Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts: Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert 9783666303173, 3525303173, 9783525303177


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Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts: Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert
 9783666303173, 3525303173, 9783525303177

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WILHELM DILTHEY · GESAMMELTE XV. B A N D

SCHRIFTEN

WILHELM D I L T H E Y G E S A M M E L T E SCHRIFTEN Von Band X V an besorgt von Karlfried Gründer

XV. BAND

V&R VANDENHOECK

& R U P R E C H T IN

GÖTTINGEN

ZUR GEISTESGESCHICHTE DES 19. JAHRHUNDERTS P O R T R A I T S UND B I O G R A P H I S C H E

SKIZZEN

Q U E L L E N S T U D I E N UND L I T E R A T U R B E R I C H T E ZUR T H E O L O G I E UND

PHILOSOPHIE

I M 19. J A H R H U N D E R T

Herausgegeben von

Ulrich Herrmann

3., unveränderte Auflage

VÖR V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften / Wilhelm Dilthey. Von Bd. 18 an besorgt von Karlfried Gründer und Frithjof Rodi. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Teilw. im Verl. Teubner, Stuttgart, und Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen NE: Gründer, Karlfried [Hrsg.]; Dilthey,Wilhelm: [Sammlung] Bd. 15. Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts: Portraits und biographische Skizzen, Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert / hrsg. von Ulrich Herrmann. - 3., unveränd. Aufl. - 1 9 9 1 ISBN 3-525-30317-3 NE: Herrmann, Ulrich [Hrsg.]

3., unveränderte Auflage 1991 © 1991,1970, Vandenhoeck icRuprecht, Göttingen. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hubert & Co., Göttingen

I N H A L T

V o r w o r t zur Fortsetzung der „Gesammelten Schriften" W i l h e l m D i l theys

VII

Vorbericht des Herausgebers: Einleitung zu d e n B ä n d e n der G e s a m m e l t e n Schriften X V — X V I I

XI

A R C H I V E FÜR L I T E R A T U R

1

P O R T R A I T S U N D BIOGRAPHISCHE SKIZZEN

17

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

17

Friedrich Christoph Schlosser

37

Arthur Schopenhauer

53

Eduard Gibbon

75

Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und O t t o Ludwig .

93

Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes

102

Die romantischen Dichter

117

Ludwig Tieck

118

Novalis

139

Zum Andenken an Friedrich Überweg

150

Ludwig Uhland

161

Aus F. W. J. Schellings Leben

169

Mohammed

173

Die Fürstin Galitzin

178

Richard Wagner

184

Goethe und Corona Schröter

199

Heinrich Heine

205

John Stuart Mill

245

George Grote

251

O t t o Ribbeck

259

VI

Inhalt

Emilie Zeller

265

Eduard Zeller

267

D I E G N O S I S . M A R C I O N UND SEINE S C H U L E

279

L I T E R A T U R B E R I C H T E ZUR P H I L O S O P H I E DES 1 9 . J A H R H U N D E R T S

.

·

.

297

Jahresbericht über die im Jahre 1886 erschienene Literatur über die Philosophie seit K a n t

297

Briefe von und an Hegel

310

Jahresbericht von der 1887 und 1888 erschienenen Literatur über die deutsche Philosophie seit Kant

317

Bericht von deutschen Arbeiten über die auswärtige nachkantische Philosophie 1887—1889

326

Diltheys Rezensionen aus dem Bericht über die deutsche Philosophie seit Kant f ü r die Jahre 1889 und 1890

332

Jahresbericht über die nachkantische Philosophie (1899)

