Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters [1 ed.] 9783428443697, 9783428043699


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German Pages 167 Year 1979

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Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters [1 ed.]
 9783428443697, 9783428043699

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 43

Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Von

Ernst E. Hirsch

Duncker & Humblot · Berlin

ERNST E. HIRSCH

Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 43

Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Von

Ernst E. Hirsch

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1979 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany

© 1979 Duncker

ISBN 3 428 04369 3

Vorwort Die juristische Dimension des Gewissens ist gewiß umfangreicher und tiefer, als sie in dieser Schrift dargestellt wel'den konnte. Der weiteren Auslotung sind jedoch keine Grenzen gesetzt, wenn man der Richtung folgt, die einzuschlagen ich für notwendig halte. Der Mensch steht als Lebewesen innerhalb der Natur, als Sozialwesen innerhalb der Kultur. Eine rein normative oder sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise des menschlichen Gewissens kann daher nur einseitig und lückenhaft sein. Sie muß vielmehr durch die Erkenntnisse zweier naturwissenschaftlicher Disziplinen, der empirisch-biologischen Psychologie und der Humaneth0logie, ergänzt werden. Daher mein Versuch, die juristische Dimension des Gewissens als bio-soziologisches Problem zu untersuchen.

Die Anwendung meiner Betrachtungsweise auf vier praktische Problemkreise, nämlich auf die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit, auf die Beurteilung der Reaktion des menschlichen Gewissens während der nationalsozialistischen Herrschaft, auf die Bindung des Richters im Gewissen de lege lata und auf die Gesellschaftsbezogenheit des Eides hat zu Ergebnissen geführt, die nicht nur juristisch-dogmatisch, sondern vor allem auch rechtspolitisch von erheblicher Bedeutung sind. Die Erklärung der für die junge Generation unverständlichen, gegenüber den heutigen moralischen, rechtlichen und sittlichen Auffassungen völlig anderen Gewissenslage der Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft war ein um so ernsteres Anliegen, als die zeitgenössische, von den Gefühlen des Hasses, der Rache, der Verachtung und überheblichkeit geschwängerte politische Atmosphäre im Interesse des überlebens der Nation einer Entgiftung bedarf. Dazu kann die Erkenntnis beitragen, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit auch für jene unverletzlich ist, die diese böse Zeitspanne überlebt haben, welchem Gewissensruf sie auch gefolgt oder nicht gefolgt sind.

Der sechste Abschnitt über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides ist in einer verkürzten Fassung bereits in der Festschrift für Ernst Heinitz (1972, S. 139 - 158) erschienen. Dort konnte jedoch die sog. Glaubensentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 33, 25) noch nicht berücksichtigt werden. Königsfeld im Schwarzwald, im August 1978 Ernst E. Hirsch

Inhaltsverzeichnis Erster Abschnitt Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

11

1. Der Richtereid

11

2. Ist das Gewissen justiziabel? ........................................ a) Die Wirklichkeit des Gewissens wird vorausgesetzt .............. b) Gewissen = Gewissenhaftigkeit? ................................

11 12 13

3. Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks "Gewissen" ...................... a) In Art. 38 GG ............................. . .................... b) In Art. 4 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

15 15 16

4. Unterschiedlicher Sinngehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Gewissen als überzeugung aus Zweckmäßigkeitserwägungen . . . . .. b) Gewissen als spontane Reaktion unbedingten Sollens ............

16 16 18

5. Existiert das Gewissen? ............................................ a) Möglichkeit des Beweises ........................................ b) Non liquet ...................................................... c) Massenverschleiß des Gewissens ........... . ...... . ........ . ....

19 21 21 22

6. Einige Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

23

7. Die Kernbereichslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Universelles Rechtsgewissen? .................................... b) Anspannung des Gewissens? .................................... c) Die rechtsphilosophische Quelle .................................. d) Die bio-soziologische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

24 25 26 27 29

Zweiter Abschnitt Zur Definition des Gewissens seitens des Bundesverfassungsgerichts

3~

1. Der allgemeine Sprachgebrauch ....................................

33

2. Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ..... . . . . . . . . . . . . . .. a) Babylonische Sprachverwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Vorverständnisse

33 34 34

8

Inhaltsverzeichnis

3. Die richtige Fragestellung ..........................................

37

4. Die Ansichten der Verfassungsjuristen .............................. a) Der abendländische Begriff des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Gegenmeinung .............................................. c) Ein psychoanalytischer Beitrag .................................. d) Eine kritisch abwägende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. e) Eigene Stellungnahme.. . . .. .. . . .. ... . .. . . . ... ... . ....... . ... ....

38 38 39 40 42 43

5. Rechtstatsachen .................................................... a) Das Vorverständnis des Verfassungsgebers .......................

44 44

b) Sozialer Wandel ................................................

46

6. Die autonome sittliche Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

7. Die Kategorien "Gut" und "Böse" ...................................

49

Dritter Abschnitt

Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

52

1. "Bindung im Gewissen" ............................................

52

2. Interdisziplinäre Wissenschaftsmethode .. . .........................

53

3. Die Lehre vom biologischen Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

55

4. Das Steuerungssystem des sittlichen Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Funktion des Rezeptors ................................. . .... b) Der Mensch als Instinkt-Reduktionswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Der "Sollwert" des "Kompasses" ................................. d) Das Zwischenhirn ...............................................

57 57 60 63 63

5. Ethologie und Ethik ................................................

64

6. Im Erbgut verankerte Sollensgebote ................................ a) Die "Zehn Gebote" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens ................

66 66 68

7 Immunisierung des biologischen Gewissens. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Der Gewissenszwang ............................................ b) Suggestive Beeinflussung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Biologischer und kultureller Normenfilter ........................

69 69 70 72

8. Gewissen als vorprogrammierter, aber inhaltlich modifizierbarer "Sinn für Gerechtigkeit" ............................................ 74 a) Naturrechtlicher Rechtskodex? .................................. 74

Inhaltsverzeichnis b) Die Moralsysteme c) Die Internalisierung von Verhaltensnormen .. . ..... . .. . . . . ... ..... 9. Ergebnisse

...... . ........ . ........................................

9 76 77

80

Vierter Abschnitt

Der im Gewissen gebundene Richter während der nationalsozialistischen Zeit

85

1. Moralische und strafrechtliche Schuld als variable Größen

85

2. Die Stellung des Richters in der Gesellschaft ........................

92

3. Der "Fall Filbinger" als Paradigma für die ungesühnte Verletzung des

"unverletzlichen" Grundrechts der Gewissensfreiheit. . . . . . . . . . . . . . ..

97

4. Die sog. "Bluturteile" während der nationalsozialistischen Herrschaft 102 a) Nationalsozialistische Gesetze als rechtlich bindende Gesetze ...... 103 b) KSSVO ........................................................ 105 c) Verschiedenheit der Wertmaßstäbe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107 5. Der "Fall Rehse" und seine Lehre .................................. 109 109 a) Sachverhalt

b) Das rachsüchtige Rechtsbewußtsein .............................. 110 c) Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Volksbewußtsein .. 112 d) Die Lehren ...................................................... 114

Fünfter Abschnitt

Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

117

1. Der Sinngehalt des Art. 4 Abs. 1 GG in Anwendung auf den Richter .. 117

a) b) c) d)

Das Problem des Sondervotums .................................. forum internum ................................................. forum externum ................................. , .. , ............ Unzumutbarer Nachteil .........................................

2. Prozeßrechtliche Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des

Richters ........................................................... a) Ausschluß und Selbstablehnungsrecht des Richters ................ b) Bindung an die Entscheidung eines anderen Gerichts .,. . . . . . . . . . .. c) Der im Richterkollegium überstimmte Richter ................... aa) §§ 192 - 197 GG .............................................. bb) Die "logische" Schlußkette ..................................

117 118 119 121 122 122 123 124 124 124

10

Inhaltsverzeichnis ce) Absolute Gesetzesbindung - Grundrecht auf Gewissensfreiheit 128 dd) Freistellung des Richters von jedem Risiko? .................. 130

3. Das Beratungsgeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130 a) Der Beratungsvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 130 b) Der Verkündungsvorgang ........................................ 134 4. Schutz gegen Rechtsverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135 a) Das Sondervotum der Bundesverfassungsrichter .................. 136 b) Möglichkeiten für den Schutz des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137

Sechster Abschnitt Vber die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

140

1. Die Problematik ................................................... 140

2. Soziale Desintegration? ............................................ a) Begriffsbestimmungen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) "Vertrauen" .................................................... c) Vertrauensmißbrauch ...........................................

141

141 143 145

3. Der Eid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 147 a) Das Zeremoniell ................. , ....... , ....................... 147 b) Die Formel ...................................................... 148 4. Beeidigung einer Aussage vor Gericht ............................... a) Die "metaphysische Eselsbrücke" ................................ b) Schrumpfung der Beeidigungsfälle ............................... c) Ergebnis .......................................................

150 150 151 152

5. Vereidigung im politischen Bereich ................................ .. 154 6. Der Sinngehalt der Wörter "Eid" und "schwören" .................... 157

Samwortverzeichnis

162

Erster Abschnitt

Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen? 1. Der Richtereid Berufsrichter und ehrenamtliche Richter haben gemäß §§ 38 und 45 Abs. 3, 4 und 6 DRiG bei oder vor Beginn der Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit in öffentlicher Sitzung eines Gerichts eine nach Wortlaut und Zeremoniell gesetzlich zwingend vorgeschriebene und als "Eid" oder "Gelöbnis" bezeichnete Erklärung abzugeben. Sie "schwören" oder "geloben" (mit oder ohne Anrufung Gottes), "das Richteramt (bzw. die Pflichten eines ehrenamtlichen Richters) getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und geteu dem Gesetz auszuüben (bzw. zu erfüllen), nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehung der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen". Durch eine derartige förmliche und feierliche Erklärung bindet sich jeder Richter in seinem Gewissen. Auch in einer säkularisierten Welt kann man diese "Formen von besonderer Eindringlichkeit dazu benutzen, dem Gelobenden den Ernst des Gelübdes besonders stark bewußt zu machen ... und ihn hierdurch besonders nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß es Pflicht eines redlichen und rechtlichen Mannes ist, freiwillig übernommene Zusagen zu erfüllen, auch wenn sie eine Bindung an heteronome SoHensgebote enthalten ... Der Mensch wird in der Würde seiner sittlichen Eigenverantwortung ernst genommen, wenn und solange man darauf vertraut (vertrauen darf), ihn durch Gelübde in einem Bereich binden zu können, der keiner Zwangsvollstreckung zugänglich ist"l.

2. Ist das Gewissen justiziabel? Aber ist dieser Bereich überhaupt justiziabel? Steht hinter dem Wort "Gewissen" ein "Etwas", dessen Vorhandensein oder dessen als "Ruf" 1 So Bruno Heusinger: Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 43 f. Über die Bedeutung des Richtereides, dessen Verweigerung nach § 21 Abs. 2 Ziff. 1 DRiG zur Entlassung des Richters führt, vgl. Adolf Arndt: Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 341 und 352, sowie Ernst E. Hirsch: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, in AcP 175 (1975), S. 471, 504 - 509, sowie u. S....

12

I. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

oder "Mahnung" bezeichnete Äußerungen sich vor Gericht stellen lassen? Man kann der Beantwortung dieser Frage in zwiefacher Richtung ausweichen:

a) Die Wirklichkeit d.es Gewissens wird vorausgesetzt Man kann sich auf den Standpunkt stellen, über die Definierbarkeit und Justiziabilität des Phänomens "Gewissen" habe die Verfassung selbst grundsätzlich entschieden. Da dem Grundgesetzgeber nicht von vornherein eine sinnlose Aussage unterstellt werden könne, müsse davon ausgegangen werden, daß er von einer Realität "Gewissen" als der Verfassung selbstverständlich vorgegeben ausgegangen sei. Dies beweise auch die Auswertung der Materialien 2 • So behauptet AdoLf Arndt dezidiert: "Die Wirklichkeit des Gewissens ist dem Staat vorgegeben. Die Verfassung verweist auf diese Wirklichkeit3 ." Diese Argumentation übersieht einen wichtigen Umstand: Die Mitglieder eines jeden Gesetzgebungsorgans gehen von einem Vorverständnis aus, das dieses oder jenes Phänomen als eine unbezweifelbare Realität anerkennt, obwohl andere Gesetzgeber dasselbe Phänomen für ein Wahnbild halten oder überhaupt nicht als real vorhanden erkennen. Man kann doch nicht ernstlich mit Morgensterns "messerscharfer" Logik den Nachweis führen, Gott existiere, weil in zahlreichen Strafgesetzbüchern die Gotteslästerung mit Strafe bedroht sei, weil die Präambel des Grundgesetzes die "Verantwortung vor Gott" hervorhebe oder weil kraft Gesetzes ein Eid mit oder ohne Anrufung Gottes geleistet werden könne. Bei einer derartigen Logik wäre es doch wohl unsinnig, wenn Hans Küng, ein bekannter katholisch·er Theologe, die Frage: "Existiert Gott?" aufwirft und in einem sehr umfangreichen wissenschaftlichen Werk unter Berücksichtigung der G€istesgeschichte der Neuzeit zu beantworten sucht4 • Oder ist etwa der Umstand, daß aufgrund des dritten Teils des berüchtigten "Hexenhammers"5 jahrhundertelang noch bis zur französischen Revolution Hexenprozesse als kirchliche oder staatliche Strafverfahren durchgeführt worden sind, ein Beweis für die Realität von Hexen? Oder kann man als logisches Argument für die Realität des Teufels auf Goethes 2 Gerhard Klier: Gewissensfreiheit und Psychologie. Der Beitrag der Psychologie zur Normbereichsanalyse des Grundrechts der Gewissensfreiheit, 1978, S. 30 f., unter Hinweis auf Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1 (1951), S. 73 ff. 3 Anm. zu BVerfG vom 5. 3. 1968, in NJW 1968, S. 979. 4 Hans Küng: Existiert Gott?, 1978. 5 500 Jahre nach dem in Straßburg 1487 erschienenen Malleus Maleficarum werden nach einem Bericht der F AZ vom 9. 6. 1978 (Nr. 119, S. 8) Tonbänder, die ein Pater W. W. als Exorzist bei seiner "Teufelsaustreibung" in Klingenberg (Main) aufgenommen hat, vervielfältigt, verkauft und von Pädagogen zwölf- und dreizehnjährigen Schülern als Beweis für die Existenz des Teufels vorgespielt. Was vermag dagegen ein Leszek Kolakowski und seine "Gespräche mit dem Teufel", 2. Auf!. 1975?

2. Ist das Gewissen justiziabel?

13

Faust oder auf die "Gespräche mit dem Teufel. Acht Diskurse über das Böse" von Leszek Kolakowski hinweisen? Ist schließlich das fast unüberschaubar gewordene 6 zeitgenössische Schrifttum zum Phänomen "Gewissen" nicht das beste Argument für die Berechtigung der Frage nach der Realität dessen, was als "Gewissen" bezeichnet wird? Der Umstand also, daß das Wort "Gewissen" im gesetzlich formulierten Richtereid und vor allem in Art. 4 GG als Gegenstand eines unverletzlichen Grundrechts verwendet worden ist, bildet lediglich einen Anhaltspunkt dafür, daß im Vorverständnis der Mehrheit des Verfas~ SWlgs- oder Gesetzgebers ein mit dem Ausdruck "Gewissen" bezeichnetes Phänomen als Realität angesehen und behandelt worden ist, ohne daß damit seine reale Existenz erwiesen sein muß. b) Gewissen = Gewissenhaftigkeit?

Ein anderer Versuch, der gestellten Frage auszuweichen, besteht darin, daß man unter Hinweis auf die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks "Gewissen" im allgemeinen Sprachgebrauch betont, juristische Begriffe seien auf praktische Fragen bezogen und könnten je nach dem Problemzusammenhang, je nach der zu lösenden praktischen Frage auch rechtlich verschiedene Bedeutungen haben 7 • Von dieser sachlich richtigen Feststellung ausgehend könnte man speziell für den Richtereid das Wort "Gewissen" nicht selbständig für sich allein, sondern nur als unselbständigen Bestandteil der Formel "nach bestem Wissen und Gewissen" werten 8 . So meint z. B. Heusinger 9 , das Gewissen in seiner Bedeutung für die richterliche Entscheidung sei untrennbar vom Wissen. Das "Wissen" im Ge-wissen weise auf ein Wissen hin, das durch Anstrengung des Verstandes und der Vernunft auf der Grundlage von Vorgegebenem erworben sei. Das Ge-wissen empfinde der Sprachsinn als Steigerung. Die List der Sprache habe diesen Gehalt des Gewissens noch unterstrichen durch das Doppelwort vom "Wissen und Gewissen". Man könnte sich auch auf Kamlah 10 berufen, nach dessen Behauptung das e Vgl. die Auswahlbibliographie in Jürgen Blühdorn (Hrsg.): Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 489 - 505, sowie Klier (N. 2), S. 272 - 312. 7 Richard Bäumlin: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in VVDStRL 28 (1970), S. 146; Roman Herzog: Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, in DVBl. 1969, S. 718; Klier (N. 2), S. 258. Gegen diese Differenzierung Walter Harnei: Die Gewissensfreiheit im Grundgesetz, in AöR 89 (1964), S. 322 - 335 (325). r. 8 Norbert Matros: Das Selbst in s~iher Funktion als Gewissen, in Blühdorn (N. 6), S. 227, erklärt wörtlich: "Im Namen qer AHerweltsformel ,nach bestem Wissen und Gewissen' ist schon viel Unheil ail~erichtet worden!" 9 N. 1, S. 123 ff. ." 10 Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie,1972, S. 142. Ob und inwieweit Kamlah hierbei an Hitlers Worte gegenüber H;ermann Rauschning gedacht hat ("Ich befreie den Menschen von den schmutzigen und erniedrigen-

14

1.

Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

Substantiv "Das Gewissen" ein säkularisiertes Relikt unserer überlieferten mythisch-religiösen Sprache sei. Vernünftig verwendbar sei nur das Adverb "gewissenhaft" oder die adverbiale Formel "nach bestem Wissen und Gewissen". Dabei meine die Aussage, jemand habe "gewissenhaft" entschieden und gehandelt nur, er habe die gebotene Sorgfalt geübtl l . Für diese Auffassung könnte sprechen, daß in die gesetzlich formulierten Amtseide des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesminister sowie in die Diensteide der Bundesbeamten, der Rechtsanwälte und Notare das Wort "Gewissen" nicht aufgenommen ist und der zum "Eid" oder zum "Gelöbnis" Verpflichtete lediglich beteuert, seine Pflichten "gewissenhaft" zu erfüllen12 • Schließlich ist auch auf die Bestimmung in § 11 BVerfGG hinzuweisen, wonach ,die Bundesverfassungsrichter mit ihrem Eid lediglich zu geloben haben, ihre richterlichen Pflichten gegenüber jedermann "gewissenhaft" zu erfüllen. Mit dieser Formulierung sollte wohl kaum den Bundesverfassungsrichtern ein "Gewissen", was das auch immer sein mag, abgesprochen werden. Aber sie wie alle anderen Richter "im Gewissen" zu binden, hätte angesichts der als Rechtstatsache nicht wegzuleugnenden parteipoIitischen Hinter- und Vordergründe bei ihrer Wahl durch die politischen Gremien (§§ 5 -7 a BVerfGG) zu einer Knebelung geführt, der sie gerade durch die nur ihnen und keinen anderen Richtern gesetzlich zugestandene Befugnis, abweichende Sondervoten gegen die von der Mehrheit des Kollegiums getragene Entscheidung abgeben zu dürfen, nicht ausgesetzt sind und nicht ausgesetzt sein sollen und dürfen. Bei dieser Betrachtungsweise zeigt sich, daß die Beibehaltung der Zusammenstellung "nach bestem Wissen und Gewissen" in einem für die Rechtsstaatlichkeit so wichtigen Gesetz wie das zeitlich erst nach dem BVerfGG neugefaßten DRiG nicht die unkritische Weiterverwendung einer "Allerweltsformel" bedeutet, die ähnlich wie ein Hendiyadyoin der Verstärkung und besonderen Hervorhebung des "Wissens" oder den Selbstpeinigungen einer Gewissen und Moral genannten Chimäre"), sei dahingestellt. 11 Ebenso Heusinger (N. 1), S. 137 ff.: "Im Bereich solcher richterlichen Gewissenhaftigkeit wird der zum richterlichen Entschluß notwendige Gewissensakt zum ,Vergewisserungsakt'. Das gilt einfach auch deshalb, weil der Richter seine Entscheidung begründen muß." "Auch ein ,Vergewisserungsakt', vollzogen mit Anspannung aller inneren Kräfte, vermag eine Art ,gutes Gewissen' zu verschaffen." 12 Art. 56 und 64 Abs. 2 GG; § 58 BBG; § 26 BRAO; § 13 BNotG. Auf diesen Unterschied weist auch Heusinger (N. 1), S. 117, hin. Er erinnert an die historischen Beispiele dafür, daß die Bindung im Gewissen eine Kraft zum Gehorsam gegenüber Sollensgeboten der Ethik und des Rechts auch dort noch gibt, wo der Gehorsam mit dem Tode bezahlt werden muß oder doch die dringende Gefahr des Todes heraufbeschwört.

3. Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks "Gewissen"

15

der "Gewissenhaftigkeit" dient, wie Heusinger 13 meint. Vielmehr hat der Richter zum einen "nach bestem Wissen" zu urteilen, d. h. alle seine geistigen Erkenntnis- und Verstandeskräfte so sorgfältig, umfassend und gewissenhaft wie möglich einzusetzen 14 , zum andern hat er zugleich "nach bestem Gewissen" zu entscheiden, d. h. auch sein Gewissen "anzuspannen" 15, unter der noch zu prüfenden Voraussetzung, daß das Wort Gewissen einen weitergehenden Inhalt und eine tieferreichende Bedeutung hat als "Gewissenhaftigkeit" bei der Erfüllung von öffentlichen Amts- oder Dienstpflichten16 •

3. Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks "Gewissen" Der Ausdruck "Gewissen" ist bei zwei an ein und demselben Tage, nämlich am 13. April 1978, gefällten Entscheidungen zweier Verfassungsorgane in eine eigenartige Beleuchtung geraten: a) In Art. 38 GG

Zwecks Vermeidung einer Abstimmungsniederlage der von ihrer Fraktion mitgetragenen Koalitionsregierung, also aus taktischen, parteipolitisch motivierten Gründen, stimmten vier Abgeordnete des Deutschen Bundestags bewußt vor aller Öffentlichkeit gegen ihr Gewissen für die Annahme der sog. Anti-Terror-Gesetze, die sie wenige Wochen zuvor, am 16. Februar 1978, in offener Auflehnung gegen einen Fraktionsbeschluß abgelehnt hatten, und dies unter Berufung auf ihr Gewissen, an das allein sie nach Art. 38 GG gebunden seien 17 •

N. 1, S. 125. über die Bedeutung dieser Pflicht s. Hirsch (N. 1), S. 506 f., insbesondere FN69. 15 über das Problem der "Gewissenanspannung" im Strafrecht vgl. kritisch Friedrich Mattil: Gewissensanspannung, in ZStW 79 (1962), S. 201 - 244. Siehe auch unten S. 26 ff. 18 Diese überlegung wird durch einen Hinweis meines Kollegen Günther Dickel (Heidelberg) auf das Stichwort "Gewissen" im Deutschen Rechtswörterbuch (Bd. IV, S. 802 f., Ziff. I 1 und 4) gestützt. Wie Herr Dickel mir anhand von 500 Belegzetteln im Archiv der Arbeitsstelle des Deutschen Rechtswörterbuchs zum Stichwort "Wissen" mitgeteilt hat, ist die Zusammenstellung "nach bestem Wissen und Gewissen" nur zweimal und recht spät belegt, und zwar - was in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam ist - zuerst in der Brandenburgischen Kriminalordnung von 1717, Kap. I § 7: "ich ... schwere ... zu gott ... einen leiblichen eyd, nachdem ic;h ... zum gerichtshalter in peinlichen Sachen bestellt worden, daß ich diesem' Amt nach meinem besten wissen und gewissen ... warten wolle". 17 Mit der gleichen Begründung hatten dieselbeh vier Abgeordneten bei der Verabschiedung des sog. Kontaktsperre-Gesetzes WJm 19. 9. 1977 bereits schon einmal ihr Gewissen gegen die Fraktionsdisziplin ausgespielt. 13

14

16

I.

Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen? b) In Art. 4 Abs. 3 GG

An demselben Tag verkündete das Bundesverfassungsgericht als höchstes Verfassungsorgan eine Entscheidung über die Nichtigerklärung der sog. "Postkarten-Novelle" zum Wehrpflichtgesetz18 • In der Begründung19 wendet sich das Bundesverfassungsgericht gegen das besonders in der jüngeren Generation zunehmend verbreitete "Mißverständnis" über den Charakter einer Gewissensentscheidung, die etwas ganz anderes sei als eine "relative" Entscheidung über die Zweckmäßigkeit menschlichen Verhaltens. Es weist auf seine früheren Entscheidungen hin, in denen es als tatbestandliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG "definiert" habe, daß die Gewissensentscheidung "ein unmittelbar evidentes Gebot unbedingten Sollens" sei, das "den Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots trägt". Das Bundesverfassungsgericht fügt diesem Zitat lapidar hinzu: "Hieran wird festgehalten. "

4. Unterschiedlicher Sinngehalt Vergleicht man die in dem Verhalten der vier Abgeordneten des Deutschen Bundestags zum Ausdruck gekommene Auffassung von dem, was das Wort "Gewissen" für sie besagt und bedeutet, mit der vom BVerfG selbst als "Definition" qualifizierten Formulierung, so läuft zwischen beiden Auffassungen ein tiefer Graben:

a) Gewissen als überzeugung aus Zweckmäßigkeitserwägungen Die Abgeordneten, die sich der Fraktionsdisziplin beugen oder nicht beugen, handeln im politischen Bereich mit politischer Zielsetzung. Sie motivieren ihr Verhalten nicht mit dem Hinweis auf die für jedermann in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Unverletzlichkeit der Freiheit ihres Gewissens, sondern damit, daß sie durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG als Vertreter des ganz.en Volkes "nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Liest man die Erklärungen, mit denen sie zunächst den Bruch der Fraktionsdisziplin und dann ihr "Umfallen" durch Wahrung der Fraktionsdisziplin zu begründen und zu rechtfertigen versuchten, so verstehen sie unter Gewissen ihr politisches Verantwortungsgefühl gegenüber dem ganzen Volk. In ihrer Stimmabgabe pro oder contra äußert sich ihre persönliche, durch Mehrheitsbeschluß überstimmbare oder durch "bessere Einsicht" korrigierbare überzeugung (= innere Gewißheit), daß sie 18 NJW 1978, S. 1245 - 1255. Vgl. auch die vorläufige Anordnung vom 7. 12. 1977 in BVerfGE 46, 337 = NJW 1978, 209. 19 Unter B I 4.

4. Unterschiedlicher Sinngehalt

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bei der Abwägung des Für und Wider mit der ihnen möglichen und zumutbaren Sorgfalt die Folgen bewertet und gegeneinander abgewogen haben, die eine Annahme oder Ablehnung des zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurfes auslösen kann. Da sie an Weisungen und Aufträge "nicht gebunden", sondern nur ihrer politischen überzeugung unterworfen sind, hat jeder einzelne von ihnen nach seinen subjektiven Wertvorstellungen und Bewertungsmaßstäben zu urteilen; dafür kann er gegebenenfalls eine rational nachprüfbare Begründung geben, wie es auch tatsächlich geschehen ist. Die vier Abgeordneten haben nach ihrer festen überzeugung unter den für sie persönlich maßgebenden (individuellen) politischen Wertgesichtspunkten gehandelt, also den Ausdruck "Gewissen" im Sinne von gewissenhafter Erfüllung der ihnen verfassungsmäßig obliegenden Abgeordnetenpflichten verstanden. Ob diese Auffassung bei einer verfassungsrechtlich-normativen Beurteilung vertretbar ist oder nicht20 , steht hier nicht zur Erörterung. Wesentlich ist hier allein die Analyse des tatsächlichen Verhaltens der vier Abgeordneten und der von ihnen selbst vorgebrachten Gründe zwecks Rechtfertigung dieses Verhaltens. Für eine echte Gewissensentscheidung aber gibt es keine rationalen Begründungen, weil sie ihrer Herkunft nach nicht das Ergebnis einer Verstandestätigkeit ist, sondern unmittelbar aus dem Gewissen - was das auch immer sein mag herrührt. Erst nachdem die Gewissensmahnung dem "Empfänger" bewußt geworden ist, kann bei ihm die verstandesmäßige (rationale) überlegung einsetzen, ob er der Mahnung folgen oder sie unbeachtet lassen soll. Diese Situation aber liegt bei Entscheidungen, die ein Abgeordneter in dieser Funktion zu treffen hat, d. h. im Anwendungsbereich von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht vor. Deshalb ist in diesem Zusammenhang das Wort "Gewissen" im Sinne von innerer überzeugung von der Richtigkeit der eigenen, rational oder gefühlsmäßig gewonnenen Meinung zu verstehen (so wie in den Prozeßgesetzen von der richterlichen überzeugung die Rede ist). Wenn in einem anderen Fall, über den in der Tagespresse berichtet wurde21, ein Abgeordneter vor aller Welt wörtlich erklärt hat: "Ich stimme gegen mein Gewissen für die Gesetze der Regierungskoalition", so hat er damit nur deutlich gemacht, 20 Vgl. zu dem verfassungsrechtlichen Streitstand Klier (N. 2), S. 187 - 192 mit ausführlichen Nachweisen. Die Auffassung von Egbert Paul: Funktion des Gewissens im Recht, in Kallenbach/Schemel: Funktion des Gewissens, 1970, S. 23 - 41 (31), daß jede geltende Rechtsordnung auf Gewissensentscheidungen ihrer Schöpfer und Träger beruhe und daß im demokratischen Staat sich die Rechtsordnung als eine Summe von Gewissensentscheidungen der Mehrheit repräsentiere, so daß die Gewissensproblematik die des Verhältnisses von Mehrheits- und Minderheitsgewissen sei, kann sich auf keine empirischen Daten berufen. 21 Helmut Herles: Schlechter als der Reichstag?, in FAZ vom 3. 2. 1978, und dazu der Leserbrief von Eva Küpper: Demontage des Gewissens, in FAZ vom 9.3.1978.

2 Hirsch

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I. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

daß er Fraktionsdisziplin hält, auch wenn er der festen überzeugung ist, daß seine rationalen Erwägungen stichhaltiger sind als diejenigen der Fraktionsmehrheit. Von einer "Demontage des Gewissens" kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Vielmehr bestätigt die erwähnte Äußerung des Abgeordneten nur die allgemeine oder jedenfalls überwiegende Einstellung der Parlamentarier zum Inhalt dessen, was unter "Abgeordneten-Gewissen" de facto verstanden und von den Abgeordneten anderer westeuropäischer Parlamente erwartet wird: das Nicht-Gebunden-Sein an Weisungen oder Aufträge irgendwelcher Art. b) Gewissen als spontane Reaktion unbedingten Sollens

Dagegen ist nach der "Definition" des BVerfG ein echter Gewissensruf eine spontane Reaktion unbedingten Sollens. Für einen derartigen Vorgang gibt es zwar eine auslösende Ursache, aber keine rationalen Gründe oder Begründungen. Wie Rüdiger22 mit Recht hervorhebt, ist die Gewissensfunktion selbst eine vorrationale Funktion, wie sehr sie auch das folgende einsichtige Wollen beeinflußt. Eine Gewissensentscheidung ist nach der auch jetzt erneut klar ausgesprochenen Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in der Sittlichkeit verankert, d. h. in der Bindung an heteronome und unmittelbar evidente Gebote für das menschliche Verhalten. Falls sie, wie das BVerfG sagt, evident sind, bedürfen sie keines Beweises. Wenn aber jemand unter Berufung auf die Unverletzlichkeit der Freiheit des Gewissens von einem ihm nach der Verfassung, z. B. nach Art. 4 Abs. 3 GG, zustehenden Recht Gebrauch machen will und bei der zuständigen Behörde einen entsprechenden Antrag stellt, so muß er nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen die zum gesetzlichen Tatbestand seines Anspruchs gehörenden tatsächlichen Voraussetzungen beweisen oder jedenfalls den Umstand glaubhaft machen, daß er "von Gewissens wegen"23 die Vornahme des entsprechenden Verwaltungsaktes begehrt. 22 Dietrich Rüdiger: Der Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung, in Blühdorn (N. 6), S. 461 - 487 (470). 23 Ich gebrauche diese Ausdrucksweise deswegen, weil das in Art. 12 a Abs. 2 GG gebrauchte Wort "Gewissensgründe" unrichtig ist. Der sog. Gewissensruf hat keine "Gründe", sondern wird höchstens durch rationale Gründe zum Verstummen gebracht. "Freilich kann der Verstand, wenn er die Folgen einer Gewissensentscheidung aufzeigt, auch dem Gewissen Material liefern, die Richtigkeit der Entscheidung zu überprüfen. Die Entscheidung aber selbst kann er nicht geben" (HameI, N. 7, S. 329). "Das Gewissen ist nicht das Urteil des Verstandes" (Matros, N. 8, S. 227). "Zwar beruht jede Evidenz oder Einsicht auf einem Gewissensentscheid. Dagegen kann das Problem, ob hie et nune eine echte geltend zu lassende und anzuerkennende Einsicht vorliegt, allein durch meine persönliche Gewissensentscheidung, für die ich nur mir selbst gegenüber verantwortlich bin, gelöst werden." "Einer Einsicht kann man glauben oder nicht glauben. Man kann diesen Glauben oder Unglauben aber nicht weiter begründen, es sei denn, man wolle unter ,begründen' nur die Angabe gewisser Motive dafür verstehen, etwas zu tun oder nicht zu tun. Es

5. Existiert das Gewissen?

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Mit dem bekannten Satz: "Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen"24, wäre zwar die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Absolutheit der Entscheidung dargetan. Aber es bliebe immer noch offen, ob es sich um eine aus der Sittlichkeit genährte Entscheidung des Gewissens oder um eine auf irgendwelchen rationalen Erwägungen oder emotionalen Regungen 25 beruhende Willensentscheidung handelt, ob mit anderen Worten das absolut geäußerte "ich kann nicht anders" in Wahrheit nur ein "ich will nicht anders" bedeutet. Daß dies nicht nur eine Denkmöglichkeit ist, sondern vielfach im sozialen Leben tatsächlich vorkam, zeigt sich in den Rechtstatsachen, welche den Hintergrund der oben festgehaltenen 26 Vorgänge bilden. 5. Existiert das Gewissen? Vor rund 200 Jahren, als Lessing sein Trauerspiel "Emilia Galotti" schrieb, war es unvorstellbar, einen Ton als Beweismittel für den Sinn einer Äußerung "vor Gericht zu stellen"27. Heute wäre dies technisch möglich, auch wenn insoweit durch positive Gesetze bestimmte Grenzen gezogen sind2B • Daß es Verfahren und Mittel gibt, mit deren Hilfe seit Jahrtausenden Gewissensentscheidungen beeinflußt und erzwungen worden sind, kann ebensowenig bestritten werden wie die Tatsache, daß Millionen von Menschen geschändet, gemartert, gefoltert und hingemordet worden sind, weil sie sich standhaft weigerten, gegen ihr Gewissen zu handeln. In diesem ihrem Verhalten, lieber alle Qualen und Schmerzen, ja selbst den Tod zu erleiden, als etwas zu tun oder zu unterlassen, was gegen ihr Gewissen verstieß, lag der unwiderlegbare Beweis dafür, daß ihr Verhalten "von Gewissens wegen" erfolgte. Wenn ist eine ,vorrationale Urentscheidung', die hier getroffen werden muß, und zwar in jedem einzelnen Fall, wo etwas erkannt werden soll" (Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 2 und 169). 24 Nach der überlieferung soll Luther am 18. April 1521 vor dem Reichstag zu Worms seine Antwort auf die Frage, ob er widerrufen wolle, mit den im Text wiedergegebenen Worten geschlossen haben. Auch wenn dies, wie bei Büchmann (Geflügelte Worte, 32. Aufl. 1972, S. 679 f.) nachzulesen ist, nur eine Legende sein soll, so gehört der Satz zum deutschen Zitatenschatz. Vgl. hierzu auch Heusinger (N. 1), S. 138 mit FN. 34. 25 Auf diese Möglichkeit weist Hemmrich in Münch: Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1975, Nr. 33 zu Art. 4 GG ausdrücklich hin, was dazu führe, daß die überprüfung im Verfahren auf Anerkennung "vielfach Schwierigkeiten begegnen wird und in der grundsätzlich gegebenen Befugnis zur Nachprüfung der Gewissensentscheidung indirekt eine Beschränkung liegt". 28 Vgl. BVerfG (N. 18) unter B I 4. 27 Vgl. 3. Aufzug, 8. Auftritt: "Ha, könnt' ich ihn nur vor Gericht stellen, diesen Ton!" 28 Vgl. § 201 StGB; §§ 100 a und 100 b StPO. Auch kann der Beweiswert von Tonbandaufnahmen wegen der Möglichkeit technischer Manipulationen u. U. zweifelhaft sein. 2°

20

I. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

Nik1.as Luhmann29 behauptet: "G€wiSS€n kann nur haben, wer sich selbst töten kann", so ist dieser apodiktische Satz nur insoweit richtig, als ein Mensch die Faktizität des Todes benutzen kann, um einer gewissenswidrigen Handlung auszuweichen. Aber gerade ein derartiges Verhalten zu postulieren, ist angesichts der in Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 4 GG positivrechtlich erfolgten Anerkennung der Unverletzlichkeit der Freiheit des Gewissens als Grund- und Menschenrecht hic et nunc abwegig. Alle durch das Wort "Gehirnwäsche" umschreibbaren Mittel und Verfahren zur Feststellung dessen, was das Gewissen befiehlt oder verbietet, sind verpönt und rechtlich verboten30• Wie kann man also die Absolutheit einer Erklärung und ihre Herkunft aus dem G€wissen "vor Gericht stellen"31? Dies ist das Grundproblem; ohne seine Lösung bleibt der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts, daß der "die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat (nicht) darauf verzichten (kann), im Rahmen des Möglichen die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen", eine theoretische und nicht praktizierbare Leerformel. Es kommt also auf die Beantwortung der Frage an, ob "ein Wörtchen wie ,Gewissen' heutzutage schon gar nicht weiterhilft"32 oder aber einen realen Inhalt hat. Konkret gestellt lautet die Frage: Bezeichnet der Ausdruck "Gewissen" ein Etwas, das in der Seinswelt (Realität) nachweisbar vorhanden ist, im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen zu Aktionen oder Reaktionen der Menschen führen kann und deshalb bei der rechtlichen Ordnung des Soziallebens zu berücksichtigen ist? Dies vor allem im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. 29 Niklas Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in AöR 90 (1965), S. 257 - 286 (269). 30 V gl. Ernst E. Hirsch: Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides, in FS. Ernst Heinitz, 1972, S. 139 - 158 (150) und Klier (N. 2), S. 149 f.j Herzog

(N. 7), S. 719 f.

31 In der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über die sog. Postkarten-Novelle zum Wehrpflichtgesetz (s. o. N. 18), war u. a. umstritten, ob die Prüfung von Gewissensmotiven überhaupt möglich sei. Besonders Kriele bestritt dies namens der Bundesregierung (Bericht der FAZ vom 2. 12. 1977 Nr. 280 S. 4). Nach Schmidt-Bleibtreu / Franz Klein: Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl. 1977, Erl. 8 zu Art. 4, soll die Frage, welche geistigen Einflüsse auf das Bewußtsein gewirkt haben, nur zulässig sein, soweit davon die Feststellung abhängt, ob wirklich eine Gewissensentscheidung vorliegt. Nunmehr grundlegend Klier (N. 2), S. 148 - 158. 32 So Friedrich Karl Fromme (FAZ vom 15. 4. 1978) mit dem Hinweis darauf, daß das herkömmliche Anerkennungsverfahren, welches mit dem Stichwort "Erforschung des Gewissens", polemisch mit "Inquisition" umschrieben wird, niemanden beglücke. "Das Verfassungsgericht hat es dem Gesetzgeber überlassen, ob er ein neues, besseres Verfahren finde, das den Ausnahmecharakter der Wehrdienstverweigerung realisiert. Ein Verfahren freilich, das funktioniert wie Lackmuspapier, kann es nicht geben. Vor wie immer gearteten Prüfungskommissionen ist eine Durchschlupfquote der Listigen unvermeidlich (wie bei den Finanzämtern oder den Sozialämtern übrigens auch)."

5. Existiert das Gewissen?

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a) Möglichkeit des Beweises Abgesehen von der Verteilung der Beweislasj;33 handelt es sich zunächst einmal um die Frage der Nachweisbarkeit, d. h. um die Möglichkeit des Beweises oder der Glaubhaftmachung des Umstandes, um den es sich handelj;34. Die Gesetzgebung und Rechtsprechung zum sog. Anerkennungsverfahren bei Wehrdienstverweigerung von Gewissens wegen hat ebensowenig wie das unüberschaubar gewordene einschlägige Schrifttum dazu mehr zutage gefördert als die Einsicht des Bundesverwaltungsgerichts35 , daß das Gewissen "notgedrungen nur unvollständig dargestellt und aufgeklärt werden" könne. Der Unfähigkeit Außenstehender, durch Erkenntnisakte die Wahrheit der Gewissensentscheidung zu finden, entspreche die Unfähigkeit des Kriegsdienstverweigerers, seine Persönlichkeitsentscheidung als solche des Gewissens zu beweisen; was der kritischen Erkenntnis unzugänglich sei, könne nur geglaubt werden (oder auch nicht)36. b) Non liquet

Zezschwitz geht davon aus, daß es zwar so etwas wie "das Gewissen" gibt, daß man aber einem als Gewissensentscheidung deklarierten Akt die Herkunft aus dem Gewissen weder ansehen noch nachweisen könne. Dies läuft auf ein non liquet hinaus, aus dem man die Folgerung ziehen müßte, entweder jedem Glauben zu schenken, der sich auf sein Gewissen beruft, wie es bei der für nichtig erklärten Novelle zum Wehrpflichtgesetz tatsächlich geschehen ist, oder zU7Jugeben, daß sowohl der Verfassungsgeber als auch der ordentliche Gesetzgeber rechtliche Befugnisse gewährt haben, bei denen im konkreten Fall das vom Antragsteller nachzuweisende Vorhandensein der gesetzlich geforderten Voraussetzungen weder bewiesen noch bestritten werden kann. Egbert Paul37 versucht diese Folgerung zu vermeiden, indem er die Forderung nach Beweisbarkeit des Gewissensanspruchs an der Grenze möglicher Toleranz enden läßt. Wo folgerichtiges Verhalten und intellektuelle Redlichkeit festzustellen oder doch nicht auszuschließen seien, wo es also allein noch um jene letzte Verankerung einer überzeugung im Gewissen gehe, die das Zuwiderhandeln zu einer Katastrophe für die Persönlichkeit des Betroffenen machen könnte, da seien die prognostischen Grenzen von Erkennbarkeit und Unbeweisbarkeit überschritten. In diesen Fällen 33 Vgl. Hans de Clerck: Zur Beweislast in Kriegsdienstverweigerungsfällen, in JZ 1960, S. 13 ff.; Adolf Arndt: Beweislast für Kriegsdienstverweigerer, in JZ 1960, S. 273 ff. 34 Friedrich von Zezschwitz: Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, in JZ 1970, S. 233 - 240; Klier (N. 2), S. 148 f. 3.') BVerwGE 14, 146 (147); ferner BVerwG in NJW 1978, 1277. 36 Zezschwitz (N. 34), S. 236. 37 Egbert Paul (N. 20), S. 34; s. auch ders.: Gewissen und Recht, 1970.

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1. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

müsse der Grundrechtsschutz der Gewissensfreiheit auch bei verbleibenden Zweifeln seine humanitäre Wirksamkeit ausüben. c) Massenverschleiß des Gewissens

In der Begründung seiner Entscheidung vom 13. 4. 197838 führt das Bundesverfassungsgericht aus, der demokratische Rechtsstaat als Gemeinschaft freier Menschen dürfe Erklärungen seiner Bürger über ihr Gewissen und den daraus folgenden unbedingt verpflichtenden Verhaltensgeboten nicht von vornherein mit der Unterstellung der Unwahrheit begegnen. Diesem Gesichtspunkt habe die bisherige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte Rechnung getragen. "Je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den einzelnen jedoch die Gemeinschaftspflicht ist, mit der die vorgetragene individuelle Gewissensentscheidung in Konflikt gerät, um so weniger kann der die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat darauf verzichten, im Rahmen des Möglichen die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen". Die Ausdrucksweise "im Rahmen des Möglichen" und vor allem die wiederholten Hinweise auf die vom Bundesverwaltungsgericht geübte ständige Rechtsprechung zum Anerkennungsverfahren zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht es an und für sich für möglich hält, eine Gewissensentscheidung als solche vor Gericht zu stellen und bis zu einer gewissen Grenze auch den Beweis dafür zu erbringen, wobei die Grenzziehung offenbar durch das im Verwaltungsrecht anerkannte Wohlwollensgebot bestimmt wird. Aber dabei handelt es sich, was das Bundesverwaltungsgericht wiederholt hervorgehoben hat39 , nicht um ein dem strafrechtlichen Prinzip "in dubio pro reo" entsprechendes Prinzip "in dubio pro libertate". Denn bei der Frage nach der Beweisbarkeit der Behauptung eines Antragstellers, die Quelle seiner Entscheidung liege in seinem Gewissen, nicht aber in seinem Intellekt oder in seinem Gefühl, müßte die Anerkennung eines derartigen Prinzips in die Sackgasse führen, wie anläßlich der oben angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit der No~ velle zum Wehrpflichtgesetz offensichtlich geworden ist. Die Vorau~ sage von Theodor Heuß in der Diskussion des Parlamentarischen Rates über die Aufnahme des Grundsatzes der Kriegsdienstverweigerung ist in vollem Umfang eingetroffen: "Die allgemeine Wehrpflicht ist das le~ gitime Kind der Demokratie ... Wenn wir jetzt hier einfach das Gewissen einsetzen, werden wir im Ernstfall einen Massenverschleiß des Gewissens verfassungsmäßig festlegen."

38 39

N. 18, unter B I 3 b. Vgl. Klier (N. 2), S. 230 ff.

6. Einige Fragen

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6. Einige Fragen Ist dieser Verschleiß bereits soweit fortgeschritten, daß das "Gewissen, was doch das höchste, das würdigste Erbteil der Menschen ist", wie Goethe in einer seiner "Maximen und Reflexionen" meint, mittlerweile zu einem bloßen "Wörtchen" geworden ist, das "heutzutage schon gar nicht weiterhilft?" Ist der Ausdruck "Gewissen" dadurch zu einer sinnentleerten Worthülse geworden, daß der Verfassungsgeber die Gewissensfreiheit gegenüber der Glaubens- und Religionsfreiheit bewußt und gewollt verselbständigt und dadurch verweltlicht und aus ihrer Verwurzelung herausgerissen hat? Sind, anders ausgedrückt, "Mahnungen" oder "Rufe" des Gewissens nur bei Menschen zu erwarten, die durch heteronome absolute Sollensgebote einer Religion, einer Weltanschauung, einer philosophischen Ethik so geprägt sind, daß ein Zwang zur Zuwiderhandlung sie in ihrem Personsein, in ihrer Menschenwürde zerbrechen würde? Oder gibt es Gewissensmahnungen auch bei solchen Menschen, die heteronome Sollensgebote nicht kennen oder nicht anerkennen und ihre eigenen individuellen (höchstpersönlichen) Randlungsmaximen unter Bezeichnungen wie "Selbstverständnis" oder "Definitionsmacht" als autonome Gewissensgebote verabsolutieren 40 ? Ist "Gewissen" eine "Chimäre", wie Ritler - und nicht nur er! - meinte, oder eine dem menschlichen Individuum wesensmäßig zugehörige und für die Ordnung des zwischenmenschlichen Soziallebens unentbehrliche Bezugsgröße 41 , die als selbständiges Phänomen unmittelbar erkennbar ist 40 Als Beispiel sei auf das Sondervotum des Bundesverfassungsrichters Hirsch zur Entscheidung des BVerfG (N. 18) verwiesen, wo es unter Ir heißt: "Diese (aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit entwickelte und zum ,Menschenrecht' gewordene) Freiheit des Gewissens ist weder disponibel noch einem staatlichen Definitionsvorbehalt unterworfen. Für die Freiheit der Religionsausübung, einem anderen Sonderfall des Art. 4 Abs. 1 GG, ist das ,Selbstverständnis' der (betroffenen) Gläubigen als Kriterium für die ,Grenzen' des Art. 4 Abs. 2 GG anerkannt (BVerfGE 24, 236, 245 ff.) ... Das Recht beispielsweise, sich selbst aus Gewissensgründen nicht ärztlich helfen zu lassen, könnte kaum staatlich ,eingegrenzt' werden, weil auch insoweit das ,Selbstverständnis' des Gläubigen das Maß der Gewissensfreiheit bestimmt. Ebenso liegt im Falle des Art. 4 Abs. 3 GG die ,Definitionsmacht' beim Kriegsdienstverweigerer und nicht bei einer Instanz außerhalb des Einzelgewissens." Zu dieser Formulierung muß kritisch gesagt werden, daß das BVerfG in der angeführten Entscheidung ausdrücklich auf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und entsprechender Vereinigungen abgestellt hat, deren Angehörige sich bei der Religionsausübung auf das Selbstverständnis dieser Kollektive berufen können. Der Bundesverfassungsrichter Hirsch verwandelt das Selbstverständnis eines Kollektivs in das Selbstverständnis eines jeden einzelnen Individuums, dem ausdrücklich die "Definitionsmacht" zugestanden wird. Oder hat er bei seiner Formulierung auf das Selbstverständnis der Kriegsdienstverweigerungsverbände abgestellt, auf das sich der einzelne Kriegsdienstverweigerer berufen darf? 41 "Gewissen ist, ob mit oder ohne Erlaubnis einer allgemeinen Moral, eine normative Struktur. Es besteht aus Erwartungen in sich selbst, die man mit Enttäuschungen mit sich selbst nicht aufgeben kann, weil sie die Identität der

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I. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

oder auf deren Existenz ein Rückschluß zulässig ist, weil ihre Voraussetzungen, Bedingungen, Wirkungen und Implikationen wissenschaftlich erkennbar und empirisch nachweisbar sind? Gesetzt den Fall, daß es ein "Etwas" wie Gewissen gibt, dann wären folgende Fragen zu klären: -

Sind alle vom Gewissen ausgehenden absoluten Sollensgebote durch die verfassungsrechtlich als unverletzlich qualifizierte Freiheit des Gewissens gedeckt oder nur diejenigen, die sich im Rahmen der Verfassung und der ihr immanenten Schranken halten?

-

Welche Möglichkeiten bestehen, um vor Gericht den Gewissensruf, d. h. die Herkunft (Motivierung) einer Willenserklärung nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Gewissen nachzuweisen oder wenigstens glaubhaft zu machen? Wäre etwa an eine eidesgleiche Bekräftigung vor einer Behörde nach Art der in § 66 d StpO vorgesehenen zu denken?

-

Bedeutet die "Bindung im Gewissen" des Richters eine "Blankohingabe der eigenen Persönlichkeit an eine Rechtsordnung, deren künftige Wandlungen man nicht kennen kann 42 ", oder gilt auch hier die c1ausula rebus sie stantibus in dem Sinne, daß die Bindung im Gewissen endet, wenn und wo unter Verletzung der dem Grundgesetz immanenten Schranken das Recht in der äußeren Form von Gesetzen oder Gesetzesauslegungen pervertiert oder mißbraucht wird?

Die oben skizzierten Fragen bedürfen eingehender überlegungen, es sei denn, daß man entschlossen ist, das Gewissen als Chimäre zu entlarven oder als sinnentleertes "Wörtchen" zu qualifizieren.

7. Die Kernbereichslehre Als ein Beispiel für unzureichende überlegungen diene die sog. Kernbereichslehre. Der Bundesgerichtshof sprach einmal von "jenem unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts, der im BewußtPersönlichkeit mitkonstituieren. Dabei ist mit zu bedenken, daß diese Identität auf Fremderfahrung und Selbsterfahrung im Kontext sozialer Interaktion beruht und sich mithin in der Form der Erwartung von Erwartungen anderer strukturiert" (Luhmann: Die Funktion der Gewissensfreiheit im öffentlichen Recht, in Kallenbach I Schemel: Funktion des Gewissens, 1970, S. 21 f.). Erheblich klarer und verständlicher formuliert Konrad Lorenz: "Das Gewissen, die con-scienta, ist das Wissen des Individuums um die Tatsache, daß es Teil und Mitglied einer überindividuellen Einheit ist. Dieses Wissen hat reflektierendes Selbstbewußtsein zur Voraussetzung und ist seinerseits Voraussetzung einer zweiten speziflsch menschlichen Eigenschaft, der moralischen Verantwortlichkeit." (K. Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978, S. 266.) f! Vgl. von Marschall bei Hirsch (N. 1), S. 507 f.

7. Die Kernbereichslehre

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sein aller Kulturvölker lebt43 ". Er hat aus dieser als Kernbereichslehre in die Strafrechtstheorie und -praxis eingegangenen Auffassung die rechtliche Folgerung gezogen, daß auch unter einem totalitären Herrschaftssystem jedermann diesen "Kernbereich" und seine Grenzen bei der von ihm zu verlangenden Anspannung seines Gewissens hätte erkennen können. Die zitierte Ausdrucksweise des Bundesgerichtshofes ist nicht nur, wie Hanack 44 meint, eine "unglückliche Formulierung". Vielmehr ist der Inhalt dieser Formulierung eine doppelte Fehlleistung: a) Universelles Rechtsgewissen?

Es mag zwar das Gewissen als "real erfahrbares seelisches Phänomen" eines jeden Menschen geben, aber keineswegs ein universelles, seinem Inhalt nach einheitliches, unveränderliches "Rechtsgewissen" als einen im Rechtsbewußtsein aller Kulturvölker lebenden "Kernbereich" des "Guten". Theodor Geiger qualifiziert ein "vor" jedem positiven Recht gegebenes, im Verhältnis zu diesem autonomes Rechtsbewußtsein als völligen Nonsens45 • Auch wenn in der Präambel der Europäischen KonBGHSt 2, 234 (239). Hanack: Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, in JZ 1967, S. 297 ff., 329 ff. (336). 45 Vg!. die eingehenden Ausführungen zum Thema "Rechtsbewußtsein" in seinen Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, hrsg. v. Trappe, 2. Auf!. 1970, S. 382 - 416 (insbesondere 404 ff.). Nach Leszek Kolakowski (Zweifel an der Methode, 1977, S. 28, 31) gibt es "keine gemeinsame, allumfassende Intuition in der Frage der Moral. Das, was wir intuitiv für gültig oder evident halten, (ist) faktisch stets auf Zeit und Raum beschränkt" ... (man teile) "einen gewissen Komplex von Werten durch die bloße Tatsache der Zugehörigkeit zu dieser besonderen und nicht einer anderen Kultur". Hans Küng (N. 4), S. 519 f., formuliert: "Historisch gesehen haben sich konkrete ethische Normen, Wertansichten, Schlüsselbegriffe in einem höchst komplizierten gruppendynamischen, sozialdynamischen Prozeß gebildet - als Schöpfung des Menschen. Nicht vom Himmel fiel die Moral, sondern ähnlich wie die Sprache ist sie Produkt der Entwicklung. Wo Bedürfnisse des Lebens, wo menschliche Dringlichkeiten und Notwendigkeiten sich zeigten, da drängten sich für menschliches Verhalten Handlungsregulative, Prioritäten, Konventionen, Gesetze, Gebote, Weisungen, Sitten, kurz: bestimmte Normen auf. Immer wieder neu mußten und müssen die Menschen ethische Lösungen in Entwürfen und Modellen erproben und sie oft durch Generationen hindurch einüben und bewahren ... wir müssen von Erfahrungen, von der Verschieden artigkeit des Lebens ausgehen und uns an Tatsachen halten." Vgl. auch Egbert Paul (Gewissen und Recht, 1970, S. 13 f.): "Die Erkenntnis vermag Werttafeln von unbedingter Gültigkeit über den Inhalt von Gut und Böse nicht aufzustellen ... jede Epoche muß um ihre Wahrheit, um ihr Recht ringen. Sie muß sich dabei zu obersten werten, die sie nicht erkennen kann, bekennen." Konrad Lorenz konstatiert (N. 41): "Wenn große Kulturgruppen in Frieden koexistieren sollen, müssen die Mitglieder jeder einzelnen überzeugt sein, daß alle Kulturgüter jeder anderen, alle ihre geheiligten Überlieferungen und Normen sozialen Verhaltens, ihre Ideologie und ihre Religion, völlig gleichwertig mit den entsprechenden Gütern der eigenen Kultur sind. Der Preis, der für die volle Anerkennung 43 U

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1. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

vention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gesagt wird, die Europäischen Staaten seien "vom gleichen Geiste beseelt und besäßen ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und politischen überlieferungen", so hat doch der aufgrund dieser Konvention ins Le~ ben gerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im sog. Handyside-Urteil vom 4. 11. 1976 ausdrücklich anerkannt, daß es eine einheitliche europäische Moralauffassung nicht gibt46 • In § 48 Abs. 2 der Begründung, die von den 14 Mitgliedern des Gerichtshofes einstimmig gebilligt worden ist, heißt es wörtlich: "In particular, it is not possible to find in the domestic law of the various Contracting States a uniform European conception of morals. The view taken by their respective laws of the requirements of moral varies from time to time and from place to place." Jeder Zeitungsleser weiß, daß tödliche Schüsse von Grenzhütern der DDR diesseits der Mauer als besonders verwerflicher Mord verabscheut, jenseits der Mauer aber als patriotische Tat mit Auszeichnungen bedacht werden. Gesetzt den Fall, einer der Todesschützen käme in den Geltungsbereich des Grundgesetzes und würde hier wegen Mordes angeklagt. Weiterhin gesetzt den Fall, daß er sich mit dem Argument verteidigte, er hätte nach dem für ihn verbindlichen Gesetz der DDR gehandelt und in Anbetracht der dort herrschenden politischen Strömung und Auffassung gar nicht anders handeln können: Müßte er sich entgegenhalten lassen, bei der von ihm zu verlangenden Anspannung seines Gewissens hätte er erkennen können, daß seine Tat fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit evident widerspreche und mit jenem unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts, der im Rech~ bewußtsein aller Kulturvölker lebt, unvereinbar sei? Könnte er dem nicht das Fragment Nr. 294 aus Pascals "Pensees" von 1670 entgegenhalten47 ?

b) Anspannung des Gewissens?

Mit Recht hat Mattil 48 darauf hingewiesen, daß schon das Reichsgericht sich wiederholt mit dem Problem der "Anstrengung" oder "Anspannung" des Gedächtnisses befaßt habe, also mit der Reproduktionskraft der Psyche von erlebten Vorgängen, die in die Tiefe des Nichtmehrwissens abgesunken seien. Die Urteile seien übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß durch bloße Willensanstrengung das Gedächtfremder Kulturwerte bezahlt werden muß, ist somit die Relativierung der bisher für absolut gehaltenen Werte der eigenen Kultur." 4& EuGRZ 1977, S. 38 ff. 47 Zu der empirisch feststellbaren und unwiderlegbaren Tatsache des Vorhandenseins und der Geltung zahlreicher einander widersprechender Grundwertvorstellungen und -maßstäbe vgl. mein Buch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, S. 11 ff. (21) und die dortigen Nachweise. 48

N.15.

