradition vollzogen hat“, formulierte Erdmann, und kritisierte, man habe „in der historisch-politischen Literatur doch auch Stimmen der Verzweiflung oder des Hasses [!] gehört, die das Jahr 1933 und das, wohin es geführt hat, das logische Gesamtergebnis, die Quintessenz der deutschen Geschichte nannten. Der Wechsel von der Republik zur Diktatur erschien dann nicht mehr als ein Bruch.“17 Es ging Erdmann also um rein geschichtspolitische Zusammenhänge, um den Stellenwert des Nationalsozialismus in der deutschen Nationalgeschichte: Je stärker Geburtsfehler und Strukturprobleme der Weimarer Republik betont werden, desto weniger radikal und tief erscheint der Bruch des Jahres 1933 – und desto mehr das nationalsozialistische Deutschland als irgendwie doch integrierter Bestandteil der deutschen Geschichte. Je mehr andererseits die Grundentscheidung für die konkrete Weimarer Republik als im Prinzip richtig und alternativlos erscheint, desto klarer wird das NS-Regime als nicht zu verhindernder Katastrophenfall aus der deutschen Geschichte ausgegrenzt. Erdmann hatte zuvor nie über die Revolutionszeit 1918/19 geforscht, formulierte nun aber die einprägsamen, seither wohl am häufigsten zitierten Sätze über das Geschehen. Der Entscheidungsspielraum in den Revolutionsmonaten habe sich beschränkt „auf die Wahl zwischen einem konkreten Entweder – Oder: die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Diktatur drängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen, wie dem alten Offizierskorps“.18 Hinter dieser Deutung standen die maßgeblichen Repräsentanten der Zunft. Sie knüpfte nicht einfach nur an Darstellungen aus der Zeit der Weimarer Republik an, sondern war eine klare geschichtspolitisch motivierte Abgrenzung von der kurze   17 Erdmann (1955): Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, S. 5f. 18 Ebd., S. 7.

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Zeit vorherrschenden Deutung der angelsächsischen Historiker, die in Übereinstimmung mit Rosenberg die Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung gedeutet hatten. Die westdeutschen Historiker haben zwar nach 1945 die demokratische Neuordnung mit Entschiedenheit begrüßt – anders als in der Zeit der Ersten Republik, die sie mehrheitlich abgelehnt haben. Sie bezogen – wenigstens im Nachhinein – klar Position gegen den Nationalsozialismus und versuchten zugleich, möglichst viel von der überlieferten deutschen Nationalgeschichte zu retten. Eine Generalrevision des Geschichtsbildes kam für sie nicht in Frage. Von elementarer geschichtspolitischer Bedeutung war die vorherrschende Tendenz, „das Dritte Reich als zusammenhanglose Einzelerscheinung zu kennzeichnen“19 und damit aus dem Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte auszuklammern. Die Deutung der Revolution von 1918/19 als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus passte zugleich vorzüglich in die internationale Stimmungslage des Kalten Krieges und entsprach auch der inneren Verfassung der Adenauerschen Bundesrepublik. Widerspruch gegen diese Deutung kam in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre aus den Reihen jüngerer Historiker. Eine herausragende Rolle spielte dabei Erich Matthias. 1956 meldete er sich – nicht in einer der etablierten historischen Zeitschriften, sondern im SPD-Theorieorgan Die neue Gesellschaft – mit einer direkten Replik auf Karl Dietrich Erdmann zu Wort. Er betonte, dass die breite Mitte der gemäßigt sozialistisch-demokratischen deutschen Arbeiterschaft hätte zum Kristallisationskern und zum sozialen Träger eines nationalen demokratischen Integrationsprozesses werden können. Es habe in der Revolutionszeit nicht zu übersehende Ansätze zu einer volkstümlichen aktiven Demokratie gegeben und nicht nur die von Erdmann formulierte Alternative.20 Ganz offenkundig war hier ein kritischer Sozialdemokrat auf der Suche nach unverwirklichten Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus. In den folgenden Jahren begann eine rege Forschungstätigkeit junger Historiker. Ihre Forschungsarbeiten formulierten unisono erhebliche Zweifel an der vorherrschenden Deutung der Revolution. Peter von Oertzen kam 1958 bei seiner Untersuchung der großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919 zu dem Ergebnis, dass eine konstruktive Sozialisierungspolitik und eine sinnvolle Zusammenarbeit mit der wirtschaftlichen Rätebewegung möglich gewesen wäre, und dass eine solche Politik die Demokratie besser hätte sichern können als die tatsächlich praktizierte Politik der Unterdrückung.21 Große Aufmerksamkeit fand die 1962 gedruckte Dissertation Eberhard Kolbs über Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–1919, die auf der Basis umfangreichen Archivmaterials eine Neubewertung der Rätebewegung vornahm. Die Regierung, so Kolbs Überzeugung, hätte in den Räten ein zuverlässiges Instrument beim Neubau des Staates in der Hand gehabt, wenn sie sich dazu entschieden   19 Mommsen (1974): Haupttendenzen nach 1945, S. 117. 20 Matthias (1956): Zur Geschichte der Weimarer Republik, S. 313. 21 v. Oertzen (1958): Die großen Streiks, S. 261f.  

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hätte, von ihm Gebrauch zu machen.22 Die Forderung nach Demokratisierung der Verwaltung sei Ausdruck für das Verlangen weiter Bevölkerungsschichten nach einer entschlossenen Ausgestaltung der Republik gewesen. Der politische Spielraum der Handelnden sei von November bis Januar weitaus größer gewesen als die bisherige Deutung annehme. Die Radikalisierung der Bewegung im Winter und Frühjahr 1919 sei Folge und nicht Ursache der sozialdemokratischen Politik gewesen. Das Bild einer verpassten Chance der Demokratisierung bestätigten auch die Dissertationen von Hans Schieck Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik nach dem Novemberumsturz 191823 und Wolfgang Elben über Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919.24 Von Oertzens 1963 veröffentlichte Habilitationsschrift über Betriebsräte in der Novemberrevolution widmete sich den wirtschaftlichen Räten der zweiten Revolutionsphase und unterstrich, ein Rätesystem für die Wirtschaft sei die Forderung einer breiten Strömung in der sozialistischen Arbeiterschaft Deutschlands gewesen. Sie habe zumindest eine soziale Demokratie verlangt, „die als erster Schritt auf dem Wege zum Sozialismus gelten konnte.“25 Gegen Erdmann gewandt, formulierte von Oertzen: „Die einzige wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie war nicht der ‚Bolschewismus‘, sondern eine auf die Räte gestützte soziale Demokratie.“26 Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die zuvor völlig vernachlässigte Revolution von 1918/19 zu einem bedeutsamen Thema der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Beim Historikertag 1964 wurde die neue Interpretation der Revolution in einer eigenen Sektion diskutiert. Eine andere beschäftigte sich mit den deutschen Kriegszielen im Ersten Weltkrieg, und das war zweifellos die Sektion, in der damals größerer Sprengstoff steckte. In der Revolutionssektion fasste am Ende einer lebhaften aber keineswegs hitzigen Debatte Eberhard Kolb zusammen, dass nun wieder diskutierbar geworden sei, welchen Spielraum SPD und Regierung in der Revolutionszeit besessen hätten.27 Zutreffend stellte Winkler später fest, mit dieser Debatte habe Erdmanns These aufgehört, die herrschende Lehre zu repräsentieren.28 Diese Öffnung der Perspektiven wurde angestoßen durch im weitesten Sinn politisch motivierte Fragestellungen und veränderten Zeitgeist. Sie fand zu einem Zeitpunkt statt, zu dem in Politik und Gesellschaft vieles in Frage gestellt wurde. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess beendete 1958 jahrelanges Schweigen über die NS-Verbrechen. Die Einrichtung der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen im Jahr 1958 trug viel dazu bei, dass in den Sechzigerjahren weitere, großes   22 23 24 25 26 27 28

Kolb (1962): Arbeiterräte, S. 113. Schieck (1958): Der Kampf um die deutsche Wirtschaftspolitik. Elben (1965): Das Problem der Kontinuität. Von Oertzen (1963): Betriebsräte in der Novemberrevolution, S. 59f. Ebd., S. 67. Ohne Autor (1965): Bericht über die 26. Versammlung deutscher Historiker, S. 50. Winkler (2002): Ein umstrittener Wendepunkt, S. 34.

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Aufsehen erregende Prozesse stattfinden konnten. Das politische Führungspersonal in Bonn schien manchem nicht mehr zeitgemäß. Seit 1959 gab es auch in der Unionsfraktion massive Bestrebungen, Konrad Adenauer als Bundeskanzler abzulösen. Die Adenauersche Kanzlerdemokratie mit ihren autoritären Strukturen galt als überholt und nicht geeignet, eine moderne Gesellschaft voranzubringen. Die KubaKrise führte 1962 überdeutlich vor Augen, wie risikobehaftet die bisherigen Konzepte und Strategien westlicher wie östlicher Weltpolitik waren. Der Kalte Krieg konnte kein Zukunftsmodell sein. Die deutsche Außenpolitik geriet mit ihrer Hallstein-Doktrin immer mehr in die Sackgasse. Öffnung der Perspektiven nach außen wie nach innen war das Gebot der Stunde. Das spiegelte sich auch generell in der deutschen Geschichtswissenschaft wider. Nun aufkommende kritische Distanz gegenüber der eigenen historiographischen Tradition, Offenheit gegenüber methodischen Anregungen aus dem westlichen Ausland und aus den Nachbarwissenschaften und nicht zuletzt eine massive Ausweitung der universitären Geschichtswissenschaft und der mit ihr rasch vorankommende Generationswechsel leiteten eine Modernisierung ein. Die Anstöße dazu kamen vorwiegend aus dem politischen und gesellschaftlichen Raum. Sie hatten jedoch nicht ursächlich mit der viel zitierten 68er-Bewegung zu tun, sondern lagen schon rein zeitlich deutlich vor der Protestbewegung. Die schon Ende der Fünfzigerjahre einsetzende Neubeurteilung der Revolution von 1918/19 darf vielmehr als Indiz dafür betrachtet werden, dass der gesellschaftliche Aufbruch viel früher begann, als der auf 1967/68 fixierte Blick es vielfach wahrnimmt. Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 fiel allerdings in diesem veränderten Meinungsklima auf fruchtbarsten Boden. Die Deutung der Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung setzte sich innerhalb kürzester Zeit in einer breiteren Öffentlichkeit durch. Das Jubiläumsjahr 1968 brachte journalistisch wie publizistisch einen ausgeprägten Revolutionsboom. Der kritische Blick, den die wissenschaftliche Forschung und Geschichtsschreibung auf die Politik der SPDSpitze und des Rates der Volksbeauftragten warf, wurde in der nichtwissenschaftlichen Geschichtskultur mitunter massiv zugespitzt. Im Ergebnis deuteten einzelne Autoren die Revolution sogar als verratene Revolution,29 was in der bundesdeutschen Forschung keinerlei Unterstützung fand. In den Jahren der sozialliberalen Koalition ab 1969 schien sich die Deutung der Revolution als verpasste Chance der Demokratisierung zu verstetigen. Sie passte gut in die neue Zeit, die in vielerlei Hinsicht Abschied von Überkommenem genommen hat. Kaum gewählt, machte Willy Brandt vor Journalisten deutlich, dass er sich nicht als Kanzler „eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschland“ sehe.30 Erstmals nahm dann eine Bundesregierung im Deutschen Bundestag offiziell zum Ende des Zweiten Weltkriegs Stellung, und der Bundeskanzler warb intensiv für eine Aussöhnung mit den Opfern, besonders im Osten. Noch im selben Jahr 1970 wurden der Moskauer und der Warschauer Vertrag unterzeichnet, verbunden   29 Haffner (1969): Die verratene Revolution. 30 Zit. nach Wolfrum (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 273.  

