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German Pages 116 Year 1977
EGON LORENZ
Zur Struktur des internationalen Privatrechts
Schriften zum Internationalen Recht Band6
Zur Struktur des internationalen Privatrechts Ein Beitrag zur Reformdiskussion
Von
Dr. Egon Lorenz o. Professor an der Universität Mannheim
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Lorenz, Egon Zur Struktur des internationalen Privatrechts: e. Beitr. zur Reformdiskussion. - 1. Aufl. Berlin: Duncker und Humblot, 1977. (Schriften zum Internationalen Recht; Bd. 6) ISBN 3-428-03887-8
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berl!n 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany
© 1977 Duncker
ISBN S 428 03887 8
Professor Dr. Dr. Kuno Barth zum siebzigsten Geburtstag am 13. Dezember 1976
Vorwort Die folgende Abhandlung entstand während der Arbeit an einer Schrift über das anwendbare Deliktsrecht bei Schiffszusammenstößen auf hoher See. Die Beschäftigung mit dem internationalen Deliktsrecht führte unvermeidlich in die moderne Reformdiskussion, die in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt und mit zunehmendem Aufwand betrieben worden ist. In dieser Diskussion hat die historische Entwicklung des Kollisionsrechts besondere Bedeutung gewonnen: Sie liefert nicht - wie oft - nur "schmückenden Zierat", sondern gewichtigen Argumentationsstoff. Der von Reformern und Bewahrern des herkömmlichen Kollisionsrechts betriebenen vertikalen Ausweitung der Diskussion war zu folgen. Dabei haben sich - nicht durch die Entdeckung neuer Quellen -Einsichten ergeben, die sowohl die Würdigung der im vergangenen Jahrhundert geleisteten Arbeit am Kollisionsrecht als auch die Beurteilung der modernen Reformvorschläge beeinflußt haben. Zugedacht ist die Abhandlung meinem verehrten Fakultätskollegen, Professor Dr. Dr. Kuno Barth, der an seinem 70. Geburtstag zwar hauptsächlich auf ein umfassendes steuerrechtliches Werk zurückblicken kann, aber stets auch die wissenschaftlichen Bemühungen in anderen Rechtsgebieten aufmerksam verfolgt hat. Für die bereitwillige Aufnahme in die "Schriften zum Internationalen Recht" habe ich dem Inhaber des Verlages, Professor Dr. J. Broermann, zu danken.
Egon Lorenz
Inhaltsverzeichnis § 1:
Einleitung: Moderne Strömungen im IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkung
§ 2:
15 15
li. Bemerkungen zum Inhalt der "modernen Strömungen" . . . . . . . .
16
1. Die ("sachnorm-) analytische" Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
2. Ehrenzweigs "lex-fori-approach" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
III. Zur Verbreitung der modernen Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Die wichtigsten Grundlagen der modernen Kritik d es herkömmlichen Kollisionsrechts nnd die daraus erwachsende Fragestellung . .
21
I. Die Grundlagen
21
1. Die historische Originalität und Zeitgebundenheit der von Savigny vertretenen Konzeption des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2. Die zweifelhafte Begründung der "Zw eiseitigkeit" (Allseitigkeit) des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
§ 3:
3. Technische Schwierigkeiten des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
li. Die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
Zur historischen Grundlegung des herkömmlichen Kollisionsrechts . .
26
I. Die Bedenken gegen die historische Diagnose der Kritiker des
herkömmlichen Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
1. Die Überschätzung des kollisionsrechtlichen Neuansatzes im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
2. Die einseitige (unvollständige) Würdigung der sogenannten "statutentheoretischen Methode" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) Das Zusammenwirken zwischen Statutentheorie und allseitigen Kollisionsnormen: Die Statutentheorie als "Allgemeiner Teil" des Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Zu den Belegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Gesamtkonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Einzeluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Die Folgen der Bedenken . . .... ... ... . .............. , . . . . . . . .
40
1. Zur Beurteilung der von Savigny bewirkten Reform des Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
10
Inhaltsverzeichnis a) Savignys Annahme einer "völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Savignys methodische Grundanweisung und die allseitigen Kollisionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die statutentheoretischen Bestandteile in der Konzeption Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Savignys Beurteilung der Statutentheorie . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis: Der Schwerpunkt der von Savigny erarbeiteten Reform des Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
42 43 44 46
2. Zur Abhängigkeit der herkömmlichen Konzeption des Kolli-
sionsrechts von Savignys rechtspolitischen Erwartungen und von seinem Privatrechtsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Das Ausmaß der "Entpolitisierung" ("Entstaatlichung") des !PR durch Savigny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Die Bedeutung der von Savigny formulierten Grundlagen für seine darauf gestützte kollisionsrechtliche Konzeption 49
III. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
§ 4: Zur Notwendigkeit eines Str ukturwandels des Kollisi onsrechts . . . .
55
I. Skizzierung der Grundlagen des herkömmlichen !PR . . . . . . . . . .
56
1. Grund, Gegenstand und Inhalt der kollisionsrechtlic..llen Frage
56
2. Der begrenzte weltweite Konsens über die Beantwortung der
kollisionsrechtlichen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die rechtliche Grundlage für die Nichtanwendung der lex fori und die Anwendung eines ausländischen Sachrechts . . . . . . . . a) Die Möglichkeit einer allgemeinen völkerrechtlichen Pflicht zur Berücksichtigung etwaiger durch die Auslandsberührung aktivierter ausländischer Rechtsanwendungsinteressen ... ........... ... .................. . . . ....... . .. .. b) Die Möglichke it einer allgemeinen "Pflicht m inderer völkerrechtlicher Intensität" zur Berücksichtigung der durch die Auslandsberührung aktivierten ausländischen R echtsanwendungsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Gleichheitssatz als rechtliche Grundlage für die Nichtanwendung der lex fori und die Anwendung eines ausländischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folgerungen für das Verständnis des Kollisionsrechts . . . . . .
57 57
58
59 60
61
a) Die Befreiung des IPR vom völkerrechtlichen Denken und das Bekenntnis zu einem sachrechtliehen Denken im IPR 61 b) Die Aufhebung der Antinomie zwischen materiellprivatrechtli Jler und internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Die Beseitigung der politischen Vorbehalte gegen allseitige Kollisionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5. Folgerungen für die Konzeption des Kollisionsrechts . . . . . . . . 63 a) Der GJp;chheitssatz als Mittel zur Internationalisierung des Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Inhaltsverzeichnis
11
b) Der Gleichheitssatz als Begründung der Sitzregel 64 c) Der Gleichheitssatz als Grundlage zum Verständnis des ordre-public- Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 li. Einwände gegen die auf den Gleichheitssatz zurückgeführte Konzeption des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
1. Einwände gegen die Allseitigkeit des IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Die Argumentation mit dem Zuständigkeits- und dem Anerkennungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Die Argumentation mit der gewachsenen "Staatlichkeit" des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2. Einwände gegen das Erfordernis der "Nationalisierung" der Rechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Einwände gegen die fehlende "Individualisierung" des herkömmlichen Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Einwände gegen die fehlende "Politisierung" des herkömmlichen Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 a) Immanente Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) Kritik der Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5. Einwände ge~en die fehlende "Materialisierung" des herkömmlichen Kollisionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Immanente Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Kritik der Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6. Einwände gegen die zu weite Zurückdrängung der lex fori durch das herkömmliche Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Vorrang der Ergänzung des Kollisionsrechts gegenüber der Anwendung des inländischen Sachrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Der in der lex-fori-Konzeption verborgene "Evolutionszirkel" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
§ 5:
III. Ergebnisse
87
Zur Argumentati on m i t den "technischen Schwierigkei ten" bei d er Handhabung des herkömmlichen IPR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
I. Die Arten der technischen Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
1. Die Probleme der "Lückenfüllung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
2. Die Probleme des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
3. Die Probleme bei der Ermittlung des anwendbaren auslä ndischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
li. Zum Vergleich: Die technischen Schwierigkeiten der modernen Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
1. Die ("sachnorm-) analytische" Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der proper-law-approach b) Der better-law-approach
97 97 99
2. Der lex-fori-approach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
12
Inhaltsverzeichnis III. Möglichkeiten zur Verminderung der "technischen" Schwierigkeiten .............................. .. ...................... 103 1. Fakultatives Kollisionsrecht
103
2. Die Konzentrierung der Zuständigkeit für die Beurteilung internationalprivatrechtlicher (internationalrechtlicher) Fragen ...................................................... 105 IV. Ergebnisse
106
§ 6: Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Abkürzungsverzeichnis AcP Anm. AP Aufl. AWD
=
Archiv für die civilistische Praxis Anmerkung Arbeitsrechtliche Praxis Auflage Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters
BAG Bd. Bem. BöhmsZ
Bundesarbeitsgericht Band Bemerkung Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht, begründet von Ferdinand Böhm
c.
Calif.L.Rev. Colum.L.Rev.
Codex im Corpus iuris civilis California Law Review Columbia Law Review
DVBl
Deutsches Verwaltungsblatt
Fußn.
Fußnote
GBl. GG
Gesetzblatt Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Harv.L.Rev.
Harvard Law Review
IPR
Internationales Privatrecht
JZ
Juristenzeitung
L.Contemp.Probl.
Law and Contemporary Problems
Ned.T.Int.R. NJW N.Y.U.L.Rev.
Nederlands Tijdschrift voor Internationaal R echt Neue Juristische Wochenschrift New York University Law Review
öst. Okla.L.Rev.
Österreichische Oklahoma Law Review
RabelsZ
Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von Rabel Academie de Droit International, Recueil des Cours Revue critique de droit international prive
Rec. des Cours Rev.crit.d.dr.int.p.
=
s., s. Schw.Jb.Int.R.
siehe und Seite Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht
U.Chi.L.Rev.
University of Chicago Law Review
VersR vgl.
Versicherungsrecht vergleiche
Z.f.öfftl.R. ZfRV zit. ZvglRW
Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtsvergleichung zitiert Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
§ 1: Einleitung: Moderne Strömungen im IPR I. Vorbemerkung Es gibt heute kaum einen Vorwurf, der dem herkömmlichen IPR nicht gemacht worden ist1• Während Kegel im Jahre 1964 in seiner Raager Vorlesung über die Krise des IPR beruhigend feststellte: "Crisis is a way of life" 2 , wa:r für andere schon damals das Leben des "klassischen IPR" bedroht. Der Kampf ums Überleben ist noch nicht entschieden. In breiter Front begonnen hat er in den USA, wo die Kritik am herkömmlichen IPR zuerst als Krise diagnostiziert wurde und starke "moderne Strömungen" hervorgebracht hat. Die neuen Ansätze sind verbunden mit den Namen Cavers, Currie, Leflar, von Mehren, Trautman unddavon abgesetzt- Ehrenzweig. Die Arbeiten dieser Gelehrten eroberten die internationale Diskussion. Eine amerikanische Epoche des modernen IPR begann sich anzubahnen. Eines ihrer wichtigsten Paradefelder bildete das internationale Deliktsrecht3 • Eine flüchtige Literaturschau kann sogar den Eindruck aufkommen lassen, daß die amerikanischen Gelehrten nicht wegen der "Krise des IPR", sondern wegen der Krise des amerikanischen internationalen Deliktsrechts zu neuen Ufern aufgebrochen sind. Die modernen Strömungen richten sich aber längst gegen die gesamte herkömmliche Konzeption des Kollisionsrechts, also gegen das Gefüge mehr oder weniger starrer Kollisionsnormen mit Verweisungsbegriffen und festen Anknüpfungspunkten, das durch die Grundsätze des sogenannten "Allgemeinen Teils des IPR" ergänzt wird. Diese Konzeption ist nach Ansicht der modernen Theoretiker durch strukturimmanente Reformen, etwa durch "Auflockerung der Anknüpfungen"4, durch "Sonderanknüpfungen" 5 , durch stärkere Beachtung des 1 Aufzählung der gröbsten Vorwürfe bei Juenger, Zum Wandel des Internationalen Privatrechts, 1975, 1 f. Vgl. dazu aber auch die scharfe Replik von Kegel, bei Juenger, 35 ff. 2 Kegel, Rec. des Cours 112 (1964 II), 90 ff., 268. Im Ergebnis ebenso ders., wie vorige Fußn. 3 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur Wilde, Der Verkehrsunfall im internationalen Privatrecht, 1969; Seetzen, VersR 1970, 1 ff.; Trutmann, Das IPR der Deliktsobligationen, 1973; Jayme, RabelsZ 38 (1974), 583 ff.; Mühl, VersR 1973, 1088 ff.; und neuestens Kropholler, ZfRV 16 (1975), 256 ff.; jeweils mit vielen Nachweisen. 4 Dazu z. B. Binder, RabelsZ 20 (1955), 401 ff. ; Kropholler, RabelsZ 33 (1969), 599 ff. mit vielen weiteren Hinweisen in Fußn. 1; ferner ders., wie oben Fußn. 3; Mummenhoff, NJW 1975,476 ff. 5 Vgl. dazu nur Rehbinder, JZ 1973, 151 ff.
16
§ 1: Einleitung: Moderne Strömungen im IPR
Parteiwillens auch außerhalb des internationalen Vertragsrechts6 , oder durch "Sachnormen im IPR" 7 nicht mehr zu retten. Wichtigstes Mittel zur Beantwortung der Rechtsanwendungsfrage soll vielmehr die "Sachnormanalyse" ("-interpretation") werden. Diese Methode ist nicht ohne historische Bezüge. Wiethölter hat sie treffend so umschrieben: "Die Statutentheorie ist tot- es lebe die Statutentheorie8 !" Ebenso wie alle modernen Statutisten fordert er damit keinen Rückfall in die "Finsternis der (historischen) Statutentheorie" 0, wohl aber einen Statutistischen Ansatz. Dieser neue Ausgangspunkt wird als die Konsequenz eines "Funktionswandels"10 oder eines "Wandels des Internationalen Privatrechts" 11 ausgewiesen. II. Bemerkungen zum Inhalt der "modernen Strömungen" Es gibt nicht die moderne Strömung, sondern moderne Strömungen. Das erschwert die Darstellung und zwingt zu groben Zusammenfassungen. Sie können gewagt werden, weil die modernen Lehren in der deutschen und europäischen Literatur so häufig dargestellt worden sind12, daß sie als bekannt unterstellt werden dürfen. Da die Gefahr von Mißverständnissen somit gebannt ist, sollen nur zwei Konzeptionen unterschieden werden, nämlich (1.) die ("sachnorm-)analytische" Methode, die sich nach ihren - überwiegend - verfolgten Zielen entweder als "proper-law-approach" oder als "better-law-approach" charakterisieren läßt, und davon abgesetzt (2.) die von Ehrenzweig entwickelte lex-fori-Konzeption ("lex-fori-approach"), in der die (Sachnorm-)Analyse eine kleinere Rolle spielt. 8 Etwa im internationalen Deliktsrecht. Vgl. dazu die Hinweise in Fußn. 4, insbesondere Kropholler. 7 Vgl. dazu die 1958 unter diesem Titel erschienene Schrift von Steindorff, sowie die weiteren Hinweise bei Kegel, Crisis, 251 ff. und 257 ff. (Schmitthoff). Vgl. ferner v . Mehren, Harv.L.Rev. 88 (1975), 347 ff. 8 Wiethölter, DVBl 1967, 465 (Rezension von Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965). 9 So ausdrücklich Wiethölter in: Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen internationalen Erbrechts, herausgegeben von Lauterbach, 1969,
141 ff., 142. 10 Vgl. Joerges, Zum Funktionswandel des Kollisionsrechts, 1971. 11 Vgl. dazu den Titel der Arbeit von Juenger, oben Fußn. 1. 12 Vgl. nur Heini, Schw.Jb.Int.R. 19 (1962, 1964), 31 ff.; Kegel , Rec. des Cours 112 (1964 II), 91 ff.; Lüer, Ned.T.Int.R. 12 (1965), 124 ff.; Vischer, Festschrift für Germann, 1969, 287 ff.; ferner die bereits genannten Arbeiten von Wilde, P. M. Gutzwiller, Seetzen, Joerges, sowie Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401 ff. (s. dazu auch die glänzende Würdigung durch Ferid, IPR, 1975, 26); Trutmann; Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 ff.; Mühl, VersR 1973, 1088 ff.; Lipstein, Rec. des Cours 135 (1972 I), 97 ff.; Firsching, ZffiV 16 (1975), 99 ff.; F errer-Correia, Rec. des Cours 145 (1975 II), 57 ff., 72 ff., jeweils mit vielen
weiteren Nachweisen.