7. Die Kernbereichslehre

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nis nicht dazu gebracht werden könne, in der gewünschten Weise zu arbeiten. Mit der These, die Schuld des überzeugungstäters liege darin, daß er an die Stelle der Wertordnung der Gemeinschaft, in der er lebt, seine eigene setze, habe der Große Senat des BGH die mangelnde Eignung der "Gewissensanspannung" selbst dargetan. Nicht nur augenblicklich, sondern zu keiner Zeit sei es eindeutig gewesen, was Recht und was Unrecht sei. Nicht eine "objektiv vorgegebene, absolut geltende materiale Wertordnung" bestimme das, sondern für das Strafrecht allein das Strafgesetz einschließlich seiner Sachverhaltsnormen. Es sei zwar richtig, daß es einige Verhaltensweisen gebe, die in ihrem Kernbestand in unserem Kulturbereich und in anderen immer Straftaten sein würden. "Aber schon was ,Mord' ist, ändert sich von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort." c) Die rechtsphilosophische Quelle Abgesehen von den vorstehenden Erwägungen muß deutlich gemacht werden, daß die Kernbereichslehre aus einer in ihrer praktischen Tragweite wohl mißverstandenen rechtsphilosophischen Quelle abgeleitet worden ist. Nach einer während der Weimarer Republik vor allem von Radbruch vertretenen, wenn auch damals als Rechtspositivismus und Relativismus angefeindeten rechtsphilosophischen Lehrmeinung verlangte man vom Richter unbedingte Gesetzestreue und bedingungslose Unterordnung des als "Gewissen" sich äußernden Rechtsgefühls unter den Gesetzesbefehl des Gesetzgebers49 • Im nationalsozialistischen Staat war diese Auffassung sogar grundlegend, und zwar als Gehorsam und Gefolgschaftstreue gegenüber dem "Führer". Die in § 1 GVG normierte Unabhängigkeit des Richters erhielt einen "neuen Sinngehalt"50, der mit besonderer Deutlichkeit im Reichstagsbeschluß vom 26. 4. 1942 (RGBI 1942 I 337) zum Ausdruck kam s1 . Nach den Erfahrungen während der nationalsozialistischen Herrschaft schien Radbruch von seinen früheren Positionen abgerückt zu sein: Die Rechtswissenschaft müsse sich wieder 49 Radbruch selbst formuliert in seinem Aufsatz "Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" (SJZ 1946, S. 105): "Der Grundsatz ,Gesetz ist Gesetz' kannte dagegen keine Einschränkung. Er war der Ausdruck des positivistischen Rechtsdenkens, das durch viele Jahrzehnte fast unwidersprochen die deutschen Juristen beherrschte. Gesetzliches Unrecht war deshalb ebenso wie übergesetzliches Recht ein Widerspruch in sich." Radbruch vergißt hinzuzufügen, daß er selbst ein besonders engagierter Vertreter des positivistischen Rechtsdenkens gewesen ist. Vgl. "Gustav Radbruch", in Kleinheyer I Schröder: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 1976, S. 219 - 223, mit Literaturnachweisen. 50 Vgl. H. Henkel: Die Unabhängigkeit des Richters in ihrem neuen Sinngehalt, 1934. über den entsprechenden Vorgang in der DDR nach 1945 vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Hilde Benjamin: Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 - 1949, Staatsverlag der DDR, Berlin 1976. 51 Siehe hierzu die Hinweise auf die einschlägige Gesetzgebung und Literatur in der Anmerkung von Steinlechner zum sog. Rehse-Urteil des BGH in NJW 1968, 1791.

2B

I. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe, als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches RechtS2 • Dieses an die Rechtswissenschaft adressierte philosophische Postulat richtete sich auch an den wissenschaftlich ausgebildeten und bei der Rechtsanwendung wissenschaftlich argumentierenden Praktiker. In einer Anmerkung zu einem Euthanasie-Urteil des OLG Frankfurt/Main führte Radbruch wörtlich aus: "Unrecht ist Unrecht nicht, weil es verboten ist, sondern es wird verboten, weil es Unrecht ist. Der Imperativ, die Bestimmungsnorm, ist nur eine sekundäre Form des Rechts, bestimmt, den einzelnen die Erfüllung des Rechts ins Gewissen zu schieben, die Urform des Rechts aber ist die Bewertungsnorm, das Werturteil der rechtsetzenden

Macht, durch die eine Handlungsweise für ungerecht und antisozial erklärt wird." (Hervorhebungen von mir)53.

Für Radbruch ist es also auch nach den Erfahrungen der Hitlerzeit noch immer der Inhaber der gesetzgebenden Gewalt, der eine Handlungsweise als rechtswidrig und antisozial bewertet und sie deshalb mit einer Norm des positiven Rechts gesetzlich verbietet. Insoweit bleibt Radbuch bei seinem ursprünglichen Positivismus. Er verlagert lediglich die Verantwortlichkeit: Verstößt der vom Inhaber der gesetzgebenden Gewalt für seine Entscheidung maßgebliche Grundwert gegen Wertungen einer fälschlich und irreführend als "vorpositives Recht", "übergesetzliches Recht" oder "Naturrecht" bezeichneten und philosophisch, moralisch, religiös oder politisch fundierten Idealordnung, so wäre ein solcher Verstoß doch wohl dem Gesetzgeber anzulasten. Da dieser aber dank seiner auch juristisch abgesicherten Machtstellung (princeps legibus solutus) und auch in der Regel de facto nicht belangbar ist, haben die Normen des von Radbruch als sekundäre Form des Rechts bezeichneten, vom Gesetzgeber entsprechend seiner Wertung gesetzten ("positiven") Rechts den Zweck, "den einzelnen die Erfüllung des Rechts ins Ge-

wissen zu schieben".

Dank dieser "Schiebung" kann Radbruch zwar seiner rechtspositivistischen Grundhaltung treu bleiben. Aber er beseitigt die von ihm früher postulierte unbedingte Gehorsamspflicht gegenüber dem Gesetzesbefehl : Die einzelnen seien an das Gesetz nicht deshalb gebunden, weil dies die Emanation der gesetzgebenden Gewalt ist, sondern nur insoweit, als sie die Befolgung des "Imperativs" nach ihrer eigenen persönlichen Wertung mit ihrem - wohl naturrechtlich als universell und inhaltlich übereinstimmend gedachten - Gewissen vereinbaren könnten. Gegen52 Die Wandlung, 1947, S. 9. Vgl. auch Coing: Zur Frage der strafrechtlichen Haftung für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, in SJZ 1947, S. 65 ff. 53 SJZ 1947, 621, 633 (634). Vgl. auch A. Arndt (N. 1), S. 269 - 284.

7. Die Kernbereichslebre

29

über dem "übergesetzlichen Recht", das - angeblich - in der Gewis·· sensmahnung zum Ausdruck kommt, sei der Imperativ der positiven Gesetzesnorm unbeachtlich. Auch der Richter sei demgemäß nicht an das Gesetz gebunden, weil es Gesetz ist, sondern nur insoweit, als er die Rechtsfolgen der von ihm anzuwendenden Norm mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Die Mahnung seines Gewissens sei die Emanation "jenes unantastbaren Grundstocks und Kernbereichs des Rechts, der im Bewußtsein aller Kulturvölker lebt", wie es der Bundesgerichtshof formuliert hat. Der Richter, der sich mit seinem Richtereid im Gewissen gebunden hat, müsse demgemäß auch nach seinem Gewissen entscheiden, ob er die Wertung des Gesetzgebers als für sich verbindlich betrachte oder der Norm, jenem Imperativ im Sinne Radbruchs, den Gehorsam versage. Im letztgenannten Falle nehme er allerdings das Risiko der dadurch möglicherweise hervorgerufenen Reaktion des Machtapparates auf sich. Der Richter gerät also in einen Konflikt, ob er "als Gewissensfanatiker der Rechtsordnung die Gefolgschaft (verweigern) und Märtyrer seiner sittlichen überzeugung (werden soll)"54 oder ob er die Stimme des Gewissens überhört und sich den Gegebenheiten der Stunde anpaßt. Damit mag er sich zwar im Augenblick die Freiheit von persönlichen Rech~ nachteilen erkaufen, muß aber - und das ist die Konsequenz der "Kernbereichslehre" - damit rechnen, daß durch politisch und dadurch bedingte wertungsbezogene Veränderungen das überhören des Gewissens später als Rechtsbeugung angesehen wird im Hinblick auf jenen - angeblich - unantastbaren Grundstock und Kernbereich des Rechts, der - angeblich - im Bewußtsein aller Kulturvölker lebt. Dies ist die logische Folge der Lehre Radbruchs vom "übergesetzlichen" Recht, welches in Wirklichkeit nur ein Postulat an den Gesetzgeber bleibt, solange entsprechende "Naturrechtssätze" nicht positiviert sind, wie dies z. B. durch Art. 1 Abs. 3 GG geschehen ist. d) Die bio-soziologische Erkenntnis

Betrachtet man Gegenstand und Inhalt der philosophischen These Radbruchs und die darauf gestützte Lehre vom Kernbereich aber nicht unter logischem, philosophischem oder theologischem, sondern unter bio-soziologischem Gesichtswinkel, weil der Mensch ein soziales Lebewesen ist, so ist ersichtlich, daß Radbruch zwar einen Dualismus zwischen dem persönlichen Gewissen des einzelnen Menschen und einem mit ihm unter Umständen nicht konformen, im Gesetz zum Ausdruck kommenden "Kollektiv"-Gewissen (im intersubjektiven Sinn) anerkennt, daß er aber nichts darüber verlauten läßt, inwieweit das Individuum im kon54

Tb. Geiger (N. 45), S. 226 f.

SO

1. Kann man den Ruf des Gewissens vor Gericht stellen?

kreten Einzelfall sich darüber klar werden konnte, daß das ihm durch das positive Gesetz als Ausdruck des "Kollektiv"-Gewissens gebotene oder verbotene Verhalten bei Anspannung seines von einem angeblich "überpositiven" Recht geprägten persönlichen Gewissens "gesetzliches Unrecht", d. h. ein in die Form des Gesetzes verkleidetes "ewiges Unrecht" ist55 • Radbruchs "Schiebung" ist zwar eine Abkehr vom Relativismus, aber keineswegs vom Positivismus. Er läßt dank Naturrecht den Armen schuldig werden, um ihn dann der Pein zu überlassen. Immerhin nur für die Zukunft, wie er ausdrücklich bemerkt. Für die vergangenen 12 Jahre "gesetzlichen Unrechts" während der nationalsozialistischen Zeit räumt Radbruch die Möglichkeit ein, daß "mit einer politisch tendenziösen Ausübung des Strafrichteramtes, sei es aus politischem Fanatismus, sei es unter dem Druck der damaligen Machthaber" gerechnet werden kann. Er stellt die keineswegs bloß rhetorisch gemeinte Frage: "Konnten Richter, die von dem herrschenden Positivismus soweit verbildet (sie!) waren, daß sie ein anderes als das gesetzte Recht nicht kannten, bei der Anwendung positiver Gesetze den Vorsatz der Rechtsbeugung haben? Auch wenn sie ihn hatten, bleibt ihnen als letzter, freilich peinlicher Rechtsbehelf die Berufung auf die Lebensgefahr, die sie selbst durch die Auffassung nationalsozialistischen Rechts als gesetzlichen Unrechts über sich herabbeschworen hätten, die Berufung auf den Notstand des § 54 StGB (= § 35 StGB in der Fassung vom 2. 1. 1975) - peinlich, da das Ethos des Richters auf Gerechtigkeit um jeden Preis, auch den des Lebens gerichtet sein sollte 56 . " Ja, gewiß: gerichtet sein sollte! Aber gerade dieses Ethos hatte Radbruch selbst in seinen früheren Schriften geleugnet. Er hatte vom Richter ein anderes Ethos verlangt, nämlich unbedingten Gehorsam gegen-

über dem Gesetzesbefehl57, aber - obwohl Professor für Strafrecht und Kriminologie - zuungunsten der Richter die gerade für seine Fachgebiete anerkannte bio-soziologische Erkenntnis nicht berücksichtigt, daß dieselbe Rechtsgemeinschaft, dasselbe Individuum zeitlich variabel sind je nachdem, welche der vielfachen Anlagen durch die Verhältnisse, vor allem durch das einwirkende soziale Milieu, vorherrschen, nicht in Erscheinung treten oder unsichtbar gemacht werden 58• Anlagen sind keine feststehenden Eigenschaften, sondern ambivalent, ja sogar polyvalent. Sie können je nachdem zum Guten oder zum Bösen ausschlagen. Die natürliche Umwelt prägt, wie Rudy ausführt, aus demselben Anlagenkomplex verschiedene Typen. "Das gleiche vermag die von Menschen ge55

56

Hierzu vor allem Hans Welzel in Blühdorn (N. 6), S. 384 ff. N. 49, S. 107.

Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 182 f.; vgl. meine in N. 1 genannte Abhandlung S. 507 f. 58 Rudy: Anlage, Anlagentheorie, in Bernsdorf: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. 1969. 57

7. Die Kernbereichslehre

31

schaffene soziale Umwelt ... Zu Eigenschaften werden die latenten Anlagen erst dann, wenn das Individuum sie sich zu eigen macht, und zwar je nach den sozialen Umständen und dem Milieu, in das der Mensch eingegliedert ist. Die Eigenschaften, zu welchen sich die erbbiologischen Anlagen entwickeln, sowie die Leistungen, welche ein Individuum bei bestimmten Anlagen vollbringt, hängen ebenso von diesen wie von der Umwelt ab 59 ." Es ist der "Biosoziologie" genannte Zweig der Soziologie, welcher die Wechselwirkung biologischer Vorgänge und Reaktionen zur sozialen Kollektivität und Umgebung erforscht60 • Diese Biosoziologie, deren Gesichtswinkel soziologisch bestimmt ist, darf nicht verwechselt werden mit der vor allem in den angelsächsischen Ländern vertretenen und zum Teil als "deterministische Rassenlehre" diskriminierten "Soziobiologie", welche die Sozialwissenschaften nicht zu den Geisteswissenschaften, sondern zu der naturwissenschaftlich betriebenen Biologie rechnet, d. h. menschliches Verhalten und menschliche Wertvorstellungen mit Methoden der Biologie erklären und ethische Normen aus ihnen ableiten will 61 •

Ebd. Rudy: Biosoziologie, ebd. Vgl. auch Loch: Biologische und gesellschaftliche Faktoren der Gewissensbildung, in: Wege zum Menschen XIV (1962), S. 346361. 61 Vgl. über die Gefahren dieses sog. Reduktionismus die Rezension über die 1975 in 2. Auflage erschienene Soziobiologie des amerikanischen Zoologen Edward O. Wilson von Beatrice Flad-Schnorrenberg in F AZ vom 25. 7. 1978 Nr. 157. Siehe auch N. 15 zum dritten Abschnitt. 59

60

Zweiter Abschnitt

Zur Definition des Gewissens seitens des Bundesverfassungsgerichts Der Ausdruck "Gewissen" für ein in jedem Menschen vorhandenes Agens, das als seelische Kraft das Verhalten des Menschen im gesellschaftlichen Bereich zu beeinflussen vermag, ist nicht nur ein Wort der Umgangssprache, sondern findet sich auch in der Gesetzes- und Rechtssprache 1• Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts2 bedarf es für die Beantwortung der Frage, was juristisch unter "Gewissen" zu verstehen ist, keiner Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Ursprung und Wesen des Gewissens (zumal darüber in den zuständigen Disziplinen tiefgehende Meinungsunterschiede bestünden), wenn dieser Ausdruck im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und des Grundgesetzes verstanden werde "als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber real erfahrbares) seelisches Phänomen ..., dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind". Das Bundesverfassungsgericht läßt nichts darüber verlauten, von wem diese Gebote ausgehen, welchen Inhalt sie haben, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sie so eindringlich jedem Menschen vermittelt und von ihm als bindend und unbedingt verpflichtend verinnerlicht werden, daß sie für ihn unmittelbar evident sind. Die Berechtigung dieser Kritik erhellt besonders angesichts der Formulierung in der zeitlich jüngsten Entscheidung vom 13. 4. 1978, wo es heißt, Art. 4 Abs. 1 GG garantiere die Unverletzlichkeit des Gewissens und die Freiheit, nach dessen als bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahrenen Geboten handeln zu dürjen3 • Die Verweisung auf den allgemeinen 1 Abgesehen von den bereits genannten Vorschriften sei noch hingewiesen auf § 79 Abs. 2 StPO und § 410 Abs. 1 ZPO, wonach ein gerichtlich bestellter Sachverständiger sein Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen zu erstatten hat. Ferner findet sich in strafrechtlichen Urteilen die Wendung, der Angeklagte hätte bei der ihm zuzumutenden "Anspannung seines Gewissens" den Unrechtsgehalt seiner Tat erkennen können (z. B. BGHSt 2,194; 4, 1 ff.); dazu Friedrich Mattil: Gewissensanspannung, in ZStW 74 (1962), S. 201- 244. 2 BVerfGE 12, 54 f. Vgl. auch Böckenförde in VVDStRL 28 (1970), S. 66: "Das Grundgesetz kennt keinen eigenen Rechtsbegriff des Gewissens, sondern verweist auf das Gewissen als eine im sozialen Leben vorgegebene Wirklichkeit."

1. Der allgemeine Sprachgebrauch

33

Sprachgebrauch und auf das Grundgesetz setzt voraus, daß ein eindeutiger allgemeinen Sprachgebrauch vorhanden ist und im Grundgesetz normativ eindeutige Äußerungen nachgewiesen werden können, welche dem Ausdruck "Gewissen" den vom Bundesverfassungsgericht gegebenen Sinn verleihen. 1. Der allgemeine Sprachgebrauch über den allgemeinen Sprachgebrauch dürfte wohl "Der Große Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache" unter dem Stichwort "Gewissen" die sicherste Auskunft vermitteln. Hier heißt es wörtlich: "Ein gutes, ruhiges, reines, zartes, feinfühliges, böses, schuldbeladnes, robustes G.; ein weites, enges G.; ein Mensch ohne (alles) Gewissen; man spricht auch von einem künstlerischen, einem wissenschaftlichen Gewissen; mein Gewissen quält mich; Ruhe des Gewissens; das Gewissen beruhigen, einschläfern, erleichtern; das Gewissen schlug ihm, regte sich; der Stimme des Gewissens folgen; sich (k)ein Gewissen machen aus, über etwas, etwas zu tun; etwas, jemanden auf dem Gewissen haben; jemandem ins Gewissen reden; das Gewissen schärfen; mit gutem Gewissen; nach bestem, wider besseres (Wissen und) Gewissen; gegen Recht und Gewissen; ... " Diese Beispiele, die hier zur Erklärung und Erläuterung des Ausdrucks "Gewissen" im allgemeinen Sprachgebrauch nebeneinander gestellt sind, machen deutlich, daß es einen eindeutigen "allgemeinen Sprachgebrauch" nicht gibt. Vielmehr kann der Ausdruck " Gewissen " auch im allgemeinen Sprachgebrauch ganz verschiedene Bedeutungen annehmen je nach dem sprachlichen Zusammenhang, in dem er verwendet wird4 • Diesem Umstand trägt das Gericht in der angeführten Entscheidung dadurch Rechnung, daß es ergänzend ausführt, als Gewissensentscheidung sei "jede ernstliche, sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte 5 ". 2. Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts Mit dieser krypto-theologisch-philosophischen Formulierung wird aber gerade die vom Bundesverfassungsgericht als überflüssig bezeichnete NJW 1978, S. 1245 - 1255 (unter B I 2 a). Hierzu eingehend Friedrich Kaulbach: Die Frage nach dem Gewissen im Aspekt analytischer Philosophie, in: Jürgen Blühdorn, Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 317 - 342; Gerhard Klier: Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 218 Anm. 333, S. 234 f. 5 BVerfGE 12, 54. Bruno Heusinger: Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 123, nennt das Gewissen "die Stimme des Inneren zu Gut und Böse". 3

4

3 Hirsch

II. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

34

Auseinandersetzung mit den sehr umstrittenen theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Ursprung und Wesen des Gewissens zur Notwendigkeit, wenn das Gericht der Forderung nach rationaler Argumentation zur Begründung dafür nachkommen will, warum es unter den zahlreichen im philosophischen, theologischen und weltanschaulichen Schrifttum geäußerten Auffassungen nur die von ihm herangezogene Auffassung und keine andere gewählt hat.

a) Babylonische Sprachverwirrung H. G. Stoker gibt über die Vieldeutigkeit des Begriffs in der ethischen Literatur folgenden überblick: "Das Gewissen wird gesehen als göttliches Orakel, als höchste Vernunftinstanz, als menschliches Urteil, als Gefühl, als Wille, als Trieb, als Instinkt, als moralische Gesamtnatur, als Verstandes-Syllogismus, als unfehlbar, als nicht ,vertraubar', als in der Konvention gegründet, als Stimme der Gemeinschaft, als individuelle SubjektiV'ität, als etwas Göttliches im Menschen, als biologisches ,Schulderlebnis' schon im Tiere, als Zustand, als Funktion, als Organ, als Tat usw.6."

Harald Eklund kommt 12 Jahre später (1937) zum gleichen Ergebnis, wenn er feststellt, es gäbe überhaupt keine Einigung darüber, was mit dem Wort Gewissen bezeichnet werden solle; es gäbe keine einheitliche Terminologie, und auch sachlich gesehen habe man ganz verschiedene Phänomene im Auge 7 • Matros spricht von einer "babylonischen Sprachverwirrung"8 des Gewissensbegriffs. Und schließlich erklärt Blühdorn in der Einleitung zu dem von ihm 1976 herausgegebenen Sammelband: "Für die letzten Jahrzehnte fällt das Urteil nicht weniger hart aus: Nach W. Bitter hinterläßt ,ein kurzer Blick in die Literatur geradezu einen chaotischen Eindruck' und J. Stelzenberger weist darauf hin, ,der Begr~ff Gewissen zählt zu den uneinheitlichsten und umstrittendsten'. Kaum ein Begriff, betont Friedrich Kümmel, divergiere so stark in seinen Auslegungen und Bewertungen 9."

b) Vorverständnisse Selbst wenn man nicht so weit gehen kann wie Kamlah mit seiner bereits oben erwähnten Auffassung, daß man in dem Substantiv "Gewissen" nur ein säkularisiertes Relikt unserer überlieferten mythisch-re8

Hendrik G. Stoker: Das Gewissen. Erscheinungsformen und Theorien,

1925, S. 3.

7 Harald Eklund: Das Gewissen in der Auffassung des modernen Menschen, in Blühdorn (N. 4), S. 114 - 141 (114). 8 Norbert Matros: Das Selbst in seiner Funktion als Gewissen, in Blühdorn

(N. 4), S. 187 - 251 (251). g N. 4, S. 5.

2. Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts

35

ligiösen Sprache sehen könne, so bleibt jedenfalls festzuhalten, daß alle Aussagen über sittliches Verhalten, d. h. über Inhalt und Richtung "unbedingten Sollens" Deutungen von Vorstellungen sind, für deren Zustandekommen zahlreiche Faktoren maßgeblich sind. Der Gewissensruf wird, wie Friedrich Kümmel formuliert, "von vornherein im Horizont eines durch Erziehung, Glaube oder Weltanschauung bestimmten Vorverständnisses aufgefaßt und entsprechend beantwortet"lo. Hierfür sind die Deutungen, worauf Blühdorn hinweist, von einem bestimmten Menschenbild abhängig und einseitig auf dieses bezogen, ohne daß diese Voraussetzung selbst erörtert und näher begründet werde. "Ist das Menschenbild durch eine Weltanschauung vorgegeben, wird die Diskussion des Gewissensphänomens meist - explizit oder implizit - nur noch aus der Sicht dieser Weltanschauung betrieben"l1. Einige Beispiele mögen dies erläutern:

Welzel meint: "Wenn irgendwo, so liegt doch im Gewissen der Kern der sittlichen Persönlichkeit und der Grund der MenschenWÜrde"12. Hans-Jochen Vogel schreibt: "Das Gewissen als forum internum soll sich im Gesellschaftlichen, in der Öffentlichkeit uneingeschränkt verwirklichen dürfen. Niemand soll von der Rechtsgemeinschaft in die innere Emigration vertrieben werden 13." Luhmann erinnert daran, daß der Mensch, wenn er auf sein Gewissen hört, eine Quelle sozialer Störungen und persönlicher Enttäuschungen werden könne. Der Sinn der Gewissensfreiheit liege darin, daß sie die Gewissensorientierung erspare. Zwangsläufigkeiten würden nicht vom Gewissen betreut. Diejenigen, für die ihre Religion oder Weltanschauung Wahrheit (im Sinne intersubjektiver Gewißheit) in Anspruch nähmen, allen voran die Anhänger des dialektischen Materialismus, seien deshalb konsequent, wenn sie keine Gewissensfreiheit einräumten 14. Nach Harald Eklund ist Gewissen nicht gleich ethischer Erkenntnis überhaupt. Es enthalte irgend wie das besondere Wissen eines bestimmten Subjekts und trete zunächst als individuelle überzeugung auf. Der Mensch könne über seine eigenen Handlungen Gewissensurteile und "moralische Urteile" aussprechen, über die Handlungen anderer nur "moralische Urteile". Abgesehen davon habe das Gewissen immer mit der Wirklichkeit zu tun. Das Gewissen gehöre mit der geschichtlichen Wirklichkeit zusammen und sei nicht 10 Friedrich Kümmel: Zum Problem des Gewissens, in Blühdorn (N. 4),

S. 441 - 460 (441). 11 N. 4, S. 6 f.

12 Hans Welzel: Gesetz und Gewissen, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 1960, S. 383 - 400 (384). 13 Einführung zu Adolf Arndt: Gesammelte juristische Schriften, 1976,

S. XVII. 14

Niklas Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in AöR 90

(1965), S. 257 - 286 (280 f.).

36

H. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

mit der Natur, sondern nur mit der Geschichte gegeben und verständlichls • Gerhard Ebering meint, die Bezeichnung des Gewissens als eines Organs des Menschen verfehle den grundlegenden Sachverhalt; genau genommen habe nicht der Mensch Gewissen, sondern sei Gewissen. Für die inhaltliche Bestimmung des Gewissensrufs komme es auf die konkrete Situation und auf das an, "was als Anleitung zum Verstehen konkreter Situation vorgegeben ist durch Unterweisung im weitesten Sinn, also durch Teilhabe am Sprachgeschehen". Das Gewissen trete nur am einzelnen in Funktion und sei geradezu principium individuationis. Dies schließe aber nicht das Anteilhaben an gemeinsamer Gewissensprägung aus, die je nach der Traditionsbestimmtheit von zäher geschichtlicher Beständigkeit sein könne 16 . Norbert Matros wendet sich unter Hinweis auf J. Piper 17 entschieden gegen jede kasuistische Morallehre 18. Für A. F. Schischkin ist "das Gewissen des Sowjetmenschen und des Kämpfers für den Sozialismus und den Kommunismus in jedem Land von dem tiefen Bewußtsein seiner Verpflichtungen gegenüber dem Volk, seinem Vaterland, der marxistischen Partei, der Armee der Kämpfer für die lichte Zukunft der Menschheit nicht zu trennen"19. Nach L. M. Archangelski ist das spezifische Merkmal des Gewissens die Bewertung des eigenen Verhaltens. Eine solche Bewertung aber werde immer durch die Normen irgendeiner Moral bestimmt. Gewissen bedeute, daß man an sich selbst höchste Ansprüche stelle, und veranlasse auf diese Weise zu einem sittlichen Verhalten. Dieses Merkmal des Gewissens offenbare sich besonders deutlich in der sozialistischen Gesellschaft. Das Gewissen müsse als eine soziale Erscheinung behandelt werden, die in letzter Instanz durch die materiell-ökonomischen Beziehungen bestimmt werde. Gerade diesen grundlegenden Gesichtspunkt lasse die idealistische Ethik außer acht. Eine materialistische Analyse des gesellschaftlichen Lebens ermögliche es, den Klasseninhalt des Gewissens und die sozialen Verhältnisse, die die Entwicklung des moralischen Verantwortungsbewußtseins fördern oder erschweren, wissenschaftlich zu erforschen. Archangelski stellt das Gewissen der Werktätigen und das "Gewissen" (Anführungszeichen im Original!) der Bourgeoisie einander gegenüber und kommt zu den oben aufgeführten Ergebniss'en von Schischkin. Während in der kapitalistischen Gesellschaft das Gewissen abstumpfe, sei in der sozialistischen Gesellschaft ein ganzes System sittlicher Stimuli des Gewissens entstanden. Die kommunistische Erziehung der Massen, die dem 15 Harald Eklund: Das Gewissen in der Auffassung des modernen Menschen, in Blühdorn (N. 4), S. 114 - 141 (118 f.). 16 Gerhard Ebeling: Theologische Erwägungen über das Gewissen, in Blühdorn (N. 4), S. 142 - 161 (153 f.). 17 Traktat über die Klugheit, 6. Auf!. 1960, S. 6l.

18 19

N. 8, S. 227. A. F. Schischkin: Das Gewissen, in Blühdorn (N. 4), S. 343 - 352 (349).

3. Die richtige Fragestellung

37

Gewissen, der persönlichen moralichen Verantwortung für das Tun und Treiben des Menschen so große Bedeutung beimesse, verknüpfe die Vorstellung vom Gewissen unmittelbar mit dem Kriterium kommunistischer Sittlichkeit20 • 3. Die richtige Fragestellung Nach den vorstehend in Auswahl dargebotenen Kostproben aus den Küchen der Theologen, Philosophen u. a. m. nimmt es zwar nicht wunder, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Auseinandersetzung mit ihnen hinsichtlich des Gewissensbegriffs gescheut und allein auf den Sinn dieses Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch und im Grundgesetz abgestellt hat. Denn entweder ist das Gewissen, worauf Friedrich Kümmel 21 und Werblowsk y 22 aufmerksam machen, ein Etwas, das nur bestimmten Kulturen eigentümlich ist, oder es stellt ein allgemein menschliches Phänomen dar, dessen Ausformung allein veränderlich ist. Geht man zunächst einmal heuristisch davon aus, daß jeder Mensch ein Gewissen hat - eine allgemeine, aber keinesfalls bewiesene Annahme - , so müßte man doch klar unterscheiden zwischen dem "Sitz" oder "Zentrum" dieses Gewissens im menschlichen Organismus, den "Funktionen" dieses Gewissens und seinem "Inhalt". Solange man diese drei Fragenkreise nicht trennt und einzeln für sich behandelt, wird man sich vergeblich um eine Klärung bemühen. Um meinen Gedanken an einem Beispiel zu erläutern: Jeder Mensch hat lokalisierbare Erinnerungsund Sprachzentren im Gehirn. Diese Zentren haben bestimmte Funktionen zu erfüllen. Der Inhalt der Erinnerungs- und Sprachzentren ist aber nicht uniform oder universell, sondern bei jedem Individuum verschieden und von den Gegebenheiten seiner Ontogenese und derjenigen Umwelt abhängig, der das Individuum angehört oder an die es sich anpassen muß, um zu überleben. Auf das Gewissen angewandt: Ist das als "Gewissen" oder in anderen Sprachen anders bezeichnete "Etwas" des einzelnen Menschen im menschlichen Organismus lokalisierbar und durch äußere Einwirkungen beeinflußbar? Bejahendenfalls: Welche Funktionen hat es zu erfüllen? Wodurch wird sein Inhalt nach Qualität und Quantität so beeinflußt, daß das Individuum sich nach den von ihm als bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahrenen und evidenten Geboten des Gewissens zu handeln veranlaßt sieht? Mit dieser Fragestellung ist deutlich gemacht, daß das "Gewissen", falls etwas Derartiges bei jedem Menschen nachweisbar und beeinflußzo L. M. Archangelski: Das Gewissen, in Blühdorn (N. 4), S. 353 - 383 (355 f.; 369; 376). 21 N. 10, S. 445. 22 R. i. Zwi Werblowsky: Das Gewissen in jüdischer Sicht, in Blühdorn (N. 4), S. 21 - 49 (22).

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11. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

bar ist, als ein Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens und seiner Rechtsordnung anzusprechen ist.

4. Die Ansichten der Verfassungsjuristen Die vorstehende Fragestellung ist wohl für die meisten Juristen unverständlich oder wird von ihnen in Anbetracht der als Geisteswissenschaft oder Normwissenschaft qualifizierten Jurisprudenz als fachbereichsfremd empfunden. In der Regel geht man davon aus, daß ein Etwas wie das "Gewissen" existiert und daß das Wort "Gewissen" sprachlich eine einheitliche Bedeutung hat. "Die Tatsache des menschlichen Gewissens ist theoretisch unableitbar und von historischen Bedingungen unberührt", behauptet Erik Wolf apodiktisch23 • Obwohl, wie oben (Ziffer 1 und 2) ausgeführt, der sprachliche Ausdruck "Gewissen" keineswegs eindeutig ist, streiten die Verfassungsjuristen vor allem darüber, was Freiheit des Gewissens und Unverletzlichkeit dieses Grundrechts im Rahmen der Verfassung eines Staates bedeutet, dem "als Heimstatt aller Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität" auferlegt ist24 • Die Geister scheiden sich bei der Beantwortung der Frage, ob angesichts der kategorischen Formulierung von Art. 4 Abs. 1 GG bei der Begriffsbestimmung der Gewissensfreiheit und der immanenten Schranken Sollensgebote heteronomen Ursprungs als sog. überpositive Elemente zu berücksichtigen sind oder ob bei der juristischen Betrachtung und Auslegung dieser Verfassungsnorm keine überpositiven Begriffe von Gewissen und Gewissensfreiheit zugrunde gelegt werden dürfen. Nur als Beispiele seien einige Vertreter beider Ansichten zitiert: a) Der abendländische Begriff des Gewissens

Maunz / Dürig / Herzog erklären in ihrem umfangreichen Kommentar zum Grundgesetz25 , daß der Begriff des Gewissens im Sinne dieser Bestimmung die ethische Kategorie des Sollens ist, die den abendländischen Begriff des Gewissens kennzeichnet; man habe davon auszugehen, daß dieser Begriff auch dem Art. 4 Abs. 1 GG zugrunde liege. Nach SchmidtBleibtreu / Franz Klein 26 versteht man unter Gewissen "das Bewußtsein des Menschen von der Existenz des Sittengesetzes und seiner verpflichtenden Kraft". Nach Thomas Würtenberger erfolgt jede Gewissens-Stellungnahme des Ichs zum sittlichen Wert der eigenen Handlung vor dem Forum einer Instanz, die eine überindividuelle Macht sei. Diese werde 23 Zitat nach Thomas Würtenberger: Vom rechtschaffenden Gewissen, in FS. Erik Wolf, 1962, S. 337 - 356 (337). 24 BVerfGE 12,4 ff. 25 Nr. 121 zu Art. 4. 26 Kommentar zum Grundgesetz, 4. Auf!. 1977, Art. 4 Nr. 1.

4. Die Ansichten der Verfassungsjuristen

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meistens repräsentiert durch einen persönlichen Lebenskreis, in den der Mensch eingegliedert oder mit dem er mehr oder weniger verbunden sei. In der religiösen Region sei es die Gemeinschaft des Menschen mit Gott, im weltlichen Bereich Gemeinschaftsformen mannigfacher Art von der Familie bis hin zur Völkergemeinschaft. Für die rechtliche Dimension des Gewissensphänomens komme der als Rechtsgemeinschait bezeichneten Form mitmenschlicher Verbundenheit besondere Bedeutung ZU 27 . In ähnlicher Weise betont Alfons Kraft die Relativität des Gewissensbegriffes in Art. 4 GG: Es müsse sich um eine Gewissensentscheidung und eine Gewissenspflicht handeln, "die in dem betreffenden Kulturkreis von den billig und gerecht Denkenden als berechtigt anerkannt wird"28. Die vorstehenden Äußerungen enthalten nur Angaben über die Faktoren, die für den Inhalt des Gewissens als eines zwischenmenschlich bebedeutsamen Phänomens bestimmend sein können, nämlich zeitlich die Tradition, räumlich der abgrenzbare Kulturkreis und axiologisch diejenige Menschengruppe oder Schicht, welche die Wertmaßstäbe für das zwischenmenschliche Verhalten aufstellt und für verbindlich erklärt. b) Die Gegenmeinung

Als Beispiel für die Gegenmeinung sei Heinrich SchaUer zitiert, der ausdrücklich erklärt, daß alle seine Betrachtungen von Art. 4 Abs. 1 GG als sedes materiae ausgehen, ohne daß ein überpositiver Begriff von Gewissen oder Gewissensfreiheit zugrunde gelegt werde. "Die neutralisierende Funktion der Rechtswissenschaft" dürfe weder hier noch an einem anderen neuralgischen Punkt des Rechtssystems verloren gehen "durch Auslieferung der Rechtsordnung an die subjektive Wertperspektive"21I. Diese Warnung richtet sich wohl gegen die vom Bundesverwaltungsgericht30 als "allgemeine Meinung" angesehene Auffassung, daß die eigene Erkenntnis des Erlaubten und Verbotenen und die Einsicht, verpflichtet zu sein, dieser :E;rkenntnis gemäß zu handeln, somit eine im Inneren ursprünglich vorhandene überzeugung von Recht und Unrecht, das Gewissen ausmache. Nach SchoUers Meinung hat das Bundesverfassungsgericht den Irrtum einer metajuristischen Interpretation vermieden, wenn es auch den Umfang der Gewissensfreiheit noch nicht klar genug erkannt habe; denn man könne bei übertragung seiner zur Glaubensfreiheit geäußerten Grundsätze auf die Gewissensfreiheit "die Anerkennung des Vorranges der ethischen Aktion vor dem Gesetz" deduzieren, N. 23, S. 343. Alfons Kraft: Rechtspflicht und Gewissenspflicht, in AcP 163 (1964), S. 472 - 486. 29 Heinrich SchoUer: Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, in Blühdorn (N. 4), S. 407 - 440 (410). 30 NJW 1959, S. 353. 27

28

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Ir. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

eine Folgerung, die schwerlich gezogen werden dürfte. Die immanenten Schranken der Gewissensfreiheit könnten nicht von vornherein geleugnet werden, "obwohl gerade hier die Gefahr besteht, die ,fundamenta fidei' oder abendländische Grundvorstellungen über ethisches Verhalten als Schranken anzusehen". Die wertbezogene Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts, die "sowohl religiös-transzendentale Glaubensaussagen wie wertphilosophische Bekenntnisse zum Inhalt der Grundrechtssätze macht, würde die Sinngestalt des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates verändern"31. c) Ein psychoanalytischer Beitrag

Zu einer entsprechenden Schlußfolgerung kommt Gerhard Klier in seiner kürzlich erschienenen, in ihrem Untertitel ausdrücklich als "Beitrag der Psychologie zur Normbereichsanalyse des Grundrechts der Gewissensfreiheit" gekennzeichneten und auf dem Boden der Psychoanalyse stehenden Schrift32 • Er bestimmt den psychoanalytischen Gewissens~ begriff mit folgender Formulierung: Das Gewissen sei eine Funktion des "über-Ich". Das "über-Ich" sei ein aus dem "Ich" herausdifferenziertes Subsystem der Person. Es beinhalte die im Laufe der Individualentwicklung internalisierten Normen, und zwar nicht nur der Verbotsnormen (das "Nein"), sondern als Ich-Ideal auch die Gebotsnormen. Das Gewissen trete als dynamischer und energetischer Anteil des über-Ichs in Aktion, wenn es mit einem widersprechenden Trieb- oder Außenweltanspruch konfrontiert werde. In diesem Falle aktualisiere es die teils bewußten, teils unbewußten über-Ich-Inhalte in einer kon,.. kreten historischen Situation und widerspreche den Trieb- oder Außenweltansprüchen. So erweise sich das Gewissen als Zensor des vom Ich getragenen bewußten HandeIns. Das über-Ich weise eine starke, formal autoritätsabhängige Struktur auf. Im Vordergrund stünden weniger konstante internalisierte überIch-Inhalte als die von den jeweils dominanten Autoritäten ausgehenden Forderungen. "Für die Rechtspraxis kann hieraus gefolgert werden, daß die Gewissensfunktion, mit der bewußt oder unbewußt bleibende Moralnormen des über-Ich an das Ich signalisiert werden, in Konfrontation mit einer Autorität häufig relativ wirkungslos bleiben wird33 ." An anderer Stelle34 wird ausgeführt, nach Auswertung einer Fülle empirischer Untersuchungen spreche eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer vom Ich abgespaltenen psychischen Instanz, die über31

8Z U

34

N. 29, S. 434. N.4. Ebd. S. 100 f. Ebd. S. 109.

4. Die Ansichten der Verfassungsjuristen

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Ich genannt werden könne und deren Funktionsmodus das Gewissen sei. Unter Verwertung einer in das "Lexikon der Psychologie" von Arnold / Eysenk und Meili aufgenommenen Definition von Aronfreed zeigt Klier3 5 drei Merkmale des Gewissensbegriffs auf: Einmal habe das Gewissen eine kognitive Komponente und sei insofern von der kognitiven und intellektuellen Entwicklung der Person abhängig; zum anderen habe das Gewissen eine affektive Komponente, womit die unangenehmen oder angenehmen Empfindungen gemeint sind, die eine von der Gewissens~ funktion gemeldete Abweichung von bzw. übereinstimmung mit den Gewissensinhalten begleiten. Es gebe weder ein "gutes" noch ein "schlechtes" Gewissen. Schließlich erkläre die Internalisierung die Aufnahme sozialer Normen in das Innere der Person und veranschauliche damit den Prozeß, der zur Errichtung des Gewissens als Zensor führe. Schließlich gliedert Klier den Gewissensbegriff in zwei, jeweils aus dem Sinnzusammenhang zu erschließende Bedeutungsinhalte auf: Einmal sei Gewissen die psychische Substruktur (das über-Ich), die die im Verlauf der Ontogenese internalisierten teils bewußten, teils unbewußt bleibenden Moralnormen beinhalte und insofern die persönliche Identität eines Individuums mitkonstituiere. Zum andern sei Gewissen (als Funktion) die kognitive und affektive negatorische Reaktion des Individuums auf äußere oder innere Handlungsimpulse, die in einer konkreten historischen Situation ein bestimmtes Handeln subjektiv bindend vorschreibe, indem sie auf der Grundlage der internalisierten Moralnormen eine Schematisierung in die Kategorien "Gut" (gerecht) und "Böse" (ungerecht) vornehme. An anderer Stelle36 wird das Gewissen als ein realer psychischer Sachverhalt bezeichnet und damit zu erklären versucht, daß der Gewissensfreiheit "also" kein erst vom Gesetzgeber postuliertes fiktives Phänomen zugrunde liege. Verfassungsrechtlicher und psychologischer Gewissensbegriff schlössen sich demnach nicht aus, sondern seien vielmehr insoweit identisch, als der Normbereich "Gewissen" nur auf der Grundlage einer wirklichkeitswissenschaftlich orientierten Psychologie entwickelt werden könne. Das Gewissen in actu sei nicht mehr als eine psychische Funktion, die auf der Grundlage einer individuell gewordenen personalen Struktur wirksam werde, nicht aber eine kommunizierende Röhre zur Partizipation des Individuums an einer transzendenten objektiven Wertordnung. Nach dem Grundgesetz sei das Gewissen als ein Sachverhalt der sozialen Realität geschützt und nicht eine bestimmte ideologische, mit dem Mantel der Leerformel "Sittengesetz" verbrämte Interpretation des Gewissens37 • as Ebd. S. 141 f. se Ebd. S. 147 f. 37

Ebd. S. 148.

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H. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG d) Eine kritisch abwägende Ansicht

Roman Herzo[f8 stellt die Frage, ob denn dem Verfassungsgeber und damit auch dem Verfassungsjuristen erlaubt sein dürfe, überhaupt einen bestimmten Gewissensbegriff zu konzipieren und als richtig zu unterstellen, obwohl der Begriff zwischen Philosophen, Theologen und Psychologen heillos umstritten sei. Das Problem, inwieweit der Jurist an Begriffsbildungen und Erkenntnisse von Anthropologie, Anatomie, Medizin und Physiologie gebunden sei, bedeute bei der Gewissensfreiheit "die Frage nach Bindung und Freiheit gegenüber Theologie, Philosophie und Psychologie". Auch wenn die Jurisprudenz die eigenständigen Bedürfnisse ihrer eigenen Forschungsobjekte zu allererst zu berücksichtigen habe, so habe sie keinen Grund, sich von den Erkenntnissen der Philosophie und der Theologie verächtlich abzuwenden oder gar auf die Erkenntnisse der Psychologie nicht zu achten. Entscheidend sei, die wesentlichen Umweltbedingungen herauszuarbeiten, in denen das Grundrecht der Gewissensfreiheit zu wirken habe, und auf dieser Basis die Zweclanäßigkeiten erst zu ermitteln, denen eine Begriffsbildung zu folgen habe. Man müsse berücksichtigen, daß auch und gerade Gewissensentscheidungen vom Individuum nicht in robinsonartiger Einsamkeit getroffen würden, sondern daß sie in verschiedenster Weise und mit teilweise sehr erheblichem Nachdruck von großen Verbänden, vor allem von den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften vorgeprägt zu werden pflegen. Es bestehe die Gefahr, daß die innere Souveränität gegenüber dem quivis ex populo ebenso aufgegeben würde wie gegenüber den Weltanschauungsgemeinschaften. Die praktische Wirkung des Art. 4 Abs. 1 GG als Grenze staatlicher Tätigkeit in der pluralistischen Gesellschaft sei schwerlich zu leugnen. Mit wechselnden Inhalten des "gesellschaftlichen Bewußtseins" könne sich als Folge der Gewissensfreiheit durchaus einmal jener Vorgang wiederholen, der sich vor Jahrhunderten als Folge der Glaubensfreiheit in Form eines weltanschaulich neutralen Staates eingestellt habe. Der Staat werde seiner Verpflichtung aus Art. 4 Abs. 1 GG nur durch gewisse pauschalierende Verfahren der "Großzügigkeit" nachkommen können und in "gewissensbrisanten" Angelegenheiten "Enthaltsamkeit" als "unabdingbare Rechtspflicht" üben müssen. Herzog verkennt nicht, daß beide Wege in wirklich zentralen Fragen nicht uneingeschränkt gangbar sind, weil sie unter Umständen zur Auflösung des Staatswesens selbst, ja sogar des Volkes führen können. "Wenn die wirklich zentralen Fragen, ja unter Umständen sogar die Frage ,Ordnung oder Anarchie' zum Gegenstand der Gewissensentscheidung dissentierender Gruppen werden, ist eine der selbstverständlich38

Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, in DVBl.

1969, S. 718 - 722.

4. Die Ansichten der Verfassungsjuristen

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sten Voraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaates entfallen. In einer solchen Situation ... kann weder eine restriktive noch eine extensive Auslegung der Gewissensfreiheit oder irgendeines anderen Grundrechts helfen ... Dann ist die Verfassung als Ganzes ad absurdum geführt, und man wird sehen müssen, welche Form des politischen Zusammenlebens in einem solchen Fall adäquat ist39 ." e) Eigene Stellungnahme

Ich habe diese als grundsätzlich konzipierte Stellungnahme eines angesehenen Verfassungsrechtlers deshalb so ausführlich wiedergegeben, um deutlich zu machen, wie klar und doch hilflos eine sich nur als Geisteswissenschaft verstehende Jurisprudenz der Tatsachenwelt gegenübersteht, die durch Verfassungsnormen "grundgesetzlich" geregelt werden soll. Wenn die Eigenständigkeit oder der Eigenwert einer auf die Praxis bezogenen Jurisprudenz den zu normierenden Sachverhalt zwar erkennt, aber nicht zur Kenntnis nehmen will und über der sprachlichen Form den sachlich beabsichtigten Zweck bewußt eliminiert, dann kann allerdings kein Auslegungsverfahren die Unterminierung der rechtlichen Grundordnung verhindern. Mit dieser rein normativ ausgerichteten, um nicht zu sagen am Text klebenden rabulistischen Methode ist die Weimarer Verfassung zunächst im Volksbewußtsein erschüttert und alsdann aufgrund einer nach dem Verhältniswahlrecht demokratisch durchgeführten Reichstagswahl im "legalen" Umbruch mit Hilfe eines parlamentarisch "legal" vom Reichstag angenommenen Ermächtigungsgesetzes de facto zur Diktatur umgewandelt worden. Die Verfassungsjuristen müßten, solange es noch Zeit ist, anhand der Rechtstatsachen deutlich machen, daß das "Gewissen" im Sinne von Art. 4 Abs. 1 GG kein wertneutraler Begriff ist, dem man heute diesen und morgen jenen Inhalt geben kann, wenn er nur mit der dazu erforderlichen Propaganda "ins Bewußtsein" der Bevölkerung gehoben wird. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit bleibt nur solange "eine wertentscheidende Grundsatznorm ... höchstens verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung verlangt"4o, als neben der Schildfunktion zugunsten eines jeden Individuums bei Abwehr gegen staatliche Gewalten und Drittpersonen auch die in ihrer Wertbezogenheit enthaltene Schwertfunktion zur Erhaltung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingesetzt wird. Konkret: Wird der Gewissensbegriff - gleichgültig mit welcher Argumentation und Methode - im Sinne von Schischkin und Archangelski "umfunktioniert", so kann es keine Gewissensfreiheit mehr geben, weil - wie im 8D 40

Ebd. S. 722. BVerfGE 23,134 unter Hinweis auf BVerfGE 21, 371 ff.

H. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

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sowjetischen Einflußbereich - das Zusammenfallen von Wahrheit, Recht und Moral proklamiert wird, worauf schon Luhmann41 hingewiesen hat. 5. Rechtstatsachen Die hier wesentlichen Rechtstatsachen werden bei einer Rückbesinnung auf die Entstehung des Grundgesetzes sichtbar.

a) Das Vorverständnis des Verfassungsgebers Als der Parlamentarische Rat, diese von den elf Landtagen der westlichen Besatzungszonen Deutschlands gewählte Versammlung, am 1. 9. 1948 zur Beratung und Formulierung des Grundgesetzes zusammentrat, war das Vorverständnis seiner 65 Mitglieder, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch die Ausstrahlung dreier "Kraftfelder" bestimmt: Zum einen durch die auf christlicher Erziehung beruhenden und fest verankerten abendländischen Wertmaßstäbe, zum andem durch die Gefühle der Scham und Empörung über die miterlebten oder selbst erlittenen Greuel während der Zeit der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und ihrer jeder menschlichen Gesittung hohnsprechenden Praktiken bei der Planung und Durchsetzung politischer Ziele; und schließlich durch den entschlossenen Willen zur Abwehr einer politischen Entwicklung, wie sie, für jedermann sichtbar, in der sowjetischen Besatzungszone begonnen hatte, ein Abwehrwille, der in der Gründung einer Freien Universität Berlin am 4. 12. 1948 im amerikanischen Besatzungssektor der ehemaligen Reichshauptstadt zum Ausdruck gekommen war. Ernst Reuter betonte in seiner Eröffnungsrede: "Alles, was der Wahrheit und der Erforschung der Wahrheit dient, alles, was wir armen, kleinen und schwachen Menschen ... Wertvolles schaffen können, empfängt seinen Sinn von den höchsten sittlichen Gütern und von den Oberzeugungen, die wir übernommen haben aus dem Erbe der alten Kultur, die wir übernommen haben aus dem Erbe der christlichen Ideen, und die in dem einen Wort ,echte und wirkliche Humanitas' sich zusammenfassen lassen." Und der Gründungsrektor Friedrich Meinecke erklärte: "Das empfinden wir doch heute übermächtig, daß die segensreichste Tradition Deutschlands und des Abendlandes heute verteidigt werden muß gegen tödliche Gefahren: Die Idee der Freiheit und eng mit ihr verbunden die Idee der Persönlichkeit. Aus Freiheit und Persönlichkeit wächst nun auch wahre Wissenschaft und deren Lehre hervor. Was ist Freiheit? Was ist Persönlichkeit? - Freiheit im innersten Sinn ist die geistig-sittliche Selbstbestimmung durch die Stimme des Gewissens. Persönlichkeit ist Formung des eigenen Lebens durch Freiheit. Freiheit führt sofort zur 41

N. 14, S. 262 Anm. 12.

5. Rechtstatsachen

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Selbstbeschränkung, zur Selbstzucht - nicht etwa zur Selbstsucht. Selbstzucht - nicht Züchtung und Dressur durch fremde Gewalt nach einem Massenmodell autoritativer, totaler Prägung. Diese Ideen der Freiheit und Persönlichkeit sind, universalhistorisch gesehen, die Herzwurzeln der Ideen ,Europa' und ,christliches Abendland'. Um diese Ideen wird heute gekämpft in der Welt." Diese Rückbesinnung auf die vor dem nationalsozialistischen "Umbruch" für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung maßgebenden sittlichen Wertmaßstäbe und die Berücksichtigung der selbst durchlebten bitteren Erfahrungen mit einem Regime, das das Individuum verachtet und Menschenrechte nicht anerkannt hatte, prägten neben dem Abscheu vor der erneuten Etablierung einer durch Gewissenszwang sich auszeichnenden Diktatur nach sowjetischem Vorbild das bekennerhaft in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG zum Ausdruck gekommene Vorverständnis (den Vorstellungsinhalt) der überwiegenden Mehrzahl der Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Es ist also der Blick auf die Vergangenheit und die miterlebte Gegenwart gewesen, welcher sogar explizit das Vorverständnis der Mitglieder des Parlamentarischen Rates bei der Bestimmung des künftig maßgebenden Menschenbildes geleitet hat. Der Verfassungsgeber hat die Achtung und den Schutz der Menschenwürde als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt postuliert und durch Positivierung einzelner Grundrechte auch das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit als unmittelbar geltendes Recht mit Bindungsfolge für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung zur Verfassungsnorm erhoben. Hieraus darf die Folgerung gezogen werden, daß - in diesem sachlichen Zusammenhang betrachtet - der allgemeine Sprachgebrauch in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands zur Zeit der Beratung, Formulierung und Annahme des Grundgesetzes, d. h. in den Jahren 1948/49 mit dem Ausdruck "Gewissen" in Art. 4 GG die Bindung des menschlichen Individuums an die für das Miteinanderleben und überleben von Menschen in staatlichen und überstaatlichen Gemeinschaften unentbehrliche und unverzichtbare Sollensgebote und -verbote des Verhaltens bezeichnet hat, heteronome Sollensnormen, deren Kern seit Jahrtausenden überkommen war. Denn "stets ist das menschliche Wissen um das moralisch Gute oder Böse als Traditionserbe übergeben worden", wie Leszek Kolakowski42 formuliert. Allerdings ist das Traditionserbe gerade hinsichtlich des Gewissensbegriffs seit der Reformation nicht mehr einheitlich. Innerhalb der christlichen Bevölkerung Deutschlands herrschen konfessionell bedingte, unterschiedliche Auffassungen. Während nach katholischer Lehre das Gewissen sich nach unbedingten, ein für allemal von einer Autorität festgesetzten Normen eines Moralkodex richtet, wird für den evangeli42

Zweifel an der Methode, 1977, S. 30.

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H. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

sehen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage autonom wahrnehmbar und kann nicht an allgemeinen Maßstäben gemessen werden. Es ist eine im Innern des Menschen ursprünglich vorhandene überzeugung von Recht und Unrecht, was das Gewissen ausmacht. Die aus dem Gewissen abgeleiteten Verhaltensnormen, die zu einem zwingenden Gebot führen, bleiben in ihrer konkreten Gestalt auf die Besonderheit der Situation bezogen, in der eine bindende Entscheidung zu treffen ist. Diese Situationsgebundenheit veranlaßte, um nur ein Beispiel zu nennen, den Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) zu der Erklärung, das menschliche Gewissen sei für das Zusammenleben in der Gemeinschaft ein so hohes Gut, daß sowohl einem Mißbrauch als einer Verletzung der Gewissensfreiheit zu wehren sei. Damit wollte sich die EKD weder dem Verdacht aussetzen, leichtfertig über Gewissensbedenken von Wehrdienstverweigerern hinwegzugehen, noch aber keinen Respekt für die Gevvissensentscheidungen eines Soldaten zu zeigen, der den Dienst mit der Waffe für eine sittliche Pflicht hält. Die EKD tritt für den Schutz des Gewissens sowohl des Soldaten wie des Wehrdienstverweigerers ein, weil sie in ihrem eigenen Kreis keine Einigung darüber erzielen kann, eine dieser beiden Möglichkeiten für die einzig christlich gerechtfertigte Gewissensentscheidung zu halten. J. Stelzenberger43 berichtet, daß zwei bedeutsame Geistliche aus dem gleichen Orden sich aus dem Gewissen heraus einerseits für, andererseits gegen den Besitz von Atomwaffen ausgesprochen hätten. b) Sozialer Wandel

Der allgemeine Sprachgebrauch kann sich im Laufe der Zeit ändern. Es ist möglich, daß er sich während der seit der Annahme des Grundgesetzes verstrichenen 30 Jahre geändert hat. In der Bundesrepublik Deutschland ist eine neue Generation herangewachsen. Die durch erheblich andere oder jedenfalls wesentlich veränderte Faktoren im Sozialleben bestimmte und beeinflußte politische Atmosphäre hat bei Teilen der Bevölkerung ein neues, nuancenreiches Vorverständnis entstehen lassen, das den Begriff " Gewissen " in einem anderen Sinne versteht und beantwortet, als dies 1948/49 bei der damals politisch maßgebenden Generation der Fall gewesen ist. Wohl aus dieser Erkenntnis heraus hat das Bundesverfassungsgericht sich veranlaßt gesehen, für die Ermittlung dessen, was juristisch mit dem Ausdruck "Gewissen" in Art. 4 GG gemeint ist, nicht nur auf den Sinn des allgemeinen Sprachgebrauchs, sondern ausdrücklich zugleich auch auf den "Sinn des Grundgesetzes" Bezug zu nehmen und diesen Sinn wörtlich "als ein (wie immer begriindbares, jedenfalls aber real erfahrbares) seelisches Phänomen (be43

Das Gewissen, 1961, S. 68.

6. Die autonome sittliche Persönlichkeit

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stimmt), dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind". Da das Bundesverfassungsgericht sich nicht damit begnügt hat, abstrakt auf den Sinn des Grundgesetzes zu verweisen, sondern diesen Sinn konkret umschrieben hat, ist der Hinweis darauf, dieser Sinn könne aus der Entstehungsgeschichte "kaum einsichtig zu machen" sein4" nur insoweit berechtigt, als sich aus den Materialien kaum ein eindeutiger verfassungsrechtlicher Zweck herausfiltern läßt und ein und dasselbe Wort von hier aus mehrdeutig ist. Wenn man aber den Ausdruck in den durch die jeweilige Norm umschriebenen Sachzusammenhang unter Berücksichtigung der rechtlich relevanten sozialen Tatsachen stellt, wie ich dies oben anläßlich der Sinnbestimmung des "Abgeordnetengewissens" nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG getan habe, so ergibt diese Zusammenschau von allgemeinem Sprachgebrauch und spezieller Sachbeziehw1g den jeweils gemeinten Sinn. Gerade deshalb habe ich auf die deklarativen Bekenntnisse des Verfassungsgebers in den Bestimmungen von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 verwiesen, welche den zureichenden Grund für die darauf ruhenden verfassungsrechtlichen Normen in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG bilden und - auf die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit als Grundrecht bezogen - zu verdeutlichen suchen, was in Art. 4 GG unter dem Ausdruck "Gewissen" zu verstehen ist. Auch Leibholz / Rinck betonen ausdrücklich diesen logischen Zusammenhang: "Das GG sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgerichtig (Hervorhebung von mir) in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als ,unverletzlich' anerkannt45 ." 6. Die autonome sittliche Persönlichkeit Allerdings ist der B€griff "autonome sittliche Persönlichkeit" als Rechtsbegriff im Rahmen einer rationalen Argumentation nur faßbar und verwendbar, wenn das Gericht sich mit den theologischen und philosophischen Lehren gerade über den Begriff, den Ursprung und das Wesen des "Gewissens" auseinandersetzt; denn eine "dezidierte ,Standpunktnahme' für ein bestimmtes Menschenbild scheint provoziert und geboten zu sein durch die Aufgabe der Bewältigung der ,idealistischen' Vergangenheit der Gewissensproblematik"46. Wenn das Gewissen als "Mitte der persönlichen Existenz" verstanden wird, um den Gefahren 44 Ulrich Freihalter: Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, 1973, S.5L 45 Grundgesetz, 4. Auf!. 1971, Er!. 4 zu Art. 4. 46 Blühdorn (N. 4), S. 7; vgl. auch Klier (N. 4), S. 217.