334

Das Hegel-Buch Kuno Fischers

343

NACHTRAG: Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen

356

Anmerkungen

372

Personenregister

376

VORWORT zur Fortsetzung der „Gesammelten Schriften" Wilhelm Diltheys Bald nadi dem Tode Wilhelm Diltheys haben seine Schüler Bernhard Groethuysen, Georg Misch, Herman Nohl und Paul Ritter, unterstützt durch den zum Testamentsvollstrecker bestellten Grafen Heinrich Yorck, mit der Herausgabe der Gesammelten Schriften begonnen. Von 1914 bis 1931 erschienen acht Bände, später kamen noch vier, herausgegeben von Otto Friedrich Bollnow, Herman Nohl und Erich Weniger, hinzu. Verlagsrechtliche und persönliche Schwierigkeiten brachten es mit sich, daß wichtige Stücke außerhalb der Gesammelten Schriften gedruckt wurden. Der unveröffentlichte zweite Teil des Schleiermacher-Werkes erschien, aufgrund von Vorarbeiten von Hermann Mulert herausgegeben von Martin Redeker, 1966 gleichzeitig im Verlag de Gruyter & Co Berlin und als Band XIV der Gesammelten Schriften. Im besonderen die ersten acht Bände der Gesammelten Schriften kann man als Werkstattausgabe kennzeichnen: der Kreis der unmittelbaren Schüler des alten Gelehrten, von diesem schon zu Lebzeiten an der Redaktion und Drucklegung seiner Arbeiten in einem ungewöhnlichen Maße beteiligt, gibt das Werk heraus, wie es der Autor etwa selbst bestimmt haben könnte. Die Ausgabe ist zu einem guten Teil auch eine redaktionelle Leistung, in der Art ihrer Sorgfalt pietätisch, ohne Absicht und Anspruch auf neutrale Vollständigkeit und distanzierte Objektivität kritischer Editionstechnik. Manches Veröffentlichte, besonders auch aus Diltheys Jugend, wurde nicht wiedergedruckt, weil man nichts mehr davon wußte oder weil man es für weniger erheblich hielt. Vieles aus dem Nadilaß blieb ungedruckt, weil frühere Fassungen und Fragmente als überholt erschienen durch die endgültigen Fassungen, die abgeschlossenen Arbeiten; weil aus der Nähe Entwicklungsstufen von sachlicher Bedeutung bloß nach ihrem technischen Zustand, dem Grade ihrer schriftstellerischen Vorläufigkeit und Unfertigkeit beurteilt wurden. Im Bewußtsein ihrer eigenen Geprägtheit durch die philosophischen Absichten und den literarischen Anspruch des mächtigen Greises fühlten sich die ersten Herausgeber in den kaum überschaubaren Massen des Nachlasses wie in der Werkstatt des Lebenden, in der sie mitgearbeitet hatten und wo sie sich daher auskannten. Am eindringlichsten, auch am längsten haben sich Georg Misch, der Schwiegersohn Wilhelm Diltheys, und sein Freund Herman Nohl um die Ausgabe gekümmert: geschlossene Stücke aus dem Nachlaß herausgehoben und abgeschrieben, einiges davon zum Druck gebracht, anderes wieder beiseitegelegt. An eine Fortführung der Ausgabe über die Bände I bis X I I hinaus wurde vorerst nicht gedacht;

νιπ

Vorwort

diese aber wurden nach dem zweiten Weltkrieg vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Gemeinschaft mit dem Verlag B. G. Teubner, in dem sie zuerst erschienen waren, unverändert neuaufgelegt (Band X übrigens erst dabei, 1958, eingefügt). Die Erben Diltheys hatten den wissenschaftlichen Nachlaß dem von Dilthey selbst begründeten Literatur-Archiv, das inzwischen an die Akademie der Wissenschaften zu Berlin gekommen war, übergeben. Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte das Literatur-Archiv innerhalb der Akademie zum Institut für deutsche Sprache und Literatur, seit 1968 ist es ein Teil des zentralen Archivs der Akademie. Dieser Nachlaß besteht aus etwa 300 Konvoluten, die Paul Ritter bald nach dem Tode Diltheys inventarisiert hat. Auf dieses Verzeichnis beziehen sich die Quellenangaben in den Gesammelten Schriften und sonst. Persönlichere Papiere, insbesondere Briefe, blieben bei der Familie: bei Max Dilthey in Berlin-Kladow, bei Clara und Georg Misch in Göttingen. Was sich in Berlin-Kladow befand, ist 1945 mit großer Wahrscheinlichkeit verlorengegangen. Die geringeren urschriftlichen Bestände in Göttingen, zu denen freilich audi eine Reihe von annotierten Handexemplaren und die wichtige Korrespondenz um die Ausgabe gehörten, vermehrten sich im Laufe der Zeit bei Misch und Nohl um Abschriften aus dem Nachlaß und Vorlesungsnachschriften auch von anderer Hand. Mit den Nachlässen von Nohl (gestorben 1960) und Misch (Georg Misch gest. 1965, Clara Misch gest. 1967) sind sie in die Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek zu Göttingen gekommen und bilden dort ein zweites kleineres Dilthey-Archiv. Im Jahre 1962 regte Herr Dr. Arnold Fratzscher von der Verlagsbuchhandlung Vandenhoeck & Ruprecht Überlegungen und Gespräche an zwischen dem Ehepaar Misch, dem Verlag und dem Unterzeichnenden, ob und gegebenenfalls wie die Ausgabe der Gesammelten Schriften fortgeführt werden sollte. Dabei und nach vorläufigen Nachforschungen im Berliner Nachlaß ergaben »ich folgende Grundsätze: 1) Diltheys sich wieder erneuernde Bedeutung macht es dringend wünschenswert, die editorische Erschließung und Bereitstellung seiner philosophischen Hinterlassenschaft als Voraussetzung seiner Aneignung über den Zustand nach Abschluß der zwölf Bände Gesammelter Schriften hinauszuführen. 2) Der Nachlaß enthält noch manche ungedruckten Stücke, deren Herausgabe nunmehr — da aus der unmittelbaren Gegenwärtigkeit, in der Diltheys Denken und Lehren seinen letzten Schülern vor Augen stand, historische Distanz geworden ist mit dem Interesse an Herkunft, Entwicklung, Wirkungsgeschichte, spezifischer Aktualität — vorbehaltlos geboten ist. 3) Die früheren Schwierigkeiten für die Zusammenführung in eine Reihe sind fortgefallen oder überwindbar geworden. 4) Es wäre nicht nur unpraktisch, sondern auch unsachgemäß, die vorliegende Ausgabe durch eine umfassende historisch-kritische Ausgabe zu ersetzen; zweckmäßig ist vielmehr ihre Ergänzung durch Fortsetzung in weiteren, anzuschließenden Bänden.