li. Bemerkungen zum Inhalt der "modernen Strömungen"
17
1. Die (,.sadmorm-) analytisdle" Methode
Das Bekenntnis zu dieser Methode schließt - bei allen Unterschieden in der Handhabung- zwei Grundentscheidungen ein: Die meist bis zur völligen Ablehnung reichende Zurückdrängung der Kollisionsnormen herkömmlicher Struktur und die Überzeugung, daß der "kollisionsrechtliche Kompaß" für die Sachnormen- in erster Linie oder allein- durch die Sachnormanalyse gefunden werden muß. Bei dem Vollzug dieser Methode kann man vergröbernd drei Arbeitsgänge unterscheiden: Im ersten Arbeitsgang geht es um die Bestimmung der durch den zu beurteilenden Sachverhalt berührten und damit als anwendbar in Betracht zu ziehenden Rechtsordnungen. Diese Aufgabe wird bei den Anhängern der neuen Konzeption unterschiedlich intensiv problematisiert. Der zweite Arbeitsgang besteht in der Analyse (Interpretation) der in dem ersten Arbeitsgang bestimmten Rechtsordnungen, insbesondere ihrer in casu einschlägigen Sachnormen. Die Analyse dient dazu, die Gesichtspunkte und Interessen freizulegen, die für die Beurteilung der Anwendbarkeit der beteiligten Sachnormen für relevant gehalten werden. Dabei gehen die verschiedenen Autoren (selbstverständlich) nicht von den gleichen Relevanzkriterien aus. Die meisten würdigen ein weites Spektrum von Gesichtspunkten und Interessen, während sich Currie auf die "governmental policy" des Forumstaates und auf die "governmental interests" der Staaten konzentriert, deren Sachnormen als anwendbar in Betracht zu ziehen sind13• Dadurch werden für Currie die Staaten als Träger der governmental interests zu "Parteien" des für die kollisionsrechtliche Rechtsfindung notwendigen Argumentationsprozesses14• Der dritte Arbeitsgang schließlich gilt der Bewertung der freigelegten und für relevant gehaltenen Gesichtspunkte und Interessen, dem Vergleich der analysierten Sachnormen und dadurch der Bestimmung der Vorschriften, die den Rechtsstreit entscheiden. Das sind- je nach dem Maßstab für die Auswahl der relevanten Gesichtspunkte und Interessen- beispielsweise dieSachnormen des einzigen an der Anwendung seiner Vorschriften "interessierten" Staates oder die Sachnormen der lex fori oder die Sachnormen, die sich im Vergleich der kollidierenden Rechte als die (inhaltlich) besseren (better rules) erweisen16• 1s Das bedeutet: Auch Parteiinteressen sind nur in dem Umfang zu berücksichtigen, in dem sie in die "governmental interests" eingegangen sind. Vgl. dazu Joerges, 111, 118, 129, 148, und Rehbinder, JZ 1973, 151 ff., 152 u. 157. 14 Bereits hervorgehoben von Joerges, 154 f. 15 Vgl. insbesondere Leflar, American Confiicts Law (1968), 243 ff.; ders., N.Y.U.L.Rev. 41 (1966), 267 ff. 2 Lorenz
18
§ 1: Einleitung: Moderne Strömungen im IPR
2. Ehrenzweigs "lex-fori-approacb"
Ehrenzweigs "lex-fori-approach" 16 gehört insofern zu den anderen "neuen Lehren", als auch er den Sachnormen- nämlich den Sachnormen der lex fori- bei der Beantwortung der Frage nach dem anwendbaren Recht eine größere Bedeutung einräumt als die herkömmliche Lehre. Er nimmt aber dennoch eine Sonderstellung ein, weil er vorhandene Kollisionsnormen herkömmlicher Struktur anerkennt und die lex fori konzeptionell anders bewertet als die übrigen Lehren, die allerdings auch nicht selten bei der lex fori landen. Grundlage für die Beantwortung kollisionsrechtlicher Fragen sind nach Ehrenzweig zunächst die (eindeutigen) Kollisionsnormen der lex fori. Fehlen sie, so sind die Sachnormen der lex fori auf kollisionsrechtliche Hinweise zu untersuchen. Es handelt sich dabei um eine teleologische Auslegung, bei der auch solche Interessen berücksichtigt werden, die nicht in den Sachnormen enthalten sind. Eine Analyse der governmental interests der Staaten, deren Rechtsordnungen durch den zu beurteilenden Fall ebenfalls berührt werden, hält Ehrenzweig jedoch für unzulässig, weil es kein "superlaw" und deshalb auch keinen übergeordneten Bewertungsmaßstab gibt. Falls die Untersuchung der Sachnormen der lex fori kollisionsrechtlich nichts hergibt, muß der Richter sein Recht als Auffangrecht anwenden17•
111. Zur Verbreitung der modernen Lehren Die durch die Stichworte "proper-law-approach" und "better-lawapproach" vergröbernd zusammengefaßten Lehren, von denen Ehrenzweigs lex-fori-approach abzusetzen ist, haben in den vergangenen Jahren auch in Europa Anhänger gefunden. Nach grundsätzlichen Voraru Vgl. dazu Ehrenzweig, Rec. des Cours 124 (1968 Il), 167 ff., 214 ff. und die dort zu findenden Hinweise auf seine früheren Arbeiten; ferner ausführlich Lipstein, Rec. des Cours 135 (1972 I), Section 15: "Wächter redivivus- Ehrenzweig". 17 Vgl. Ehrenzweig, Private International Law, General Part, Second Printing, 1972, 103 f., ferner ders., Harv.L.Rev. 80 (1966), 377 ff., 386. Ebenso auch Currie, Selected Essays, 117, und ders., Colum.L.Rev. 63 (1963), 1233 ff., 1241, für die "true conflicts". Er muß in diesen Fällen zur lex fori kommen, weil eine Bewertung der kollidierenden governmental interests der verschiedenen Staaten nicht möglich ist. Näher dazu: Joerges, 155 f . - Vgl. zur Lehre Ehrenzweigs auch v. Wächter, AcP 24 (1841), 261 ff., wo er- wie Ehrenzweig ausführt, daß der Richter die Frage nach dem anwendbaren Recht zuerst anhand der positiven Kollisionsnormen der lex fori zu beurteilen hat. Fehlen solche Kollisionsnormen, so soll er in den für das zu beurteilende Rechtsverhältnis einschlägigen Sachnormen der lex fori eine (kollisionsrechtliche) Antwort suchen. Scheitert auch diese Möglichkeit der Kollisionsrechtsfindung, so hat er die lex fori anzuwenden. Vgl. zu diesem Bericht über die Lehre Wächters auch Herrmann, Johan Nikolaus Hert und die deutsche Statutenlehre, 1963, 170, und zur Bedeutung Wächters z. B. Gamillscheg, Der Einfluß Dumoulins auf die Entwicklung des Kollisionsrechts, 1955, 252 ff.
III. Zur Verbreitung der modernen Lehren
19
beiten und Anstößen zur Reform des Kollisionsrechts18 sind neben vorsichtigen Sympathiekundgebungen, die an den Vorbehalt weiterer Forschungen gebunden sind19, auch eindeutige Rezeptionsbekenntnisse oder Parallelvorschläge deutschsprachiger Autoren zu den einzelnen amerikanischen Reformrichtungen festzustellen. Die neuere Serie der Veröffentlichungen dieser Art beginnt mit der Arbeit P. M. Gutzwillers, der sich für den better-law-approach ausspricht: Er fordert "die Anwendung der Sachnormen, die nach dem in concreto zu erzielenden Ergebnis am ehesten befriedigen" 20• Es folgt die umfassende Untersuchung von J oerges, der Curries Lehre von der Maßgeblichkeit der governmental interests als neues, allerdings auch nach seiner Ansicht bearbeitungsbedürftiges Fundament des Kollisionsrechts übernimmt21 • Hierher gehören weiterhin die Vorschläge von Däubler22 und Kühne 23 , die für Teilgebiete, nämlich für die Rechtswahl im Arbeitsrecht (Däubler) und für die Produzentenhaftpflicht (Kühne) den better-law-approach befürworteten. Hervorzuheben ist ferner die Stellungnahme Zweigerts, der in lockerer Anlehnung an Leflar zu diesem Satz gelangt ist: "Wo aber eine klare Kollisionsregel nicht zu finden ist, sollte der Richter die im betreffenden Fall in Betracht kommenden Rechtsordnungen vergleichen und die bessere Regelung anwenden, d. h. die Regelung, welche das betroffene Rechtsgut am wirksamsten schützt24 ." Zu nennen sind schließlich die sehr viel radikaleren Forderungen, die Juenger2 5 in seinen deutschen Veröffentlichungen erhoben hat, sowie die neuestens unter dem Einfluß der modernen Lehren von Bucher26 ausgesprochene Empfehlung, das herkömmliche Kollisionsrecht stärker aufzulockern. Bucher gelangt nach 1s Vgl. etwa Kronstein, Recht und wirtschaftliche Macht, 1962, 289 ff. mit weiteren Hinweisen auf seine Schriften; Wiethölter, wie Fußn. 8 u. 9; Voget, wieFußn. 8. 19 In diesem Sinne etwa Rehbinder, JZ 1973, 151 ff.; und Steindorff, Entwicklungen, 157 ff. 20 P . M. Gutzwmer, 169. Die Anhänger des herkömmlichen IPR bezeichnet er als "Mechaniker" (192). 2 1 Joerges, 154 und passim. Einen Versuch, auf breiter Basis eine punktuelle Präzisierung zu erreichen, unternimmt er in seinem Aufsatz "Die klassische Konzeption des Internationalen Privatrechts und das Recht des unlauteren Wettbewerbs", RabelsZ 36 (1972), 421 ff. Die Präzisierung ist aber auch in diesem Beitrag kaum vorangetrieben worden: vgl. Neuhaus, Grundbegriffe, 2. Aufl., 40, Fußn. 114. 22 Däubter, A WD 1972, 1 ff. Seine These ist jedoch aus doppeltem Grunde besonders zu behandeln: weil sie das Sonderproblem der Parteiautonomie betrifft und sich nicht an die modernen Lehren anlehnt. Gegen Däubler nachdrücklich: Grunsky, Anm. zu BAG AP Nr. 159 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 23 Kühne, Calif.L.Rev. 60 (1972), 1 ff. 24 Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 ff., 444 u. 447 (zu Leflar). 25 Vgl. Juenger, wie Fußn. 1, und ders., NJW 1973, 1521 ff. 26 Bucher, Grundfragen der Anknüpfungsgerechtigkeit im internationalen Privatrecht (aus kontinentaleuropäischer Sicht), 1975, 42 ff.
§ 1: Einleitung: Moderne Strömungen im IPR
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eigenständiger Würdigung der Grundlagen des von Savigny erarbeiteten Kollisionsrechts zu der Einsicht, daß die in den Sachnormen zum Ausdruck gebrachten Interessen der Gesetzgeber, insbesondere die sozialpolitischen Vorstellungen bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der Sachnormen deutlicher zu berücksichtigen seien. Es müsse deshalb danach gefragt werden, inwieweit die konkrete Zwecksetzung nach einem bestimmten Gestaltungsbereich verlange. Bei der Beantwortung dieser Frage sei allerdings davon auszugehen, daß die Aufspaltung der Interessen in vorrangige Gemeinschaftsinteressen (Interessen des Staates) und Einzelinteressen (Interessen der Parteien) nicht möglich sei. Die gegenteilige von Currie und Joerges vertretene Auffassung sei wirklichkeitsfremd und nicht überzeugend27 •
27
Bucher, 49 - 53.
§ 2: Die wichtigsten Grundlagen der modernen Kritik des herkömmlichen Kollisionsrechts und die daraus erwachsende Fragestellung I. Die Grundlagen Während in den modernen amerikanischen Lehren der Weg zum neuen Ansatz meist mit Angriffen auf die "vested-rights-theory" von Beale1 eröffnet wird, ist für die neuen deutschen Lehren der Weg erst frei, wenn Savignys Theorie des !PR als zeitbedingte und damit durch die weitere Entwicklung überwundene Konzeption oder gar als ein "Irrtum von Anfang an" ausgewiesen wird. Von den eindrucksvollen Arbeiten, welche mit einem dieser Ergebnisse enden, ist die 1965 erschienene Untersuchung von Klaus Vogel: "Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm" 2 besonders hervorzuheben, weil sie- so umfassend wie nur möglich - das !PR und seine geistesgeschichtlichen und staatstheoretischen Bezüge durch die verschiedenen rechtshistorischen Epochen verfolgt. Die (bekannte) Argumentation Vogels ist von anderen Kritikern des herkömmlichen !PR zustimmend aufgenommen worden3 • Sie soll deshalb im folgenden als ausgewählter Beleg für das Grundla1 Vgl. dazu nur Currie, Selected Essays, 613: "Almost all constructive writing on conflict of laws in this century has been a revolt against this 'heritage'." Bereits hervorgehoben von Joerges, 26, Fußn. 29. Zur Bedeutung der Lehre Beales vgl. ebenfalls Joerges, 28 ff. 2 Vgl. insbesondere Vogel, 205 - 240. Aus dem früheren Schrifttum zur Lehre Savignys sind die Arbeiten von M. Gutzwiller, Der Einfluß Savignys auf die Entwicklung des Internationalprivatrechts, 1923; Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/ 50), 344 ff. und Steindorff, 37 ff., hervorzuheben. Sie sehen manches so wie Vogel, unterbreiten aber keine die herkömmliche Konzeption überwindenden Reformvorschläge. Das gilt auch für die von Steindorff vorgetragene Lehre, welche - vergröbernd gesagt - das herkömmliche !PR durch Sachnormlösungen ergänzt: deshalb Sachnormen "im" !PR. Vgl. zum Ganzen auch Kegel, Festschrift für Raape, 1948, 13 ff., 16; er meint, das Verdienst Savignys liege nicht .,in der Abstellung auf das Rechtsverhältnis, sondern in der Differenzierung selbst, die er durch seine Methode erreicht". 3 Vgl. etwa Bauer, Das Internationale Privatrecht im Rechtssystem, Diss. Erlangen 1967, 174 ff.; Mertens, RabelsZ 31 (1967), 385 ff.; Wiethölter, in: Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen und internationalen Erbrechts, 1969, 141 ff., 142 f., vgl. auch ders., DVBl 1967, 465 f. (Besprechung des genannten Buches von Vogel). Joerges, 4 ff., 8, und ders., RabelsZ 36 (1972), 421 ff. 467 ff., und passim; wohl auch Rehbinder, JZ 1973, 151 ff. und Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 ff. Kritisch: Bucher, 42 ff.
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§ 2: Grundlagen der modernen Kritik des Kollisionsrechts
genverständnis der Kritiker des herkömmlichen Kollisionsrechts dienen und wenigstens ganz grob skizziert werden. 1. Die historisme Originalität und Zeitgebundenheit der von Savigny vertretenen Konzeption des IPR
Vogel sieht in der von Savigny entworfenen und allgemein als "kopernikanische Wende" (Neuhaus4 ) gefeierten Konzeption des IPR eine Innovation ohne historisches Vorbild. Savigny habe nicht nur "dogmatische Einzelheiten", sondern auch die "tragenden Grundgedanken des Internationalen Privatrechts erneuert" 5 • Diese hymnische Beurteilung der kollisionsrechtlichen Arbeit Savignys führt Vogel zu der Frage nach der Begründung für diesen Neuansatz. Er findet sie hauptsächlich in Savignys auf das Sozialmodell des 19. Jahrhunderts bezogenen Privatrechtstheorie: Im Gegensatz zu der in der statutentheoretischen Epoche herrschenden Ansicht habe Savigny das Privatrecht nicht "in erster Linie als staatliches Recht, sondern als eine dem Staat bereits vorgegebene Ordnung" verstanden6 • Diese VorsteHung habe zwingend7 zu dem "entpolitisierten" (Neuhaus8) oder - wie Vogel9 sagt - zu dem "entstaatlichten" IPR führen müssen, das Savigny entworfen habe. Dieses "entstaatlichte" IPR sei deshalb in keiner rechtshistorischen Epoche zu finden und es könne auch gar nicht gefunden werden, weil weder zur Zeit der Glossatoren, noch während der Herrschaft der niederländischen Schule die philosophischen und soziologischen Voraussetzungen für €ine solche Lehre gegeben waren. Deshalb seien auch die Statutisten keinem "Denkfehler" (Gamillscheg) unterlegen, wenn sie "systematisch vom Gesetz ausgingen"; dieser Ansatz sei vor dem Privatrechtsverständnis des 19. Jahrhunderts vielmehr unausweichlich gewesen10• 4
Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 364 ff., 366. 215 f. Vogel, 217 mit vielen Nachweisen. Weitere Nachweise bei Rehbinder, JZ
s Vogel, 8
1973, 151 ff., 153 unter II. 1. und 2. 7 Vogel übersieht selbstverständlich nicht, daß auch andere Faktoren mitgewirkt haben: Der Verfall der bis dahin aufgekommenen Lehren, insbesondere der von v. Wächter (AcP 24 [1841], 230 ff. und 25 [1842] 1 ff., 161 ff., 361 ff.) aufgedeckte Wirrwarr der Statutentheorie, sowie die von Steindorff, 42 ff., betonte begriffliche Durchbildung des Privatrechts. Er wehrt sich aber dagegen, in diesen Faktoren ausschlaggebende Gründe für den Neuansatz Savignys zu sehen: vgl. Vogel, 217, insbesondere seine Fußn. 13 (gegen Steindorf/). 8 RabelsZ 15 (1949/50), 364 ff., 372, 376. 9 Vogel, 217. 10 Vogel, 225. An anderer Stelle (91 f.) bestreitet Vogel außerdem (mit Gamillscheg und Steindorff), daß Savignys Fragestellung bei d'Argentre zu finden sei.
I. Die Grundlagen
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2. Die zweifelhafte Begründung der "Zweiseitigkeit" (Allseitigkeit) des IPR
Die soeben skizzierte Beurteilung der Grundlegung des modernen (heute schon wieder als "herkömmlich" zu bezeichnenden) Kollisionsrechts durch Savigny bestimmte Vogels Ausführungen zu den Gründen für die "Zweiseitigkeit des Internationalen Privatrechts". Er meint11 : Die Zweiseitigkeit (Allseitigkeit) sei nicht "pragmatisch" mit dem "Interesse des internationalen Verkehrs" zu erklären. Sie habe ihren Grund auch nicht in der Überlegung, daß es ungerecht sei, wenn man das eigene Recht auf Rechtsverhältnisse anwende, die "ihren Ursprung unter der Herrschaft eines ausländischen Rechts gefunden haben"; denn diese "Unbilligkeit" lasse sich auch auf andere Weise abwenden, etwa indem in Fällen mit Auslandsberührung die Zuständigkeit der inländischen Gerichte verneint und zugleich bestimmt werde, "die Entscheidungen der zur Sache mehr berechtigten Staaten" anzuerkennen. Die "eigentliche Rechtfertigung" der heute herrschenden Ansicht über die "Allseitigkeit des IPR" ergebe sich vielmehr aus einer bestimmten- vorausgesetzten- Vorstellung über das Verhältnis des Staates zu seiner Privatrechtsordnung. Man denke den Staat (seit Savigny) in "einer gewissen Distanz" zu der Privatrechtsordnung und schaffe sich dadurch die Grundlage für die gleichwertige Behandlung des in- und ausländischen Privatrechts. Aus dieser - zwar nicht völligen, aber weitgehenden Emanzipation der Privatrechte von den Staaten und der damit verbundenen Gleichwertigkeit der Privatrechte erklärt Vogel dann zwanglos die Konzeption des herkömmlichen IPR: Es entscheide die Frage nach dem anwendbaren Sachrecht (materiellen Recht) konzeptionell nicht nach Kriterien, die den Inhalt der kollidierenden Privatrechte beurteilen, und deshalb auf die Anwendung der inhaltlich (materiell) gerechtesten Vorschriften zielten. Maßgebend seien vielmehr Kriterien, welche das näher berechtigte Privatrecht zur Anwendung beriefen. Das vornehmliehe Ziel des IPR sei also- kurz gesagt- die "Anknüpfungsgerechtigkeit". Die Kritik des herkömmlichen Kollisionsrechts, die sich auf diese von Vogel erarbeitete historische und systematische Diagnose stützen läßt, hat Joerges12 besonders prägnant formuliert: "Savignys Rechtsbegriff (der auch nach Joerges dem herkömmlichen IPR zugrundeliegt) war zugeschnitten auf die Trennung von Staat und Gesellschaft und verlor seine Legitimation (und- so muß man in bezug auf das IPR hinzufügen- seine Legitimationswirkung) im Zuge der Vergesellschaftung des Staates und der Durchstaatlichung der Gesellschaft. Aus diesem Legitimationsverlust (dem "Funktionswandel") des Privatrechts ergibt sich 11 12
Vogel, 205 ff. RabelsZ 36 (1972), 421 ff., 467.