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mit der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. In heftiger Auseinandersetzung mit der starren Oppositionshaltung der Union fand zu Beginn der Siebzigerjahre ein geschichtspolitisch vorangetriebener „zweiter Gründungsakt der Bundesrepublik“31 statt. Bedeutsam waren in diesem Prozess auch die Initiativen des Bundespräsidenten Gustav Heinemann, die systematisch darauf zielten, die Bundesrepublik durch die Wiederentdeckung der Revolution von 1848/49 und anderer Demokratiebewegungen in eine eigenständige freiheitlich-demokratische Tradition zu stellen. Unter Fachhistorikern, die der Sozialdemokratie nahe standen, entwickelte sich in den Siebzigerjahren ein durchaus kritischer Diskurs über die Revolution von 1918/19. Richard Löwenthal, Susanne Miller und Heinrich August Winkler akzeptierten im Wesentlichen die Ergebnisse der Revolutionsforschung seit den späten Fünfzigerjahren, formulierten jedoch Einwände gegen einzelne Aspekte der Deutung. So wurde beispielsweise der Verlauf der Rätebewegung kritischer und differenzierter gesehen. Zugleich arbeitete man in diesem Diskurs heraus, dass es im November/Dezember 1918 um die stabilere Fundierung einer parlamentarischen Demokratie gegangen sei. Die Kritik an der Politik der Sozialdemokratie in der Revolutionszeit fiel im Verlauf der Diskussion weniger massiv aus, man richtete den Blick auch auf die Mitverantwortung der USPD-Spitze und der radikalen Linken für den Verlauf der Revolution. Winklers Formel „Die Sozialdemokraten hätten bei stärkerem politischem Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen“32 erwies sich in den beginnenden Achtzigerjahren als konsensfähig für einen Großteil der an der Forschungsdiskussion Beteiligten. Völlig unabhängig von diesem Diskurs wurden in den späten Siebzigerjahren die Ergebnisse der Revolutionsforschung jedoch radikal in Frage gestellt. Revolutionsforschung geriet immer stärker unter politischen Generalverdacht. Offensichtlich wurde das in einem Zeitschriftenaufsatz, den Eckhard Jesse und Henning Köhler 1978 veröffentlichten – beide Autoren waren bis dahin nicht mit Publikationen zur Revolution von 1918/19 in Erscheinung getreten. Mit Vermutungen, Verdächtigungen und Unterstellungen zielten sie darauf, die neuere Forschung insgesamt als politisch gesteuert oder zumindest motiviert in Misskredit zu bringen. Sich selbst präsentierten sie als aufrechte Streiter gegen den Meinungsdruck der Linken. Sie plädierten für eine „Revision der herrschenden Richtung“33 und warfen einem beträchtlichen Teil der Forschung vor, er habe neue Legenden hervorgebracht. Mit wissenschaftlichem Diskurs hatte der Beitrag von Jesse/Köhler wenig zu tun. Hier ging es um Geschichtspolitik. Der Beitrag wurde in der Folge häufig als Beleg für die Aussage herangezogen, die Beurteilung der Revolution von 1918/19 sei umstritten. Insofern hatten die Autoren ihr wesentliches geschichtspolitisches Ziel erreicht.   31 Wolfrum (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 276. 32 Winkler (1982): Vorbemerkung, S. 5. 33 Jesse / Köhler (1978): Die deutsche Revolution, S. 23.

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Zu verstehen sind diese Polemiken um die Deutung der Revolution von 1918/19 seit dem Ende der Siebzigerjahre nur, wenn sie in den größeren politischen Kontext gestellt werden. Der Reformkurs der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt war 1973 ins Stocken geraten. Brandt selbst trat 1974 als Kanzler zurück, was von vielen als Ende einer Ära wahrgenommen wurde. Sein Nachfolger wurde Helmut Schmidt, der sich eher durch Nüchternheit und Pragmatismus auszeichnete. Der Terrorismus der RAF erreichte 1977 seinen Höhepunkt. Zugleich nahmen die ökonomischen Probleme im Zuge der zweiten Ölpreiskrise 1979/80 zu. Von der Aufbruchsstimmung der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre war nichts mehr zu spüren, die Zukunftserwartungen veränderten sich grundlegend. Tendenzwende reüssierte zum neuen Leitbegriff. Im konservativen politischen Lager gab es nun Bestrebungen, die nationale Identität wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Als Helmut Kohl nach seinem Regierungsantritt ankündige, eine geistig-moralische Wende einleiten zu wollen, herrschte im links-liberalen Lager Alarmstimmung. Kohls Pläne für ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik weckten Befürchtungen, hier solle geschichtspolitisch eingegriffen und ein neokonservativ eingefärbtes Geschichtsbild zur künstlichen Identitätsstiftung vermittelt werden. Linksliberale Intellektuelle fürchteten eine Kulturrevolution von rechts. Es war vor allem der Philosoph Jürgen Habermas, der den Widerstand anführte. Die große Auseinandersetzung über die geistige Orientierung der Bundesrepublik zwischen dem linksliberalen und dem konservativen Lager fand in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre im so genannten Historikerstreit statt. Am Ende einer erbitterten, mit persönlichen Diffamierungen und großer Härte geführten Auseinandersetzung waren die Entsorgung der nationalsozialistischen Vergangenheit und eine Kulturrevolution von rechts verhindert. Zugleich hatte das linksliberale Lager mehr als je zuvor die konkret existierende Bundesrepublik aufgrund ihrer geistigen, politischen und kulturellen Westbindung als ihre Republik entdeckt.34 Diese große Auseinandersetzung über die Geschichtskultur der Bundesrepublik spiegelte sich im Streit über die Deutung der Revolution von 1918/19. Der im Historikerstreit kulminierende Lagerkampf war auch hier zu beobachten: auf der einen Seite die Deutung der Revolution als versäumte Chance der Demokratisierung, auf der anderen ihre Charakterisierung als Abwehrkampf gegen den Bolschewismus, dazwischen Polemik oder Sprachlosigkeit, aber kein wissenschaftlicher Diskurs. Als die Auseinandersetzungen des Historikerstreits abebbten, war im Hinblick auf die Deutung der Revolution von 1918/19 eine umfassende Rückkehr zu Interpretationen der Fünfzigerjahre abgewehrt. Die eher linksliberale neuere Revolutionsforschung hatte allerdings im Zuge des Streits mit dem konservativen Lager und insbesondere aufgrund der verstärkten Identifikation mit der Bundesrepublik die möglicherweise vorhandenen weiterreichenden Ansätze in der Revolution von 1918/19 aus dem Blick verloren – und damit auch einen Teil der Motivation, sich mit ihr überhaupt zu befassen. So wie sich in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren das Interesse an der Beschäftigung mit dieser Revolution auch aus den politischen   34 Wolfrum (1999): Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 342.

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Bestreben speiste, eine umfassend demokratische Bundesrepublik zu erreichen, so schien nun die weitgehende Zufriedenheit mit der existierenden Republik jedes Interesse an der Revolution von 1918/19 zu lähmen. In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre geriet sie nach und nach zum randständigen Thema, über das kaum mehr geforscht und publiziert wurde. Auch in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik spielte die Revolution von 1918/19 nur noch eine marginale Rolle. 3. DIE DEUTUNGEN DER REVOLUTION IM OSTEN In der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR war die Novemberrevolution von Anfang an Gegenstand geschichtspolitischer Erwägungen. Die KPD und später die SED sah ihre eigene Politik im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Revolution. Keine Wiederholung der Fehler von 1918! war die Parole bereits im ersten Nachkriegsaufruf der KPD vom 11. Juni 1945. Die Novemberrevolution gehörte zum engsten Kreis derjenigen historischen Themen, über die allein und endgültig die Partei zu entscheiden hatte. Auch die SED war allerdings in ihrem Urteil über die Novemberrevolution nicht frei. Der von Stalin mindestens redigierte Kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B) hatte 1938 die deutsche Novemberrevolution als bürgerliche Revolution eingestuft und ausdrücklich nicht als sozialistische, weil die Räte in Deutschland von Sozialdemokraten beherrscht gewesen seien. Damit waren – verbindlich auch für deutsche Kommunisten – Grundlinien der Deutung der Novemberrevolution benannt. Der Parteivorstand der SED beschloss im September 1948 Leitlinien über den Charakter der Novemberrevolution, in denen sie als unvollendete bürgerliche Revolution eingestuft wurde, weil es ihr nicht einmal gelungen sei, die längst auf der Tagesordnung stehende bürgerliche Revolution erfolgreich zu Ende zu bringen.35 Wesentliche Parameter der Beurteilung waren das Fehlen einer revolutionären Partei und das Nichtzustandekommen eines engen Bündnisses mit der Sowjetrepublik. Als nicht verwirklichte Aufgaben wurden auch die „Zerschlagung des junkerlichbourgeoisen Staatsapparats“, die „Errichtung der Macht der Arbeiter- und Soldatenräte“, die „Beseitigung des Großgrundbesitzes“, die „Überführung der Großbetriebe, Banken und Kreditinstitute, Konzerne, Trusts und Bergwerke in die Hände des Volkes als Voraussetzung für eine sozialistische Entwicklung“36 genannt. Als entscheidende Frontstellung wurde die zwischen Spartakusbund/KPD auf der einen und den Kräften der Konterrevolution einschließlich der SPD-Spitze und der unentschiedenen USPD-Führung auf der anderen Seite hervorgehoben. Ausschlaggebende Frage sei die der politischen Macht gewesen: Rätedemokratie oder Parlamentarismus. Von zentraler Bedeutung war aus Sicht der SED die Erfahrung, dass die Arbeiterklasse nicht siegen könne ohne eine revolutionäre Partei, die auf dem   35 Parteivorstand der SED (1948): Die Novemberrevolution, S. 158. 36 Ebd., S. 156.  