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H. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

des Intellektualismus, des Subjektivismus, des Immanentismus und des Legalismus zu entgehen, "dann ist damit der Primat des Religiösen aufgerichtet"47. "Gewissen ist ohne einen Wert der individuellen Person nichts", erklärt Harald Eklund "ganz frank und frei", womit der Gewissensbegriff lImit einer Reihe in heutiger Theologie verdächtigter oder verhaßter Begriffe in Verbindung gesetzt (wird)"4B. Gerhard Ebeling führt aus, das Gewissen trete nur am Einzelnen in Funktion und nur der Einzelne als solcher könne sich darauf berufen; es sei geradezu principium individuationis49 • In derartigen Äußerungen steckt als Kern die Lehre Kants von der zweifachen Qualität des Menschen: als Persönlichkeit das ist als ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) ist er autor obligationis, als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist er subjectum obligationis50 • Die oben bereits angeführte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, als Gewissensentscheidung sei "jede ernstliche, sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln" könnte, ist nichts anderes als eine Umschreibung dessen, was Kant als das Bewußtsein eines unbedingten und apriorischen Sollens gekennzeichnet hat, das im Gegensatz zu allem bedingten, empirischen Sollen stehe und somit kategorisch und nicht nur hypothetisch gebiete bzw. fordere 51 • Mit anderen Worten: Die Bundesverfassungsrichter haben unter dem Hinweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch und den Sinn des Grundgesetzes eine auf Kant zurückführbare, aber seit rund 200 Jahren aus philosophischer, theologischer, weltanschaulicher, psychologischer, soziologischer und anthropologischer Sicht höchst umstrittene Auffas~ sung des Begriffs "Gewissen" ihrer Entscheidung zugrunde gelegt, jedoch gleichwohl eine Auseinandersetzung vor allem mit den einschlägigen theologischen und philosophischen Lehren für überflüssig gehalten52 • Ob die Mitglieder des Senats, welche die Eigenschaftswörter gut 41 Alfons Auer: Das Gewissen als Mittel der personalen Existenz, in Blühdorn (N. 4), S. 74 - 91. 48 N. 15, S. 124. 49 N. 16, S. 158. 50 Die Metaphysik der Sitten, 2. Teil, I § 3, ed. Cassirer VII, S. 228. 51 Vgl. hierzu Gerhard Funke: Gutes Gewissen, falsches Bewußtsein, richtende Vernunft, in Blühdorn (N. 4), S. 252 - 284 (256) und Walter Hamei: Die Gewissensfreiheit im Grundgesetz, in AöR 89 (1964), S. 326, 333. 52 Weil sie, wie Maunz / Dürig / Herzog (Nr. 124 zu Art. 4) bemerken "am Kern des verfassungsrechtlichen Problems vorbeigehen". Allerdings muß gegenüber der Bemerkung von Egon Schneider (NJW 1966, 1205), daß "das Gesetz nicht von Philosophen gemacht noch von ihnen angewandt" werde, darauf hingewiesen werden, daß theologische und philosophische Postulate sich zu politischen Forderungen verdichten können, die ihren Ausdruck in der Rechtslehre, in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung finden.

7. Die Kategorien "Gut" und "Böse"

49

und böse mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben und obendrein noch in Anführungsstriche gesetzt haben, sich der Zweideutigkeit des von Mephistopheles dem Schüler ins Stammbuch geschriebenen "Schlangenwortes": "Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum" bewußt waren, sei dahin gestellt. Jedenfalls haben sie aber die Kategorien "Gut" und "Böse", an denen sich jede ernstliche, sittliche Gewissensentscheidung zu orientieren habe, verabsolutiert und damit klargestellt, daß das Individuum sein Verhalten in Gesellchaft an heteronomen Sollensgeboten höchster Stufe zu orientieren hat. 7. Die Kategorien "Gut" und "Böse" Dabei ist offen geblieben, wie die Kategorien "Gut" und "Böse" voneinander abzugrenzen sind und worauf ihr Absolutheitsanspruch beruht, welcher in der Entscheidung vom 13. April 1978 ganz besonders gegen jede Relativierung hervorgehoben wird. Dieser Mangel an rationaler Begründung wird deutlich, wenn es um die rechtliche Beurteilung von Gewissensentscheidungen solcher Richter geht, die während der nationalsozialistischen Herrschaft Vorschriften angewandt haben, welche nach der damals maßgebenden Ordnung als Rechtsnormen in Kraft gesetzt waren, aber in heutiger Sicht nach Maßgabe des Grundgesetzes nicht rechtens sein können 53 • Das BundesverfassungsgerichtS4 bejahte die Möglichkeit, nationalsozialistischen Rechtsvorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, weil sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde; ob diese äußerste Grenze überschritten sei, könne nur von Fall zu Fall beurteilt werden. Mit anderen Worten: Die Kategorien "Gut" und "Böse", an denen sich der damalige Richter zu orientieren gehabt hätte, bestimmten sich nach der übereinstimmung mit den fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit bzw. dem evidenten Widerspruch dagegen, ohne daß auch hier seitens des Bundesverfassungsgerichts ersichtlich gemacht wurde, wo denn der zureichende Grund der Gerechtigkeit und ihrer fundamentalen Prinzipien zu suchen und zu finden sei. Daß insoweit ein erheblicher Mangel vorliegt, zeigt sich auch bei der Analyse des Richtereides, in welchem das Wort "Gewissen" seinen Sinngehalt nur aus dem Zusammenhang gewinnt, in den es der Gesetzgeber gestellt hat. Der Richter hat nicht nur nach "bestem Wissen", sondern "getreu dem Grundgesetz" und "getreu dem Gesetz", dem er trotz 53 Dasselbe gilt in den Fällen, in denen das richterliche Verhalten von Richtern in der DDR nach den Maßstäben und Grundwertentscheidungen der Bundesrepublik Deutschland beurteilt werden soll. 54 BVerfGE 3, 119; 6, 198; 23, 108; 28, 139, 197.

4 Hirsch

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Ir. Zur Definition des Gewissens seitens des BVerfG

seiner Unabhängigkeit gemäß Art. 22 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG "unterworfen" ist, "ohne Ansehung der Person" zu urteilen und "nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen". Was ist "Wahrheit", was "Gerechtigkeit"55? Welche "Autorität" bestimmt verbindlich die Maßstäbe, deren Richtigkeit und Verbindlichkeit für jedermann evident sind? Sobald man diese Fragen stellt, wird "evident", daß der Verfassungsgeber vom Vorstellungsinhalt seiner Mitglieder ausgegangen ist, aber auch die Mitglieder des Verfassungsgerichts dieses Vorverständnis ihren Entscheidungen zugrunde gelegt haben, indem sie zwecks Bestimmung dessen, was im Sinne von Art. 4 GG " Gewissen " zu bedeuten hat, ihre Zuflucht zum allgemeinen Sprachgebrauch und zum Sinn des Grundgesetzes genommen haben. Dies ist kein circulus vitiosus, sondern eine logisch notwendige Folge der Verfassungsnormen von Art. 20 Abs. 3, 93 und 97 Abs. 2 GG über die Bindung auch der Richter des Bundesverfassungsgerichts an Gesetz und Recht bzw. ihrer Unterwerfung unter das Gesetz. Wie ich in anderem Zusammenhang56 schon einmal deutlich zu machen suchte, sind sowohl die politischen Machtverhältnisse als auch die Grundwertvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft Änderungen und Wandlungen unterworfen. Soweit Grundwertvorstellungen in einer Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben und - wie in Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 1 GG - zum unmittelbar geltenden Recht geworden sind, dürfen und können Änderungen und Verschiebungen in den politischen Machtverhältnissen die Rechtsordnung nur innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens beeinflussen. Wird im politischen Meinungskampf die Behauptung aufgestellt, daß die der verfassungsmäßigen Ordnung immanenten Wertvorstellungen sich verschoben hätten, so bedarf der Klärung, ob diese Behauptung der sozialen Realität entspricht. Der verfassungsmäßig allein gangbare Weg zur Klärung dieser Frage ist die Einleitung und Durchführung eines Verfahrens der gesetz.gebenden Körperschaften zur Änderung des Grundgesetzes gemäß Art. 97 GG. Hierbei ist aber zu beachten, daß die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze über den Schutz der Menschenwürde nicht berührt werden dürfen. Aus diesen überlegungen folgt, daß die in die verfassungsmäßige Ordnung zur Zeit der Ausarbeitung und Inkraftsetzung des Verfassungstextes eingegangenen Grundvorstellungen einen retardierenden Einfluß auf die Rechtsentwicklung und Rechtsveränderung haben, weil die Verfestigung gewandelter Wertvorstellungen zu sozialen Realitäten einen solchen Grad erreicht haben muß, daß im 55 über das Maß und den Umfang dieser Bindung vgl. Ernst E. Hirsch: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, in AcP 175 (1975), S. 471 - 511 (496 mit FN. 45); über die Begriffe Wahrheit und Gerechtigkeit, ebd. S. 506 mit

FN. 66 - 68. 56 Ebd. S. 510.

7. Die Kategorien "Gut" und "Böse"

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Bundestag und im Bundesrat mindestens zwei Drittel der Stimmen einer entsprechenden Verfassungsänderung zustimmen. Diese Erschwerung verhindert, daß durch politische Emotionen oder Modeströmungen hervorgerufene und in der öffentlichen Meinung als "modern" hochgespielte Wertvorstellungen Anerkennung im Grundgesetz finden, bevor eine gewisse Zeitspanne abgelaufen ist, um festzustellen, ob es sich nur um eine vorübergehende Oszillation oder um eine sozial verfestigte Realität handelt. Insofern ist die Frage, ob das "Gewissen" im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem sinnentleerten "Wörtchen" geworden ist oder einem realen Etwas entspricht, nicht beantwortet, aber klargestellt, daß das sog. "abendländische Sittengesetz" die Grundlage des Vorstellungsinhalts der Mitglieder des Parlamentarischen Rates gebildet hat und auch heute noch der Bundesverfassungsrichter bildet.

Dritter Abschnitt

Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß eine rein logische, juristisch-normative Behandlung dessen, was im Grundgesetz und in der gesetzlichen Formel des Richtereides mit "Gewissen" bezeichnet wird, unter Berücksichtigung von theologischem, philosophischem und sonstigem geisteswissenschaftlichem Gedankengut nur dann zu einigen vorläufigen Ergebnissen führt, wenn Erkenntnisse aus dem Bereich der empirischen Sozialwissenschaften, insbesondere der Rechtstatsachenforschung und der Biosoziologie berücksichtigt werden.

1. "Bindung im Gewissen" Das Wort "Gewissen" im Richtereid bedeutet mehr als Gewissenhaftigkeit bei der Ausübung des Amtes, nämlich eine Bindung des Gewissens. Damit wird folgendes impliziert: Bei der Entscheidung einer Rechtssache hat der Richter, der nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen hat, in Erfüllung dieser Aufgabe nicht nur nach Gesetz und Recht, sondern - wie ausdrücklich bestimmt wird - getreu dem Grundgesetz tür die Bundesrepublik Deutschland, das ist getreu der vom und im Grundgesetz aufgerichteten und garantierten Wertordnung und nach den grundgesetzlich festgelegten Wertmaßstäben zu urteilen. Damit sind dem Richter die Kriterien für die Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe wie Wahrheit und Gerechtigkeit, Recht und Unrecht, d. h. für die Moralkategorien "Gut" und "Böse" verbindlich vorgeschrieben. Wer den Richtereid leistet, bindet sich in seinem Gewissen an ein heteronomes Wertsystem, das seinen Bezugspunkt in der sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde findet. Diese Kategorien werden üblicherweise auf die "abendländische" Ethik zurückgeführt, die in den religiösen und philosophischen Schriften aus dem griechisch-römischen und jüdischchristlichen Kulturbereich verfestigt ist, im Laufe von mehr als 2 000 Jahren auf den verschiedensten Wegen tradiert, stets kritisch belebt und erneuert, trotz Veränderungen im einzelnen in ihrer Grundsubstanz

2. Interdisziplinäre Wissenschaftsmethode

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unberührt auf uns gekommen ist. Diese Grundsubstanz der abendländischen Ethik wird als "Kernbereich" unserer Gesittung, ja sogar wegen ihrer "überpositiven" Quelle ("Dekalog", "Naturrecht") als Quintessenz der für jedermann unbedingt verbindlichen Sollensnormen des Verhaltens im sozialen Interaktionensystem qualifiziert. Aus dieser Prämisse wird ihre "Evidenz", ihre Erkennbarkeit für jedermann, der sein Gewissen anspannt, abgeleitet. Diese Erklärung hat zur Voraussetzung, daß ein Gebilde wie das "Gewissen" im menschlichen Organismus existiert, zur Aufnahme und Bewahrung derartiger existentieller Gebote und Verbote absoluten Sollens geeignet ist, bei Eintritt bestimmter Auslösemechanismen spontan in einem sog. "Gewissensruf" reagiert und dadurch das Verhalten des angerufenen Individuums innerhalb des menschlichen Interaktionensystems zu beeinflussen vermag. 2. Interdisziplinäre Wissenschaftsmethode Die vorstehend aufgeführten Voraussetzungen lassen sich nur unter Zuhilfenahme anderer Wissenschaftszweige, insbesondere der empirischen Psychologie und der biologisch ausgerichteten Verhaltensforschung (= "Humanethologie" als Lehre vom menschlichen Verhalten) erkennen und feststellen. Darauf hat bereits Hanack implizit mit der Bemerkung hingewiesen, die "Kernbereichslehre" entstamme philosophischem Denken, sei aber naturwissenschaftlich und psychologisch durch nichts erwiesen 1 . Wie aber, wenn sich mit Hilfe naturwissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse nachweisen oder jedenfalls glaubhaft erklären ließe, daß im menschlichen Organismus ein Gebilde vorhanden ist, das, mit bestimmten Vorstellungen von "richtigen" und "falschen" Verhaltensweisen versehen, bei Auslösung bestimmter Reize spontan wie ein Regelkreissystem funktioniert? Gewiß werden die meisten Juristen behaupten, daß derartige Gedanken oder gar wissenschaftliche Untersuchungen mit Jurisprudenz nichts zu tun haben. Klier bestätigt dies, wenn er feststellt, der psychoanalytische Gewissensbegriff werde in der Rechtsprechung überhaupt nicht, in der Theorie nur ganz selten beachtet, ja es werde sogar vor der Heranziehung der Psychoanalyse gewarnt!. Seit Jahrzehnten vertrete ich die Ansicht, man müsse von den Juristen verlangen, "die benachbarten Wissenschaftszweige als selbstverständliche und unentbehrliche Grundlage der Rechtsforschung anzuerkennen"3. Hoimar von Ditfurth 1 E.-W. Hanack: Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, JZ 1967, S. 297 ff., 329 ff. (336). 2 Gerhard Klier: Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 94.

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II!. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

spricht von der totalen Blindheit der Mehrzahl der Gebildeten unserer Gesellschaft, die glaubt, "sich unbeschadet einen Grad naturwissenschaftlicher Ahnungslosigkeit leisten zu können, dessen sie sich auf jedem anderen Wissensgebiet zutiefst schämen würde"4. Daß auf die Erkenntnisse der empirischen Psychologie kein Richter bei einschlägigen Fragen der Rechtserheblichkeit von Handlungen, Unterlassungen, Erklärungen, Gesten, der Zurechnungsfähigkeit und Urteilsfähigkeit, der Schuld oder des Verschuldens verzichten kann, dürfte einsichtig sein. Inwieweit allerdings die zeitgenössischen Theorien im Fachbereich Psychologie, also außer der bereits erwähnten Psychoanalyse: die kognitive Entwicklungstheorie, die Struktur- oder Ganzheitspsychologie für die Aufhellung rechtlicher Probleme bedeutsam sind, kann hier nicht untersucht werden. Verwiesen sei aber auf die von KlierS ausführlich dargestellten Möglichkeiten, von den genannten Theorien für die Klärung des Gewissensbegriffs Gebrauch zu machen. Daß zu den Nachbargebieten des Forschungsbereichs "Rechtswissenschaft" auch die Biologie, insbesondere die Verhaltensforschung gehört, folgt aus der überlegung, daß sich auf den Lehrmeinungen der Ethologie Hypothesen zur Rechtsentwicklung und zur Evolution des Rechtsverhaltens aufbauen und Anhaltspunkte für Untersuchungen der Effektivität des Rechts gewinnen lassen6 • Was damit gemeint ist, ergibt sich aus den Publikationen der Verhaltensforscher, deren einschlägige Forschungsergebnisse in extenso hier wiederzugeben zu weit führen würde. Ich begnüge mich mit der Zusammenstellung von Hauptgedanken, s0weit sie für das Phänomen "Gewissen" innerhalb des rechtlichen Bereichs deshalb bedeutsam sind, weil die zeitgenössische bundesdeutsche Rechtsordnung nicht nur die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit als Grundrecht anerkannt hat, sondern auch auf eine andere Ordnung, nämlich die Sittenordnung und damit auch auf rechtlich verbindliche Moralnormen verweist. 3 In diese Richtung Dieter Grimm (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 2 Bde., 1976. Es ist jedoch aufschlußreich, daß Anthropologie und Humanethologie ebensowenig wie Biologie zu den "Nachbarwissenschaften" gerechnet werden. Dazu mein Recht im sozialen Ordnungs gefüge, 1966,

S.87.

4 Hoimar von Ditfurth: Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution unseres Bewußtseins, 1976, S. 215. 5 N. 2, S. 35 - 132. 6 "Das bedeutet nicht, daß Rechtsgelehrte Tiere in der Wildbahn beobachten oder physiologische oder neurologische Experimente im Labor vornehmen müssen. Es bedeutet nur, daß sie ihre Ansichten über die Entstehung des Rechts nicht mehr ausschließlich auf philosophischer Deutung aufbauen oder daß sie ihre Untersuchungen über die Interaktion zwischen Recht und Verhalten nicht mehr ausschließlich auf Umweltfaktoren beschränken", so Margaret Gruter: Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft. 1976, S. 81.

3. Die Lehre vom biologischen Gewissen

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3. Die Lehre vom biologischen Gewissen In demselben Jahre 1927, in dem der Jurist Erik Wolf als Rechtsphilosoph apodiktisch erklärte: "Die Tatsache des menschlichen Gewissens ist theoretisch unableitbar und von historischen Bedingungen unberührt"7, veröffentlichte der Mediziner Constantin von Monakow als Neurologe und Hirnforscher unter dem Titel: "Die Syneidesis, das biologische Gewissen" eine AbhandlungB, in der er von der denkerisch notwendigen Annahme ausgeht (er spricht von einer "Forderung", um die wir angesichts der komplizierten Beziehungen zwischen Geschöpf und Umwelt nicht herumkämen) und behauptet, daß in jedem lebenden Protoplasma und demgemäß auch in dem "Riesenprotoplasma Mensch" eine Art psychischer, d. h. auf vitale Leistungen und Ziele eingestellter Kompaß untergebracht sein müsse, welcher unter Berücksichtigung und temporärer Betonung der generellen Ziele des Lebens bei jeder latenten oder manifesten Kollision zwischen Impulsen und Gefühlen den Aus-

schlag und Anstoß zur Verwirklichung der besonders für das persönliche Gedeihen im erlebten Moment optimalen physiologischen bzw. biologischen Akte gebe9 •

"Diesen Kompaß resp. dieses regulierende und den momentan passenden physiologischen ... Vorgang im Organismus schließlich erzwingende ,Etwas', das . . . unmittelbar nach Abschluß der physiologischbiologischen Prozesse im Gehirn das persönliche Bewußtsein nebst Kausalität erweckt"lO, nennt v. Monakow "Syneidesis"l1 oder das biolo7 Zitat nach Thomas Würtenberger: Vom rechtschaffenden Gewissen, in FS. Erik Wolf, 1962, S. 337 - 356 (337). 8 Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie XX, 1 (1927), S. 56 - 91. Eine z .T. wohl authentische Interpretation der in dieser Abhandlung geäußerten Gedanken findet sich passim bei Maria Waser: Begegnung am Abend. Ein Vermächtnis. 1934. 9 Ebd., S. 63. Bei Maria Waser (N. 8, S. 266) heißt es: "Die Syneidesis erweist sich als der rechte innere Kompaß: Auf allen Stufen des Unbewußten macht sie sich geltend, unter unendlichen Formen der Autoregulation, der Kompensation, der Wiedergutmachung; aber im Bewußtsein wird sie zu jener unbestechlichen inneren Stimme, die in den Lebenskonflikten des reifen Menschen den Ausschlag geben will." 10 Ebd. 11 Das altgriechische Wort Syneidesis wurde ins Lateinische als conscientia übersetzt, woraus sich französisch conscience und englisch conscience gebildet haben. Die deutsche übersetzung ist sowohl "Mit-Wissenschaft" = "Gewissen" als auch "Bewußtsein". Luther hat bei der übersetzung des Römerbriefs (Kap. 2, 14, 15) die zuerst bei Notker in St. Gallen um 1000 als Lehnübersetzung von lat. conscientia gebrauchte Form "Gewissen" gewählt. Rev. Text nach "Luthertestament 1975" (Stuttgart 1976): "Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun, was das Gesetz fordert, so sind sie, obwohl sie das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß in ihr Herz geschrieben ist, v/as das Gesetz fordert, da ja ihr Gewissen

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III. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

gische Gewissen. Es sei ein zunächst latent wirksames, im Bewußtsein vorerst noch nicht oder nur dämmernd und erst eine kurze Phase später sich klar spiegelndes Gebilde, das ähnlich wie andere physiologischbiologische Vorgänge seine eigenen morphologischen Werkstätten besitze und das erst, wenn es als fertiges Erzeugnis und bereits mit der angemessenen Kausalität ausgestattet werde, seine Ursprungsstätte verlasse. "In dieser Phase (Erlebnis) wird es nun in der bekannten Form des menschlichen Gewissens (im Original hervorgehoben) mit entsprechender Gefühlsbetonung präsent"12. Hinter dem bewußten, jedermann bekannten Gewissen stehe noch eine ganze, wenig erforschte Welt in der Sphäre des Biologischen und vollends des Physiologischen. Den SchlÜ&seI zum Verständnis der zwischen dem biologischen Gewissen bzw. zwischen "dem Gewissen und dem Gesamtorganismus waltenden Zusammenhänge findet man in der Organisation der Instinktwelt in Verbindung mit verschiedenen Kausalitätsformen, die zur Bildung von festeren, nach Zwecken geordneten psychischen Werten führen". In diesem Zusammenhang weist v. Monakow auf die Macht der Suggestion in allen ihren Formen hin (verbale und visuelle Lockung, Befehl, vor allem Versuchung durch dem Individuum geistig oder in der Lebensstellung überlegene). "Die individuelle Syneidesis (d. h. das biologische Gewissen) ist jedenfalls außerordentlich abhängig von der momentanen psychischen Verfassung der menschlichen Kollektivität resp. der Umgebung (Sitte, augenblickliche Mentalität des Milieus), aber auch umgekehrt; doch ist da auf beiden Seiten ein in der latenten Psyche verankertes Streben nach Ausgleich ... und schließlich eine Abkehr von den eingeschlagenen Irrwegen der Gesittung unbestreitbar"13. Das biologische Gewissen sei in jedem lebenden Organismus "in der ganzen Tierreihe" gesetzmäßig und tief eingepflanzt, auch wenn es in seiner Auswirkung je nach phylogenetischer Entwicklungsstufe, Alter, Verhältnisse zur Umwelt, Lebensbedingungen usw. von Geschöpf zu Geschöpf sowohl hinsichtlich Inhalt, Intensität, Ablaufweise, terminaler Wirkung (kausaler Verarbeitung) außerordentlich verschieden sich gestalte und zur Auswirkung komme. Ein Gewissen, ein eventuell nur kurz andauerndes Auftauchen des menschlichen Gewissens sei stets vorhanden. "Die Stimme des Gewissens muß angehört werden, auch wenn das Individuum sie durch sein Veto momentan ignorieren resp. hemmen kann14." es bezeugt, dazu auch die Gedanken, die einander anklagen oder auch entschuldigen. " I!

N. 8, S. 65.

In den Gesprächen mit Maria Waser (N. 8) qualifiziert von Monakow die Syneidesis als den "inneren Freund", den "inneren Führer", die "innere Stimme" (S. 310), den "inneren Richter" (S.359). 13 Ebd., S. 73. U Ebd., S. 74.

4. Das Steuerungssystem des sittlichen Bewußtseins

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4. Das Steuerungssystem des sittlichen Bewußtseins Ohne die wissenschaftliche Lehre v. Monakow's über die Genese vom biologischen zum menschlichen Gewissen unter psychologischem Gesichtswinkel beurteilen zu wollen - wozu mir die Kompetenz fehlt -, lassen sich den vorstehend nur stichwortartig zusammengestellten Ausführungen folgende für unsere juristische Untersuchung wesentlichen Punkte entnehmen: a) Die Funktion des RezeptOTs

Wie bereits in Fußnote 11 erwähnt, haben in der deutschen Sprache die Worte "Gewissen" und "Bewußtsein" dieselbe Herkunft aus dem lateinischen Wort "conscientia", das im französischen und englischen als "conscience" fortlebt und beide Bedeutungen hat. Da "Bewußtsein" einen Schlüsselbegriff für den Wissenscbaftszweig Psychologie bildet, ist es verständlich und naheliegend, daß die körperliche, materielle Grundlage psychischer Erlebnisse und geistiger Aktivitäten nicht übersehen wird und biologische und medizinische Erkenntnisse und Gesichtspunkte zu ihrem Recht kommen. Das "Gewissen" als einer der Schlüsselbegriffe der Ethik dagegen wird, obwohl es oft als "sittliches" Bewußtsein bezeichnet wird, als Objekt der Geisteswissenschaften betrachtet und in der Regel als theologischer oder normativer Begriff interpretiert. Diesem üblichen Sinn des Ausdrucks "Gewissen" als das Mit-wissen von dem, was gut und böse, Recht und Unrecht ist, oder als subjektives persönliches Bewußtsein vom sittlichen Wert oder Unwert des eigenen Verhaltens stellt von Monakow das "biologische" Gewissen gegenüber. Er will damit deutlich machen, daß auch derjenige Teil des Bewußtseins, der sich auf die Wertung des menschlichen Verhaltens bezieht und deshalb "sittliches" Bewußtsein genannt wird, ebenso wie andere Bewußtseinsinhalte wie z. B. "Gedächtnis" oder "Sprachvermögen", auf physiologisch-biologische Prozesse zurückgeführt werden muß, damit im Gehirn "das persönliche Bewußtsein nebst Kausalität erweckt wird". Diese Formulierung, die v. Monakow selbst im Druck hervorhebt, ist nur eine Bestätigung seiner Auffassung, daß es ein Unding ist, das Psychische vom Physischen im lebenden Protoplasma begrifflich zu trennen und besagt nicht, wie Dolf Sternberger meint, daß der Autor den Einfall hatte, "das Gewissen in die Natur zu verankern, dem rein natürlichen Leben, der biologischen Natur des Menschen ein Gewissen zuzuschreiben15 ". Dies ist ein großes Mißverständnis dessen, was v. Monakow 15 Dolf Sternberger: Rede über das Gewissen, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.7.1978, Nr. 143, Beilage "Bilder und Zeiten". Mit "Reduktionismus" hat die Auffassung von Monakows nichts zu tun. D. h. jener Theorie, daß sich Strukturen und Verhaltenswesien eines Organismus' durch elementare physikalische Prozesse erklären oder auf diese reduzieren ließen (vgl. Arthur Koestler, Der Mensch - Irrläufer der Evolution, 1978, S. 39). Gewiß,

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IH. Das Gewissen in biologischer und human ethologischer Sicht

ausdrucken wollte und zum Ausdruck gebracht hat: Das Nervensystem koordiniert als morphologische und funktionelle Einheit die Körpertätigkeit. Es nimmt aus der Umwelt und aus dem Körper Reize auf, wandelt sie in nervöse Erregungen um, die zu den zentralen Schaltstellen geleitet, dort verarbeitet und durch Aussenden von Impulsen an die Körperorgane beantwortet werden. Der "Gewissensruf" hat also, ähnlich wie andere physiologisch-biologische Vorgänge, seine eigene morphologische Werk- oder Ursprungsstätte, bevor er ins Bewußtsein eintritt und seine Funktion erfüllen kann. Diese im Gehirn lokalisierte "Werkstätte" beherbergt den "Kompaß" für das als Steuerungssystem zuständige Gebilde "Gewissen". Verbindet man "Werkstätte", "Kompaß", "Steuerungssystem" - Ausdrucke, die v. Monakow gebraucht hat - zu einem Regelkreis, so gelangt man zu folgender Vorstellung: Es ist ein "Rezeptor" vorhanden, der bestimmte Reize aufnimmt und in Erregungen verwandelt; diese werden über bestimmte Nervenbahnen zu dem "zuständigen" Kompaß geleitet und dort mit einem "Sollwert" verglichen. Entsprechen sie diesem, so bleibt das Gewissen latent, entsprechen sie ihm nicht, so ergeht der "Gewissensruf". Voraussetzung für das Funktionieren dieses Regelkreismechanismus ist nicht nur das Vorhandensein eines Rezeptors, sondern dessen Einstellung auf ganz bestimmte Reize. Denn der Ruf des Gewissens mahnt nur den, der anläßlich einer im zwischenmenschlichen Interaktionensystem an ihn gerichteten Herausforderung sich dem für ihn evidenten Gebot absoluten Sollens ausgesetzt fühlt, dieser aktuellen Herausforderung nicht zu entsprechen. Einige Beispiele mögen diese Situation verdeutlichen: Es gibt gedungene Mörder, aber nur solche Menschen lassen sich zum Mörder dingen, deren Rezeptor auf den Reiz: "Ich soll etwas tun, was ich unter gar keinen Umständen tun darf", nicht eingestellt ist. Das Gewissen reagiert nur auf Aktionen, die im Sozialleben als unbedingt verwerflich gebrandmarkt sind, solange dieses Stigma währt und nicht durch sozialen Druck irgendwelcher Art neutralisiert worden ist. Wer sich "klamm-heimlich" über den Mord an einem Generalbundesanwalt freut, läßt sein Rachegefühl oder seinen fanatisch angeheizten Aggressionsalle Lebensvorgänge sind chemisch-physikalische Vorgänge, aber außerdem und gerade bezüglich dessen, was für sie eigenartig und konstitutiv ist, sind sie etwas ganz anderes und weit Komplexeres als all das, was man sich gemeinhin unter chemisch-physikalischem Geschehen vorstellt" (Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978, S. 327); dementsprechend heißt es auf S. 248: "Die organischen Vorgänge komplexer neurophysiologischer Art, in denen das Erleben in einer uns unbegreiflichen Weise aufleuchtet, fahren fort, organische Prozesse zu sein und den Gesetzen der Physiologie zu gehorchen. Der Mensch, dem sein begriffliches Denken und seine Wortsprache neue Bereiche geistigen Seins erschließt, hört nicht auf, Seins- und Geschehensprinzipien zu verkörpern, die allem organischen Leben gemeinsam sind."

4. Das Steuerungssystem des sittlichen Bewußtseins

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trieb über sein Gewissen triumphieren. Wer aber dieser Freude öffentlich Ausdruck verleiht, offenbart damit, daß sein Rezeptor auf den Reiz "Mord" nicht mehr so reagiert, wie es bei einem Mitglied eines jeden wie auch immer geordneten Gesellschaftsintegrats vorausgesetzt wird. Wer Mord öffentlich billigt, äußert nicht nur eine Meinung, sondern läßt damit erkennen, daß sein Gewissen auf diesen "Reiz" nicht mehr eingestellt ist. Daß eine derartige "Blockierung" des "Rezeptors" auch nicht durch die freieste Auslegung des Grundgesetzes gedeckt ist, sollte die Rückbesinnung auf die unverzichtbaren Mindestvoraussetzungen für das Sozialleben eines jeden auch noch so primitiven Gesellschaftsintegrats lehren. Selbst die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung, d. h. zu den in ihr zum Ausdruck kommenden und für die Rechtsgemeinschaft unverzichtbaren Grundwerten für menschliches Sozialleben. Alle diejenigen, die sich mit der sittlichen Verkommenheit irregeleiteter Menschen (Terrorist) solidarisiert haben oder mit ihnen aus politischen Aspirationen oder ideologischem Fanatismus sympathisieren, offenbaren durch dieses Verhalten, daß sie sich nicht mehr zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und nicht mehr für deren Erhaltung eintreten. Keine noch so fein gesponnene clausula salvatoria kann hieran etwas ändern. Wer den heimtückischen Mord an einem Richter, Staatsanwalt oder einem sonstigen Beamten auch nur "klamm-heimlich" billigt, erklärt sich selbst zum intellektuellen Spießgesellen des Mörders und stellt sich damit außerhalb einer Rechtsgemeinschaft, die angesichts der in der menschlichen Psyche verankerten sozialen Hemmungen und auf der Grundlage des Toleranzprinzips den Mord am Mitmenschen absolut verwirft, d. h. davon ausgeht, daß bei jedem Menschen der "Rezeptor" entsprechend eingestellt ist. Früher galt universell der Rechtssatz: "ä. corsaire, corsaire et demi"

= "auf einen Schelmen anderthalbe". Dieser Satz hat auch noch (oder

wieder) seinen guten Sinn: Jedes rechtlich organisierte Gesellschaftsintegrat erhebt für seine Rechtsordnung den Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, weil nur unter dieser Bedingung der Rechtsfriede gewahrt und jedermanns Dasein rechtlich garantiert werden kann. Nichtsdestoweniger gehören Rechtsbrüche zum Erfahrungsschatz der Menschheit. Deshalb werden seit den ältesten uns bekannten Zeiten und bei den primitivsten Gesellschaften für den Fall von Rechtsbrüchen Sanktionen vorgesehen, welche als übel den wirklichen Rechtsbrecher treffen und den potentiellen Rechtsbrecher abschrecken sollen. Die Prinzipien "nullum crimen, nulla poena sine lege" und "in dubio pro reo" dienen ebenso wie die Garantie des gesetzlichen Richters dem Schutz eines jeden vor Willkür. Dagegen ist der als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips mit Verfassungsrang qualifizierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwi-

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II!. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

sehen der Höhe der angedrohten bzw. verhängten Strafe zur Schwere des Rechtsbruchs und der Schuld des Täters das zum Rechtssatz umgemünzte ethische Gerechtigkeitsgebot. Die Piraterie konnte nur bekämpft werden, wenn der ergriffene Pirat mit "kurzem Prozeß" und mit "drakonischen" Strafen rechnen mußte. Durch sein Verhalten hatte er sich außerhalb einer jeden Rechtsordnung gestellt, so daß der Satz: "a corsaire, corsaire et demi", der jede "humane" Komponente vermissen läßt und den Rechtsschutz des Täters auf ein Minimum beschränkt, den Gerechtigkeitsvorstellungen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den Zeiten und in den räumlichen Bereichen der Seeräuberei und des Piratenturns entsprach. In den Strafprozessen gegen die zeitgenössischen Terroristen berufen sich einige als Verteidiger auftretende Rechtsanwälte darauf, daß ihre Mandanten als Kombattanten in einem Krieg zu qualifizieren seien und ihre Taten deshalb nicht vor den ordentlichen Strafgerichten abgeurteilt werden dürften. Allerdings "übersehen" diese als Organe der Rechtspflege (§ 1 BRAGO) fungierenden Rechtsanwälte, daß auch die Kriegsführung international "verrechtlicht" ist und daß sowohl nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 in Verbindung mit dem Haager Abkommen von 1949 als auch nach dem Genfer Abkommen von 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen Mi!glieder von organisierten Widerstandsgruppen den für Kombattanten geltenden Schutz des Kriegsrechts nur dann in Anspruch nehmen können, wenn sie einen verantwortlichen Führer haben, ein bestimmtes aus der Ferne erkennbares Abzeichen tragen, die Waffen offen führen und die Gesetze und Gebräuche des Krieges beachten. Wer im Krieg unter Nichtbeachtung dieser Rechtsnormen Menschen tötet, Gebäude sprengt, Geiseln nimmt, stellt sich außerhalb des in den angeführten internationalen Abkommen zugunsten der Kombattanten und Partisanen getroffenen rechtlichen Schutznormen und ist ein gemeiner Verbrecher, der zwar human zu behandeln und vor einem Gericht abzuurteilen ist, aber kein Kombattant, der seine Taten als rechtmäßige Kriegshandlungen zu tarnen versucht. Diese Fälle zeigen, daß auch bei jenen "Organen der Rechtspflege" der vorausgesetzte Rezeptor auf den Reiz "Mord" nicht mehr reagiert.

b) Der Mensch als Instinkt-Reduktionswesen Die Reize, die der Rezeptor aufzunehmen, in Erregungen zu verwandeln und auf bestimmten Nervenbahnen an den Kompaß weiterzuleiten hat, sind "in der Instinktwelt in Verbindung mit verschiedenen Kausalitätsformen zu suchen, die zur Bildung von festeren, nach Zwecken geordneten psychischen Werten führen 16 ". Hierbei ist - wie die An16

N. 8, S. 72.

4. Das Steuerungs system des sittlichen Bewußtseins

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thropologie und die Humanethologie nachgewiesen haben - zu bedenken, daß es die im Vergleich zum Tier nicht voll ausspezialisierte morphologische Struktur, wie insbesondere im Bereich der Instinkte das Fehlen angeborener Verhaltensweisen sind, die die Sonderstellung des Menschen begründen, ihn "freigeben" zu einer die "Natur" übersteigenden Entwicklung!7. Konrad Lorenz kennzeichnet deshalb den Menschen sowohl als "Instinkt-Reduktionswesen"!8, wie auch an anderer Stelle!9 als "Spezialist auf Nicht-Spezialisiertsein", womit er deutlich machen will, daß in dieser Ausgangslage das "Offensein" des Menschen gründet, zugleich aber auch der Zwang, die von der Natur nicht mitgegebenen automatischen Regulationsmechanismen und zwischenmenschlichen Verhaltensregeln durch "Lernen" zu erwerben ("Internalisation" = Verinnerlichung). Aus dieser Klärung folgt: Die von den Milieutheoretikern und Behavioristen unter den Pädagogen, Psychologen und Soziologen verbreitete Annahme, der Mensch komme sozusagen als "tabula rasa" zur Welt und müsse erst durch seine Umwelt und durch besondere Lernprozesse die für ihn typischen Verhaltensweisen und insbesondere seine ethischen Normen erwerben, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu20 • Auch ist die Vorstellung, wonach Elemente des Verhaltens entweder angebo.ren oder erlernt sind, wobei das eine das andere ausschließe, nicht richtig. Die einseitige "Ansicht, der Mensch würde nur durch Lernen pro.grammiert, ist falsch, ebenso falsch, als würde einer behaupten, der Mensch sei zur Gänze vorprogrammiert2 !". Angeborene und erworbene 17 Wolfgang Loch: Biologische und gesellschaftliche Faktoren der Gewissensbildung, in: Wege zum Menschen XIV (1962), S. 346 - 361 (347) unter Bezugnahme auf Gehlen und A. Portmann. Gehlen charakterisiert den Menschen als ein Kulturwesen von Natur aus, was Konrad Lorenz (über tierisches und menschliches Verhalten, Bd. 2, 1965, S. 176) als eine kühne, aber vom Standpunkt der vergleichenden Verhaltensforschung in mehr als einer Hinsicht überzeugende, richtige Konzeption nennt. In diesem Zusammenhang spricht Lorenz auch von der "Weltoffenheit" des Menschen, weil - wie er es an anderer Stelle (Rückseite des Spiegels" S. 251) formuliert - die natürliche und erbliche Veranlagung des Menschen so beschaffen ist, daß viele ihrer Strukturen der kulturellen Tradition bedürfen, um funktionsfähig zu werden, während sie ihrerseits aber Tradition und Kultur überhaupt erst möglich machen. Auch Portmann weist darauf hin, daß alles höhere Tierleben sozial angelegt sei, daß aber bei vergleichender Verhaltensforschung der menschliche Sonderfall dieser Anlagen "die eigenartige Offenheit der Anlagen unseres Verhaltens als das Bezeichnende, das Humane" erweise. 18 Die Ausdrücke "Instinkt" und "instinktiv" haben in diesem Zusammenhang eine bestimmte Bedeutung: Instinkte sind angeborene Erfahrungen, d. h. Erfahrungen, die nicht das Individuum gemacht hat, dem sie zugute kommen, sondern die Species, der es angehört (sog. angeborene oder ererbte Verhaltensprogramme). Instinkt bedeutet stets die Auslösung eines solchen Programms durch spezifische Auslöser einschließlich aller anderen, mit diesem automatischen Vorgang verbundenen Kriterien (v. Ditfurth, N. 4, S. 338 Rdnr. 45). 19 Studium Generale 1950, S. 481. 20 Konrad Lorenz: Rückseite des Spiegels, 1973, S. 96.

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III. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

Erfahrung schließen einander keineswegs aus. Vielmehr kommt es zu einer Verschränkung, weil angeborene Fähigkeiten zu ihrer Verwirklichung auf Lernprozesse angewiesen sind. Wenn das Verhalten Elemente enthält, die durch Erfahrung erworben wurden, so wurden sie nach einem Programm erworben, das seinerseits angeboren, d. h. genetisch festgelegt ist. Das Lernen wird durch die Struktur des Programms hervorgerufen und gelenkt; damit wird der Lerninhalt in eine feststehende Form eingebracht, die durch das Erbgut der Art festgelegt ist22 • Der Mensch ist für verschiedene Verhaltensweisen "vorprogrammiert". Er wird nicht ausschließlich durch die "Konditionierung" beeinflußt, der er im Laufe seiner Ontogenese durch seine jeweilige kulturelle Umwelt unterliegt; vielmehr wird sein soziales und moralisches Verhalten vor allem durch die stammesgeschichtlich evolvierte Organisation seines Nervensystems und seiner Sinnesorgane mitbestimmt23 • Das heißt aber nicht, daß er sich auf bestimmte Weise verhalten muß; er kann unter der Einwirkung der verschiedensten Beeinflussungsmittel dazu gebracht werden, sich anders zu verhalten; denn der Mensch ist, universell betrachtet, ein biologisches, unter dem Gesichtswinkel des Gesellschaftsintegrats, in dem er lebt oder zu leben gezwungen ist, ein soziales Lebewesen. Man muß deshalb zwischen biologischen, d. h. ererbten, vorgegebenen, angeborenen Formen und Normen des Verhaltens und kulturellen, d. h. dem Menschen im Wege der Internalisierung sozialer 21 Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, 1976, S. 271. Auch Friedrich Kümmel: Zum Problem des Gewissens, in Blühdorn: Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 441 - 460 (445) spricht von der Offenheit der menschlichen Anlagen, die von der Umwelt geweckt werden müssen und in der besonderen Weise ihrer Ausrichtung und Ausbildung von ihr mitbedingt werden. 22 Monod: Zufall und Notwendigkeit, 3. Aufl. 1971, S. 186 f. unter Berufung auf Lorenz. Vgl. auch Dietrich Rüdiger: Der Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung, in Blühdorn (N. 21), S. 461 - 487 (468): "Das Gewissen ist einerseits Anlage mit der allen Menschen angeborenen ,rationaltransitiven Einstellung der Strebungen' sowie der Fähigkeit zum Innewerden von Erfahrungen, Werteriebnissen und Geboten; es ist andererseits Disposition im Werden und als solche primär abhängig von den Lebens-, Liebes- und Haltungsordnungen und -forderungen der umgebenden Mitwelt, sekundär abhängig auch von persönlichen Ordnungskonfiikten und Schulderlebnissen sowie einem individuell verfügbaren Wertwissen". 23 Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 6. Auf!. 1973, S. 109; Die Rückseite des Spiegels, S. 31 f. Klier (N. 2, S. 140) geht zwar von einer Anlage zur Entwicklung der Gewissensstruktur und -funktion aus, betont aber, daß die individuelle Ausgestaltung erst im Zuge des Internalisierungsprozesses und damit in Abhängigkeit von der sozialen Umwelt erfolge. Insoweit erweise sich die These, es gäbe dem Gewissen vorgegebene Inhalte, als nicht haltbar. Rüdiger (N. 22, S. 464) betont, Gewissen als "Anlage" sei zunächst nur potentiell zu verstehen. Es sei nicht von allem Anfang an im Menschen als Anlage fertig vorhanden, sondern differenziere sich erst aus, und zwar in dem Maße, in dem es sich selbst als Aufgaben- und Regulationsinstanz zur Persönlichkeitsentfaltung ihres Trägers zur Auswirkung zu bringen vermöge.

4. Das Steuerungs system des sittlichen Bewußtseins

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Werte und Nonnen zugewachsenen, anerzogenen oder durch eigene Erfahrungen erworbenen Fonnen und Normen des Verhaltens unterscheiden. "Der vernunftbegründeten Moral Kants, die der freien Verantwortlichkeit für die Folgen des HandeIns entspringt, wird damit eine biologisch begründete Ethik zur Seite gestellt ... Vieles, was wir für Leistungen vernunftmäßig verantwortlicher Moral halten, dürfte auf angeborene Aktions- und Reaktionsnonnen aufgebaut sein 24." c) Der "Sollwert" des "Kompasses" Gelangen die vom Rezeptor aufgenommenen und vorstehend näher bestimmten "Reize" zu dem als Regler zuständigen Kompaß, so ist zu fragen, in welcher Weise der "Sollwert" dieses Reglers eingestellt ist. Anders ausgedruckt: Unter welchen Voraussetzungen wird das latente Gewissen virulent und läßt seinen "Ruf" ergehen? Wenn, wie gezeigt, das menschliche Verhalten Elemente enthält, die entweder angeboren oder durch Lernen erworben, aber miteinander verschränkt sind, so muß der "Sollwert" des Kompasses, d. h. des biologischen Gewissens im Sinne v. Monakows, so eingestellt sein, daß das sittliche (persönliche) Bewußtsein des Menschen nur dann durch einen Gewissensruf "erweckt" wird, wenn zumindest gegen angeborene Elemente des Verhaltens verstoßen wurde oder werden soll, es sei denn, daß - wie bereits angedeutet - der Mensch unter der Einwirkung der verschiedensten Beeinflussungsmittel dazu gebracht wurde, daß auch die angeborenen Verhaltensweisen und Unterscheidungskriterien von Gut und Böse, Recht und Unrecht, verformt oder völlig eingeschläfert worden sind25 • d) Das Zwischenhirn

Die Unterscheidung zwischen angeborenen und durch Lernen (Internalisierung) erworbenen Nonnen und Formen des Verhaltens wird dadurch ennöglicht, daß die angeborenen Verhaltensprogramme im Gegensatz zu den erlernten Verhaltensfonnen und -nonnen an einer ganz bestimmten Stelle des Gehirns lokalisiert sind. Die Verhaltensforscher sind - in der Fonnulierung von Ditfurth - zu folgenden wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangt: "Die Stufe für Stufe abgelaufene Evolution hatte zur Folge, daß heute alle Verbindungen zwischen dem Großhirn und der Außenwelt durch die älteren Gebiete, durch das Zwi24 Eibl-Eibesfeldt (N. 21, S. 63); Lorenz (Die Rückseite des Spiegels, S. 241) schreibt wörtlich: "Wenn wir wissen, daß gewisse Bewegungsweisen und gewisse Normen des sozialen Verhaltens allgemein menschlich sind, d. h. daß sie sich bei allen Menschen aller Kulturen in genau gleicher Form nachweisen lassen, so dürfen wir mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie phylogenetisch programmiert und erblich festgelegt sind." 25 Vgl. darüber unten Ziff. 7.

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IH. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

schenhirn und den Hirnstamm laufen. Stirnhirn und übrige Hirnrinde mögen noch so hoch entwickelt und vervollkommnet sein. Sie haben keinen direkten Zugang zur Außenwelt. Jede Information, die bei ihnen eintrifft, hat vorher das Zwischenhirn mit seinen eigenen, archaischen Gesetzen gehorchenden Zentren passieren müssen. Zwischen die Welt und die Großhirnrinde haben die Götter das Zwischenhirn gesetzt ... (Es ist) unmöglich, menschliches Verhalten zu verstehen, wenn man diesen entscheidenden Zusammenhang nicht durchschaut und seine Konsequenzen durchdacht hat26 ." Während im Großhirn keine "Programme" und keine "Erfahrungen apriori", sondern nur durch Wahrnehmung und Gedächtnis aposteriori adaptierte Verhaltensschemata angetroffen werden können, sind die im Zwischhirn gespeicherten Programme mit ihren archaischen Gesetzen noch immer wirksam. Die - unter dem Gesichtspunkt der Evolution betrachtet - archaischen Teile des menschlichen Gehirns, insbesondere das Zwischenhirn mit seinen angeborenen Verhaltensprogrammen, sind zwar hinsichtlich des Inhalts und Umfangs der Programme erstarrt, aber deshalb nicht abgestorben. Das im Zwischenhirn lokalisierte biologische Gewissen wirkt als "Auslöser" in dem Steuerungs- oder Reglersystem des im Großhirn lokalisierten und die Grundlage des menschlichen Verhaltens bildenden unvorstellbar komplizierten Netzwerks der Nervenzellen, sobald ein Verhalten vom "Sollwert" des angeborenen Verhaltensmodells abweicht. "Auch das Großhirn ist nicht souverän 27 ". Mit anderen Worten: "Trotz ihres Umfangs und ihrer biologischen ,Neuheit' steht die Großhirnrinde öfter im Dienste des instinktiven Gehirns, als daß sie den Instinkt beherrscht28."

5. Ethologie und Ethik Das Gewissen, als sittliches Bewußtsein bezeichnet und damit im Hirn sowohl lokalisiert als auch wie andere Gehirnzentren für bestimmte Funktionen verantwortlich, bildet die biologische Grundlage menschlichen Verhaltens in Gesellschaft. Ethologie als Verhaltenslehre und Ethik als Sittenlehre haben nicht nur den aus der griechischen Wortwurzel (ethos im Sinne von Gewohnheit, Brauch, gewohnte Denkund Handlungsweise, sittliche Beschaffenheit, Sittlichkeit) stammenden 26 N. 4, S. 254. Hinsichtlich der Lokalisierungsfrage geistiger und seelischer Vorgänge in der Großhirnrinde, die Abhängigkeit der Gehirnteile untereinander, die engen Wechselbeziehungen zwischen Hirnstamm und Hirnrinde vgl. auch die Ausführungen bei Maria Was er (N. 8) S. 145, 152, 171 f., 200, 218 ff. über die entsprechenden Vorstellungen v. Monakows. 27 Ebd., S. 156, 266 f. 28 Raymond Ruyer: Jenseits der Erkenntnis, 1977, S. 202. "Wenn der Hypothalamus brüllt, schweigt der Cortex, bei jedem Instinkt" (Konrad Lorenz

[N. 15, S. 312]).

5. Ethologie und Ethik

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Wortkern miteinander gemein, sondern auch den Gegenstand mit der Besonderheit, daß die Ethologie die üblichen Verhaltensweisen biologisch erforscht und beschreibt, während die Ethik als praktische Philosophie sie bewertet. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Loch beachtlich, daß Gewohnheit und Habitus (der eine zur Haltung erstarrte Gewohnheit ist) für den Menschen und seine Verhaltensweise von "immenser" Bedeutung sind. "Sie sind unbefragte Fundamentalsteuerungen für unser gesamtes Verhalten 29 ." Loch verweist dieserhalb auf Blaise Pascal, der das gesehen und in seiner unerreicht radikalen Sprache sowohl für die moralischen Werte als erstaunlicherweise auch für die Kategorien des Verstandes und der Anschauung formuliert habe: "Die Gewohnheit ist unsere Natur, wer sich an den Glauben gewöhnt, der glaubt ihm und ist nicht mehr imstande, die Hölle nicht zu fürchten ... ", und ebenso: "Die Gewohnheit schafft die Gerechtigkeit, und zwar allein darum, weil sie allgemein anerkannt wird: das ist die mythische Grundlage ihrer Autorität." Bezeichnet man die biologisch festgestellten und beschriebenen üblichen Verhaltensweisen als Regel oder Norm, so ist damit nur ihre Faktizität, ihre "Regelhaftigkeit" ausgesprochen, aber nichts über ihre Wirkung im zwischenmenschlichen Zusammenleben im Hinblick auf das überleben eines konkreten Gesellschaftsintegrats und seiner Mitglieder ausgesagt, d. h. darüber, ob die übliche (regelhafte) Verhaltensweise erwünschte oder unerwünschte Wirkungen für das Sozialleben zeitigt. Die Antwort auf eine derartige Frage setzt eine Bewertung und diese ihrerseits Wertmaßstäbe voraus. Diese werden bald aufgrund der Auswertung der im Sozi alle ben gemachten praktischen Erfahrungen und der daraus gezogenen Erkenntnisse, bald durch Zielvorstellungen, welche den Ablauf und die Wirkungen des Soziallebens verändern wollen, in der Form von Werttafeln aufgestellt. Die mit + Zeichen versehenen Werte sollen erstrebt und verwirklicht, die mit - Zeichen versehenen Werte sollen vermieden und unterlassen werden. Dieses Verhalten wird postuliert, d. h. unbedingt gefordert und deshalb den Mitgliedern des Gesellschaftsintegrats vorgeschrieben. Derartige Vorschriften werden ebenfalls Regel oder Norm genannt, obwohl sie nicht eine faktische Verhaltensweise, die regelhaft und normal geübt wird, also einen stets sich in gleicher Weise abspielenden Vorgang bezeichnen, sondern ein "Sollen", nämlich eine Verhaltensweise, die im Interesse des Soziallebens von jedem Mitglied des Gesellschaftsintegrats gefordert und erwartet wird. Soweit die Beachtung und Erfüllung derartiger Sollens~ normen die notwendige Voraussetzung für das Überleben des konkreten Gesellschaftsintegrats und eines jeden seiner Mitglieder bildet oder jedenfalls als notwendige Bedingung dafür gehalten und geglaubt werden, 29

N. 17, S. 351.

5 Hirsch

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III. Das Gewissen in biologischer und human ethologischer Sicht

erläßt seit jeher und überall der jeweils zuständige höchste Gewaltinhaber ("Autorität") eines zeitlich, räumlich, p€rsänlich abgegrenzten und abgrenzbaren Gesellschaftsintegrats die entsprechenden Vorschriften als Weisungen und trifft Einrichtungen, welche die Beachtung der Vorschriften sicherstellen und ihre Nichtbeachtung mit Sanktionen belegen. Derartige Vorschriften, die als Sollensgebote und -verbote das soziale Verhalten der Mitglieder eines konkreten Gesellschaftsintegrats aufeinander abzustimmen und zu regulieren bestimmt sind, können geschrieben oder anders überliefert und mit den verschiedensten Mitteln den Menschen eingeprägt werden. "Auch im Erbgut verankerte, angeborene Verhaltensregeln kann man als Vorschriften auffassen 30 "; diese sind durch Anpassung, durch adaptives Verhaltenslernen entstanden, weil sie sich für das Zusammenleben der Individuen in Sozietäten und damit für das überleben der Art als biologisch vorteilhaft erwiesen haben. 6. Im Erbgut verankerte Sollensgebote Ist dem so, dann ergeben sich einige wichtige Folgerungen: a) Die "Zehn Gebote" Die Anzahl der im Erbgut verankerten, d. h. angeborenen und als biologisches Gewissen im Zwischenhirn lokalisierten Verhaltensprogramme kann nur gering, ihre Bedeutung für das überleben des sozialen Verbandes muß aber um so wichtiger gewesen sein, daß sie unter dem Gesichtspunkt der Evolution gesehen - schon vor Jahrmillionen in jedem lebenden Organismus "in der ganzen Tierreihe" , wie v. Monakow sich ausdrückt, gesetzmäßig und tief eingepflanzt gewesen sind. Die "Zehn Gebote sind dafür ein naheliegender ModellfaIl 31 ." "Die ethischen Weisungen des Alten Testaments sind nicht vom Himmel gefallen ... Die Weisungen der ,Zweiten Tafel' für die zwischenmenschlichen Beziehungen reichen jedenfalls in die sittliche und rechtliche Tradition der halbnomadischen Sitten zurück und haben im Vorderen Orient zahlreiche Analogien ... Das eigentümliche der alttestamentlichen Sittlichkeit besteht nicht darin, daß man neue ethische Normen gefunden, sondern darin, daß man die überlieferten Weisungen unter die legitimierende und schützende Autorität des einen wahren Gottes und seines Bundes gestellt hat32 ." Unter Bezugnahme auf die historischen Wickler: Die Biologie der Zehn Gebote, 1971, S. 11. Ebd., S. 11, 89 - 164; vgl. auch Armin Hermann: Die Jahrhundertwissenschaft, 1977, S. 213. Schon von Monakow hat in den Zehn Geboten die "Kodifikation der Forderungen der Syneidesis", des biologischen Gewissens gesehen (vgl. Maria Waser [N. 8, S. 320]). 30

3!

6. Im Erbgut verankerte Sollensgebote

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Forschungen von Haag ("Der Dekalog") und auf die inzwischen weiter fortgeschrittenen Untersuchungen an tierischen Sozietäten kommt WickLer33 zu dem Ergebnis, daß es fünf immer wiederkehrende bestimmte kritische Stellen im Sozialleben gibt, nämlich: 1. Traditionsübermittlung und Autorität, die Beachtung der Alten

2. Das Töten von Artgenossen 3. Die sexuellen Partnerbeziehungen 4. Besitz und Eigentum 5. Zuverlässige "wahre" Verständigung. Er fügt dieser Aufstellung hinzu: "Es ist unübersehbar, daß gerade diese wunden Punkte der Sozietäten auch durch unsere Gebote markiert sind. Das Sozial verhalten der Tiere ist wie durch Gebote geregelt und die Verhaltensforschung ist u. a. darum bemüht, herauszufinden, welches die physiologischen und andere biologischen Gesetzmäßigkeiten dieses moraLanaLogen VerhaI tens sind." Auch alle Religionen, soweit sie über die Weltdeutung hinaus den Menschen praktische Wege für das Verhalten zeigen wollen, betrachten " Lüge, Diebstahl, Ehebruch, Mord als schuldhaft34 ". Die ältesten schriftlich überlieferten Rechtsurkunden und Kodizes der Ägypter, Babylonier, Sumerer, Hethiter u. a. m. weisen übereinstimmend Verhaltensverstöße innerhalb der oben genannten kritischen Bereiche als todeswürdige Verbrechen auf, während andere Vergehen als Abweichungen von Verhaltensnormen milderen Sanktionen unterworfen werden. "Historisch gesehen haben sich konkrete ethische Normen, Werte, Einsichten, Schlüsselbegriffe in einem höchst komplizierten, gruppendynamischen, sozialdynamischen Prozeß gebildet - eine Schöpfung des Menschen. Nicht vom Himmel fiel die Moral, sondern ähnlich wie die Sprache, ist sie Produkt der Entwicklung: Wo Bedürfnisse des Lebens, wo menschliche Dringlichkeiten und Notwendigkeiten sich zeigten, da drängten sich für menschliches Verhalten Handlungsregulative, Prioritäten, Konventionen, Gesetze, Gebote, Weisungen, Sitten, kurz: bestimmte Normen auf. Immer wieder neu mußten und müssen die Menschen ethische Lösungen in Entwürfen und Modellen erproben und sie durch Generationen hindurch einüben und bewähren35 ."