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§ 2: Grundlagen der modernen Kritik des Kollisionsrechts
die Forderung, bei der Entscheidung der Rechtsanwendungsfrage den Ansatz beim privaten Rechtsverhältnis aufzugeben und statt dessen den Statutistischen Ansatz beim Gesetz neu aufzunehmen, nun jedoch so, daß der internationale Geltungsbereich von Rechtsnormen aus deren politischen, sozialen und ökonomischen Zwecken und Funktionen heraus bestimmt wird." 3. Tet'hnisdle Sdlwierigkeiten des IPR
Die aus der grundlagenkritischen Auseinandersetzung mit dem herkömmlichen Kollisionsrecht gewonnene Forderung nach einem Strukturwandel des IPR wird durch die vielen Hinweise auf die "technischen Schwierigkeiten" bei der Handhabung des auf Savigny zurückgeführten Kollisionsrechts noch verstärkt. Juenger hat sie zusammengetragen und in schonungsloser Offenheit formuliert. Er meint, das !PR sei auch nach dem lokrafttreten des BGB weitgehend Gelehrtenrecht geblieben, und noch immer gebe es ein "Hantieren mit Begriffen und logischen Operationen, das an die Blütezeit der Pandektistik" erinnere13• An anderer Stelle14 spricht er von den "abstrakten und oft dunklen, schwer verständlichen Begriffen und Theorien". Außerdem verweist er15 auf die "weitverbreitete, nicht unbedenkliche Praxis der Aktenversendung an wissenschaftliche Institute und die von diesen veröffentlichten Gutachtensammlungen ..." Sie unterstreichen nach seiner Ansicht "die vorrangige Stellung der Akademiker auf einem Rechtsgebiet", das - nach Siehr16 - "häufig von den eigenen Gerichten nicht verstanden wird". Dazu paßt eine von Zweigert17 zitierte ironische Bemerkung von Hans Dölle: "Schließlich sind wir so sublim geworden, daß wir uns selber nicht mehr verstanden haben." II. Die Fragestellung
Der (wenn auch modifizierte) Rückgriff auf "alte" Methoden muß nicht notwendig zu den Ergebnissen führen, welche die Überwindung dieser Methoden begründet haben. Er kann fortschrittlich sein. Er kann aber auch darauf hindeuten, daß wirklich fortschrittliche Lösungen noch nicht gefunden worden sind. Jedenfalls provoziert er die Frage, ob nicht die unbegründet kritisierte "Gegenwart" einer mißverstandenen "Vergangenheit" geopfert wird und deshalb eine schlechtere "Zukunft" zu erVgl. Juenger, 10, wo er sich auf Neuhaus und Siehr beruft. Juenger, 18. 15 Juenger, 10. u Siehr, RabelsZ 34 (1970), 585 ff., 625. 11 RabelsZ 37 (1973), 435 ff., 451. 18
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II. Die Fragestellung
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warten ist. Die Beantwortung dieser Frage soll - dem Argumentationsgang der Kritiker des herkömmlichen Kollisionsrechts folgend - mit der Untersuchung der historischen Grundlagen des herkömmlichen Kollisionsrechts beginnen. Auf dem Fundament dieser Diagnose ist dann die Begründung für die Notwendigkeit eines Strukturwandels des herkömmlichen Kollisionsrechts zu überprüfen; und schließlich ist noch die Bedeutung der "technischen" Schwierigkeiten bei der Handhabung des herkömmlichen Kollisionsrechts für die Notwendigkeit eines Strukturwandels zu würdigen.
§ 3: Zur historischen Grundlegung des herkömmlichen Kollisionsrechts I. Die Bedenken gegen die historische Diagnose der Kritiker des herkömmlichen Kollisionsrechts 1. Die tJberschätzung des kollisionsrechtlichen Neuansatzes im 19. Jahrhundert
Ausgangspunkt der historischen Untersuchungen ist diese von den Kritikern und den Anhängern des herkömmlichen IPR gleichermaßen anerkannte Feststellung: Mit Savignys VIII. Band seines "Systems des heutigen Römischen Rechts" hat eine neue Epoche des modernen Kollisionsrechts begonnen. Es spricht auch viel dafür, daß die "alten" Statutisten die von Vogel erwähnte1 scharfe Kritik durch Gamillscheg nicht verdienen. Ebenso zweifelhaft ist aber auch, ob die Statutisten durch Vogel angemessen in Schutz genommen worden sind; denn Vogels Würdigung beruht auf der Annahme, daß Savigny das Kollisionsrecht auf eine völlig neue theoretische Grundlage gestellt habe, und gegen diese Annahme bestehen erhebliche Bedenken. Die Begründung für diese Bedenken liefert die gerade Savigny bekannte Entwicklungsgeschichte des modernen Kollisionsrechts. Sie begann mit der Überwindung der lexfori-Epoche, deren Ausläufer bis in das 13. Jahrhundert reichten2• Das Ende dieser Epoche war gekommen, sobald der Satz, daß die Vorschriften nur diejenigen Personen binden, welche ihnen unterworfen sind (statuta non ligant nisi subditos)- an der 1. lexdes Codex (C. 1.1.1) verankert3 - allgemeine Anerkennung gefunden hatte. Er begründete die Überzeugung, daß die lex fori nur dann angewendet werden könne, wenn es um prozeßrechtliche Fragen gehe oder wenn beide Parteien ihr unterworfen (subditi illius iuris municipalis) seien'. Er ließ aber offen, was geschehen sollte, wenn die Parteien zwar übereinstimmend nicht der lex fori, aber auch nicht dem gleichen Recht unterworfen, sondern verschiedenen Rechtsgebieten verbunden waren. Den Ausweg aus dieser Zwangslage eröffneten die - in Anlehnung an die besonderen Gerichtsstände 1 2
s. oben § 2 I. 1. E. Lorenz, Das Dotalstatut in der italienischen Zivilrechtslehre des 13. bis
16. Jahrhunderts, 1965, 2 f. s Zur Ableitung des Satzes an C.1.1.1 vgl. E. Lorenz, 9. 4 Vgl. dazu E. Lorenz, 14 f.
I. Die Bedenken gegen die Diagnose der Kritiker
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des gemeinen Rechts5 - entwickelten allseitigen Kollisionsnormen6 für Verträge, für Delikte, für Sachen, für das Ehegüterrecht, für Testamente, für die Form7 • Sie erklärten das Recht des Vertragsorts, Deliktsorts, Lageorts usw. für anwendbar. Durch sie wurde der Satz statuta non ligant nisi subditos zu einer Kollisionsnorm für die Fähigkeiten einer Person zurückgeschnitten8 • Die Frage, weshalb das durch die Kollisionsnormen bezeichnete Recht, etwa das Recht des Vertragsorts, auch auf Fremde, also auf non subditi angewendet werden dürfe, ist etwa von Baldus9 der Sache nach so beantwortet worden: Wer an einem Ort, der weder sein Geburts- noch sein Wohnort sei, einen Vertrag schließe, werde allein durch den Vertragsschluß subditus des an diesem Ort geltenden (Vertrags-)Rechts. Im Bereich des Kollisionsrechts für Verträge hatte sich bei Legisten und Kanonisten auch schon sehr früh die - kollisionsrechtliche- Verweisungsfreiheit durchgesetzt1°. Die hier zunächst abzubrechenden Erinnerungen an die erste Epoche des modernen IPR zeigen also, daß spätestens im 14. Jahrhundert in Oberitalien bereits ein Gefüge allseitiger Kollisionsnormen vorhanden war, das bis heute den Kernbestand der herkömmlichen Kollisionsrechtsordnungen in aller Welt bildet. Dieser Befund schmälert nicht die - allerdings neu zu beschreibenden - Leistungen der deutschen Kollisionsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bei der sogenannten "Überwindung der Statutentheorie". Er erschüttert aber die These von der völligen grundlagentheoretischen Neukonzeption des Kollisionsrechts durch Savigny und andere Gelehrte seiner Zeit. 5 s. E. Lorenz, 16 f. (allgemein) und 18 ff. (für die ehegüterrechtliche Kollisionsnorm). 8 übersieht bei E. Lorenz, 13 f. 7 Zu der Regel locus regit actum vgl. Meijers, Rec. des Cours 49 (1934 III), 603, wo er Guilelmus de Cuneo, den berühmten französischen Zeitgenossen des Bartolus als Urheber der Regel bezeichnet. 8 Vgl. dazu Gamillscheg, Dumoulin, 88, der sogar meint, der Satz habe stets nur besagt: statutum non potest habilitare non subditos. 9 Fundstelle und vollständiger Text bei E. Lorenz, 15. Die von Baldus (nur für das Vertragsrecht ausgeführte) Argumentation gehört auch in den folgenden "statutentheoretischen" Jahrhunderten zum Grundlagenbestand des Kollisionsrechts. Vgl. nur Jason de Mayno (gest. 1519), Commentaria ad I partem Codicis, Pavia 1501, C 1.1.1, fo. 9 col. 1, wo er ausführt, daß der Satz "statuta non ligant nisi subditos" bei Verträgen, Delikten und letztwilligen Verfügungen durchbrachen werde. Vgl. ferner die Arbeiten von Johan Nikolaus Hert (1651- 1710), dessen Bedeutung für die Entwicklung des Kollisionsrechts von Herrmann eindrucksvoll herausgearbeitet worden ist. Zum Problem vgl. Herrmann, 97. 10 Belege und ausführliche Diskussion bei E . Lorenz, 118 ff. (6. Kapitel). Die kollisionsrechtliche Parteiautonomie ist also weder eine Entdeckung des Franzosen Dumoulin (Molinaeus) - so bereits überzeugend Gamillscheg, Dumoulin, 110 ff., gegen viele, noch liegt ihre Geburtsstunde wie Gamillscheg, 256, meint- in der Mitte des 19. Jahrhunderts;
28
§ 3: Zur historischen Grundlegung
2. Die einseitige (unvollständige) Würdigung der sogenannten "statutentheoretiscben Methode"
Die soeben erwähnte These wird zusätzlich durch einen zweiten Einwand in Zweifel gezogen. Er ergibt sich aus den Bemerkungen über die sogenannte "statutistische Epoche", also das Zeitalter der Statutentheorie. Sie sind gekennzeichnet durch eine isolierte Würdigung der in dieser Zeit dominierenden statutentheoretischen Grundsätze, insbesondere der auch von Savigny11 erwähnten Kernsätze der Statutentheorie, nach denen Personen den Personalstatuten des Wohnsitzes, Grundstücke den Realstatuten des Lageorts und Handlungen den gemischten Statuten des Handlungsorts unterworfen sind, wo immer auch ein Urteil gesprochen werden muß. Durch die Konzentration der Aufmerksamkeit auf diese Sätze ist der Eindruck entstanden, die Statutentheorie sei eine "Zwischenkonzeption" des Kollisionsrechts, die weder mit dem Gefüge allseitiger Kollisionsnormen der ersten Epoche noch mit der im 19. Jahrhundert wiederentstandenen Konzeption aus allseitigen Kollisionsnormen innerlich verbunden sei. In Wahrheit enthält die Statutentheorie jedoch keine strukturelle Sonderkonzeption, also keine die kontinuierliche Fortbildung der Struktur des modernen Kollisionsrechts störende, sondern eine für die strukturelle Durchbildung zwingend notwendige Entwicklungsstufe.
a) Das Zusammenwirken zwischen Statutentheorie und allseitigen Kollisionsnormen: Die Statutentheorie als "Allgemeiner Teil" des Kollisionsrechts Die Einsicht in die Funktion der statutentheoretischen Grundsätze öffnet sich mit der Frage, was das Gefüge der allseitigen Kollisionsnormen aus der ersten Epoche des modernen Kollisionsrechts von der im 19. Jahrhundert entstandenen, heute herkömmlichen Konzeption unterscheidet. Wenn man von Einzelheiten in der Formulierung der Kollisionsnormen absieht, kann man sagen: Es ist der sogenannte "Allgemeine Teil des Kollisionsrechts", zu dem - um nur den wichtigsten Inhalt zu nennen - die Grundsätze über die Qualifikation, über den Statutenwechsel und den Verkehrsschutz (heute im deutschen Recht teilweise Art. 7 Abs. 3 EGBGB), über die Rück- und Weiterverweisung (heute im deutschen Recht Art. 27 EGBGB), über die Abgrenzung von Gesamtund Sachstatut (heute im deutschen Recht Art. 28 EGBGB) und insbesondere über den ordre-public-Vorbehalt (heute im deutschen Recht Art. 30 EGBGB) gehören. Diese Grundsätze sind heute unentbehrlich und sie waren es auch schon im 14. Jahrhundert. Ihre Entwicklung mußte also schon damals in Angriff genommen werden, und das ist auch geu Vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, 123.
I. Die Bedenken gegen die Diagnose der Kritiker
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schehen, nämlich durch die Überlegungen, die wir heute als Statutentheorie zusammenfassen. Zugespitzt formuliert heißt das: Die Statutentheorie enthält den "Allgemeinen Teil" des (grob gesprochen) vor dem 19. Jahrhundert maßgebenden, auf allseitigen Kollisionsnormen beruhenden IPR. Ihre Funktion bestand also - wie die Funktion der seit Wächter12 und Savigny entstandenen Grundsätze des "Allgemeinen Teils" - darin, die Verweisungen durch die (allseitigen) Kollisionsnormen des sogenannten "Besonderen Teils" zu "kontrollieren". Ihre Regeln leben- in erheblichem Umfang- in dem modernen "Allgemeinen Teil" fort. b) Einzelheiten Diese Zusammenhänge sind bislang mehr oder weniger verdeckt geblieben, weil man nicht hinreichend berücksichtigt hat, daß auch für die sogenannten Statutisten die bereits im 14. Jahrhundert geschlossen vorhandenen allseitigen Kollisionsnormen zum selbstverständlichen und auch aktuellen Bestand der kollisionsrechtlichen Arbeit gehörten13• Das ist leicht zu übersehen, weil die "alten" Statutisten sowohl ihre systematischen Schriften als auch ihre Arbeiten für die Praxis, etwa die Rechtsgutachten, meist mit Ausführungen zu einer Sachnorm begannen. Es handelt sich aber bei den praktischen Arbeiten durchweg und selbstverständlich um Sachnormen, die mit einer überkommenen (allseitigen) Kollisionsnorm im Zusammenhang standen: sei es, weil sie durch eine solche Kollisionsnorm zur Anwendung berufen wurden, sei es, daß sie geeignet waren, die Anwendung der durch eine solche Kollisionsnorm bezeichneten Sachnorm in Frage zu stellen. Zu Konflikten dieser Art kam es beispielsweise dann, wenn ein Gesamtstatut, etwa das für die Beurteilung von persönlichen Fähigkeiten, für Verträge oder Testamente maßgebende Recht mit dem Recht am Lageort von Immobilien kollidierte. In diesen Fällen ging es einmal um die Abgrenzung zwischen Gesamtstatut und Einzelstatut (heute im deutschen Recht Art. 28 EGBGB) aber auch um Fragen des ordre public; denn die Verdrängung des Rechts am Lageort mußte in dem Maße, in dem das Souveränitätsbewußtsein Fundstellen oben§ 2, Fußn. 7. Vgl. dazu auch Gamillscheg, Dumoulin, 77, wo er in seiner Würdigung der statutentheoretischen Methode bemerkt: "die zutreffende, vom Rechtsverhältnis ausgehende und nach der anwendbaren Rechtsordnung fragende Ausdrucksweise ist ihnen (gemeint sind die Statutisten) durchaus geläufig, wie die oben S. 73 genannten Beispiele, die sich beliebig vermehren lassen, zeigen. Bei Dumoulin geht überhaupt die Erörterung vom Gesetz her und vom Rechtsverhältnis her ungeschieden Hand in Hand, so bei der Frage nach dem auf Form und Verfahren anwendbaren Recht, nach dem für den Verkauf von Grundstücken geltenden Maß, nach dem für die Eviktionshaftung geltenden Recht usw." In den nicht ausschließlich der Geschichte des IPR gewidmeten Darstellungen der Statutentheorie werden die frühen allseitigen Kollisionsnormen dagegen meist fast vollkommen übergangen. 12
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
der einzelnen Rechtsgebiete wuchs, als "Hineinregieren" empfunden werden. Andere -nicht so benannte - Themen der statutentheoretischen Untersuchungen waren der Statutenwechsel und der Verkehrsschutz, etwa im Zusammenhang mit der Frage, ob ein filiusfamilias außerhalb seines "Heimatstaats" wirksam ein Testament errichten konnte, wenn er nach den Vorschriften des Errichtungsorts testierfähig war, nach seinem Heimatrecht aber nicht. In den systematischen Schriften ist das Zusammenwirken der überkommenen allseitigen Kollisionsnormen mit den Grundsätzen der Statutentheorie oft deshalb nicht leicht zu erkennen, weil der Verfasserwie auch die Gelehrten unserer Zeit, die sich zu Fragen des "Allgemeinen Teils", etwa zum ordre public oder zur Abgrenzung eines Gesamtstatuts von dem Sachstatut oder zum Statutenwechsel äußern - meist keinen Anlaß sahen, die traditionellen allseitigen Kollisionsnormen geschlossen aufzuführen. 3. Zu den Belegen
Die Feststellungen über das Zusammenwirken der überkommenen allseitigen Kollisionsnormen mit den Grundsätzen der Statutentheorie beruhen nicht auf neuen Belegen. Sie ergeben sich vielmehr aus der Deutung des im Schrifttum zur Geschichte des Kollisionsrechts 14 bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten durchleuchteten und aufgearbeiteten Materials. Es genügt deshalb, an ausgewählten Belegen aus der Fülle des Materials exemplarisch die vorgetragene Beurteilung der Statutentheorie zu verdeutlichen. a) Gesamtkonzeptionen aa) Von den frühen Gesamtkonzeptionen zum Kollisionsrecht soll die Lehre des Bartolus besonders betrachtet werden, weil sie wegen der überragenden Autorität ihres Urhebers die folgenden Jahrhunderte stark beeinflußt hat und deshalb auch häufig behandelt worden ist15• Bartolus beginnt seine systematische Untersuchung mit den beiden berühmten Fragen, ob sich das statutum auf non subditi erstrecke und ob es auch extra territorium wirke. Die erste Frage ist eine traditionelle Pflichtfrage. Sie stammt- wie bereits erwähntl6 - aus der Zeit, als mit dem Satz statuta non ligant nisi subditos die uneingeschränkte Anwenu Vgl. dazu die lückenlose Zusammenstellung bei Kegel, IPR, 3. Aufl., 1971,
§ 3 vor den jeweiligen Unterabschnitten.
15 Zuletzt und für die späteren Untersuchungen grundlegend: Gamillscheg, Dumoulin, 53 ff. mit Hinweisen auf die umfassende ältere Literatur und auf Fundstellen auf S. 53 in seiner Fußn. 1. Vgl. aus dem späteren Schrifttum insbesondere H errmann, 5 f. 16 s. oben § 3 I. 1.