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Boden des Marxismus-Leninismus stehe. Deshalb sei die wichtigste Lehre aus der Novemberrevolution, dass man die SED zu einer solchen Partei machen müsse.37 Vor allem in den Jahren 1957/58, im Vorfeld des 40. Jahrestages, fand dann eine auf den ersten Blick erstaunlich offene Debatte über die Novemberrevolution statt, die von Albert Schreiner angestoßen wurde, damals Abteilungsleiter für die Zeit von 1917 bis 1945 im Museum für Deutsche Geschichte. Schreiners Initiative war geschichtspolitischer Natur. In der Debatte darüber, ob die Novemberrevolution als sozialistisch oder als bürgerlich einzustufen sei, ging es auch um die Rolle der Spartakusgruppe im Verhältnis zu den Bolschewiki und um die Bedeutung der deutschen Revolution im Vergleich mit der russischen Oktoberrevolution. Ziel Schreiners war eine Art Ehrenrettung der deutschen Kommunisten, und zugleich wollte er wohl zumindest die theoretische Möglichkeit eines eigenen Weges der Deutschen zum Sozialismus/Kommunismus offen halten. Obwohl die Position Schreiners und seiner Mitstreiter klar von den Beschlüssen des Parteivorstands von 1948 abwich, wurde sie in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlicht.38 Auch beim deutsch-sowjetischen Historikertreffen im November 1957 wurde sie vertreten, schien sogar die Position der Mehrheit zu repräsentieren. Eine ganze Reihe von Indizien deutet allerdings darauf hin, dass bereits im Vorfeld in Moskau entschieden worden war, Schreiners Position entgegenzutreten. Noch im Verlauf des Kongresses wurde ein kurzfristig aufgenommener Vortrag des sowjetischen Historikers Jakov Drabkin verlesen, der gegen den sozialistischen Charakter der Revolution argumentierte, und Walter Nimtz als Vertreter der Parteihochschule der SED schloss sich dem an. Danach wurde hinter den Kulissen klar Schiff gemacht. Im Protokollband der Tagung fehlten jedenfalls die Beiträge, die Schreiners Initiative gestützt hatten, oder sie waren entsprechend umgeschrieben worden. Nachdem die sowjetische Führung eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt hatte, Walter Ulbricht als Generalsekretär der SED fallen zu lassen, nahm sie davon nun Abstand und überließ ihm die Verkündung der neuen Leitlinien. Offenbar hätten einige Genossen, so Ulbricht, nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 mit seiner Kritik an Fehlern des Genossen Stalin angenommen, man müsse auch die Einschätzung der Novemberrevolution korrigieren. Dabei seien ihnen jedoch Fehler unterlaufen, sie hätten grundlegende Erkenntnisse der materialistischen Geschichtsauffassung negiert.39 Näheres führte Ulbricht nicht aus, aber er machte deutlich, welchen Stellenwert SED und KPdSU der Debatte beimaßen. Hier gehe es nicht um irgendein Ereignis, sondern um die größte revolutionäre Massenbewegung nach dem deutschen Bauernkrieg, es gehe um die Grundfrage der Politik der SED. Die offizielle Formel lautete nun, die Novemberrevolution sei   37 Ebd., S. 167. 38 Schreiner (1958): Auswirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland. 39 Ulbricht (1958): Über den Charakter der Novemberrevolution, S. 718.  

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„eine bürgerlich-demokratische Revolution, die in gewissem Umfang mit proletarischen Mitteln und Methoden durchgeführt wurde“.40 Vergleicht man die verordneten bzw. vorherrschenden Revolutionsdeutungen und Revolutionsdarstellungen der Fünfzigerjahre in der DDR und der Bundesrepublik, so sind bemerkenswerte Relationen festzustellen. Im Westen wurde die Gefahr des Bolschewismus beschworen, die der SPD-Spitze keine andere Möglichkeiten gelassen habe, als eng mit den alten Mächten zusammenzuarbeiten, in der DDR betonte man die große Bedeutung der kleinen Spartakusgruppe und rückte die sozialdemokratische Führung fest an die Seite der bürgerlichen Reaktion. So entstand eine Art von gesamtdeutschem Geschichtsbild, das sich trotz aller gegenseitigen Polemik zu einer komplementären Einheit fügte. Im Ergebnis waren beide Seiten lange Zeit auf dieselben angeblichen Alternativen fixiert: Räte oder Nationalversammlung, Bolschewismus oder Weimarer Republik. Lediglich die Bewertungen in diesem Deutungsmodell standen im schärfsten inhaltlichen Gegensatz. Trotz der Festlegung der Revolutionsdeutung in einer kanonischen Formel gab es in den folgenden Jahren in der DDR immer wieder kleinere Veränderungen und Neuansätze, in denen sich das jeweils herrschende Meinungsklima innerhalb der SED widerspiegelte. Mit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker verlor die Novemberrevolution dann allerdings den hohen Stellenwert, den sie bis dahin hatte. Der Wechsel an der Parteispitze war Ausdruck tiefgreifender Veränderungen, zu denen auch ein geschichtspolitischer Perspektivwechsel gehörte. Die DDR der Ulbricht-Ära hatte sich als „revolutionäre Gestaltungsgesellschaft“41 verstanden und ihre Wurzeln vor allem in der Geschichte der Arbeiterbewegung gesehen. In der offiziellen Traditions- und Erinnerungskultur der Honecker-Ära knüpfte man nun verstärkt an das nationale Erbe an. Das entsprach der Entwicklung der DDR zum etablierten, äußerlich anerkannten Staatswesen. Luther und Preußen, um es plakativ zu formulieren, wurden wichtiger, die Novemberrevolution geriet in den Hintergrund und wurde vielfach nur noch im Kontext der KPD-Gründung angesprochen. In der Bundesrepublik wurden diese Tendenzen durchaus zur Kenntnis genommen, zumal sie auch dem nachlassenden Forschungsinteresse im Westen entsprachen. Desinteresse und Stagnation prägten im Hinblick auf die Novemberrevolution auch die erste Hälfte der Achtzigerjahre in der DDR. Insbesondere die Arbeit am Großprojekt einer zwölfbändigen Deutschen Geschichte zeigte dann aber, dass die Dinge in Bewegung kamen. Zwischen Historikern des Instituts für Marxismus-Leninismus und Akademie-Historikern kam es unter anderem zu heftigen internen Auseinandersetzungen über die Bewertung der Weimarer Republik.42 Joachim Petzold, Leiter des Autorenkollektivs für den einschlägigen Band sieben, erklärte im Verlauf des Streits schließlich 1988, man brauche ein „neues Geschichtsbild“43 und müsse aufhören, historische Fragen mit der   40 41 42 43

Ohne Autor (1958): Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, S. 21. John (2002): Das Bild der Novemberrevolution, S. 53. Vgl. Sabrow (2002): Kampfplatz Weimar, S. 182f. Zit. nach John (2002): Das Bild der Novemberrevolution, S. 81.

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Autorität der Partei lösen zu wollen. Die Veränderungen in der Sowjetunion unter Gorbatschow, zu denen auch ein neuer Umgang mit Geschichte gehörte, strahlten natürlich auf die Arbeit von Historikern in der DDR aus. Gemeinsam mit Ulrich Heß veröffentlichte Werner Bramke 1988 einen Beitrag zur Novemberrevolution, den letzten überhaupt zu diesem Thema in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, der ganz bewusst in zentralen Punkten von den bis dahin vorgegebenen Leitlinien abwich und dennoch publiziert werden konnte. Die Autoren sprachen darin vom bisher einzigen Versuch in einem großen entwickelten kapitalistischen Land, den Imperialismus aus eigener Kraft zu stürzen und einen „Typ der Demokratie ganz neuer Art“44 zu schaffen. Die grundlegende Erschütterung der Machtstrukturen in der DDR war 1988 am Umgang mit der deutschen Revolution von 1918/19 deutlich abzulesen. Zu einer Debatte über den Artikel von Bramke/Heß kam es allerdings nicht mehr, auch nicht in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Die nahm bei ihrer Suche nach einem dritten Weg zwar die Revolution von 1918/19 in den Blick, doch diese Suche blieb angesichts der machtvollen Vereinigungstendenzen eine kurze Episode der Geschichte. 4. NACHBEMERKUNG Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde es vollends still um die Revolution von 1918/19. In den vergangenen zehn Jahren ist aber wieder verstärktes Interesse zu beobachten. Die Jahre der vollständigen Abstinenz sind vorbei, nicht nur im Bereich der Wissenschaft. Zu beobachten ist auch, dass in den Reihen der Sozialdemokratie wieder verstärkt Notiz von der Revolution von 1918/19 genommen wird. Am 9. November 2008 eröffnete der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident FrankWalter Steinmeier eine Ausstellung über die Novemberrevolution im Reichstagsgebäude und nannte dabei die Tendenz falsch, dieses Datum im deutschen Erinnerungsbild klein zu halten. Seine eigenen Parteigenossen forderte er auf, die zentrale Leistung der SPD in dieser Zeit ohne Umschweife zu benennen: „Ohne Sozialdemokraten gäbe es in Deutschland keine Republik und keine Demokratie.“45 Im Bereich der Geschichtswissenschaft ist als dominierender Trend der Gegenwart eine Historisierung der Revolution zu beobachten, die in der neuesten Auflage des Gebhardt ihren klaren Ausdruck findet. Ursula Büttner würdigt darin die Revolution primär als Geburtsstunde der ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden,46 und ähnlich hebt auch Alexander Gallus hervor, dass sie in Deutschland erstmals eine demokratische Verfassung und Staatsordnung durchsetzen konnte. Die Zeit scheint reif für eine solche Historisierung. Mit dem Ende der   44 Bramke / Heß (1988): Die Novemberrevolution in Deutschland, S. 1064. 45 Zit. nach Gallus (2010): Die vergessene Revolution von 1918/19, S. 21. 46 Büttner (2010): Weimar, S. 173–767.  