Vorwort

IX

5) Demgemäß werden die folgenden Bände kein Stück bringen, das in den Bänden I bis X I V schon steht, auch wenn bei gänzlicher Neuanlage manche Bände besser geschlossen u n d gegliedert werden k ö n n t e n ; gelegentlich werden sidi Abbrüdie und Rückverweise nicht vermeiden lassen. 6) So wenig danach die Bände der Fortsetzungsreihe ihrem inhaltlichen U m fange n a d i und in ihrem A u f b a u am Maßstabe moderner historisch-kritischer Gesamtausgaben gemessen werden dürfen — in ihrem Stil werden sie über die früheren Bände hinausgehen müssen im Sinne einer A n n ä h e r u n g a n deren E r fordernisse und Verfahrensweisen. Heutige Herausgeber können nicht mehr Bescheid wissen u n d verfahren, wie es in der W e r k s t a t t zuging. Sie dürfen sich redaktionelle Eingriffe nicht zutrauen, sie werden unter anderem auch genauere Zeitbestimmungen versuchen müssen. 7) Es ist deshalb notwendig, d a ß die erhebliche Arbeit mehrere verantwortliche Herausgeber und Mitarbeiter untereinander teilen.

Zunächst erscheinen die Bände X V bis X V I I , herausgegeben und eingeleitet von Ulrich H e r r m a n n . Von den übrigen Vorarbeiten sind am weitesten gediehen die f ü r einen Band mit Vorstufen zur „Einleitung in die Geisteswissensdiaften" und E n t w ü r f e n zu ihrer Fortsetzung. Weitere Bände werden folgen, zum Schluß eine Briefsammlung und ein Band, der eine Nachlaßbeschreibung mit einem Editionsbericht verbinden soll u n d z w a r so, d a ß dadurch f ü r die quellenkritischen Fragen, die, bedingt durch die Entstehungsweise der Ausgabe, vorerst offen sind, der spätere Benutzer Auskunft finden kann.

Die vorbereitenden Arbeiten f ü r die F o r t f ü h r u n g der Ausgabe fanden und finden in nicht hoch genug zu rühmender Weise Verständnis, Liberalität und Hilfsbereitschaft in der Berliner Akademie u n d der Göttinger Bibliothek u n d bei manchen anderen; sie werden ermöglicht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft; sie werden gefördert von dem ebenso sanften wie unermüdlichen D r ä n g e n H e r r n D r . A r n o l d Fratzschers und dem entschiedenen Wunsch des Verlagshauses, das es sich zu seiner Ehre rechnet, das W e r k "Wilhelm Diltheys der gelehrten Welt so vollständig wie möglich darzubieten. Münster/Bochum, Sommer 1970 Karlfried Gründer

VORBERICHT DES HERAUSGEBERS Einleitung zu den Bänden XV bis XVII Wilhelm Dilthey ist in die Geschichte der Wissenschaften als Autor von „ersten Bänden", „Beiträgen", „Ideen", Fragmenten, als Verfasser von anonym und pseudonym erschienenen Arbeiten eingegangen, als Briefpartner des kongenialen Paul Grafen Yorck von Wartenburg — beider Briefwechsel zählt zu den wichtigsten geistesgeschichtlichen Dokumenten in der zweiten H ä l f t e des neunzehnten Jahrhunderts —, als einer der Großen der deutschen Geistesgeschichte, der tradierend, umbildend, forschend, anregend und verwirrend zugleich auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie und in einer Reihe von Einzeldisziplinen Bedeutendes leistete, ohne seine Arbeiten zu einem auch nur vorläufigen Abschluß bringen zu können. Vom „Leben Schleiermachers" erschien 1867/70 lediglich der erste Band; die „Einleitung in die Geisteswissenschaften 0 (1883) blieb unvollendet, obwohl ein systematischer Teil über Logik und Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften bereits um 1880 fertig ausgearbeitet vorlag; wichtige Arbeiten erschienen in den Abhandlungen und Sitzungsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften — ein dem Rang des Autors entsprechender Publikationsort, jedoch ohne Zugang zu einem breiteren Publikum; zu einer Sammlung einiger seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlungen — sie erschien 1906 unter dem Titel „Das Erlebnis und die Dichtung" — mußten ihn seine Schüler (Paul Μ enzer, Anna Tumarkin, Max Frischeisen-Köhler und Georg Misch) drängen — sie erlebte bis heute vierzehn Auflagen! Denn dies ist das Erstaunliche an der Wirkungsgeschichte seines Werkes: zunächst bedurfte es der Edition der „Gesammelten Schriften" durch die Schüler und deren Mitarbeiter (Georg Misch, Bernhard Groethuysen, Herman Nohl, Paul Ritter, Otto Friedrich Bollnow, Erich Weniger), um das zerstreute Werk vor dem Untergang zu bewahren. Danach setzte eine umfangreiche Dilthey-Rezeption ein, von der man zunächst glauben konnte, sie sei in der spezifischen geistesgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Situation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg begründet. Aber auch in heutiger Perspektive und mit größerem historischen Abstand gewinnt Diltheys Werk in zunehmendem Maße an Eigenständigkeit und Aktualität 1 . Dazu bedarf es einiger Erläuterungen, die zugleich diese Ausgabe Diltheyscher Arbeiten, die von den Herausgebern der „Gesammelten Schriften" bisher beiseite gelassen worden waren, begründen. 1