I. Die Bedenken gegen die Diagnose der Kritiker
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dung der Iex fori überwunden wurde. Bartalus beantwortet diese erste Frage in den Kapiteln 1 bis 5 mit den bekannten allseitigen Kollisionsnormen für Verträge, Delikte, Testamente uswY. Die Harmonisierung dieser Regeln mit dem Satz statuta non ligant nisi subditos ist bereits beschrieben worden18• Nach diesem Abschnitt wendet sich Bartalus der zweiten Ausgangsfrage zu, die nach seiner Ansicht vielfältige Probleme aufwirft. Die Antworten auf diese Frage bilden für lange Zeit eine wichtige Grundlage für die statutentheoretische Forschung und Praxis. Sie beginnen- der zweiten Ausgangsfrage entsprechend- mit der möglichen Fassung eines statutum, also eines einzelnen materiellen Rechtssatzes. So sagt er etwa: Ist das statutum eine prohibitive Formvorschrift, die es verbietet, ein Testament oder eine öffentliche Urkunde ohne zwei Zeugen und Notar zu errichten, so gilt es nur in seinem Bereich; oder: Anerkennt das statutum die Möglichkeit, einen Bastard (spurius) als Erben einzusetzen, so kann der Bastard außerhalb des Geltungsbereiches dieses statutum, also dort, wo es eine solche Regelung nicht gibt, die Erbschaft nicht erhalten; oder (im Zusammenhang mit dem berühmten Streit um das von dem gemeinen Recht abweichende englische Erbrecht des Erstgeborenen19): Bestimmt das statutum "bona decedentium veniant in primogenitum", dann gilt die jeweilige lex situs, also das Recht am Lageort der nachgelassenen Grundstücke. Heißt es dagegen "primogenitus succedat", und ist der Erstgeborene Engländer, so erbt er nach der von Bartalus vertretenen Ansicht die Grundstücke in England allein, während in Italien gelegene Grundstücke nach gemeinem Recht, also zu gleichen Teilen, vererbt werden. Für diese Entscheidung sieht Bartalus zwei Gründe: Das englische statutum könne in Italien nicht angewendet werden, weil es die Nachgeborenen von der Erbschaft ausschließe und deshalb "odios" sei. Man könne auch sagen, daß es als erlaubendes statutum ein Hindernis für das Erbrecht des Erstgeborenen, nämlich das Erbrecht des Nachgeborenen, aus dem Wege räume, und deshalb das Recht des italienischen Lageorts nicht verdrängen könne. Gerade an den Ausführungen zum Erbrecht hat Gamillscheg20 seine Kritik an der Methode des Bartalus und überhaupt seine Kritik an der Methode der Statutisten erläutert21 . Gamillscheg meint, die Statutisten "fragen vielfach nach dem Anwendungsbereich eines Statuts, obwohl sie 17 Aus diesem Rahmen fällt die im 5. Abschnitt (Nr. 28- 31) behandelte Frage heraus, ob weltliche statuta auch Geistliche binden und vor den geistlichen Gerichten zu beachten sind. 18 s. oben § 3 I. 1. 19 Vgl. dazu ausführlich Gamillscheg, Dumoulin, 60. 20 Wie vorige Fußn., 74 ff. 21 Ebenso unter Bezugnahme auf Gamillscheg, Herrmann, 100.
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
inhaltlich gerade dieses Statut suchen und für ein gegebenes Rechtsverhältnis ermitteln wollen". So sage Bartolus: "Wenn die Worte des Statuts lauten: bona decedentium veniant in primogenitum, so wende ich auf die den Nachlaß bildenden Sachen das jeweilige Ortsrecht an." Diese Argumentation enthalte eine "unlogische Vermengung beider Betrachtungsweisen"; denn damit verlasse man die Abgrenzung des Geltungsbereichs eines jeden Statuts nach seinem Inhalt und bilde aus der Natur des einen Statuts eine allgemeine gültige Kollisionsnorm. Man könne wohl sagen: "wenn das Statut personal ist, dann unterliegen ihm alle Nachlaßgüter, nicht jedoch, wenn das Statut real ist, dann unterliegen die Nachlaßgüter der lex situs." Es könne ja sein, daß sie "personal" gefaßt seien und deshalb die Güter fremder Erblasser nicht erfaßten. Den gleichen "Denkfehler" findet Gamillscheg bei Baldus, Dumoulin und späteren Statutisten. An diesem "Denkfehler" sind die Statutisten nach seiner Ansicht nur deshalb nicht gescheitert, weil "sie ihre von einem besimmten Statut her gewonnenen Aussagen verallgemeinern"22• Diese Deutung erläutert Gamillscheg am Beispiel der Vorschrift, welche Schenkungen zwischen Ehegatten verbietet. Man untersuche nicht jede der zahlreichen Vorschriften über Schenkungen zwischen Ehegatten, sondern man sage: "dieses Statut" - und meine damit alle diese Statuten - "ist zur Reinhaltung der Ehe bestimmt und deshalb personal". Daraus gewinne man dann der Sache nach die Verweisungsnorm: "In dieser Frage gilt die lex domicilii", oder: "Die Gesetze am Wohnort beherrschen Schenkungen zwischen Ehegatten." Der zur Gegenansicht führende Gedankengang verlaufe ebenso: man sage: "dieses Statut" (und meine wiederum alle diese Statuten) "dient der Erhaltung des Familienvermögens und ist deshalb real" und gelange damit der Sache nach zu der Kollisionsnorm: "Die Gesetze des Lageorts beherrschen die Schenkungen zwischen Ehegatten." Gegen diese Würdigung der statutistischen Methode bestehen Bedenken. Ansatzpunkt für die Einwände ist die auch von Gamillscheg herausgehobene Frage, welches statutum gemeint ist, wenn Bartolus fragt: Ist das statutum so oder so gefaßt, dann ... Die gebotene Antwort auf diese Frage stellt sich ein, wenn man nicht nur auf die von Bartolus aufgestellten statutentheoretischen Grundsätze im 2. Teil seiner Abhandlung schaut, sondern berücksichtigt, daß er im 1. Teil die traditionellen allseitigen Kollisionsnormen dargestellt hat. Bezieht man sie in die Überlegungen ein, so muß man sie als Bezugspunkt der statutentheoretischen Ausführungen ansehen. Das bedeutet: Mit dem statutum, das in diesen Ausführungen jeweils erörtert wird, ist das statutum gemeint, auf das eine der (von Bartolus im 1. Teil seiner Abhandlung) genannten allseitigen Kollisionsnormen bei der Beurteilung praktischer Fälle ver22 Vgl. Gammscheg, Durnoulin, 79.
I. Die Bedenken gegen die Diagnose der Kritiker
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weist. Diese Zusammenschau verdrängt den Vorwurf, Bartolus und den anderen alten Statutisten sei ein Denkfehler unterlaufen. Das sei an der von Bartolus behandelten erbrechtliehen Problematik erläutert: Der Satz des Bartolus lautet in der bereits zitierten Übersetzung durch Gamillscheg: "Wenn die Worte des Statuts lauten: bona decedentium veniant in primogenitum, so wende ich auf die den Nachlaß bildenden Sachen das jeweilige Ortsrecht an." Geht man nun davon aus, daß dieser S'itz auf die vorher von Bartolus dargelegten allseitigen Kollisionsnormen bezogen ist, dann sind die Worte so zu lesen: Wenn das Statut- das nach der soeben dargelegten erbrechtliehen Kollisionsnorm anzuwenden ist- lautet: bona decedentium veniant in primogenitum, so wende ich auf den Nachlaß - nicht dieses "reale" und deshalb auf seinen Geltungsbereich beschränkte Statut, sondern - die jeweilige Iex situs an. In dieser durch die eingeschobenen Sätze bestimmten Form ist die Argumentation auch völlig folgerichtig. Sie besagt, daß die Sachnorm, welche durch die erbrechtliche Kollisionsnorm für anwendbar erklärt wird, nach dem "Willen" dieser Sachnorm (des dahinter stehenden Normgebers) nur auf die in ihrem Geltungsbereich liegenden bona anzuwenden ist. Wenn Bartolus daraus zusätzlich gefolgert hat, daß auf die in anderen Rechtsgebieten liegenden bona das jeweilige Recht des Lageorts angewendet werden müsse, so fordert er damit eine Rechtsfolge, die in modernen Kollisionsrechten mit entwickeltem "Allgemeinem Teil" durch eine Rück- und Weiterverweisung auf das Recht am Lageort der jeweiligen Nachlaßgegenstände ausgesprochen wird. Diese Rück- und Weiterverweisungsregel stand Bartolus noch nicht zur Verfügung. Er mußte sie aus der- nach der erbrechtliehen Kollisionsnorm anwendbaren- Sachnorm ableiten. In gleicher Weise hat er den Mangel eines "ausgebauten Allgemeinen Teils" des Kollisionsrechts auch in dem Fall überbrückt, in dem das nach der erbrechtliehen Kollisionsnorm (so muß man ergänzen) - anwendbare statutum lautet: "primogenitus succedat". In diesem Fall entsteht bei folgerichtiger Durchführung des von Bartolus verfolgten Argumentationsgangs zunächst die Frage, ob denn eine so gefaßte Sachnorm überhaupt durch die erbrechtliche Kollisionsnorm zur Anwendung berufen werden kann, oder ob es sich insoweit nicht um eine Vorschrift handelt, die der Kollisionsnorm für persönliche Fähigkeiten unterworfen ist, weil sie eine "dispositio circa personas" 23 , nämlich über die Erstgeburt, trifft. Bartolus entscheidet diesen Konflikt, der heute als Qualifikationsproblem zu bezeichnen wäre, zugunsten der Kollisionsnorm für die persönlichen Fähigkeiten. Aus dieser (sehr angreifbaren, aber nicht als denkfehlerhaft i. S. eines "logischen Bruchs" zu bezeichnenden) Entscheidung gewinnt er dann folgerichtig die von ihm vertretenen Ergeh28
3
Vollständiger Wortlaut bei Gamillscheg, Dumoulin, 61.
Loren:~;
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
nisse, die man so zu erklären hat: Die Vorschrift "primogenitus succedat" wird durch die erbrechtliche Kollisionsnorm überhaupt nicht erfaßt, wohl aber durch die Kollisionsnorm für persönliche Fähigkeiten. Daraus folgt - was Bartolus auch sagt- daß sie überhaupt nur zur Anwendung kommen kann, wenn der primogenitus Engländer ist; denn nur für ihn ist das englische Recht - modern gesprochen - Personalstatut. Damit ist der Fall aber noch nicht erledigt. Aus italienischer Sicht, aus der Bartolus urteilt, ist noch weiter zu fragen, ob die Vorschrift auch auf italienische Grundstücke zu erstrecken ist. Der erste Anschein spricht dafür; denn es handelt sich- wie dargelegt- um ein statutum personale und solche statuta sind auch außerhalb ihres Geltungsbereichs anzuwenden. Es ist aber noch zu bedenken, daß dieses statutum das Erbrecht der Nachgeborenen ausschließt und deshalb als "statutum odiosum" anzusehen ist. Diese Qualifikation verbietet es, das statutum in Italien anzuwenden. Hätte Bartolus ein Kollisionsrecht mit ausgebautem "Allgemeinem Teil" vor sich gehabt, hätte er das gleiche Ergebnis wahrscheinlich mit ordre-public-Erwägungen begründet. bb) Ebenso wie an der systematischen Abhandlung des Bartolus kann man auch an den systematischen Gesamtdarstellungen anderer Statutisten zeigen, daß die statutentheoretischen Ausführungen auf die überkommenen allseitigen Kollisionsnormen bezogen sind, für sie den "Allgemeinen Teil" der modernen kollisionsrechtlichen Konzepte ersetzen und deshalb keineswegs denkfehlerhaft sind. Aus dem späteren Material soll wenigstens eine Konzeption eines späteren Statutisten, nämlich die des Johan Nikolaus Hert näher betrachtet werden. Die Auswahl bestimmt auch hier die außerordentliche Autorität dieses Gelehrten, der auch im 19. Jahrhundert noch viel zitiert wird. Hinzu kommt wiederum, daß das Werk Herts wegen seiner besonderen Bedeutung besonders gründlich untersucht worden ist24• Das Herzstück der Arbeiten Herts zum Kollisionsrecht ist die jedenfalls von Hert mit-, wahrscheinlich alleinverfaßte, im Jahre 1688 entstandene "Dissertatio de collisione legum" 25 • Den wichtigsten Teil dieser Arbeit enthält die Sectio IV (De collisu legum positivarum inter se). Aus diesem Abschnitt faßt Herrmann26 die§§ 4 bis 10 als "Allgemeinen Teil" und die §§ 11 bis 74 als "Besonderen Teil" zusammen. Dabei meint er mit dem "Allgemeinen Teil" nicht die Grundsätze, die heute unter dieser Überschrift zusammengeiaßt werden. Er will vielmehr lediglich Herts allgemeine Ausführungen in den§§ 4 bis 10 von den Falldiskussionen in 24 Hingewiesen sei auf die bereits ausführliche Darstellung bei Gamillscheg, Dumoulin, 167- 172 und vor allem auf die der kollisionsrechtlichen Arbeit Herts gewidmeten Untersuchung von Herrmann. 25 Zur Urheberschaft ausführlich Herrmann, 73 f. 26 Vgl. Herrmann, 84 und 102.
I. Die Bedenken gegen die
Diagnose der Kritiker
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den §§ 11 bis 74 abgrenzen. Man kann jedoch27 durchaus feststellen, daß der von Herrmann sogenannte "Allgemeine Teil" der Konzeption Herts - wie die statutentheoretischen Grundsätze überhaupt - im wesentlichen die Aufgabe erfüllt, die im modernen Kollisionsrecht den zum "Allgemeinen Teil des IPR" zusammengefaßten Grundsätzen zugewiesen ist. Im Mittelpunkt der allgemeinen Ausführungen stehen drei von Hert aufgestellte Grundregeln, die Herrmann so übersetzt hat: 1. Regel: "Ist ein Gesetz auf die Person gerichtet, so muß man die Ge-
setze des Staates berücksichtigen, dem die Person unterworfen ist28.''
2. Regel: "Wenn ein Gesetz unmittelbar auf die Sache selbst gerichtet ist, gilt es unabhängig vom Ort und von den Partnern des Rechtsgeschäfts29." 3. Regel: "Wenn ein Gesetz für eine Handlung eine Form bestimmt, ist weder der Wohnsitz- noch der Lageort, sondern allein der Handlungsort zu berücksichtigen30.'' Wie die statutentheoretischen Sätze bei Bartolus, beginnen auch die drei von Hert aufgestellten Regeln mit der Beschreibung des Inhalts einer Sachnorm, die Hert allerdings nicht mehr als statutum, sondern als lex bezeichnet. Der übereinstimmende Anfang: "Quando lex ... " oder "Si lex . .. " wird auch - wie bei Bartalus - mit Rechtsfolgen verknüpft, die nicht zu dem Anfang zu passen scheinen. Gamillscheg31 und Herrmann32 haben Hert deshalb den gleichen "Denkfehler" vorgeworfen, den Gamillscheg schon bei Bartalus gerügt hatte. Wie Bartalus wird aber auch Hert zu Unrecht getadelt. Herrmann hat die Kritik ebenfalls abgeschwächt und gemeint, Hert habe "bei der Formulierung der Regeln selbst nicht die glücklichste Hand gehabt" 33 • Er will damit der Sache nach sagen, es sei Hert nicht besonders gelungen, die drei Regeln als allseitige Kollisionsnormen zu formulieren34 • Falls diese Deutung zutrifft, ist schon allein daraus zu folgern, daß Herts Kollisionsrecht von allseitigen, auf Rechtsverhältnisse bezogenen Kollisionsnormen beherrscht wurde. Das bestätigen auch Herts Falldiskussionen in den§§ 14 bis 74 der Sectio IV, dem von Herrmann sogenannten "Besonderen Teil". 27 Was ich in meiner Besprechung der Arbeit von Herrmann in RabelsZ 29 (1965), 433 ff. noch nicht erkannt habe. 28 Lateinischer Text bei Herrmann, 89. 29 Lateinischer Text bei Herrmann, 90. so Lateinischer Text bei Herrmann, 92. 31 Dumoulin, 75. 32 Herrmann, 100. 33 Herrmann, 102. 34 Vgl. dazu insbesondere Herrmann, 100 (zur 1. Regel).
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
Hert fragt hier im Anschluß an die Schilderung des zu beurteilenden Sachverhalts immer wieder, nach welchen Gesetzen die aus dem Sachverhalt entstehende und damit das Lebensverhältnis zu einem Rechtsverhältnis verwandelnde Rechtsfrage zu beurteilen sei35 • Dennoch erscheint es zweifelhaft, die drei von Hert aufgestellten Regeln, deren Wortlaut mit "Quando lex" oder "Si lex" beginnt, als drei schlecht formulierte allseitige Kollisionsnormen zu verstehen. Man wird vielmehr sagen müssen: Hert hat seine drei Regeln nicht als allseitige Kollisionsnormen formuliert, weil es ihm an dieser Stelle gar nicht darum ging, allseitige Kollisionsnormen zu formulieren. Er wollte vielmehr - wie schon Bartalus in seinen Statutistischen Ausführungen - auf die vorausgesetzten allseitigen Kollisionsnormen Bezug nehmen. Genauer: Er wollte festlegen, wann sich Verweisungen durch diese Kollisionsnormen durchsetzen und wann nicht. Diese Entscheidung machte er von der Beschaffenheit der jeweils durch die Kollisionsnormen für anwendbar erklärten Sachnormen abhängig. Für diese Deutung spricht einmal der Anfang der drei Regeln. Herrmann übersetzt ihn in die Worte: "Wenn ein Gesetz ..." und gewinnt daraus seine Deutung und seine Kritik. Geboten erscheint dagegen die Übersetzung: "Wenn das Gesetz (die Sachnorm) ... "; denn gemeint ist hier - wie schon bei Bartalus - die jeweilige Sachnorm, die jedenfalls nach einer der vorher skizzierten allgemeinen kollisionsrechtlichen Grundsätze anzuwenden ist. Die allgemeinen kollisionsrechtlichen Grundsätze sind nämlich- und darin liegt der zweite Grund für die hier vertretene Deutung- bereits im § 4 der Sectio IV, also wie bei Bartalus vor den (in §§ 8 bis 10 der Sectio IV enthaltenen) Statutistischen Regeln dargestellt worden. In § 4 der Sectio IV hat Hert die allseitigen Kollisionsnormen allerdings nicht so deutlich ausgeführt wie Bartolus. Er sagt nur, daß die Gesetzeaufgrund einer Unterwerfung anwendbar werden und wodurch es zu einer Unterwerfung kommt. Man hat es hier mit einer Kurzfassung der Konzeption zu tun, die bei den italienischen Gelehrten mit dem Satz "Statuta non ligant nisi subditos" beginnt und dann zu den - diesen Satz ergänzenden und auch mit ihm zu vereinbarenden36 - allseitigen Kollisionsnormen für die Form, für Verträge, Delikte, Testamente usw. führt. Im einzelnen bemerkt Hert in § 4 der Sectio IV37 : Die Menschen könnten auf dreierlei Weise einer Staatsgewalt unterworfen sein: durch die Person, durch Sachen und durch Handlungen. Die Person unterwerfe sich durch die Begründung eines dauernden Wohnsitzes. Sachen 35 Vgl. dazu nur aus der Fülle der Beispiele Herrmann, 115 (Erbrecht), 117 (Erbrecht), 127 (Rückforderung der Mitgift). ae s. dazu oben § 3 I. 1. 37 Vgl. dazu Herrmann, 84 f.