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Nachkriegszeit, dem Zerfall der Sowjetunion, der Überwindung der deutschen Teilung sind politische Prozesse zu einem Abschluss gekommen, deren integrierter Bestandteil die Revolution von 1918/19 war. Angesichts dieser Entwicklungen in Geschichtskultur und Geschichtswissenschaft besteht durchaus die Chance, dass die Revolution von 1918/19 zum 100. Jahrestag aus dem Schatten ihrer „geschichtspolitischen Zurichtung“47 treten kann. Ein deutlich verstärktes Interesse ist seit dem Sommer 2017 auf dem Buchmarkt unübersehbar. Die Veröffentlichungen von Mark Jones48, Joachim Käppner49, Volker Weidermann50, Andreas Platthaus51 und vom Autor dieses Artikels52 wenden sich mit ihren durchaus unterschiedlichen Deutungen an ein breites historisch interessiertes Publikum. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Revolution von 1918/19 für eine zentrale Weichenstellung in der neueren deutschen Geschichte halten, der ein herausragender Platz in der Erinnerungskultur unserer Republik eingeräumt werden sollte. Noch gehört sie nicht zum demokratischen Traditionsbestand der Bundesrepublik Deutschland, aber die Debatte ist neu eröffnet. LITERATUR Barraclough, Geoffrey: Tatsachen der deutschen Geschichte, Berlin 1947. Bieber, Hans-Joachim: Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks 1918–1920. Hamburg 1992. Bramke, Werner / Heß, Ulrich: Die Novemberrevolution in Deutschland und ihre Wirkung auf die deutsche Klassengesellschaft. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 36 (1988), S. 1059–1073. Braun, Otto: Von Weimar zu Hitler. 2. Aufl., New York 1940. Büttner, Ursula: Die überforderte Republik 1918–1933. In: Benz, Wolfgang / Büttner, Ursula: Der Aufbruch in die Moderne. Das 20. Jahrhundert. Weimar – die überforderte Republik 1918– 1933 (= Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte), 10., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 2010, S. 173–767. Drabkin, Jakov S.: Die Novemberrevolution in Deutschland. Berlin 1968. Elben, Wolfgang: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919. (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 31), Düsseldorf 1965. Erdmann, Karl Dietrich: Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 3 (1955), S. 1–19. Eschenburg, Theodor: Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik. Laupheim 1951. Eyck, Erich: Geschichte der Weimarer Republik. Bd 1. Vom Zusammenbruch des Kaiserreichs bis zur Wahl Hindenburgs 1918–1925. Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1954. Faulenbach, Bernd (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben. München 1974.

  47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 225 Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. Käppner (2018): Aufstand für die Freiheit. Weidermann (2018): Träumer. Platthaus (2018): Der Krieg nach dem Krieg. Niess (2017): Die Revolution von 1918/19.

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VERHASST – VEREHRT – VERGESSEN Die Novemberrevolution in der deutschen Gedächtnisgeschichte Martin Sabrow Unser Blick auf die Vergangenheit folgt der Aufmerksamkeitsökonomie eines Geschichtsmarktes, der geradezu zwanghaft auf die Magie runder Jahrestage fixiert ist. Die Zugkraft des 100. Jubiläums sorgte dafür, dass Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit sich in den vergangenen Jahren in beeindruckender Intensität mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs befassten, ohne allerdings zugleich auch dessen Ende in den Blick zu nehmen.1 Erst das Weiterwandern des Jubiläumskalenders ließ anschließend den Roten Oktober 1917 in Russland in den Fokus rücken und in seinem Gefolge dann immer deutlicher auch den Grauen November 1918 in Deutschland, der seine Aufmerksamkeitsrenaissance wiederum weitgehend losgelöst von den Debatten um die Urkatastrophe von 1914 erfährt. Der jubiläumsbedingte Aufmerksamkeitssog trifft auf eine epochale Umwälzung, die über viele Jahrzehnte hinweg eine historische Projektionsfläche politischer Gegenwartsdebatten bildete und doch nie volle Anerkennung erreichte. Die Novemberrevolution blieb nicht nur in der NS-Zeit, sondern schon vor 1933 und wieder nach 1945 ein verschämter Umbruch. Die „Revolution, die niemand wollte“2, wurde selbst in der DDR, die die Verehrung revolutionärer Umbrüche als Lokomotiven der Weltgeschichte gleichsam zur Staatsdoktrin erhoben hatte, für eine „ungeliebte Revolution“ angesehen,3 und sie gehört auch aus der abgeklärten Sicht des ferngerückten Betrachters am Ausgang des 20. Jahrhunderts „nicht zu den großen Revolutionen der Weltgeschichte“.4 Die Erinnerungsgeschichte der Novemberrevolution blieb zwischen den Polen von aggressiver Ablehnung und kritischer Verehrung angesiedelt5, und ihre Bewertung oszillierte vornehmlich zwischen Versäumnis und Verbrechen, um nach dem Ende des Kalten Krieges und der großen Kontroversen um die beste Ordnung der Gesellschaft schließlich in einem allgemeinen Aufmerksamkeitsschwund zu münden – die von Etienne François und Hagen Schulze edierten „Deutschen Erinnerungsorte“ räumten unter dem Stichwort   1 2 3 4 5  

„Nur am Rande fand die Revolution dagegen in den 2014 publizierten Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg Berücksichtigung“: Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19, S. 527f. Wirsching (2008): Die paradoxe Revolution 1918/19, S. 11. John (2002): Das Bild der Novemberrevolution, S. 52. Winkler (2002): Ein umstrittener Wendepunkt, S. 37. S. zur Streitgeschichte des Revolutionsbegriffs auch: Platt (2017): Deutschland 1918/19, S. 3f.

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„Revolution“ zwar den Ereignissen von 1848/49 mit einem Artikel „Paulskirche“ prominenten Platz ein, beschränkten die Thematisierung des Umbruchs von 1918/19 aber auf einen Beitrag zu „Rosa Luxemburg“.6 Der eigentümliche Umstand, dass die epochale Begründung der ersten deutschen Demokratie weder in der Weimarer Republik noch in ihren beiden Nachfolgerepubliken einen herausragenden Platz im Traditionshaushalt fand, ist ereignisgeschichtlich nur unzureichend zu begründen. Es erklärt sich, so die These dieses Beitrags, vielmehr aus den narrativen Leitbegriffen, die das Denken und Handeln der Mit- und Nachlebenden in Bezug auf die Novemberrevolution geprägt haben. 1. DAS PARADIGMA DER BEDROHTEN ORDNUNG Das gilt bereits für die politischen Akteure der Umbruchszeit selbst, und zwar von dem Moment an, an dem die Revolution in Kiel ausbrach und in den Folgetagen wie ein Flächenbrand das ganze Reich erfasste. Während der Zugfahrten, auf denen die sozialdemokratischen Protagonisten in den Tagen der revolutionären Auflösung der alten Ordnung von ihren Heimatorten aus ihren politischen Wirkungsstätten entgegeneilten, war nichts von dem revolutionären Feuer zu spüren, das Lenin im Jahr zuvor von Zürich nach Petrograd begleitet hatte. Die Atmosphäre atmete den Geist widerstrebend übernommener Verantwortung. Einer Aufforderung des SPDParteivorsitzenden Philipp Scheidemann folgend, langte am 4. November 1918 Gustav Noske, von Berlin kommend, in Kiel an, erschöpft vom Streit um eine nicht korrekt gelöste Fahrkarte und in sorgenvoller Einschätzung, „daß die Lage sich gefährlich gestaltet hatte“.7 Als Scheidemann zwei Tage später Hermann Müller zur Unterstützung Noskes nach Kiel beordern wollte, winkte der ab, weil ihm „die Zeit für den 1-Uhr-Mittagszug zu knapp zu sein schien“, und er die Aufgabe zu beschwerlich fand: „Ohne mich mit dem nötigen Kleingepäck versehen zu haben, wollte ich nicht abfahren, da ich in Berücksichtigung der gährenden [sic!] Zeit nicht wußte, wie lange mein Kieler Aufenthalt dauern würde.“8 Als Müller die Reise dann doch unternahm und unterwegs in Hamburg strandete, drangen widersprüchliche Eindrücke auf ihn ein: „Nach dem, was ich am Abend hörte, war zu befürchten, dass in Hamburg die Wellen der Revolution weiter nach links schlagen würden, als das mit der Lage Deutschlands verträglich war“, registrierte er besorgt, um sich bei näherem Augenschein wieder zu beruhigen: „Die Ordnung wurde durch Soldaten, die die rote Binde kenntlich machte, aufrechterhalten.“9 Im selben Sinne argumentierte auch der Diplomat und Schriftsteller Harry Graf Kessler, der im Auftrag der Regierung Max von Badens am 7. November in Magdeburg eintraf, um den   6 7 8 9  

François / Schulze (Hrsg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte. Noske (1920): Von Kiel bis Kapp, S. 10. Müller (1928): Die Novemberrevolution, S. 27. Ebd., S. 31f.

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dort inhaftierten polnischen Nationalrevolutionär Józef Piłsudski nach Berlin zu geleiten. Dem Magdeburger Stadtkommandanten riet er, „die Truppen möglichst wenig vorzuschicken, da sie die Bevölkerung irritierten, und nicht einmal kämpfen würden; besser sei, die Ordnung wenn möglich durch die Gewerkschaften und die sozialdemokratische Organisation aufrecht zu erhalten.“10 Um die Sicherung der Ordnung im Angesicht der Revolution ging es auch Noske. Als er im Kieler Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, empfingen ihn allerdings gegensätzliche Eindrücke. Ein Bahnbeamter beruhigte ihn mit dem Satz, dass es „in der Stadt gar nicht so schlimm war“; aber als Noske festen Schritts aus der Bahnhofshalle auf den Vorplatz eilen wollte, verlor sich diese Gewissheit schon wieder: „Als ich die Bahnsperre passierte, stutzte ich doch beim Anblick der vielen Soldaten mit einem Gewehr in der Hand.“11 Von einer Schar bewaffneter Genossen rasch in ein bereitgestelltes Auto verfrachtet, fand Noske dann aber auf dem kurzen Weg zum nach Wilhelm I. benannten Paradeplatz der Kieler Garnison, auf dem sich die meuternden Matrosen versammelt hatten, seine Fassung wieder, nachdem er aus dem Auto heraus beobachtet hatte, dass die Kieler Hauptstraßen zwar belebt waren, aber doch nicht den Eindruck machten, „daß eine große Revolution begonnen habe“. So konnte er, nur kurzzeitig noch von einem ihm in die Hand gedrückten Beutesäbel irritiert, mit überzeugender Verve für sein Beruhigungskonzept eintreten: „Ein ganz klares Bild von der Lage in Kiel konnte ich naturgemäß noch nicht haben. In meiner kurzen Ansprache beschränkte ich mich deshalb auf allgemeine Betrachtungen, die der politischen Lage entsprachen und schloß mit der nachdrücklichen, mit großem Beifall aufgenommenen Aufforderung, Ordnung zu bewahren.“12 Noske befand sich mit dieser Strategie im Einklang mit Scheidemann, der in denselben Tagen mit dem Austritt aus der Regierung drohte, um die Macht über die Entwicklung nicht ganz zu verlieren: „Wenn wir verhindern wollen, daß die Unruhen schlimmste Dimensionen annehmen, so müssen wir hier eingreifen und den Leuten zeigen, daß wir in ihrem Geiste arbeiten“.13 Was im Nachhinein als Revolution erschien, stellte sich im Handeln der MSPD-Führung ganz im Gegenteil   10 Harry Graf Kessler an Fritz von Schöler am 12.11.1918, in: Ders. (1921): Krieg und Zusammenbruch, S. 117. 11 Noske (1920): Von Kiel bis Kapp, S. 11. 12 Ebd., S. 11. Vgl. auch Noskes Gesamteinschätzung: „Ordnung soll in Deutschland auch bei der Revolution sein.“ Ebd., S. 16. In der Annahme, dass die Erhebung auf Kiel beschränkt sei, formuliert Noske sein Ziel so: „War das der Fall, mußte der Versuch gemacht werden, sobald wie möglich wieder zu einem ordnungsgemäßen Zustand zurückzugelangen.“ Ebd., S. 23. Nach der Ausrufung der Republik proklamiert Noske in Kiel: „Arbeiter und Soldaten! Euer Sieg ist auf der ganzen Linie ein rascher und vollständiger. Erfreulicherweise ist es gelungen, die neue Ordnung rasch und unblutig durchzuführen [sic!].“ Ebd., S. 56. Zu seiner historischen Rechtfertigung schreibt Noske: „Die Richtlinien meines Handelns waren [...]: Verhütung des Chaos, Gesundung des Volkes durch Arbeit!“ Ebd., S. 55. 13 Philipp Scheidemann in der Sitzung des engeren Kriegskabinetts, 7.11.1918, zit. n. Berlin (Hrsg.) (1979): Die deutsche Revolution 1918/19, S. 162.  