32

Hans Küng: Existiert Gott?, 1978, S. 271 f., mit ausführlichen Hinweisen

S. 852 Anm. 96. 33 N. 30, S. 51 - 74. 34 N. 32, S. 685. 35 Ebd., S. 519.

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111. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

b) Unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens Einer Hierarchie der Werte entspricht eine Hierarchie der Nonnen. Was vorprogrammiert und angeboren als gebotenes oder verbotenes Verhalten vererbt ist, kann nicht verlorengehen. Es ist latent vorhanden, kann aber, wie oben (Ziffer 3 und 4) deutlich gemacht wurde, plötzlich virulent werden. Das ist es wohl, was das Bundesverfassungsgericht meint, wenn es den Gewissensruf im Sinne von Art. 4 GG definiert als ein unmittelbar evidentes Gebot unbedingten Sollens. "Unmittelbar evident" können aber nur wenige "Gebote unbedingten Sollens" sein, nämlich nur diejenigen, die als im Zwischenhirn eines jeden Menschen vorprogrammierte Verhaltensweisen angeborenes Erbgut der Spezies "Mensch" bilden. Alle übrigen Gebote und Verbote, die sich auf das Verhalten der Menschen im zwischenmenschlichen Verkehr beziehen, sind - wie die vergIeichende Kulturgeschichte zeigt - nach Land, Zeit, Situation variabel und vergänglich. Dies bedarf keiner besonderen Ausführungen. Diese Vorschriften, die man im Gegensatz zur Ethik als Moralen (Plural!)36 bezeichnen kann, sind nur durch Lernvorgänge internalisierbar. Hieraus erklärt es sich, daß zwar jeder Mensch ein Gewissen mit einer bestimmten Steuerungsfunktion besitzt, daß aber der Inhalt des Gewissens der Individuen nicht gleichartig ist, sondern abgesehen von den jeweils verschiedenen Verhaltensgeboten und -verboten - selbst abhängig ist von der Intensität, mit der sie durch "Lernen" internalisiert sind. Nur wenn und soweit derartige kulturelle Weisungen von den Individuen, die sie befolgen sollen, verinnerlicht und befolgt werden, können sie für das zwischenmenschliche Sozialleben bedeutsam sein. Soweit sie zwar verinnerlicht, aber nicht befolgt oder aus Protest oder Gleichgültigkeit noch nicht einmal verinnerlicht sind, sind sie weder evident noch Gebote "unbedingten So lIens, das den Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots trägt". "Erst durch Verinnerlichung der Gebote und Verbote kann man von Gewissen im engeren Sinn sprechen, denn damit ist das Stadium erreicht, daß die zwischenmenschlichen Verhaltensregeln, die von der Gesellschaft verlangten Gewohnheiten, die Befolgung der Moral, zum inneren Gesetz, zum verinnerlichten Maßstab geworden sind37 ." Auch Sternberger bezeichnet mit Recht als eigentümliches Kennzeichen des Gewissens das inhärente Moment der Unbedingtheit: "Alle Gewissensbedenken streben danach, das schlechthin 36 "Es gibt keine Moral schlechthin, es gibt nur Moralen" (Engisch: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 82). Klier (N. 2, S. 240 f.) meint unter Berufung auf Luhmann, Moral werde als ein auf die Modalisierung zwischenrr:enschlicher Kommunikation im Hinblick auf wechselseitige Achtung zielendes System von Regeln verstanden, das via Internalisierungsmodell genetisch erklärbar und somit primär individual bezogen ist. 37 Loch (N. 17), S. 356.

7. Immunisierung des biologischen Gewissens

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Rechte ausfindig zu machen, hier und jetzt, in dieser bestimmten Lage und in dieser bestimmten Frage. Die Inhalte, die einzelnen Bestimmungen wechseln und wandeln sich. Diese förmliche Fähigkeit aber bleibt durch Völker und Zeiten, durch Kulturen und Religionen hindurch bestehen ... Sie gehört zur Menschlichkeit des Menschen 38 ."

7. Immunisierung des biologischen Gewissens a) Der Gewissenszwang

Auch wenn man das mit dem Ausdruck "Gewissen" bezeichnete sittliche Bewußtsein des Menschen so, wie es in der empirischen Psychologie und der biologischen Verhaltensforschung geschieht, auf eine angeborene bestimmte Prägung der Gehirnzellen zurückführt, darf nicht die geschichtlich beobachtete und mit dem Ziel einer Bewußtseinsänderung immer wieder mit mehr oder weniger Erfolg betriebene Bemühung um eine Umformung, Verformung oder gänzliche Immunisierung der das ethische Erbgut tragenden Gehirnzellen übersehen werden. Zwar brauchen und müssen die angeborenen Verhaltensweisen nicht "tangiert" werden von den tausenderlei zwischenmenschlichen Verhaltensnormen, die angesichts der "Weltoffenheit des Menschen"39 die ihm von Natur nicht mitgegebenen automatischen Regulationsmechanismen notwendigerweise ersetzen müssen und ihm innerhalb des Rahmens des genetisch festgelegten Programms auf irgendeinem Wege vermittelt oder aufgezwungen werden. Jedoch sind zur Gewinnung, Erhaltung und Sicherung von Herrschaftsmacht des Menschen über Menschen seit jeher Beeinflussungsmittel bekannt und gebräuchlich, welche das Funktionieren des als "Kompaß" bezeichneten biologischen Gewissens ausschalten oder mit einem anderen "Sollwert" zu versehen bestimmt sind. Ebenso alt wie die zwangsweise Ahndung von Verstößen gegen die das Sozialleben garantierenden und dem Menschen angeborenen Verhaltensweisen ist der durch "Autoritäten", die binden und lösen können, ausgebaute Gewissenszwang zum Zwecke der Bewußtseinsänderung. Ignatius von Loyola hätte seine berühmt gewordene Formel: "Ecclesiae catholicae ita conformes esse debemus, ut si quid quod oculis nostris apparet album, nigrum illa esse definierit, debemus itidem quod nigrum sit pronuntiare" (= das als schwarz Gesehene weiß zu nennen, wenn es eine Autorität so befiehlt) nicht öffentlich aussprechen können, wenn Gewissenszwang in dieser Form und Absicht nicht seit jeher geübt worden wäre 40 • 38

N.15.

Vgl. o. N. 17. 40 Vgl. hierzu Leszek Kolakowski (Leben trotz Geschichte, 1977, S. 124), der allein dem Christentum den Vorwurf macht, als einziges System in der Welt39

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III. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht b) Suggestive Beeinflussung

Aber auch abgesehen von einem durch "Autoritäten" ausgeübten Gewissenszwang läßt sich beobachten, daß Menschen, obwohl sie im Sinne d€r Verhaltensforschung "Artg€nossen" sind, unter der Einwirkung von suggestiven Bedeutungsgehalten und Einflüssen der verschiedensten Art und Stärke - sei es als Teile einer unorganisierten Menschenrnasse, sei es als Mitglieder eines größeren oder kleineren Gesellschaftsintegrats - nur die Mitglieder "ihres" Kollektivs als "Artgenossen", d. h. als Ihresgleichen anerkennen, während alle übrigen als "Nichtartgenossen" definiert und deshalb degradiert, deklassiert oder in sonstiger Weise diffamiert und diskriminiert werden. Es ist jene den Ethnologen und Sprachvergleichern bekannte Erscheinung, daß manche primitiven Völkerschaften ihre sprachliche Bezeichnung für "Menschen" als Stammensnamen gebrauchen wie die Bantu, die Eskimo (= Junit) u. a. m. und somit nur die Mitglieder ihres eigenen Stammes als "Menschen" qualifizieren, aber alle anderen zur Spezies homo sapiens gehörenden Wesen als "Minderwesen", "Nichtmenschen". Das gleiche Phänomen kennen die Soziologen unter dem Begriff "Wirbewußts€in", "Wirgruppe". Der Angehörige einer anderen Gruppe wird zum Gegner, zum Feind, und alle Normen, die es mit dem mitmenschlichen Verhalten zu tun haben, sind - mehr oder minder - außer Kraft gesetzt41 • Die eine Gruppe von Menschen erfährt Hilfe und Fürsorg€, während eine andere Gruppe nur mit Haß und Verachtung bedacht wird. "Man ist sich selbst des guten Gewissens sicher, da man sich selbst im Besitze des ,wahren Bewußtseins' weiß, demgegenüb€r der jeweils andere schlechtweg das ,falsche Bewußtsein' demonstriert", wie es Gerhard Funke 42 treffend formuliert hat. Zur Veranschaulichung sei auf den Gleichheitssatz in Art. 3 GG hingewiesen: er dekretiert zwar, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich geschichte den Gewissenszwang in dieser Form nicht nur praktiziert, sondern auch offen ausgesprochen zu haben. Wohl zu Unrecht: denn das haben bereits die griechischen Sophisten gewußt und gepredigt: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge". s. auch über die Bindung des Gewissens durch "Autorität" Hans Reiner: Die Funktion des Gewissens, in Blühdorn (N. 21), S. 285 - 316, 301 ff. "Unbedingter Gehorsam dem Ranghöchsten gegenüber gilt zu allen Zeiten als Tugend, wie die Symbolik von Abrahams Opfer lehrt, und erst die schaurigen Verbrechen der Kriegsjahre haben uns in dieser Hinsicht nachdenklich gestimmt" (Konrad Lorenz, N. 15, S. 222; siehe auch Arthur Koestler, N. 15, S. 93 ff.). 41 Zeitgenössisches authentisches Beispiel dafür bildet das Sektenwesen. Vgl. die Aufsätze von Michael Fritzen: "Fragen nach dem Unfaßbaren" und "In den Fallen der Jugendsekten" in F. A. Z. Nr. 260 vom 23. 11. 1978 und Nr. 261 vom 24. 11. 1978 anläßlich des Massenselbstmordes von Hunderten von Anhängern einer amerikanischen Sekte in Guyana. 42 Gutes Gewissen, falsches Bewußtsein, richtende Vernunft, in Blühdorn (N. 21), S. 252 - 284, 252.

7. Immunisierung des biologischen Gewissens

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sind; aber "nach den Erfahrungen der Vergangenheit" erschien es dem Grundgesetzgeber notwendig, insbesondere die Differenzierungen nach "Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöse oder ethische Anschauungen" durch einen besonderen Verfa&sungssatz zu verbieten. Offenbar hat er angenommen, die allgemeine

überzeugung von der Unzulässigkeit solcher Differenzierungen sei noch nicht so gefestigt, daß sie durch die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 allein wirksam ausgeschlossen würde (BVerfGE 3, 240). Hier ist es ihm untersagt, bestimmte Verschiedenheiten der Menschen durch Verschiedenheit der Rechtsordnung zu berücksichtigen, weil der Verfassunggeber diese Verschiedenheiten - gemessen an der weitgehenden Gleichheit aller Menschen - als unerheblich für die künftige, von ihm gewollte Rechtsordnung ansah (BVerfGE 10, 73 f.; 15, 343). Die von mir im Druck hervorgehobenen Ausführungen sind wörtliche Zitate aus den angeführten Entscheidungen und bestätigen lediglich, daß die genannten Merkmale (aber auch nicht genannte wie z. B. Hautfarbe, Eigentumsund Besitzverhältnisse, Stand und Rang) sowohl in der Vergangenheit hierzulande geeignete Kriterien gewesen sind und, bei einer nach Art. 79 GG an und für sich sogar rechtlich möglichen Änderung oder Aufhebung der Bestimmung von Art. 3 GG, erneut wieder werden können, um die im Verhältnis zu anderen Arten von Lebewesen biologisch gegebene Artgleichheit aller Menschen durch "kulturelle" Normen und Formen in Artgenossen und Nichtartgenossen ("Untermenschen", "Entartete", "Rassenfeinde", "Klassenfeinde", "Ungläubige", "Ketzer", "Schwarze", "Gelbe", "Weiße" u. v. a. m.) aufzuheben in der Absicht und mit dem Ziel, Handlungen und Unterlassungen, die zwischen Artgenossen mit einem Tabu belegt sind, gegenüber "Nichtartgenossen" als zulässig, ja sogar als erwünscht und notwendig anzusehen und als legitim zu rechtfertigen. In der zeitgenössischen Staats- und Gesellschaftslehre haben Begriffe wie Pluralismus, Koexistenz, Toleranz als im zwischenmenschlichen Bereich zu realisierende oder zu bekämpfende Postulate eine zentrale Bedeutung gewonnen. Dies läßt darauf schließen, daß die Artgleichheit aller biologisch als Menschen zu qualifizierenden Lebewesen diese nicht davon abhält, in Gruppen oder als einzelne übereinander herzufallen und ,dies mit der Begründung zu rechtfertigen, daß die in Art. 3 Abs. 3 GG aufgezählten Merkmale differenzierende Eigenschaften seien, die eine Gleichstellung aller Menschen selbst vor dem Gesetz geradezu ausschlössen. Wer die reiche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz nicht normativ, sondern soziologisch untersucht, d. h. danach fragt, inwieweit der nach der Verfassung gebotene ("gesollte") Rechtszustand der sozialen Realität entspricht, wird gut daran tun, die in den beiden ersten Absätzen von Art. 3 GG gewählte

ur. Das Gewissen in biologischer und human ethologischer Sicht

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Aussageweise - den grammatischen Modus - des Gesetzessatzes aus der Wirklichkeitsform ("Indikativ") in die Befehlsform ("Imperativ"), also "Sein" in "Sollen" umzudenken. Also alle Menschen sollen vor dem Gesetz als gleich gelten, Männer und Frauen sollen gleichberechtigt sein. In der politischen Theorie haben diese Postulate zwar einen verführerischen Klang. Im Sozialleben selbst sind sie nur teilweise realisierbar und de facto nur zum Teil verwirklicht. Durch die Umdeutung des Gleichheitssatzes in ein Willkürverbot sind Differenzierungen jeder Art zugelassen, soweit sie mit der im Grundgesetz aufgerichteten Wertordnung zu vereinbaren sind. Wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, dieser Wertordnung liege letztlich die Vorstellung zugrunde, "daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind 43 ", so sollte der theologisch-eschatologische Charakter dieser Aussage nicht übersehen werden; denn das Sozialleben des Menschengeschlechts in Vergangenheit und Gegenwart zeigt genau das Gegenteil: Nicht individuelle Freiheit eines jeden Menschen noch Gleichheit aller Menschen bilden in praxi die Grundwerte der staatlichen Einheit, sondern der Antagonismus der Interessen, Bestrebungen und Ziele der Individuen und ihrer Gruppen und Gruppierungen in einem labilen Gleichgewichts- oder Kräfteausgleichssystem. c) Biologischer und kultureller Normenfilter

Angesichts dieser Situation wird von den Verhaltensforschern zwischen einem biologischen und einem kulturellen Normenfilter unterschieden und klargestellt, daß sich der biologische Normenfilter durch einen kulturellen Normenfilter zwar überdecken, aber nicht auslöschen läßt. "Daher kommt es zu einem Normenkonflikt, in dessen Verlauf der kulturelle Filter sich sowohl zeitweise als der stärkere erweisen kann, der biologische aber nichtsdestoweniger seine Wirkung behält. Als Folge verspürt der Mensch ,schlechtes Gewissen', und zwar in allen Kulturen 44 ." "Die Anthropologen haben eine Vielfalt verschiedener Kulturen und Wertsysteme beschrieben und neigen heute daher im Sinne eines kulturellen Relativismus oft dazu, die Normen, nach denen Menschen sich richten, für kulturspezifisch und relativ zu halten. Für viele kulturellen Normen gilt dies in der Tat, biologische Normen sind dagegen universe1l 45 ." Nun kann aber "kulturell Aufgeprägtes das Angelegte BVerfGE 2, 12. Eibl-Eibesfeldt: Menschenforschung auf neuen Wegen. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kultureller Verhaltensweisen, 1976, S. 263. 45 Eibl-Eibesfeldt: Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, 1975, S. 230. Lorenz (N. 20, S. 286 f.) schreibt: "Auch das soziale Verhalten ist vom Stil der Zeit geprägt, der dem Kreatürlichen im Menschen, d. h. dem phylogenetisch gewordenen, angeborenen Programm seines sozialen Verhal43 44

7. Immunisierung des biologischen Gewissens

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durchaus unterdrücken und selbst den Rest "schlechten Gewissens" verarbeiten 46 . Nach welchen Methoden, ja Gesetzmäßigkeiten dies vor sich geht, wird von Eibl-Eibesfeldt unter der überschrift "Krieg und Gewissen"47 sehr anschaulich beschrieben: Er geht aus von den im Dekalog gegebenen Geboten "Du sollst nicht töten!"48 und "Du sollst nicht stehlen! "49, die bereits bei einigen Primaten befolgt werden, aber nur im Verhältnis von Artgenossen 5o untereinander, nicht aber im Verhältnis zu Lebewesen einer anderen Art. Die als "angeboren" bezeichneten Normen können durch kulturelle Normenfilter wirksam überlagert werden: "Wir können uns einreden, andere seien keine Menschen, und danach handeln. Wenn das nicht funktioniert, beruft man sich auf den Befehl ... Oder man rechtfertigt seine Aggression als Verteidigung oder Vergeltung. Dann kann man sie sogar konfliktfrei heroisieren. Dagegen, daß man seine Gruppe verteidigt, gibt es nur geringe Bedenken. Bedrohung ist offenbar ein so starker auslösender Reiz, daß er jeden Skrupel übertens, einen mit der Kulturentwicklung wachsenden Zwang auferlegt ... Der Mensch ist, wie schon oft gesagt, von Natur aus ein Kulturwesen, und dazu gehört seine angeborene Bereitschaft, sich das ritualisierte Verhalten, das seine Kultur ihm vorschreibt, zur zweiten Natur werden zu lassen." 46 "Das Gewissen als ursprünglich sittliche Regung ist angeboren, kann aber durch Umwelteinwirkungen entwickelt oder unterdrückt werden" (Schmidt / Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch, 14. Aufl. 1957, S. 203 f.). Maria Was er (N. 8, S. 359 ff.) berichtet über ihre Gespräche mit von Monakow von dem "unerschöpflichen Thema jener bittersten Seelennot, die aus dem Zwiespalt zwischen dem natürlich eingeborem~m und dem künstlich anerzogenen Gewissen sich ergibt, zwischen der ursprünglichen inneren Stimme und der konventionellen Moral, ohne daß die Menschen im allgemeinen den Ursprung dieser Not erkennen, da ihnen die Zweiheit der Sache, die mit demselben Namen genannt wird, nicht zum Bewußtsein kommt ... " 47 Eibl-Eibesfeldt (N. 45), S. 224 - 229. 46 Daß es beim Menschen eine Tötungshemmung gibt, kann man aus mancherlei Hinweisen ableiten. "Wenn im Tierreich eine instinktive Tötungshemmung allgemein anzutreffen ist, sollte man erwarten, daß sie beim Menschen mindestens in Resten vorhanden ist und nicht, daß sie gerade bei der Menschwerdung ausgemerzt wurde" (Wickler, N. 30, S. 90). Auch Konrad Lorenz (N. 15, S. 224) geht von den den Menschen angeborenen Todeshemmungen aus, die er "im Grunde (für) stark und wirksam" hält. Er betont sogar op. eit. S. 291: "So sicher es ist, daß die rationale, verantwortliche Moral des Menschen den wesentlichen Beitrag zur Lösung seiner drängenden Gegenwartsprobleme leisten muß, so sicher ist es auch, daß eine solche Lösung ohne Appell an seine gefühlsmäßigen, nichtrationalen Tötungshemmungen nicht möglich ist." Dagegen betont Klier (N. 2, S. 134), daß die bei vielen Tieren nachgewiesene angeborene intraspezifische Tötungshemmung beim Menschen nicht festgestellt werden könne. Es spreche eine Vermutung dafür, daß sie verlorengegangen sei. Der Mensch könne ein intraspezifisches Tötungsverbot nur mittels des Erwerbs von Moralnormen entwickeln. 49 Wickler zeigt, daß es Tieren tatsächlich möglich ist, sowohl zu lügen (ebd. S. 130 - 139) als auch zu stehlen (S. 140 - 144), und daß schon diese Tiere über Verhaltensmechanismen verfügen, die beides einschränken oder verhindern. Die entsprechenden Gebote aus dem Dekalog haben dieselbe Aufgabe: Sie sollen ein auch biologisch gegebenes Problem lösen. 50 über den Begriff "Artgenosse" siehe Wickler ebd., S. 95 ff. "Bei der ArtDefinition ist die potentielle Fortpflanzungsgemeinschaft gemeint."

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IrI. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

rollt ... Neben dem Klischee vom bedrohten Heimatland mißbrauchen wir die Klischees der Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, ja wir kämpfen sogar für den Frieden ... Das Töten selbst wird im Falle der Gruppenverteidigung als edle Tat gewertet. Mut und die Bereitschaft, das Leben für die Gruppe einzusetzen, zählen und siegen im Funktionskonflikt von Liebe und Haß. Allerdings wird durch diese Überlagerung der biologische Normenfilter nicht ausgeschaltet, und wir erleben einen Normenkonflikt. Alle die eben erwähnten Rechtfertigungen, mit deren Hilfe Menschen destruktive Aggression begründen, verhindern nicht, daß das Gewissen sich regt, vor allem nachdem der aggressive Affekt abgeklungen ist." Kurzum: die kulturelle Indoktrinierung, die Angst der Menschen, aber auch ihre Begeisterungsfähigkeit und ihre Bereitschaft, der vorgesetzten Autorität zu gehorchen: dies alles spielt eine entscheidende Rolle, sobald der Mensch dem kulturellen Gebot auch dann gehorcht, wenn es dem biologischen zuwiderläuft, sei es, daß ihm der Normenkonflikt gar nicht bewußt wird, weil für ihn "Gewissen" ausschließlich als kultureller Normenfilter funktioniert, sei es, daß er die Stimme des Gewissens überhört, weil die Poren des biologischen Normenfilters "verstopft" sind. "Das ist der Januskopf des Menschen: Das Wesen, das allein imstande ist, sich begeistert dem Dienst des Höchsten zu weihen, bedarf dazu einer verhaltensphysiologischen Organisation, deren tierische Eigenschaften die Gefahr mit sich bringen, daß es seine Brüder totschlägt, und zwar in der Überzeugung, dies im Dienst eben dieses Höchsten tun zu müssen. Ecce homo5t ." Wie heißt es im Johannesevangelium (19, 7): "Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben." 8. Gewissen als vorprogrammierter, aber inhaltlich modifizierbarer "Sinn für Gerechtigkeit"

a) Naturrechtlicher Rechtskodex? Prüft man unter dem Gesichtswinkel der oben skizzierten Erkenntnisse der Verhaltensforschung die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts über die juristische Bedeutung des Begriffes "Gewissen", so befindet es sich mit den Ergebnissen der Verhaltensforschung insoweit in Übereinstimmung, als es davon ausgeht, daß "jedermann" - also universell - ein Gewissen hat im Sinne eines real erfahrbaren seelischen Phänomens. dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Einzelmenschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens 51 K. Lorenz: Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, 5. Aufl. 1964, S. 365; vgl. auch Wilhelm Dantine: Die Funktion des Gewissens im Recht, in Kallenbach / Schemel: Funktion des Gewissens, 1970, S. 42 - 60 (S. 55 ff.) über die human-anthropologische Größe des Gewissens.

8. Gewissen als "Sinn für Gerechtigkeit"

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sind. Sobald man aber danach fragt, welchen Inhalt diese Forderungen, Mahnungen, Warnungen haben, welcher Art diese Gebote unbedingten Sollens sind und wo der Ursprung von deren unmittelbarer Evidenz (= einleuchtenden und höchsten Gewißheit) zu suchen ist, wird man auf die Kategorien "Gut" und "Böse" verwiesen, als ob es sich um universell gültige und allgemein anerkannte, absolute Werte hande1t52 • Davon kann aber nicht die Rede sein. "Nur das Sollen des Rechtsprinzips ist ... allgemeingültig; seine Anwendung aber hängt ab von den vorliegenden Interessen. Daher kann es keinen ,naturrechtlichen' Rechtskodex geben. Vielmehr ist es möglich, daß zu verschiedenen Zeiten, Völkern und Orten Verschiedenes gleich rechtsverbindliche Pflicht ist ... Das objektive und subjektive Recht (wechselt) mit den betroffenen Menschen und gestattet, ja fordert seine Differenzierung nicht nur gemäß den verschiedenen Lebensumständen, sondern auch gemäß den verschiedenen Wert-Grundhaltungen der Völker, Stämme und Stände", wie Hans J. Wolff den Sachverhalt klar formuliert hat53 • "Gewissen" ist, um mit Albert Ehrenzweig zu sprechen, der "Sinn für Gerechtigkeit". In übereinstimmung mit den Ergebnissen der Verhaltensforschung führt er aus: "Die Natur hat den Menschen durch Vererbung oder Erziehung in derselben Weise mit einem Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet, wie sie ihm die angeborenen Triebe von Hunger und Sex gegeben hat. Das ist ,die Moralität, die das Recht möglich macht' (Fuller, Morality 33 - 34). In dieser Funktion ist der Sinn für Gerechtigkeit immer sowohl von den ,Naturrechtlem' wie von den ,Positivisten' anerkannt worden 54 ." Wenn 52 Diese Auffassung entspricht der katholischen Moraltheologie, die bei allen Menschen einen zwar nach Begabung, Erziehung und Umwelt verschiedenen, aber grundsätzlich gleichen Bestand ethischer Fundamentalwerte annimmt. Insofern ist aber die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts mit den Ergebnissen der Verhaltensforschung nicht vereinbar. "Gut" und "Böse" sind, wie Klier (N. 2, S. 245) klarstellt, die beiden grundlegenden Kategorien jeder subjektiven, durch das internalisierte Moralsystem bestimmten moralischen Bewertung. "Die Zeit, in der man einfache Maßstäbe für ,das Gute' und ,das Böse' besaß, ist vorüber. Heute sind diese Kriterien auf die Hauptprobleme nicht mehr anwendbar", wie Armin Hermann (N. 31, S. 244) feststellt. 53 tlber die Gerechtigkeit als principium iuris, in FS Wilhelm Sauer, 1957, S. 103 ff. (114). 54 Albert A. Ehrenzweig : Psychoanalytische Rechtswissenschaft, 1973, S. 218f. Ohne Bezugnahme auf Verhaltensforschung und Psychoanalyse kommt Hans J. Wolff (N. 53, S. 11) zum gleichen Ergebnis. Er bezeichnet das Rechtsgefühl als Tochter des Gewissens, das seinerseits in einem eigenen letzten Sachgrund ruht, der sog. Grundnorm. "Daß es diese gibt, dafür finden wir einen Hinweis in jener Stimme, die unbemerkt mitredet, wenn aus Tatsachen, komplexen Ordnungen und dgl. kurzschließend auf Gesolltheiten gefolgert wird, im Gewissen also, dank dessen wir uns die anfangs erwähnte Fähigkeit zutrauen, wenigstens in Einzelfällen zu wissen, was recht und unrecht ist, und das uns manchmal zu leise und meistens zu spät angibt, wie wir handeln oder häufiger - wie wir nicht hätten handeln sollen. Im Gewissen, ja schon in jedem konkreten Sollenserlebnis ... erleben die Menschen, daß sie, so wie sie nun einmal geschaffen sind, einen letzten normativen ethischen (d. h. auf die

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III. Das Gewissen in biologischer und human ethologischer Sicht

man dementsprechend "Gewissen" als den angeborenen, aber durch äußere Einflüsse modifizierbaren Sinn für Gerechtigkeit kennzeichnet, so hat man damit zwar den Ursprung und die Funktion des vom Bundesverfassungsgericht als "real erfahrbar qualifizierten seelischen Phänomens" klargestellt. Der Inhalt d€s Gewissens aber, d. h. die Richtung der Forderungen, Mahnungen, Warnungen, denen sich das Individuum in einer b€stimmten Situation seines gesellschaftlichen Lebens ausgesetzt sieht, werden durch das Verhältnis bestimmt, in dem der biologische Normfilter, der dank der stammesgeschichtlich entstandenen Organisation des menschlichen Nervensystems und seiner Sinnesorgan€ auf " angeborenen" , als universell übereinstimmenden Aktions- und Reaktionsnormen aufbaut, zu dem auf Internalisierung zurückführbaren kulturellen Normfilter steht.

Es sind also, wie Loch 55 deutlich macht, biologische und gesellschaftliche Faktoren, die in vielfach verschlungenen Wechselb€ziehungen zwischen verschiedenen biologischen und sozialen Einheiten, nämlich Individuum und Gesellschaft, zusammenwirken, wenn eine "Bindung im Gewissen" erreicht werden und erhalten bleiben soll. Das Gehirn als organisches Substrat im Individuum ermöglicht diesem durch s€ine Leistung€n den Aufbau eines Verhaltensmechanismus im menschlichen Interaktionensystem. Jede menschliche Ontogenese ist somit eine Sozialgenese, eine Vergesellschaftung, bei der es auf Aneignung wie auch Anpassung - Assimilation und Akkomodation - an die jeweils vorgefundenen Spielr€geln und G€wohnheiten, Sitten und Gesetze, an die physikalische wi€ auch psychosoziale Umwelt ankommt. b) Die Moralsysteme

Demnach kann unter "Gewissen" im Sinne des Grundgesetzes nicht etwa allein der biologische Normfilter verstanden werden; mit zu berücksichtigen ist vielmehr der durch vielfältige Einwirkungen zustande gekommene und durch die verschiedensten Faktoren beeinflußte kulturelle Normfilter. Es ist mit dem Gewissen nicht anders wie mit der Intelligenz. Alle Wesen sind gleichermaßen intelligent. Jedoch unterscheiden sich Inhalt, Gegenstand und Umfang der Intelligenz durch die kulturellen Gegebenheiten, die sich geschichtlich entwickelt und geformt hab€n. Kultur sowie erworbene Gewohnheiten und der eigentliche Intelligenzfaktor beeinflussen sich gegenseitig, und es ist schwierig, beides von einander zu trennen 56 • Ebenso gibt es - dies lehrt die Verhaltensinhaltliche Gesolltheit ihres Verhaltens bezogenen) Maßstab in sich besitzen oder, wenn er etwa unabhängig von ihrer Psyche gegeben sein sollte, jedenfalls zu erkennen vermögen." Was ist dies anders als der "Sinn für Gerechtigkeit" im Sinne Ehrenzweigs? 55 N.17, S. 247 f. 56 N. 28, S. 57.

8. Gewissen als "Sinn für Gerechtigkeit"

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kein einheitliches, bei allen Menschen anzutreffendes inhaltlich gLeiches Gewissen, sondern ebensoviele voneinander mehr oder weniger abweichende Gewissensinhalte, wie Menschen durch Moralsysteme geprägt sind. Aufgrund der überlieferung und der darauf fußenden Theologie haben sich im Laufe von mehreren Jahrtausenden durch die Ausformung d€s Dekalogs christlich/jüdische Moralnormen gebildet. Diese haben sich je nach allgemeinen konfessionellen Gesichtspunkten oder partikulären, ja häretisch€n Strömungen zu einem von mehr oder weniger Ausnahmen und Besonderheiten durchbrochenen, aber nichtsdestoweniger einheitlichen kulturellen Normfilter im B€reich der BundeS'republik Deutschland entwickelt und sind als Grundwertentscheidungen zu einem konstituierenden Bestandteil unserer staatlichen Ordnung im Grundgesetz geworden. Dieser Normfilter unterscheidet sich erheblich von dem bei einem Teil der Bevölkerung der DDR wirksamen kulturellen Normfilter, der von den verfassungskräftig und gesetzlich als für die Bürger verbindlich erklärten Grundsätzen der "sozialistischen Moral" b€Stimmt wird. Entsprechendes gilt für den kulturellen Normfilter während d€r nationalsozialistisch€n Herrschaft im Deutschen Reich, kurzum für das Gewissen, das bei jedem Individuum durch die Eigentümlichkeiten seiner Herkunft, Erziehung, Religion, Weltanschauung und anderer kultureller Einflüsse seiner Umwelt be€influßt wird. forschung -

c) Die Internalisierung von Verhaltensnormen

Eine in viele S€kten gespaltene Kirche, ein in sehr viele politische Parteien und Fraktionen zerrissener Staat, kurzum jedes pluralistisch angelegte Gesellschaftsintegrat bedarf, wenn es nicht auseinanderfallen will, als Integrationsmittel eines möglichst einheitlichen Wertbewußtseins hinsichtlich seiner Lebensgrundlagen, d. h. einer möglichst weitgehenden übereinstimmung in den konstituierenden Elementen, welche für das persönliche Gewissen der Mitglieder bestimmend sind. Je mehr die "Poren" des biologischen Normfilters der einzelnen Gesellschaftsmitglieder verengt oder verstopft werden sollen, um so intensiver müs... sen die Bemühungen um die Festigung eines einheitlichen kulturellen Normfilters sein. Deshalb b€steht - biosoziologisch b€trachtet - der Hauptzweck der besonders geschaffenen Institutionen für "Öffentlichkeitsarbeit", "Vo,lksaufklärung", "Propaganda", "Information" u. ä. darin, ein€rseits Information€n zu filtern, Zensur auszuüben, eiserne Vorhänge zu errichten, um im Interesse d€s Fortb€stands der Gesellschaft in ihrer jeweiligen Verfassung und der Anpassung an die sich wandelnde Welt die Bevölkerung gegen unerwünschte Informationsvergiftungen zu bewahren, andererseits mit Beeinflussungsmitteln der verschiedensten Art eine Internalisierung derjenigen Werte und Normen zu erreichen, die für die jeweiligen Machtträger so grundlegende Bedeu-

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III. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

tung und Wichtigkeit besitzen, daß sie der Bevölkerung als Glaubenswahrheiten aufgezwungen werden und ihrem Rechtfertigungsbedürfnis Genüge tun 57 . Mit anderen Worten: Die "Konditionierung", der der Mensch dank der Zunahme seiner "Indoktrinierbarkeit"58 im Laufe seiner Ontogenese durch seine jeweilige kulturelle Umwelt unterliegt, führt dazu, das "schlechte Gewissen" lediglich als "soziale Angst" zu qualifizieren59 und damit das angeborene Gewissen als nichtexistent zu unterstellen. Je weiter die Wirkungen der Internalisierung gehen und je fester sich die Wurzeln von sozialen Werten und Normen in der Seele des Menschen verankern, um so "evidenter" erscheinen ihm die Forderungen, Mahnungen und Warnungen dieses seinem biologischen Gewissen aufgepfropften kulturellen Normfilters als "Gebote unbedingten Sollens". Diese beziehen sich nicht nur, wie die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts zu erkennen geben will, auf den sittlichen Bereich, sondern auf alle Bereiche des Soziallebens. Deshalb sind die Glaubensfreiheit, die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses nur Sonderfälle der allgemeinen Freiheit des Gewissens, auch wenn die Formulierung des Art. 4 Abs. 1 GG den Anschein des Gegenteils erweckt. Die Freiheit von Kunst und Wi.ssenschaft, von Forschung und Lehre nach Art. 5 Abs. 3 GG sind ebenfalls nur Teilbereiche der allgemeinen Gewissensfreiheit, da jeder Künstler und Wissenschaftler, jeder Forscher und Lehrer bei seinem Tun und Lassen letztlich der Stimme seines Gewissens ausgesetzt ist1l°, wobei wiederum das Gewissen als kultureller Normfilter (und sei es nur in Gestalt von Modeströmungen) den biologischen Normfilter überlagern und zudecken kann (Beispiel: die Bewertung der Pornographie). Unter rechtstatsächlic:hem Gesichtspunkt betrachtet verhält sich der Umfang der in Art. 4 Abs. 1 GG als "unverletzlich" bezeichneten Gewis57 Vgl. Ernst E. Hirsch: Rechtssoziologie, in Eisermann: Die Lehre von der Gesellschaft, 2. Aufl. 1969, S. 163 ff. (206). 58 Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 6. Aufl. 1973, S. 84 ff. (94). Auch Walter Hamel: Glaubens- und Gewissensfreiheit, in Bettermann / Nipperdey' Scheuner: Die Grundrechte, Bd. IV 1, 1960, S. 37, betont unter Hinweis auf die Inquisitionsmethoden in den totalitären Staaten am Ausgang des Mittelalters und unserer Tage, daß Glauben und Gewissen der Einwirkung äußerer Kräfte ausgesetzt sind. 59 So Theodor Geiger, der diese Bezeichnung von Freud übernommen hat. 60 "Für den reifen Kulturmenschen gibt es nicht nur ein sittliches, sondern auch ein logisches und ein aesthetisches Gewissen, er kennt, wie für sein Wollen und Handeln so auch für sein Denken und Fühlen eine Pflicht, und er weiß, er empfindet mit Schmerz und Beschämung, wie oft der naturnotwendige Lauf seines Lebens diese Pflichten verletzt", Windelband, zitiert nach Philosophisches Wörterbuch (Verlag Kröner), 14. Aufl., Stichwort "Gewissen"; ebenso W. Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 2; Klier (N. 2), S. 133; N. Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in AöR 90

(1965), 257 - 286, 280 f.

8. Gewissen als "Sinn für Gerechtigkeit"

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sensfreiheit umgekehrt proportional zu dem Konformitätsdruck in dem jeweiligen Gesellschaftsintegrat. Dies bedeutet: je stärker, eindrücklicher und weitreichender das Gewissen als kultureller Normfilter gesteuert wird, um so schwächer, oberflächlicher und vereinzelter regt sich das biologische Gewissen. Wer die nationalsozialistische Herrschaft miterlebt hat oder sie ebenso wie die heutigen Zustände in den "Volksdemokratien" zur Kenntnis zu nehmen bereit ist, weiß und erkennt, daß damals hierzulande (bzw. heutzutage in den sog. Ostblockländern) ein Teil der Bevölkerung innerlich überzeugt und dem "Regime" ergeben war bzw. ist; eine offene Gegnerschaft gab bzw. gibt es nur in wenigen Fällen, eine heimliche als sog. innere Emigration schon erheblich häufiger, während der überwiegende Teil der Bevölkerung gleichgültig eingestellt ist und "mitläuft". Berücksichtigt man, daß ein derartiges Regime nur als gesinnungstüchtig bewährte Parteigänger im Staatsapparat tätig werden läßt und die gesamte Erziehung vom Kindergarten bis zur Hochschule und darüber hinaus während des ganzen Arbeits- und Berufslebens nach der jeweils maßgebenden ideologischen Doktrin ausrichtet, und bedenkt man ferner, "daß die suggestive Wirkung einer fest. geglaubten Doktrin mit der Zahl ihrer Anhänger wächst, vielleicht sogar in geometrischer Progression6l ", dann begreift man, daß "Systemgegner" als pathologische Fälle betrachtet und in Irrenhäuser gesteckt,62 oder, wenn sie für das "Regime" politisch gefährlich zu werden drohen, im justizförmigen Verfahren abgeurteilt werden nach Maßgabe von gesetzlichen Vorschriften, welche hinsichtlich der Formulierung der Straftatbestände als vage Leerformeln, aber hinsichtlich der außerordentlich hohen Strafdrohungen nur als "drakonisch" bezeichnet werden können. Unter derartigen realen Lebensbedingungen der Gesellschaft ist der biologische Normfilter bei der Mehrzahl der Bevölkerung verstopft. "Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete", ein ukrainisches Sprichwort, an das Konrad Lorenz erinnert. Das Gewissen kann sich als "schlechtes Gewissen" öffentlich erst wieder post festum hervorwagen, wenn die Verhältnisse sich grundlegend geändert haben. Dies ist nach Zusammenbruch des Dritten Reiches in doppelter Hinsicht geschehen: Einmal hat man den kulturellen Normfilter durch einen völlig anderen ersetzt, der auf der Grundlage des abendländischen Sittengesetzes dem biologischen Normfilter wieder zu seiner Wirkungsmöglichkeit verhelfen wollte. Dies habe ich in den vorhergehenden Ausführungen, die ich im folgenden unter Ziff. 9 zusammenfasse, darzulegen versucht. Zum anderen hat man die Justiz damit befaßt, Straftaten zu sühnen, die von Parteigängern des Naziregimes und ihren HelfersLorenz (N. 58,) S. 108. Vgl. Sidney Bloch I Peter Reddaway: Dissident oder geisteskrank? Mißbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion, 1978. 61

62

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UI. Das Gewissen in biologischer und human ethologischer Sicht

helfern während des nationalsozialistischen Regimes begangen worden sind und nach den heute in Geltung befindlichen strafrechtlichen Vorschriften strafwürdig und noch unverjährt sindi!3. 9. Ergebnisse A. Der Ausdruck "Das Gewissen" ist mehrdeutig. Sein jeweiliger Sinn ergibt sich aus dem Zusammenhang, in dem er innerhalb eines juristischen Textes verwendet wird. I. Im Grundgesetz bedeutet "Gewissen" zweierlei:

(1) Im Zusammenhang von Art. 38 Abs. 1 GG über die Unabhängigkeit des als Vertreter des ganzen Volkes geltenden und deshalb nur ihm gegenüber politisch verantwortlichen Abgeordneten bedeutet "Gewissen" die politisch ausgerichtete und intellektuelle, (rational) kalkulierte, persönliche Überzeugung von der Richtigkeit seiner Stellungnahme oder Entscheidung im Rahmen seiner parlamentarischen Tätigkeit. (2) Im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 GG über die Unverletzlichkeit des Grundrechts der Gewissensfreiheit bedeutet "Gewissen" das sittliche Bewußtsein, d. h. die Fähigkeit eines jeden in seiner Würde unantastbaren Menschen, den Wert oder Unwert des eigenen Verhaltens innerhalb des menschlichen Interaktionensystems mit Hilfe der im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Wertmaßstäbe des abendländischen Sittengesetzes zu beurteilen. 11. In den durch die Bestimmungen der §§ 38 und 45 Abs. 3, 4 und 6 DRiG, § 77 Abs. 2 StPO und § 410 Abs. 1 ZPO festgelegten EidesformeLn der Berufsrichter, ehrenamtlichen Richter und der gerichtlich bestellten Sachverständigen bedeutet "Gewissen", weil ausdrücklich erklärt und freiwillig (= ohne Zwang) übernommen, eine zusätzliche Bindung der Person in ihrem sittlichen Bewußtsein als Garantie ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bei Ermittlung und Feststellung der Wahrheit sowie Gerechtigkeit ihrer Erkenntnisse. B. "Gewissen" als sittliches Bewußtsein verstanden, ist keine sinnentleerte Worthülse. Jeder Mensch lebt in einem zwischenmenschlichen Interaktionensystem und bedarf, um überleben zu können, wie jedes in einer Sozietät lebende Tier einer möglichst automatisch wirkenden Verhaltenssteuerung. I. Diese erfolgt durch biologisch-psychologische Prozesse auf morphologischer Basis im Gehirn eines jeden Menschen. 63

Vgl. darüber unten den 4. Abschnitt.

9. Ergebnisse

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Ir. Formen und Normen des Verhaltens sind (1) entweder angeboren, beim Menschen nur noch rudimentär im Zwischenhirn, oder (2) nach einem angeborenen, d. h. genetisch festgelegten Programm erworben, wobei das "Lernen" durch die Struktur des Programms hervorgerufen und gelenkt wird. II!. Der vorprogrammierten Struktur entsprechen die beiden Wertkategorien Gut (Recht) und Böse (Unrecht), die bereits den noch rudimentär vorhandenen angeborenen Verhaltensweisen immanent sind. (1) Im übrigen werden die Wertmaßstäbe danach bestimmt, was im Hinblick auf die Umweltbedingungen der Erhaltung der Art und damit auch der überlebenschance des einzelnen dient. (2) Deshalb variiert der Inhalt dessen, was als Gut (Recht) und Böse (Unrecht) gilt, von Gruppe zu Gruppe und von Zeit zu Zeit und ist für jedes Gesellschaftsintegrat von den jeweils sich ändernden Umweltbedingungen und für maßgebend erachteten Wertungen abhängig. IV. Seinem Inhalt nach wird somit das Gewissen als sittliches Bewußtsein bestimmt durch zwei Faktoren, die sich notwendig ergänzen und ineinander verschränken: (1) Durch die Einflüsse des im Zwischenhirn lokalisierten Erbguts an Formen und Normen des sittlichen Verhaltens. (2) Durch Einflüsse der in den Zellen des Großhirns lokalisierten sittlichen Verhaltensgebote, soweit solche durch Erfahrung und Lernprozesse erworben und internalisiert worden sind. Hierbei spielen von Generation zu Generation tradierte Moralvorstellungen eine erhebliche Rolle, es sei denn, daß durch soziale Umwälzung eine Umwertung der Werte stattgefunden hat und an die Stelle der überkommenen Moral eine andere Moral getreten ist. V. Die vom Grundgesetz garantierte Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit stellt "Das Gewissen" in den Schnittpunkt der höchstpersönlichen, weil angeborenen, und der kollektiven, weil internalisierten Antriebskräfte des menschlichen Verhaltens. Während die Verhaltensforschung gemeinsam mit der empirischen Sozialpsychologie "das Gewissen" als - sit venia verbot - Massenphänomen betrachtet, also vor allem zu klären versucht, welche geistigen und seelischen Faktoren das Verhalten "der" Menschen in Gesellschaft beeinflussen und bestimmen, richten Individualpsychologie und Psychoanalyse .ihr Augenmerk vor allem auf das Individuum und auf diejenigen Faktoren, die sein persönliches Verhalten als krankes oder nicht krankes Individuum bestimmen. Während von Monakow durch die Gegenüberstellung und Ver6 Hirsch

82

III. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

bindung von biologischem Gewissen und dem üblicherweise als "Gewissen" bezeichneten "sittlichen Bewußtsein" aufgrund einer nur wenige Jahrzehnte später von der Verhaltensforschung als wissenschaftliche Erkenntnis bestätigten "notwendige Hypothese" eine Verständigungsbasis hergestellt hat, versucht man auch vom psychoanalytischen Ansatz aus eine Klärung der durch Art. 4 GG aufgeworfenen Grundprobleme zu erreichen. Charakteristisch hierfür sind die diesbezüglichen Versuche von Klier, Loch und Ehrenzweig. Diese wissenschaftlich gefestigten Erkenntnisse sind nicht nur, wofür Freud selbst sie ursprünglich gehalten hat, zur Beurteilung der Ursachen psychischer Erkrankungen menschlicher Individuen, sondern gan~ allgemein für das Verhalten von Menschen in Gesellschaft von Bedeutung, weil der Mensch sowohl ein biologisches als auch ein soziales Lebewesen ist. Der Mensch steht nicht außerhalb der Natur. VI. Als soziales Lebewesen steht jeder Mensch unter dem Druck der Lebensbedingungen desjenigen größeren oder kleineren Gesellschaftsintegrats, dessen Mitglied er ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist "Gewissen" ein zwar vorprogrammierter, aber inhaltlich modifizierbarer "Sinn für Gerechtigkeit". Dies bedeutet: (1) Jeder Mensch besitzt einen angeborenen biologischen Normfilter. (2) Jeder Mensch erwirbt durch Lernprozesse einen kultureLLen Normfilter als Inbegriff der jeweils in einem konkreten Gesellschaftsintegrat während eines bestimmten Zeitraums geltenden sittlichen (moralischen) Normen. (3) Da der Mensch wegen seines Mangels an Instinkten von Natur aus ein Kulturwesen und deshalb suggestiven Beeinflussungen aller Art zugänglich und ausgesetzt ist, kann der biologische Normfilter durch den kulturellen verengt oder ganz überdeckt werden. Die Folge davon ist, daß das Individuum in seinem sittlichen Verhalten hauptsächlich oder ausschließlich durch die Konditionierung beeinflußt wird, welcher es im Laufe seiner Ontogenese durch seine jeweilige kulturelle Umwelt unterliegt. C. "Das Gewissen" als sittliches Bewußtsein ist biologisch bei jedem Menschen nachweisbar, aber in der verschiedensten Art und Weise durch die soziale Umwelt des Menschen manipulierbar. Deshalb bildet das Gewissen als unentbehrliches Steuerungsinstrument ein Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens und seiner Rechtsordnung. I. Die rechtliche Bedeutung der in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit ergibt sich als Rechtstatsache aus dem in den Verfassungstext (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG) eingegangenen Vorverständnis der Mehrheit der Mitglieder des Parla-

9. Ergebnisse

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mentarischen Rats zur Zeit der Ausarb€itung und Verabschiedung des Grundgesetzes. Die Bestimmung von Art. 4 Abs. 1 GG bildet in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG die auf dieser Rechtstatsache beruhende verfassungsrechtliche Norm und gewährleistet die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit eines jeden Menschen im Sinne der in der Bundesrepublik Deutschland maßgebenden Moralnormen abendländischer Tradition. II. Im Ergebnis entspricht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem Vorstellungsinhalt des Verfassungsgeb€rs und dem Sinn und Zweck des in Art. 4 Abs. 1 GG garantierten Grundrechts der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit innerhalb dieser sozialen Realität; die Gewissensfreiheit ist unverletzlich deshalb, weil und soweit sie als Gebot absoluten Sollens evident ist. III. Evident können nur Normen und Formen des sittlichen Verhaltens im menschlichen Interaktionensystem sein, die entweder als Erbgut jedem Menschen angeboren und nicht durch kulturelle Normen verschüttet sind oder als heteronome Normen einer dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechenden Moral durch Lernprozesse internalisiert und erworben werden. (1) Die Bestimmungen der §§ 138 und 826 BGB sowie Art. 30 EGBGB wären sinn- und gegenstandslos geworden, wenn die Gewährleistung der Gewissensfreiheit aufzufassen wäre als Freiheit von der im sittlichen Bewußtsein des Menschen sich meldenden Bindung an die im zwischenmenschlichen Interaktionensystem postulierten allgemeinen .sozialen Normen und Formen des Verhaltens, d. h. als Freiheit für jedermann, sich nach eigenem "Gusto" zu verhalten. (2) Die Gewährleistung der Gewissensfreiheit ist eine Garantie gegen Gewissenszwang, d. h. gegen die Knebelung des Gewissens durch den Staat oder durch Mitmenschen unter der Voraussetzung, daß die auf dem abendländischen Sittengesetz beruhenden und in das Grundgesetz eingegangenen Grundwertenscheidungen respektiert werden. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist Pluralismus der Religionen, Konfessionen, Weltanschauungen und politischen Richtungen mit der Existenz der Bundesrepublik Deutschland in ihrer durch das Grundgesetz geregelten staatlichen Ordnung vereinbar6 4•

(3) Autonom können nur die angeborenen Verhaltensweisen sein, weil sie für jeden Menschen evident sind, soweit sie nicht durch kulturelle Normfilter überdeckt oder verschüttet sind. Alle anderen Normen und Formen des Verhaltens sind heteronom. In diesem Sinne bedeutet "Bindung im Gewissen" freiwillige Unterwerfung in dem Rahmen, den die 64

A. M. offenbar Klier (N. 2), S. 243.

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!Ir. Das Gewissen in biologischer und humanethologischer Sicht

Eidesformel zieht. Somit bedeutet Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit ein doppeltes: angeborene Verhaltensweisen dürfen von niemandem verletzt werden, heteronome, durch Lernprozesse internalisierte Verhaltensweisen nur, soweit sie durch die Wertordnung des Grundgesetzes nicht gedeckt sind.

Vierter Abschnitt

Der im Gewissen gebundene Richter während der nationalsozialistischen Zeit 1. Moralische und strafrechtliche Schuld als variable Größen Die folgenden Ausführungen sind keine Apologie der während der nationalsozialistischen Herrschaft tätig gewesenen deutschen Richter. Vielmehr handelt es sich um einen Versuch, den Generationen, die nach 194ß geboren wurden und deshalb persönlich diese Epoche seelisch nicht miterlebt haben und geistig nicht erfassen konnten, sozusagen einen Nachhilfeunterricht zum Verständnis - nicht zur Bewältigung - der Vergangenheit zu ermöglichen. Diese Generation ist in der Wertewelt des Grundgesetzes oder anderer Weltanschauungen aufgewachsen und kann sich nicht vorstellen, daß für die Menschen der vorangegangenen Epochen der Weimarer Republik und des sog. Großdeutschen Reiches andere Lebensbedingungen, andere Wertmaßstäbe und andere sittliche Verhaltensnormen gegolten haben; diese waren zum Teil unseren zeitgenössischen Verhaltensweisen diametral entgegengesetzt, so entgegengesetzt wie z. B. heutzutage die Lebensverhältnisse und die sozialen Verhaltensweisen und -normen in der Bundesrepublik Deutschland einerseits und in der Deutschen Demokratischen Republik anderer~eits. Wer dieserhalb einen Anschauungsunterricht benötigt, lese einen Monat lang die Leserbriefe in je einer Regionalzeitung der beiden deutschen Staaten. Es genügt auch ein Nachdenken darüber, weshalb Wörter wie "Rechtsstaat", "Menschenrechte", "demokratisch" und viele andere mehr in unterschiedlichem Sinne interpretiert werden. Vor allem gilt es begreiflich zu machen, daß das, was man "Gewissen" oder "sittliches Bewußtsein" nennt, als Steuerungssystem zwar universell jedem Menschen als biologischem Wesen eignet, auch allen denjenigen, die es absehaffen wollen oder wollten, um Herrschaft zu errichten wie Hitler und seine Gefolgsleute oder um Herrschaft zu vernichten wie Andreas Baader und seine Gesinnungsgenossen. Sternberger1 erinnert an den Ausspruch Hitlers, er befreie den Menschen von den schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigungen einer Gewissen und Moral genannten 1 Dolf Sternberger: Rede über das Gewissen, in FAZ Nr. 143 vom 8.7.1978 (Beilage).

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

Chimäre, und an einen Ausspruch von Andreas Baader, das Verbrechen selber sei die Politik. "Das hieß, die kriminelle Tat sei schon ein Anfang der Befreiung von den Gesetzen und Tabus und insofern auch von dem Gewissen, als hier das offenkundige Unrecht gerade mit gutem Gewissen getan wurde und getan wird - mit gutem Gewissen, das ist aber beinahe so viel wie mit gar keinem." Hat, wovon hier ausgegangen wird, jedermann von Natur aus, d. h. biologisch gesehen, ein Gewissen, dessen Funktion in der Steuerung des sittlichen Verhaltens des Menschen innerhalb eines konkreten Gesellschaftsintegrats besteht, so ist der Inhalt dieses Gewissens, die Richtung, in die der "Kompaß" weist, von Land zu Land, von Zeit zu Zeit, von Gruppe zu Gruppe, ja von Mensch zu Mensch verschieden. Die Unterschiede beruhen einmal in der Art und Weise und in dem Verhältnis, in dem angeborene und durch Lernvorgänge internalisierte Verhaltensweisen ineinander verschränkt sind, zum anderen darauf, inwieweit durch Gewalt und Zwang, durch physischen und psychischen Terror der kulturelle Normfilter den biologischen Normfilter zu überlagern und zu verdecken vermag, ein Umstand, der geeignet ist, entweder infolge "tiefgreifender Bewußtseinsstörung" im Sinne von § 20 StGB die Schuldunfähigkeit eines Menschen anzunehmen, welcher dank der Stärke der Internalisierung die erlernte kulturelle Norm für sittlich gerechtfertigt hält und deshalb "mit gutem Gewissen" die Tat begeht, oder diesem Menschen jedenfalls den Schutz dessen angedeihen zu lassen, der im rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstand im Sinne der §§ 34 und 35 StGB gehandelt hatZ. Bei diesen überlegungen handelt es sich nicht um den Versuch, vergangene und gegenwärtige Greueltaten zu beschönigen. Es muß nur einmal deutlich gemacht werden, daß moralische und strafrechtliche Schuld, d. h. das sittliche Bewußtsein (= Gewissen) im Sinne des Wissens um "Gut" und "Böse", "Recht" und "Unrecht" keine festbestimmte, überall und jederzeit geltende, absolute, unwandelbare und unveränderliche Größe ist, auch wenn man dies "natur"-rechtlich, religiös oder weltanschaulich postuliert, und zwar jeweils durch Verallgemeinerung der eigenen Normen. Moralische und (oder) strafrechtliche Schuld ist vielmehr eine ihrem Bestimmungsgrund nach relative und deshalb ihrem Inhalt nach variable und manipulierbare Größe, die - wie eine vieltausendjährige Erfahrung zeigt - abhängig ist von den sozialen Werten und den darauf fußenden sozialen Normen, die sich innerhalb eines jeden regional, temporal und personal als Gesellschaftsintegrat konkre2 Zur Frage der Strafbarkeit staatlich befohlener Verbrechen und zum "Befehlsnotstand" vgl. die Auszüge aus Urteilsbegriindungen in sog. NS-Prozessen bei Adalbert Rückerl (Hrsg.): NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse, 1977, S. 305 ff. (313 - 324). Die Begründungen entsprechen der Kernbereichslehre von Gustav Radbruch, vgl. o. 1. Abschnitt. Ziff. 7.

1.

Moralische und strafrechtliche Schuld als variable Größen

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tisierbaren menschlichen Verbandes empirisch faßbar und nachweisbar zu "unbestreitbaren Wirklichkeiten" (Ortega y Gasset), d. h. zu gesellschaftlichen Realitäten verfestigt haben und im Sozialleben sowohl als letztlich entscheidendes Motivationsmittel für das Verhalten der Individuen in der Gesells.chaft als auch - bald als Ferment und Integrationsmittel, bald als Sprengstoff und Desintegrationswerkzeug - wirksam werden 3• Das sittliche Bewußtsein (= das Gewissen) kann nur dort als unverletzliches Grundrecht anerkannt und verfassungsrechtlich geschützt werden, wo der Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen und sittlichen überzeugungen jedenfalls bis zu einer bestimmten Toleranzgrenze anerkannt ist und die zu internalisierenden sittlichen Verhaltensweisen nicht einheitlich ("uniform") festgesetzt und aufoktroyiert werden, wie dies in allen autoritär verfaßten Gesellschaftsintegraten der Fall ist. Oder umgekehrt: Der biologische Gewissensfilter ist überall dort verstopft, wo nur diejenigen sozialen Verhaltensweisen und -normen internalhiert werden dürfen, welche autoritär festgelegt und zwangsweise als Diktat gelehrt und gelernt werden. Es ist deswegen unsinnig, von Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschen Reich unter der Diktatur gelebt und gewirkt haben, ein Schuldbekenntnis darüber zu verlangen, daß sie den damals geltenden sittlichen Anschauungen entsprochen haben, auch wenn diese mit den heute und hier maßgebenden sittlichen Anschauungen unvereinbar sind und als unsittlich qualifiziert werden. Wenn das Wort "Verstrickung", das man in diesem Zusammenhang oft verwendet, einen Sinn haben soll, so kann dieser doch nur der sein, daß diese Menschen im Gewissen mit Stricken gebunden waren, d. h. sich gar nicht anders verhalten konnten, als sie sich de facto verhalten haben. Oder werden auch diejenigen, die sich persönlich nichts zu schulden kommen lassen, etwa pflichtgetreue Beamte oder Soldaten, deswegen in persönliche und vorwerfbare "Schuld" verstrickt, weil ihre Pflichterfüllung von dem im Staate herrschenden obersten Gewaltinhaber zur Erreichung verbrecherischer Pläne mißbraucht wird? Daß die Völker das wahnwitzige Beginnen ihrer Könige büßen müssen, hat bereits Horaz in seiner Epistel (Buch I Nr. 2 Zeile 17) als Lebensweisheit und Lehre aus historischen Fakten unnachahmlich klar formuliert: "quidquid delirant reges, plectuntur Achivi". Daß aber die subjektiv unschuldige Bevölkerung obendrein noch in Schuld verstrickt werden soll, soweit sie, wozu sie durch Zwang angehalten wird, dem wahnwitzigen Führer dient, 3 Vgl. R. König: Soziale Normen, und E. E. Hirsch: Soziale Werte, in Wilhelm Bernsdorf: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. 1969; ferner meine Rechtssoziologie, in Eisermann: Die Lehre von der Gesellschaft, 1969, S. 147 - 217 (163 f.). Normen werden "stets aufgrund von Tatsachen gebildet, gestalten mehr oder weniger erfolgreich neue Tatsachen, die wieder Normenbildungen mot~vieren" (N. Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in AöR 90,

1965, 257 - 286, 278).