I. Die Bedenken gegen die Diagnose der Kritiker
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begründeten die Unterwerfung unter das Recht des Lageorts und Handlungen- gemeint sind Vertragsschlüsse, Testamentserrichtungen, Delikte -lösten die Unterwerfung unter das Recht des Handlungsortes aus. Nachdem Hert auf diese Weise alle überkommenen allseitigen Kollisionsnormen berührt hat, stellt er in§ 5 fest, daß die Saclmormen entweder die Person, Sachen oder Handlungen betreffen. Danach erläutert er in den §§ 5 bis 738 die Merkmale der einzelnen Gruppen. Diese Ausführungen haben den einzigen Zweck, die Verweisungsbereiche der in § 4 angesprochenen, auf Unterwerfung beruhenden, allseitigen Kollisionsnormen voneinander abzugrenzen. Das Ergebnis der so vorbereiteten Kombination zwischen den in § 4 berührten allseitigen Kollisionsnormen und der in den §§ 5 bis 7 ausgeführten statutentheoretischen Sachnormeinteilung faßt er dann durch die drei erwähnten Regeln in den § 8 bis 10 zusammen. Aus diesem durch die Gliederung offenbarten sachlichen Zusammenhang ergibt sich, daß die drei Regeln weder unglücklich (Herrmann) noch denkfehlerhaft (Gamillscheg) formuliert worden sind. Das läßt sich besonders deutlich anhand der dritten Regel vorführen. Hert sagt hier in der nach den bisherigen Überlegungen gebotenen Übersetzung: "Wenn das Gesetz (die Sachnorm) für eine Handlung eine Form bestimmt, ist der Handlungsort und nicht der Wohnsitz oder Lageort zu beachten." Er meint damit: Wenn das Gesetz- das nach einem in § 4 dargestellten Grundsatz über die Unterwerfung anwendbar ist - eine Form vorschreibt, ist nur der Handlungsort - also (was er später in seiner Falldiskussion auch deutlich zum Ausdruck bringt39) nur die allseitige Kollisionsnorm für die Form eines Rechtsgeschäfts zu beachten. Es genügt also nicht, daß die Iex, um deren Anwendung es geht, wegen des in seinem Geltungsbereich gelegenen Wohnsitzes einer Partei oder - wenn es um ein Rechtsgeschäft über Grundstücke geht - wegen des Lageorts des Grundstücks im Geltungsbereich der Iex als anwendbar in Betracht kommt. Mit der soeben erläuterten dritten Regel will Hert also nicht eine allseitige Kollisionsnorm formulieren; die Regel dient vielmehr dazu, den Anwendungsbereich (Verweisungsbereich) der vorausgesetzten allseitigen Kollisionsnormen voneinander abzugrenzen. Modem gesprochen heißt das: sie präzisiert die Verweisungsbegriffe. Das gleiche gilt für die anderen Regeln. Sie beziehen sich (wie die dritte Regel) auf die in § 4 Sectio IV beschriebenen allgemeinen Grundsätze über die Unterwerfung, grenzen diese voneinander ab und geben einer den Vorrang. Sie werden also erst relevant, wenn für die Iex, auf die sich der Anfang ihres Wortlauts jeweils bezieht, ein Unterwerfungstatbestand - also Unterwerfung durch die Person im Wege der Wohnsitzbegründung, as 38
Vgl. dazu Herrmann, 87 f. Vgl. Sectio IV § 23 und dazu Herrmann, 115.
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
durch die Sache oder durch die Handlung- bereits gegeben ist; denn sie sagen nur, welcher Unterwerfungstatbestand die Anwendung der ins Auge gefaßten lex (Sachnorm) allein begründen kann, wenn sie den oder den Inhalt hat. Die Bemerkungen zur Lehre Herts lassen sich daher so zusammenfassen: Hert arbeitete - wie auch Bartolus und andere Statutisten mit einer kollisionsrechtlichen Konzeption, in der allseitige Kollisionsnormen mit statutentheoretischen Grundsätzen kombiniert sind. Seine Lehre wird - wie die Lehre aller Statutisten - unzutreffend beschrieben, wenn man entweder sagt, er habe den Anwendungsbereich der Sachnormen nur aus den Sachnormen selbst gewonnen, oder wenn man meint, er habe hauptsächlich mit (unglücklich formulierten) allseitigen Kollisionsnormen gearbeitet. Die aus den Sachnormen gewonnenen statutentheoretischen Regeln dienten ihm - wie allen "alten" Statutisten - dazu, den unverzichtbaren Teil der Grundsätze des Kollisionsrechts zu ersetzen, die heute als "Allgemeiner Teil des IPR" die Fragen beantworten, welche sich aus der Handhabung der allseitigen Kollisionsnormen ergeben. b) Einzeluntersuchungen
Zur Erweiterung der Belege für die hier vertretene Deutung der "statutentheoretischen Methode" sollen neben den erwähnten Gesamtkonzeptionen von Bartolus und Hert wenigstens noch einige Textstellen betrachtet werden, die nur kollisionsrechtliche Einzelfragen betreffen, aber gleichermaßen deutlich erkennen lassen, daß die statutentheoretische Methode auf einer Kombination von allseitigen Kollisionsnormen und aus den Statuten (Sachnormen) gewonnenen statutentheoretischen Regeln beruht. aa) Genannt sei zunächst eine Bemerkung des Baldus. Er fragt: Wenn eine Sachnorm (statutum) in persönlicher Hinsicht bestimmt, daß ein filiusfamilias ein Testament errichten kann, und wenn er im Geltungsbereich dieser Sachnorm als fremder ein Testament errichtet, ist es dann gültig? Ich sage nein, weil die Sachnormen (statuta) einem non subditus weder eine Fähigkeit verleihen, noch sonst etwas über seine Person bestimmen können40• Diese Stelle bestätigt das übliche Argumentationsmodell: Das statutum, mit dem Baldus beginnt, gilt am Handlungsort und kommt deshalb zunächst als anwendbar in Betracht. Da es aber eine persönliche Fähigkeit des filiusfamilias betrifft, wird die allseitige Kollisionsnorm, die auf den Handlungsort verweist, von der auf das domicilium der Person verweisenden allseitigen Kollisionsnorm für persön40 Baldus, In Primam, Secundam etc. Codicis Librium commentaria, Venetiis 1599, C 1.1.1 Nr. 25 und Nr. 78. Auch abgedruckt bei Meili, BöhmsZ 4 (1894), 266 (Nr. 25) und 462 (Nr. 78).
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liehe Fähigkeiten41 verdrängt. Die statutentheoretische Überlegung dient hier also zur Abgrenzung des Verweisungsbereichs zweier allseitiger Kollisionsnormen. bb) Um das gleiche Problem geht es in einer Stelle aus dem 16. Jahrhundert. Sie stammt von Rolandus a Valle 42• Er schreibt: Wenn das statutum von Perugia dem Manne nach dem Tode seiner Ehefrau einen bestimmten Teil der Mitgift oder der Erbschaft zuwendet, ist dann dieses statutum auch auf Grundstücke in Florenz zu erstrecken? Rolandus bejaht das, weil "haereditas et dos rei non cohaerunt". Wenn aber das statutum sage, der überlebende Ehemann solle "immobilia vel mobilia" bekommen, dann beziehe sich das statutum auf die Sache und es sei folglich das Recht des jeweiligen Lageorts anzuwenden43 • Diese Ausführungen zu einer schon von Baldus und anderen Gelehrten besprochenen Problematik zeigen besonders deutlich, wie allseitige Kollisionsnormen und statutentheoretische Grundsätze miteinander kombiniert wurden. Wie schon Baldus und die anderen Gelehrten, die das statutum von Perugia als Beispiel auswählten, bezieht Rolandus seine Überlegungen ebenfalls auf den Fall, in dem diese Vorschrift aufgrund der allseitigen Kollisionsnorm für Dotalverträge anwendbar ist, weil der Ehemann dort zur Zeit der Eheschließung seinen Wohnsitz hatte44• Er behandelt demnach die Frage, ob es bei der Verweisung durch diese allseitige Kollisionsnorm auch bleiben kann, soweit die Mitgift aus Gegenständen besteht, die sich in Florenz befinden, oder ob insoweit die allseitige Kollisionsnorm für die Rechtsverhältnisse an Sachen zum Zuge kommen muß. Wie die Gelehrten vor und nach ihm entscheidet er diesen Konflikt zwischen den beiden allseitigen Kollisionsnormen danach, wie das statutum gefaßt ist. Das soll heißen: Er gewinnt aus dem Wortlaut der Sachnorm deren Anwendungsbereich und bestimmt danach, welche der kollidierenden allseitigen Kollisionsnormen sich durchsetzt. Die statutentheoretischen Überlegungen dienen ihm also - modem gesproC'hen - zur Abgrenzung zwischen Gesamtstatut (Dotalstatut) und Sachstatut. Erkennt man dies, so kann man wiederum feststellen, daß die auf den ersten Blick als ein Beleg für einen "Methodenwirrwarr" erscheinende Argumentation durchaus folgerichtig und sinnvoll ist. cc) Das gleiche gilt für den letzten ausgewählten Beleg. Er betrifft eine von Rolandus a Valle geführte Auseinandersetzung mit einer von u Vgl. dazu oben§ 3 I. 1. 42 Zur Person dieses Gelehrten, der neben dem berühmten Alciat Sc.~üler des Carolus Ruinus (gest. 1530) war, vgl. E. Lorenz, 27, Fußn. 47. 43 Rolandus a Valle, Quaestiones de lucro dotis in: De dote Tractatus ex variis civilis interpretibus decerptis, Venetiis 1580, quaestio XX Nr. 1. Ausführlich dazu bereits E. Lorenz, 103 f. 44 Vgl. dazu eingehendE. Lorenz, wie vorige Fußn.
§ 3: Zur historischen Grundlegung
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Franciscus Purpuratus vertretenen Ansicht. Dieser hatte gemeint45 , das statutum, das die dotalrechtliche Auseinandersetzung regele (und den überlebenden Ehemann begünstige) sei auch auf auswärtige Sachen anzuwenden; denn es sei günstig (favorabile), weil es die Neigung der Männer zur Eheschließung fördere, und das wiederum nütze dem Staat. Rolandus war demgegenüber der Ansicht, ein solches statutum sei nachteilig (odios), weil es dem gemeinen Recht widerspreche. Es sei deshalb außerhalb seines Geltungsbereichs nicht anzuwenden46 • Auch in dieser Argumentation handelt es sich bei dem einzelnen statutum um eine Sachnorm, die als anwendbar in Betracht kommt, weil die allseitige dotalrechtliche Kollisionsnorm sie für anwendbar erklärt; und auch hier geht es hauptsächlich um die Abgrenzung zwischen Gesamtstatut (Dotalstatut) und Sachstatut. Die statutentheoretischen Überlegungen berühren aber- soweit sie auf die "Nützlichkeit" des statutum abstellenauch die Problematik des ordre public. II. Die Folgen der Bedenken
Die durch ausgewählte, leicht zu vermehrende Belege gestützten Thesen über den lange vor dem 19. Jahrhundert vorhandenen Bestand an allseitigen Kollisionsnormen und über die statutentheoretische Methode sind gelegentlich auch bei den modernen Statutisten in rudimentärer Gestalt elementar durchgebrochen, etwa bei Juenger, wenn er bemerkt 17 : Man habe dem Richter zu gestatten, "zwischen den im Einzelfall in Betracht kommenden inländischen und ausländischen Sachnormen aufgrund ihres Gerechtigkeitsgehalts und ihrer Tauglichkeit für den internationalen Verkehr zu wählen ... Zu diesem Zweck könnte man auf altbekannte Anknüpfungspunkte wie Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, Belegenheit einer Sache, Ort der Vornahme einer Handlung usw. zurückgreifen". Juenger möchte diese Anknüpfungspunkte allerdings - im Gegensatz zum herkömmlichen IPR- kumulativ verwenden. Sie dienen ihm lediglich zur "Sondierung und Vorbereitung des Stoffs", aus denen der Richter dann "nach materiellen Kriterien" eine Auswahl trifft, also entweder "positive Normen nationaler Rechte" anwendet oder - was nach Juenger auch zulässig wäre- neue sachrechtliehe Rechtssätze formuliert. Juenger arbeitet also im wesentlichen mit dem Instrumentarium der statutentheoretischen Methode, nämlich mit den durch ihre Anknüpfungsmomente repräsentierten allseitigen Kollisionsnormen und mit statutentheoretischen Überlegungen, die allerdings das Ziel haben, u 48 47
Lt. Rolandus a V alle, quaestio XX Nr. 4. Vgl. dazu im einzelnen E. Lorenz, 108.
Juenger, 29.
II. Die Folgen der Bedenken
41
die inhaltlich gerechteste sachrechtliehe Lösung zu finden, und die deshalb auch zu sachrechtliehen Neuschöpfungen führen können48 • Neu ist an diesem "better-law-approach" die nahezu unbegrenzte Freiheit des Richters bei der Handhabung des kollisionsrechtlichen Instrumentariums: er soll nur gerecht entscheiden. Kegel49 sagt dazu in seiner vernichtenden Kritik: "Das Ergebnis ist weithin Chaos." Hier ist einstweilen nur dies festzustellen: Die neue statutistische Methode bedeutet jedenfalls in der von Juenger präsentierten Form - gegenüber der "alten" statutentheoretischen Konzeption auch dann einen Rückschritt, wenn man bedenkt, daß die alten Statutisten die kollisionsrechtliche Rechtsfindung durch ihre scholastischen statutentheoretischen Distinktionen und Subdistinktionen beinahe erstickt hatten. 1. Zur Beurteilung der von Savigny bewirkten Reform des Kollisionsrechts
Als ein überragender Fortschritt der Kollisionsrechtswissenschaft ist dagegen die Bearbeitung der statutentheoretischen Methode zu würdigen, die Savigny in dem VIII. Band seines "Systems des Römischen Rechts" vorgelegt hat. Die allgemein bekannten (hier deshalb nicht zu wiederholenden) überaus positiven Rezensionen sind in ihrer Intensität also nicht einzuschränken. Die bisher vorgetragenen Überlegungen zwingen aber zu der Frage, ob Savigny- unter Verwertung der stets gebührend hervorgehobenen Arbeiten von Wächters - in der Tat den "totalen methodischen Umschwung" bewirkt hat, der ihm sowohl von den Anhängern, als auch - in der Absicht daraus ihre Überwindung herzuleiten- von den Kritikern seiner Konzeption zugeschrieben wird. a) Savignys Annahme einer "völkerrechtLichen Gemeinschaft der Staaten" Als Fundament seiner Konzeption des Kollisionsrechts nennt Savigny den von ihm in allen Staaten festgestellten Grundsatz von der gleichberechtigten Anwendung fremder Gesetze50• Dieser Ausgangspunkt enthält in zugespitzter ·· Formulierung den Gedanken, welcher der Sache nach auch bei frühen Statutisten, etwa bei dem Franzosen d'Argentre zu finden ist51 • Der Gedanke ist dann in den weiteren Epochen der Ge48
49 50
Vgl. dazu neuestens v. Mehren, Harv.L.Rev. 88 (1975), 347 ff. Vgl. Kegel, bei Juenger, 39. Bereits deutlich herausgearbeitet von Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50),
364 ff., 368.
5t Vgl. dazu Gamillscheg, Dumoulin, 103 ff.: .. . "hätte d'Argentre den Ausschluß des fremden Rechts ,an sich', wie später die Niederländer vertreten wollen, so hätte er es ... zweifellos auch in energischen Worten getan".
42
§ 3: Zur historischen Grundlegung
schichte des Kollisionsrechts, etwa in der niederländischen Epoche im 17. Jahrhundert durch den Gedanken der Comitas52 zurückgedrängt worden. Es sind aber doch zu allen Zeiten fremde "Gesetze" (Sachnormen) mehr oder weniger gleichberechtigt angewendet worden. Das bestätigen insbesondere die von Savigny vorgefundenen und geschilderten53 Kernsätze der Statutentheorie, nach denen Personen den Personalstatuten des Wohnsitzes, Grundstücke den Realstatuten des Lageorts und Handlungen den gemischten Statuten des Handlungsorts unterworfen sind, wo immer auch ein Urteil gesprochen wird. Savigny hat dem auch hinter diesen Sätzen stehenden und mit ihnen verbreiteten Gedanken von cler gleichberechtigten Anwendung fremder Gesetze allerdings eine völkerrechtliche Fassung gegeben: Der maßgebende Standpunkt sei der "einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der miteinander verkehrenden Nationen". Auch in dieser Formulierung verliert der Gedanke jedoch die Einschätzung als totaler Neuansatz, wenn man im Anschluß an die von Neuhaus54 bereits begründete Deutung annimmt, Savigny habe mit der völkerrechtlichen Gemeinschaft keineswegs ein "rechtliches Müssen" begründen wollen55 •
b) Savignys methodische Grundanweisung und die allseitigen Kollisionsnormen Ähnlich verhält es sich mit Savignys methodischer Grundanweisung, die er auf dem Boden seiner Vorstellung von der völkerrechtlichen Gemeinschaft entworfen hat und als deren Vollzug seine allseitigen Kollisionsnormen erscheinen. Sein berühmter methodischer Befehl, "daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht werde, welchem dieses Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist (worin dasselbe seinen Sitz hat)" 56 ist- soweit ersichtlich - vorher nicht in dieser Klarheit erteilt worden. Er enthält aber dennoch keine totale methodische Innovation. Das gilt zunächst für die Bezeichnung des Rechtsverhältnisses als Gegenstand der kollisionsrechtlichen Verweisung. Dieser schon vor Savigny etwa von Schaeffner57 52 Ausführlich dazu Gamillscheg, Dumoulin, 176 ff., und mit vollständiger Schrifttumsübersicht Kegel, IPR, 3. Aufl., 69. sa Vgl. Savigny, 123. 54 Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 368. 55 Vgl. zu dieser Problematik auch M. Gutzwiller, Der Einfluß Savignys auf die Entwicklung des Internationalprivatrechts, 1923, 43 ff. und 88 ff. 56 a.a.O., 28 und 108, wo er den "Klammerzusatz" anfügt. Er selbst bezeichnet diese Weisung (120 f.) als "formellen Grundsatz". Er sieht ihn also modern gesprochen- als einen "operationalen Satz". 57 Entwicklung des internationalen Privatrechts, 1841, 40, wo er allerdings als anwendbares Recht die Vorschriften des Rechtsgebiets bezeichnet, in dem das Rechtsverhältnis "existent" geworden sei. Dagegen mit Schärfe Savigny,
131 f.
li. Die Folgen der Bedenken
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formulierte Ansatz ist keine Entdeckung des 19. Jahrhunderts. Er findet sich bereits - wenn auch ohne genauere theoretische Ausformung - in den allseitigen Kollisionsnormen, die im 13. und 14. Jahrhundert entstanden sind58 und auch das sogenannte "Zeitalter der Statutentheorie" überlebt haben, weil sie Bestandteil des statutentheoretischen Instrumentariums waren59 • Ebenso verhält es sich mit der von Savigny als Anknüpfungsgrund genannten Unterwerfung; denn mit ihr haben auch die spät-mittelalterlichen Gelehrten ihre Kollisionsnormen für Verträge, Delikte, Rechtsverhältnisse an Sachen usw. gerechtfertigt60 • Schließlich ist noch hervorzuheben, daß Savigny- wie die alten Meister61 - die in Ausführung seiner methodischen Weisung vorgeschlagenen allseitigen Kollisionsnormen, die nach ihrer Struktur und weitgehend auch nach ihrem Inhalt den überkommenen Kollisionsnormen entsprechen, in Anlehnung an die besonderen Gerichtsstände entwickelt hat62 • Diese Zusammenhänge erklären, weshalb sich Savigny in seinen Ausführungen immer wieder auf allgemein anerkannte oder jedenfalls von Einzelnen vertretene Grundsätze bezogen hat, die er entweder ohne Korrektur oder mit Korrektur der Anknüpfungspunkte übernommen63 und damit ihre strukturelle Übereinstimmung mit seiner Konzeption bestätigt hat.
c) Die statutentheoretischen Bestandteile in der Konzeption Savignys Eine weitere für die Beurteilung der Arbeit Savignys bedeutsame Beobachtung kommt hinzu: Savigny hat zwar den Kernbestand der statutentheoretischen Kategorien, insbesondere die traditionelle Einteilung der Sachnormen in Personalstatuten, Realstatuten und gemischte Statuten verworfen64 und sich dadurch von der Vieldeutigkeit und dem durch sie unheilbaren Streit befreit. Aber auch er ist ohne statutentheoretische Überlegungen nicht ausgekommen; er konnte es auch nicht, weil ihm - ebenso wie den alten Statutisten - ein ausgebauter "Allgemeiner Teil" des Kollisionsrechts fehlte. Seine statutentheoretischen Grundsätze erscheinen als Ausnahmen von der innerhalb der völkerrechtlichen ss s. oben § 3 I. 1. Vgl. zu Savignys Argumentation mit der Unterwerfung auch Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 373 f., der allerdings die historischen Bezüge dieser Argumentation nicht herausstellt. 59 s. oben § 3 I. 2. und 3. Vgl. dazu auch Gamillscheg, Dumoulin, 255: "Auch ist die Frage nach dem anwendbaren Recht keineswegs seine Erfindung." 60 s. oben § 3 I. 1. 61 Wie vorige Fußn. 62 Vgl. nur Savigny, 109, 169, 205 ff., 246. 83 Vgl. z. B. Savigny, 147 (Kollisionsnorm für persönliche Fähigkeiten) ; 171 (Kollisionsnorm für Rechtsverhältnisse an Sachen); 250 f. (Kollisionsnorm für Obligationen); 300 f. (erbrechtliche Kollisionsnormen); 351 (Kollisionsnorm für die Form). 64 Vgl. Savigny, 121 ff.