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als Versuch ihrer Eindämmung dar, wie Scheidemann illustriert: „Unsere Überzeugung ist, daß das Reich zusammenbricht, wenn der Kaiser nicht sofort abdankt. Dankt er ab, so glauben wir die Garantie übernehmen zu können, daß die Entwicklung sich günstig gestalten wird.“14 Scheidemanns Prognose ging fehl, der später von Richard Löwenthal so genannte „Anti-Chaos-Reflex“ aber blieb bestehen.15 Als Friedrich Ebert am Vormittag des 9. November die Reichskanzlerschaft von Max von Baden entgegennahm, definierte er sich in seinem ersten Aufruf als Träger einer interimistischen Verantwortung, die auf den Erhalt des Reiches zielte und nicht auf die Durchsetzung eines neuen Programms: „Helft also mit mir dem Vaterlande durch furchtlose und unverdrossene Weiterarbeit [...], bis die Stunde der Ablösung gekommen ist.“16 Er bekräftigte damit ein ordnungspolitisches Sicherungsziel, das er schon im September 1918 umrissen hatte, als er angesichts der sich abzeichnenden Kriegsniederlage in der SPD-Fraktion für den Eintritt in die Reichsregierung warb – zur „Rettung des Landes“ und zur Vermeidung eines revolutionären Umsturzes wie in Russland.17 Im selben Sinne argumentierte Ebert unverändert auch, als er drei Monate später gegenüber der Nationalversammlung Rechenschaft über sein Handeln als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten ablegte, dessen oberste Maxime er in der treuhänderischen Gefahrenabwehr, nicht aber in der gesellschaftlichen Umgestaltung gesehen habe. Wir waren im eigentlichsten Wortsinne die Konkursverwalter des alten Regimes: alle Scheunen, alle Läger waren leer, alle Vorräte gingen zur Neige, der Kredit war erschüttert, die Moral tief gesunken. Wir haben [...] unsere beste Kraft eingesetzt, die Gefahren und das Elend der Übergangszeit zu bekämpfen. Wir haben der Nationalversammlung nicht vorgegriffen. Aber wo Zeit und Not drängten, haben wir die dringlichsten Forderungen der Arbeiter zu erfüllen uns bemüht.18

Das hier aufscheinende Rezeptionsmuster der Handelnden auf sozialdemokratischer Seite folgt nicht dem Topos der revolutionären Entscheidungssituation, sondern dem der bedrohten Ordnung. Diese Sicht teilten sie mit dem bürgerlichen Lager: „Bis auf das Geschrei und das schreckhafte Aussehen und Rattern der Autos, die terroristisch rot bewimpelt von Gewehren wie Borstentiere starrten, war Alles auffallend ruhig und ordentlich, eine Demonstration, kein Aufstand“, schrieb Harry Graf Kessler am 12. November erleichtert an einen Vertrauten19 und erläuterte, warum er eine solche Revolution gutheißen könne: „Denn die Revolutionäre selbst,   14 Ebd. 15 Löwenthal (1979): Bonn und Weimar: Zwei deutsche Demokratien, S. 11. Siehe auch Winkler (2002): Ein umstrittener Wendepunkt, S. 37. 16 Aufruf des Reichskanzlers Ebert vom 9.11.1918, in: Berlin (Hrsg.) (1979): Die deutsche Revolution 1918/19, S. 166. 17 Zit. n. Winkler (2002): Ein umstrittener Wendepunkt, S. 39. 18 Friedrich Eberts Ansprache zur Eröffnung der Nationalversammlung am 6.2.1919 [Auszug], in: Ritter / Miller (Hrsg.) (1983): Deutsche Revolution, S. 205. 19 Harry Graf Kessler an Fritz von Schöler, in: Ders. (1921): Krieg und Zusammenbruch, S. 126.  

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die Soldaten und Matrosen, wollten Ruhe und Ordnung. Im Allgemeinen verläuft daher Alles erstaunlich ordentlich.“20 In seinen Worten schimmert bereits das perhorreszierte Gegenbild in Gestalt des bolschewistischen Chaos durch, das als Gegensatzpaar von Ordnung und Chaos die vorherrschende Sicht auf die Novemberereignisse bis zum Ende der Weimarer Republik und dann wieder der frühen Bundesrepublik prägen sollte und der Leitkategorie der Verantwortung ihr eigentliches Gewicht gibt. Nicht als Mirabeau oder Danton präsentierten die Protagonisten der Revolution sich ihren Zeitgenossen, sondern als Getriebene, die ihr revolutionäres Amt allein aus Verantwortung und nicht aus freiem Willen oder im Auftrag einer Idee versahen. Dass in Preußen die königlichen Landräte von der Revolution gänzlich unbehelligt weiter amtierten, verdankte sich nicht einer Nachlässigkeit des am 12. November 1918 gebildeten Preußischen Revolutionskabinetts, sondern entsprach der erklärten politischen Linie des sozialdemokratischen Innenministers Wolfgang Heine, der sich „im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung“ sogar weigerte, Rücktrittsgesuchen konservativer Landräte zu entsprechen.21 „Ungern folgte ich dem Rufe nach Berlin“, ließ Noske rückblickend die Leser seiner Memoiren wissen. „Widerwillig bin ich, als der Karren schon arg verfahren war, in die Regierung eingetreten. Freude habe ich an dem Amte nicht gehabt.“22 Dass der wegen seiner Verantwortung für die blutige Niederschlagung des Berliner Märzaufstandes 1919 und seiner Stützung auf die gegenrevolutionär eingestellten Freikorps in den eigenen Reihen als „Bluthund“ verfemte Noske so prononciert beteuerte, sich nur „aus Liebe zum Vaterlande und zu unserem Volke [...] für die junge Republik eingesetzt“ zu haben und die „Richtlinien meines Handelns“ allein in der „Verhütung des Chaos“ und „Gesundung des Volkes durch Arbeit“ gesehen zu haben, mag sich aus dessen besonderer Rolle erklären.23 Aber auch Mitglieder des engsten Führungszirkels der Mehrheitssozialdemokratie glaubten rückblickend ihr Handeln in den Novembertagen 1918 öffentlich nur legitimieren zu können, indem sie ihm den revolutionären Gehalt absprachen und die Verantwortung für die Wiederherstellung der Ordnung unterstrichen. Als der vor- und nachmalige Reichskanzler Hermann Müller(-Franken) im Vorgriff auf den zehnten Jahrestag der Novemberrevolution seine Erinnerungen veröffentlichte, verteidigte er Scheidemanns Republikausrufung, weil sie „nur die Proklamierung eines staatsrechtlichen Zustandes [war], der tatsächlich bereits eingetreten war“.24 Gleichzeitig rechtfertigte er Eberts angebliche (von Groener überlieferte) Äußerung, die soziale Revolution wie die Sünde zu hassen, indem er ihr einen gegen die russische Oktoberrevolution gerichteten Sinn verlieh: „Eberts Äußerung kann sich deshalb nur auf die bolschewistische Revolution bezogen haben.“25   20 21 22 23 24 25  

Ebd., S. 129. Winkler (1993): Weimar 1918–1933, S. 42. Noske (1920): Von Kiel bis Kapp, S. 55. Ebd. Müller (1928): Die Novemberrevolution, S. 54. Ebd., S. 76.