Vgl. vom Hrsg. die „Bibliographie Wilhelm Dilthey". Weinheim/Berlin/Basel 1969. Diese Bibliographie in einer Reihe pädagogischer Bibliographien enthält nicht nur die Quellen und Literatur zur Pädagogik Diltheys, sondern sämtliche Veröffentlichungen von und über Dilthey (mit Einschluß der Übersetzungen und Ausgaben).

XII

Einleitung

Erich Rothacker veröffentlichte 1920 seine „Einleitung in die Geisteswissenschaften" 2 , den Titel von Diltheys berühmtem Buch von 1883 übernehmend, um dessen Intention d a m i t in systematischer Absicht w e i t e r z u f ü h r e n 3 u n d sich ihres wissenschaftsgeschichtlichen H i n t e r g r u n d e s im neunzehnten J a h r h u n d e r t zu versichern. Er legt in eingehender historisch-systematischer Untersuchung dar, wie mit Diltheys Arbeiten die Geschichte der Geisteswissenschaften — als Geschichte ihres Selbstverständnisses und ihrer wissenschaftstheoretischen Begründung — in eine neue Epoche tritt. Die Kritik der spekulativen idealistischen Philosophie, vor allem im Sinne der M e t a p h y s i k k r i t i k ; das Vordringen des anglo-französischen Positivismus; „Zurück zu K a n t " , die Ausbildung der „positiven Einzelwissenschaften des Geistes" mit „positiver" deskriptiv-historischer, vergleichender, statistisch-quantifizierender und induktiv-experimenteller M e t h o d e in der politischen Historie, der Philologie, der Sprachwissenschaft, der (Kultur-)Anthropologie, Psychologie, Ö k o nomie, Soziologie usw.; grundlegende politische, soziale u n d wirtschaftliche U m wälzungen in Deutschland und im europäischen Staatensystem als Ausbruch einer neuen Epoche; ein J a h r h u n d e r t grundlegender naturwissenschaftlicher u n d technologischer Entdeckungen — das w a r die Konstellation, in der Dilthey sich auf die Frage der Grundlegung der Geisteswissenschaften richtete. „Das 19. J a h r h u n dert, das ist Hegel u n d Goethe, Schelling u n d die R o m a n t i k , Schopenhauer u n d Nietzsche, M a r x u n d Kierkegaard, aber auch Feuerbach u n d Rüge, B.Bauer und Stirner, E. von H a r t m a n n u n d Dühring. Es ist H e i n e u n d Börne, Hebbel und Büchner, I m m e r m a n n u n d Keller, Stifter u n d Strindberg, Dostojewski u n d Tolstoi; es ist Stendhal u n d Balzac, Didcens u n d Thackeray, Flaubert u n d Baudelaire, Melville u n d H a r d y , Byron und R i m b a u d , Leopardi und d ' A n n u n z i o , George u n d Rilke; es ist Beethoven und Wagner, Renoir u n d Delacroix, Munch und Maröes, v a n Gogh u n d Cizznne. Es ist die Zeit der großen historischen Werke von R a n k e und Mommsen, Droysen und Treitschke, T a i n e u n d Burckhardt und einer p h a n t a stischen Entwicklung der Naturwissenschaften. Es ist nicht zuletzt N a p o l e o n und Metternich, Mazzini u n d C a v o u r , Lassalle u n d Bismarck, Ludendorff und Clemenceau. Es erstreckt sich von der großen französischen Revolution bis 1830 u n d von da bis z u m ersten Weltkrieg. Es h a t Schlag auf Schlag z u m H e i l u n d Unheil der Menschen die gesamte technische Zivilisation geschaffen u n d Erfindungen über die ganze E r d e verbreitet, ohne die wir uns unser alltägliches Leben ü b e r h a u p t nicht mehr vorstellen k ö n n e n " — so umschreibt Karl Löwith den H o r i z o n t , innerhalb dessen m a n auch das D e n k e n u n d Forschen Wilhelm Diltheys sehen m u ß 4 . Zeigt Rothacker, wie Dilthey aus dem Geiste der Historischen Schule zu verstehen ist;

2 Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissensdiaften. Tübingen 1920, 2. unveränd., durch ein Vorw. erg. Aufl. ebd. 1930 (Zitate nadi der 2. Aufl). 3 Vgl. dazu Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. In: HB der Philosophie. Hrsg. von A.Baeumler und M.Schröter, Abt.2: Natur, Geist, Gott; N r . C . Mündien/Berlin 1927; selbständig unveränd. zuletzt Darmstadt 1965 (Zitate nach der letzten Ausgabe). 4 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsdie. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard. Zuletzt 5. Aufl. Stuttgart 1964, S. 8 f.