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
Gemeinschaft grundsätzlich gleichberechtigten Anwendung fremder Gesetze. Sie erweisen sich damit zugleich als Ausnahmen zu der aus diesem Prinzip gewonnenen methodischen Basisregel, daß jedes streitige Rechtsverhältnis den Vorschriften des Rechtsgebiets zu unterwerfen sei, dem es angehöre. Sie durchbr€chen außerdem die Rechtsanwendungsbefehle der durch den Vollzug dieser Basisregel entstandenen allseitigen Kollisionsnormen. Er nennt als Ausnahmen wörtlich 65 : A. Gesetze von streng positiver, zwingender Natur, die eben wegen dieser Natur zu jener freien Behandlung unabhängig von den Gränzen verschiedener Staaten nicht geeignet sind.
B. Rechtsinstitute eines fremden Staates, deren Dasein in dem unserigen überhaupt nicht erkannt ist, die also deswegen auf Rechtsschutz in unserem Staate keinen Anspruch haben. Wenn man diese Gesetze- wie Bartalus und Hert es getan habenin die lateinische Sprache üb€rsetzt, könnte man sie ohne ihren Sinn zu verändern mit den Worten: "Si statutum ... " (Bartolus) oder: "Si lex ... " (Hert) beginnen. Bedenkt man weiterhin, daß Savigny mit diesen Sätzen die Verweisungen der allseitigen Kollisionsnormen, die er später durch die Konkretisierung seiner Basisregel entwickelt hat, kontrollieren (einschränken) wollte, so findet man bei ihm jene Kombination allseitiger Kollisionsnormen und statutentheoretischer Sätze, die wie dargelegt- die statutentheoretische Methode kennzeichnet66. d) Savignys Beurteilung der Statutentheorie Der bisher erarbeitete Befund erklärt auch, weshalb Savigny die Arbeit der Statutisten verhältnismäßig zurückhaltend beurteilt, jedenfalls zurückhaltender als seine modem~m Anhänger, aber- was man hinzufügen muß - jedenfalls auch erheblich pessimistischer als seine modernen Kritiker, die neuen "Statutisten". Savignys Einschätzung der Statutentheorie, also des Teils der statut€ntheoretischen Methode, welcher der Frage gilt, ob die aufgrundallseitiger Kollisionsnormen als anwendbar in Betracht gezogenen Sachnormen nach ihrem aus dem Wortlaut gewonnenen "Herrschaftswillen" und ihrer "Herrschaftsfähigkeit" auch angewendet werden können und dürfen, läßt sich aus zwei schon oft markierten Stellen seiner Abhandlung besonders deutlich entnehmen. aa) Die erste (kurze) Würdigung findet sich am Anfang des VIII. Bandes67. Hier beschreibt Savigny die nach seiner Ansicht "natürliche Folge" 65
Savigny, 33.
Daß Savigny auch bei der Beantwortung von Einzelfragen gelegentlich "statutentheoretisch" argumentiert hat, ist von Neuhaus, 370, bereits begründet hervorgehoben worden. 66
67
Savigny, 3.
li. Die Folgen der Bedenken
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der Gedanken so: "Für die Rechtsregeln wird gefragt: Über welche Rechtsverhältnisse sollen sie herrschen? Für die Rechtsverhältnisse: Welchen Rechtsregeln sind sie unterworfen, oder angehörig? Die Frage nach den Gränzen der Herrschaft oder der Angehörigkeit, und nach den an diesen Gränzen eintretenden Gränzstreitigkeiten oder Collisionen, sind ihrer Natur nach abgeleitete und untergeordnete Fragen." Diese Bemerkung wird mißverstanden, wenn man annimmt, Savigny habe mit dem ersten Satz des Zitats die Statutentheorie angesprochen68 • Der erste Satz enthält vielmehr lediglich die Umkehrung des zweiten - eindeutig - nicht die Statutentheorie betreffenden Satzes. Er führt bei konsequenter Durchführung zu einseitigen Kollisionsnormen, etwa zu der Regel: Das deutsche Ehegüterrecht ist auf die ehegüterrechtlichen Verhältnisse der Ehegatten anzuwenden, wenn der Ehemann zur Zeit der Eheschließung seinen Wohnsitz in Deutschland hatte. Auf die Statutentheorie zielt dagegen nur ein Teil des dritten Satzes. Von den anderen Aussagen getrennt, lautet dieser Teil: "Die Frage nach den Gränzen der Herrschaft (der Rechtsregeln = Sachnormen) ist ihrer Natur nach eine abgeleitete und untergeordnete Frage." Das soll heißen: Die statutentheoretische Frage nach dem oben sogenannten "Herrschaftswillen" und der "Herrschaftsfähigkeit" einer Rechtsregel stellt sich erst, wenn feststeht, daß es sich bei dieser Rechtsregel um eine Vorschrift handelt, die "an sich" anwendbar ist, weil sie in dem Rechtsgebiet gilt, "dem das Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist" 69 • Sie ist also -wie dargelegt7° - als Kontroll- oder Ergänzungsfrage zu den allseitigen Kollisionsnormen zu verstehen, die Savigny später als Konkretisierungen seiner soeben wiederholten "Sitzregel" vorstellt. bb) Die zweite markante Stellungnahme zur Statutentheorie liefert Savigny in den Ausführungen, in denen er die Einteilung der Sachnormen in Personalstatuten, Realstatuten und gemischte Statuten und die daran geknüpften statutentheoretischen Grundsätze verwirft71 • Wie die modernen Kritiker der Statutentheorie (und ebenso, wenn auch aus anderem Grunde, wie die modernen Befürworter eines "statutentheoretischen Ansatzes") erörtert auch Savigny die statutentheoretischen Grundsätze isoliert, also ohne ihre Verschränkung mit den zu allen Zeiten vorhandenen allseitigen Kollisionsnormen. Er geht zwar zurück bis auf Bartolus, berührt dessen allseitige Kollisionsnormen jedoch nur durch einen Hinweis auf Wächter72, der die von Bartolus entwickelte es So aber wohl Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 370 und seine Fußn. 3, sowie Herrmann, 173 seine Fußn. 887. G9 Savigny, 28 und dazu oben unter a) und d). 10 11
12
s. oben unter a) und b). Vgl. Savigny, 121 ff. s. Savigny, 122, Fußn. (c).
§ 3: Zur historischen Grundlegung
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Konzeption aber auch nur "unter dem Strich" in einer langen Anmerkung73 skizziert. In seiner Würdigung der statutentheoretischen Kernsätze (Personalstatuten sind auf alle Personen, die im Gebiet ihres Gesetzgebers ihren Wohnsitz haben, Realstatuten auf alle im Gebiet des Gesetzgebers liegenden Grundstücke und die gemischten Statuten auf alle in dem Gebiete des Gesetzgebers vorkommenden Handlungen anzuwenden, wo auch immer über die Person, die Grundstücke oder die Handlungen geurteilt wird) hebt er hervor, daß es bei der Handhabung dieser Sätze "unzählige abweichende Meinungen" über die Grenzen der Begriffe und deren praktische Anwendung gibt. Sein darauf folgendes Urteil lautet so: "Als ganz unwahr läßt sich diese Lehre gewiß nicht verwerfen, da sie der verschiedensten Deutungen und Anwendungen empfänglich ist, unter welchen sich mitunter auch ganz richtige wahrnehmen lassen74 ." Ohne ein weiteres Wort über die Deutungsmöglichkeiten gelangt er dann zu diesem Schluß: Die Lehre sei wegen ihrer Unvollständigkeit und Vieldeutigkeit jedenfalls als "Grundlage" für seine weitere Untersuchungin der er den "Sitz" der einzelnen Rechtsverhältnisse bestimmt "durchaus unbrauchbar". Dem kann man selbst aus der Sicht der alten Statutisten zumindest teilweise zustimmen, wenn man bedenkt, daß auch sie- wie sich gezeigt hat75 -nicht nur mit statutentheoretischen Grundsätzen gearbeitet haben.
e) Ergebnis: Der Schwerpunkt der von Savigny erarbeiteten Reform des Kollisionsrechts Die soeben76 skizzierten Aspekte der von Savigny erarbeiteten Konzeption des Kollisionsrechts ermöglichen zwar keine vollständige Beschreibung des Einflusses, den Savigny auf die Entwicklung des Kollisionsrechts genommen hat7 7 • Sie zeigen aber doch den Schwerpunkt seiner Reformarbeit, auf den es für die Beantwortung der Frage nach einem "Funktionswandel" des Internationalen Privatrechts allein ankommt. aa) Savigny hat die Elemente für die Grundlagen und für seine darauf errichtete Konzeption des Kollisionsrechts in dem historischen Material zum Kollisionsrecht, also in dem Instrumentarium der statutentheoretischen Methode vorgefunden. In dieser Feststellung liegt keine Vgl. Wächter, AcP 24 (1841), 230 ff., 272 ff., Fußn. 79. Savigny, 123. Vgl. dazu auch Otto v. Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Bd., 1895, 218: Die Statutentheorie "ist schablonenhaft und unzureichend ... Allein der ihr zu Grunde liegende Gedanke ist richtig." 75 s. dazu oben § 3 I. 2. 76 Unter a) - d). 77 Vgl. dazu z. B. die Arbeit von M. Gutzwmer sowie Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50), 364 ff. 73
74
II. Die Folgen der Bedenken
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Abwertung seiner Arbeit. Es soll nur dies gesagt werden: Die Strukturmöglichkeiten für die "Bauteile" eines funktionsfähigen Kollisionsrechts sind nicht unbeschränkt und zwei Strukturmodelle sind nach den historischen Erfahrungen unverzichtbar: Allseitige Kollisionsnormen und statutentheoretische Grundsätze, also Regeln, nach denen durch Analyse und Interpretation der Sachnormen Aussagen über deren Anwendungsbereich zu gewinnen sind. Die verschiedenen Epochen des Kollisionsrechts sind deshalb nur danach zu unterscheiden, in welchem Umfang das eine oder das andere Strukturmodell in dem jeweiligen Kollisionsrecht dominiert hat. Die Bevorzugung des einen oder anderen Modells wird durch die jeweils hersehende Fundierung des Kollisionsrechts bestimmt: "Nationalistische" Zeiten oder- in einer weniger von Mißverständnissen bedrohten Formulierung gesagt - Zeiten, in denen in den einzelnen Staaten starke Refonntendenzen im sachrechtliehen Bereich festzustellen sind, fördern das statutentheoretische Strukturmodell, während liberale Zeiten (Zeiten der Konsolidierung) das in allseitigen Kollisionsnormen verkörperte Strukturmodell begünstigen. Genauer müßte man sagen: Die verschiedenen Zeiten fördern oder begünstigen die äußere Dominanz des einen oder anderen Strukturmodells; denn der sachliche "Umschwung" erreicht meist nicht entfernt das Ausmaß des Wechsels, den das äußere Erscheinungsbild durchmacht. Jedenfalls sind aber stets beide Strukturmodelle erforderlich und bei genauem Zusehen auch auszumachen. bb) Savigny begann seine Reformarbeit am Ende einer Epoche, in der das statutentheoretische Strukturmodell bis zu einer verbreitet empfundenen Unerträglichkeit die Oberhand gewonnen hatte. Die Unerträglichkeit wurde praktisch spürbar, weil die Handhabung der statutentheoretischen Sätze heillos umstritten war. Das kollisionsrechtliche Instrumentarium befand sich also in einem desolaten Zustand. Diese Einsicht und sie mehr als alles andere78 war der in seiner Wirkung kaum zu überschätzende Ausgangspunkt für Savignys Reformarbeit. Sie bestimmte ihn dazu, die - in allen Zeiten vorhandenen - allseitigen Kollisionsnonnen wieder in den Vordergrund zu rücken und die statutentheoretischen Grundsätze auf das oben79 beschriebene Maß zurückzudrängen. Zu diesem Zweck formulierte er seinen Gedanken von der völkerrechtlichen Gemeinschaft80 und seine darauf gestützte "Sitzregel". Damit schuf er sich die Möglichkeit, die vorhandenen, aber durch die statutentheoretischen Sätze zu einem großen Teil verdeckten und hier und da auch korrekturbedürftigen allseitigen Kollisionsnormen als ge78
16.
79
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Das meint der Sache nach wohl auch KegeL, Festschrift Raape, 1948, 13 ff., s. oben unter c). s. oben unter a).
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schlossene Konzeption systematisch darzustellen. Dadurch entstand ein funktionsfähiges Kollisionsrecht, das sich wegen seiner Funktionsfähigkeit81 durchsetzte, obwohl seine Grundlegung, insbesondere die Vorstellung von der völkerrechtlichen Gemeinschaft, von Anfang an umstritten war82 • 2. Zur Abhängigkeit der herkömmlichen Konzeption des Kollisionsrechts von Savignys rechtspolitischen Erwartungen und von seinem Privatrechtsmodell
Die bisher vorgetragenen Überlegungen ermöglichen auch eine Antwort auf die Frage, in welchem Maße die von Savigny erarbeitete, herkömmliche Konzeption des IPR von seinen rechtstheoretischen Vorstellungen, seinen rechtspolitischen Erwartungen und den sonstigen rechtlich relevanten "Umweltbedingungen" seiner Zeit abhängig war.
a) Das Ausmaß der "Entpolitisierung" ("Entstaatlichung") des IPR dwrch Savigny Savigny hat durch seine von allseitigen Kollisionsnormen beherrschte Konzeption das äußere Erscheinungsbild des Kollisionsrechts verändert. Er hat durch das Hervorheben der allseitigen Kollisionsnormen und durch das Zurückdrängen der statutentheoretischen Grundsätze in der Tat zur "Entpolitisierung" (Neuhaus) oder "Entstaatlichung" (Vogel) des IPR beigetragen83• Diese Tendenz wird durch seine Vorstellung von der "Distanz" des Privatrechts zum Staat (Vogel) zumindest unbewußt gefördert worden sein. Ein gezielter Versuch Savignys, das IPR zu "entpolitisieren" ("entstaatlichen"), ist jedoch nicht nachzuweisen. Man findet - im Gegenteil - überzeugende Anhaltspunkte dafür, daß der von Savigny bewirkte Umschwung, insbesondere von den modernen Kritikern des herkömmlichen Kollisionsrechts, überschätzt wird. aa) Anlaß zu dieser Feststellung gibt zunächst Savignys Beurteilung der Statutentheorie, insbesondere der statutentheoretischen Kernsätze über den Anwendungsbereich der Personalstatuten, Realstatuten und gemischten Statuten. Hier sagt Savigny dem Sinne nach84, mit dieser deutungsfähigen Lehre könnten durchaus auch richtige (nach seinem Verständnis richtige) Ergebnisse erzielt werden. Das Gewicht dieser Aussage wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, daß zu dem Instrumentarium der Statutisten nicht nur statutentheoretische Grundsätze, sondern 1 Das betont auch Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 ff., 437. Vgl. M. Gutzwiller, 60 - 78 und 44 (Gutzwillers Stellungnahme). 83 Bereits überzeugend hervorgehoben von Neuhaus, RabelsZ 15 (1949/50),
8
82
364 ff., 372. 84 Vgl. Savigny, 123, und dazu oben§ 3 II. 1. d).