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Unter dem Paradigma der unabweisbaren Verantwortung konnte das Bild der Novemberrevolution keine Identifikationskraft gewinnen. Dies galt in erster Linie natürlich für das konservative Lager.26 Dass in den Novembertagen der gärenden Unruhe auch die kaisertreue Presse des konservativen Bürgertums die bedrohte Ordnung zu retten beschwor, nimmt nicht wunder: Wir halten es für notwendig, ungesäumt überall in Stadt und Land zur Einrichtung von Bürgerwehren zu schreiten, die den amtlichen Sicherheitsorganen in der Aufrechterhaltung der Ordnung zur Seite stehen. Unter Bürgern sind dabei selbstverständlich alle ordnungsliebenden Elemente in Stadt und Land zu verstehen, der Handarbeiter, der in Ruhe und Frieden seinem Berufe nachgehen will, und der an der Ordnung ja durchaus in gleichem Maße interessiert ist wie andere Bevölkerungsklassen, genau so gut wie der eigentliche Bürger oder Bauer.27

Je nach Betrachtungswinkel erschien die Revolution auf diese Weise schon vor 1933 und wieder nach 1945 als überflüssige Herausforderung einer längst auf Parlamentarisierung gerichteten Reichspolitik oder, wie Arthur Rosenberg es zugespitzt formuliert hat, als bloßes Missverständnis der Massen, die gegen die eigene Regierung revoltierten.28 In beiden Fällen aber galt sie als ein Kampf zwischen Ordnung und Chaos, dessen Etappen mit Eberts Entgegennahme der Kanzlerschaft am 9. November, mit der Niederschlagung des sogenannten Spartakusaufstandes sowie der Wahl zur Nationalversammlung im Januar und der anschließenden gewaltsamen Zurückdrängung der Rätebewegung bezeichnet sind. 2. DER UMSTURZ ALS DOLCHSTOSS Die Gegenerzählung setzt dem Rekurs auf die Kategorie der Verantwortung das Stigma des pflichtvergessenen Verrats entgegen. Die überraschende „Umwälzung in Deutschland“ kommentierte die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) schon am 9. November 1918 in ihrer Abend-Ausgabe mit Worten der noch tastenden Schuldsuche, die unter dem Eindruck der Ereignisse immerhin noch auf Fahrlässigkeit statt auf Vorsatz plädierte: Der Bolschewismus fußt weiter in Deutschland. Es hat den Anschein, als wenn wir die tiefste Tiefe unseres politischen Niederganges noch nicht erreicht hätten. Die revolutionären Umwälzungen, die in Kiel ihren Anfang nahmen, haben nicht nur militärischen Charakter, indem die Soldaten die Disziplingewalt der Offiziere außer Dienst abgeschafft wissen wollen, sondern die unverständliche Kopflosigkeit der bisherigen Regierungsgewalten bei dem Eintritt der neuen Ereignisse hat auch zur Folge, daß die Bewegung immer mehr einen politischen Anstrich erhält.29

Für die Deutsche Tageszeitung war zur selben Stunde hingegen bereits klar, dass die vermeintlichen Verantwortungsträger in Wirklichkeit Volksverräter waren:   26 27 28 29

Siehe hierzu auch den Beitrag von Kirsten Heinsohn in diesem Band. Die bolschewistische Gefahr, in: Deutsche Tageszeitung, 6.11.1918, Morgen-Ausgabe. Rosenberg (1991): Die Entstehung der Weimarer Republik, S. 241. Die Umwälzung in Deutschland, in: Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung), 9.11.1918, Abend-Ausgabe.

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Die deutschen Sozialisten wußten, daß der Frieden ohnehin im Werden sei, und daß es nur noch gelte, Woche, vielleicht nur Tage lang noch dem Feinde eine geschlossene, feste Front zu zeigen, um ihm erträglichere Bedingungen abzuringen. In dieser Lage haben sie die weiße Fahne gehißt. Das ist eine Schuld, die nie vergeben werden kann und nie vergehen wird. Das ist ein Verrat, nicht etwa nur an der Monarchie und am Heere, sondern am deutschen Volke selber, das seine Folgen durch Jahrhunderte des Niedergangs und des Elendes zu tragen haben wird. [...] Wenn dann tausend Eisenhämmer und Tausende von Webstühlen zum Stillstand verurteilt werden, wenn Millionen fleißiger, arbeitshungriger deutscher Hände für den Feind fronden, Millionen überhaupt nicht mehr lohnende Arbeit und nährendes Brot in der Heimat finden werden, dann wird – leider zu spät! – die Erkenntnis kommen, daß das, was die Sozialdemokratie in diesen Tagen verübte, gewissenlosester Verrat am arbeitenden deutschen Volke war.30

Was an diesem Tag noch eine rechtsgerichtete Außenseiterstimme bildete, sollte sich binnen eines Jahres zu einer im bürgerlichen Lager weithin anerkannten Erzählung verfestigen. Die ehemaligen Chefs der dritten Obersten Heeresleitung, von Hindenburg und Ludendorff, sagten vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstags aus, dass die Front von der Heimat erdolcht worden sei: Die Heimat hat uns von diesem Augenblick an nicht mehr gestützt. [...] Seit dieser Zeit setzte auch die heimliche Zersetzung von Heer und Flotte ein. [...] Die braven Truppen, die sich von der revolutionären Einwirkung fernhielten, hatten unter der Einwirkung der revolutionären Kameraden schwer zu leiden. [...] Unsere Forderung, strenge Zucht und strenge Handhabung der Gesetze durchzuführen, wurden [sic!] nicht erfüllt. So mußten unsere Operationen mißlingen, so mußte der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlußstein. Ein englischer General sagt mit Recht: die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden. Wo die Schuld liegt, bedarf keines Beweises.31

Damit war die Dolchstoßlegende beglaubigt, die dem Verratstopos sein populäres Narrativ verschaffte und noch die Gewalttaten der Gegenrevolution auf das Konto der ‚Novemberlinge‘ buchte: Die Revolution des 9. November trägt ihre Früchte, wie wir es vorausgesagt. Freiheit, Frieden und Brot hat man dem Volke versprochen, Mord und Totschlag, Gewalt und Not sind in Wahrheit die Früchte gewesen, und es ist eine furchtbare, ausgleichende Gerechtigkeit, daß die, welche am 9. November Unersetzliches zerschlagen haben, die giftigen Früchte ihrer Tat jetzt genießen müssen.32

Im Dunstkreis dieses Denkmusters bewegten sich nicht nur die republikfeindliche Publizistik, sondern auch die militante Handlungsbereitschaft des Freikorpsführers Hermann Ehrhardt33 und die des völkischen Agitators Adolf Hitler, der im Pasewalker Lazarett seine anfängliche Hoffnung verlor, „daß es sich bei dem Landesverrat nur um eine mehr oder minder örtliche Sache handeln konnte“, und sich zunächst nicht vorstellen konnte, „daß auch in München der Wahnsinn ausbrechen   30 31 32 33  

Der Rücktritt des Kaisers, in: Deutsche Tageszeitung, 9.11.1918, Abend-Ausgabe. Die Aussagen der deutschen Heerführer, in: Vossische Zeitung, 18.11.1919, Abend-Ausgabe. Wulle (1919): Im Zeichen der Revolution, S. 134. „Die Revolution vom 9. November, die, soweit auch die Geschichte in klare Fernen zeigt, vernunftloseste, frivolste, verbrecherischste, die je an einem Volk in Lebensnot begangen, zeitigt nun ihre Früchte.“ Ehrhardt (1921): Deutschlands Zukunft, S. 9.

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würde“, weil ihm die „Treue zum ehrwürdigen Hause Wittelsbach [...] denn doch fester zu sein [schien] als der Wille einiger Juden“.34 Nicht den Verrat der Revolution, sondern den Verrat an der Revolution wiederum geißelte die KPD in ihrer unversöhnlichen Abgrenzung von der Sozialdemokratie, über die ihr ZK 1930 apodiktisch befand: „Alle Handlungen der verräterischen, korrupten Sozialdemokratie sind fortgesetzter Hoch- und Landesverrat an den Lebensinteressen der arbeitenden Massen Deutschlands.“35 In der Polarität von Verantwortung und Verrat in Bezug auf eine Revolution, die keines der drei Weimarer Milieus – die Weimar-Deutschen, die Potsdam-Deutschen und die Moskau-Deutschen (Arnold Brecht) – anerkannte, und keine Seite ganz zu akzeptieren bereit war, entfaltete sich das Klima von Hass und Gewalt, das die politische Kultur der Weimarer Republik und ihr Bild einer unverstandenen Novemberrevolution prägte: Das Volk der Heimat ist es gewesen, das den Krieg verloren, sich selbst mit Schande bedeckt und wer hat das verschuldet? Nur die Sozialdemokratie und zwar die Sozialdemokratie aller Richtungen! Warum? Die Revolution, die uns in dieses Verderben, in dieses Elend führte, ist einzig die Folge der Wühlarbeit der gesamten Sozialdemokratie aller Richtungen. [...] Um diese Tatsache kommen wir auch durch das Gewinsel über das gute Herz Eberts nicht herum, und derjenige Wähler folgt einem Irrlicht, der sich diese Tatsache nicht fortwährend vor Augen hält: Am 9. November 1918 ist die gemeinsame Saat von Ebert, Scheidemann, Haase, Liebknecht und den Genossen aller Genannten aufgegangen! [...] Damit ist auch die scharfe Richtlinie für unsere Haltung gegenüber der Revolutionsregierung gezogen: Gegenüber der Revolutionsregierung darf es nur grundsätzliche Gegnerschaft geben!36

3. DIE ERNEUERUNG DER TRADIERTEN DEUTUNGSMUSTER NACH 1945 Um die Pole von Verantwortung und Verrat organisierte sich der Diskurs um die Novemberrevolution auch nach 1945 wieder. Nun folgte er allerdings nicht mehr der Konkurrenz der drei Weltanschauungslager der ersten Jahrhunderthälfte, sondern zunächst den Frontlinien des Kalten Krieges, in dem die beiden nach dem Untergang der NS-Herrschaft übrig gebliebenen Großordnungen ihre Kräfte maßen. In der DDR der fünfziger Jahre sparten die Dispositionsautoren des autoritativen   34 „Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche.“ Hitler (1925/26): Mein Kampf, S. 218–225. 35 Aus dem Programm-Entwurf der KPD vom 1922 und Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes. Proklamation des ZK der KPD vom 24. August 1930, in: Altrichter (Hrsg.): 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. ahrhundert, URL: http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0006_kpd& object=translation&st=&l=de [Zugriff am 20.3.2018]. 36 Taube (1919): Das wahre Gesicht der Parteien, S. 4f.  