Einleitung

XIII

zeigt Löwiths Buch, in welchem Sinne der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts zu akzentuieren ist; so zeigt sich in der Differenz zu beiden der spezifische Sinn des Diltheyschen Ansatzes einer „Kritik der historischen Vernunft": im Rückgang auf die weltgeschichtliche Entwicklung der abendländischen Kultur, die Geschichtlichkeit des Menschen und die Frage nach dem „Sinn" der Wissenschaft und ihrer „Bedeutung" f ü r das „Leben" das Problem des Wirkungszusammenhanges von Individuum und Gesellschaft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Sein und Sollen, von Wissenschaft, Religion und Weltanschauung, von Denken und H a n d e l n im Hinblick auf ein „neues Weltalter" neu zu stellen. Es ging um die Grundlegung der „Wissenschaften vom Menschen, vom Staat und der Gesellschaft", der „moralisch-politischen Wissenschaften", der „Wissenschaften vom handelnden Menschen" 5 . Die Ethik-Vorlesung vom Sommersemester 1890 in Berlin ist daher nach Diltheys damaligem Selbstverständnis der Abschluß seiner systematischen Gedanken 6 . Eine erste Ubersicht über Diltheys Fragestellungen und Probleme vermittelt sein „Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften" von 1865 7 . Hier wird unterschieden zwischen den „Wissenschaften der Außenwelt" („Die Naturphilosophie") und den „Wissenschaften des Geistes". Letztere werden in folgender Weise systematisiert 8 : I. Allgemeine grundlegende Wissenschaft des Geistes: Psychologie und Anthropologie; II. Die realen Wissenschaften des Geistes, vermöge deren nunmehr der Inhalt des Geistes erkannt wird: 1. Ethik, 2. Rechtsund Staatsphilosophie, 3. Religionsphilosophie, 4. Ästhetik 9 ; I I I . Die Philosophie der Geschichte oder die Erklärung des Verlaufs geschichtlicher Erscheinungen aus seinen Gründen unter Anwendung deduktiver Methoden; IV. Der praktische Beruf der Wissenschaft des Geistes. — Dem Ganzen ist ein Kapitel über Logik vorgeschaltet, den Schluß bildet die „Metaphysik und philosophische Theologie" als eigener Hauptabschnitt. Die einleitende programmatische Bemerkung zu diesem Plan zeigt, wie Dilthey seine Untersuchungen durchzuführen gedachte: „Verhältnis des Planes dieser Vorlesung zu den Aufgaben der gegenwärtigen Philosophie: 5 D i e w ü t i g s t e n Nachweise zur Genese des Programms der Geisteswissenschaften bei D i l t h e y habe ich in meiner Dissertation zusammengetragen, vgl.: D i e Pädagogik Wilhelm Diltheys. Diltheys Entwurf der Erziehungswissenschaft im Zusammenhang mit seiner T h e o rie der Geisteswissenschaften als den Wissenschaften der menschlich-gesellschaftlichen Welt. (Diss. phil. Köln 1968) Göttingen 1970. 0 Briefwechsel zwischen Wilhelm D i l t h e y und dem Grafen Paul Yorck v o n Wartenburg 1877—1897. Hrsg. v o n Sigrid von der Schulenburg. (Philosophie und Geisteswissenschaften. Hrsg. von Erich Rothacker, Buchreihe Bd. 1) H a l l e 1923; Brief N r . 68 (Januar 1890), S. 90. — D i e Ethik erschien als Bd. X v o n D i l t h e y s „Gesammelten Schriften", hrsg. v o n H e r m a n N o h l , Stuttgart/Göttingen 1958. 7 Als Vorlesungsmanuskript gedruckt Berlin 1865. Ein Exemplar mit handschriftlichen Bemerkungen D i l t h e y s stellte freundlicherweise das Literatur-Archiv der Deutschen A k a d e mie der Wissenschaften zu Berlin zur Verfügung. 8 Im ff. die Kapitelüberschriften, a.a.O., S. 10 ff. * Ähnlich noch in Diltheys einziger Vorlesung über Geisteswissenschaften (im Sommersemester 1883 in Berlin): Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften (Rechtsund Staatswissenschaften, Theologie und Geschichte).