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

ist ein wohl nur noch aus dem Unsinn einer "Kollektivschuld" stammende und neurotisch zu deutende Verkennung des in einem derartig strukturierten Gesellschaftsintegrat maßgebenden Interaktionensystems und des Ablaufs der dadurch bedingten sozialen Prozesse. Wenn ein Mitglied des deutschen Bundestags im Jahre 1978 in einem Zeitschriftenartikel schreibt, ob einer im KZ Hitler gedient habe oder an der Front, mache in seinen Augen nur einen graduellen Unterschied, so muß dies nicht nur die Empörung aller derjenigen Frontkämpfer hervorrufen, die, ohne Mitglieder oder Sympatisanten der NSDAP zu sein, ihre Soldatenpflicht erfüllt haben, sondern zugleich auch alle diejenigen treffen, die in irgendeiner sonstigen Weise dem Staat, d. h. dem Deutschen Reich und Volk und dadurch zwangsläufig zugleich dem NS-Regime gedient haben. Davon abgesehen aber hatte der Abgeordnete insofern recht, als die Bestimmung des § 47 Abs. 1 des damals geltenden Militärstrafgesetzbuchs auch für den in den KZ-Lagern eingesetzten Personenkreis galt, wonach der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich war, wenn, durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt wurde. Wer nach der Aufrichtung neuer Wertetafeln Menschen deshalb zur Verantwortung - sei es moralisch, sei es rechtlich - ziehen möchte, weil ihre bisherigen Verhaltensweisen im Einklang mit den gestürzten alten Wertetafeln standen, verfolgt "Unschuldige". Als Beispiele sei auf die Vorgänge nach dem nationalsozialistischen "Umbruch", wie man damals das politische Geschehen euphemistisch zu nennen pflegte, aufmerksam gemacht: einmal auf die polizeilichen Maßnahmen, durch die Tausende in Konzentrationslager nur deshalb gesperrt wurden, weil sie vor Aufrichtung der nationalsozialistischen Herrschaft politischen Parteien oder Gruppierungen angehört hatten oder für sie tätig geworden waren, die den Nationalsozialismus im Rahmen der damals maßgebenden Rechtsordnung politisch bekämpft hatten; zum anderen auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns (man beachte den bewußt gewählten irreführenden Titel!) vom 7. 4. 1933, durch das Tausende und Abertausende von Berufsbeamten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes nur deshalb aus dem Amt gejagt wurden, weil sie entweder vor 1933 nazifeindlichen Parteien angehört oder in diesem Sinne politisch sich betätigt hatten oder weil sie "Nichtarier", d. h. Juden oder Abkömmlinge jüdischer Eltern waren. Man muß und darf im gleichen Atem als Beispiel die sog. Entnazifizierung nennen, da auch hier Menschen deshalb nachträglich zur Verantwortung gezogen wurden, weil sie sich vor Aufrichtung der neuen Wertetafeln des Grundgesetzes nach den Wertetafeln gerichtet hatten, die für sie während der nationalsozialistischen Epoche aufgerichtet worden waren. Das Prinzip: "nullum crimen, nulla poena sine lege" in Art. 103 Abs. 2 GG, d. h. das Verbot sowohl der

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rückwirkenden Strafbegründung wie der rückwirkenden Strafverfolgung, das auch in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention seinen Ausdruck gefunden hat, darf nicht auf das Gebiet des Strafrechts beschränkt bleiben, sondern ist ganz allgemein für die Beurteilung des politischen Verhaltens von Menschen anwendbar, deren sittliches Bewußtsein (= Gewissen) seinem Inhalt nach, wie oben ausführlich dargetan, sozialen Ursprungs ist und deshalb Unterschiede und Wandlungen aufweist, die durch den hervorgehobenen gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ursprung bedingt sind. Wo Herrschaft von Menschen über Menschen besteht (wo und wann auf unserem Planeten hätte sie nicht bestanden!), ist der oberste Gewaltinhaber - er sei, wer immer er sei - bemüht, den Inhalt der Lernprozesse der Beherrschten oder Zu-Beherrschenden so zu bestimmen und zu beeinflussen, daß deren sittliches Bewußtsein = Gewissen den von ihm aufgerichteten Wertetafeln entspricht. Wechseln der bisherige oberste Gewaltinhaber und mit ihm die bisherigen Wertetafeln, so beginnt die "Umerziehung"" (re-education) durch den Sieger nach dem berühmten Ausspruch: "adore ce que tu as brille, brille ce que tu as adore", wenn nicht gar ein Revolutionstribunal oder nach einem Kriege ein Militärtribunal des Siegers eine "Säuberung" vornimmt, um diejenigen auszumerzen, die dem obersten Gewaltinhaber des neu aufgerichteten Regimes gefährlich werden könnten. Man muß die politische Szene sehen, wie sie ist, genauer, wie sie seit jeher und überall gewesen ist. Es geht hier nicht um die Beurteilung nach den Normen irgend einer als "absolut" gesetzten Ethik, sondern um die Anwendung und Verwertung der Erkenntnisse der Humanethologie. Es geht mir darum klarzustellen, daß es während der nationalsozialistischen Herrschaft Millionen von Menschen gegeben hat, deren Gewissen durch nationalsozialistisches Gedankengut nicht angekränkelt war und die, soweit sie als Beamte oder Richter tätig waren, gewissenhaft ihre Pflichten im Rahmen der damals geltenden Rechtsordnung getan haben. Diese Menschen nur deshalb zu diskriminieren, weil die damalige Rechtsordnung, wenn sie nach den heutigen Wertetafeln beurteilt wird, eine Unrechtsordnung darstellt, verkennt nicht nur, sondern leugnet die politische Realität der vergangenen Epoche und ihres Zeitgeistes. Es ist - mit Verlaub - der Kritiker und "Saubermänner" eigener Geist, in dem die nationalsozialistischen Zeiten sich bespiegeln. Auch wer als Mitglied der NSDAP von der Richtigkeit der von der Partei proklamierten Thesen und Normen überzeugt war und sich in seinem Verhalten danach gerichtet hat, hatte durch Internalisierung von sozialen Verhaltensnormen und -formen (z. B. des sog. Hitlergrußes) einen kulturellen Normfilter erworben, der die Poren des biologischen Normfilters verstopft hatte. Nach nationalsozialistischem Rassenwahn wa-

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ren Juden keine Menschen, Polen und Russen "Untermenschen", während allein die Deutschen als reinblütige "Arier" zur Weltherrschaft berufen waren. Man muß sich darüber im klaren sein, daß das sittliche Bewußtsein vieler Leute nicht mehr die umgreifende Spezies "Mensch" kannte, sondern nur noch "Arier" als Artgenossen ansah, während alle anderen entartet und deshalb minderwertig und als "Feind" umzubringen oder zu unterjochen waren. Es handelt sich bei dieser Beurteilung nicht um eine Rechtfertigung von Greueln, sondern um die sachlich-wi&senschaftliche Feststellung eines sozialen Phänomens, das zunächst innerhalb der Grenzen des Deutschen und alsdann des "Großdeutschen" Reiches und schließlich überall dort, wo der zweite Weltkrieg sich au&wirkte, Millionen von Menschen in "Verstrickungen" gebracht hat, die zwar nach angeblich "absoluten" Wertmaßstäben einer Religion, Philosophie, Weltanschauung negativ beurteilt werden können, aber im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland angesichts der oben erörterten Relativität der Wertetafeln allein nach dem Prinzip der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit beurteilt werden dürfen. Dem Verbot der rückwirkenden Strafverschärfung entspricht das Gebot der Rückwirkung der Strafmilderung. Dies führt dazu, das Verhalten eines Menschen während der nationalsozialistischen Vergangenheit zwar im Rahmen der damaligen sozialen Lebensbedingungen zu sehen, aber angesichts des auch ihm heute und hier zustehenden Grundrechts der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit allein nach Art. 4 Abs. 1 GG zu beurteilen. Zu jener Zeit bestand Gewissenszwang: Wer sich diesem Zwang bewußt entzog oder gar dagegen offenen Widerstand leistete, riskierte den Verlust von Freiheit, Gesundheit und Leben nicht nur seiner selbst, sondern auch dank der sog. Sippenhaft seiner nächsten Angehörigen. Diese als Widerstandskämpfer heute glorifizierte Personengruppe war im Verhältnis zur Zahl der Gesamtbevölkerung außerordentlich gering. Nur deshalb gelten sie heute als "Märtyrer". Alle diejenigen, die sich dem Gewissenszwang bewußt und gewollt beugten, weil sie die entsprechenden Verhaltensweisen in ihr sittliches Bewußtsein (Gewissen) in einem Maße internalisiert hatten, daß das biologische Gewissen völlig überdeckt war, konnten, wenn ihr Tun und Lassen mit den damals postulierten Verhaltensnormen im Einklang stand, das nach unseren heutigen Auffassungen Unrechte ihres Tuns nicht bemerken, weil ihr "Kompaß" auf den damals tatsächlich postulierten "Sollwert" eingestellt war. Ihr Gewissen konnte nicht schlagen, d. h. aus der Latenz in die Virulenz übergehen. Diese Menschen, die jedenfalls bis zur Wende des Kriegsglückes weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht haben dürften, haben - subjektiv und objektiv gesehen - nach ihrem Gewissen gehandelt und können sich deshalb auch

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heute auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. In heutiger Sicht lag bei ihnen eine tiefgreifende Bewußtseinsstörung vor, weil der kulturelle Normfilter den biologischen völlig unterdrückt hatte. Derartige Sachverhalte, bekannt als "GewissensirrtÜffier" (bei überzeugtheit ihres Trägers) unter dem Druck kollektiver Idole, sind nicht erst zur Zeit des sog. völkischen Gewissens zu konstatieren. "Die Geschichte lehrt, wie oft das Gewissen geirrt hat (Inquisition, Ketzergerichte, Hexenverfolgung), wie oft sich Menschen für entgegengesetzte Entschlüsse auf ihr Gewissen berufen (20. Juli 1944) und wie oft auch das Gewissen gegebene Verhältnisse und Gewohnheiten hinnimmt, obwohl sie, würde man sie heute nach rechtsethischen Maßstäben beurteilen, vielleicht bekämpft werden müßten4 ." Se bastian H affner erinnert daran, daß Hitler von der "Sozialisierung der Menschen" gesprochen habe, von der Einordnung "in eine Disziplin ... , aus der sie nicht herauskönnen". Hiermit meinte er die außerfamiliären Gemeinschaften, an denen für die meisten, ob die Mitgliedschaft nun offizieller Zwang war oder nicht, praktisch kein Vorbeikommen war (Anmerkungen zu Hitler, 1978, S. 50 f.). Diejenigen schließlich, welche die Internalisierung nationalsozialistischer Verhaltensweisen zwar bei ihren schulpflichtigen Kindern nicht verhindern konnten, für ihre eigene Person aber die Internalisierung ablehnten, hörten zwar gegebenenfalls die Stimme ihres Gewissens. Niemand aber kann und darf diesen Personen einen Vorwurf machen, wenn sie der Stimme ihres Gewissens nicht gefolgt sind, weil sie andernfalls Leben, Gesundheit oder Freiheit ihrer eigenen Person oder einer ihnen nahestehenden anderen Person gefährdet hätten. Sie sind von Schuld freizusprechen, auch wenn ihr nach der damals maßgebenden Rechtsordnung rechtmäßiges Verhalten in heutiger Sicht rechtswidrig istO. , Bruno Heusinger: Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 123; über die historische Entwicklung der philosophischen Lehre vom "irrenden Gewissen" vgl. Hans Welzel: Gesetz und Gewissen, in Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, 1960, S. 383 - 400, 385 ff. S Diesem auf den Erkenntnissen der Biosoziologie und der Verhaltensforschung beruhenden Ergebnis entspricht es, wenn Sternberger (N. 1) auf geisteswissenschaftlich-soziologischer Grundlage die folgenden Ausführungen macht (zu denen nur angemerkt sei, daß der Verf. unter "Gewissen" den biologischen Normfilter meint): "Bei der großen Zahl derjenigen, die - um nur das Äußerste zu nennen - an der Ausführung der sog. Euthanasie-Aktion, an der Verwaltung der Konzentrationslager und an den Einsatzgruppen an der Ostfront aktiv beteiligt gewesen sind, (war) die Abschaffung des Gewissens bemerkenswert weit gediehen. Es ist, als wäre diesen Menschen das Gewissen herausoperiert, extirpiert worden ... Diese Operation (bewirkte) bei den Massen nicht Freiheit, sondern gerade absolute Abhängigkeit, indem an der vakanten Stelle gleichsam ein Ersatzorgan eingesetzt wurde. Es trug den etwas romantischen Namen ,Gefolgstreue' (Verf. meint hiermit den sog. kulturellen Normfilter). Nicht ohne Grund und nicht zu Unrecht haben sich so viele Beklagte in Nürnberg und anderwärts auf die Befehle berufen, die sie auszuführen gehabt hätten bei Gefahr des eigenen Untergangs. Nur daß der Begriff des ,Befehlsnotstands' doch eigentlich nicht mehr so recht greift, wo

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Auch ihnen muß, soweit sie noch am Leben sind, das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG zugute kommen, da die unverletzliche Freiheit des Gewissens es unter der Geltung des Grundgesetzes jedem Menschen freistellt, auf den Ruf seines Gewissens zu hören oder nicht zu hören.

2. Die Stellung des Richters in der Gesellschaft Die Stellung des Richters in der Gesellschaft wird sehr oft falsch gesehen und beurteilt. Man verlangt von ihm Unabhängigkeit und Gerechtigkeit, vergißt aber, daß der Richter an das Gesetz "gebunden", dem Gesetz "unterworfen" ist, welches vom Gesetzgeber als Verwirklichung und Konkretisierung "der" Gerechtigkeit, in Wirklichkeit der Gerechtigkeitsvorstellungen der Mehrheit des gesetzgebenden Organs, beschlossen und mit Allgemeinverbindlichkeit verkündet und in Kraft gesetzt wird. "Der" Richter ist ebenso wie "der" Gesetzgeber eine Abstraktion. Real tätig sind allein die konkreten Menschen, die als Mitglieder der Richterschaft oder des zur Gesetzgebung zuständigen Organs die entsprechenden Funktionen auszuführen und aufeinander abzustimmen haben. Je ungebundener und rücksichtsloser die Mehrheit im Gesetzgebungs~ organ ihre Vorstellungen von "Gerechtigkeit" durch das Mittel und in der Form des Gesetzes in anzuwendendes Recht zu verwirklichen sucht, um so stärker muß der oberste Gewaltinhaber darauf bedacht sein, die Richter so eng wie möglich an die Kette des Gesetzes zu legen. In einer Diktatur steht deshalb die Richterschaft als Kollektiv unter dem oft bis zum Terror reichenden Druck des staatlichen Gewaltapparats, der einzelne Richter dementsprechend unter dem psychischen Zwang, bei der Anwendung des Rechts dem im Gesetz offensichtlich oder mutmaßlich geäußerten "Gerechtigkeitsgebot" des Gesetzgebers sowie etwaigen vom obersten Gewaltinhaber erlassenen Richtlinien zu entsprechen, wenn der Gehorsam infolge jener Gewissensoperation zum automatischen, ja gar zur organischen Funktion geworden ist." Zeitgenössisches Anschauungsmaterial für die Richtigkeit dieser tatsächlichen Feststellung liefert der Fall Jim Jones mit dem lVIassenselbstmord von vielen Hunderten von Anhängern einer amerikanischen Sekte in Guyana. Nähere Angaben über diese soziale Erscheinung unserer Tage bei Michael Fritzen: "Fragen nach dem Unfaßbaren" und "In den Fallen der Jugendsekten" in: FAZ Nr. 260 vom 23. 11. 1978 und Nr. 261 vom 24. 11. 1978. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, 1974. Luhmann (N. 3, S. 275) erklärt: "Unpersönlich ist das formal organisierte Handeln in Beruf und Wirtschaft ... Daraus wird auch verständlich, daß so viele Nationalsozialisten nicht dazu kamen, ihr Gewissen zu beteiligen, und heute die hilflosesten Opfer des Nationalsozialismus sind, weil sie mit etwas identifiziert bleiben, was sie als eigenes nicht wollen können."

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er nicht seine eigene und seiner Angehörigen Freiheit, Gesundheit und Leben aufs Spiel setzen will. Trotz dieser persönlichen Gefährdung war die Mehrheit der deutschen Richter während der nationalsozialistischen Epoche bemüht, unter der Tarnung mit nationalsozialistischen Phrasen einen rechtsstaatlichen Standard zu wahren, wenn ein Pauschalurteil mit allen seinen möglichen Ausnahmen und Abweichungen als zulässig angesehen wird. Diesen Eindruck gewinnt ein Jurist bei der Lektüre der in den amtlichen Sammlungen und in den Fachzeitschriften während der fraglichen Zeit veröffentlichten Gerichtsentscheidungen, die, auch wo sie die nationalsozialistische Phraseologie verwenden, im sachlichen Gehalt nicht als nationalsozialistisches Unrechtsurteil angeprangert werden können - von Ausnahmen abgesehen! Vor allem bei der Beurteilung der Strafrechtspraxis, die politisch stets im Vordergrund des Interesses steht, muß man folgende Umstände berücksichtigen: Durch Verordnungen vom 21. 3. 1933 und 5.2.1936 wurden Sondergerichte für die Aburteilung bestimmter Straftaten gebildet, insbesondere für die in § 134 a und § 134 b 8tGB neu normierten Tatbestände der Beschimpfung von Partei und Staat und der im sog. Heimtückegesetz vom 20. 12. 1934 aufgeführten Tatbestände der Angriffe auf Partei und Staat. Ferner wurde 1934 dem Reichsgericht, dessen Mitglieder überwiegend dem Nationalsozialismus ablehnend oder skeptisch gegenüberstanden, seine bisherige Zuständigkeit in Strafsachen wegen Hoch- und Landesverrats entzogen und auf den in Berlin neugegründeten "Volksgerichtshof" übertragen. Sowohl die Mitglieder des Volksgerichtshofes, der nur in besonders spektakulären Fällen tätig wurde, als auch die Mitglieder der Sondergerichte, die sich durch besondere Kriterien bei der Richterauswahl von den ordentlichen Gerichten unterschieden, waren absolut zuverlässige Parteigenossen, die sich durch eine besonders harte Straf justiz auszeichneten. Der Volksgerichtshof ist durch seine "Bluturteile", auf die noch eingehend zurückzukommen ist, repräsentativ geworden für die Gerichtsbarkeit im Dritten Reich. Zu Unrecht, da die Zahl der Entscheidungen des Volksgerichtshofs verschwindend gering ist im Verhältnis zur Zahl der Entscheidungen in der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit, von der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit zu schweigen. Ferner wird meistens der Anteil der Militärgerichtsbarkeit an der Strafrechtspflege während der nationalsozialistischen Periode übersehen. Dieser Anteil wuchs vom Augenblick der Wiederaufrüstung ab ständig durch das Anwachsen der Streitkräfte, deren Angehörige nicht der allgemeinen Strafgerichtsbarkeit, sondern als Soldaten der Wehrmachtsjustiz unterstanden, was auf dem Höhepunkt des Krieges einen sehr erheblichen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachte. Dadurch stand

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die Militärgerichtsbarkeit als solche in einem natürlichen Gegensatz zur Massenorganisation der NSDAP, weil deren Mitglieder und Nichtmitglieder dem Einfluß der Partei entzogen und den Heeres-, Marine- oder Luftwaffenrichtern strafrechtlich zugeordnet waren. Dies schmälerte den Totalitätsanspruch der Partei, so daß die Wehrmachtsjustiz sich in ständiger Gefahr befand, ähnlich wie 1934 das Reichsgericht, bei der Aburteilung von Strafsachen entmachtet zu werden. Allerdings unterscheidet sich die Militärgerichtsbarkeit wesentlich von der allgemeinen Gerichtsbarkeit, weil bei der Beurteilung strafbarer Handlungen die Einzelfallgerechtigkeit hinter die Wahrung militärischer Belange (z. B. Aufrechterhaltung der Manneszucht, Bewahrung der Funktionsfähigkeit der bewaffneten Macht) zurücktritt. Das Rechtsdenken wird durch militärisches Zweckdenken ergänzt, dessen Beachtung durch Erlaß von Richtlinien der militärischen Kommandostellen, durch Befugnisse des "Gerichtsherrn" hinsichtlich der Bestätigung oder Aufhebung richterlicher Entscheidungen, durch die Weisungsgebundenheit der Anklagevertreter sowie durch die Zusammensetzung der Richterbank (ein Militärrichter als Verhandlungsleiter und zwei militärische Beisitzer) "gesteuert" wird. Trotz der dadurch bedingten Zurückdrängung des rein rechtlichen gegenüber dem militärischen Zweckdenken war - von Ausnahmen abgesehen - die Militärgerichtsbarkeit "keine Terrorjustiz, die mit rücksichtsloser Härte und Strenge jeder strafrechtlichen Verfehlung und jedem politischen Aufbegehren entgegengetreten wäre. Sie hat sich nicht zum blinden Werkzeug drakonischer Gesetze degradieren lassen 6 ". Daß dies im großen und ganzen so gewesen ist und die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Wehrmachtsjustiz sich nicht zum Büttel nationalsozialistischer Funktionsträger und zum Vollstrecker na6 Otto Peter Schweling: Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, 1977. Vgl. zu dieser Problematik Lothar Gruchmann: Ausgewählte Dokumente zur deutschen Marinejustiz im Zweiten Weltkrieg. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 26. Jahrgang 1978, 3. Heft, Juli 1978, S. 433 - 498. Zusammenfassend meint Gruchmann auf S. 498 u. a.: "Eine Rechtsprechung, die an die Strafgesetze des Regimes und an eine von militärischen Erfordernissen geprägte Verfahrensordnung gebunden, der Nachprüfung und Bestätigung durch die Gerichtsherren sowie der "Steuerung" von oben unterworfen war, kann ... an rechtsstaatlichen Idealmaßstäben nur bedingt gemessen werden. Schon der bescheidene Ausschnitt, den die vorliegende Dokumentation bietet, zeigt, daß die Marinerichter teils den Vorschriften, Richtlinien und Intentionen der Führung freiwillig oder notgedrungen folgten, teils im Interesse der Gerechtigkeit aber auch von ihnen abwichen ... . . . Als sichtbare Ergebnisse der Tätigkeit der Marinejustiz stehen jedenfalls Urteile von unverständlicher Härte, die der Gerechtigkeit hohnsprechen, neben Entscheidungen, die auch nach rechts staatlichen Gesichtspunkten - unter Berücksichtigung der von jeder Militärjustiz im Kriege anzuerkennenden Notwendigkeiten - als "normal" anzusehen sind. Wie alle Ressorts und Institutionen, die im damaligen Staat "funktionierten", konnte auch die Marinejustiz dem Verhängnis nicht entrinnen, daß sie damit zwangsläufig dem NS-Regime diente."

2. Die Stellung des Richters in der Gesellschaft

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tionalsozialistischer Willkürakte bereitgefunden haben, sondern nach Möglichkeit von dem ihnen gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraum zugunsten der Betroffenen Gebrauch gemacht haben und selbst in den besonders unbarmherzigen Zeiten des Krieges nach Recht und Billigkeit und nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes zu judizieren bestrebt waren, dafür gibt es einen schlagenden Beweis: Durch Beschluß des "Großdeutschen Reichstags" vom 26. April 1942 wurde Hitler zum "Oberst€n Gerichtsherrn des deutschen Volkes" ernannt; als solcher erhielt er die Befugnis, "sämtliche Richter, ohne an bestehende Rechts.. vorschriften gebunden zu sein, mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln zur· Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten und bei Verletzung ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte und ohne Einhaltung vorgeschriebener Verfahren aus dem Amt und der Stellung zu entfernen". Damit war die gesetzliche Garantie der Unabhängigkeit aller Richter beseitigt. Diese waren ausnahmslos der persönlichen Willkür des zum absoluten Herrn über Leben und Tod eingesetzten Führers und seiner Helfershelfer ausgeliefert, wenn sie ihre Pflichten nicht in dem Sinne erfüllten, wie es Hitler und die Parteiführung verlangten. Unter diesen Umständen wäre es begreiflich gewesen, wenn kein Richter während der nationalsozialistischen Herrschaft als "Gewissensfanatiker" zum "Märtyrer seiner sittlichen überzeugung"7 geworden wäre. Es gab aber solche Märtyrer sogar an höchster Stelle: Das in Fußnote 6 zitierte Buch von Schweling ist dem Gedächtnis von Dr. Karl Sack, Chef der Heeresrechtsabteilung von 1942 - 1944, und von Dr. Rüdiger Schleicher, Chef der Luftwaffenrechtsabt€ilung von 1935 - 1939, gewidmet. Beide wurden wegen ihrer aufrechten Haltung zum Tode verurteilt und 1945 kurz vor Kriegsende hingerichtet! Ihre Namen stehen für zahlreiche andere, die ebenfalls, weil sie sich im Gewissen gebunden fühlten, innerhalb des ihnen Möglichen versuchten, auf dem Boden des Militärstrafgesetzbuches Recht zu sprechen, und zwar - was meistens unbeachtet bleibt - als Garantie der Chancengleichheit innerhalb einer soldatischen Solidargemeinschaft, die täglich, stündlich, minütlich mit Tod und Verderben in Tuchfühlung stand. Diese Richter, die nicht gegen ihr Gewissen, in dem sie sich gebunden fühlten, handeln wollten und konnten, ohne vor sich selbst die Achtung zu verlieren, waren echte Märtyrer ihres Gewissens, aber keine "Widerstandskämpfer" im Sinne der Männer des 20 Juli 1944; denn diese waren, auch wenn bei vielen von ihnen Gewissensmotive eine Rolle gespielt haben, vor allem politisch engagiert und davon überzeugt, daß es anders werden müsse, wenn es besser werden solle. Ihr Verhalten war keine unmittelbar evidente Reaktion absoluten Sollens, sondern ein von langer Hand vorbereiteter und logistisch geplanter 7

Th. Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, hrsg. von Trappe,

1964, S. 226 f.

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Umsturzversuch. "Von Gewissens wegen, d. h. sittlich handelt, wer sich auch gegen die herrschende Norm durchsetzen kann, wenn er sie als inhuman erkennt - aber auch nur dann; nicht, wenn er allein um der Aufhebung willen die etablierte Form zerstört8." Nicht "das Gewissen" ist damals aufgestanden, wie es in Erinnerungsreden und -aufsätzen heißt; sondern die Männer des 20. Juli 1944 haben aus der politischen Überzeugung heraus gehandelt, angesichts der Kriegslage nur auf dem von ihnen eingeschlagenen Weg dem deutschen Volke die Existenz retten zu können. Sie haben bewußt ihr Leben aufs Spiel gesetzt; denn sie mußten damit rechnen, daß ein Mißlingen ihres Vorhabens als Hochverrat zu werten und zu ahnden war und auch in dieser Weise bestraft worden ist. Der Soldat, der seinen Fahneneid bricht, begeht Hochverrat; der Richter, der seinen Richtereid bricht, Rechtsbeugung. Die Gewissensproblematik bei allen Angehörigen der Justiz während der nationalsozialistischen Herrschaft ist besonders dadurch belastet, daß die Richter, auch wenn sie nicht der NSDAP beigetreten waren, durch ihren Amtseid auf den Führer sich in ihrem Gewissen zu Gehorsam und Gefolgschaftstreue um so stärker gebunden fühlten, als ihnen der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Gesetzesbefehl immer wieder von ihren akademischen Lehrern gepredigt worden war. Das "dura lex sed lex" war ihrem Gewissen eingemeißelt. Während des Krieges, der allseits mit äußerster Erbitterung geführt wurde, begriff, ja verlangte jedes Volk - wie es auch im Nürnberger Juristen-Urteil der Alliierten anerkannt worden ist - eine strengere Anwendung des Strafrechts vor allem bei Delikten, welche die Kampfkraft der Truppe oder die moralische Widerstandskraft der Bevölkerung schwächen oder die allgemeine Notlage verschärfen konnten oder gar zur Erlangung persönlicher Vorteile dienten. Durch derartige Einflüsse wird der "Sollwert" des Reglers im biologischen Gewissen des Richters erhöht. In einer derartigen Situation bleibt das Gewissen in Fällen, in denen es unter normalen Umständen virulent geworden wäre und seinen Warnruf hätte ergehen lassen, latent. Der Richter, der im Rahmen seines Ermessensspielraums ohne äußerste Gefährdung seiner eigenen Person und seiner nächsten Angehörigen seine Amtspflichten sorgfältig wahrnahm nach Maßgabe der Gesetze, denen er unterworfen war und denen er entsprechend seinen während des Studiums und seiner Referendarausbildung erworbenen Vorstellungsinhalten ("Vorverständnis") unbedingten Gehorsam schuldete, hat nach seinem Gewissen gehandelt. Juristen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft in dieser Weise ihre Pflicht getan haben, haben sich weder rechtlich noch moralisch schuldig gemacht und keinerlei Veranlassung, gegenüber der heutigen Generation, die alle diese Komplika8

Wolfgang Wickler: Die Biologie der Zehn Gebote, 1971, S. 10.

3. Der Fall "Filbinger"

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tionen und Implikationen jener bösen Jahre nicht versteht und begreift, "fili peccavi" zu sagen. Ihre Freiheit des Gewissens, die zugunsten eines jeden von ihnen in Art. 4 Abs. 1 GG als Grundrecht für unverletztlich erklärt worden ist, wird in gröblichster Weise verletzt, wenn man ihnen heute mehr als 30 Jahre post festum, ein Verhalten moralisch zum Vorwurf macht, das nach damaliger Auffassung auch unter ethischem Gesichtswinkel lediglich als Pflichterfüllung und keinesfalls als moralisch vorwerfbares Unrecht beurteilt worden ist. Alle diejenigen, die sich zwecks "Bewältigung der Vergangenheit" als rigorose Hüter der Grundwert.e unseres freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats fühlen oder aufführen zu müssen glauben, wissen nichts von der wissenschaftlich feststehenden und unbestreitbaren bio-soziologischen Erkenntnis einer Interdependenz zwischen erbbiologischen Anlagen und sozialer Umwelt9 • Obwohl sie diese Kenntnis über die wechselseitige Bezogenheit zwischen den zu Eigenschaften gewordenen Anlagen und der sozialen Umwelt besitzen müßten, verletzen sie das heutzutage jedem Menschen als unverletzlich garantierte Grundrecht der Gewissensfreiheit von Mitmenschen, die ihrem nach den Maßstäben ihrer Zeit und ihres Milieus geprägten Gewissen gefolgt sind. 3. Der "Fall Filbinger" als Paradigma für die ungesühnte Verletzung des "unverletzlichen" Grundrechts der Gewissensfreiheit Paradigmatisch und obendrein tragisch für den Betroffenen ist der "Fall Filbinger". Ohne auf Einzelheiten einzugehen, seien zur Kennzeichnung des Problems nur einige Tatsachen festgehalten: Die Wochenzeitung "Die Zeit" druckte am 17. Februar 1978 eine Leseprobe aus einer unveröffentlichten Erzählung von Rolf Hochhuth nach. Der letzte Absatz lautete in seinen wesentlichen Punkten: "Nein, niemand begehrt die Wahrheit zu wissen ... Am wenigsten sind die Behörden des Landes Baden-Württemberg daran interessiert, die in ihrem Bundesland lebenden und dort Pension verzehrenden Mörder ... dingfest zu machen ... Ist doch der amtierende Ministerpräsident dieses Landes, Dr. Filbinger, selbst als Hitlers Marinerichter ... ein so furchbarer ,Jurist' gewesen, daß man vermuten muß - denn die Marinerichter waren schlauer als die von Heer und Luftwaffe, sie vernichteten bei Kriegsende die Akten - er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten." Nachdem Filbinger gegen den Autor und die Wochenzeitung Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung nebst Unterlassungsklage beim Landgericht Stuttgart erhoben hatte, erklärte die Wochenzeitung in ihrer Ausgabe vom 12. Mai 1978, die obige Äußerung sei nicht haltbar 9

Siehe 1. Abschnitt, Ziff. 7 (d) mit Anm. 58.

7 Hlrscn

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gewesen. "Auch wenn jeder, der ihn kannte und noch reden kann, reden würde, wäre Hans Filbinger auf freiem Fuß und sogar wohl Ministerpräsident. " Nachdem die Urheber und journalistischen Helfershelfer der Kampagne gegen Filbinger damit eingestanden hatten, daß sie die gegen diesen erhobenen rechtlichen Anschuldigungen des Mordes nicht aufrecht erhalten konnten, verlagerten sie die Fortsetzung ihrer Angriffe auf das moralische Gebiet. Charakteristisch dafür war der Leitartikel, der gleichzeitig mit dem Widerruf des rechtlichen Vorwurfs in der oben erwähnten Ausgabe der Zeitschrift vom 12. Mai 1978 erschien und in folgenden Sätzen gipfelte: "Es dreht sich um die Feststellung, daß er, der Nichtnazi, der Antinazi, als Marinestabsrichter ein Als-ob-NazJ war: Er handelte, als ob er Nazi gewesen wäre. Ein Blutordensträger hätte Hitler nicht besser bedienen können ... Filbinger war ein Durchführer des Führers, wie Rolf Hochhuth formuliert hat. Er war ein Diener des Terrorstaats, ein Pflichterfüller im Befehlsverband; aus anderen Gründen, doch mit demselben Ergebnis ... Er wehrt jede Schulderfahrung ab. Er gibt sich - Erhard Eppler hat da ganz recht - dem Genuß eines ,pathologisch guten Gewissens' hin ... Daß er an der Gemeinheit der Gewalt teilgenommen hat, verdichtet sich bei ihm nie zum Bekenntnis der Verstrickung ... Ist das eigentlich beides zugleich möglich, ist es menschlich, im Amte zu bleiben und keinerlei Einsicht, keinerlei Reue zu zeigen? ... Schon die geringste Spur von Demut, von Einsicht, von Erschütterung wäre überzeugender als die eherne Selbstgewißheit und Selbstgerechtigkeit des Unerschütterlichen. Es hieße dies auf jeden Fall, Menschlichkeit über Juristerei stellen ... " Aus diesen und hunderten ähnlicher Ausfälle läßt sich ein Ausmaß von Unkenntnis nicht nur in bezug auf das damals und heute, hier und in anderen Staaten der westlichen Welt geltende positive Recht, sondern vor allem hinsichtlich wichtiger sozialer Zusammenhänge und grundlegender Wertungen entnehmen, der erschreckend ist. Kommt es doch, wie ich nochmals in Übereinstimmung mit Mattil 10 hervorheben möchte, bei der Beurteilung schuldhaften und sittlich vorwerfbaren Handeins allein auf das im sittlichen Bewußtsein der Zeitgenossen verfestigte, das - im intersubjektiven Sinne gemeint - "kollektive Gewissen" an, das zur Zeit und im Jurisdiktionsbereich der Tat feststellbar ist. Noch erschreckender ist aber die Unbekümmertheit, mit der das im Grundgesetz als "unverletzlich" anerkannte Grundrecht der Gewissensfreiheit ignoriert und verletzt wird. Denn angesichts des Verfassungsgebots in Art. 4 Abs. 1 GG hat niemand die Befugnis, einem anderen irgendwelche Vorhaltungen wegen der Reaktion oder ausgebliebenen Reaktion seines Gewissens zu machen, da, wie bereits im 3. Abschnitt dieser Schrift dargetan, der Gewissensruf eines jeden Individuums situations10

215.

Friedrich Mattil: Gewissenanspannung, in ZStW 74 (1962), S. 201 - 244,

3. Der Fall "Filbinger"

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bedingt ist und von Umständen abhängt, die es nicht zu verantworten hat. Gerade deshalb ist die Gewissensfreiheit als Grundrecht eines jeden Menschen für "unverletzlich" erklärt, weil es im Rahmen einer freiheitlichen und demokratischen Grundordnung weder mit der Würde des Menschen (Art. 1 GG) noch mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) vereinbar ist, daß ein Mitglied der Rechtsgemeinschaft sich zum Sittenrichter über ein anderes Mitglied dieser Rechtsgemeinschaft aufwirft. Dies ist ein offensichtlicher Mißbrauch der Meinungsäußerungsfreiheit. "Aus dem Aufbau der grundrechtlichen Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergibt sich, daß Mißbrauch namentlich dann vorliegt, wenn die Würde der Person anderer verletzt wird", wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat (BVerfGE 12, S. 4). Aber kann und darf man den Journalisten und Publizisten den Vorwurf der Ignorierung und Verletzung von Grundrechten und die unbekümmerte Nichtachtung der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vorwurf machen, wenn noch nicht einmal die drei Richter der 17. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart in ihrer Entscheidung vom 13.7.1978 (Gesch. NI'. 17 0 43/78) die Bestimmungen der Art. 1, 3, 4 und 5 GG und deren Verhältnis zueinander berücksichtigt und die dazu vorhandene grundlegende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überhaupt in Betracht gezogen haben?! Das Gericht hat -die Formulierung, Filbinger sei "ein so furchtbarer Jurist" gewesen, zwar als ehrverletzend qualifiziert, aber diese Wertung für zulässig gehalten. Daß auch die Ausdrucksweise "Hitlers Marinerichter" bewußt und gewollt ehrverletzend war und neben Filbinger alle deutschen Richter traf, -die vor oder nach der Kapitulation als Militärrichter tätig waren, haben die drei Richter anscheinend überhaupt nicht gemerkt. Das Landgericht erklärt unter ausdrücklichem Hinweis auf die entgegenstehende wehrstrafrechtliche Literatur, daß in der Endphase des Kriegs die Wehrmachtsrichter sich den Führerbefehlen nur in engen Grenzen entziehen konnten. Dies mag als Tatsachenvermutung hingehen, kann aber nicht zu dem rechtlichen Schluß führen, daß alle Wehrmachts richter in jener Zeitspanne "Hitlers Richter" gewesen seien, d. h. stets und in jedem konkreten Einzelfall Recht im Sinne des Nationalsozialismus gesprochen hätten. Dies ist eine durch § 291 ZPO nicht gedeckte, also willkürliche und obendrein alle damaligen Wehrmachtsrichter schwer verletzende, ja verleumdende Feststellung eines dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland unterworfenen Gerichts! Auch der Satz: "jura novit curia" scheint auf die Mitglieder dieser Zivilkammer nicht 'anwendbar zu sein, da sie bei der Beurteilung des Verhaltens von Filbinger nach der Kapitulation den damals allgemein geübten und bekannten Gerichtsgebrauch nicht berücksichtigt haben, wonach bei der Anwendung des aus der Nazizeit überkommenen Rechts 7·

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

alle Normen nationalsozialistischen Inhalts von vorneherein als nicht mehr geltendes Recht erachtet wurden, so daß die Ausdrucksweise "Hitlers Marinerichter" nun gänzlich sinnlos und absurd war. Obwohl die Grundrechte zu achten und zu schützen nach Art. 1 GG rechtliche Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, also auch eines Gerichts ist, hat die erkennende Zivilkammer es versäumt, die angeführte Formulierung im Satzzusammenhang unter dem Gesichtspunkt einer vorsätzlichen Verletzung eines dem ehemaligen Militärrichter und derzeitigen Ministerpräsidenten als einem Menschen zustehenden unverletzlichen Grundrechts auch nur zu prüfen, ungeachtet seiner sozialen Stellung (Art. 3 GG!). Diese Nichtbeachtung, um nicht zu sagen Nichtachtung der jedem Gericht als Teil staatlicher Gewalt verfassungsmäßig obliegenden Verpflichtung, hatte Filbinger im Auge, als er im Landtag von Baden-Württemberg anläßlich der Niederlegung seines Amtes als Ministerpräsident erklärte, er sei bei der Einleitung gerichtlicher Schritte gegen die ehrverletzenden Angriffe "noch davon aus(gegangen), daß in unserem Staat auch ein im leitenden politischen Amt Stehender einen Anspruch auf die in Art. 1 GG jedem verbürgten Menschenwürde habe". Wenn dies kein leeres Wort sein solle. gehöre dazu ein wirksamer Ehrenschutz. Er stehe zu der öffentlichen Meinungsfreiheit. Er sei aber nicht bereit, schwerste Ehrverletzungen im Namen der Meinungsfreiheit hinzunehmen. "Ein freiheitlicher Rechtsstaat, in dem die persönliche Ehre mit Füßen getreten werden kann, ruiniert sich selbst. " In dieser Formulierung sah die Standesvertretung der Stuttgarter Richterschaft nicht etwa eine Urteilsschelte, die jedem Betroffenen zusteht, sondern merkwürdigerweise eine Einmischung der Exekutive in die Unabhängigkeit der richterlichen Rechtsfindung, obwohl das fragliche Urteil schon gefällt und rechtskräftig war. Hätte es nicht viel näher gelegen, in der vordergründig allein gegen Filbinger gerichteten Formulierung Hochhuts, Filbinger sei ein so furchtbarer Jurist gewesen, in Wirklichkeit einen ehrenkränkenden Vorwurf gegen alle im letzten Weltkrieg tätig gewesenen, aber trotzdem heute in öffentlichen Stellungen stehenden deutschen Militärrichter, ja sogar gegen alle im Bundesland Baden-Württemberg angeblich gegen "Mörder" untätig gebliebenen Richter und Staatsanwälte zu sehen? Offensichtlich kann ein Großteil der heutigen Generation der J ournalisten und Juristen die nur 30 - 40 Jahre zurückliegenden sozialen Verhältnisse, Institutionen, Normen und tatsächlichen Verhaltensweisen, die für die Angehörigen der Kriegsgeneration objektiv gegebene und für sie unausweichliche Lebensbedingungen waren, nicht als reale, das sittliche Bewußtsein der Zeitgenossen bestimmende Fakten begreifen, welche den damaligen kulturellen Normfilter der Individuen geprägt

3. Der Fall "Filbinger"

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und den biologischen Normfilter großenteils verstopft hatten. Wer in einem sozialen Milieu von "lawand order" die dadurch bedingten Normen und Formen des Soziallebens internalisiert hat und z. B. die gesetzliche Androhung, die gerichtliche Verhängung und gegebenenfalls die Vollstreckung der Todesstrafe als geeignetes Mittel der Abschreckung und Repression von Handlungen, welche den Bestand der Gesellschaft auf das schwerste gefährden wie z. B. Fahnenflucht im Krieg, als gerechtfertigt in seinem sittlichen Bewußtsein verfestigt hat, empfindet die gesetzentsprechende Ahndung des als Beispiel angeführten Verbrechens im konkreten Fall nicht als außergewöhnliches und verwerfliches Verhalten, sondern als sachgemäße Reaktion der dazu zuständigen Diener der Staatsgewalt. Insbesondere der Ankläger oder Richter, der bei Vorliegen aller gesetzlich bestimmten Tatbestandsmerkmalen eines mit Strafe bedrohten Verhaltens bei Abwägung aller Umstände nach bestem Wissen und Gewissen die gesetzlich festgesetzte Höchststrafe gegen den Angeklagten beantragt oder verhängt, hat keine Gewissensskrupel, ja kann sie gar nicht haben, weil sein Verhalten situationsgebunden und zeitgemäß ist. Daß die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 102 GG für heute und hier "abgeschafft" ist, kann als soziales Faktum hoch bewertet werden, ohne deshalb angesichts der entgegengesetzten Fakten während einer mehrtausendjährigen Vergangenheit und selbst in der Gegenwart anderswo Anlaß zum Pharisäerturn zu geben. Die Vergangenheit ist Geschichte geworden. Wer sie überlebt hat, ohne bei Berücksichtigung und Vergegenwärtigung der damaligen gesellschaftlichen Situation und des im sittlichen Bewußtsein der damaligen Zeitgenossen verfestigten "kollektiven" Gewissens zu Gewissensskrupeln Grund zu haben, hat heute keinen Anlaß zur Reue oder gar zu einem öffentlichen Schuldbekenntnis. Mit den vorstehenden Ausführungen sollen nicht diejenigen Juristen reingewaschen werden, die - aus welchen Erwägungen auch immer sich nicht im Rahmen der Gesetze hielten, sondern willkürlich gehandelt haben. "Willkür" konnte nach dem 26. April 1942 dann vorliegen, wenn ein Richter seine Pflichten nicht "im Rahmen der Gesetze" erfüllte, sondern ohne Rücksicht auf Wortlaut und Sinn allein nach den Anweisungen des Führers judizierte. Gerade der Beschluß des Großdeutschen Reichstages vom 26. April 1942 läßt darauf schließen, daß sich der Großteil der deutschen Richterschaft bemüht hatte, im Rahmen der Gesetze zu bleiben, und sich nicht hatte einschüchtern lassen. Erst von diesem Zeitpunkt ab mußten die Richter damit rechnen, "ohne Rücksicht auf wohlerworbene Rechte und ohne Einhaltung vorgeschriebener Verfahren aus dem Amt und der Stellung" verjagt zu werden, wenn sie ihre Pflichten nicht im Sinne Hitlers und seiner Helfershelfer erfüllten. Die Androhung und Durchführung einer derartigen Sanktion war Willkür.

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

Aber konnte man damals und darf man heute angesichts der damaligen tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse es einem als Richter tätigen Menschen verargen, wenn er sich bei der Ausübung seines Amtes des über ihm hängenden Damoklesschwertes bewußt war und als nicht mehr unabhängiger, nicht mehr ausschließlich dem Gesetz unterworfener, sondern als an Richtlinien gebundener "politischer" Richter judizierte? Wer heute "politische" Justiz predigt und den "politischen" Richter propagiert, sollte sich diesen Musterfall "politischer" Justiz vor Augen halten und Antwort darauf geben, wie er sich verhalten hätte oder verhalten würde, wenn wieder einmal dieser Extremfall eintreten sollte. Hierbei beachte man, daß zwischen dem 26. April 1942 und dem Ende des Krieges das Hitlerreich noch volle drei Jahre lang ohne ernstliche Auflösungserscheinungen und ohne Rechtsstillstand bestanden hat! 4. Die sog. "Bluturteile" während der nationalsozialistischen Herrschaft Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß die gleiche Gemeinschaft, das gleiche Individuum zeitlich variabel sind, je nach dem, welche vielfachen Anlagen durch die Verhältnisse, vor allem auch durch das einwirkende soziale Milieu, dominant, rezessiv oder unsichtbar gemacht werden. Gerade auf diese zeitliche Variabilität kommt es an, wenn man eine rechtlich tragfähige Grundlage für die oft erörterte Problematikl1 sucht, ob nach der im zeitlichen und örtlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes in Kraft stehenden Rechtsordnung eine rechtliche Handhabe besteht, die während der nationalsozialistischen Epoche von Richtern in Ausübung ihres Amtes nach Maßgabe des damaligen positiven Rechts durch "Bluturteile" begangenen Taten strafrechtlich zu ahnden. Auszugehen ist hierbei von Art. 103 Abs. 2 GG, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Mord durch Rechtsbeugung im Sinne des § 336 StGB kommt nur in Betracht, wenn die Täter rechtlich als "Richter" und die Vorschriften, nach denen sie judizieren, rechtlich als "Gesetze" qualifiziert werden können. Dabei sind, wie es in BGHSt 10, 294 (299) heißt, ernsthafte Zweifel über die Auslegung des anzuwendenden Rechts aus dem Blickpunkt des damals handelnden oder urteilenden Richters zu entscheiden, was dem Grundsatz des Verbots der Rückwirkung von Strafgesetzen entspricht. 11 Vgl. insbesondere Sigfried Schlösser: Strafrechtliche Verantwortlichkeit ehemaliger Richter an Sondergerichten, NJW 1960, S. 943 ff.; Ernst Walter Hanack: Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, in JZ 1967, S. 297 ff., 329 ff.; Helmut Begemann: Das Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht, NJW 1968, S. 1361 ff.

4. Die sog. "Bluturteile" während der nationalsozialistischen Herrschaft 103

a) Nationalsozialistische Gesetze als rechtlich bindende Gesetze Ob Gesetze fonnell ordnungsmäßig, insbesondere unter Beachtung der Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenz zustandegekommen sind, beurteilt sich nach den staatsrechtlichen Verhältnissen zur Entstehungszeit12• Das als "Ermächtigungsgesetz" bekannte "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 7. 4. 1933 ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts als eine Stufe der revolutionären Begründung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft anzusehen, die eine neue Kompetenzordnung anstelle der bisherigen schuf. Diese Kompetenzordnung hatte sich nach innen und außen de facto durchgesetzt13 • Dies führt zwangsläufig zu der Folgerung, "die Möglichkeit der Entstehung gültigen Rechts unter dieser Kompetenzordnung anzunehmen" (BVerfGE 6, 331). Demnach ist die nationalsozialistische Gesetzgebung, soweit sie nicht offenbares Unrecht gesetzt hat und daher jeder Wirkung entbehrt, "zwar nicht als ihrem Ursprung nach legitime Rechtsordnung, wohl aber kraft ,soziologischer Geltungskraft' zu beachten 14 ". Der Ausdruck "soziologische Geltungskraft" ist recht ungeschickt, da der hier gemeinten Geltungskraft nicht die wissenschaftliche Eigenschaft "soziologisch" zugeschrieben werden kann. Es handelt sich vielmehr um die "soziale" oder "gesellschaftliche" Geltungskraft, d. h. um das, was Georg Jellinek als die nonnative Kraft des Faktischen bezeichnet hat. Er meinte damit den Vorgang, daß eine faktische Situation, die ohne Rechtstitel oder unter Verletzung einer Rechtsordnung herbeigeführt ist, zur rechtlich geschützten Position wird, sobald sie deshalb zur Ruhe kommt, weil sie faktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann BVerfGE 10, 360. Theodor Geiger (N. 7, S. 380) kennzeichnet die damalige faktische Situation mit folgendem Satz: "Darin liegt die unauslöschliche Schuld des deutschen Richterstands unter Hitler: Daß er allzu wenige Persönlichkeiten zählte, an deren um persönliche Gefahr unbekümmerter Standhaftigkeit kollektiver Widerstand des Richterstandes als Ganzen sich hätte emporranken können." Diese rechtstatsächliche Feststellung kann ich aufgrund eigenen Erlebens erhärten: Als ich anfangs April 1933 kurz nach Verkündung des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns vom 7. 4. 1933 als davon unmittelbar durch zwangsweise Beurlaubung und spätere Entlassung betroffener Landgerichtsrat den Vorsitzenden des Richtervereins am Reichsgericht, den Senatspräsidenten Wunderlich, fragte, ob und wie die Richterschaft am Reichsgericht auf das Gesetz zu reagieren gedächte, erhielt ich die Antwort: "Wir dulden schweigend mit Ihnen." Anfangs April 1933! Vgl. auch Dieter Kolbe: Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke. Studien zum Niedergang des Reichsgerichts und der deutschen Rechtspflege, 1975; Ekkehard Reitter: Franz Gürtner - Politische Biographie eines deutschen Juristen 1881 - 1941, 1976; Schaefer: Das große Sterben im Reichsgericht, in NJW 1957, S. 249 f.; Erhard Zimmer: Die Geschichte des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, 1976, S. 76 - 87. 14 Leibholz / Rincle Grundgesetz, 4. Auf!. 1971, Einleitung, Anm. 37, letzter Absatz, unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerich ts. 12

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

und hingenommen werden muß oder als legitim anerkannt wird. Theodor Geiger macht hierzu folgende Ausführungen: "Angenommen zum Beispiel, es sei logisch erwiesen, daß eine erlassene Gesetzesvorschrift dem Verfassungsgesetze widerspreche. Wenn sie trotzdem durch die Rechtspflege in der Praxis behauptet wird, ist sie damit, den Worten des Verfassungsgesetzes zum Hohn, verbindlich ... Ob der Verfassungsgrundsatz sich gegen abweichende oder widersprechende Gesetzgebung durchsetzt, wird sich zeigen. Die Verfassungs-Gläubigkeit der Bevölkerung wird nicht ohne Einfluß darauf bleiben ... Die Juristen mögen sich die Frage vorlegen, ob sie durch Anwendung der Norm in ihrer Rechtspflegetätigkeit an stillschweigender Beiseiteschiebung von Verfassungsgarantien mitwirken wollen - und andererseits, ob sie Aussicht haben, diese Hintansetzung wirksam zu verhindern. Das ist aber keine theoretische Frage, sondern eine solche des rechtspolitischen Willens. Wenden die Gerichte die Norm an, so ist sie geltendes Recht, der durch sie verletzte Verfassungsgrundsatz aber nicht länger geltendes Recht 15 ". Es kommt, wie MattiP 6 ausführt, für das Rechtsleben hier und heute nicht darauf an, ob ein Verhalten nach den an allgemeinen Begriffen orientierten, stärker oder schwächer vertretenen Meinungen Recht oder Unrecht ist, sondern allein darauf, ob es vom jeweils obersten Richter als Recht oder als strafbares Unrecht anerkannt wird. Dieser rechtsoziologischen Erkenntnis entspricht das bereits in anderem Zusammenhang erwähnte sog. Euthanasieurteil des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main. In der Begründung heißt es u. a.: "Rechtlosigkeit und Willkür waren die Kennzeichen fast jeder Neubildung staatlicher Macht. Und doch besteht kein Zweifel, daß auch solche, aus Gesetzlosigkeit und Unrecht geborene staatliche Macht Recht werden und Recht schaffen konnte. Nach der Lehre G. Jellineks geht der historische Vorgang, daß tatsächliche Machtverhältni-sse zu rechtlichen Herrschaftsverhältnissen werden ... auf eine dem Faktischen innewohnende normierende Kraft zurück. Das beruht auf der psychologischen Tendenz der Menschen, Geltendes als Norm anzusehen; das einmal Gegebene wird durch die in Form der Gewöhnung sich äußernde Anerkennung zur Norm. Aber das Faktische ist noch nicht Norm, ihm wohnt zunächst nur normbildende Kraft inne. Daß die Kraft wirken, aus dem Faktischen die Norm bilden, das tatsächlich Gegebene in die Sphäre der rechtlichen Ordnung heben kann, hat eines zur Voraussetzung: nämlich die aufgrund der Wahrnehmung des Geschehens erfolgende Anerkennung der Betroffenen und ihre sich bildende Überzeugung, daß das, was geschieht, rechtens sei. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Hitlerreich eine Rechtsordnung hatte. Nicht nur nach außen fand dieses Reich völkerrechtliche Anerkennung, was sich in der förmlichen Unterhaltung diplomatischer Beziehungen und im Abschluß völkerrechtlicher Verträge äußerte - auch im innerstaatlichen Leben 15 N. 7, S. 258. In Begründung und Ergebnis ebenso Adolf Arndt: Gesammelte Juristische Schriften, 1976, S. 269 ff. lS N. 10, S. 228.

4. Die sog. "Bluturteile" wähl'endder nationalsozialistischen Herrschaft 105 war die Anerkennung, laut oder schweigend, begeistert oder widerstrebend, doch kraft der Gewöhnung allgemein. Das umfangreiche Gesetzgebungswerk des Hitlerreichs ist geltendes Recht geworden und gilt über den Zusammenbruch des Reiches hinaus, soweit es nicht ausdrücklich aufgehoben oder unter gewissen Generalklausein für nicht mehr anwendbar erklärt worden ist .. ,17"

b) KSSVO

Auf der Grundlage der vorstehend skizzierten rechtsnormativen und rechtssoziologischen Prämissen bestehen keine Bedenken, den Volksgerichtshof als "Gericht", seine Mitglieder als "Richter"18 und die von ihm angewandten Bestimmungen, insbesondere auch diejenigen der "Kriegssonderstrafrechts-Verordnung" (KSSVO) als "Gesetze" zu qualifizieren, wie dies seitens des Bundesgerichtshofes geschehen ist. Der vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung gemachte Vorbehalt, daß die formell ordnungsmäßig erlassenen und von den Mitgliedern der damaligen Rechtsgemeinschaft hingenommenen Rechtsvorschriften nur dann ex post nicht als Recht angesehen werden können und dürfen, wenn sie in so evidentem Widerspruch mit den alles formelle Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit treten, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht spreche, kann selbst hinsichtlich der Bestimmung des § 5 KSSVO, welche die gesetzlichen Tatbestände der "Zersetzung der Wehrkraft" enthält, nicht Platz greifen; denn diese Tatbestände einschließlich ihrer unverhältnismäßig hohen Strafandrohungen lassen sich in der Kriegsgesetzgebung fast aller mit dem Deutschen Reich im Krieg gelegenen Staaten nachweisen, ja finden sich sogar teilweise auch heute in den allgemeinen Strafgesetzbüchern. Was nach dem heutzutage in SJZ 1947, S. 621 ff. Daß Gesinnung und Denkweise der Mitglieder des Volksgerichtshofs völlig den nationalsozialistischen Auffassungen entsprach, ändert an der Qualifizierung als "Gericht" ebensowenig wie die derzeitige, in sehr vielen Fällen nach parteipolitischen Gesichtspunkten erfolgende Besetzung hoher und höchster Richterstellen in Bund und Ländern etwas an der rechtlichen Qualifizierung der mit derartigen parteipolitisch gebundenen Mitgliedern und Präsidenten besetzten Gerichte etwas ändert. Auch die Sinnentleerung, wie man die damals als "neuen Sinngehalt" euphemistisch bezeichneten Eingriffe in die Unabhängigkeit der Richter qualifizieren muß, hat zwar den Status des Richters dem des weisungsgebundenen Beamten angenähert, aber trotzdem die Eigenschaft als Richter nicht beseitigt. Dies erkennt auch der BGH (NJW 1960, 974) an, wenn er einen ostzonalen Richter als "Richter" behandelt, obwohl es ihm "an der verfassungsmäßigen Unabhängigkeit deshalb fehlt, weil die politischen Machthaber die Verfassung nicht achten". Die Unabhängigkeit des Richters im Sinne des Grundgesetzes gehört, wie die Rechtsvergleichung nach Zeit und Ort zeigt, zu den Akzidentalien, nicht zu den Essentialien des Richteramtes, so daß die Einschränkung oder gar Aufhebung der Unabhängigkeit im Verhältnis zum Inhaber der obersten Staatsgewalt kein zureichender Grund ist, den deutschen Richtern einschließlich der Mitglieder des Volksgerichtshofes während der nationalsozialistischen Herrschaft die Richtereigenschaft abzusprechen. 17

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der Bundesrepublik Deutschland (aber keineswegs überall in der Welt) maßgebenden "Volksempfinden" an diesen Bestimmungen empört, ist die Androhung der Todesstrafe als Regelstrafe auch für solche Taten, welche heutzutage in der Bundesrepublik Deutschland (aber keineswegs überall!) als Bagatellsachen qualifiziert werden. Die Bestimmung des § 5 KSSVO steht demnach auch nicht in evidentem Widerspruch zu den in der westlichen Kulturgemeinschaft während des zweiten Weltkrieges anerkannten Prinzipien der Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang sei auf die Bestimmung in Abs. 2 des Art. 7 der Europäischen Menschenrechts-Konvention hingewiesen. Während in Abs. 1 dieses Artikels der Grundsatz "nullum crimen, nulla poena sine lege" festgelegt ist, sieht Abs. 2 folgende Ausnahme vor: "Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von den ~ivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar war." Im De-Becker-Fall hat die Menschenrechtskommission des Europarats auf die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung hingewiesen. Danach bezweckte diese die Klarstellung, daß Art. 7 "Gesetze nicht berührt, die unter sehr außergewöhnlichen Umständen am Ende des zweiten Weltkrieges erlassen wurden, um gegen Kriegsverbrechen, Landesverrat und Zusammenarbeit mit dem Feind vorzugehen, und daß diese Bestimmung keine rechtliche oder moralische Verurteilung dieser Gesetze aussprechen will 1g ". Dem entspricht es, wenn TheodoT GeigeT, der als deutscher Emigrant in Dänemark lebte, in seinem 1947 in Kopenhagen erschienenen Werk 20 unter Bezugnahme auf die rückwirkende Kraft der dänischen Strafgesetze zur "nationalen Säuberung" die Frage aufwirft, ob die dänischen Juristen nicht eine steifere Haltung gegenüber einem rachesüchtigen sog. Rechtsbewußtsein des Volkes und der nach dem Zusammenbruch der deutschen Besatzungsmacht erwachten nationalistischen Beflissenheit der dänischen Politiker hätten einnehmen sollen, eine rhetorische Frage, deren Sinn und Bedeutung dem oben in FN. 13 wiedergegebenen Verdikt der deutschen Richterschaft unter dem Nationalsozialismus nahekommt. Man muß immer wieder betonen, daß die Lebens- und Rechtsverhältnisse während der nationalsozialistischen Epoche anders geordnet waren, als sie es heute sind. Die Richter waren an andere Gesetze und Wertmaßstäbe gebunden, als es die Richter unter der Geltung des Grundgesetzes sind. "Was als verbindliches Recht in einer modernen Rechtsgesellschaft gehandhabt wird, ist das Endergebnis einer teils vorauskalkulierenden, teils nachträglich 19 20

Die Menschenrechte in der Praxis des Europarats, 1972, S. 88 Nr. 194. N. 7, S. 271.