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Hochschullehrbuchs der deutschen Geschichte nicht mit Worten des empörten Abscheus, um die Führung der sozialdemokratischen Mehrheitspartei in der Novemberrevolution als „Haupthindernis des nationalen und sozialen Befreiungskampfes“, als „Steigbügelhalter der Großbourgeoisie“ und „Agentur der imperialistischen Bourgeoisie in der Arbeiterklasse“ zu brandmarken.37 Verrat war Gustav Noskes „Abwiegelungsmission“ in den Kieler Revolutionstagen ebenso wie die Besetzung des Rats der Volksbeauftragten „mit den verräterischen Führern der SPD“, deren Vorgehen 1918/19 „dem deutschen Monopolkapital [...] seine ins Wanken geratene Position zu festigen [ermöglichte]“38 und 1920 den bewaffneten Arbeiterkampf im Anschluss an den Kapp-Putsch blutig erstickte. Das wichtigste Ergebnis der Novemberrevolution bestand dieser Lesart zufolge in der Gründung der KPD, wie die zum 40. Jahrestag veröffentlichten „Thesen“ der Parteiführung 1958 nicht anders feststellten als 30 Jahre später die entsprechenden „Thesen“ zum siebzigjährigen Jubiläum. Der Topos des Verrats diente der SED zur Begründung ihres auf die Herrschaft einer Avantgardepartei gestützten Gesellschaftsmodells, wie Hermann Matern 1958 im Neuen Deutschland ausführte: „Die fehlende Einheit der deutschen Arbeiterbewegung führte im November 1918 und in der Folgezeit zur Schwächung der deutschen Arbeiterklasse. Die opportunistischen und revisionistischen Führer haben durch Verrat und Betrug einen wesentlichen Teil der Arbeiterklasse vom Wege des revolutionären, des einzig wirksamen Kampfes abgehalten.“39 Spiegelbildlich argumentierte die bundesdeutsche Geschichtswissenschaft, die sich bekanntlich erst spät, nämlich in den 1960er Jahren, der revolutionären Entstehung der Republik intensiver zuwandte. So wie die SED die Verratsthese der Weimarer KPD tradierte, nahm der bundesdeutsche Revolutionsdiskurs das Gegensatzpaar von Ordnung und Chaos wieder auf. Ihr bekanntester Sprecher wurde KarlDietrich Erdmann, der die Entscheidungssituation des Novembers 1918 auf die Wahl zwischen einem konkreten Entweder – Oder zuspitzte: „die soziale Revolution im Bund mit den auf eine proletarische Revolution hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bund mit konservativen Elementen wie dem alten Offizierskorps“.40

  37 Schreiner (1954): Disposition für das Hochschullehrbuch der Geschichte des deutschen Volkes (1918–1945), S. 717, 720 u. 734. 38 Ebd., S. 702, 704 u. 708. 39 „Lehren des November 1918.“ aus der Rede des Genossen Hermann Matern vor der Kommission des Nationalrats zur Vorbereitung des 40. Jahrestages der Novemberrevolution, in: Neues Deutschland, 18.4.1958. 40 Erdmann (1955): Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft, S. 7.  

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4. DER TOPOS DER VERPASSTEN CHANCE Während das DDR-Bild der Novemberrevolution über Jahrzehnte weitgehend unverändert blieb41, wurde ihr westliches Gegenmodell einer bedrohten Ordnung in der Geschichtswissenschaft ab den frühen sechziger Jahren immer stärker durch den Topos der verpassten Chance in Frage gestellt. Eberhard Kolb zeigte 1962 in einer bahnbrechenden Studie, dass die Arbeiterräte eben kein Instrument der bolschewistischen Revolution, sondern überwiegend von SPD und USPD-Anhängern dominiert waren.42 In der Folge und in deutlichem Reflex auf die Revolutionsromantik der Studentenbewegung wandelte sich die tradierte Vorstellung der aus politischer Verantwortung eingedämmten Revolution in das Bild der steckengebliebenen Revolution oder gar „Nicht-Revolution“, die die Potenziale des demokratischen Aufbruchs zum Schaden für die Folgezeit und bis in die Gegenwart verspielt habe. Im konservativen Feuilleton hingegen wie etwa dem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung blieb der Topos der bedrohten Ordnung bis in die späten achtziger Jahre dominant: „Wer Ebert heute anklagt, er habe den Durchbruch Deutschlands zu wahrer Demokratie verhindert, muß klar sagen, daß er die Weimarer wie auch die bundesdeutsche Demokratie für keine hält und daß er unter ‚Demokratie‘ versteht, was keine wäre“, echauffierte sich das Blatt 1968 unter dem Eindruck der Studentenrevolte und ihres kämpferischen Bezugs auf die verpasste Emanzipation von 1918 und statuierte: In der wünschenswerten Klarheit muß gesagt werden, daß die Anklage gegen Ebert heißt, nicht der Lenin Deutschlands geworden zu sein. Daß er vielmehr einen deutschen Lenin verhinderte, galt bislang allen Demokraten als ein großes Verdienst. [...] Solche Besonnenheit und Nüchternheit nennen aber ein halbes Jahrhundert später die angeblichen Gralshüter der Demokratie heuten einen Sündenfall in die Reaktion.43

Der aus diesen Zeilen sprechende Empörungsgestus, den im entgegengesetzten Deutungslager Sebastian Haffner in seinen pointierten Buchtitel „Die verratene Revolution“ goss44, entsprang dem Bewusstsein, dass Deutschland 1918 und wieder 1968 vor die Wahl zwischen sichernder Fortführung und radikaler Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse gestellt worden sei. In keinem Ereignis verdichtet sich das Aufeinanderprallen der beiden unterschiedlichen Deutungsmuster von Ordnung und Fortschritt für die Nachwelt so anschaulich wie in der Konkurrenz der beiden sozialistischen Parteiführer um die Ausrufung der Republik am Nachmittag des   41 42 43 44

 

John (2002): Das Bild der Novemberrevolution 1918, S. 48. Kolb (1962): Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918–1919. Rapp, Alfred: Spartakus im Lorbeerkranz?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.11.1968. Haffner (1969): Die verratene Revolution. Deutschland 1918/19. Spätere Auflagen des Bandes erschienen unter nüchterneren Titeln: „Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich?“ (1979), „1918/19. Eine deutsche Revolution“ (1981) und „Die deutsche Revolution 1918/19“ (1987). Vgl. Sabrow (2007): Zeitgeschichte als politische Aufklärung, S. 118–122.

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9. November 1918. „An diesem Tag“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung noch zum siebzigsten Jubiläum der Novemberrevolution 1988, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstagsgebäudes die Republik aus. Zwei Stunden später proklamierte der Spartakist und spätere Mitbegründer der KPD, Karl Liebknecht, im Lustgarten die ‚freie sozialistische Republik‘ und die ‚Vollendung der Weltrevolution‘, womit die sogenannte deutsche Novemberrevolution ihrem Höhepunkt entgegentrieb. Durch das Bekenntnis der SPD zur Weimarer Nationalversammlung konnte der Weg der deutschen Räterepublik verwehrt [...] werden.45

Indigniert vermerkte dieselbe Zeitung, dass allerdings ausgerechnet Willy Brandt sich unterdes dem Denkmuster der verpassten Chance zugewandt und öffentlich erklärt habe, dass die „sozialdemokratische Führungsschicht [...] nach dem Ersten Weltkrieg dem ‚bolschewistischen Schreckgespenst‘ aufgesessen [sei], wie es vom antiliberalen Bürgertum propagiert worden sei“ und „damit die Revolution von 1918/19 nicht bis zur Entmachtung der ‚reaktionären Kreise‘ vorangetrieben“ habe.46 Der historische Herrschaftsdiskurs der DDR wiederum war nicht in der Lage, die Ikonisierung von Liebknechts Auftritt mit den Aussagen von Beteiligten zur Deckung zu bringen, deren Zeugnisse das Institut für Marxismus-Leninismus in seinem Erinnerungsarchiv sammelte. Als sich 1968 eine damalige Jungspartakistin meldete, die detailliert berichtete, dass Liebknecht gar nicht in der ihm zugesprochenen Proklamationsrolle auf dem Balkon des berühmten Portals IV gestanden, sondern in der Dämmerung kaum erkennbar und wenig beachtet aus einem Seitenfenster des Stadtschlosses gesprochen habe, wurde der entsprechende Bericht kommentarlos zur Seite gelegt.47 5. HISTORISCHES VERBLASSEN All diese Auseinandersetzungen sind mittlerweile selbst Geschichte. Seit dem Ende der 1980er Jahre hat die zuvor vehement abgelehnte und zaghaft verteidigte Novemberrevolution einen solchen Bedeutungsverlust erlitten, dass sie noch vor wenigen Jahren als „vergessene Revolution“ apostrophiert wurde, die ein Mauerblümchendasein „ohne Strahlkraft“ in der ansonsten blühenden deutschen Erinnerungskultur führt.48 Die Gründe liegen auf der Hand: Vordergründig überstrahlt seit der friedlichen Revolution von 1989/90 ein erstmals unbestreitbar erfolgreiches Aufbegehren gegen die scheinbar festgefügte Staatsmacht das ohnehin schwache Revolutionspathos, das zuvor die beiden revolutionären Anläufe von 1848 und 1918/19 für sich zu reklamieren vermocht hatten. Zudem ließ die „Fundamentalliberalisie  45 Berliner CDU gedenkt der Ausrufung der Republik vor siebzig Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.11.1988. 46 Ebd. 47 Ich stütze mich hier auf die Ergebnisse einer demnächst erscheinenden Untersuchung von Dominik Juhnke: Juhnke / Prokasky / Sabrow (Hrsg.) (in Vorbereitung): Mythos Revolution. 48 Gallus (Hrsg.) (2010): Die vergessene Revolution.

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rung“ der Bundesrepublik seit den späten 1960er Jahren die politischen und kulturellen Defizite verblassen, die sich im linksliberalen Verständnis auf die steckengebliebene Revolution von 1918/19 zurückführen ließen. Schließlich raubte das Auslaufen der Fortschrittsmoderne im Strukturbruch der siebziger Jahre auch dem Topos der Revolution als Lokomotive der Weltgeschichte seine Strahlkraft. Es passt zu dieser Ernüchterung, dass sich seit dem Ende der siebziger Jahre neuerlich Stimmen bemerkbar machten, die mit Wolfgang Mommsen vor einer Idealisierung der Räte warnten49 oder mit Eckhard Jesse und Henning Köhler50 die Heterogenität der Räte und ihre fehlende demokratische Legitimierung herausarbeiteten.51 Nicht weniger entscheidend für den Bedeutungsverlust der Novemberrevolution ist der Paradigmenwandel, der sich mit dem aufkommenden Aufarbeitungszeitalter verbindet. Die viktimistische Erinnerungskultur unserer Zeit konzentriert sich stärker auf das Leiden der Opfer als auf das Handeln der Macher, und es verbindet die gewachsene Distanz gegenüber den ‚Großen Gesängen‘ und den revolutionären Utopien mit der entschiedenen Absage an die Gewalt. Was dies für das Revolutionsgedenken bedeutet, zeigte sich zum 100. Jahrestag der Russischen Oktoberrevolution. Im heutigen Gedächtnis lebt sie als ein entzauberter Mythos fort, dem selbst das Prädikat des Revolutionären abhanden zu kommen droht. „Was in diesen Tagen [...] geschah, war ein umsichtig, wenn auch verdeckt vorbereiteter Staatsstreich, ein Putsch, der sich auf die Übernahme der städtischen Garnisonen stützte“, hielt der Göttinger Osteuropahistoriker Manfred Hildermeier kürzlich fest.52 Selbst in der postsowjetischen Gesellschaft spielt der Jahrestag der Oktoberrevolution nur eine Randrolle: „Die Revolution von 1917 darf sich nicht wiederholen“53, heißt die von Putin ausgegebene geschichtspolitische Botschaft zum 100. Jahrestag in Russland, die der tragischen Spaltung der Gesellschaft durch die Bolschewiki den Geist einer Versöhnung entgegensetzt und die Gewaltabsage mit Nationalstolz verbindet. Der tiefste Grund aber für das Verblassen der deutschen Herbstrevolution von 1918 im gesellschaftlichen Gedächtnis liegt in einer Verschiebung der zeithistorischen Blickachse, die sich jahrzehntelang an der Frage abarbeitete, wie es zur nationalsozialistischen Machtergreifung kam. Auf der Suche nach den Ursachen rückte auch die abgebrochene Novemberrevolution in den Fokus. Dieses Forschungsinteresse ist indes erloschen; die zeithistorische Perspektive hat sich seit den achtziger Jahren markant von der Schwäche der Weimarer Demokratie zum Mordgeschehen

  49 Mommsen (1978): Die deutsche Revolution 1918–1920, S. 383. 50 Jesse / Köhler (1978): Die deutsche Revolution 1918/19 im Wandel der historischen Forschung. 51 Stalmann (2016): Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19, S. 524. 52 Hildermeier (2017): Die Russische Revolution und ihre Folgen, S. 9. 53 Makhotina (2017): Erinnerung an die Russische Revolution, S. 27. Siehe auch Dies. (2017): Die Demokratische, die Bourgeoise, und Simon (2017): Peinliches Jubiläum.  