XIV

Einleitung

1. Kant stellte das f u n d a m e n t a l e Problem der Philosophie fest: durch welche Mittel und in welchen Grenzen ist eine Erkenntnis der in innerer u n d äußerer W a h r nehmung erscheinenden Welt möglich? — Fortbildung seiner Analyse des E r kenntnisvermögens durch Untersuchung der Voraussetzungen u n d Methoden der positiven Wissenschaften." 10 Größere Ausarbeitungen folgen mit der Basler V o r lesung über Logik vom Wintersemester 1867/68 11 und dann in den bisher unveröffentlichten Manuskripten, die sowohl die A b h a n d l u n g von 1875 „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften v o m Menschen, der Gesellschaft und dem S t a a t " und die „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) vorbereiten 1 2 . H i e r zeigt sich in voller Klarheit die Umorientierung in der Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften, deren methodologischer Ansatz bis heute fruchtbar ist, der zugleich aber den tieferen G r u n d aufdedct sowohl f ü r Diltheys persönliches Scheitern am U m f a n g der selbstgesetzten A u f g a b e als auch f ü r die gegenwärtige Krise der Wissenschaften v o m Menschen u n d der Gesellschaft, der „moralisch-politischen Wissenschaften". Rothacker betont mit Recht: „Es gibt also zunächst nur einen Weg zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (und er scheint mir kein U m w e g zu sein u n d im übrigen ,logischen' Charakters im strengen Sinne), u n d dieser f ü h r t durch die maximale gegenständliche Versenkung der Wissenschaftslehre in die großen Gedankensysteme der Geschichtschreibung, der Philologien, der Jurisprudenz und der übrigen Wissenschaften von den K u l t u r systemen und Organisationen der Gesellschaft." 1 3 Gerade diese „maximale gegenständliche Versenkung" verhindert jedoch, was Dilthey sich als abschließendes Ergebnis erhofft h a t t e : d a ß die Philosophie in zweifacher Hinsicht — gegründet auf die „Wissenschaften der N a t u r u n d des Geistes" — eine „allgemeine Weltansicht" begründe: „sie begreift die H a u p t f o r m e n der menschlichen Weltansicht aus ihrem G r u n d e im Menschen, und sie begründet, mit dem G r a d e von Evidenz, welcher dieser höchsten A u f g a b e aller Forschung möglich ist, eine abschließende Weltanschauung" 1 4 . Georg Misch h a t in seinem Vorbericht z u m V. Band der „Gesammelten Schriften" dargelegt, wie Dilthey dieses sein P r o g r a m m formulierte, präzisierte, modifizierte — zunächst in A n k n ü p f u n g an die A u f k l ä r u n g und an die Philosophie

10

A.a.O., S. 3. Im D i l t h e y - N a d i l a ß des Literaturardiivs der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Fasz. C 97. 11

12 Diese Manuskripte finden sich u . a . in Fasz. C 12 und C 34 des Berliner Nachlasses. Ein Transkript v o n der H a n d Georg Mischs gehört zum Göttinger D i l t h e y - N a c h l a ß und wird derzeit von Frithjof Rodi bearbeitet. — D i e Abhandlung v o n 1875 wurde im V. Band der „Ges. Sehr." wiederabgedruckt, die „Einleitung" (1883) ebd. Bd. I.

" Rothacker, Einleitung, a.a.O., S. 274. — Uber Kultursysteme und Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft vgl. Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883), Ges. Sehr. I, S. 42 ff., 64 ff. 14 Dilthey, Logik und System (1865), a.a.O., S. 3.

Einleitung

XV

Kants 1 5 , dann Methodenprobleme der „positiven Wissenschaften" aufarbeitend, historisch-systematisch den Zusammenhang analysierend, „in welchem allmählich die geschichtliche Welt sich über den Horizont des menschlichen Geistes erhebt" l e , schließlich noch einmal den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" zu erfassen suchend 17 . Das Ergebnis — heute als Rede von der „Geschichtlichkeit" audi zum unreflektierten Sprachgebrauch des naiven wissenschaftlichen Bewußtseins gehörend — kennzeichnet die gegenwärtige Problematik der Geisteswissenschaften und die damit im direkten Zusammenhang stehende geistige und kulturell-zivilisatorische Krise der Gegenwart, deren radikale Explikation nicht zuletzt das Verdienst Diltheys ist. Ihm selbst stand das Resultat seines Denkens — man mag es positiv oder negativ formulieren — deutlich vor Augen; in seiner Rede an seine Schüler zu seinem siebzigsten Geburtstag Schloß er mit den Worten: „Ich habe versucht, im Sinne dieser universalhistorischen Betrachtung [von Niebuhr, Hegel, Böckh, Grimm, Mommsen, Ranke, Ritter] die Geschichte literarischer und philosophischer Bewegungen zu schreiben. Ich unternahm, die Natur und die Bedingungen des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen — eine Kritik der historischen Vernunft. Ich ward endlich durch diese Aufgabe zu der allgemeinsten fortgetrieben: Ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entsteht, wenn das geschichtliche Bewußtsein in seine letzten Konsequenzen verfolgt wird. Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis. Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben — aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Uberzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden? An der Auflösung der Probleme, welche an dieses sich in langer Reihe anschließen, habe ich mein Leben lang gearbeitet. Das Ziel sehe ich. Wenn ich auf dem Wege liegen bleibe — so hoffe ich, werden ihn meine jungen Weggenossen, meine Schüler zu Ende gehen." 18 Die Zeugnisse dieser lebenslangen Forschungen liegen größtenteils noch unausgewertet im Dilthey-Nachlaß 1 9 und werden die Grundlage weiterer Editionen in 15 Diese Impulse wirken nodi nach in der Formulierung der Aufgabe der Geisteswissensdiaften in Diltheys Nachruf auf Wilhelm Scherer (1886), jetzt Ges. Sehr. X I , S. 236 ff., bes. S. 237 f. 10 Das Problem einer „Kritik der historischen Vernunft". " Titel der Akademieabhandlung von 1910, jetzt Ges. Sehr. V I I . 18 Ges. Sdir. V, S. 7—9, hier S. 9. " Der N a d i l a ß w i r d a u f b e w a h r t im Literatur-Ardiiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Für die Auskünfte dankt der Herausgeber dem damaligen Leiter der Arbeiten im Literatur-Ardiiv, H e r r n Kustos Friedrich Laubisch, und der derzeitigen