4. Die sog. "Bluturteile" während der nationalsozialistischen Herrschaft 107

berichtigenden gegenseitigen Anpassung und Abstimmung zwischen einer Reihe von Faktoren, deren strukturiertes Zusammenspiel ,das Rechtsleben' ausmacht. Nicht die einzelnen Richter stiften Recht durch ihre Entscheidungstätigkeit, sondern das in jedem geschichtlichen Augen-

blick der Rechtsgesellsaft verbindliche Recht ist Funktion eines kollektiven Systems und seiner Gesamtstruktur21 ." Die Bestimmungen von § 5 KSSVO waren zur damaligen Zeit verbindliches Recht, an das die Richter sich gebunden fühlten, ohne daß ihnen und insbesondere den Richtern am Volksgerichtshof "das Gewissen schlug". "Die Gestalt des Ketzerrichters ist ein warnendes Symbol für die Macht des Irrtums über die Herzen der Menschen - auch innerhalb des christlichen Glaubens" (Welzel). Das Gewissen der Richter am Volksgerichtshof entsprach dem damals im Deutschen Reich bei einem Teil der Bevölkerung verbreiteten sittlichen Bewußtsein, das ein auf christlich-religiöser Moral basierendes Gewissen zum Schweigen gebracht hatte. Die Rolle der persönlichen Gewissensinstanz war an die äußere Autorität des "Führers" übergegangen. "Die Macht findet am Gewissen ihren stärksten Widerpart und sucht sich dadurch zu rechtfertigen, daß sie sich selber bzw. das Gewissen als ihresgleichen ausgibt. Sie neutralisiert das Gewissen und ermächtigt sich selbst, indem sie an seine Stelle tritt. Nur so kann sie den Menschen sich hörig machen und den Anschein erwecken, für ihn zu sein22." c) Verschiedenheit der Wertmaßstäbe

Daß heutzutage in der Bundesrepublik Deutschland (aber nicht überall in der Welt!) in dieser Beziehung eine andere Auffassung herrscht und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafandrohung für ein der Gerechtigkeit immanentes Gebot gehalten wird, ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, da es zur rechtlichen Beurteilung auf die machtmäßig abgesicherten gesellschaftspolitischen Grundwerte zur Zeit und im räumlichen Geltungsbereich der Tat ankommt. Dies wird auch von Lewald 23 betont, nach dessen Auffassung für die Beurteilung der inneren Tatseite, d. h. für die Frage, ob die Richter des Volks gerichtshofes schuldhaft handelten, wenn sie unmenschlich hohe Strafen verhängten, je nach den gegebenen Umständen die damaligen Verhältnisse entscheidend ins Gewicht fallen müssen24 • Diesem wesent21 Ebd., S. 289 f. "Das Gewissen ist integriert in das jeweilige Ganze des Menschseins in seiner historischen und sozialen Situation" (Friedrich Kümmel: Zum Problem des Gewissens, in Jürgen Blühdorn: Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 441 - 460, 444). 22 Ebd., S. 448. 23 NJW 1969, S. 459. 24 Wenn jedoch die Frage des Mißverhältnisses von Strafhöhe und Schuld "heute nur nach dem überpositiven, also auch für die damalige Zeit gültigen Maßstab der Gerechtigkeit beurteilt werden (im Original hervorgehoben!)

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

lichen Gesichtspunkt, der von Radbruch 25 ausdrücklich hervorgehoben wird, trägt weder der Beitrag von Rasehorn28 noch das Urteil des Bundesgerichtshof2 7 Rechnung, das ein typisches Beispiel für die Kernbereichslehre ist und von Lewald ausdrücklich als richtig und wegweisend hervorgehoben wird. Danach soll ein früher in der DDR als Strafrichter tätig gewesener Richter Rechtsbeugung begangen haben, weil er bewußt eine Strafe verhängt habe, die nach Art oder Höhe in einem unerträglichen Mißverhältnis zu der Schwere der Tat und der Schuld des Täters gestanden habe. Diese Wertung "unerträgliches Mißverhältnis" widersprach damals und widerspricht auch heute den in der DDR geltenden Wertmaßstäben, die - wie jedermann weiß - den Wertmaßstäben in der Bundesrepublik Deutschland vielfach diametral entgegengesetzt sind. Das Rechtsleben in der DDR kann ebenso wie das Rechtsleben während der Hitlerzeit nach den für uns heute in der Bundesrepublik geltenden Wertmaßstäben zwar in der Theorie kritisch beurteilt werden. Aber ein bundesdeutsches Gericht verletzt die Prinzipien des Rechtsstaats, wenn es heute bei der rechtlichen Beurteilung von menschlichen Handlungen oder Unterlassungen während der Zeit des Nationalsozialismus oder in der DDR nicht diejenigen Maßstäbe zugrunde legt, die damals bzw. dort faktisch in Geltung waren bzw. sind und von der Bevölkerung damals bzw. dort, wenn auch zum Teil nur mit Murren und innerer Empörung, aber doch duldend hingenommen werden. Vor allem ist zu bedenken, daß in totalitär organisierten Staaten an Staatsschutzgerichten nur Richter tätig sind, die sich in ihrem Gewissen wirklich oder angeblich an die Wertung gebunden fühlen, welche der Gesetzgeber zum Maßstab seiner positiven Norm macht. Die sog. Blutrichter während der nationalsozialistischen Herrschaft bejahten in ihrem Gewissen, soweit sie ein solches überhaupt hatten, die von Radbruch als "Urform des Rechts" qualifizierte "Bewertungsnorm, das Werturteil der rechtsetzenden Macht, durch das eine Handlung für unrecht und antisozial erklärt wird", immer dann, wenn sie den Imperativ, die Bestimmungsnorm, diese im Sinne Radbruchs sekundäre Form des Rechts, zur Anwendung brachten. Da die Freiheit des Gewissens heutzutage nach Art. 4 Abs. 1 GG unverletzlich ist, durfte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kein NS-Täter und kein Täter aus der DDR bestraft werden, der sich unwiderleglich darauf berief, von der Verbindlichkeit der gekönne", so ist dieser Satz logisch unzutreffend, was das Wörtchen "also" verdecken will, und juristisch unhaltbar, weil im nationalsozialistischen Staat "Naturrecht" und "überpositive" Sätze nur im Sinne der nationalsozialistischen Lehre und nicht im Sinne des Grundgesetzes als Rechtfertigungsgrund herangezogen wurden. 25 Vgl. 1. Abschnitt, Ziff. 7 (e). !S Das Verfahren gegen Rehse und die Problematik des § 336 StGB in NJW 1969, S. 457 ff. (458 rechte Spalte, 459 linke Spalte). 27 NJW 1960, S. 974.

5. Der "Fall Rehse" und seine Lehre

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setzten Rechtsnorm und der Angemessenheit der Strafe überzeugt gewesen zu sein28 • 5. Der "Fall Rehse" und seine Lehre Zu dieser Ansicht bekannte sich schließlich auch der Bundesgerichtshof in dem "Fall Rehse", der vor knapp zehn Jahren die Öffentlichkeit erregte. a) Sachverhalt Der Kammergerichtsrat a. D. Dr. Hans Joachim Rehse wurde am 3.7.1967 durch ein Schwurgericht beim Landgericht Berlin wegen Beihilfe zum Mord in drei Fällen und wegen Mordversuchs in vier Fällen zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er alsBerufsrichter und Beisitzer des Volksgerichtshofes gemeinsam mit dem Präsidenten dieses Gerichts, Dr. Roland Freisler, und drei Laienbeisitzern in den Jahren 1943 und 1944 Unschuldige zum Tode verurteilt habe. Auf die Revision hob der Bundesgerichtshof am 30. 4. 1968 dieses Urteil aus Rechtsgründen auf: Ein Berufsrichter als Beisitzer und Berichterstatter könne neben dem Präsidenten nur als Mittäter, nicht aber als Gehilfe qualifiziert werden und wegen Mitwirkung an einem Todesurteil nur dann wegen Mordes bestraft werden, wenn er gegen seine richterliche überzeugung für das Todesurteil gestimmt habe2u• Diese Entscheidung war sachlich richtig; denn - historisch gesehen - ist auch an der völligen überzeugung zahlreicher Ketzerrichter nicht zu zweifeln. Das Schwurgericht, an das der Bundesgerichtshof die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung verwiesen hatte, erkannte am 6. 12. 1968 auf Freispruch, und zwar im Rahmen der rechtlichen Beur28 Wenn Begemann (NJW 1968, 2346) unter Berufung auf die Kernbereichslehre des BGH meint, daß ohne den Maßstab des überpositiven Rechts kein NS-Täter bestraft werden könne, der einwendet, an die Verbindlichkeit der insoweit erteilten Anordnungen geglaubt zu haben, so ist dies unter Geltung von Art. 4 Abs. 1 GG richtig. Zwischen Bestrafung nach Maßstäben einer heute-hier-so, aber gestern-hier-anders und morgen-hier-wieder anders geltenden Rechtsordnung einerseits und Rache und Vergeltung als Äußerungen des Trieb- und Gefühlslebens andererseits ist ein großer Unterschied. E. W. Hanack (N. 11) hat mit Recht wörtlich ausgeführt: "Jeder Versuch, die Schuld des einzelnen nicht in ihrer Eigenschaft zu sehen, läuft auf Rache hinaus. Man mag der Meinung sein, daß solche Rache nötig sei, aber dann kann man nicht von Recht sprechen; die in das Gewand des Rechts verkleidete Rache ist zudem die erbärmlichste. Auch der, der von Rachegedanken hier nicht loszukommen vermag, sollte im übrigen Verständnis haben, daß die überlebenden und die Nachkommen auf der Scheidung von Recht und Rache bestehen müssen: denn sonst wäre ein rechtliches Leben, das in Deutschland ohnedies noch für Generationen schwer genug sein wird, nicht möglich." 29 BGHSt in NJW 1968, 1339 ff. mit Anmerkungen von Steinlechner in NJW 1968, 1790 und Begemann in NJW 1968, 1361 und 2346 f. Siehe auch die Beiträge von Rasehorn (N. 26) und Lewald: Das Verfahren gegen Rehse und die Problematik des § 336 StGB in NJW 1969, S. 457 ff.

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

teilung des Bundesgerichtshofes, an die es gebunden war. Das Schwurgericht verneinte den Vorsatz, weil Rehse sich dahin eingelassen habe, daß er alle Urteile für richtig gehalten habe 30 . Die Verkündung und mündliche Begründung dieses Urteils führten nicht nur zu unmittelbaren Mißfallenskundgebungen und Protesten gegen den Vorsitzenden und das Gericht sowie zu Handgreiflichkeiten gegen den freigesprochenen Angeklagten noch im Gerichtsgebäude selbst, sondern zu einer "Hetze"31 gegen die deutsche Justiz im allgemeinen und gegen den Vorsitzenden des Schwurgerichts persönlich. Diese Hetze wurde nicht nur von einem beträchtlichen Teil der Massenmedien angeheizt, sondern führte sogar in Berlin (West) am 15. 12. 1968 zu einer Protestdemonstration der "APO" (außerparlamentarische Opposition)32 vom Stein platz bis zum Rathaus Schöneberg, dessen Bannmeile der Senat von Berlin aufzuheben für angemessen fand 33 •

b) Das rachsüchtige Rechtsbewußtsein Damit war der "Fall Rehse" zum Prüfstein dafür geworden, ob und gegebenenfalls wie weit das während der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft zum Ausbruch gekommene "rachsüchtige sog. Rechtsbewußtsein" (Th. Geiger) im Laufe von zwei Jahrzehnten sich dank der als Grundrechte positivierten naturrechtlichen Prinzipien zu einem rechtsstaatlichen Volksbewußtsein gewandelt hatte. Der Bundesgerichtshof wollte endlich die "Kernbereichslehre" nicht auf Täter angewendet wissen, die während der nationalsozialistischen Zeit selbst bei "Anspannung ihres Gewissens" das 30 Gegen das freisprechende Urteil des Schwurgerichts legte die Staatsanwaltschaft Revision ein. Bevor der BGH über die Revision entscheiden konnte, starb Rehse. Das Verfahren war einzustellen, ohne daß dadurch das Urteil, das den damals noch lebenden, aber mittlerweile verstorbenen Angeklagten freigesprochen hatte, in Rechtskraft erwuchs. In einer kritischen Zusammenfassung der Urteilsgründe in FAZ vom 5.2.1969 betont Hans Kühnert: "Gerechterweise muß gesagt werden, daß der BGH, dessen Rechtsprechung (gemeint ist wohl die rechtliche Beurteilung im Revisionsurteil) das Schwurgericht meist folgt, die Hauptverantwortung für die wenig überzeugende Begründung des Rehse-Freispruchs trägt. Niemand verlangt, daß Rehse unter allen Umständen verurteilt wird oder daß der Grundsatz ,in dubio pro reo' vernachläsigt wird. Aber der Freispruch eines solchen Richters muß besser begründet sein." 31 So qualifizierte der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme vom 15. 12. 1968 die landauf, landab geschürte Protestbewegung. An dieser Hetze beteiligten sich auch Juristen: Rechtsanwälte, Hochschullehrer sowie auf dem Wege von Leserbriefen sogar Richter. (Nachweise dafür kann jedes Zeitungsarchiv liefern). 32 Veranstalter waren: der Republikanische Club, der SDS, die FDJ und die SED Westberlin, der Jüdische Aktionskreis, die Studentenvertretungen der FU und der TU, die Kampagne für Demokratie und Abrüstung, die Liga des antifaschistischen Widerstandes. 33 Vgl. Meldung in FAZ vom 14. 12. 1968.

5. Der "Fall Rehse" und seine Lehre

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Unrecht ihrer Tat gar nicht erkennen konnten, weil ihr biologisches Gewissen durch den damals der Bevölkerung aufgenötigten und besonders ausgeprägten kulturellen Normfilter verdrängt war. Diese Entscheidung des Bundesgerichtshofes brachte eine schon längst fällige Wendung einer Rechtsprechung, die von Beginn an mit der von Radbruch 1946 vertretenen Rechtsansicht34 und mit den Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1, 97 Abs. 1, 103 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG unvereinbar war. Der Freispruch durch das Schwurgericht entsprach nur den Prinzipien, an die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die Rechtsprechung und die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht gebunden waren. Obwohl nach Art. 1 Abs. 1 GG die Würde des Menschen zu achten und zu schützen Verpflichtung aller Staatsgewalt ist, erfüllte die vollziehende Gewalt in Berlin (West) diese ihre Verpflichtung nicht nur nicht, sondern handelte ihr bewußt zuwider, indem sie für eine Demonstration, die gegen ein dem Grundgesetz entsprechendes Urteil eines Schwurgerichts gerichtet war und durchgeführt wurde, sogar die Bannmeile des Abgeordnetenhauses aufhob und sich damit mittelbar an einer Kundgebung gegen eine verfassungskonforme Gerichtsentscheidung beteiligte 35 • Der Senat von Berlin wich dem Druck des aufgehetzten vulgus mobile, d. h. dem "rachsüchtigen sog. Rechtsbewußtsein" einer Volksmenge und der dahinter stehenden Organisationen, die stets für die Menschenrechte einzutreten behaupten, aber offenbar die Unabhängigkeit der Gerichte und die Gewissensfreiheit der Richter nicht dazu rechnen. Am auffälligsten und peinlichsten war die Reaktion bundesdeutscher Juristen, insbesondere einiger Rechtsanwälte, Hochschullehrer, Richter im Amte und im Ruhestand, obwohl diese wußten oder wissen mußten: - daß das Schwurgericht an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts gebunden war; - daß der Vorsitzende des Schwurgerichts nur als Sprachrohr fungierte, als er das vom Gericht gefällte Urteil verkündete und mündlich begründete; - daß das Beratungsgeheimnis und die Schweigepflicht der an der Urteilsfindung beteiligten Richter es ausschlossen, den aus diesem Grund wehrlosen Vorsitzenden oder irgendein Mitglied des Spruchkörpers persönLich wegen des Urteils anzugreifen; - daß sie selbst als Vorsitzende eines Schwurgerichts oder als dessen richterliche Beisitzer nicht anders hätten handeln können, als das Gericht und sein Vorsitzender gehandelt haben; - daß Recht und Rache auf verschiedenen Ebenen liegen und die Richter eines auf Grundfreiheiten und Menschenrechten aufgebauten 34 35

Siehe 1. Abschnitt, Ziff. 7 (e). Vgl. Bericht in FAZ vom 11. 12. 1968.

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit Rechtsstaates den Forderungen des Rechts und nicht den Gefühlen der Rache zu entsprechen haben. c) Das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Volksbewußtsein

Was mich veranlaßt hat, im Rahmen dieser Abhandlung über die Gewissensfreiheit des Richters den "Fall Rehse" erneut aufzurollen, ist der Umstand, daß an diesem Fall wie an einem Paradigma die Einflüsse aufgezeigt werden können, die für die Reaktion des menschlichen Gewissens im allgemeinen und des richterlichen Gewissens im besonderen von Bedeutung sind und die im Laufe der Zeit nach Inhalt wie nach Intensität wechseln können. Vor allem wird das Spannungsverhältnis deutlich, das zwischen der Konzeption einer weltanschaulichen Ideologie, einer ihr Rechnung tragenden Gesetzgebung und einer an diese gebundenen Rechtsprechung besteht. Die nationalsozialistische Rechtslehre hatte ebenso wie zahlreiche Naturrechtslehren eine "Idealordnung" entworfen. Diese "Idealordnung erster Stufe" hat während der nationalsozialistischen Herrschaft ihren positiv-rechtlichen Ausdruck in der Gesetzgebung des Dritten Reiches, d. h. ebenfalls in einer der Anwendung bedürftigen "Idealordnung" gefunden. Diese positivierte "Idealordnung" ist zur "Realordnung" insoweit geworden, als der Rechtsstab bereit und willens war, sie anzuwenden und durchzusetzen, ohne auf offene Ablehnung seitens der Bevölkerung zu stoßen38 • Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft bildete das "Naturrecht", wenn auch in verschiedenen Schattierungen, die weltanschauliche "Idealordnung erster Stufe". Sie fand ihren positivrechtlichen Ausdruck im Grundgesetz und der an dieser Verfassung ausgerichteten Gesetzgebung, die miteinander die heute maßgebende "Idealordnung zweiter Stufe" bilden. In welchem Ausmaß und innerhalb welcher Zeitspanne diese Idealordnung zur Realordnung geworden ist, zeigen die obigen Ausführungen. Es lohnt sich, aus dem Gesichtswinkel der Gewissensfreiheit die Richtersprüche des Volksgerichtshofes von 1943/44 mit den Richtersprüchen der beiden Berliner Schwurgerichte von 1967/68 zu vergleichen: In beiden Fällen handelte es sich um Urteile staatlicher Gerichte, die mit Berufs- und Laienrichtern besetzt waren. § 1 GVG hatte 1943 denselben Wortlaut wie 1968 und entsprach insoweit auch der heute geltenden Neufassung vom 5. 5. 1975. Dem Wortlaut nach unverändert geblieben sind auch die Vorschriften über Beratung und Abstimmung (§§ 192, 194, 195, 196, 197 GVG, § 263 StPO) sowie über die richterliche 36 über das Verhältnis der Idealordnungen zur Realordnung und die Interdependenz von Recht und Sozialleben vgl. meine Rechtssoziologie (N. 3), S. 154, 166 ff., 186, 201 FN b.

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Unabhängigkeit und das Beratungsgeheimnis, die aus dem Gerichtsverfassungsgesetz in die Bestimmungen der §§ 25, 43 und 45 Abs. 1 DRiG hinübergenommen worden sind. Daß die beiden Berliner Schwurgerichte in ihrer Zusammensetzung nach den in den Jahren 1967 und 1968 geltenden Bestimmungen - drei Berufsrichter und sechs Geschworene, die gemeinsam und in gleichem Maße mit den Berufsrichtern über die Schuld- und Straffrage zu entscheiden hatten - "Gerichte" und die Normen, nach denen sie ihre Entscheidungen gefällt haben, "Gesetze" gewesen sind, bedarf keiner näheren Begründung. Daß der "Volksgerichtshof" als "Gericht", seine zwei Berufsrichter und drei Laienmitglieder als "Richter" und die damals zur Anwendung gebrachten Vorschriften als "Gesetz" rechtlich zu qualifizieren sind, ist zwar je nach politischem Standpunkt strittig, aber (wie bereits oben ausgeführt) schon seit 1947 feststehende Rechtsprechung der bundesdeutschen Gerichte. Daß diese Rechtsprechung weder rechtsdogmatisch noch rechtssoziologisch noch aus biosoziologischer Sicht zu beanstanden ist, wurde ebenfalls oben dargetan. Trotz dieser übereinstimmung im Formalen muß man sich darüber klar werden, daß infolge der tiefgreifenden politischen Veränderungen im Laufe eines Vierteljahrhunderts (zwischen 1943 und 1968) sich ein sozialer Wandel vollzogen hatte, dessen Ursachen und Wirkungen durch die Veränderung der sozialen Grundwertungen bestimmt wurden. Man muß die sozialen Spannungen und persönlichen Risiken bedenken, denen die Richter als Mitglieder "unabhängiger", "nur dem Gesetz unterworfener" Gerichte bei der Ausübung richterlicher Gewalt deshalb ausgesetzt waren - und stets ausgesetzt sind -, weil die politischen Veränderungen auch die sozialen Wertungen und Wertmaßstäbe, die hinter den Rechtsnormen stehen und den kulturellen Normfilter der Richter beeinflussen, im Laufe von 25 Jahren verändert hatten 37 • Dieser Wandel kann dazu führen, daß das, was gestern als "Recht" gelten sollte und faktisch als "Recht" angewandt worden ist, heute als "Unrecht" qualifiziert wird und ein nach "gestrigem" Recht zulässigerweise verhängtes Todesurteil nach heutigem Recht als Mord durch Rechtsbeugung qualifiziert werden kann, wie dies seitens des ersten Schwurgerichtsurteils im "Fall Rehse" auf der Grundlage der Kernbereichslehre geschehen ist. Es hat 20 Jahre gedauert, bis der Bundesgerichtshof sich von der (am Grundgesetz gemessen) fehlerhaften Kernbereichslehre trennte und auch den Richtern am Volksgerichtshof das unverletzliche Grundrecht der Gewissensfreiheit zubilligte, auf diese Weise die staatliche Idealordnung von heute verwirklichte und zur Realordnung machte. Das zweite Schwurgericht entsprach gemäß § 358 StPO 37

8

Im Ergebnis ebenso Arndt (N. 15), S. 334 und 352.

rursen

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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

dieser rechtlichen Beurteilung des Revisionsgerichts und stellte damit klar, daß das G€wissen des Richters als Kontrollinstanz der richterlichen überzeugung im G€ltungsbereich des Grundgesetzes unverletzlich ist und dies auch für Richter gelten muß, die "von dem (damals) herrschenden Positivismus soweit verbildet waren, daß sie ein anderes als das gesetzte Recht nicht kannten" (Radbruch), d. h. unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Methoden den biologischen Normfilter durch den nationalsozialistisch durchtränkten kulturellen Normfilter verdrängt hatten. "Die G€sellschaft als ganze kann in die Irre gehen"38 und ist, wie der Ausgang gezeigt hat, in die Irre gegangen.

Es blieb dem organisierten vulgus mobile unter dem Schutz der Demonstrationsfreiheit und einigen politisch besonders engagierten Juristen unter dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit vorbehalten, in Befriedigung ihres Vergeltungstriebes zur Verfolgung politischer Zwecke nicht nur die Ehre und Würde verfassungstreuer Richter aufs schwerste zu verletzen, sondern gleichzeitig die gesamte deutsche Justiz des mangelnden Bewußtseins "für die sozialen und politischen Bezüge" zu beschuldigen. Diese Reaktion zeigt, wie wenig die Unverletzlichkeit des Grundrechts auf G€wissensfreiheit insbesondere des Richters, der sein G€wissen durch den Richtereid (Gelöbnis) bindet, rund zwei Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes im Rechtsbewußtsein selbst juristisch vorgebildeter Bevölkerungskreise Wurzel geschlagen hatte, weil die Befriedigung des Vergeltungstriebes als einer irrationalen Reaktion stärker war (und in der Regel stärker ist) als rationale Argumente. d) Die Lehren

In den vorstehenden Ausführungen wurde klargestellt, wie stark irrationale und emotionale Kräfte im Menschen das als Dauerprozeß angelegte Sozialleben beeinflussen und bestimmen. Trotz der von den Ethologen festgestellten eigenartigen Offenheit der Anlagen menschlichen Verhaltens und der dafür charakteristischen Aufspaltung und Zerrissenheit der Weltbevölkerung in zahllose Blöcke und Gruppen ist jedes einzelne Gesellschaftsintegrat noch immer befangen in dem Vorurteil von der Einmaligkeit seiner eigenen Satzungen, seiner eigenen Errungenschaften, seiner eigenen Zivilisation, anstatt endlich zu begreifen, daß es verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens gibt39 • Jede Generation wird "aufs neue vor die Aufgabe gestellt, für die 38 Helmut Kuhn: Begegnung mit dem Sein. Meditationen zur Metaphysik des Gewissens, in Blühdorn (N. 21), S. 162 - 186, 178. 39 Siehe Ruth Benedict: Urformen der Kultur, 1955, S. 10. Vgl. auch oben im Text die Ausführungen im ersten Abschnitt Ziffer 7, a und im dritten Abschnitt Ziffern 6, bund 8, b.

5. Der "Fall Rehse" und seine Lehre

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sozialen Beziehungen eine Lösung zu finden und eine Synthese der relativ konstanten Naturgegebenheiten mit der jeweils vorherrschenden einmaligen historischen Situation anzustreben. Auch wo die im Laufe der Zeit entstandene Form durch wirksame Traditionen sehr gefestigt erscheint und der Einzelmensch in eine geordnete Sozialwelt hineingeboren wird, wirkt sich die einzigartige Tatsache der menschlichen Individualität, insbesondere die Fähigkeiten bedeutender Einzelpersonen, dergestalt aus, daß die Sozialwelt dauernd der Möglichkeit einer Änderung ausgesetzt ist und daß auch das, was sich in der Tradition bewährt hat, der Notwendigkeit unterliegt, sich in jeder Generation neu zu behaupten4o ". Die rechtliche Folgerung aus dieser Variabilität der sozialen Verhältnisse dürfte offensichtlich sein: Wer in dem für eine bestimmte Geschichtsperiode charakteristischen, kulturell bedingten Rechtsdenken befangen ist und durch die in dieser Periode maßgebenden politischen Lehren und Wertvorstellungen in seinem Verhalten bestimmt wird, handelt nicht schuldhaft, auch wenn in der darauf folgenden historischen Situation ein anderes Rechtsdenken, andere politische Lehren und Wertmaßstäbe im Schwange sind, welche das zeitlich vorangegangene Rechtsdenken und die es begründenden politischen Lehren und Wertvorstellungen als "verbrecherisches Blendwerk" qualifizieren. Aus dem Gesichtswinkel des historischen Geschehens in der Zeit und der Variabilität der menschlichen Anlagen können das "Heute-Rier-So" einer gesellschaftlichen Situation und der ihr entsprechenden Rechtsordnung ebensowenig absolut und unveränderlich sein, wie es das "Gestern-RierAnders" gewesen ist oder das "Morgen-Hier-Wiederanders" sein wird. Wenn es den zeitgenössischen Rufern nach einer "Systemveränderung" gelänge, die derzeitige staatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Sinne zu ändern, so wie im Jahre 1933 den Nationalsozialisten der von ihnen in dem Jahrzehnt zuvor immer wieder verlangte und durch Putschversuche und Terroraktionen vorbereitete "Umbruch" des "Weimarer Systems" geglückt ist, dann würden die neuen Machthaber und ihre Mitläufer uns, d. h. den heutigen Juristen, wohl ebenfalls die "Verblendung" durch "imperialistische" und "kapitalistische" Lehren und zeitgenössisches Rechtsdenken vorwerfen. Sie könnten diesen Vorwurf zum Anlaß nehmen, alle diejenigen Richter zur "Rechenschaft" zu ziehen, welche unter der Geltung des Grundgesetzes Täter strafrechtlich verurteilt haben, die zur Gruppe der "im Krieg gegen Kapitalismus und Imperialismus" sich wähnenden "Systemveränderer" gehörten41 • 40 Rudy: Biosoziologie, in Bemsdorf: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. 1969. 41 Als Beleg für die Wirklichkeitsnähe dieser Befürchtungen verweise ich auf eine in der Aprilnummer 1977 der "Nachrichten" des Göttinger AStA veröffentlichte Meinungsäußerung zur Ermordung des Generalbundesanwalts



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IV. Der im Gewissen gebundene Richter während der NS-Zeit

Das als unverzichtbares Merkmal des Rechtsstaats geltende Prinzip, Gesetzen und insbesondere Strafgesetzen keine rückwirkende Kraft beizulegen, soll gerade verhindern, daß ein Wechsel in den Wertvorstellungen innerhalb der Sozialwelt auf diejenigen zurückfällt, welche den vorangegangenen Inhabern der obersten Gewalt im Staate - sei es aus Überzeugung, sei es aus Notwendigkeit - entsprechend ihrer Bindung an das Gesetz gedient haben. Ein "rachsüchtiges sog. Rechtsbewußtsein des Volkes" (Theodor Geiger), das gestern gut hieß, was es heute verdammt, mag sich in den Stürmen einer Revolution, d. h. außerhalb des rechtlichen Bereichs austoben. Hat aber die Revolution ihr Ende gefunden und besinnt man sich wieder auf eine wie auch immer geartete rechtliche Ordnung, so ist eine Stabilisierung des Soziallebens nach rechtlichen Gesichtspunkten wiederum nur dadurch möglich, daß der Rechtsstab, d. h. seine alten und seine neuen Mitglieder, gebunden sind an das neue, von nun an geltende und auf die Zukunft zugeschnittene Gesetz. Politische Säuberung in Form rückwirkender Rechtssätze ist Rache am unterlegenen politischen Gegner unter Mißbrauch der Formen und Einrichtungen des Rechts. Wird dies noch Jahrzehnte nach dem Sturz des früheren Regimes praktiziert, so wird dadurch die auch für das neue Regime unentbehrliche Bindung des Rechtsstabes allein an das Gesetz in einer Weise ausgehöhlt, daß die Mitglieder des Rechtsstabes sich nicht mehr an das Gesetz gebunden fühlen aus Furcht, bei einer Änderung des politischen Systems post festum für etwas moralisch und rechtlich verantwortlih gemacht zu werden, wofür nicht sie, sondern die von der Bevölkerung zur Ausübung politischer Macht gerufenen oder geduldeten Politiker die Verantwortung tragen. Nicht nur als Jurist, sondern auch als empirisch arbeitender Rechtssoziologe muß man sich Strömungen entgegenstellen, die anläßlich gewaltsamer Änderungen im politischen Machtbereich im Laufe der Geschichte immer wieder feststellbar, aber lediglich als Reaktionen des menschlichen Vergeltungstriebes verständlich sind. Es ist zwar augenscheinlich, "daß die infantile Gesellschaft niemals ganz auf Befriedigung durch Vergeltung verzichten kann, mit geringer Beachtung dessen, was ihr Juristen und Psychiater über die Beweggründe und die Strafwürdigkeit des Angeklagten zu sagen hahen 42 " • Nichtsdestoweniger hat mein Gewissen mich gezwungen, diese Abhandlung über die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters nach Maßgabe der in der Bundesrepublik Deutschland augenblicklich geltenden Rechtslage zu umreißen. Buback. Der Verfasser "bedauert, daß wir dieses Gesicht nun nicht mehr in das kleine rotschwarze Verbrecher-Album aufnehmen können, das wir nach der Revolution herausgeben werden, um der meistgesuchten und der meistgehaßten Vertreter der alten Welt habhaft zu werden und sie zu öffentlichen Vernehmungen vorzuführen" (FAZ NI'. 100 V. 30. 4. 1977, S. 5). 42 Albert A. Ehrenzweig: Psychoanalytische Rechtswissenschaft, 1973, S. 189.

Fünfter Abschnitt

Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters 1. Der Sinngehalt des Art. 4 Abs. 1 GG in Anwendung auf den Richter Die Erläuterungswerke zum Grundgesetz und das der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG gewidmete sonstige Schrifttum befassen sich, soweit ich sehen kann, nur nebenbei mit der Frage, ob und inwieweit dieses Grundrecht auch für einen Richter bei Ausübung seines Amtes in Betracht kommtl. a) Das Problem des Sondervotums

Lediglich anläßlich der Diskussion über die Einführung eines Sondervotums des überstimmten Richters im Kollegialgericht ist diese Frage gestellt und unterschiedlich beantwortet worden: Im Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz von Maunz, Sigloch, Schmidt-Bleibtreu, Klein (München 1972) ist zwar die Entstehunggeschichte des § 30 ausführlich dokumentiert und erläutert, aber Art. 4 Abs. 1 GG noch nicht einmal erwähnt. Das gleiche gilt für die Bundestagsdrucksache Nr. VI/388, in der ausführlich das Für und Wider der Zulassung des dissenting vote erörtert, aber mit keinem Wort auf einen möglichen Gewissenskonflikt des Richters eingegangen wird. Dagegen wirft Zweigert 2 unter Bezugnahme auf Max Grünhut3 die Frage auf, ob es in einem Staatswesen, das Meinungs- und Gewissensfreiheit als hohe Verfassungswerte anerkennt, einem Richter überhaupt noch zuzumuten ist, "sich mit einer RechtS'auffassung identifizieren zu lassen, die er für rechts- und verfassungswidrig und ihre Auswirkung für ver häng1 Selbst Walter Hamel (Glaubens- und Gewissensfreiheit, in Bettermann I Nipperdey I Scheuner: Die Grundrechte, Bd. IV, 1, 1960, S. 37 ff., Anm. 156) begnügt sich mit einer Verweisung auf den Beitrag von Bettermann (dort S. 534) mit der noch nicht einmal ausdrücklichen, sondern nur aus dem Text zu erschließenden Ansicht, daß ein Richter, der in Gewissensnot gerate, aus dem Amt zu scheiden hätte! 2 Gutachten für den 47. Deutschen Juristentag, 1968, Bd. I D, S. 29. 3 Das Minderheitsvotum, FS. Eberhard Schmidt, 1961, S. 620 ff. (626).

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

nisvoll hält". Zweigert verneint diese Frage jedenfalls dann, "wenn diese Zumutung durch höhere rechtsstaatliche Werte gebieterisch gefordert würde. Sie aber sind nicht zu sehen, da ... das strikte Beratungsgeheimnis seine historische Funktion verloren hat und dem System der dissenting opinion der Vorzug gebührt". Klar unzumutbar und verfas~ sungswidrig sei die aus § 195 GVG (alte Fassung) gefolgerte Pflicht des Berichterstatters, die Begründung des Urteils auch dann zu entwerfen, wenn er in einem Kollegium von Berufsrichtern überstimmt worden sei. Demgegenüber meint Pehle4, nicht das Gewissen des Richters, sondern sein Ansehen stehe auf dem Spiele, wenn der überstimmte Richter mit der Entscheidung identifiziert wird. Auch Strelitz5 meint, die Frage des überstimmtwerdens sei eine Folge des Kollegialprinzips, welcher sich niemand entziehen könne, der Mitglied eines Kollegiums werde. Ein Gewi~ senszwang liege nicht vor. Federerll meint ebenfalls, es sei keine Frage des Gewissens, daß die abweichende Meinung bekannt gegeben werden müsse. Der überstimmte Richter habe im Kollegium selbst die Möglichkeit, die Stimme seines Gewissens vernehmlich zu machen. Friesenhahn7 identifiziert sich mit dem Hinweis von Max HuberS, "daß die dissenting opinion eine wesentliche Bedingung für die Ausübung der Freiheit des Gewissens und für die Unabhängigkeit der Richter sei". Philipp Möhring 9 betrachtet als zusätzliches Argument für die Zulassung einer dissenting opinion den Umstand, "daß es geradezu ein persönlichkeitsrechtliches Anliegen des Richters sein müsse, dokumentieren zu können, und zwar auch nach außen, daß er nicht zu dem Urteil stehe". b) forum internum

Geht man davon aus, daß die Stimme des Gewissens zunächst nur im forum internum des von Gewissensskrupeln geplagten Richters sich dahin vernehmen läßt, er dürfe sich nicht so verhalten, wie das Gesetz es von ihm fordert 10 , so stehen ihm - jedenfalls theoretisch betrachtet nur zwei Wege zur Lösung des inneren Konflikts offen: Entweder hört er auf die Stimme seines Gewissens und nimmt das Risiko der ihm durch die Nichterfüllung der gesetzlichen Pflicht drohenden Sanktion in Kauf; oder er entscheidet gegen sein Gewissen, sei es unter innerlichem Pro4 Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentages, Bd. 11, 1969, R. 14 und passim. 5 Ebd., R. 70 f. 8 JZ 1968, 511 (521). 7 N. 4, R. 53 f. 8 ZaöRV 17 (1956), S. 238. 9 N. 4, R. 105 f. 10 Derjenige, der sich auch sonst in seinem Verhalten nicht durch Gewissensregungen beeinflussen läßt, wird durch Gewissensbisse nicht geplagt und kann hier außer Betracht bleiben.

1. Der Sinngehalt des Art. 4 Abs. 1 GG in Anwendung auf den Richter 119 test, aber unter dem Zwang der drohenden Sanktion, sei es unter Beruhigung seines Gewissens durch das Argument, daß seine durch den Richtereid bekräftigte Amtspflicht gegenüber dem persönlichen Gewissensgebot höherrangig sei. Man könnte sagen, jeder Mensch könne in Gewissensnot geraten und es sei seine Sache, wie er sich innerlich zu einer Lösung in diesem oder jenem Sinne durchringt. Dieser innere seelische Vorgang sei rechtsunerheblich, solange und soweit seine Umsetzung in äußere Handlung für das rechtlich geordnete soziale Ordnungsgefüge gleichgültig sei, also jedenfalls stets dann, wenn der Richter sein Gewissen - aus welchen Motiven auch immer - hintanstelle und de facta gegen sein Gewissen entscheide. c) forum externum

Mit dieser Argumentation wäre das Grundrecht der Gewissensfreiheit, das nach Art. 4 GG unverletzlich ist, unterlaufen und nur noch in den Fällen bedeutsam, in denen der Richter seinem persönlichen Gewissen den Vorrang vor seiner Amtspflicht einräumt. Aber gerade dieser Konsequenz soll durch Art. 4 GG vorgebeugt werden. Nur so wird der tiefere Sinn der berühmten "Glaubensentscheidung" des Bundesverfassungsgerichtsl1 verständlich, die den Bundesgesetzgeber veranlaßte, die prozessualen Vorschriften über den Eid durch Zulassung eines dem Eid gleichgestellten "Gelöbnisses" oder einer "Bekräftigung" zu ergänzeni!. Mit anderen Worten: Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit entspricht nur dann seinem Sinn und Zweck, wenn es auch auf das forum externum bezogen wird, so daß dem Richter im Falle eines Gewissensrufs keinerlei sacrificium intellectus zugemutet wird, weder derart, daß er aus Angst vor Sanktionen oder sonstigen Nachteilen den Ruf seines Gewissens hintanstellt, noch derart, daß er die Erfüllung seiner Amtspflicht rangmäßig höher stellt als den Gehorsam gegenüber seinem Gewissen. Durch das Grundrecht ist dem persönlichen Gewissen des einzelnen Menschen der Vorrang eingeräumt vor dem staatlichen Gewissenszwang, falls dieser nicht die unausweichliche und voraussehbare Folge einer freiwillig eingegangenen, für das Sozialleben unerläßlichen und dem einzelnen zumutbaren Gewissensbindung istl3 • BVerfGE 33, 35. § 66 d StPO i. d. F. vom 7.1.1975, § 484 ZPO i. d. F. vom 20.12.1974 und § 45 Abs. 4 DRiG i. d. F. vom 20. 12. 1974. 13 Im Ergebnis ebenso Adolf Arndt: Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 352; Richard Bäumlin: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in VVDStRL 28 (1970), S. 22; Böckenförde in VVDStRL 28 (1970), S. 53, 64; Hesse: Grundriß des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Auf!. 1973, § 12 I 4 d, S. 156; Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in AöR 90 (1965), 257 ff. (273, 280, 283); Maunz I Dürig I Herzog: Kommentar zum Grundgesetz, 11

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Für die Ausnahme des Vorrangs des staatlichen Gewissenszwanges seien zwei Beispiele konstruiert. Erstes Beispiel: A. hat die Befähigung zum Richteramt erlangt. Er will die Laufbahn eines Richters einschlagen und läßt sich die Ernennungsurkunde aushändigen, verweigert aber die Ableistung des Richtereides mit der Begründung, er sei zwar kein Kommunist, aber überzeugter Marxist, und sein Gewissen verbiete ihm, "ohne Ansehen der Person" zu urteilen. Diese Eidesverweigerung ist rechtlich zulässig.; aber wer durch Aushändigung der Ernennungsurkunde den rechtlichen Status eines Richters erlangt hat, muß die ihm als Juristen bekannte Rechtsfolge, nämlich das Risiko seiner Entlassung auf sich nehmen, ohne die entsprechende Bestimmung des § 21 Abs. 2 Ziff. 1 DRiG als Verletzung seiner Gewissensfreiheit unter Berufung auf Art. 4 Abs. 1 GG als grundgesetzwidrig qualifizieren zu dürfen; denn seinem weltanschaulich geprägten Gewissen wird durch die Zulässigkeit der Eidesverweigerung in vollem Umfang Rechnung getragen. Andererseits ist es für das Sozi alle ben in der Bundesrepublik unerläßlich, nur solche Personen als Richter wirken zu lassen, die bei ihrer richterlichen Tätigkeit die der verfassungs rechtlichen Ordnung immanenten Grundwertentscheidungen achten und sich dazu eidlich verpflichten. In diesem Zusammenhang sei an den Fall des politisch oder sonstwie ideologisch gebundenen Gewissensfanatikers erinnert, der keinen Gewissenskonflikt verspürt, weil er das Verschweigen der inneren Stimme als durch den Zweck geheiligt und gerechtfertigt ansieht. Man sollte in dem politischen Streit um den sog. Radikalen-Erlaß, d. h. um die allgemeine Frage, wie und wieweit man getarnte Verfassungsfeinde dem öffentlichen Dienst fernhält, die Gesellschaftsbezogenheit auch des promissorischen Eides ("Gelöbnis", "Bekräftigung") eines künftigen öffentlichen Amtsträgers beachten, aber nicht überschätzen; man sollte vor allem am Beispiel des sich auf seine Offiziersehre, d. h. auf sein durch den Soldateneid gebundenes Gewissen berufenden "Brandt"-Spion Guillaume gelernt haben, daß zwar der oberste Wert für die rechtliche Ordnung des Soziallebens in der Bundesrepublik Deutschland die Würde des Menschen als einer zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabten Persönlichkeit istU , daß aber dieses allgemeine Menschenbild eine Abstraktion darstellt, die Ausnahmen und Abweichungen nicht nur nicht ausschließt, sondern sie als durch die I\lTenschennatur bedingt hinnimmt in der Erwartung, daß Anzahl und Schwere etwaiger Abweichungen durch Androhung und gege4. Auf!. 1977, Art. 4 Nr. 129, 131 f., 135, 146 f.; Podlech: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 41; Ekkehard Stein: Gewissensfreiheit in der Demokratie, 1971, und dazu Besprechung von M. Rehbinder in DVBl. 1972, S. 361. 14 So Leibholz I Rinck: Grundgesetz, 4. Auf!. 1971, Er!. 2 zu Art. 1 GG unter Hinweis auf BVerfGE 12, 51; 28, 189.

1. Der Sinngehalt des Art. 4 Abs. 1 GG in Anwendung auf den Richter 121

benenfalls Vollzug repressiver Maßnahmen15 auf ein Minimum beschränkt wird. Zweites Beispiel: Ein Schöffe, der vor seiner ersten Dienstleistung in öffentlicher Sitzung des Gerichts durch den Vorsitzenden vereidigt werden soll, verweigert den Eid mit der Begründung, sein Gewissen verbiete ihm, über seine Mitmenschen zu richten, da in Matthäus 7,1 geschrieben stehe: "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet." Nach der oben erwähnten "Glaubensentscheidung" des Bundesverfassungsgerichts darf man diesen Schöffen weder zur Ableistung des Eides noch zur Ausübung seines Amtes zwingen. Jedoch kann er die nach § 56 GVG eintretenden Folgen (Ordnungsgeld und Ersatz der verursachten Kosten) nicht als grundgesetzwidrige Verletzung seiner Gewissensfreiheit abwehren, da er seine Gewissensbedenken unverzüglich nach der ihm gemäß § 46 GVG gemachten Benachrichtigung von seiner Auslosung oder spätestens gemäß § 53 GVG nach seiner Einberufung beim Richter hätte geltend machen können; dies hätte entweder zur Streichung aus der Schöffenliste (§ 52 GVG) oder zur rechtzeitigen Ladung eines Hilfsschöffen (§ 49 GVG) geführt, so daß die durch das verspätete Vorbringen der Gewissensskrupel verursachten Kosten nicht entstanden wären. In den obigen Beispielen wurde davon ausgegangen, daß die Berufung auf die Stimme des Gewissens kein innerer seelischer Vorgang geblieben ist, sondern sich in eine äußerlich erkennbare, ja öffentlich kundgegebene Handlung umgesetzt hat. Ferner wurde vorausgesetzt, daß jede Berufung auf das Gewissen moralisch wertlos ist, wenn der vom Konflikt Betroffene nicht bereit ist, zumindest dasjenige Opfer zu tragen, das ihm, ohne sein Gewissen zu berühren, zumutbar ist; denn schließlich setzt, wie Adolf Arndt 16 mit Recht hervorgehoben hat, Freiheit des Gewissens voraus, daß ideel ein Wert da ist, dessen Verwirklichung Gewissenspflicht zu werden vermag. d) Unzumutbarer Nachteil

Zusammenfassend darf somit festgestellt werden, daß es dem einzelnen Menschen freisteht, in seinem faktischen Verhalten, seinem Tun und Lassen der Stimme seines Gewissens zu folgen oder aus dieser oder jener Erwägung heraus nicht zu folgen; ob ihm in diesem letzteren Fall ein schwerer Nachteil erwächst oder nicht, ergibt sich aus den für eine konkrete Rechtsgemeinschaft im konkreten Zeitpunkt faktisch maßgebenden Grundwertvorstellungen und der Anwendung und Auslegung der auf diesen Grundwertentscheidungen fußenden Rechtsnormen. Wäh15 Vgl. hinsichtlich der Richter z. B. §§ 331 Abs. 2, 332 Abs. 2 und 3, 333 Abs. 2, 334 Abs. 3, 335, 336, 344, 345, 353 b Abs. 1 und 2, 353 d Ziff. 2 und 358 StGB. 16 N. 13, S. 323.

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Ric.lJ.ters

rend in totalitären Herrschaftsverbänden die Berufung auf das persönliche Gewissen eine aufs schwerste zu ahnende Häresie und Ketzerei gegenüber dem Alleingeltungsanspruch der als allein richtig qualifizierten und rechtlich für jedermann verbindlichen Grundwertenscheidung des obersten Gewaltinhabers angesehen wird, darf in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 4 Abs. 1 GG niemandem daraus ein unzumutbarer Nachteil erwachsen. Diese Regel gilt auch für Berufsrichter und ehrenamtliche Richter. Erforderlich sind somit rechtliche Möglichkeiten, die in Konfliktsfällen ein Ausweichen ermöglichen, durch das die Gewissensfreiheit des einzelnen Richters respektiert und trotzdem der gesetzlich beabsichtigte Rechtserfolg erreicht und garantiert wird, wie dies z. B. bei der in Ausführung der "Glaubensentscheidung" getroffenen gesetzlichen Regelung geschehen ist. 2. Prozeßrechtliche Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des Richters In den Prozeßordnungen der verschiedenen Gerichtszweige und im Gerichtsverfassungsgesetz finden sich einschlägige Vorschriften, die in verschiedener Hinsicht dem Schutz der Gewissensfreiheit des Richters zu dienen bestimmt sind.

a) Ausschluß und Selbstablehnungsrecht des Richters Um Gewissenskonflikte gar nicht erst aufkommen zu lassen, sind Richter in gesetzlich fest umschriebenen Fällen von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen l7 • Geraten Richter in Situationen, in denen ein Gewissenskonflikt wahrscheinlich ist, so können sie von dem sog. Selbstablehnungsrecht Gebrauch machen l8 • In einer derartigen Anzeige spricht das Gewissen des Richters, der sich für befangen hält. Es wird kaum Fälle geben, in denen das zur Entscheidung zuständige Gericht die Selbstablehnung nicht gelten lassen wird. Jedenfalls hat das Gericht die Anzeige unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 Abs. 1 GG zu werten und darf sie nicht deshalb ablehnen, weil auf diese Weise das Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt wird oder der Staatskasse oder den Parteien durch die Selbstablehnung erhebliche Mehrkosten entstehen könnten. Die Stimme des Gewissens ist unverletzlich und hat deshalb den Vorrang. 17 Z. B. § 22 f. StPO; § 41 ZPO, § 46 Abs. 1 Satz 2 ArbGG; § 54 VerwGO; § 18 BVerfGG. 18 § 30 f. i. V. m. § 24 Abs. 2 StPO, und zwar bis zu dem in § 25 StPO bestimmten Zeitpunkt; § 48 i. V. m. § 42 Abs. 2 ZPO; §§ 46 Abs. 2,49 ArbGG; § 54 VerwGO; § 19 Abs. 3 BVerfGG.

2. Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des Richters

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b) Bindung an die Entscheidung eines anderen Gerichts Wird die Entscheidung eines G€richts im Wege der Revision angefochten und daraufhin aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dasselbe oder an ein anderes Gericht verwiesen, so ist dieses in allen Gerichtszweigen an die rechtliche Beurteilung durch das Revisionsgericht gebunden 19 • Diese Bindung kann für sämtliche oder einzelne, vor allem ehrenamtliche Mitglieder eines Kollegialgerichts" das innerhalb dieser G€bundenheit neu zu entscheiden hat, G€wissenskrupel besonders dann mit sich bringen, wenn das Urteil des Revisionsgerichts nicht wegen der rechtlichen Beurteilung, sondern wegen der durch diese bedingten faktischen Folgen wochenlang vor der neuen Verhandlung in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht und auf mehr oder weniger begründete juristische Kritik 20 oder auf offene und entschiedene Ablehnung der politisch interessierten oder aufgehetzten Öffentlichkeit gestoßen ist. Wenn ein Berufsrichter oder ehrenamtlicher Richter die sich aus der rechtlichen Beurteilung des Revisionsgerichts ergebenden sa~ lichen Folgen mit der Stimme seines Gewissens nicht vereinbaren zu können glaubt, muß ihm angesichts von Art. 4 Abs. 1 GG die Befugnis zur Selbstablehnung wegen Befangenheit gewährt werden, weil er nicht gezwungen werden darf, gegen sein G€wissen zu entscheiden 21 • 18 § 358 Abs. 1 StPO; § 565 Abs. 2 ZPO; § 72 Abs. 3 ArbGG; § 144 Abs. 6 VerwGO; vgl. über das sog. sacrificium intellectus bei Plenarentscheidungen der oberen Gerichte: Bruno Heusinger: Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen, 1975, S. 46 ff.; ferner Th. Vogel: Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung an das Gesetz, 1969, S. 44 ff.; Klaus Tiedtke: Die Bindungswirkung revisionsrechtlicher Entscheidungen, JZ 1978, 626 - 632. 20 Als peinliches Beispiel genügt der Hinweis auf die Anmerkung von Wolfgang Steinlechner in NJW 1968, 1790 ff. zu dem Revisionsurteil im RehseFall; der letzte Satz dieser Anmerkung, die noch vor dem Zusammentritt des zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zuständigen Schwurgerichts veröffentlicht wurde, lautet wörtlich: "Es bleibt der Verdacht (sie!), daß hier dem Schwurgericht ein Weg zum Freispruch des Angeklagten eröffnet werden sollte." Siehe zu dem Revisionsurteil auch die Anmerkung Begemann in NJW 1968,2346. 21 Heusinger (N. 19, S. 50 f.) räumt ein, es könne Fälle geben, in denen die Bindung des Richters an Gesetz und Recht mit dem (individuell-subjektiven) Gewissen des Richters in Widerspruch gerate der Art, daß der Richter im Rahmen seiner Amtsführung keinen Ausweg findet. Die Worte "nach bestem Wissen und Gewissen" im Richtereid enthielten Spannungen, die im Subjekt des Richters unauflöslich werden könnten. Der einzige Ausweg, den Heusinger sieht, nämlich die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm, steht aber nur dem erkennenden Gericht, nicht aber einem einzelnen Mitglied des Kollegiums zu, wie sich klar aus Art. 100 GG und § 13 Nr. 11 BVerfGG ergibt. Für den Fall, daß das subjektive Gewissen dem Richter die Anwendung eines Gesetzes verbietet, sieht Heusinger als ultima ratio allein den Ausweg in der unbezweifelbaren Freiheit des Richters, "sein Amt aufzugeben". Diese Auffassung ist die logische Folge aus der Voraussetzung, daß der Richter durch seinen Eid sich im Gewissen gebunden hat, getreu dem Grundgesetz

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

c) Der im Richterkollegium überstimmte Richter

aa) §§ 192 - 197 GG Nach den Vorschriften der §§ 192 -197 GVG über Beratung und Abstimmung22 kann der Richter eines Kollegialgerichts durch Mehrheitsentscheidung überstimmt werden. Dieser Fall kann eintreten bei Meinung&verschiedenheiten über den Gegenstand, die Fassung und die Reihenfolge der Fragen, die der Vorsitzende während der Beratung stellt, über das Ergebnis der Abstimmung, über die Entscheidung selbst, d. h. über ihren Inhalt und ihren Umfang, sowie über die Begründung. Der Gesetzgeber ist offensichtlich davon ausgegangen, daß jedes Mitglied des beratenden Kollegiums nach bestem Wissen und Gewissen seine Meinung äußern, begründen und verteidigen kann und soll; daß jedes Mitglied des Kollegiums die von seinen Kollegen geäußerten und begründeten Meinungen ebenso hoch bewerten muß, wie seine eigenen, und deshalb, weil es kein non liquet geben darf, die Mehrheitsentscheidung als hinlängliches Beschwichtigungsmittel seines Gewissens respektieren darf, kann und muß211. Dieses sacrificium intellectus ist nach der Auffassung des Gesetzgebers zumutbar angesichts des absoluten Beratungsgeheimnisses, das für Berufsrichter ebenso gilt wie für die ehrenamtlichen Richter (§§ 43, 45 I 2 DRiG). bb) Die "logische" Schlußkette Zu diesem Ergebnis führt auch eine einleuchtende logische Schlußkette2 4• Danach ist jeder Richter dem Gesetz unterworfen, an das Gesetz und dem Gesetz zu urteilen, gleichgültig in welche Richtung Grundgesetz, Gesetz und Recht sich künftig entwickeln werden. Dies aber wäre mehr als eine Bindung, es wäre eine Knebelung des Gewissens, wie sie während der nationalsozialistischen Epoche dank des absoluten Gesetzespositivismus den Inhabern der politischen Gewalt die Durchsetzung ihrer politischen Maßnahmen im Tarngewand des legalen Gesetzes ermöglichte. Heusinger räumt ein (S. 119), man müsse es beklagen, wie nachgiebig sich manche Richter dem damaligen Unrecht gebeugt hätten. Aber es kommt nicht auf das "Beklagen" einer Haltung an, die durch den damaligen Terror bedingt war, sondern allein darauf, die "unverletzliche" Rechtswohltat der Gewissensfreiheit auch einem in echter Gewissensnot befindlichen Richter zu gewähren, ohne ihn zur Aufgabe seines Amtes zu zwingen. !2 Die angeführten Bestimmungen gelten auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 9 Abs. 2 ArbGG), die Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 55 VerwGO) und die Verfassungsgerichtsbarkeit (§ 17 BVerfGG). !3 Vgl. hierzu aus biblischer Sicht Leo Landmann bei Jürgen Blühdorn: Das Gewissen in der Diskussion, 1976,S. 50 -73 (58 f.). U Vgl. als Beispiel Gerd Ulrich Freihalter: Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, 1973, S. 220: "Ein Abweichen (seil. von der Rechtsnorm) setzt das Fehlen einer Bindung an die Norm gedanklich voraus. Demgegenüber wurde aber festgestellt, daß die Bindung des Richters an das Gesetz aufgrund der Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG unabdingbar ist; ein Abwehranspruch des betroffenen Richters besteht gerade nicht."

2. Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des Richters

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gebunden (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG). Dementsprechend verpflichten sich Berufsrichter und ehrenamtliche Richter durch den Richtereid ("Gelöbnis") "getreu dem Gesetz" ihr Amt auszuüben und ihre diesbezüglichen Pflichten zu erfüllen (§§ 25, 45 I 1 DRiG). Der Umstand, daß es zu vielen Rechtsprinzipien unterschiedliche Auffassungen, zu vielen Rechtssätzen oft zahlreiche, voneinander abweichende Auslegungsmöglichkeiten in Lehre und Rechtsprechung gibt, betrifft nicht - so argumentiert man - das Gewissen, sondern das Wissen des Richters, der durch den ihn gesetzlich treffenden Begründungszwang gehalten ist, seine rechtliche überzeugung auf eine rationale Argumentation zu stützen und auf diese Weise offenzulegen, daß er sich von Willkür freigehalten hat. Dies gilt nicht nur für den Einzelrichter, sondern auch für jedes Mitglied eines Richterkollegiums, das unter dem Schutz des Beratungsgeheimnisses seine persönliche richterliche überzeugung in der entsprechenden Weise zum Ausdruck bringen kann, aber angesichts der oben berührten Vielheit der Meinungen unter Umständen mit der von ihm für allein zutreffend erachteten Rechtsmeinung in der Minderheit bleibt und die Mehrheitsentscheidung ebenso gegen sich dulden muß wie ein Richter, der an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden ist. Unter diesen Umständen kann ein Richter, der entsprechend seiner unter Eid übernommenen Verpflichtung nur "getreu dem Gesetz" zu entscheiden hat, gar nicht in einen Gewissenskonflikt geraten, weil logisch nicht sein kann, was nicht sein darf: nämlich daß der zur Anwendung des Gesetzes berufene Richter über die Angemessenheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit eines Aktes des autoritativen Gesetzgebers "selbst zu vernünfteln" sich anmaßt25 • Eine derartige logische Schlußkette ist nur auf der Grundlage einer Rechtstheorie möglich, welche den Begriff "Gesetz" rein formal als Ausdruck eines omnipotenten gesetzgeberischen Willens ("Gesetzesbefehl", "Imperativ") auffaßt26 • Dies entspricht der faktischen Rechtspflege stets dann und überall dort, wo die politischen Lehren von der Gewaltenverbindung oder von der einheitlichen Staatsgewalt de facto maßgeblich sind, so daß die Gerichtsbarkeit keinen anderen Status hat als die allgemeine Staatsverwaltung und von einer Unabhängigkeit der Gerichte keine Rede sein kann. Die Richter führen aus, was das Gesetz befiehlt, und zwar in dem engen Rahmen, der durch Weisungen und Leitsätze des obersten Gewaltinhabers und seiner ausführenden Organe abgesteckt ist. Als Beispiel genügt ein Hinweis auf die Organisation und Tätigkeit der sozialistischen Gerichte 26a • Ganz anders ist es in der Bundesrepu25 Zu dieser Formulierung von Immanuel Kant vgl. Ernst E. Hirsch: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, in AcP 175 (1975), S. 471 - 511, 494 f. 26 Ebd., S. 491, 507, 508 Anm. 71. 26a Vgl. Siegfried Lammich, in: Hecht in Ost und West 22 (1978), S. 251 - 264 und in: JZ 1979, S. 93 - 96.