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des Holocaust verschoben. Doch für die Frage nach den Ursachen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs gibt der Ausgang der Novemberrevolution in der allgemeinen und erst in jüngster Zeit in Frage gestellten Sicht nur wenig her.54 6. VON DER AKTUALISIERUNG ZUR HISTORISIERUNG Aber diese Verschiebung der Novemberrevolution in die Randbezirke des öffentlichen Interesses eröffnet auch neue Zugänge, und mit dem endlich erreichten Sieg der Historisierung über die Aktualisierung wachsen die historischen Erkenntnischancen. Der Umsturz von 1918/19 hat „aufgehört, als Negativfolie politischer Gegenwartsauseinandersetzungen zu dienen“.55 Er wird, wie das auch für die Weimarer Republik insgesamt gilt, „nicht mehr zur Identitätssicherung in Anspruch genommen“56, und das nahende Jahrhundertjubiläum erlaubt eine Wiederentdeckung der Revolution, die neue Fragen an den altbekannten Gegenstand richtet. Worauf aber könnten diese neuen Fragen zielen? Den wohl größten Erkenntnisgewinn verspricht die kritische Infragestellung der teleologischen Perspektive, die die Forschung zur Weimarer Republik und ihrem revolutionären Start nach 1945 so entscheidend geprägt hat und sicherlich auch prägen musste. Heute haben wir in der Bundesrepublik einen weithin gefestigten Erinnerungskonsens, der die NS-Zeit nicht als auszuklammernden Unfall der deutschen Geschichte, sondern als ihren integralen Bestandteil betrachtet. Auf dieser gesicherten Grundlage lassen sich Fragen an die Novemberrevolution stellen, die die bekannte Fluchtlinie von 1918 zu 1933 überschreiten und auf das Eigenverständnis der Revolutionszeit ebenso abheben wie auf die bislang noch allzu randständigen Fragen nach den zwischen 1933 und 1945 nur unterbrochenen, aber eben nicht abgebrochenen Kontinuitätslinien von der ersten zur zweiten deutschen Nachkriegszeit. Aus der jüngeren Behördenforschung wissen wir, in welch starkem Maße die neugegründeten Bundesbehörden und -ministerien auf Fachverstand und Selbstverständnis der Weimarer Zeit zurückgriffen. Lange Linien bietet ebenso etwa die Vertiefung der aus der Bismarck-Zeit stammenden Spaltung des Liberalismus, oder die innere Spannung der Sozialdemokratie zwischen Reformversprechen und Bestandssicherung. Und fordert nicht auch die mit dem Untergang der DDR verbundene Umbruchserfahrung nach 1989 dazu auf, sie in analytische Beziehung zu der noch nicht hinreichend erforschten Tiefe und traumatischen Erfahrung des Umbruchs nach 1918 zu setzen? Eine zweite Chance der Neubefragung im Zeichen einer entschiedenen Historisierung liegt in der in den letzten Jahrzehnten erfolgten kulturgeschichtlichen Erweiterung unseres Faches. Sie ermöglicht einen neuen Blick auf unseren dreißig   54 Siehe die jüngst erschienene und sofort breit rezipierte Studie Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. 55 Stalmann (2016): Wiederentdeckung, S. 521f. 56 Wirsching (2008): Paradoxe Revolution 1918/19, S. 8.  

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Jahre gleichsam eingefrorenen Forschungsgegenstand, der bislang allzu stark aus einer traditionellen politik- und sozialgeschichtlichen Perspektive untersucht wurde.57 Wenn wir den historischen Umbruchsprozess am Ende des Ersten Weltkrieges nicht länger bevorzugt von den Entscheidungen und Fehlentscheidungen der führenden Akteure ableiten, sondern aus der unbeherrschbaren Komplexität der Situation und der Wirkungsmacht der sozialen und mentalen Grundtendenzen, wie dies in jüngerer Zeit verschiedentlich gefordert wurde58, zeigen sich die blinden Flecken unseres Revolutionsbildes überdeutlich. Ungeachtet einer sich allmählich wieder intensivierenden Revolutionsforschung erscheinen die Wahrnehmungswelten und Sinnhorizonte, in denen die Zeitgenossen die Zeitenwende von 1918/19 begleiteten, bislang noch weithin wie ein schwarzes Loch. Die kollektive Grunderfahrung der Umbruchszeit war die Verstörung, und sie äußerte sich als Perspektivenverlust und soziale Existenzbedrohung ebenso wie als Orientierungskrise und kulturelle politische Sinnsuche. Welche mentalen Dispositionen, welche Veränderungshoffnungen brachten die zurückflutenden Soldaten von der Westfront in das heimatliche Zivilleben zurück? Wie verarbeiteten die einzelnen sozialen und generationellen Schichten den radikalen Umbruch ihrer Lebensverhältnisse und -perspektiven? Wie lässt sich der Umschwung von der alles überströmenden Friedenssehnsucht bis zu der alles überschattenden Suche nach dem Sündenbock innerhalb weniger Monate zwischen Oktober 1918 und Sommer 1919 erklären? Welche Muster der Repräsentation, welche Vorstellungen guter Regierung und legitimer Herrschaft machen die radikale Polarisierung von Einstellungen, Werten und Verhaltensmustern erklärbar, die den Raum des Politischen seit der Novemberrevolution so wirkmächtig prägten? Aus dieser Perspektive lassen sich allerdings die Eckdaten der Novemberrevolution nicht allein auf der Ebene der staats- und verfassungspolitischen Zäsuren abbilden. Aus kulturgeschichtlich erweiterter Betrachtungsperspektive stellt sich die Revolution als längerfristige Zeitenwende dar, in der das mit dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochene Imperialsystem der europäischen Großmächte durch die Konkurrenz dreier neuer Weltordnungen abgelöst wurde, die in ihren von Abgrenzung und Gewalt gekennzeichneten Paralleluniversen über den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts bestimmen sollten. In dieser Sicht reicht die Novemberrevolution von ihrem Beginn im späten Oktober und frühen November 1918 in Kiel und München bis zum Herbst 1923, als die beiden Systemkonkurrenten von links und rechts nach dem Hamburger Aufstand und dem Münchner Hitler-LudendorffPutsch die gewaltsame Infragestellung der fragilen demokratischen Ordnung vorläufig einstellten.

  57 Siehe hierzu etwa die Beiträge von Wolfram Pyta und Nadine Rossol in diesem Band. 58 Wirsching (2008): Paradoxe Revolution, S. 7; Sabrow (2005): Aufbruch zwischen den Zeiten; Niess (2013): Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Gleb J. Albert ist Historiker und Postdoktorand am Lehrstuhl für die Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. Manfred Baldus ist Jurist und Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Universität Erfurt. Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer ist Politikwissenschaftler, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena. Jens Hacke ist Politikwissenschaftler und vertritt derzeit die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Kirsten Heinsohn ist Historikerin und stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Mark Jones ist Historiker und Fellow des Irish Research Council am University College Dublin und der Freien Universität Berlin. Heidrun Kämper ist Philologin, Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache in Mannheim und Professorin am Seminar für deutsche Philologie der Universität Mannheim. Peter Keller ist Historiker und Leiter des Stadtarchivs Kaufbeuren. Helmuth Kiesel ist Literaturwissenschaftler und Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Heidelberg. Detlef Lehnert ist Politikwissenschaftler, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung. Lothar Machtan ist Historiker und Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Bremen.

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Autorinnen und Autoren

Walter Mühlhausen ist Historiker, Geschäftsführer und Mitglied des Vorstandes der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Stiftung in Heidelberg und Professor am Institut für Geschichte der TU Darmstadt. Wolfgang Niess ist Historiker, Journalist und Autor. Karl Heinrich Pohl ist Historiker und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Wolfram Pyta ist Historiker und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart, dortiger Leiter der Abteilung Neuere Geschichte und Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg zur NS-Verbrechensgeschichte. Nadine Rossol ist Historikerin und Senior Lecturer am Department of History der University of Essex. Martin Sabrow ist Historiker, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Ingrid Sharp ist Historikerin und Professorin für German Cultural and Gender History an der School of Languages, Cultures and Societies der University of Leeds. Daniel Siemens ist Historiker und Professor für europäische Geschichte an der School of History, Classics and Archeology der Newcastle University.

Im Jahr ihres Zentenariums hört die Novemberrevolution zusehends auf, eine „vergessene Revolution“ (Alexander Gallus, 2010) zu sein. In Wissenschaft und Öffentlichkeit wächst die Einsicht, dass der Aufbruch in die erste parlamentarische Demokratie Deutschlands mehr war als eine halbe, stecken gebliebene oder gar verratene Revolution. Stattdessen gelang es, unter der Last eines verlorenen Krieges und seiner bedrohlichen Friedensverhandlungen, unter den Bedingungen sozialer Not und Ungewissheit und unter beständiger politischer Unruhe und der Gefahr eines revolutionären Bürgerkrieges die am 9. November 1918 ausgerufene ‚deutsche Republik‘ zu konsolidieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes leisten eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme der aktuellen Forschungen zur Novemberrevolution und weisen neue Fragestellungen und Herangehensweisen aus. Sie untersuchen zudem, warum die erste erfolgreiche demokratische Revolution bislang einen so schweren Stand im Erinnerungshaushalt der Deutschen hatte, und fragen danach, ob sie nicht doch ein demokratischer Erinnerungsort sein könnte.

ISBN 978-3-515-12219-1

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7835 1 5 1 22 191

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