XVI

Einleitung

den „Gesammelten Schriften" bilden. Diese vorliegende Ausgabe soll nach der Erarbeitung der „Bibliographie Wilhelm Dilthey" 20 den Neudruck der von Dilthev selbst publizierten Arbeiten abschließen und den Weg verdeutlichen, den Rothacker als notwendig für die Grundlegung der Geisteswissenschaften bestimmte: die Aufarbeitung der Forschungsergebnisse und der Methodenreflexion in den Einzeldisziplinen. Die hier in drei Bänden mitgeteilten Essays, Zeitungsartikel, Rezensionen und Literaturbriefe entstanden oft aus aktuellem Anlaß, die Auseinandersetzung mit den dargestellten Problemen zeigt häufig die Spuren erster Aneignung; manches in Westermanns Monatsheften dient — in der zum Druck gegebenen Fassung — weniger der kritischen Würdigung und weiterführenden Anregung als vielmehr der Vermittlung und Verbreitung von Forschungsergebnissen, gemäß dem Programm der Monatshefte, „dem Mangel eines größeren Centraiorgans f ü r die nach Volksthümlichkeit ringende Bildung unserer Zeit abzuhelfen, und mit ernstem Wollen die Richtung zu verfolgen, deren Streben darauf geht, die Wissenschaft lebendig zu machen und sie in's Leben zu tragen" 2 1 . Bildung durch Wissenschaft — das war die Devise des neunzehnten Jahrhunderts. Freilich waren die persönlichen Motive Diltheys anfänglich durchaus trivial. Im Herbst 1857 schied er aus dem Schuldienst aus — er war zuletzt Lehrer und Adjunkt am Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin —, um sich seinen theologischen und philosophischen Studien zur Vorbereitung auf Promotion und Habilitation widmen zu können. Zwar bekam er 1860 den doppelten Preis der Schleiermacher-Gesellschaft f ü r seine Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik 2 2 , jedoch mußte er seinen Lebensunterhalt bis zur Berufung nach Basel im Jahre 1867 vornehmlich durch eigene schriftstellerische Tätigkeit bestreiten 2 3 . Diese äußere N o t und die Absicht, seine ausgedehnte Lektüre planmäßiger zu gestalten (verbunden mit der willkommenen Bereicherung seiner Bibliothek), bewogen ihn, f ü r die Preußische Zeitung und die Allgemeine Preußische (Stern) Zeitung als deren Fortsetzung, für die Berliner Allgemeine Zeitung (die Julian Schmidt redigierte), die Deutsche Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben (mitbegründet und -herausgegeben von seinem Lehrer und Freund C. ]. Nitzsch) und für Westermanns Monatshefte Artikel und

Leiterin des Zentralarchivs der Akademie, Frau Dr. Chr. Kirsten. — Eine D i l t h e y - S a m m lung aus dem N a c h l a ß v o n H e r m a n N o h l verwaltet die Handschriftenabteilung der U B Göttingen, vgl. V o r w o r t ; für Mitteilungen und Überlassung v o n Kopien gilt der D a n k Herrn Dr. K.Haenel. 20 S. o. Anm. 1. 21 Westermanns Monatshefte, l . B d . Braunschweig 1857, V o r w o r t S . V . 22 D i e Preisaufgabe des Jahres 1859 lautete: „Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durdi Vergleidiung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich v o n Ernesti und Keil, ins Licht zu setzen." D i l t h e y s Arbeit erschien — v o n Martin Redeker aus dem N a c h l a ß hrsg. — in Ges. Sdir. X I V , 2, S. 597—787. 23 D i e Beendigung seiner ständigen finanziellen Sorgen durch den Ruf nadi Basel wird entsprechend freudig begrüßt, vgl. D e r junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 bis 1870. Zusammengestellt v o n Clara Misch, geb. D i l t h e y . 2. Aufl. Stuttgart/ Göttingen 1960, Brief N r . 111 an seinen Bruder Karl, Weihnachten 1866, S. 227.