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

blik Deutschland, wo die Gewaltenteilung als grundlegendes Organisationsprinzip im Grundgesetz ausdrücklich festgelegt und einer Grundgesetzänderung nicht zugänglich ist (Art. 20 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG). Dementsprechend sind die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 GG). Die Bindung an das Gesetz ist aber flexibel, und zwar in einem doppelten Sinne: "Gesetz" ist nicht nur die im üblichen Gesetzgebungsgang verabschiedete Nonn (Gesetz im formellen Sinn), sondern jede Rechtsnorm, die als solche in der Rechtspraxis und Rechtspflege anerkannt und angewandt wird. Auch das vom Gesetzgeber förmlich erlassene Gesetz ist weder "Befehl" noch "Imperativ", sondern enthält, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe2 7 , Verhaltenserwartungen. Der Rechtssatz in Art. 97 I in Verbindung mit Art. 20 II und III GG besagt somit folgendes: Von dem mit der Ausübung der gesetzgebenden Staatsgewalt betrauten Organ wird erwartet, daß es sich bei der einschlägigen Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung hält, d. h. solche Gesetze erläßt, welche die Unabhängigkeit der Mitglieder der rechtsprechenden Gewalt garantieren und auch insoweit respektieren, als die Richter ausschließlich dem Gesetz und keinen anderen, ihre richterliche überzeugung beeinflussenden staatlichen Stellen unterworfen sind. Dementsprechend bedeutet der Rechtssatz in § 1 GVG folgendes: Der Bundesgesetzgeber erwartet, daß der Landesgesetzgeber und die für die Organisation der Rechtspflege zuständigen Stellen die Gerichtsverfassung so gestalten und einrichten, daß die richterliche Gewalt ausschließlich durch "Richter" ausgeübt wird, deren sachliche und persönliche Unabhängigkeit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet ist, und die bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen allein dem Gesetz und keinen anderen ihre richterliche überzeugung beeinflussenden staatlichen Stellen unterworfen sind. Schließlich wird von den Richtern erwartet, daß sie bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen sich allein dem Gesetz unterwerfen. Diese "Unterwerfung" ist aber nicht absolut, sondern relativ: Das Bundesverfassungsgericht hat unmißverständlich ausgesprochen28 , daß der Richter sich zwar von Willkür freihalten und seine Entscheidung auf eine rationale Argumentation stützen müsse, aber zu freierer Handhabung der im geschriebenen Gesetz enthaltenen Rechtsnormen nicht nur befugt, sondern sogar gezwungen sei, wenn er nicht seine Aufgabe, "Recht" zu sprechen, verfehlen wolle. Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht erneut Veranlassung genommen, den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit dieses Prinzip ins Gedächtnis zu rufen. Der Leitsatz seines Beschlusses vom 24. 3. 1976 29 lautet: "Die richterliche Unparteilichkeit ist kein wertfreies Prinzip, sondern an den Grundwer27 28

28

N. 25, S. 491 f. Ebd., S. 501 ff. sowie BVerfGE 34, 269 ff. JZ 1976, S. 678 - 682 mit Sondervotum Geiger.

2. Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des Richters

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ten der Verfassung orientiert, insbesondere im Gebot sachgerechter Entscheidung im Rahmen der Gesetze unter dem BLickpunkt materialer Gerechtigkeit." Mit anderen Worten: Summum ius darf nicht in summa iniuria umschlagen. Im Gegensatz zu der bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und der heute in der DDR maßgebenden absoluten Gesetzesbindung des Richters darf dieser sein unverletzliches Grundrecht auf die Freiheit des Gewissens jedenfalls innerhalb der Grenzen der dem Grundgesetz immanenten Wertvorstellungen der Gesellschaft betätigen. Stimmen jedoch die persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen des Richters mit den im Grundgesetz "fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" nicht überein oder sind die überzeugungen seiner Kollegen im Spruchkörper über die "getreu dem Gesetz" zu fällende Entscheidung mehrheitlich andere als seine eigenen, so gerät er in einen GewissenskonfLikt: Durch den Richtereid hat er sich in seinem Gewissen gebunden, nicht nur "getreu dem Gesetz", sondern auch "getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" seine richterlichen Aufgaben zu erfüllen und damit die der verfassungsmäßigen Ordnung immanenten Wertvorstellungen als auch für sich selbst verbindlich anerkannt. Weicht er bewußt von den im Grundgesetz fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft ab, so sieht er sich der Strafdrohung von § 336 StGB ausgesetzt, wonach ein Richter, welcher sich bei der Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft wird. Ein Gewissenskonflikt ist also unvermeidlich. Kann der Richter in einem derartigen Fall dem Vorwurf der Rechtsbeugung die verfassungsmäßig garantierte Unverletzlichkeit der Freiheit des Gewissens entgegenhalten? Kann er sich insbesondere auf soziale, persönliche, psychische, wirtschaftliche und sonstige Folgen der Entscheidung für die von dieser unmittelbar materiell und immateriell Betroffenen30 mit der Behauptung berufen, diese Folgen verletzten seinen "Sinn für Gerechtigkeit" in einem derartigen Maße, daß er damit "Unrecht" statt "Recht" sprechen würde? Kann er ferner auf die allgemeinen Folgen hinweisen, welche in der sozialen Wirklichkeit eine Entscheidung im Sinne der Mehrheit haben müßte 31 ? 30 Während die Folgen für den Betroffenen im Strafprozeß durchaus berücksichtigt werden, ja manchmal sogar im Vordergrund bei der Strafzumessung stehen, wird dieser Gesichtspunkt im Zivilprozeß nur bei Ermessensentscheidungen im Schadenersatzrecht und in Ehe- und Kindschaftssachen beachtet. 31 Endurteile der oberen Gerichte können, vor allem wenn sie von einer bisher befolgten Rechtsprechung abweichen, eine erhebliche Verschiebung in den davon mittelbar betroffenen Bereichen der Rechts- und Güterverteilungsordnung zur Folge haben.

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Gerade auf die Berücksichtigung dieser Folgen kommt es entscheidend an, wenn man der Stimme des Gewissens des überstimmten Richters Gewicht einräumen soll. Wenn ein Richter mit seiner dogmatisch-normativen Rechtsauffassung im Kollegium allein steht, so ist u. U. seine "Reputation" als Jurist gefährdet, aber sein Gewissen nicht verletzt. Mit vollem Recht weist Ekkehart Stein32 darauf hin, entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Verhalten vom Gewissen bestimmt wird, sei nach dem heutigen Stand der psychologischen Erkenntnisse über das Gewissen das Motiv des Verhaltens. "Ein Verhalten ist nur dann vom Gewissen bestimmt, wenn es nicht durch das Streben nach persönlichem Vorteil, sondern durch das Bewußtsein der Verantwortung für die von dem Verhalten betroffenen Personen oder Gruppen motiviert wird. Dabei wird unter ,Verantwortung' eine Bindung des Handelnden an den Betroffenen in dem Sinne verstanden, daß der Handelnde die Folgen für die Betroffenen in gleicher Weise berücksichtigt wie die Folgen für sich selbst." Man darf auch nicht unberücksichtigt lassen, daß es den Prozeßbeteiligten nicht auf die juristische Argumentation, sondern auf den sachlichen Inhalt des Urteils ankommt. Und nur die durch die sachliche Tragweite des Urteils heraufbeschworenen Folgen für die Prozeßbeteiligten oder mittelbar für die Rechtsgemeinschaft können es rechtfertigen, daß ein Richter, der diese Folgen erkennt und voraussieht, sie nicht mit seinem Gewissen, d. h. seinem "Sinn für Gerechtigkeit", vereinbaren kann und deshalb dafür die Verantwortung scheut und ablehnt. cc) Absolute Gesetzesbindung - Grundrecht auf Gewissensfreiheit Im Gegensatz zur absoluten Gesetzesbindung des Richters während der Zeit des Nationalsozialismus und in der DDR darf dieser in der Bundesrepublik Deutschland sein unverletzliches Grundrecht auf Freiheit des Gewissens jedenfalls innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes betätigen. Dabei sind folgende Situationen möglich: -

Die persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen des Richters stimmen

mit den verfassungsrechtlich oder machtmäßig fundierten Gerechtig-

keitsvorstellungen in der Gemeinschaft nicht überein, sei es - wie während der nationalsozialistischen Herrschaft -, daß der Richter nicht Mitglied der NSDAP geworden ist, das Regime für unmenschlich hält und innerlich von der Geltung "übergesetzlicher" Normen überzeugt ist, sei es - wie u. U. heutzutage - daß der Richter zur Gruppe der Systemveränderer und heimlichen Grundgesetzfeinde gehört und innerlich von der für ihn allein als richtig gehaltenen politisch-weltanschaulichen Lehre dieser oder jener Richtung überzeugt ist.

32

N. 13, S. 45, 49, 51 und passim.

2. Bestimmungen zum Schutze der Gewissensfreiheit des Richters

-

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Die persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen des Richters entsprechen den verfassungsmäßig fundierten Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gemeinschaft, während dies bei seinen Kollegen im Spruchkörper mehrheitlich nicht der Fall ist. In diesen beiden Fällen kann (aber nicht: muß) der Richter, der in der Minderheit bleibt, in einen inneren Konflikt geraten. Durch den Richtereid (bzw. im nationalsozialistischen Staat: durch den Eid auf den Führer) hat er sich in seinem Gewissen gebunden, nicht nur getreu dem Gesetz, sondern auch getreu der Verfassung Recht zu sprechen; damit hat er die der geltenden Verfassungslage immanenten Wertvorstellungen als auch für sich selbst verbindlich anerkannt. Weicht er bewußt davon ab (Fall 1) oder läßt er ohne äußerlichen Protest geschehen, daß die Mehrheit des Spruchkörpers davon abweicht (Fall 2), so ist der Gewissenskonflikt offensichtlich. Für die Lösung kommen folgende Möglichkeiten in Betracht:

-

Der Richter kann die Stimme seines Gewissens "überhören" und, wenn er politisch-weltanschaulich engagiert ist, sich mit der Erwartung einer baldigen Systemänderung abfinden33 •

-

Der Richter kann sein Gewissen mit der Begründung "beschwichtigen", er habe mit derartigen Konfliktsituationen rechnen müssen, sich durch Ableisten des Richtereides von vornherein den gesetzlichen Bestimmungen über Beratung und Abstimmung unterworfen und seinem Gewissen durch Abgabe seiner Stimme im Sinne seines Gewissens anläßlich der Beratung Genüge getan. In diesem Falle könnte er sich auf Goethe berufen: "Dem tätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte tue; ob das Rechte geschehe, soll ihn nicht kümmern34 ."

-

Der Richter könnte als Gewissensfanatiker sein Richteramt aufgeben und Märtyrer seines Gewissens werden. Eine Notwendigkeit zum Freitod, wie Luhmann 35 meint, besteht in diesem Falle nicht; jedoch hätte ein Richter, der während der nationalsozialistischen Herrschaft so gehandelt hätte, sich schwerer persönlicher Verfolgungen ausgesetzt.

33 Derartige Fälle sind vor dem nationalsozialistischen "Umbruch" (1933) vorgekommen, wenn Richter, die unerkannt Mitglieder der NSDAP waren, sich mit Urteilen abfanden, die nicht ihren politischen Vorstellungen, sondern den Prinzipien der Weimarer Reichsverfassung entsprachen; sie dürften aber auch während der nationalsozialistischen Herrschaft vorgekommen sein, wenn Richter, gleichgültig ob sie Parteimitglieder waren oder nicht, Urteile, die sie mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, stillschweigend hinnahmen, um sich selbst und ihre Angehörigen vor lebensgefährlichen Verfolgungen zu bewahren. 34 Maximen und Reflexionen 100. 35 N. 13, S. 269.

9 Hirsch

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

dd) Freistellung des Richters von jedem Risiko? Die Frage, die sich heute und hier stellt, geht dahin, ob in den oben umrissenen Situationen der Richter unter Berufung auf die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG von jedem Risiko freigestellt ist. Hierbei ist von dem oben wiedergegebenen Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts auszugehen, daß der Richter zur freieren Handhabung der im geschriebenen Gesetz enthaltenen Rechtsnormen nicht nur befugt, sondern sogar gezwungen sein kann, wenn er nicht seine Aufgabe, "Recht" zu sprechen, verfehlen will. 3. Das Beratungsgeheimnis Der Richter am Amtsgericht oder der Einzelrichter am Landgericht, der das Urteil als seine Entscheidung im Namen des Volkes verkündE't und unterzeichnet, ist durch die Verpflichtung zur Begründung in der Lage, seine Wertungen und Gründe offen und öffentlich darzulegen, ohne daß ihm ein nach den Grundwerten der Verfassung unzulässiges sacrificium intellectus zugemutet wird. Kann man dieses Ergebnis auch hinsichtlich des überstimmten Mitgliedes eines Kollegialgerichts rechtfertigen mit der Begründung, das Mitglied habe ja entsprechend seinem Gewissen abgestimmt, eine Begründung nach dem bekannten Satz: "dixi et salvavi animam meam"? So einfach liegt die Sache sicherlich nicht. Man muß zwei Sachverhalte auseinanderhalten, wenn man zu einem Ergebnis gelangen will, das mit dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG zu vereinbaren ist: Man muß das Prinzip des Beratungsgeheimnisses zum Prinzip der Öffentlichkeit der Rechtspflege in Beziehung setzen und, wenn diese Ausdrucksweise erlaubt ist, den Beratungsvorgang' als "Innenverhältnis" von dem öffentlich zur Kenntnis gebrachten Beratungsergebnis als "Außenverhältnis" unterscheiden~.

a) Der Beratungsvorgang Der Vorsitzende leitet zwar die Beratung, stellt die Fragen und sammelt die Stimmen, muß sich aber der Entscheidung des Kollegiums fügen, wenn Meinungsverschiedenheiten über den Gegenstand, die Fassung und Reihenfolge der Fragen oder über das Ergebnis der Abstimmung dadurch entstehen, daß die Mehrheit des Kollegiums in einem der erwähnten Punkte anderer Ansicht als der Vorsitzende ist (§ 194 GVG)37. 36 Nach Baumbach I Lauterbach I Albers I Hartmann: ZPO, 36. Aufl. 1978, Anm. 2 zu § 48 DRiG erstreckt sich das Beratungsgeheimnis "auf den Hergang der Beratung einschließlich der Abstimmung", d. h. auf den Beratungsvorgang. Ebenso Günther Schmidt-Räntsch: Gegenstand, Sinn und Grenzen des Beratungsgeheimnisses, in JZ 1958, S. 329 - 335 (330). 37 Diese Bestimmung scheint Dieter Simon unbekannt zu sein, der eine organisatorische "Demokratisierung" zur Beseitigung der strukturellen "Unabhän-

3. Das Beratungsgeheimnis

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Jeder Praktiker weiß, daß die Formulierung der Fragen oder die Reihenfolge, in der sie zur Beratung und Abstimmung gestellt werden, die endgültige Entscheidung vorwegnehmen kann. Deshalb können bereits in diesem Stadium sowohl der Vorsitzende, der in der Minderheit bleibt, als auch das Mitglied, dessen Beanstandung vom Kollegium mit Mehrheit abgelehnt wird, in einen echten Gewissenskonflikt geraten. Entsprechendes gilt für den in § 195 GVG vorgesehenen Fall, daß kein Richter die Abstimmung über eine Frage verweigern darf, weil er bei der Abstimmung über eine vorhergehende Frage in der Minderheit geblieben ist. Er muß also u. U. zu einer Frage Stellung nehmen, auf die es gar nicht angekommen wäre, wenn das Kollegium die in der Reihenfolge vorhergehenden Frage in einem Sinne entschieden hätte, der sein Gewissen nicht belastet. Beispiel: In einer vor dem Schöffengericht verhandelten Strafsache stimmen nach eingehender Beratung zwei Mitglieder des Spruchkörpers für "schuldig", während das dritte Mitglied davon überzeugt ist, daß der Angeklagte mit der ihm vorgeworfenen Tat nichts zu tun hat, sondern ein Opfer der Verwechslung mit dem wirklichen Täter zu werden droht. Deshalb stimmt dieses Mitglied in der Schuldfrage mit "nein". Damit ist die für eine Verurteilung erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht. Bei der nun folgenden Beratung über die Strafzumessung erklärt der in der Minderheit gebliebene Richter oder Schöffe, er beteilige sich nicht weiter an der Beratung und Abstimmung, weil sein Gewissen ihm verbiete, bei der Festsetzung und Verhängung einer Strafe gegen einen Unschuldigen mitzuwirken. Sein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit stehe über seiner Pflicht aus § 195 GVG, zumal er als Mitglied eines Spruchkörpers nicht schlechter gestellt werden dürfe als ein Einzelrichter, der - wenn er zuständig gewesen wäre den Angeklagten freigesprochen hätte und damit in keinen Gewissenskonflikt geraten wäre. Bei dem in § 196 GVG gesetzlich festgelegten Mehrheitsprinzip ist der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgegangen, daß das Mitglied eines Spruchkörpers ebensowenig mit einem "non liquet" eine rechtliche Beurteilung eines zur gerichtlichen Entscheidung gestellten Falles ablehnen darf wie ein Einzelrichter. Wie aber, wenn in der Klausur des Beratungszimmers unter der Garantie des Beratungsgeheimnisses ein Mitglied des Kollegiums eine klare Stellungnahme pro oder contra aus Gewissensgründen ablehnt und sich der Stimme enthält, weil seine innere überzeugung weder ein unbedingtes Ja noch ein unbedingtes Nein zu der zur Abstimmung gestellten Frage zulasse38 ? Da die Stimmentgigkeitsbeeinträchtigung" des Beisitzers gegenüber dem Vorsitzenden fordern zu müssen glaubt (Dieter Simon: Die Unabhängigkeit des Richters, 1975, S. 29). 3B Vgl. zu diesem Problem einerseits Heusinger (N. 19, S. 48), andererseits Albert A. Ehrenzweig: Psychoanalytische Rechtswissenschaft, 1973, S. 342 ff. 9·

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

haltung in einem derartigen Fall weder als Zustimmung noch als Ablehnung gedeutet und ausgelegt werden kann, läge eine rechtswidrige Verweigerung der Abstimmung aus Gewissensgründen vor. Darf im arbeitsgerichtlichen Verfahren gemäß § 27 ArbGG ein ehrenamtlicher Richter, der während des Beratungsvorganges sich wegen Gewissensskrupeln der Stimme enthält, wegen "grober Verletzung seiner Amtspflicht" seines Amtes enthoben werden? Oder darf einem Schöffen, der aus Gewissensgründen Stimmenthaltung übt, nach § 56 GVG ein Ordnungsgeld und die Kostentragung auferlegt werden mit der Begründung, er habe sich "seinen Obliegenheiten entzogen"? Um zu einem verfassungskonformen Ergebnis zu kommen, das sowohl dem Prinzip des gesetzlichen Richters als auch der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters (auch des beisitzenden Laienrichters) entspricht, muß man die rechtliche Situation des fraglichen Richters und des durch Verweigerung der Stimmabgabe in der Wahrnehmung seiner Funktionen behinderten Spruchkörpers auseinanderhalten. Der Richter, der während der Beratung die Abgabe seiner Stimme verweigert oder sich der Stimme enthält, muß sich bemühen, den übrigen Mitgliedern des Spruchkörpers so klar und überzeugend wie nur möglich darzutun und damit glaubhaft zu machen, daß er sich aus Gewissensgründen weder zu einem "Ja" noch zu einem "Nein" durchringen kann, weil ein "Ja" ebenso wie ein "Nein" zu Folgen führen müßten, die seinem "Sinn für Gerechtigkeit" widersprächen. Nur auf diese Weise bewährt sich sein Gewissen, nur unter diesen Voraussetzungen kann die objektive Widerrechtlichkeit, die einer gesetzwidrigen Rechtsverweigerung eines Einzelrichters gleichzustellen ist, durch Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit subjektiv gerechtfertigt werden. Allerdings muß der Richter mit einem Dienststrafverfahren rechnen. Dieses Risiko stellt als solches keine unzumutbare Beschränkung oder gar Verletzung seines Grundrechts dar. Hinsichtlich der rechtlichen Situation des durch die Verweigerung der Stimmabgabe eines seiner Mitglieder in Schwierigkeiten geratenen Spruchkörpers ist Folgendes zu bedenken: Man kann Stimmenthaltung, d. h. die Verweigerung der Teilnahme an der Abstimmung nicht als Gegenstimme werten und auf diesem Wege doch noch zu einer Entscheidung in diesem oder jenem Sinne kommen. Einer derartigen Lösung stehen die Bestimmungen des § 313 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO und des § 275 Abs. 2 Satz I, Abs. 3 StPO entgegen, weil das Urteil die Namen der Richter enthalten muß, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben. Dies aber Diesem Problem ist nicht dadurch auszuweichen, daß man sagt, wer die Schuldfrage nicht bejahe, verneine sie. So einfach ist es nicht, wenn ein Schatten des Verdachts bleibt. In dubio pro reo?

3. Das Beratungsgeheimnis

133

trifft für denjenigen Richter nicht zu, der aus Gewissensgründen durch Verweigerung seiner Stimmabgabe sich von der Mitwirkung bei der Entscheidung ausgeschlossen hat. War ein Ergänzungsrichter zugezogen worden und hat dieser den Verhandlungen beigewohnt, so hat dieser für den durch seine Abstimmungsverweigerung aus Gewissensgründen und damit gemäß Art. 4 Abs. 1 GG "verhinderten" Richter einzutreten (§ 192 Abs. 2 GVG). Ist dagegen kein Ergänzungsrichter zugezogen worden, so kann die Beratung nicht zu Ende geführt werden. Ein Urteil kann nicht ergehen. Das mit der Sache befaßte Gericht muß angesichts des Prinzips des gesetzlichen Richters in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung, also einschließlich des aus Gewissensgründen dissentierenden Richters, im Strafprozeß mit der Verhandlung von neuem beginnen (§§ 226 ff. StPO), während im Zivilprozeß nur eine Wiederholung der letzten, dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung notwendig ist (§§ 156,309 ZPO). In beiden Fällen kann der Richter, der in dem "geplatzten" Verfahren bei der Beratung sich der Stimme enthalten hatte, zu Beginn der neuen Verhandlung von einem Verfahrensbeteiligten wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden oder seine Selbstablehnung erklären. Erst nach erfolgreicher Ablehnung kann und muß ein anderer Richter, und zwar der für diesen Fall im Geschäftsverteilungsplan vorgesehene Richter, an seine Stelle treten. Es ist nicht zu verkennen, daß die Wiederaufrollung des Prozesses für alle Beteiligten unangenehm ist und erhebliche Mehrkosten verursachen kann 39 • Es ist ferner nicht zu verkennen, daß die oben erörterten Möglichkeiten der Verweigerung der Stimmabgabe wegen Gewissensbedenken aus anderweitigen Gründen mißbraucht werden können. Aber die Gefahr des Mißbrauchs, die jedem Freiheitsrecht immanent ist, muß angesichts der oben angestellten Erwägungen in Kauf genommen werden. In der Regel werden Berufsrichter und ehrenamtliche Richter sich damit zufrieden geben, ihren Gewissensbedenken dadurch Rechnung zu tragen, daß sie bei ihrer Stellungnahme zu der zu entscheidenden Frage eine ihrem Gewissen entsprechende Stimme abgeben. Auf diese Weise wird sichergestellt, daß der Gewissenskonflikt wenigstens im Beratungszimmer offengelegt wird, was eine psychische Entlastung des fraglichen Richters zur Folge hat. Problematisch ist, ob in den Urteils gründen dieser Sachverhalt aufgedeckt oder mit Stillschweigen übergangen werden soll. Willm,s4° hielte es für "eine gute Sache, wenn der Gesetzgeber vorgeschrieben hätte, daß die Entscheidungen der Kollegialgerichte eine unterlegene Meinung in 39 Diese Folge tritt auch dann ein, wenn einer der am Verfahren beteiligten Richter während der Verhandlung oder Beratung stirbt oder aus einem anderen Grunde ausfällt, ohne daß ein Ergänzungsrichter zugezogen war. 40 Mißliches beim Beratungsgeheimnis, in JZ 1976, S. 317.

134

V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

den Gründen nicht mit Schweigen übergehen dürfen, sondern sie ausdrücklich sachlich behandeln müssen". Nach meiner Meinung bedarf es einer derartigen ausdrücklichen Bestimmung nicht. Ich halte es, falls der überstimmte Richter darauf besteht, für ein nobile officium des Vorsitzenden, in den schriftlich abzufassenden Gründen des Urteils ausdrücklich zu erwähnen, daß das Gericht die streitige konkrete Frage auch unter dem vom überstimmten Richter vorgetragenen Gesichtspunkt betrachtet habe, aber sich diesem Standpunkt nicht habe anschließen können, wobei offen bleiben mag, ob dies einstimmig oder mehrheitlich so beschlossen worden ist. Dieser Punkt spielt erst beim "Außenverhältnis" eine Rolle, das nunmehr zu behandeln ist. b) Der Verkündungsvorgang

In jedem Kollegialgericht entscheidet, wie oben bereits erwähnt, bei der Beratung und Abstimmung die absolute, in Strafsachen sogar eine qualifizierte Mehrheit. Der hinsichtlich der Schuldfrage in der Minderheit gebliebene Richter kann in ein schiefes Licht geraten, wenn er als Vorsitzender ein Urteil zu verkünden und mündlich zu begründen hat41 , das er nicht nur für juristisch falsch, sondern für gesetzwidrig oder verfassungswidrig oder für einen Verstoß gegen "übergesetzliches Recht" im Sinne der Kernbereichslehre des Bundesgerichtshofs hält. Obwohl er nur als Sprachrohr des Kollegiums auftritt und im Namen des Volkes das Urteil verkündet, wird er u. U. persönlich von denjenigen angegriffen, ja diffamiert, welche die Entscheidung als rechtlich oder politisch untragbar betrachten. Als illustratives Beispiel genügt ein Hinweis auf die oben geschilderten Vorgänge, die sich im "Fall Rehse" bei der Verkündung des freisprechenden Urteils noch im Gerichtssaal und nachher wochenlang in der Öffentlichkeit abgespielt haben. Der Vorsitzende ist wehrlos, da er an das Beratungsgeheimnis (§ 43 DRiG) gebunden ist. Versucht er, in der später abgefaßten schriftlichen Urteilsbegründung ihn persönlich diffamierende Angriffe als solche zu kennzeichnen, so besteht die Gefahr, daß er sich erneut öffentlichen Angriffen ausgesetzt sieht. Aber nicht nur der Vorsitzende kann in ein falsches Licht geraten. Auch jedes andere Mitglied des Kollegiums, das bei "Anspannung seines Gewissens" zu der überzeugung gekommen ist, daß die Mehrheitsansicht gesetzwidrig oder verfassungswidrig ist oder "übergesetzliches Recht" verletzt, ist bei der Urteilsverkündung persönlich zugegen und für das im Gerichtssaal anwesende Publikum sichtbar und erkennbar. Sein Name steht im Sitzungsprotokoll und im Rubrum des schriftlich abgesetzten Urteils. Nicht von ungefähr bestimmt § 26 ArbGG, daß niemand in der 41

§ 268 StPO; § 311 Abs. 2 i. V. m. § 136 Abs. 4 ZPO; § 60 ArbGG; § 173

VerwGO.

4. Schutz gegen Rechtsverfolgung

135

übernahme oder Ausübung des Amtes als ehrenamtlicher Richter b€schränkt oder wegen der übernahme oder Ausübung des Amtes benachteiligt werden darf, eine Verbotsvorschrift, die sogar strafrechtlich abgesichert ist. Berufsrichter haben als Vorsitzende die Sitzungsprotokolle und das Urteil, beisitzende Berufsrichter und Handelsrichter das Urteil zu unterschreiben. Kurzum: Jeder, der bei der Urteilsfällung mitgewirkt hat, ist für jedermann jederzeit aus dem Rubrum feststellbar. "Nach außen tritt das Urteil als eine in allen seinen Teilen einstimmig gefaßte Entscheidung in Erscheinung42 ." Aus der Mitwirkung an der Urteils fällung wird auf die den Tenor und (oder) die Begründung billigende Teilnahme aller Mitglieder des Kollegiums geschlossen. Dieser Schluß wird nicht etwa nur von juristischen Laien gezogen, sondern auch, wie der wiederum nur als Paradigma herangezogene Vorgang im "Fall Rehse" gezeigt hat, auch von Richtern, die, wenn sie selbst Vorsitzende oder Mitglieder des Schwurgerichts gewesen wären, in gar keiner anderen Lage gewesen wären als die von ihnen öffentlich angegriffenen, ja angeprangerten Kollegen. Die oben aufgezeigten Sachverhalte weisen als gemeinsames Merkmal den Umstand auf, daß deI' überstimmte Richter, mag er als Vorsitzender besonders auffällig in das Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten, mag er als Mitglied des Kollegiums sozusagen nur als stummer Zeuge der nach § 173 GVG gesetzlich vorgeschriebenen öffentlichen Verkündung des Urteils beiwohnen, innerlich darunter leiden, diese gesetzlich vorgeschriebene Handlung tun oder dulden zu müssen, die ihn vor der Öffentlichkeit in ein falsches Licht setzen, ja einer Gefährdung seiner Person aussetzen kann, ohne daß er eine rechtlich geschützte Möglichkeit zur öffentlichen KlarsteIlung besitzt. Diese Situation bedeutet keine Verletzung der Freiheit seines Gewissens, weil alle Mitglieder des Kollegiums einschließlich des üb€rstimmten Richters in der Beratung und Abstimmung der Stimme ihres Gewissens haben folgen können. Trotzdem darf nicht verkannt werden, daß jeder Richter, der sich bereits während der Beratung der Gefahr bewußt ist, in der Öffentlichkeit in ein falsches Licht und dadurch in persönliche Unannehmlichkeiten zu geraten, sich in der Freiheit seiner Entscheidung gehemmt und behindert fühlen kann. Diese Möglichkeit aber ist mit jeder Art von Richteramt verbunden. Insoweit handelt es sich um Reaktionen einer mehr oder weniger "beschränkten" Öffentlichkeit, mit denen jeder Richter rechnen muß.

4. Schutz gegen Rechtsverfolgung Infolgedessen bleibt nur die Frage zu erörtern, ob der bei der Beratung und Beschlußfassung überstimmte Richter, der innerhalb der Wer42

Kleinschmidt: StPO-Kommentar, 30. Aufl. 1971, Er!. 2 zu § 275.

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V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

te-Ordnung des Grundgesetzes aus Gewissensgründen, d. h. nach seinem persönlichen "Sinn für Gerechtigkeit" seine Stimme bei der Beratung und Beschlußfassung über eine richterliche Entscheidung abgegeben oder die Stimmabgabe verweigert hat, diesen Sachverhalt unmittelbar oder mittelbar so deutlich zum Ausdruck bringen kann, daß er sich erforderlichenfalls bei Regreßansprüchen wegen Amtspflichtverletzung bei Urteilen in einer Rechtssache (§ 839 Abs. 2 BGB) oder bei einer Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung (§ 336 StGB) auf sein von der Mehrheit abweichendes Verhalten berufen kann43 •

a) Das Sondervotum der Bundesverfassungsrichter Diesem Gedanken ist bisher nur zugunsten der Bundesverfassungsrichter durch die nachträglich als Abs. 2 dem § 30 BVerfGG eingefügte Bestimmung entsprochen worden: Danach kann jedes Mitglied des jeweils erkennenden Senats seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder ihrer Begründung in einem Sondervotum niederlegen, das der als Entscheidung des Senats geltenden Mehrheitsentscheidung anzuschließen ist. Die abweichende Meinung braucht nicht auf einer Mahnung des Gewissens zu beruhen, sondern kann sich aus juristisch-normativen oder rechtspolitischen überlegungen herleiten oder auf andere Motive zurückzuführen sein. Mit anderen Worten: Es bedarf hier nicht des Rückgriffs auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit, zumal der von den Bundesverfassungsrichtern zu leistende Eid sie nicht wie der Richtereid aller anderen Richter ausdrücklich in ihrem Gewissen bindet, sondern lediglich die Verpflichtung zur "gewissenhaften", d. h. sorgfältigen Amtsausübung bekräftigt. Ob die Zulassung des Sondervotums bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sich bewährt hat oder ob die im Laufe der Vorerwägungen in der öffentlichen Diskussion oder während der parlamentarischen Beratung geäußerten Bedenken sich als berechtigt herausgestellt haben, braucht deshalb in diesem Zusammenhang nicht erörtert zu werden 44 • Hier genügt die Feststellung, daß man die Einrichtung eines Sondervotums für die Mitglieder anderer Kollegialgerichte als des Bun43 Günther Schmidt-Räntsch (N. 36), S. 329 - 335 (334) sieht eine Ausnahme von der Pflicht zur Wahrung des Beratungsgeheimnisses als gegeben an, wenn diese Pflicht ein Gericht daran hindern würde, die Folgen einer gesetzwidrigen Beratung oder Abstimmung zu beheben oder die Richter wegen Abstimmung verantwortlich zu machen. Auch sei der Richter berechtigt, als Beschuldigter oder Partei das Beratungsgeheimnis in allen Fällen preiszugeben, in denen gesetzwidrig beraten oder abgestimmt worden ist. Dieses Recht stehe ihm auch dann zu, wenn er überstimmt worden ist und deshalb zu Unrecht beschuldigt oder auf Schadenersatz in Anspruch genommen wird. 44 Vgl. Friedrich Karl Fromme und Hans Spanner in FS. Willy Geiger, 1974, S. 867 - 890 bzw. 891 - 907.

4. Schutz gegen Rechtsverfolgung

137

desvf'rfassungsgerichts seinerzeit aus den verschiedensten Gründen mehrheitlich abgelehnt hat. b) Möglichkeiten für den Schutz des Richters

Es bedarf somit der Prüfung, ob eine verfassungskonforme und vor allem die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit berücksichtigende Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen über die Beratung und Abstimmung, über die Verkündung, Niederschrift und Unterschrift der Urteile de lege lata zu dem oben skizzierten Ziele führt, daß der aus Gewissensgründen, d. h. nach seinem persönlichen "Sinn für Gerechtigkeit" in der Minderheit gebliebene Richter diesen Sachverhalt in bestimmter Form festhalten lassen kann, wenn er damit das Beratungsgeheimnis nicht verletzt. Ist ein Richter bei der Beratung und Abstimmung überstimmt worden und erklärt er vor Schluß der Beratung, daß er "aus Gewissensgründen" die mehrheitliche Entscheidung nicht billigen könne, so steht nichts im Wege 45 , daß er eine derartige dienstliche Äußerung unverzüglich schriftlich formuliert, mit seiner Unterschrift versieht und sie in verschlossenem Umschlag durch die Hand des Vorsitzenden dem Präsidenten des Gerichts zur amtlichen Verwahrung übergeben läßt. Auf dem Umschlag ist zu vermerken, daß er nur mit Einwilligung des fraglichen (namentlich zu nennenden) Richters zur Öffnung dem Vorsitzenden desjenigen Gerichts oder Dienststrafgerichts ausgehändigt werden darf, das gegen den fraglichen Richter wegen Regreßansprüchen (§ 839 Abs. 2 BGB) oder wegen einer Straftat im Amt zu entscheiden hat. Die darin liegende Verletzung von § 43 DRiG ist durch Art. 4 Abs. 1 GG gedeckt, zum al jeder Einzelrichter, der in derartigen Verfahren belangt wird, sich zu seiner Verteidigung auf sein Gewissen berufen darf. Diese Abwägung der Interessen entspricht hier den Grundsätzen des § 34 StGB. Ein Berufsrichter hat zwar laut Gesetz seine Unterschrift unter das Urteil zu setzen. Eine Verweigerung der Unterschrift ist eine Dienstpflichtverletzung und kann zu einem Dienststrafverfahren führen. Wenn der die Unterschrift verweigernde Richter im Dienststrafverfahren glaubhaft machen kann, daß er durch die Unterschrift unter ein Urteil, das er aus Gewissensgründen nicht billigen kann, nach außen hin nicht den Eindruck erwecken will, mit dieser Entscheidung einverstanden zu sein, so kann man ihm nicht entgegenhalten, er bezeuge durch die Unterschrift nur, "daß die Urteilsgründe nach der überzeugung der Mehrheit mit den Ergebnissen der Beratung übereinstimmen", wie es das 45 Nach Baumbach / Lauterbach u. a. (N. 36) ebd. "muß es dem Richter gestattet sein, ein Separatvotum verschlossen zu seinen Personal- oder Senatsakten zu geben", wie es in den Geschäftsordnungen des BGH und des BAG vorgesehen ist.

138

V. Die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters

Reichsgericht einmal fonnuliert hat46 • Der oben dargestellte "Fall Rehse" zeigt, daß diese Konstruktion, auf die sich auch kürzlich der Bundesgerichtshof berufen hat47 , keinesfalls den Vorstellungen entspricht, welche sich die Bevölkerung (einschließlich zahlreicher Juristen!) von der Bedeutung einer Unterschrift unter einer Urkunde machen. Nach allgemeiner Auffassung bezeugt derjenige, der eine Urkunde mit seiner Unterschrift versieht, daß er mit dem Inhalt der Urkunde einverstanden ist. Auf dieser Anschauung beruht nicht nur das gesamte Wertpapierrecht, sondern vor allem die rechtliche Bedeutung von § 126 BGB über die gesetzliche Schriftfonn. Man sollte juristische Konstruktionen vermeiden, wenn man sie so leicht ad absurdum führen kann, wie dies hier möglich ist: Bei dem Urteil eines Schöffengerichts wird die Unterschrift der Schöffen unter das Urteil nicht verlangt; vielmehr wird durch die Unters·chrift des vorsitzenden Richters allein bezeugt, daß die Urteilsgründe mit den Ergebnissen der Beratung übereinstimmen. Einen Richter, der sich auf seinen "Sinn für Gerechtigkeit" beruft und aus Gewissensgründen zwar nicht seine Mitwirkung bei der Beratung und Entscheidung abgelehnt, aber mit der Darlegung seiner Gründe in der Minderheit geblieben ist und sich damit abgefunden hat, darf man nicht erneut in einen Konflikt mit seinem Gewissen bringen und von ihm die Unterschrift unter das Urteil verlangen. Da ein Gewissenszwang nicht ausgeübt werden darf, ist, falls der Richter "aus Gewissensgründen" - und nicht aus irgendwelchen anderen Gründen - die Unterschrift verweigert, nach § 275 Abs. 2 Satz 2 StPO bzw. § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu verfahren, wobei im Hinblick auf § 43 DRiG als Verhinderungsgrund ein Hinweis auf Art. 4 Abs. 1 GG erforderlich und ausreichend ist. Diesen Weg hat zwar der Bundesgerichtshof48 in einem Fall, in dem ein Richter die nachträgliche Unterschrift unter ein von ihm mitberatenes und beschlossenes, aber in seiner Abwesenheit verkündetes Urteil aufgrund einer unrichtigen Rechtsauffassung verweigert und der vorsitzende Richter einen entsprechenden Vennerk auf der Urteilsurschrift unterzeichnet hatte, für gesetzwidrig angesehen. Das Gesetz sehe für den Fall der Verweigerung der Unterschrift eine Ersetzung nicht vor. Ein das Revisionsgericht bindender Verhinderungsvennerk liege somit nicht vor. Da das Urteil statt der erforderlichen drei nur zwei Unterschriften trage, liege nur ein Urteilsentwurf vor, was bei einem Berufungsurteil zur Aufhebung in der Revisionsinstanz nach § 551 Nr. 7 ZPO führe. Diese Begründung versagt aber, wenn das Gewissen den Richter an der Unterschrift hindert. Dieser Verhinderungsgrund wird durch den 48 47 4S

RG in JW 1930, 550. BGH in NJW 1975, S. 1177, ferner Heusinger (N. 19), S. 49. BGH in NJW 1977, S. 765.

4. Schutz gegen Rechtsverfolgung

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von mir vorgeschlagenen Hinweis auf Art. 4 Abs. 1 GG deutlich und einleuchtend. Wird eine Entscheidung verkündet, bei deren Zustandekommen ein Mitglied des Kollegiums die Stimmabgabe verweigert oder die oben erwähnte dienstliche Äußerung im geschlossenen Umschlag dem Präsidenten des Gerichts zur amtlichen Verwahrung hat zuleiten lassen, so erfordert die Rücksicht auf die Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit, daß der das Urteil in öffentlicher Sitzung verkündende Vorsitzende vor oder nach Verlesung derUrteilsformel bekanntgibt, daß die Entscheidung "nicht einstimmig" oder "mit der gesetzlich erforderlichen Mehrheit" gefällt worden ist. Damit wird das Beratungsgeheimnis nicht verletzt, sondern letztlich das gemäß § 194 GVG ermittelte oder festgestellte Ergebnis der Abstimmung, nicht aber deren Hergang offengelegt, so daß nicht ersichtlich ist, wie die einzelnen Mitglieder des Spruchkörpers gestimmt haben. Hiergegen bestehen um so weniger Bedenken, als der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dieses Verfahren jahrelang vor der Einführung des Sondervotums praktiziert, d. h. doch wohl als mit der Vorschrift des § 43 DRiG vereinbar gehalten hat49 • Ferner kann es, wie oben bereits erwähnt, als nobile officium der die Entscheidung tragenden Mehrheit gegenüber dem aus Gewissensgründen dissentierenden Richter angesehen werden, wenn in den Entscheidungsgründen auch die Bedenken des überstimmten Richters ohne Namensangabe als eine vom Spruchkörper geprüfte, aber abgelehnte Auffassung angeführt werden.

49 A. A. Alexander Lüderitz: Recht von anonymen Richtern?, in AcP 168 (1968), S. 330 - 350 (345 und 349).

Sechster Abschnitt

über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides 1. Die Problematik Im juristischen Schrifttum der letzten Zeit werden immer wieder Stimmen laut, im gerichtlichen Verfahren generell auf den Eid zu verzichten!, den Eid aus unserem Rechtsleben zu verbannen 2 , den Soldateneid abzuschaffen und entsprechende Reformen auch hinsichtlich des Amts- und Diensteides einzuleiten3 • An Argumenten wird vorgebracht, Eid und Eideszwang seien "aus den obrigkeitlichen Strukturen unserer Vergangenheit stehengeblieben"4, die Worte "Eid" und "schwören" seien "magisch geladen"5, ihnen "hafte in aller Regel etwas Sakrales an, unabhängig von der Verbalanrufung Gottes" 6 , "jedenfalls für das allgemeine Sprachgefühl, das sich nicht willkürlich modeln lasse"7; im öffentlichen Dienst habe der Eid seine Funktion eingebüßt und sei "in Wahrheit nur noch Zierde, Rankenwerk, Arabeske" 8 ; der Staat sei nicht legitimiert, "sinnentleerte Verhaltensweisen von seinen Bürgern zu fordern"9. 1 2

Eberhard Schwarz: Der Eid im Strafrecht, ZRP 1970, S. 79 ff. (80). Wolfgang Knoche: Die religiöse Beteuerungsformel und Wahrfindung, ZRP

1970, S. 119.

3 Wilfried Berg: Soldateneid und Gelöbnis ohne Funktion?, ZRP 1971, S. 79 ff.; zustimmend Volker Frielinghaus, ZRP 1971, S. 120, und Hans Peter Züll, ZRP 1971, S. 216. 4 Gustav W. Heinemann, FS. für Adolf Arndt, 1969, S. 37. 5 Helmut Gollwitzer, in Hildburg Bethge: Eid, Gewissen, Treuepflicht, 1965,

S.6.

ft Schwarz (N. 1), S. 79. Vgl. auch die "Glaubensentscheidung" des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 33, 25 ff. = NJW 1972, 1183 = JZ 1972, 515, unter B II 2 a. 7 Hermann Strathmann: Die metaphysische Eselbrücke der Juristen, in Bethge (N. 5), S. 113 ff. (117); ebenso Schlabrendorff in seinem abweichenden Votum zur "Glaubensentscheidung" (N. 6). B Fritz Bauer: Diensteid und Grenzen der Dienstpflicht, in Bethge (N. 5), S. 122 ff. (127). 9 Berg (N. 3), S. 81. Dagegen Bruno Heusinger: Rechtsfindung und Rechtsbildung im Spiegel richterlicher Erfahrungen (1975): "Aber man macht es sich zu einfach, wenn man Eide als tilgungswürdige überbleibsel aus einer Verbindung von Thron und Altar anprangert; auch ein so freier Geist wie Hermann Kantorowicz legte Wert auf die Bindung des Richters durch den Richtereid."

2. Soziale Desintegration

141

2. Soziale Desintegration? Unterstellt man zunächst einmal die Richtigkeit dieser tatsächlichen Behauptungen und die Schlüssigkeit der daraus gezogenen Folgerungen und Forderungen, so hat man es hier mit einem sozialen Vorgang zu tun, den man soziologisch als Zerfall, jedenfalls aber als Infragestellung einer für das staatliche Gemeinschaftsleben wichtigen Rechtsinstitution zu qualifizieren und in die soziologische Rubrik "soziale Desintegration" einzuordnen hat. Nun gehört es, worauf Hagen mit Recht hinweist, auch zu den Aufgaben der Rechtssoziologie, "das Rechtssystem mit dem Gesellschaftsbewußtsein (zu) versöhnen, indem sie die Wertgrundlagen der Rechtsordnung im kulturellen Kontext bestimmt10 " •

a) Begriffsbestimmungen Da die Ausdrücke "System", "Ordnung", "gesellschaftliches Bewußtsein", "Wertgrundlagen" im Bereich der Soziologie sehr vieldeutig sind, bedarf es hier zunächst einer Klarstellung dessen, was diese Ausdrücke im vorliegenden Zusammenhang besagen: Der Ausdruck "Rechtssystem" meint einen "ordnenden" Systembegriffl l , d. h. System als ein nach einem einheitlichen Prinzip geordnetes Ganzes. "Rechtssystem" ist somit die nach einem einheitlichen Prinzip wissenschaftlich gegliederte und aufeinander bezogene theoretische Zusammenfassung von Rechtsnormen und Rechtseinrichtungen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Gesellschaftsintegrat feststellbar sind 12 • Dieses Rechtssystem - als dogmatisches Lehrgebäude - ist stets bezogen auf eine "Rechtsordnung". Hierunter verstehen die Juristen den Inbegriff aller innerhalb eines rechtlich geordneten Gesellschaftsintegrats zu einem bestimmten Zeitpunkt in Geltung gesetzten Rechtsnormen und Rechtseinrichtungen. Was die Juristen unter "Rechtsordnung" verstehen, ist somit, soziologisch betrachtet, ein soziales System, d. h. ein Ganzes, "dessen Elemente miteinander in wechselseitiger Beziehung stehen, und zwar derart, daß jede Veränderung eines Elementes auf andere Elemente im System fortwirkt 13 " . Als derartiges soziales System betrachtet, ist die Rechtsordnung in ständiger Bewegung und Veränderung begriffen. Da aber das Rechtssystem im Sinne der Juristen als Ordnungsbegriff etwas Feststehendes 10

Johann J. Hagen: Die Desintegration von Recht und Gesellschaft, ZRP

1971,81 ff. (82).

11 Vgl. Renate lVIayntz: Soziales System, in Bernsdorf: Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. 1969, S. 1017 ff. 12 Siehe dazu Ernst E. Hirsch: Rechtssoziologie, in Eisermann: Die Lehre von der Gesellschaft, 2. Aufl. 1969, S. 147 ff. (148). 13 lVIayntz (N. 11), ebd.

142

VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

meint, eine Eigenschaft, die durch den Ausdruck "Rechtsdogmatik" besonders deutlich wird, ist es unumgänglich, daß jede Veränderung und Wandlung im Bereich einer Rechtsordnung früher oder später auch im Rechtssystem ihren Ausdruck finden muß. Dies gilt bei Veränderungen des positiven Rechts (beispielsweise durch neue Gesetze, Abänderung und Ergänzung früherer Gesetze, Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung) ebenso wie bei Wandlungen theologischer, philosophischer, weltanschaulicher, politischer oder rechtstheoretischer Vorstellungen und Einsichten über das rechtliche Sollen: Das dogmatische Rechtssystem muß umgebaut oder ergänzt weIden, sobald neue Rechtsbildungen oder neue Zielsetzungen oder neue Legitimierungsversuche für das geltende Recht im bisherigen Dogmensystem nicht untergebracht und deshalb wissenschaftlich nicht als systemgerecht dargetan, d. h. rechtslogisch begründet werden können14 • Änderungen von Gesetzen, Rechtsinstituten und rechtlichen Institutionen gehören ebenso wie die Wandlungen und Veränderungen von ,metajuristischen, für die Rechtsordnung beachtlichen Vorstellungen und Postulaten zum Kontext des sozialen Geschehens, dessen Ursachen und Voraussetzungen, dessen Wirkungen, Folgen und Implikationen in dem jeweiligen zwischenmenschlichen Beziehungssystem zu suchen sind. Da das soziale Handeln sozialen Normen und damit zum Teil auch rechtlichen Normen unterworfen ist, kann man die sozialen Normen als Inhalt des sozialen Bewußtseins qualifizieren, wenn man sich klar darüber ist, daß der Ausdruck soziales (oder gesellschaftliches) Bewußtsein nicht etwa als ein Kollektivbewußtsein aufgefaßt wird, "das auf irgendeine Weise eine Existenz unabhängig vom Dasein der Einzelmenschen haben SOllI5" . Will man das dogmatische Rechtssystem mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein "versöhnen", so kann diese metaphorische Ausdrucksweise nur besagen, daß Vorstellungen und Meinungen über richtiges bzw. gerechtes Recht, die sich hinsichtlich rechtlicher Regelungen, Maßnahmen oder Entscheidungen de lege lata oder de lege ferenda in einem konkreten Gesellschaftsintegrat bilden, nicht nur die seelische Einstellung 14 Die sehr häufig erhobene Forderung nach Transparenz und Nachprüfbarkeit richterlicher Entscheidungen ist eine Forderung nach Verbesserung der Rechtswirklichkeit, nicht aber nach Verbesserung des geltenden Rechts, da es bereits heute zu den Amtspflichten der Richter gehört, die für ihre Entscheidung maßgebenden rechtlichen und tatsächlichen Gründe in der schriftlichen Ausfertigung ihrer Entscheidungen ersichtlich zu machen, siehe §§ 126 Abs. 2, 313 ZPO; § 34 StPO; § 25 FGG, ferner Ewald Kininger: Die Realität der Rechtsnorm, 1971, S. 180 ff. Nicht immer aber sind die genannten Gründe auch die wirklichen Gründe. 15 Rene König: Soziale Normen, in Bernsdorf (N. 11), S. 978 - 983 (979); vgl. ebd. meinen Beitrag: Recht, S. 876, sowie das Stichwort "Bewußtsein" in Eichhorn, Hahn u. a.: Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie,

1969, S. 76 - 81 (79 f.).

2. Soziale Desintegration

143

der Individuen zur Rechtsordnung als solche beeinflussen, sondern auch auf die Steuerungsmöglichkeiten der gesetzgebenden Körperschaften, der Behörden und Gerichte einwirken16 und deshalb auch innerhalb des dogmatischen Rechtssystems Berücksichtigung finden müssen. b) "Vertrauen"

Wenn man unter Kultur "die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Werteinstellung17 " versteht, so gehört es zu den Aufgaben der Rechtssoziologie, diejenigen Wertvorstellungen herauszuarbeiten, die als "soziale Werte" aus gesellschaftlichen Gruppenwertungen entstanden sind und innerhalb des Soziallebens eines Gesellschaftsintegrats wirken und deshalb rechtlich bedeutsam sind 18 • Allgemeingültigkeit kann allerdings nur solchen sozialen Werten und Wertungen zuerkannt werden, die allen Gruppen der Gesellschaft gemäß sind, d. h. "auf die Existenzberechtigungen aller Gesellschaftsteile, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zutreffen 19". Zu diesen sozialen Werten oder Wertungen mit objektiver Allgemeingültigkeit gehört das Vertrauen. Nicht das Vertrauen schlechthin in dem Sinne des sozialen Grundverhältnisses der Gegenseitigkeit, "daß im sozialen Prozeß der Handelnde sein Handeln jeweils an der ,Erwartung' ausrichtet, wie ein anderer oder unbestimmt viele andere sich ihm gegenüber verhalten20 " werden; denn dies ist ja "die unerläßliche Grundvoraussetzung für jede aussichtsreiche Unternehmung legitimer oder illegitimer Art21 ". Auch nicht das Vertrauen auf jede in der Öffentlichkeit getane Äußerung oder das von einem anderen gegebene Wort, wenngleich auch in diesen Fällen enttäuschtes Vertrauen soziale und rechtliche Folgen haben kann. Sondern Vertrauen auf die Richtigkeit und Verläßlichkeit solcher öffentlichen Erklärungen, welche die Existenzbedingungen aller Gesellschaftsteile, wenn auch in unterschiedlichem Maße berühren. Derartige Erklärungen lassen sich in zwei Gruppen zusammenfassen: Zur einen Gruppe gehören Aussagen, welche vor einem Gericht oder gerichtsähnlichen Gremium (z. B. parlamentarischer Untersuchungsaus16 Hierzu grundlegend Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Hrsg. Paul Trappe, 2. Aufl. 1964, S. 382 - 417. 17 Mühlmann: Kultur, in Bernsdorf (N. 11), S. 598 ff. 18 Hierzu mein Beitrag: Soziale Werte, in Bernsdorf (N. 11), S. 999 ff. n Hoffmann: Gesellschaftslehre und Ordnungsmacht, 1969. 20 Rene König (N. 15), ebd.; vgl. zur Problematik einerseits Rüschemeyer: Interaktion und soziale Beziehung, in Bernsdorf (N. 11), S. 479 - 487, andererseits N. Luhmann: Vertrauen, ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2. Aufl. 1973. 21 Albert H. Cohen: Abweichung und Kontrolle, 1968, S. 18.

144

VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

schuß) von den am Verfahren Beteiligten gemacht werden, um dem Gericht die für die rechtliche Beurteilung erforderlichen Kenntnisse der in der Vergangenheit liegenden" Tatsachen" zu vermitteln. Die andere Gruppe bilden Erklärungen, welche ein Versprechen für

zukünftiges Verhalten in einem für die Gesellschaft wesentlichen Amts-

oder Dienstverhältnis enthalten, wie z. B. die Erklärungen bei Amtsantritt eines Beamten, Richters, Soldaten.

Man kann die Erklärungen der ersten Gruppe nach ihrem Wirkungsbereich "gerichtliche" oder nach ihrem Inhalt "assertorische" Aussagen, die der zweiten Gruppe dementsprechend "politische" und "promissorische" Erklärungen nennen. Bei den gerichtlichen Aussagen bezieht sich das Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit des Aussagenden 22 , d. h. darauf, daß dieser seine Kenntnisse über die für die Entscheidung wesentlichen Vorgänge und Sachzusammenhänge so richtig und vollständig mitteilt, wie es ihm "nach bestem Wissen"23 möglich ist. Die politischen Erklärungen dagegen sind dazu bestimmt, Vertrauen auf Vorschuß ("Kredit") zu erhalten, um ein öffentliches Amt oder einen öffentlichen Dienst zu übernehmen. In diesen Fällen bezieht sich das Vertrauen auf die Treue des Versprechenden, d. h. darauf, daß dieser seine im Allgemeininteresse übernommene Pflicht "gewissenhaft" erfüllen werde 24 • So wesentlich nun auch das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit eines Menschen hinsichtlich seiner Aussage vor Gericht oder in die Treue einer ein öffentliches Amt übernehmenden Person ist, so darf nicht unbeachtet bleiben, daß dieses Vertrauen in beiden Richtungen enttäuscht werden kann und, wie die Zeugnisse der Kulturgeschichte zeigen, immer wieder enttäuscht worden ist und auch künftig immer wieder enttäuscht werden 22 Dieser bei den sog. Eideshelfern des mittelalterlichen Rechts deutlich hervortretende Gesichtspunkt ist trotz der ganz anderen Fassung der gesetzlichen Bestimmungen auch heute noch entscheidend. Nach dem im Zivil- und Strafprozeß grundlegenden Prinzip der freien Beweiswürdigung bildet die Glaubwürdigkeit das Kriterium dafür, ob das Gericht eine selbst unter Eid gemachte Aussage als wahr ansieht und dem Urteil zugrunde legt. 23 § 66 c StPO; §§ 392, 410, 452 Abs. 2 ZPO. 24 Vgl. als Beispiele die Eidesformeln in Art. 56 GG, § 58 BBG, § 38 DRiG, § 51 GVG, § 9 SQldG, § 26 BRAO. In der "Glaubensentscheidung" (N. 6) sieht das Bundesverfassungsgericht unter B II 2 b einen "grundlegenden" Unterschied zwischen Zeugen eid und Amtseid darin, daß jedermann verpflichtet sei, vor Gericht als Zeuge auszusagen und nach Maßgabe der Gesetze die Wahrheit seiner Aussage zu beschwören, während die Verpflichtung des Bundespräsidenten und anderer Verfassungsorgane zur Leistung eines Amtseides "aus dem freiwillig gefaßten Entschluß (erwächst), die Wahl in das Amt eines Verfassungsorgans anzunehmen, in dem der Staat in besonders ausgeprägter Weise unmittelbar zu repräsentieren ist und das deshalb grundsätzlich die vollkommene Identifizierung des Gewählten mit den in der Verfassung niedergelegten Wertungen voraussetzt". Dies gilt doch wohl auch für alle Bewerber um öffentliche Ämter und Dienste, auch wenn sie keine Verfassungsorgane sind. Andernfalls wären die eben aufgezählten Gesetzesbestimmungen ohne Wert und Sinn.

2. Soziale Desintegration

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wird. Als Menschen sind wir, wie es Nietzsche formuliert, "von Grund aus, von Alters her - ans Lügen gewohnt. Oder um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: Man ist viel mehr Künstler, als man weiß25". Wenn und wo Vertrauen als unerläßliche Grundvoraussetzung für das Sozialleben erwartet und begehrt wird, ist deshalb das Mißtrauen zur Stelle. Fünfhundert Jahre vor unserer Zeitrechnung mahnt Epicharmos, nüchtern zu bleiben und das Mißtrauen nicht zu vergessen 26 • Theodor W. Adorno hat noch kurz vor seinem Tode geäußert: "Es gilt das Bewußtsein zu wecken, daß die Menschen pausenlos betrogen werden 27 ." Diesen Mahnungen entspricht die Feststellung von Cohen, es gäbe kaum eine menschliche Aktivität, "bei der wir nicht überzeugt sind, daß jemand versuchen wird, sich zu drücken oder seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen, und wir planen hierfür einen Spielraum ein . .. Wir sind immer wieder enttäuscht, aber nicht immer erstaunt, über diejenigen, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllen ... Tatsächlich sind Maßnahmen zur Ver-

eitelung abweichenden Verhaltens oder zur Einschränkung seiner Auswirkungen Zeugnisse des Mißtrauens und ein fester Bestandteil fast allen organisierten Handelns". (Sperrungen von mir) ... "Im allgemeinen erwachsen die normativen Regeln, die abweichendes Verhalten definieren, aus dem kollektiven Wissen und Erfahrungsschatz der Gruppe. Sie liefern Lösungen für typische, immer wiederkehrende Probleme 28 ." c) Vertrauensmißbrauch

Zu dem kollektiven Wissen und Erfahrungsschatz als der Quelle für typische Problemlösungen gehören auch die Maßnahmen und Normen zur Vereitelung und Einschränkung des Vertauensmißbrauchs in denjenigen Fällen, in denen das Vertrauen auf die Glaubwürdigkeit oder Treue einer Person als uner läßliches Erfordernis für Gerichtswesen und 25 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (Werke Bd. 7 im KrönerVerlag), S. 123 Nr. 192. 26 Diels: Fragmente der Vorsokratiker, S. 13. 27 F AZ vom 15. 8. 1969 (Gespräch mit Helmut Becker, ausgestrahlt vom Hessischen Rundfunk). 28 N. 21, S. 19. Strafgesetze finden sich seit altersher und überall. Viele Straftatbestände sind - unabhängig von Zeit und Ort - dieselben. Als normative Regeln sind sie "Definitionen" für typische, überall feststellbare und wiederkehrende Fälle des Problems, das man in der Soziologie "abweichendes Verhalten" nennt. Dagegen weisen die jeweils angedrohten Strafen, die Durchführung des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung sehr starke Verschiedenheiten auf, weil es sich dabei um Lösungsmöglichkeiten des angezeigten Problems handelt, welche den sozialen Grundwertungen der jeweiligen Gesellschaftsintegrate entsprechen.

10 Hirsch

146

VI. Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

politisches Leben einen festen Bestandteil des organisierten sozialen Handeins bildet. Zu diesen Maßnahmen und Normen als "Zeugnisse des Mißtrauens" gehören von Alters her der Eid und die auf ihn bezüglichen Normen. Der Eid dient als Mittel, um das existentielle Mißtrauen der Gruppenmitglieder hinsichtlich der Glaubwürdigkeit einer Person, die vor Gericht aussagt, oder hinsichtlich der Treue einer Person, die ein öffentliches Amt bekleiden will, in dem Umfang zu beseitigen, als dies auf grund des allgemeinen Erfahrungswissens der Gruppe

möglich erscheint.