II. Die Folgen der Bedenken
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auch (mehr oder weniger verdeckte) allseitige Kollisionsnormen gehörten80. bb) Außerdem ist nicht zu übersehen, daß auch Savigny der "Staatlichkeit" des Privatrechts durchaus Rechnung trug, indem er zwei allgemeine statutentheoretische Grundsätze in seine Konzeption aufnahm: Den Grundsatz über die absolute Wirkung der Gesetze "von streng positiver, zwingender Natur" und den Grundsatz über die im Inland nicht anerkannten und deshalb auch als Bestandteil einer fremden Rechtsordnung im Inland nicht anerkennungsfähigen Rechtsinstitute86• cc) Wenn man die Tendenz der von Savigny erarbeiteten Konzeption des IPR auf einen modem formulierten Kurznenner bringen will, kann man also sagen: Savignys Konzeption war so liberal wie möglich und so politisch (staatlich) wie nötig.
b) Die Bedeutung der von Savigny formulierten Grundlagen für seine darauf gestützte kollisionsrechtliche Konzeption Das zurückhaltende Urteil über die Abhängigkeit der von Savigny entworfenen, reformierten kollisionsrechtlichen Konzeption von den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts wird durch Untersuchungen zur Frage nach der Bedeutung der von Savigny formulierten Grundlagen für seine kollisionsrechtliche Konzeption weiter bestätigt. aa) Savigny beginnt die Fundierung seiner Konzeption mit der Darlegung des Gedankens von der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten. Auf dieser Grundlage entwirft er dann seine als "Sitzregel" formulierte methodische Grundweisung, als deren Vollzugsergebnisse schließlich die allseitigen Kollisionsnormen ausgewiesen werden. Das äußere Bild dieser Disposition bestimmt zu dem Schluß, die allseitigen Kollisionsnormen beruhten auf den von Savigny formulierten, also im 19. Jahrhundert gefundenen Grundlagen. Diese Folgerung wird jedoch durch eine nähere Untersuchung widerlegt. bb) Über die Abhängigkeit zwischen den von Savigny vorgeschlagenen allseitigen Kollisionsnormen und seinem Gedanken von der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten hat Max Gutzwiller87 bereits das Wesentliche gesagt, wenn er meint: "In Wirklichkeit stehen seine (Savignys) völkerrechtliche Behauptung und die Ableitung seines Hauptsatzes vom ,Sitze' nebeneinander und sind durch keine juristische Konstruktion in Beziehung gesetzt. Savigny zieht aus seiner völkerrechtlichen Grundlage keine einzige der vielen denkbaren Folgerungen; vor allem folgert er daraus keineswegs etwa seinen eigenen Hauptsatz." 85 86 87
s. dazu oben § 3 I. 2. Vgl. Savigny, 33, und dazu oben§ 3 II. 1. c). M. Gutzwiller, 44.
4 Lorenz
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
Dieser Beurteilung des Zusammenhangs zwischen der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten und der Sitzregel und damit den allseitigen Kollisionsnormen ist schon deshalb zuzustimmen, weil der Kernbestand der allseitigen Kollisionsnormen aus dem Mittelalter stammt und daher jedenfalls nicht von dem im 19. Jahrhundert von Savigny formulierten Gedanken der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten abhängig ist, sondern sich auch mit den anderen Begründungen halten läßt. Die fehlende Begründungswirkung der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten gestattet allerdings nicht die Feststellung, daß dieser Gedanke für Savignys Gesamtkonzeption völlig bedeutungslos war. Im Gegenteil: Savigny war auf diesen Gedanken angewiesen, weil er seiner kollisionsrechtlichen Konzeption internationale Rezeptionsfähigkeit verschaffen wollte. Im Vordergrund stand für Savigny also die Internationalisierungsfunktion des Gedankens. Im Ergebnis nahm er dadurch eine alte Tradition wieder auf; denn auch die spätmittelalterlichen Gelehrten, die Begründer des modernen Kollisionsrechts, hatten ihre allseitigen Kollisionsnormen internationalisiert. Allerdings auf einem Wege, der Savigny nach dem Forschungsstand seiner Zeit verschlossen war: Sie hatten die allseitigen Kollisionsnormen auf leges des die Partikularrechte überragenden Corpus iuris zurückgeführt88• Aus den vorgetragenen Überlegungen ergibt sich die gebotene Würdigung der allgemeinen Überzeugung, daß Savignys Gedanke von der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten als Irrtum, zumindest als enttäuschte Erwartung anzusehen ist: Savignys kollisionsrechtlicher Konzeption ist dadurch nicht der Boden entzogen worden; denn er hat den Gedanken der Sache nach nicht als Begründung dieser Konzeption benutzt. Das heißt zugleich: er hat zwar keine Abhängigkeit zwischen seiner Konzeption und dem Gedanken von der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten hergestellt; er ist aber auch eine Begründung für seine Konzeption schuldig geblieben. Außerdem ist er mit dem Versuch, seine Konzeption durch die Annahme einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten zu internationalisieren (international rezeptionsfähig zu machen) ebenso gescheitert wie die mittelalterlichen Gelehrten mit ihrem Versuch, das gleiche Ziel durch eine Berufung auf das "supranationale" gemeine Recht zu erreichen. cc) Anders als es nach Savignys Disposition den Anschein hat, sind auch das Verhältnis zwischen der erst im 19. Jahrhundert formulierten Sitzregel und den allseitigen Kollisionsnormen und die aus diesem Verhältnis hergeleitete Abhängigkeit der von Savigny entworfenen kollisionsrechtlichen Konzeption zu den "Umweltbedingungen" des 19. Jahrhunderts zu beurteilen. 88
Vgl. dazu E. Lorenz, 4.
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Savigny hat den Kernbestand der allseitigen Kollisionsnormen nicht neu geschaffen, sondern in dem reichen Fundus des kollisionsrechtlichen Materials vorgefunden. Sie erschienen ihm als die zu betonenden Elemente in dem durch statutentheoretische Streitereien unbrauchbar gewordenen kollisionsrechtlichen Instrumentarium seiner Zeit. In ihnen sah er - wie sich später gezeigt hat - zu Recht das Gerüst für ein praktikables Kollisionsrecht. Aus diesem Befund ergibt sich die gebotene Deutung des Zusammenhangs zwischen den allseitigen Kollisionsnormen und der Sitzregel: Savigny hat die allseitigen Kollisionsnormen nicht aus der Sitzregel gewonnen, sondern - umgekehrt - die Sitzregel von den seit Jahrhunderten bekannten allseitigen Kollisionsnormen abstrahiert und durch sie die allseitigen Kollisionsnormen systematisch verklammert. In seinem Bemühen, die Sitzregel- man darf wohl sagen - "didaktisch eingängig" zu formulieren und dadurch ihre Systematisierungsjunktion zu verdeutlichen, hat er allerdings eine Fassung gewählt, die zwar - dem Ziel seiner Formulierungskunst entsprechend -wegen ihrer rhetorischen Eleganz um die Welt ging, aber auch zu erwartende und deshalb vermeidbare Einwände hervorbrachte89• Max Gutzwiller90 hat den Ausgangspunkt dieser Einwände prägnant so formuliert: "Der Satz vom ,Sitze' enthält zwei ihm immanente Behauptungen: die (allgemeine) Behauptung, daß es möglich sei, die Rechtsverhältnisse zu lokalisieren und die davon verschiedene (besondere) Behauptung, daß für die wichtigsten Rechtsverhältnisse ein ,Sitz' auch praktisch bestimmt und nachgewiesen werden könne." Gutzwiller meint dann, beide "Behauptungen" seien unbegründet. Dennoch schließt er mit dieser Feststellung: "Daß aber von dem Bilde des ,Sitzes' ein gesunder Gedanke ausgehen muß, aller Kritik zum Trotz, das zeigt die geradezu axiomatische Bedeutung, welche diese HUfsvorstellung in der Theorie und in der Praxis der ganzen Welt gewonnen hat91 ." Mit dieser Schlußbemerkung findet Gutzwiller die angemessene Stellungnahme zu der Kritik an Savignys Sitzregel, welche sich an ihrer Fassung entzündet und den sachlichen Gehalt vernachlässigt hat. Savigny wollte sagen: Für jedes Rechtsverhältnis ist der Anknüpfungspunkt zu bestimmen, der die engste (sachlich überzeugendste) Bindung des Rechtsverhältnisses zu einem Rechtsgebiet bezeichnet. In diesem Sinne ist die "Lokalisierung" der Rechtsverhältnisse möglich und "nachweisbar", nämlich mit Sachargumenten zu begründen, sofern man unter Rechtsverhältnissen Sachverhalte versteht, aus denen eine Rechtsfrage abgeleitet worden ist, und die deshalb rechtlich zu würdigen sind. 89
9o 91
••
Vgl. die Übersicht bei M. Gutzwiller, 60 ff. Vgl. auch Juenger, 12. M. Gutzwiller, 45. M. Gutzwiller, 46•
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Nach den vorgetragenen Überlegungen ist die Frage nach der Abhängigkeit der kollisionsrechtlichen Konzeption Savignys (die aus den mit statutentheoretischen Grundsätzen versetzten - allseitigen Kollisionsnormen besteht92) von der im 19. Jahrhundert formulierten Sitzregel und damit von den durch die Sitzregel vermittelten Verhältnissen des 19. Jahrhunderts so zu beurteilen: Die Sitzregel ist zwar im 19. Jahrhundert formuliert worden. Sie enthält aber den methodischen Extrakt aus den schon lange vorher entstandenen allseitigen Kollisionsnormen. Sie kann deshalb keine Abhängigkeit von den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts begründen. 111. Ergebnisse
Die von den modernen Kritikern des herkömmlichen Kollisionsrechts herausgeforderten, nicht vollständigen Untersuchungen zur historischen Grundlegung des traditionellen IPR führen damit zu diesen zur Skizzierung des Gesamtbildes erforderlichen (teils bekannten, teils ergänzten) Feststellungen: 1. Der Kernbestand der herkömmlichen allseitigen Kollisionsnormen ist bereits im 13. und 14. Jahrhundert bei den "alten" Statutisten zu finden. Die allseitigen Kollisionsnormen sind meist in Anlehnung an die besonderen Gerichtsstände des gemeinen Rechts entwickelt worden. Tragender Grundgedanke für die Anwendung des von ihnen bezeichneten Sachrechts (materiellen Rechts) war die Unterwerfung. 2. Neben den allseitigen Kollisionsnormen gehörten von Anfang an statutentheoretische Grundsätze zum kollisionsrechtlichen Instrumentarium. Nach diesen Regeln wurde der Anwendungsbereich der statuta oder leges (also der Sachnormen) durch den Wortlaut und den Inhalt und den dadurch indizierten Willen des Normgebers bestimmt. Sie bildeten eine notwendige Ergänzung der allseitigen Kollisionsnormen, weil sie die Funktion der Grundsätze erfüllten, die in modernen Kollisionsrechten von dem "Allgemeinen Teil" wahrgenommen werden.
3. Die statutentheoretischen Grundsätze bezogen sich auf das statutum oder die lex, die aufgrund einer nicht zur Statutentheorie gehörenden, sondern aufgrund einer anderen kollisionsrechtlichen Regel, meist aufgrundeiner allseitigen Kollisionsnorm als anwendbar in Betracht kam. Dieses die statutentheoretische Methode kennzeichnende Zusammenwirken zwischen allseitigen Kollisionsnormen und statutentheoretischen Grundsätzen erklärt die Formulierung der statutentheoretischen Grundsätze und schließt den Vorwurf eines "Denkfehlers" oder "logischen Bruchs" aus. Ein statutentheoretischer Grundsatz, der etwa bestimmte: 92
Vgl. Savigny, 33, und dazu oben § 3 II. 1. c}.
III. Ergebnisse
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Wenn das statutum dem überlebenden Ehemann alle Grundstücke zuwendet, gilt die Iex rei sitae, sollte besagen: Wenn das aufgrund der allseitigen Kollisionsnorm für die Erbfolge anzuwendende statutum Grundstücke zuwendet, ist nicht die erbrechtliche Kollisionsnorm, sondern die Kollisionsnorm für Sachen (Anwendung der lex rei sitae) maßgebend. 4. Als Savigny zur Reform des Kollisionsrechts ansetzte, hatten die ständig erweiterten und differenzierten statutentheoretischen Grundsätze die allseitigen Kollisionsnormen stark zurückgedrängt. Die ursprünglich als "Kontrolle" der Verweisungen durch die Kollisionsnormen zu wertende statutentheoretische Überprüfung des Anwendungsbereichs der in Betracht zu ziehenden Sachnormen hatte sich zur hauptsächlichen Aufgabe der kollisionsrechtlichen Rechtsfindung entwickelt. Im Laufe dieser Entwicklung war der Streit um die Handhabung der statutentheoretischen Grundsätze so angewachsen, daß das Kollisionsrecht den Anforderungen der Praxis nicht mehr genügen konnte. 5. In seinem Bestreben, aus dem reichen Fundus des tradierten kollisionsrechtlichen Materials ein funktionsfähiges Kollisionsrecht zu gewinnen, rückte Savigny die überkommenen, beim Rechtsverhältnis ansetzenden allseitigen Kollisionsnormen in einer von ihm erarbeiteten Fassung in den Vordergrund. Gleichzeitig drängte er die Statutentheorie bis auf einen unverzichtbaren Restbestand zurück: Er ließ sie nur in seinen "Ausnahmeregeln" über das zwingende Recht und die im Inland nicht anerkennungsfähigen ausländischen Rechtsinstitute fortbestehen. 6. Der in Savignys Bearbeitung des Kollisionsrechts betonte Gedanke der Unterwerfung und die von ihm gleichfalls herausgestellten Beziehungen zwischen den besonderen Gerichtsständen und den allseitigen Kollisionsnormen erinnern an die Arbeit der mittelalterlichen italienischen "Statutisten". 7. Savigny hat mit seiner kollisionsrechtlichen Konzeption die "Entpolitisierung" ("Entstaatlichung") des !PR gefördert. Für die Annahme, Savigny habe es bewußt unternommen, das Kollisionsrecht seinen privatrechtstheoretischen Vorstellungen und weiter: dem "Sozialmodell" des 19. Jahrhunderts anzupassen, gibt es keine überzeugenden Anhaltspunkte. Das Ausmaß der "Entpolitisierung" ("Entstaatlichung") des Kollisionsrechts durch Savigny wird von den modernen Kritikern des herkömmlichen Kollisionsrechts stark überschätzt und das pragmatische Anliegen Savignys, aus dem tradierten Material ein funktionsfähiges Kollisionsrecht zu schaffen, wird von ihnen ebenso deutlich unterschätzt. 8. Zu einer zurückhaltenden Beurteilung der von Savigny entworfenen, reformierten kollisionsrechtlichen Konzeption von den "Verhältnissen" des 19. Jahrhunderts führt auch die Untersuchung über die Bedeu-
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§ 3: Zur historischen Grundlegung
tung der von Savigny ausdrücklich benannten Grundlagen seiner Konzeption. Nach der Disposition seiner Arbeit erscheint die- unbegründeteAnnahme einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten zwar als Fundament dieser Konzeption. Der Sache nach hat Savigny sie aber nicht auf dieser Grundlage errichtet. Ihr konnte deshalb mit dieser "Grundlage" auch nicht der Boden entzogen werden. Das bedeutet zugleich, daß Savigny keine Begründung seiner Konzeption geliefert hat. Da die Annahme einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten nicht begründet war, ist es Savigny auch nicht gelungen, auf diesem Wege sein Kollisionsrecht zu internationalisieren (international rezeptionsfähig zu machen). Die Sitzregel vermittelt ebenfalls keine Abhängigkeit von den "Verhältnissen" des 19. Jahrhunderts. Sie ist zwar- soweit ersichtlich -im 19. Jahrhundert erstmals formuliert worden; sie enthält aber nur den "methodischen Extrakt" aus dem jahrhundertealten Kernbestand allseitiger Kollisionsnormen, den Savigny vorgefunden hat.
§ 4: Zur Notwendigkeit eines Strukturwandels des Kollisionsrechts Das soeben formulierte Ergebnis der historischen Untersuchung zwingt dazu, die nunmehr zu behandelnde Frage nach der Notwendigkeit eines Strukturwandels des Kollisionsrechts neu zu formulieren. Es kann nicht mehr gefragt werden, ob das von Savigny überkommene Kollisionsrecht wegen seiner Abhängigkeit von den rechtlich relevanten "Umweltbedingungen" des 19. Jahrhunderts heute zwar als historisch wichtiger1, aber doch als "gescheiterter Ansatz" 2 angesehen werden muß. Es ist vielmehr die Frage zu stellen, ob es heute für die von Savigny neu formulierte und nach ihm weiterbearbeitete kollisionsrechtliche Konzeption eine Begründung gibt, die - erstens Savignys von Anfang an nicht tragfähige Annahme einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten als tragfähige Grundlage der Sitzregel und damit der allseitigen Kollisionsnormen ersetzen kann, und die - zweitens den Einwänden gegen das herkömmliche Kollisionsrecht standhält. Zur Verfolgung dieser Frage ermuntert nicht nur das Ergebnis der historischen Untersuchungen. Hinzu kommt eine zweite Beobachtung: Die Kritiker des herkömmlichen Kollisionsrechts fordern zwar nachdrücklich die Rückkehr zum (modifizierten) statutistischen Ansatz und auf diesem Wege eine Repolitisierung oder "Wiederverstaatlichung" des IPR3 • Diese Empfehlung ist aber- anders als zu seiner Zeit Savignys Konzeption - keineswegs als eine attraktive und sich deshalb rasch verbreitende Parole aufgenommen worden. Neuhaus spricht deshalb für viele, wenn er meint, sie erweise sich "geradezu als ein Irrweg"'.
1 2
Vogel, 225, spricht von dem "geschichtlichen Recht" der Lehre Savignys. Vgl. dazu Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 438: "Skeptische Betrachter (er
zitiert Joerges und Steindorff) meinen deshalb: ,Savignys Ansatz ist gescheitert, suchen wir nach neuen und anderen Wegen'." 3 Vgl. dazu oben § 1 III und die Nachweise in den Fußn. zu diesen Ausführungen. ' Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401 ff., 417; vgl. auch Stöcker, RabelsZ 38 (1974), 79 ff., 123 f.
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§ 4: Zur Notwendigkeit eines Strukturwandels
I. Skizzierung der Grundlagen des herkömmlichen IPR 1. Grund, Gegenstand und Inhalt der kollisionsrechtlichen Frage
Der Ansatz für die Beantwortung der Ausgangsfrage ergibt sich aus diesem Befund: Solange eine Vielfalt nebeneinander geltender, inhaltlich voneinander abweichender Privatrechte besteht, zerfallen die Sachverhalte, die mit einer Rechtsfrage verknüpft und deshalb von den Gerichten zu beurteilen sind, in zwei Gruppen: in solche, die nur mit einem Rechtsgebiet verbunden sind und in andere, welche Beziehungen zu verschiedenen Rechtsgebieten aufweisen. Man kann statt dessen auch mit Wengler5 - von "homogen" (nur mit einem Rechtsgebiet) und "heterogen" (mit mehreren Rechtsgebieten) "verknüpften Situationen" sprechen. Die Verbindung zu einer anderen als der inländischen Rechtsordnung wird, insbesondere durch die herkömmlichen Anknüpfungspunkte, also die Staatsangehörigkeit oder den Wohnsitz von Personen, den Handlungsort, den Lageort einer Sache usw. vermittelt. Wenn nun aus einem Sachverhalt mit Auslandsberührung (einem heterogen verknüpften Sachverhalt) eine - sachrechtliehe - Frage erhoben und deshalb eine Beurteilung des Sachverhalts erforderlich wird, entsteht die- kollisionsrechtliche - Frage, ob die Auslandsberührung der bei Inlandssachverhalten (Sachverhalten mit homogener Verknüpfung) selbstverständlichen Anwendung der lex fori entgegensteht. Aus diesem Gedankengang ergeben sich Grund, Gegenstand und Inhalt der kollisionsrechtlichen Fragestellung: Grund der kollisionsrechtlichen Fragestellung ist die insbesondere durch die herkömmlichen Anknüpfungspunkte vermittelte Auslandsberührung. Gegenstand der kollisionsrechtlichen Fragestellung sind die - mit einer sachrechtliehen Rechtsfrage verbundenen und deshalb beurteilungsbedürftigen - Sachverhalte mit Auslandsberührung (heterogen verknüpfte Sachverhalte)6 • Aufgeworfen wird die- kollisionsrechtliche - Frage, ob die Sachverhalte mit Auslandsberührung wegen der Auslandsberührung der sachlichen Beurteilung durch die lex fori unterworfen werden dürfen, oder ob die Auslandsberührung eine - von der lex 5 Wengler, Das Gleichheitsprinzip im Kollisionsrecht, Eranion Maridakis, 1964, Vol. III, 323 ff., 341. Englische Fassung in L. Cont. Pr. 28 (1963), 822 ff. 8 A. A. Beitzke, Festschrift für R. Smend zum 70. Geburtstag, 1952, 1 ff., 3 f. Er meint, bei reinen Inlandsfällen stelle sich die kollisionsrechtliche Frage auch; sie sei nur leichter zu beantworten. Das zeige sich besonders deutlich, wenn ein Inlandssachverhalt einmal zufällig vor ein ausländisches Gericht gerate. Dem ist entgegenzuhalten, daß sich die kollisionsrechtliche Frage dann dem ausländischen Richter stellt, und für ihn ist der Sachverhalt ein Sachverhalt mit (stärkster) Auslandsberührung.