So ist es ohne weiteres verständlich, daß man auf den Eid als geeignetes Mittel zur Beseitigung des sozialen Mißtrauens in den Fällen verzichtet, in denen von vornherein ein Spielraum für Zweifel eingeplant ist29 • Es genügt dieserhalb eine Verweisung einerseits auf die Vorschriften der Prozeßgesetze, nach denen bestimmte Personen nicht vereidigt werden dürfen oder von ihrer Vereidigung Abstand genommen werden kann, weil man wegen verwandtschaftlicher Beziehungen oder materieller Interessen die Glaubwürdigkeit nicht allzuhoch einschätzt30 , andererseits auf die Vorschriften über den Verlust der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen31 , weil die Schwere des Verbrechens das soziale Vertrauen in diese Person nicht mehr rechtfertigt. Deshalb werden Personen, von denen man weiß, daß sie die verfassungsmäßige Grundordnung prinzipiell verneinen, nicht in den öffentlichen Dienst übernommen, da sie zu jedem Eid bereit sind, um von innen heraus an dem Sturz der geltenden Ordnung zu arbeiten32 • In diesen Zusammenhang gehört auch der Umstand, daß nach derzeitigem Recht die Abgeordneten des Bundestags und der Landtage keinerlei Eid oder Gelöbnis hinsichtlich ihres künftigen Tuns abzulegen haben, weil das Grundgesetz und die Länderverfassungen an dem vielleicht als Fiktion zu qualifizierenden Prinzip festgehalten haben, daß ein Abgeordneter Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen ist33 , der Mißbrauch des erwarteten Vertrauens ihn aber bei der nächsten Wahl das Mandat kosten kann. 29 "Will man, daß möglichst wenig gestohlen wird, so muß man fordern, daß jeder, der stiehlt, bestraft wird und immer in der geforderten Weise bestraft werden soll, auch wenn man weiß, daß jede positiv-rechtliche Regelung stets nur ein Provisorium darstellt und daß die Diebe tatsächlich nur regelmäßig, nicht ausnahmslos bestraft werden", Hermann Heller: Staat, in Vierkandt: Handwörterbuch der Soziologie, Neudruck 1959, S. 616. 30 §§ 60 ff. StPO; §§ 383 ff. ZPO. 31 §§ 45, 45 a, 45 b, 358 StGB, siehe auch § 38 Abs. 1 SoldG. 32 Hierzu Martin Kriele: Kommunisten als Beamte?, ZRP 1971, S. 273 - 276. 33 Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie die entsprech.enden Bestimmungen in den Verfassungen der Länder. Vgl. auch oben 1. Abschnitt Ziffer 3 a und 4 a.

3. Der Eid

147

Von diesen Fallgruppen abgesehen hat der Eid von jeher die Funktion, das existentielle Mißtrauen der Gruppenmitglieder hinsichtlich der Glaubwürdigkeit einer Person, die vor Gericht aussagt, oder hinsichtlich der Treue einer Person, die ein öffentliches Amt bekleiden will, im Rahmen des möglichen zu beseitigen. Bei dieser soziologischen Betrachtungsweise drängen sich zwei Fragen auf: Einmal die Frage, warum bei den beiden hier in Betracht kommenden sozialen Vorgängen seit Alters her und überall der Eid als geeignetes Mittel zur Beseitigung oder zumindest Beschwichtigung des Mißtrauens der Gruppe in die Glaubwürdigkeit oder Treue einer Person angesehen worden ist. Zum anderen die Frage, ob diesen sozialen Bedingungen und Implikationen unter den heutigen Lebensbedingungen der Bundesrepublik Deutschland keine Bedeutung und Geltung mehr zuerkannt werden kann.

3. Der Eid

a) Das Zeremoniell Die Aussagen vor Gericht und die Erklärungen bei übernahme öffentlicher Aufgaben sind rechtserhebliche Äußerungen, die etwas bezeugen oder etwas versprechen. Das Zeugnis oder das Versprechen ist der Kern der rechtserheblichen Handlung, die im gerichtlichen Verfahren als Partei-, Zeugen- oder Sachverständigenvernehmung, im politischen Raum als Inpflichtnahme einer Person in Erscheinung tritt. Diese rechtserheblichen Äußerungen müssen sich im Hinblick auf ihre Bedeutsamkeit für die Existenz aller Gruppenmitglieder, d. h. angesichts ihrer Gesellschaftsbezogenheit - jeder kann als Partei oder Zeuge in einen Prozeß verwickelt werden oder vor die Frage gestellt werden, ein öffentliches Amt zu übernehmen - von anderen öffentlichen Aussagen und Erklärungen unterscheiden und sich vor ihnen durch besondere Formen und Förmlichkeiten auszeichnen. Diese zeremonielle Seite bildet wie jede rechtliche Organisationsform einen stabilisierenden Faktor des fraglichen sozialen Vorgangs, indem sie diesen als legitim ausweist und seine Wirksamkeit rechtlich garantiert. Zum Zeremoniell gehören beim Eid -

die Öffentlichkeit, vor der sich der Vorgang abspielen muß, um rechtswirksam und sozial erheblich zu sein, z. B. die Aussagen vor Gericht in öffentlicher Gerichtssitzung, die Verpflichtungserklärung des Bundespräsidenten vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und Bundesrats, das Gelöbnis des Soldaten vor versammelter Mannschaft u. a. m.

-

die Mitwirkung einer bestimmten, zur Entgegennahme der Erklärung rechtlich ermächtigten Person, wie z. B. nach Art. 60 GG der

10·

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VI. Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

Bundespräsident für die Bundesrichter. Eine eidesstattliche Versicherung ist wirkungslos, wenn sie nicht gegenüber der hierfür gesetzlich als zuständig bezeichneten Behörde abgegeben worden ist34• b) Die Formel

Die Erklärung selbst wird zum Zeichen ihrer Ehrlichkeit und Ernstlichkeit durch eine Wortformel "beteuert", die von demjenigen, welcher zur Entgegennahme der Erklärung rechtlich ermächtigt ist, Wort für Wort vorgesprochen oder verlesen und von dem Erklärenden entweder wortwörtlich nachgesprochen oder lediglich durch eine kurze Einverständniserklärung bestätigt wird. Die Beteuerungsformel, die durch begleitende Gesten eine bestimmte innere Haltung vor der Öffentlichkeit auch augenscheinlich zum Ausdruck bringen und dadurch die Beteuerung noch verstärken soll, heißt "Eid" (englisch "oath", französisch "serment"), der zeremonielle Vorgang "Beeidigung" einer Aussage oder "Vereidigung" einer Person. Die vergleichende Kultur- und Rechtsgeschichte zeigt unwiderlegbar3 5 , daß alle Beteuerungsformeln mit und ohne begleitende Gesten in ihrer Verschiedenheit und Variabilität jeweils der geistig-seelischen Haltung eines konkreten Gesellschaftsintegrats zu einem bestimmten Zeitpunkt entsprechen. Auch insoweit ist der Eid gesellschaftsbezogen; die Beteuerungsformel ist die Widerspiegelung von Dogmen und überzeugungen, von Glauben und Aberglauben, von Ideen und Vorstellungen, kurzum: von der kulturellen Entwicklungshöhe und dem geistig-seelischen Niveau derjenigen Gruppenangehörigen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt die politische Herrschaft innehaben und die Machtmittel besitzen, sie auszuüben. Sobald und soweit sich in dieser Gruppe ein Wandel von Dogmen und überzeugungen, von religiösen oder politischen Credos, von Ideen und wissenschaftlichen Meinungen durchsetzt, ändert sich jeweils die Beteuerungsformel, ohne daß sich deshalb ihr Charakter, d. h. ihre Eigenschaft als feierliche Bestärkung der Erklärung ändert36 • Ein solcher Wandel vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Es ist deshalb verständlich, wenn theologische, weltanschauliche, politische und Vgl. § 156 StGB; § 22 Abs. 2 BNotO. Henri Decugis: Les etapes du Droit des origines a nos jours, Paris 1942, S. 129 - 145; Hans Fehr: Das Recht im Bilde, 1923, S. 127 ff., 165 ff.; Ernst Friesenhahn: Der Eid auf die Verfassung, Inhalt und Grenzen der Verpflichtung aus dem Eid, Diss. Bonn 1928; R. Lasch: Der Eid, seine Entstehung und Beziehung zu Glaube und Brauch der Naturvölker, 1908; Rudolf Ruth: Zeugen und Eideshelfer in den deutschen Rechtsquellen des Mittelalters, 1922; Werner Schilling: Religion und Recht, 1957; Hermann Schreiber: Die zehn Gebote, 1962; F. Tudichum: Geschichte des Eides, 1911; Wilhelm Wundt: Das Recht, 1918, S. 405 - 419. 36 Ebenso Kai Bahlmann: Der Eideszwang als verfassungsrechtliches Problem, FS. Adolf Arndt, 1969, S. 37 ff. (40). 24

35

3. Der Eid

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juristische Argumente für und gegen überkommene Formen, für und gegen postulierte Neuerungen im Kampf der Meinungen aufeinanderprallen, ohne daß die Notwendigkeit einer feierlichen Beteuerung als solcher bestritten wird37 • Die Beteuerungsformel als feierliche Bekräftigung einer Aussage hat einen doppelten Zweck: Einmal soll sie das Gewissen desjenigen binden, der den Eid leistet. Charakteristisch hierfür ist das halbironische Wort aus unserer Altvorderenzeit: "Der Eid ist eine Kette, die man bricht oder von der man gebrochen wird38 ". Auf welchem Wege diese Gewissensbindung eintritt oder erreicht werden soll, ist eine Frage der Psychologie. Für den Soziologen und Juristen genügt die Feststellung, daß die Furcht vor einer schweren Sanktion rechtlicher oder sozialer Art, ja selbst die bloß als "schlechtes Gewissen" sich meldende soziale Angst3 9 als wirksame und ausreichende Mittel betrachtet werden, das Gewissen der Gruppenmitglieder in der Regel zu binden, mögen die Sanktion und die Furcht davor magisch, religiös, moralisch oder rational motiviert sein4o • -

Zum anderen kann jeder in die Lage kommen, einen Eid leisten zu müssen und sich dabei der situationsbedingten Motivation irgendwie bewußt werden. Infolgedessen beseitigt derjenige, der sich öffentlich durch einen Eid im Gewissen bindet oder zu binden vorgibt, dadurch das existentielle Mißtrauen der Gruppenmitglieder in seine assertorische oder promissorische Erklärung jedenfalls solange, bis das unterschwellig auch weiterhin vorhandene Mißtrauen durch

37 "Ohne Zweifel gehört die Sicherung der Wahrheitsermittlung, ohne die eine Rechtsfindung unmöglich ist, zu den rechtstatsächlichen Fundamenten eines geordneten gerichtlichen Verfahrens. Und auch die Sicherung der Treue des Beamten gegenüber der Verfassung und dem Recht ist eine wesentliche Voraussetzung für das Wohl der rechtsstaatlichen Demokratie. Gleichwohl kann dem Eid keine für den freiheitlichen Rechtsstaat unverzichtbare Wirkung und Bedeutung beigemessen werden, weil auch durch eine feierliche Beteuerung die Wahrheit einer Aussage oder die Treue gegenüber der Verfassung und dem Recht in wesensmäßig gleicher Weise bekundet werden können und der Unterschied zwischen beiden Beteuerungsformeln allein in dem religiösen und metaphysischen Bezug des Eides liegt." Diese Ausführungen von Bahlmann (N. 36), S. 51. hat sich Gustav W. Heinemann (N. 4) "vollauf zu eigen" gemacht. In der Glaubensentscheidung (N. 6) unter B H 2 c und 3 ist das Bundesverfassungsgericht dieser Auffassung gefolgt. Daraufhin hat der Bundesgesetzgeber in § 66 d StPO neben dem förmlichen Eid eine "eidesgleiche Bekräftigung" in Strafsachen zugelassen. 88 Rudolf Stammler: Deutsches Rechtsleben in alter Zeit, 1932, Bd. H, S. 227. 39 Th. Geiger (N. 16), S. 57. 40 Hierzu Jose Llompart: Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, 1968, S. 135 ff.; Heusinger (N. 9), S. 44, formuliert: "Der Mensch wird in der Würde seiner sittlichen Eigenverantwortung ernst genommen, wenn und solange man darauf vertraut, ihn durch Gelübde in einem Bereich binden zu können, der keiner Zwangsvollstreckung zugänglich ist."

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VI. Ober die Gesellschaftsbezogenheit des Eides Fakten, wie z. B. eine Verurteilung wegen Meineides oder durch einen Bruch des unter Eid abgegebenen Versprechens erneut aufflammt.

Es bleibt noch zu erörtern, ob sich eine soziale Desintegration des Eides feststellen läßt, ob, anders ausgedrückt, die derzeit in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Vorschriften und die Art ihrer Anwendung als situationsbedingte Ausprägungen jener Grundwerte qualifiziert werden können, die ich als das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der vor Gericht aussagenden Personen bzw. in die Treue künftiger Amtsträger bezeichnet habe. Hier empfiehlt es sich, zwischen der Beeidigung einer gerichtlichen Aussage und der Vereidigung im politischen Bereich zu un terscheiden.

4. Beeidigung einer Aussage vor Gericht

a) Die "metaphysische Eselsbrücke" Schopenhauer4 1 kennzeichnet den Eid als "die metaphysische Eselsbrücke der Juristen". Diese Qualifikation war 1856, als seine Schrift erstmals erschien, aus einem doppelten Grund gerechtfertigt: es gab damals gesetzliche Beweisregeln, an welche das Gericht gebunden war. Der Eid bildete die "Eselsbrücke", weil das Gericht alles, was unter Eid ausgesagt war, als richtig hinnehmen durfte und mußte. Daher die volkstümliche Redensart: "Wer schwört, gewinnt". Es war eine "metaphysische" Eselsbrücke deshalb, weil zu jener Zeit vor den deutschen Gerichten der Eid in religiöser Form geleistet werden mußte, während im Bereich des französischen Rechts die weltliche Form seit einem halben Jahrhundert eingeführt war. Dieser Umstand veranlaßte Schopenhauer zu einer eingehenden philosophischen Betrachtung über den Eid für den Fall, daß "dereinst, wie doch zu besorgen steht, die Religionen sämtlich in Verfall geraten und aller Glaube aufhören sollte 42 ". Nach seiner Ansicht kommt es nicht darauf an, ob die Eidesformel diese oder jene mythologische Beziehung ausdrücke oder ganz abstrakt sei, wie das in Frankreich übliche "je le jure". Entscheidend sei allein, daß demjenigen, der einen Eid leisten solle, bewußt sei, was alles von seiner gegenwärtigen Ausage abhänge. "Diese Erklärung schließt in sich, daß, wenn er unter solchen Umständen lügt, er mit deutlichem Bewußtsein ein schweres Unrecht begeht, indem er jetzt dasteht als einer, dem man, im Vertrauen auf seine Redlichkeit, volle Gewalt für diesen Fall in die Hände gegeben hat, die er zum Unrecht, wie zum Recht gebrauchen kann. Wenn er jetzt lügt, so trägt er das klare Bewußtsein davon, daß er einer U Parerga und Paralipomena: Kleine Philosophische Schriften, Kap. XV: über Religion (sämtliche Werke hrsg. von Max Frischeisen-Köhler, Bd. IV, S.324). 42 Ebd., S. 244 (Kap. IX: Zur Rechtslehre und Politik, § 133).

4. Beeidigung einer Aussage vor Gericht

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sei, der, wenn er freie Gewalt hat, sie, bei ruhigster überlegung, zum Unrechte gebraucht. Dieses Zeugnis über ihn selbst gibt ihm der Meineid". Der Eid wurzelt also, wie Schopenhauer meint, seinem Kerne nach in der moralischen Verantwortung eines jeden Menschen gegenüber allen Mitgliedern seines Gesellschaftsintegrats deshalb, weil dieses auf seine Redlichkeit vertraut, also im sozialen, nicht aber in einem mythologischen oder religiösen Bereich. In dieser Erkenntnis hat der deutsche Gesetzgeber in Art. 136 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung von 1919, einer durch Art. 140 GG ausdrücklich mit Verfassungsrang auch heute geltenden Vorschrift, bestimmt, daß der Eid auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden kann. b) Schrumpfung der BeeidigungsfäUe

Nach dem heute geltenden Verfahrensrecht ist das Gericht, abgesehen von einigen wenigen im Gesetz bezeichneten Fällen wie z. B. bei Urkunden (§§ 415 bis 418 ZPO), an keine Beweisregel mehr gebunden, sondern hat "unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei" (§ 286 Abs. 1 ZPO). Dieser auch für das Strafverfahren (§ 261 StPO) geltende Grundsatz der freien Beweiswürdigung gewährt dem Gericht nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar das Recht und die Pflicht, selbst eine unter Eid gemachte Aussage unberücksichtigt zu lassen, wenn es an der Glaubwürdigkeit des Zeugen oder der Partei begründete Zweifel hegt, wofür die Gründe im Urteil anzugeben sind. Hinzu kommt, daß im Laufe der letzten 40 Jahre die früher im Gesetz vorgesehene Beeidigungspflicht von Zeugen, Sachverständigen und Parteien jedenfalls im Zivilprozeß zu einer Beeidigungsmöglichkeit umgewandelt worden ist43. Nur in den Fällen, in denen das Gericht mit Rücksicht auf die Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage die Beeidigung für geboten erachtet und die Parteien auf die Beeidigung nicht verzichten, kann diese angeordnet werden (§ 391 ZPO). Nach der seit dem 1. 1. 1975 geltenden Fassung der Strafprozeßordnung ist zwar die Beeidigungspflicht der Zeugen als Regel aufrechterhalten worden, jedoch kann das Gericht nach seinem Ermessen davon absehen, wenn es der Aussage keine wesentliche Bedeutung zumißt und nach seiner überzeugung auch unter Eid keine wesentliche Aussage zu erwarten ist. Im Privatklageverfahren werden Zeugen 43 Die als Begründung dafür angeführte "Eidesinflation" (vgl. Baurnbach I Lauterbach § 391 ZPO Erl. 1) wäre nur dann stichhaltig, wenn die Anzahl der Eide und Offenbarungseide in einem Mißverhältnis zu der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik steht.

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VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

nur vereidigt, wenn es das Gericht wegen der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahren Aussage für notwendig hält. c) Ergebnis Aus diesem überblick folgt zum einen, daß keine Rechtspflicht mehr zum Eid in religiöser Form besteht; zum anderen, daß die Gerichte nicht mehr durch eine eidliche Aussage in ihrer freien Beweiswürdigung beengt werden; und schließlich, daß der gesetzliche Zwang zur Vereidigung eines Zeugen, Sachverständigen oder einer Partei im Verhältnis zu früher im Zivilprozeß erheblich, im Strafprozeß dagegen nicht so wesentlich eingeschränkt worden ist. Unverändert geblieben ist dagegen die Pflicht des Gerichts, die Zeugen, Sachverständigen und Parteien bereits vor ihrer Vernehmung zur Wahrheit zu ermahnen und sie darauf hinzuweisen, daß sie ihre Aussagen zu beeidigen haben, wenn keine im Gesetz bestimmte oder zugelassene Ausnahme vorliegt. Hierbei sind sie über die Bedeutung des Eides und vor allem über die strafrechtlichen Folgen einer unrichtigen oder unvollständigen Aussage, auch wenn sie nicht unter Eid erfolgt, zu belehren 44 • Ein Blick auf die Handhabung dieser Bestimmungen in der täglichen Praxis erweckt folgenden Eindruck: Die Belehrungspflicht über die Bedeutung des Eides und die strafrechtlichen Folgen auch einer uneidlichen unrichtigen oder unvollständigen Aussage werden von den Gerichten in der Regel ernst genommen, während die dadurch angesprochenen Personen diese Belehrung meist als reine Formsache ansehen, weil sie die sie selbst treffenden strafrechtlichen Folgen zu kennen glauben. Ob sie dagegen die existentielle Bedeutung ihrer Aussage für das gesellschaftliche Ganze begreifen und einsehen, bleibe dahingestellt. Soweit kein gesetzlicher Zwang zur Beeidigung besteht, machen die Gerichte von der Möglichkeit der Beeidigung nur Gebrauch, wenn sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Aussagenden haben und aufgrund ihrer täglichen Erfahrung damit rechnen, daß ein Zeuge, der unter dem Gewissensdruck des Eid{;s und der etwaigen Folgen des Meineids steht, mit seinen Aussagen erheblich genauer und vorsichtiger zu sein pflegt45 • Was schließlich die religiöse oder weltliche Fornl des Eides betrifft, so ist folgendes festzustellen: Die Gesetze in ihrer heutigen Formulierung gehen von der religiösen Form als Regel aus und erwähnen die Weglassung der religiösen Beteuerungsformel als Ausnahme. Die meisten leisten den Eid in religiöser Form, was nicht verwunderlich ist, weil jedenfalls nach der Statistik die Zahl derjenigen, welche einer Kirche angehören, weitaus die Zahl derjenigen übersteigt, welche keiner KirVgl. § 57 StPO, §§ 395 Abs. 1, 402, 451, 480, 807 Abs. 2, 883 Abs. 4 ZPO. Gellerts Lehrgedicht: "Der Bauer und sein Sohn" hat nichts von seinem Wahrheitswert eingebüßt. 44

45

4. Beeidigung einer Aussage vor Gericht

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che angehören46 . Inwieweit allerdings die religiöse Beteuerungsformel nur als Floskel oder streng religiös empfunden wird, ist ein innerer Vorgang, der sich statistisch kaum ermitteln läßt. Immerhin hat der Bundestag bei der Reform des Eideswesens keine Veranlassung gesehen, das oben geschilderte Verhältnis des religiösen Eides als Regel zum nicht-religiösen Eid als Ausnahme umzukehren oder gar, wie seit fast zwei Jahrhunderten in Frankreich, den rein weltlichen Eid als alleinige Eidesform auch in der Bundesrepublik einzuführen. Dies alles erlaubt den Schluß, daß die zur Zeit in Geltung befindlichen gesetzlichen Bestimmungen und die Art ihrer Anwendung keine soziale Desintegration erkennen lassen, soweit es sich um den Eid vor Gericht handelt. Wer dies leugnet, müßte sich auf William Seagle berufen, der in der 1941 erschienenen amerikanischen Erstauflage seines Werkes "The Quest for Law"47 eine Erschütterung der Grundlagen des nach seiner Meinung atavistischen Strafrechts von einer umwälzenden Erfindung, zum Beispiel einer wahrheitsenthüllenden Droge, einem unfehlbaren Apparat zur Entdeckung von Lügen oder einer ähnlichen Maschinerie "eines Tages" erwartete. Dieser Tag liegt für uns bereits in der Vergangenheit. Jedoch ist die Anwendung derartiger Maschinen und die Verwendung derartiger Methoden zur Wahrheitsermittlung nach Gesetz und Rechtsprechung in der Bundesrepublik gesetzwidrig 4B , ja sogar grundgesetzwidrig49. Der Soziologe Ziegenfuß meint, daß, wer sich solcher Mittel bediene, sich aus allem herausstelle, was Kultur heißen kann. Er "nimmt mit dem Maß seines Mangels an Respekt vor der menschlichen Person sich selbst zugleich seine Würde als Mitglied einer als sozial anzuerkennenden gesellschaftlichen Realität"50. Ob diese Beurteilung noch im soziologischen oder bereits im ethischen Bereich liegt, sei dahingestellt. Jedenfalls hat die Erfahrung gelehrt, daß Apparate und Methoden zur sogenannten "Gehirnwäsche" nicht nur in faschistischen und kommunistischen Diktaturen, sondern auch in demokratischen Staaten mit freiheitlicher Grundordnung im Laufe der letzten 50 Jahre im Krieg mit dem äußeren Feind oder im Bürgerkrieg mit dem Klassen-, Rassen-, Religions- oder Konfessionsfeind nach der Maxime "Not kennt kein Gebot" angewandt worden sind, heute zur Anwendung kommen und in Zukunft angewandt werden dürften. Wie es auch imDas Verhältnis ist 96 : 4 %. Deutsche übersetzung: Weltgeschichte des Rechts, 3. Auf!. 1967, S. 373. 48 §§ 136 a, 69 Abs. 3, 163 a Abs. 3 - 5 StPO; vgl. auch Ernst Heinitz: Philosophie und Strafrecht, in: Gedanken zur Strafrechtsreform (Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Heft 4), 1965, S. 21. 49 BGHSt 5, 322; ferner zur Verwertung von Zeugenaussagen von Vernehmungsbeamten über die Angaben anonymer Gewährsleute (V-Leute) BGHSt 17,382; über die Verwendung von Tonbandaufnahmen BGHSt 14, 339 (358); 19, 193; ferner Henkel in JZ 1957, S. 148 -155. öO Handwörterbuch der Soziologie, 1956, S. XXIX. 46

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VI. Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

mer mit dieser Maxime stehen mag, so beweist sie jedenfalls das Vorhandensein eines sozialen Bedürfnisse nach irgendeiner die "Gehirnwäsche" ebenso legitimierenden Rechtfertigung, wie seinerzeit die Folter zwecks Erpressung eines Geständnisses "gerechtfertigt" wurde. Mit dieser Feststellung bleiben wir auf dem Boden der gesellschaftlichen Realität, in der auch das Irreale stets und überall seinen festen Platz behauptet51 .

5. Vereidigung im politischen Bereich Was den politischen Eid angeht, so steht er als Garantie für die Treue bei der künftigen Amtsführung zwar nicht de jure aber de facto unter dem stillschweigenden Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus. Er verliert seine bindende Kraft, wenn durch einen politischen Umsturz die realen politischen Machtverhältnisse grundlegend verändert werden. Georg Jellinek wies schon im Jahre 1900 darauf hin, daß die gesetzlich festgelegten politischen Eide als politische Garantien im Laufe der Zeit für minder bedeutsam erkannt worden seien, weil sie "gerade da am meisten gefordert wurden, wo sie sich am wenigsten wirksam erwiesen haben"52. Auch wurde und wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der Bruch eines politischen Eides, für sich allein betrachtet, rechtlich nicht strafbar ist, eine Strafverfolgung vielmehr nur wegen strafbarer Handlungen im Amt53 oder wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes 54 oder eines anderen Gesetzes eingeleitet und durchgeführt werden kann. Trotzdem kommt dem politischen Eid "als politische Garantie des öffentlichen Rechts" noch immer eine bedeutsame Rolle zu. Zwar ist der Eid nicht mehr Voraussetzung für die Begründung des Amts- oder Dienstverhältnisses, da dieses bei Beamten mit der Aushändigung einer Urkunde, bei politischen Amtsinhabern durch die Wahl begründet wird. Jedoch hat der politische Eid zum Beispiel in der nationalsozialistischen Zeit eine außerordentlich bedeutsame Rolle gespielt. "Wir wissen aus eigenem und geschichtlichem Erlebnis, welche sittlichen Konflikte aus Treueiden entstehen können und wie etwa Menschen, die sich ihrerseits im Grunde vielleicht ganz und gar nicht an einen Eid gebunden fühlen, doch darauf ausgehen, andere, die es ernst damit meinen, mit Eiden auch an das Unrecht zu fesseln 55 ." Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner berühmten Entscheidung vom 17. Dez. 1953 über die Rechtsverhältnisse Vgl. hierzu Hirsch (N. 12), S. 147 ff., 163 f., 206. Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1921, S. 790. 53 §§ 331 - 359 StGB. 54 Art. 61 GG hinsichtlich des Bundespräsidenten, Art. 98 Abs. 2 GG hinsichtlich der Bundesrichter. Heusinger (N. 9), S. 44. 51

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5.

5. Vereidigung im politischen Bereich

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der unter Art. 131 GG fallenden Personen56 sehr eingehend begründet, wie sehr die Veränderung der Eidesformel die rechtliche Natur des Beamtenverhältnisses entscheidend umgestaltet hatS7 • Auch heutzutage ist der Eid als Garantie für die Verfassungstreue für alle öffentlichrechtlichen Amts- und Dienstverhältnisse so bedeutsam, daß seine Verweigerung kraft Gesetzes zur Entlassung des Beamten bzw. zum Verlust der Stellung eines Berufsrichters, Schöffen, Geschworenen, Handels-, Arbeits- oder Sozialrichters, eines Notars oder Rechtsanwalts führt. Diese Rechtsfolge könnte weder sozial erklärt noch politisch gerechtfertigt werden, wenn der politische Eid, angefangen vom Eid des Bundespräsidenten bis zum Eid oder Gelöbnis des Soldaten, heutzutage keine soziale Funktion mehr zu erfüllen hätte. Wenn man mit TheodoT Geiger5s davon ausgeht, daß wir in unserer Wertmoral entzweit, in der Wertüberzeugung selbst erschüttert sind und der einzige Beweggrund für die Befolgung einer zwischenmenschlichen Verhaltensordnung heutzutage die Einsicht in ihre Lebensnotwendigkeit ist, so können wir gewiß die bindende Kraft des Eides weder im magischen noch im moralischen Bereich finden. Wir sind darauf angewiesen, die bindende Kraft des Eides im Sozialleben selbst zu suchen. Hierbei liegt es nahe, vom Grundgesetz auszugehen. Angesichts der erhöhten Bedeutung, welche der Würde des Menschen als unantastBVerfGE 3, 58 -162. Vgl. hierzu auch Frielinghaus (N. 3). Man darf neben dem Problem des Eides während des nationalsozialistischen Regimes nicht das heutige Eideswesen in der DDR übersehen. Nach Gesetzblatt Teil I Nr. 4 (vom 1. 2. 1966) S. 52 lautet der Fahneneid in der DDR: "Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter- und Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre: An der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Nationalen Volksarmee jederzeit bereit zu sein, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, d~sziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren. Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Nationalen Volksarmee zu wahren. Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen." 58 Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1963, S. 212. SB

57

156

VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

barem konstitutiven Prinzip des Gemeinschaftslebens verfassungsrechtlieh zuerkannt istS9 , bildet die Würde des Menschen den obersten sozialen Wert. "Im Lichte dieses Menschenbildes kommt dem Menschen in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu60 ". Jedoch ist das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das eines isolierten, souveränen Individuums. Das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, d. h. auf die kollektive Zuordnung von Individuum und Verband, auf die schon Hermann Helley61 vor 40 Jahren eindringlich hingewiesen hat. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat62 • Nur auf dieser Basis ist es verständlich, daß in Art. 4 GG die Freiheit des Gewissens und seine Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als unverletzlich anerkannt wird, mit der weiteren Folge, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe direkt oder gemäß dem durch Gesetz vom 24.6. 1968 eingefügten Art. 12 a GG mittelbar gezwungen werden kann. Ferner hat man trotz größter Bedenken das Grundrecht der Gewissensfreiheit als allgemeines "Wohlwollensgebot" gegenüber Gewissenstätern anerkannt63 • Seine Auswirkung im einzelnen und die sich aus ihm ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen für den Strafanspruch des Staates kann nur die Prüfung im Einzelfall ergeben, wobei jeweils die Bedeutung des Staates und die Autorität des Gesetzes und Rechts - in der Neufassung von § 14 Abs. 1 StGB euphemistisch "Verteidigung der Rechtsordnung" genannt - auf der einen und die Stärke des Gewissensdrucks und die dadurch geschaffene Zwangslage auf der anderen Seite in Betracht zu ziehen sind64 • Schließlich sei erneut darauf hingewiesen, daß die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene und mit Verfassungsrang ausgestattete Bestimmung, wonach niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden darf, einen Anwendungsfall des vom Bundesverfassungsgericht immer wieder geforderten Abwägungsgebots bildet: Dem Eid als sozial und verfassungsrechtlich anerkannten Grundwert65 Art. 1 GG und hierzu BVerfGE 12, 53. BVerfGE 27, 6. 61 N. 29, S. 613, 615. 62 BVerfGE 28, 189; diesem Gesichtspunkt trägt die "Glaubensentscheidung" nur unzureichend Rechnung. 63 Ernst Heinitz: Der überzeugungstäter im Strafrecht, ZStW 78, 615 - 637, sah in dem Bestreben, für überzeugungs- oder Gewissenstäter eine Sonderbehandlung einzuführen, ein Symptom der Erweichung unseres Rechts und unserer Demokratie, mit der er sich nicht abfinden könne. 64 BVerfGE 23, 134. 59

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6. Der Sinngehalt der Wörter "Eid" und "schwören"

157

mit objektiver Allgemeingültigkeit auf der einen Seite steht die Stärke des Gewissensdrucks und der dadurch für die eidespflichtige Person geschaffenen Zwangslage auf der anderen Seite gegenüber. Auf den Eid als solchen kann nicht verzichtet werden. Nach dem Erfahrungsschatz der Menschheit bildet er ein geeignetes Mittel, das Mißtrauen der Gesellschaftsmitglieder in die Vertrauenswürdigkeit eines künftigen Amtsträgers deshalb zu beseitigen, weil die Eidesleistung auf das Gewissen des Eidespflichtigen einwirkt. Es bedarf keiner Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Ursprung und Wesen des Gewissens (zumal darüber in den zuständigen Disziplinen tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen), wenn dieser Ausdruck im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und des Grundgesetzes verstanden wird "als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen ... , dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind1i6 ". Daß es Menschen gegeben hat, gibt und geben wird, die in manchen Situationen auf die Stimme des Gewissens nicht hören oder ganz allgemein gewissenlos handeln, ändert nichts an dem real erfahrbaren Phänomen, daß es ein Gewissen gibt; daß jeder Mensch in Gewissenskonflikte geraten kann und daß in derartigen Fällen eine Abwägung stattfinden muß zwischen dem, was für das Sozialleben unerläßlich, und dem, was für den einzelnen unzumutbar ist.

6. Der Sinngehalt der Wörter "Eid" und "schwören" Trotz aller im Laufe der Geschichte festgestellten oder verborgen gebliebenen Eidbrüche und Meineide ist es in den oben umschriebenen, für das Sozialleben existentiellen Situationen unerläßlich, von einem Menschen einen Eid als Gewissensbindung zu verlangen. Die Eidesleistung als solche, sei es in der üblichen Form des Schwörens, sei es in der Form eines Gelöbnisses oder einer anderen Beteuerungsformel, ist einem jeden Menschen, der die erforderliche Reife besitzt, zumutbar. Für ihn unzumutbar ist nur eine bestimmte religiöse Beteuerungsformel67 • Nun wird verschiedentlich behauptet, daß sowohl das Wort "Eid" als auch das in der nichtreligiösen Eidesformel übliche Wort "Ich schwöre", für sich allein betrachtet, als religiöse Elemente des Eides zu qualifizieren seien. 65 "Ihre Inhalte entnehmen die staatlichen Imperative zum weitaus größten Teil den geltenden gesellschaftlichen Ordnungen und Wertungen; in diesem Sinne wird der Staat wirklich von der Gesellschaft zusammengehalten", Hermann Heller (N. 29), S. 615. 66 BVerfGE 12, 54 f. Vgl. zu der Formulierung meine Ausführungen im ersten und zweiten Abschnitt dieser Schrift. 67 Hierzu Bahlmann (N. 36), S. 51 f.; ferner BayVerfGH in Verwaltungsrechtsprechung Bd. 17, S. 259 ff.

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VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

Etymologisch gesehen 68 ist die Grundbedeutung von schwören "Rede stehen", (vor Gericht) "aussagen". Der Bedeutungswandel zu Schwören erklärt sich wohl durch Auslassung des Objektes Eid, "das sich in den alten Zusammensetzungen ... Eidschwur als notwendig erweist". Das Wort "Eid" ist als bedingte Selbstverfluchung ursprünglich von den Kelten übernommen 69 • Vom Stammwort "schwören" abgeleitet sind Ausdrücke wie Geschworener und Geschworenenbank. Dies sind übersetzungen für die französischen Ausdrücke jure bzw. jury, die ihrerseits über das Englische aus dem altfranzösischen juree stammen, das lediglich Eid oder gerichtliche Untersuchung bedeutepo. Die "Verschwörung" als Bezeichnung für geheime Verabredungen mehrerer zu unerlaubten Zwecken, besonders zum Umsturz der Verfassung und zur Begehung politischer Straftaten, weist auf den Schwur als gegenseitiges Treuegelöbnis durch Selbstverfluchung der miteinander "Verschworenen" hin 71 • In allen diesen Fällen sind jedoch heutzutage die Wörter "Eid", "Schwur" oder "Ich schwöre" nicht anders zu qualifizieren als die Wörter "Gelöbnis" oder "Ich gelobe", d. h. als Ausdrücke einer gehobenen Sprache, welche demjenigen, der den Eid schwört oder das Gelöbnis ablegt, ins Gedächtnis und ins Gewissen ruft, daß seiner (unter den oben skizzierten zeremoniellen Umständen abgegebenen) Erklärung ein auf das gesamte Gesellschaftsintegrat bezogener Sinn zukommt. Das deutsche "Ich schwöre es" hat ebensowenig wie das französische "je le jure" einen "sakralen Beigeschmack". Das Eigenschaftswort "sakral" weist - wie alle aus dem lateinischen Stamm sacer abgeleiteten Lehn- und Fremdwörter - auf Religion und Gottesdienst hin. Deshalb besteht, wie Dade72 mit Recht bemerkt, Einigkeit darüber, daß der Eid unter Anrufung Gottes eine lediglich durch den Inhalt des beschworenen Versprechens staatlichen Zwecken dienstbar gemachte religiöse Handlung ist. Unterbleibt die Verbalanrufung Gottes, dann können die Wörter "Eid", "Schwur", "Ich schwöre" nur für diejenigen einen "sakralen" Beigeschmack haben, die diesen schon längst "säkularisierten" Ausdrücken auch heute noch eine religiöse oder magische "Würze" beifügen, dies aber nicht sich selbst zur Last legen, sondern anderen ankreiden 73 • 68

Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache,

19. Aufl. 1963, S. 695. 69 Ebd., S. 155.

70 Henri Capitant: Vocabulaire Juridique, Paris 1930, S. 302 (Jury criminel); Oxford Dictionary of Current English, 1942, S. 619 (jury). 71 "Die ursprünglich magische, als bedingte Selbstüberlieferung an bösen Zauber, gedachte Gewalt des Eides nimmt ... diesen Charakter der Selbstverfluchung und Herabrufung göttlichen Zornes an, der Eid ist daher auch späterhin eines der universellsten Formen der Verbrüderungsverträge" (Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. v. J. Winckelmann, 1967, S. 135). 72 Peter Dade: Fahneneid und feierliches Gelöbnis, Diss. Kiel 1970, S. 94. 73 Wie z. B. Gollwitzer (N. 5), ebd., Strathmann (N. 7), ebd. sowie Schlabrendorff (N. 7), ebd.

6. Der Sinngehalt der Wörter "Eid" und "schwören"

159

Daß magische Vorstellungen, die mit dem Gebrauch bestimmter Wörter ursprünglich verbunden waren, auch heute noch in Teilen der Bevölkerung lebendig sind, ist unbestreitbar. Der Umstand aber, daß manche Menschen sich durch die magische, religiöse oder sonstwie transzendente Herkunfstquelle der Wörter im Gewissen gebunden fühlen, d. h. noch heute im Bann und in den Fesseln der Wort-Magie stehen, bildet keinen zureichenden Grund, die Wörter "Eid", " Schwur" , "schwören" in der Gesetzes- und Rechtssprache zu streichen. Die Verbalanrufung Gottes bei der Eidesleistung ist ja gerade deshalb freigestellt, um sowohl bibeltreuen Laien und Theologen als auch bibelfernen Atheisten die "affirmatio religiosa" nicht zuzumuten. Der erste Leitsatz der "Glaubensentscheidung" stellt deshalb mit Recht fest, daß der ohne Anrufung Gottes geleistete Eid nach der Vorstellung des Verfassungsgebers keinen religiösen oder in anderer Weise transzendenten Bezug habe, während Schlabrendorff unter Hinweis auf den Sprachgebrauch bereits in dem Wort "schwören" einen transzendenten Bezug sieht. Heinrici, ein evangelischer Militärseelsorger, sagt mit vollem Recht: "Die Worte ,ich schwöre' und ,ich gelobe' können theologisch gefüllt oder geistlich entleert verstanden werden 74." Dieser Feststellung entspricht es, wenn in § 73 Abs. 3 des Hessischen Beamtengesetzes von 1965 den Beamten die Wahl gelassen ist zwischen den Formulierungen "ich schwöre" und "ich gelobe", weil auch in den Tarifverträgen zwischen dem "Eid" des Beamten und dem "feierlichen Gelöbnis" der nichtbeamteten Arbeitnehmer entsprechend dem bisherigen rechtstechnischen Sprachgebrauch unterschieden wird75 • Bei der Abfassung von § 9 SoldatenG ist man wohl von diesem rechtstechnischen Sprachgebrauch ausgegangen, während die Abgeordneten des Bundestages der Meinung waren, daß dem Wehrpflichtigen die durch den Eid bewirkte Bindung im Gewissen erspart bleiben sollte76 • Als ob durch ein feierliches Gelöbnis vor versammelter Mannschaft keine Gewissensbindung erstrebt und verwirklicht würde! Die seit 1919 verfassungsrechtlich garantierte Freiheit, bei der Eidesleistung die verbale Anrufung Gottes wegzulassen, hatte und hat nach wie vor den Sinn, das sakrale Element der Eideszeremonie für alle diejenigen zu beseitigen, denen die religiöse Form der Eidesleistung eine religiös unzumutbare oder eine "sinnentleerte" Verhaltensweise bedeutet. Diese Wahlfreiheit deckt sich mit dem im heutigen Sozialleben der Bundesrepublik Deutschland anerkannten und geübten Pluralismus im 74 Bei Niemeier: "Ich schwöre", 1968, S. 77; vgl. hierzu auch Dade (N. 72), S. 84 und 92. 75 Vgl. Dade (N. 72), S. 82. Übrigens ist diese Gleichstellung von Eid und Gelöbnis in den USA seit 1787 Verfassungssatz und in England seit 1888 gesetzlich bestimmt. Auch in der Schweiz wird bei der Vereidigung der Truppe die Wahl zwischen "ich schwöre" und "ich gelobe" freigestellt. Hierzu Dade, ebd., S.86. 76 Vgl. Dade, ebd., S. 84.

160

VI. über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides

religiösen, weltanschaulichen und politischen Bereich. Sie entspricht den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Wer Anstoß nimmt an Wörtern wie "schwören" oder "Eid", gibt damit zu erkennen, daß er selbst magisch verstrickt ist, indem er in diese Wörter etwas hineinlegt, was sie nicht (mehr) enthalten. In der "Glaubensentscheidung" betont das Bundesverfassungsgericht (B I der Begründung), daß die ohne religiöse Beteuerung geleisteten Eide keine religiöse Eidesform darstellen und mit dem überkommenen Eid früherer Jahrhunderte nach der normierten Absicht des Gesetzgebers nur noch den Namen gemein haben. Deshalb könnte "eine andere gleichgewichtige Beteuerung an seine Stelle treten, bei der die im Irdischen und Weltlichen verbleibende Tragweite einer ernsten Pflichtenmahnung nicht durch den Gebrauch geschichtlich belasteter Worte in Frage gestellt wird 77 ". Wer jede Beteuerungsformel überhaupt für überflüssig hält, weil durch sie einer Aussage nichts hinzugefügt, somit durch ihre Weglassung der Aussage auch nichts genommen werden könne, vermag mit dieser Logik den psychologisch unbestreitbaren und soziologisch relevanten Umstand nicht aus der Welt zu schaffen, daß die zeremonielle Beteuerung eine Gewissensbindung der einzelnen hervorruft, die für das Gesellschaftsintegrat existentiell notwendig ist. Dieser Erkenntnis trägt § 66 d StPO (in der seit dem 1. 1. 1975 geltenden Fassung) Rechnung: Wer als Zeuge in einem Strafverfahren unter Berufung auf die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Unverletzlichkeit der Glaubens- und Gewissensfreiheit angibt, aus Glaubens- oder Gewissensgründen keinen Eid leisten zu wollen, hat mit einer dem Eid rechtlich gleichgestellten Erklärung die Wahrheit seiner Aussage zu bekräftigen, und zwar laut gesetzlicher Formel "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gericht". Wenn Gustav W. Heinemann Eid und Eideszwang als Relikte aus den obrigkeitlichen Strukturen unserer Vergangenheit qualifiziert7 8 , so vergißt er die Zeit der Weimarer Republik und die damals geltende Eidesformel für den Reichspräsidenten (Art. 42 WRV), eine Formel, die ebensowenig Relikte obrigkeitlicher Strukturen aufweist wie die fast wörtlich mit ihr übereinstimmende Eidesformel in Art. 56 GG, die er bei seiner Vereidigung als Bundespräsident nachzusprechen sich nicht geweigert hat. Dem Eid als einem sozialen Phänomen kann man wissenschaftlich nur gerecht werden, wenn man seine Gesellschaftsbezogenheit erkennt, d. h. einerseits die Geschichtlichkeit und SituationsbedingtheW9 der Eideszeremonie, andererseits die für jedes Gesellschaftsintegrat existentielle Notwendigkeit einer feierlichen Beteuerung von Aussagen vor Gericht 77 78

N. 24, unter B II 2 c. N.4.

Zum Situationsbegriff eingehend Ottmar Ballweg: Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970, S. 106 ff. 7U

6. Der Sinngehalt der Wörter "Eid" und "schwören"

161

oder von Erklärungen bei Übernahme öffentlicher Ämter oder Dienste. Dies kommt auch in der "Glaubensentscheidung" zum Ausdruck, wenn das Bundesverfassungsgericht betont, daß ein ohne religiöse Beteuerung geleisteter Eid oder ein rein weltliches Gelöbnis "allein im Hinblick auf die Verantwortung der im Staat vereinigten Volksgesamtheit und die ihr gegenüber bestehenden Pflichten bindende Wirkung hat 80 " • Der Eid gehört zu den "Zeugnissen des Mißtrauens und ist ein fester Bestandteil fast allen organisierten HandelngBl". "Die Festigkeit, mit der ein Mann an der Sache festhält, die er zu der seinen gemacht hat, die Treue, mit der er eingegangenen Verpflichtungen nachkommt, die Unverbrüchlichkeit seines Eides sind unentbehrlich, denn sie bilden das Rückgrat jeder menschlichen Gemeinschaft82 ."

80 81

N. 25, unter BI. N. 28, ebd.

Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978, S. 342. 82

11 Hirsch

Sachwortverzeichnis Abendland 45, 50, 53 siehe auch Ethik, Sittengesetz Abgeordneter 18, 80 a corsaire, corsaire et demi 59 affirmatio religiosa 159 siehe auch Eid, religiöser Aggressionstrieb 58 Allgemein verbindlichkeit der Rechtsnorm 59, 92 Amtseid siehe Eid Anerkennungsverfahren 21, 22 Angst (soziale) 78, 149 Anlagen 30, 31, 97, 102, 114, 115 Artgenossen 66, 70, 71, 90 Autoritäten 66, 69, 70, 74, 87 Beamtenverhältnis 155 Beeidigung 150 f. Befehl 126 Befehlsnotstand 86, 91 Behaviorismus 61 Belehrungspflicht 152 Beratungsgeheimnis 111, 113 Bestimmungsnorm 28, 108 Beteuerungsformel 148, 15-3, 157 Beweisregeln 150 Beweiswürdigung 144, 152 Bewertungsnorm 28, 108 Bewußtsein 55, 57 - falsches 70 - gesellschaftliches 42, 141, 142 - sittliches 57 f., 64, 80, 82, 86, 100 - wahres 70 Bewußtseinsänderung 69 Bewußtseinsinhalt 57 Bewußtseinsstörung 85, 91 Bindung an Vorentscheidung 123 f. Bindung an Gesetz siehe Gesetzesbindung Bindung im Gewissen siehe Gewissensbindung Biosoziologie 29, 31, 52 Bluturteile 93, 102 f., 108 conscientia siehe Gewissen

DDR 108, 155 Dekalog 53, 66 ff., 77 Desintegration (soziale) 141 ff., 153 Diensteid siehe Eid dialektischer Materialismus 3-5 dissenting vote siehe Sondervotum Dogmen 142 Ehrenschutz 99, 100 Eid - Amtseid 14,96, 140 - assertorischer 144 - Diensteid 14, 140 - Formel 80, 148, 155 - Gesellschaftsbezogenheit 140 ff., 147, 160 - politischer 144, 154 - promissorischer 144 - religiöser 140, 152, 159, 161 - Richtereid siehe Richter Eideshelfer 144 Eidesverweigerung 120 Eideszeremoniell 147 f., 159 Eideszwang 160 EinzeHallgerechtigkeit 94 Entnazifizierung 88 ErJlahrungen apriori 64 Ermächtigungsgesetz 43, 103 Ermessen 95, 96 Ethik 38, 53, 57, 64 Ethologie siehe Verhaltensforschung Ethos 30 Euthanasie-Aktion 91 Euthanasie-Urteil 28, 104 Fahneneid 96, 155 Fahnenflucht 101 Fall "De-Becker" 106 Fall "Filbinger" 97 ff. Fall "Handyside" 26 Fall "Rehse" 109 ff., 134, 135 Folter 154 forum externum 119 f. forum internum 35, 118 f. Fraktionsdisziplin 16 f.

Sachwortverzeichnis Führerbefehl 99 Gefolgstreue 27, 91, 96 Gehirn 63, 64, 80 Gehirnwäsche 20, 153, 154 Gehorsam 28, 30, 96 Gelöbnis 11, 14, 119 Gerechtigkeit 50, 65, 75, 92, 105, 126, 127, 128, 142 siehe auch: Sinn für Gerechtigkeit Gerichtsherr 94 Gesellschaft - kapitalistische 36 - sozialistische 36 Gesetzesbefehl 30, 96, 125 GesetzesbJndung 116,126,127 Gesetzespositivismus 124 gesetzlicher Richter sliehe Richter Gewaltenteilung 126 Gewissen: - des Abgeordneten 16 f. - angeborenes 76 - Begriff 41, 42, 43, 53, 54 - Beweisbarkeit 21 ff. - Bindung 14, 24, 52, 80, 83, 85 ff., 119, 149, 157, 160 - biologisches 52, 55 ff., 57, 64, 69 - als Chimäre 14, 23, 24, 86 - conscientia 24, 57 - Definition 32 ff. - Demontage 18 - Entscheidung 16 f., 42 - Existenz 19 ff. - Funktion 37, 40, 41, 76 - Gebote 23, 68 - gutes 41, 70 - humanethologisches 52 - Immunis~erung 69 ff. - Inhalt 37, 39, 68, 76, 86 - irrendes 91 - Justiziabilität 12, 20 - Klasseninhalt 36 - latentes 63 - Mehrdeutigkeit 13, 15 - Relativität 39 - schechtes 41, 72, 78, 149 - Sitz 37 - überzeugung 16, 80 - Unverletzlichkeit 38 - Ursprung 76 - virulentes 63 - Wirklichkeit 12, 20 - Worthülse 23

163

- Zensor 40 - Zentrum 37 Gewissenhaftigkeit 13 ff. Ge~ssensangst 78 Gewissensanspannung 15, 25, 26 f., 110,134 Gewissensdruck 152, 156, 157 Ge~ssensfanatiker 29, 95, 120, 129 Gewissensfreiheit (U nverletzlichkei t) 20, 38, 43, 45, 54, 79, 83, 84, 90, 97, 108, 117 ff., 136, 156 Gewissensgründe 18 Ge~ssensirrtum 91 Ge~ssensknebelung 124 Ge~ssensnot 33, 121 Gewissensruf 11, 18, 52, 56, 58, 63, 68, 78, 98, 119, 136, 157 Gewissenstäter 156 Gewissenszwang 69, 70, 83, 90, 119, 138 Gewohnheit 65, 76 Glaubensentscheidrung (BVerfG) 119, 121, 144, 159, 160 Glaubensfreiheit 23, 78 Glaubenswahrheiten 78 Glaubhaftmachung 21 Glaubwürdigkeit 144, 146 Gleichheitssatz 70, 71, 99 Grundwerte 50, 59, 77, 107, 113, 120, 121 "Gut" und "Böse" 25, 33, 41, 45, 48, 49 ff., 52, 75, 80, 86 Habitus 65 Heimtückegesetz 93 Herrschaft 89 Hexenverfolgung 12, 91 Hochverrat 9'3, 96 Humanethologie 52, 53 Idealordnung 2-8, 112, 113 Imperativ 28, 125, 126 Indoktrinierung 74, 78 in dubio pro libertate 22 in dubio pro reo 22, 59 Inquisition 91 Instinkt 56, 61, 64 Instinkt-Reduktionswesen 60 ff. Internalisierung 61, 63, 68, 77 f., 81, 91 Justiz (politische) 102 Justiziabilität siehe Gewissen Kernbereichslehre 24 ff., 53, 110, 113, 134 Ketzer 71

164

Sachwortverzeichnis

Ketzerrichter 91, 107 Kollektivgewissen 29, 142 Kollektivschuld 88 Kombattanten 60 Kompaß 58, 60, 63, 69, 86, 90 Kompetenzordnung 103 Konformitätsdruck 79 Kriegs,gesetzgebung 105 Kriegsverbrechen 106 KSSVO 105 ff. Kultur 3,9, 72, 143 KZ-Lager 88, 91 "Lernen" siehe Internalisierung Machtverhältnisse 50 Märtyrer 90, 9,5 Meineid 151, 152, 157 Meinungsfreiheit 100 Menschenbild 35, 156 Menschenrechtskommission 106 Menschenrechtskonvention 89 Menschenrechte 111 Menschenwürde 35, 45, 99, 100, 111, 120, 155 metaphysische Eselsbrücke 150 Milieu siehe Umwelt Miltärgerichtslbarkeit 93 ff., 99 Mißtrauen 145 Moral 25, 26, 67, 107 - sozialistische 3,6, 77 Moralen 41, 68 Moralkodex 36, 44, 45, 75 Moralsysteme 76 f., 81 Mord 27, 58 ff., 67, 102 Nationalsozialistisches Regime 85 ff., 103 f. Naturrecht 27, 28, 29, 39, 53, 74, 75, 112, 134 Nervensystem 58, 62 Nichtarier 88 non liquet 21 normative Kraft des Faktischen 103 Normbereich 40 Normen - ethische 61 - soziale 86, 142 Normenkonflikt 72, 74 Normfllter - biologischer 72 f., 76, 77, 78, 82, 101, 114 - kultureller 72 f., 76, 77, 79, 82, 100, 114

Notstand 30, 86 nulla poena sine lege 59, 88, 106 nullum crimen sine lege 59, 88, 106 Oberster Gewaltinhaber 89, 92 Ontogenese 62, 76, 82 Parlamentarischer Rat 44 ff., 51 Partisanen 60 Persönlichkeit 44, 47 Pivaterie 60 Positivismus 27, 28, 124 princeps legibus solutus 28 principium individuationis 36, 47 Programmierung 62, 81 Psychoanalyse 40 H., 53, 81 Rache 109, 116 Rassenwahn 89 f. Realität (soziale) 41, 50, 153 Realordnung 112, 113 Rechtsbeugung 29, 96, 102, 113, 127 Rechtsbewußtsein 25, 114 - rachsüchtiges 100, 110 f., 111, 116 Rechtsgewissen 25 Rechtsordnung 141 Rechtssystem 141 Rechtstatsachen 44 ff. Redlichkeit 151 Reduktionismus 57 Regelhaftigkeit 65 Regelkreis 53, 58, 64, 96 Regreßansprüche 137 Reichsgericht 93, 94 Reize 58, 59, 60, 63 Religionsfreiheit 23 Rezeptor 57,58,59 Richter: - Ablehnung 122 - Amtspflichtverletzung 137 - Ausschluß 122 - Eid 11, 13, 29, 49, 96, 114, 119, 125, 129, 136 - Ethos 30 - Gesetzesgebundenheit 92, 125, 126, 128 - gesetzlicher 122, 133 - Gewissensfreiheit 117 ff. - Gewissenskonflikt 117 - Selbstablehnung 122, 123, 133 - Stellung in der Gesellschaft 92 ff. - Unabhängigkeit 27, 92, 95, 100, 105, 118, 125 - Urteilsunterschrift 137 ff.

Sachwortverzeichnis - Weisungsgebundenheit 102, 125 Richterkollegium - Abstimmung 112, 133, 134, 137 - Beratung 112, 130 f., 134, 1317 - Beratungsgeheimnis 111, 118, 125, 130 f., 137 - Stimmenthaltung 132 Richterschaft 92, 103 Richtlinienbindung 102, 125 Rückwirkung 89, 90, 102, 116 sacriflcium intellectus 119, 123, 124, 130 Schuld - moralische 85 f., 96 - strafrechtliche 85 f., 86, 96 Schweigepflicht siehe Richterkollegium, Beratungsgeheimnis Schwören 140, 157 Schwur 158 Sektenwesen 70 Selbstablehnung siehe Richter SeLbstverständnis 23 Sinn für Gerechtigkeit 74 H., 82, 127, 132 Sippenhaft 90 Sittengesetz (abendländ1sches) 38, 41, 51, 56, 64, 79, 80, 83 Sittenrichter 99 Sittliches Bewußtsein siehe Bewußtsein Sittliches Gebot 16, 36 Sittlichkeit 18, 35, 37 Situationsgebundenheit 36, 46, 99, 150, 160 Sotdateneid 120, 140 Sollensgebote 65, 66 ff., 142 - absolute 24, 83, 95 - autonome 47,83 - heteronome 11, 23, 38, 45, 49, 83 - unbedingte 18, 32, 35, 47, 68, 74, 78 Sondergerichte 93 Sondervoten 14, 23, 117 f., 118, 136 f. Sowjetmenschen 36 Sozialisierung des Menschen 91 Soziobiologie 31 Sprachgebrauch (allgemeiner) 32, 33, 46 Steuerungssystem 57, 85 Stimmenthaltung siehe Richterkollegium Strafdrohungen 79, 105 Strafgerichtsbarkeit 93

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Strafmilderung 90 Straftatbestände 79, 137 Strafverschärfung 90 Suggestion 56, 70 f., 79 Syneides:is 55, 56 Systembegriff 141 Terror 86 Terroristen 59, 60 Terrorjustiz 94 Teufelsaustreibung 12 Todesstrafe 101, 106, 109, 113 Tötungshemmung 73 Toleranz 59, 71, 87 Traditionserbe 39, 45, 115 Treueid 154 übergesetzliches Recht siehe Naturrecht über-Ich 40 H. überzeugung 16 f. Umbruch 88, 115 Umerziehung 89 Umwelt - natürliche 30, 42, 57, 81 - soziale 31, 42, 56, 78, 81,97, 101, 102 Unabhängigkeit des Richters siehe Richter unbedingtes Sollen siehe Sollensgebote Unrecht 28, 49, 113 - gesetzliches 27, 30, 89 Untermenschen 71, 90 Urteile (moralische) 35 Urteilsunterschrift 137 f. Urteilsverkündung 134 f. Variabilität 86, 115 Verbrechen 86 Vereidigung 154 ff. Verfassungstreue 59, 155 Vergeltungstrieb 109, 114, 116 Verhaltenserwartung 126 Verhaltensforschung 53, 54, 64, 81, 89 Verhaltensnormen 46, 77 f. Verhaltensweisen 61, 66, 85 Verhältnismäßigkeit (Prinzip der -) 107 Verinnerlichung siehe Internalisierung Vernunftrecht siehe Naturrecht Verstrickung 87 Vertrauen 143 ff. Vertrauensmißbrauch 145 f.

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Sachwortverzeichnis

Volksbewußtsein 110, 112 Volksempfinden 106 VoH~sgerichtshof 93, 105, 107, 109, 112 vorpositives Recht siehe Naturrecht Vorverständnis 12, 34, 44, 45, 46, 50, 82, 83, 96 Vorstellungsinhalt siehe Vorverständnis Wahrheit 50, 78 Wandel (sozialer) 46, 50, 113, 142, 148 Wehrdienstverweigerung 21, 46 Wehrkraftzersetzung 105 Wehrmacht justiz siehe MiHtärgerichtsbarkeit Wehrpfiichtgesetz 16, 21, 2'2 Weimarer Verfassung 43 Weisungen 66, 125 Weisungsgebundenheit 94 Weltanschauung 35 Weltoffenheit 61, 69

Werte - moralische 65 - sOl'Jiale 86, 143 Wertetafeln 65, 88 Wertmaßstäbe 39, 44, 52, 65, 80, 106, 107 Wertordnung 41,52,72 Wertsysteme 72 Wertvorstellungen 50, 77, 85, 116, 127, 129, 141, 155 Widerstandskämprer 90, 95 Willkür 5,g, 95, 101, 125 Willkürverbot 72 Wirbewußtsein 70 Wirgruppe 70 "Wissen und Gewissen" 11, 13, 14, 15, 124 Wohlwollensgebot 22, 156 Wort-Magie 158, 159 Würde siehe Menschenwürde "Zehn Gebote" siehe Dekalog Zwischenhirn 63, 66, 68, 81