I. Skizzierung der Grundlagen des IPR
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fori abweichende - sachrechtliehe Beurteilung nach einem ausländischen Recht erfordert. 2. Der begrenzte weltweite Konsens über die Beantwortung der kollisionsrechtlichen Frage
Über die Beantwortung der kollisionsrechtlichen Frage besteht ein zwar nur begrenzter aber doch wichtiger und weiterführender (eine Vertiefung der kollisionsrechtlichen Frage eröffnender) weltweiter Konsens. Er ergibt sich aus den Kollisionsrechten der verschiedenen Staaten, insbesondere aus den jahrhundertealten, im Kern von den meisten Rechtsordnungen rezipierten allseitigen Kollisionsnormen. Danach wird der "Faktor Auslandsberührung" überall dort, wo die kollisionsrechtliche Frage voll erkannt wird, als ein Umstand gewürdigt, der die Anwendung des inländischen Rechts (der lex fori) ausschließen kann. Über die Voraussetzungen einer solchen Wirkung der Auslandsberührung, also über die Antwort auf die Frage, wie die Auslandsberührung beschaffen sein muß, welche die Anwendung der lex fori aus'Schließt, besteht dagegen keine Einigkeit. 3. Die rechtliche Grundlage für die Nichtanwendung der Iex fori und die Anwendung eines ausländischen Sachrechts
Der aufgezeigte "weltweite" Konsens gestattet und erzwingt - so "dünn" er auch sein mag- die das Kollisionsrecht weiter erschließende Frage nach der rechtlichen Grundlage für die Beachtung des "Faktors Auslandsberührung" und die dadurch möglicherweise gebotene Anwendung eines ausländischen Sachrechts. In Betl'acht zu ziehen ist zunächst eine völkerrechtliche Grundlage, also eine "echte" generelle völkerrechtliche Verpflichtung oder- falls es sie nicht gibt- eine Verpflichtung minderer (völker)rechtlicher Intensität zur Anwendung einer durch den Sachverhalt berührten ausländischen Rechtsordnung. Diese Begründungsmöglichkeit setzt voraus, daß die hinter den berührten Rechtsordnungen stehenden Völkerrechtssubjekte, also die Staaten, durch einen Sachverhalt mit Auslandsberührung auf den Plan gerufen und ihre etwaigen Rechtsanwendungsinteressen bereits im primären Stadium der kollisionsrechtlichen Rechtsfindung - und nicht erst, wenn das inländische Recht sie für beachtlich erklärt' - zu relevanten kollisionsrechtlichen Argumenten werden. Ein solches "völkerrechtliches Denken" im IPR ist sowohl bei den Kritikern als auch bei den Verteidigern des herkömmlichen Kollisions7
In diesem Sinne nachdrücklich Beitzke, wie vorige Fußn., 10 ff. (unter III.).
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rechts stark verbreitet; bei den Verteidigern verbirgt es sich hinter der Vorstellung, das IPR habe nicht nur für eine durch die Auslandsberührung indizierte materiellprivatrechtliche Beurteilung der Fälle mit Auslandsberührung zu sorgen, sondern auch die verschiedenen Privatrechtsordnungen und damit die verschiedenen staatlichen Interessen gegeneinander abzugrenzen. Gegen diese völkerrechtliche Aufgabenstellung des IPR bestehen jedoch erhebliche Bedenken, weil es an den erforderlichen völkerrechtlichen Grundlagen fehlte.
a) Die Möglichkeit einer allgemeinen völkerrechtlichen Pflicht zur Berücksichtigung etwaiger durch die Auslandsberührung aktivierter ausländischer Rechtsanwendungsinteressen Das gilt zunächst für die Möglichkeit einer "echten" völkerrechtlichen Pflicht zur Berücksichtigung etwaiger durch die Auslandsberührung aktivierter ausländischer Rechtsanwendungsintererssen. Sie ist ebenso abzulehnen wie Savignys insbesondere auch von den modernen Kritikern des herkömmlichen Kollisionsrechts verworfener Gedanke von der "völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten" 9 • Die Begründung liegt auf der Hand: Eine generelle völkerrechtliche Pflicht hat sich nicht entwickelt. Sie wird sich auch nicht entwickeln, weil s~e voraussetzt, daß jeder beteiligte Staat anderen Staaten gestattet, über seine Rechtsanwendungsinteressen zu urteilen, also seine Interessen hinter den Interessen eines anderen Staates zurückzustellen. Das kann kein Staat zulassen10• Möglich sind nur Verträge völkerrechtlicher Qualität, in denen die beteiligten Staaten für bestimmte Rechtsbereiche oder - umfassender durch ein System von Kollisionsnormen die Entscheidung über das anzuwendende Recht festlegen. Solche Verträge kann sich jeder Staat leisten, weil sie zustandekommen, nachdem er selbst über sein Rechtsanwendungsinteresse entschieden hat und das Ergebnis seiner Entscheidungen in die Vertragshandlungen eingebracht und so weit wie möglich durchgesetzt hat11• 8 So bereits mit überzeugender Widerlegung der Einwände Beitzke, Festschrift für R. Smend, 14 ff. (unter IV.). Vgl. dazu ferner van Hecke, Rec. des Cours 126 (1969 I), 399 ff., 412 ff.; Lipstein, Rec. des Cours 135 (1972 I), 97 ff., 192 ff.; Kahn-Freund, Rec. des Cours 143 (1974 III), 139 ff., 165-205 und 464. 9 s. dazu oben § 3 II. 1. a). to Vgl. Currie, Selected Essays, 183 ff., 189, wo er eine solche Interessenbewertung zu Recht für unzulässig erklärt. Ausführlicher zu Curries Argumentation zuletzt Joerges, 69 ff. Vgl. ferner Ehrenzweig, P. I. L., 83 und 94. s. auch oben § 1 II. 2. 11 Zur Ergänzung der Argumentation vgl. Beitzke, Festschrift für R. Smend, 14 ff. (unter IV.), wo er zu Recht die Möglichkeit verwirft, aus der Anerkennung eines Staates die Verpflichtung zur Anwendung des Rechts dieses Staates abzuleiten.
I. Skizzierung der Grundlagen des IPR
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b) Die Möglichkeit einer allgemeinen "Pflicht minderer völkerrechtlicher Intensität" zur Berücksichtigung der durch die Auslandsberührung aktivierten ausländischen Rechtsanwendungsinteressen Aus den soeben vorgetragenen Überlegungen ergibt sich bereits, daß es auch keine das primäre Stadium kollisionsrechtlicher Rechtsfindung beherrschende "Pflicht minderer Intensität" und auch keine pflichtähnliche freundliche oder taktische Verbindlichkeit (Comitas-Idee) zur Berücksichtigung ausländischer Rechtsanwendungsinteressen geben kann. Gegen eine solche "Verbindlichkeit" 'Spricht - wie gegen eine "echte" völkerrechtliche Pflicht- das Selbstverständnis der Staaten: Wenn dieses Selbstverständnis keine völkerrechtliche Ermächtigungsgrundlage für die Bewertung der Rechtsanwendungsinteressen des 'einen durch den anderen Staat zuläßt, kann es auf völkerrechtlicher Ebene auch keine andere - wie auch immer geartete - generelle Pflicht oder Kompetenz gleicher Wirkung aufkommen lassen. Das •b edeutet aus anderer Sicht: Die einzelstaatliche Inanspruchnahme einer solchen Kompetenz muß als völkerrechtlich zweifelhafte Anmaßung verstanden werden. Wenn man das IPR völkerrechtlich oder völkerrechtsähnlich begründet, muß sogar die Aufstellung allseitiger Kollisionsnormen als bedenklich empfunden werden, weil deren Deutung als Kompetenznormen zur Berücksichtigung und damit auch zur Bewertung ausländischer Rechtsanwendungsinteressen nicht ausgeschlossen wird. Diese Zusammenhänge erklären das Vorgehen des EGBGB-Gesetzgebers: Aufgrund der politischen Verhältnisse mißtraute er zu Recht der von Savigny als Grundlage des Kollisionsrechts angebotenen "völkerrechtlichen Gemeinschaft der Staaten". Er mußte sich deshalb scheuen, eine aus allseitigen Kollisionsnormen bestehende geschlossene kollisionsrechtliche Konzeption zu verabschieden. Demzufolge hat er zum großen Teil nur einseitige Kollisionsnormen geschaffen und in erheblichem Umfang sogar auf jede kollisionsrechtliche Regelung verzichtet. Den Schritt zur totalen Allseitigkeit haben dann erst die Gerichte vollzogen. Er wurde durch die Anforderungen der Praxis erzwungen und durch das vom Gesetzgeber wesentlich verschiedene politische Selbstverständnis der Richter erleichtert: Sie spürten allenfalls entfernt die politischen Zwänge, denen sich der Gesetzgeber bei seinem Verständnis der Grundlagen des IPR unmittelbar ausgesetzt sah.
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c) Der Gleichheitssatz als rechtliche Grundlage für die Nichtanwendung der lex fori und die Anwendung eines ausländischen Rechts Die fast allgemein geteilte12 und durch die soeben vorgetragenen Überlegungen bestätigte Einsicht in die Unmöglichkeit einer völkerrechtlichen Begründung des IPR zwingt dazu, nach einem anderen rechtlichen Fundament zu suchen. Es kann nur im einzelstaatlichen Recht gefunden werden. Es muß sich dabei um ein rechtliches Prinzip handeln, das "normenhierarchisch" gesehen über dem zum einfachen Gesetzrecht gehörenden Kollisionsrecht steht und die Berücksichtigung der materiellprivatrechtlich relevanten Auslandsberührung bei der Beurteilung von Rechtsfragen aus Sachverhalten mit Auslandsberührung (heterogen verknüpften Sachverhalten) rechtfertigen kann. Diesen Anforderungen entspricht der von Wengier in seinen bisher weniger beachteten Ausführung·e n zum "Gleichheitsprinzip im Kollisionsrecht" 13 ins Licht gerückte Gleichheitssatz in seiner Wirkungskomponente, Ungleiches ungleich, nämlich der Ungleichheit entsprechend, zu beurteilen14 • Auf der Grundlage dieses rechtlichen Prinzips erweist sich die Nichtanwendung der lex fori und die Anwendung eines ausländischen Rechts bei der Beurteilung von Rechtsfragen aus heterogen verknüpften Sachverhalten als die gleichheitssatzkonforme Berücksichtigung des materiellprivatrechtlich relevanten und deshalb zur Kollisionsrechtsfrage führenden Faktors Auslandsberührung und damit als die gleichheitssatzkonforme15 materiellprivatrechtliche Beurteilung heterogen und homogen verknüpfter Sachverhalte.
Vgl. dazu nur Kegel, IPR, 3. Aufl., 6 f. Wengler, Gleichheitsprinzip, 342 und 347. Vgl. auch Savigny, 27, wo er aufgrund des Gleichheitssatzes die uneingeschränkte Anwendung der lex fori ablehnt. Er nennt zwei Wirkungskomponenten des Gleichheitssatzes: Die Verpflichtung, den Fremden gegenüber dem Einheimischen nicht zurückzusetzen (gleiche Behandlung der Personen) und die gleiche Behandlung der Rechtsverhältnisse unabhängig davon, in welchem Staat sie beurteilt werden. Es fehlt hier aber die auf die Rechtsverhältnisse bezogene Wirkungskomponente des Gleichheitssatzes, nach der Ungleiches ungleich, nämlich der Ungleichheit entsprechend zu behandeln ist. Savigny sagt daher auch nicht, daß die mit einer Rechtsfrage verbundenen Sachverhalte (Rechtsverhältnisse) mit Auslandsberührung gerade auch aus diesem Grunde nicht- wie Sachverhalte oh11e Auslandsberührung - schlechthin der lex fori unterworfen werden dürfen. u Vgl. dazu z. B. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 308. 15 Nämlich an dem- nach Weinberger, öst.Z.f.öfftl.R. 25 (1974), 23 ff.- als "akzeptierten Wertungs.e:esichtspunkt" zu bezeichnenden Faktor Auslandsberührung, bei dem freilich nur anerkannt ist, daß er relevant ist, und nicht, wann (unter welchen Voraussetzungen) er relevant ist. Vgl. dazu oben § 4 I. 2. u. 3. "dünner Konsens". 12
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I. Skizzierung der Grundlagen des !PR
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4. Folgerungen für das Verständnis des Kollisionsrechts
a) Die Befreiung des IPR vom völkerrechtlichen Denken und das Bekenntnis zu einem sachrechtliehen Denken im IPR Die Bemerkungen zu dem rechtlichen Fundament des IPR zwingen zu Konsequenzen für das Verständnis des !PR, die nicht immer deutlich gezogen wer-den: Obwohl die Versuche einer völkerrechtlichen Begründung des IPR fast allgemein16 als gescheitert angesehen werden, ist das völkerrechtliche Denken im IPR dennoch verbreitet erhalten geblieben; wahrscheinlich deshalb, weil stets und zu Recht ein Internationalisierungsbedürfnis für das einzelstaatliche Kollisionsrecht empfunden wurde, und weil man nur in dem völkerrechtlichen Denken im IPR eine Möglichkeit zur Befriedigung dieses Bedürfnisses gesehen hat. Völkerrechtliches Denken im IPR zeigt sich, wenn das IPR auch als Mittel zur Abgrenzung der kollidierenden Rechtsordnungen oder der Interessen verschiedener Rechtsgemeinschaften17 oder als Instrument zur "zwischenstaatlichen Kompetenzabgrenzung" 18 oder zur Gleichbehandlung kollidierender Rechtsordnungen oder zur Gleichbehandlung von In- und Ausländern19 usw. verstanden wird. Die Verfolgung all dieser Ziele ist nützlich und sicher auf völkerrechtlicher Ebene zu betreiben. Unmittelbare Aufgabe des IPR kann sie aber nicht sein, weil sich das IPR nicht völkerrechtlich, sondern "nur" einzelstaatlich begründen läßt. Durch ein auf diese Weise fundiertes IPR können die genannten Ziele daher nur mittelbar verfolgt werden, nämlich durch gleichheitssatzkonforme Berücksichtigung materiellprivatrechtlich relev-anter Auslandsberührungenbei der Beurteilung materiellprivatrechtlicher Rechtsfragen aus Sachverhalten mit Auslandsberührung. Soweit durch den Vollzug dieser Aufgabe Kollisionsnormen entstehen, die den aufgrund völkerrechtlichen Denkei11S im IPR formulierten völkerrechtlichen Anforderungen widersprechen, ist das völkerrechtlich, aber nicht internationalprivatrechtlich zu sanktionieren, wenn die erforderlichen völkerrechtlichen Sanktioi11Snormen "nachweisbar" und deren Voraussetzungen erfüllt sind. Ein solcher Konflikt und eine solche Sanktion sind jedoch kaum zu erwarten, wenn die materiellprivatrechtlich relevanten Auslandsberührungen, etwa die durch die ausländische Staatsangehörigkeit von Personen vermittelten Auslandsberührungen, auf sachlich überzeugenden Relevanzkriterien beruhen; denn unter diesen Voraussetzungen Vgl. nochmals Kegel, IPR, 3. Aufl., 6 f. Vgl. P. M. Gutzwiller, 166. 18 s. dazu Beitzke, Festschrift für R. Smend, 17. 19 Die Wengler, Gleichheitsprinzip, 323 ff. (unter behandelt. te
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I.)
und 333 (unter Il.)
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sind etwa unzulässige Ausländerdiskriminierungen nicht zu erwarten. Das bedeutet zugleich: Wenn sie dennoch entstehen (und es gibt sie), so bedarf es keiner völkerrechtlichen Kritik und Sanktion, sondern einer internationalprivatrechtliehen Reform der Kollisionsnorm. Das völkerrechtliche Denken im IPR ist somit nicht nur unbegründet, sondern auch überflüssig. Es ist deshalb aufzugeben und durch ein sachrechtliebes Denken im IPR zu ersetzen.
b) Die Aufhebung der Antinomie zwischen materiellprivatrechtlicher und internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeit Die vorgetragenen Überlegungen bestimmen auch das in der Reformdiskussion, insbesondere im Zusammenhang mit dem "better-lawapproach" kritisch erörterte Verhältnis zwischen materiellprivatrechtlicher und internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeit20 • Es gibt keinen Gegensatz: Die sogenannte Anknüpfungsgerechtigkeit dient der materiellprivatrechtlichen Gerechtigkeit. Solange die (niemaLs vollständig aufzuhebende) Rechtszersplitterung besteht, wird die materiellprivatrechtliche Gerechtigkeit verfehlt, wenn die internationalprivatrechtliche Gerechtigkeit nicht erreicht wird. Das bedeutet im einzelnen: Solange me Rechtszersplitterung besteht, gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen über die materiellprivatrechtliche Gerechtigkeit; und solange es sie gibt, kann es keinen übernationalen materiellprivatrechtliehen Gerechtigkeitsmaßstab geben, weil er notwendigerweise die unterschiedliche Verknüpfung der Sachverhalte mit den einzelnen Rechtsordnungen mißachten und deshalb zu ungerechten materiellprivatrechtliehen Entscheidungen führen müßte. Aus den gleichen Gründen dürfen die Rechtsfragen aus den unterschiedlich verknüpften Sachverhalten auch nicht schlechthin nach einem als optimale Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee eingeschätzten (in- oder ausländischen) einzelstaatlichen Gerechtigkeitsmaßstab beurteilt werden; denn ein solches Vorgehen schafft nicht materiellprivatrechtliche Gerechtigkeit, sondern- wegen der notwendigen Mißachtung der materiellprivatrechtlich relev