Einleitung

XVII

größere Abhandlungen zu liefern. N u r schweren Herzens ertrug er die zeitliche Belastung und das Unbefriedigende dieser Art literarischer Produktivität 2 4 . Daher ließ er seine Arbeiten durchweg pseudonym oder anonym erscheinen, wenn es auch offenbar nach einiger Zeit in Berlin ein offenes Geheimnis war, daß Dilthey die anonymen Literarischen Notizen, Literarischen Mitteilungen und (teilweise Pseudonymen) Literaturbriefe in den Monatsheften verfaßte. Friedrich Spielhagen, von 1878 bis 1884 Herausgeber der Monatshefte, schrieb an den Verleger Friedrich Westermann in Braunschweig, daß Diltheys Universitätskollegen in Berlin über die publizistische Tätigkeit die Köpfe schüttelten und „ironisches Lächeln oder offenen Tadel" äußerten 2 5 . N u r einige wenige Aufsätze — besonders in der Spätzeit — erschienen unter dem vollen Namen; das meiste ging auf diese Weise f ü r die Dilthey-Forschung, die Geschidite der Geisteswissenschaften und die ihrer Methodologie im neunzehnten Jahrhundert verloren. Mögen auch Diltheys Kollegen die Köpfe geschüttelt haben — gleichwohl sind diese Arbeiten f ü r die Kenntnis der Entstehung des Diltheyschen Werkes ein unschätzbarer Gewinn und vermitteln dem Dilthey-Forscher im Hinblick auf die Differenzierung und den U m f a n g der Vorarbeiten zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften" und der systematischen Abhandlungen zur Philosophie, Pädagogik, Ethik, Poetik und Historik besonders f ü r die Zeit bis 1900 einen tieferen Einblick als die gelegentlichen Mitteilungen in den Tagebüchern und Briefen, im Briefwechsel mit Yorck und die ohnehin spärlichen Literatur- und Quellenangaben in seinen im Druck erschienenen Werken. Die systematische Bedeutung der größeren Arbeiten aus dem Umkreis dieser Studien, Skizzen und Berichte wurde von Dilthey im Rückblick auf sein Lebenswerk so hoch bewertet, daß er die Ausgabe seiner Jugendarbeiten plante. Sie sollten unter dem Titel „Zeitgenossen, Einleitung, Geschichte der Geschichte", „Geschichte der Entstehung des geschichtlichen Erfahrens" oder „Betrachtungen und Erinnerungen über den Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins im neunzehnten J a h r h u n d e r t " 2 6 die eine Seite seines Forschens beleuchten, die f ü r ihn im Zusammenhang mit seinen „Studien zur Geschichte des deutschen Geistes" (etwa seit 1900) und dem „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (1910) immer wichtiger wurde. Die Betonung dieses Aspektes — seine Affinität zur Historischen Schule — hat jedoch die andere Seite 24

Ebd. Brief N r . 32 an die Eltern, 27. 11. 1858, S. 53; Brief N r . 37 an den Bruder Karl, März 1859, S. 64; Brief N r . 55 an die Schwester Marie, Juni 1860, S. 127; Brief N r . 57 an den Vater, August 1860, S. 131; Brief N r . 59 an die Mutter, 1 5 . 1 0 . 1 8 6 0 , S. 132; Brief N r . 64 an den Bruder Karl, März 1861, S. 157 (dazu Anm. 70, Brief an Luise Scholz, Frühjahr 1861, S. 310); Brief N r . 70 an den Vater, März 1862, S. 1 7 2 f . ; Brief N r . 73 an den Vater, Juli 1862, S. 176. 25 Diese Äußerung Spielhagens in seinem Brief v o m 8 . 4 . 1 8 7 9 , aufbewahrt im Archiv des Georg-Westermann-Verlages Braunschweig, wurde mitgeteilt v o n Wolfgang Ehekircher, Westermanns illustrierte deutsche Monatshefte. Ihre Gesdiichte und ihre Stellung in der Literatur der Zeit. Ein Beitrag zur Zeitschriftenkunde. (Diss. phil. München 1950) Braunschweig 1952, S. 29. 26 Vgl. Erid) Weniger in seinem V o r w o r t zu Ges. Sehr. X I , S. V I I I — X und Diltheys Entwürfe zu einer Einleitung dieser A u f s ä t z e ebd. S. X I V — X I X .

XVIII

Einleitung

nachhaltig In den Hintergrund gedrängt und f ü r das Frühwerk zu einer einseitigen Interpretation geführt: die Auseinandersetzung vor allem mit der Philosophie (Logik der N a t u r - und Geisteswissenschaften), Ästhetik, Ethik, Psychologie, Pädagogik, Anthropologie, Poetik, Literaturgeschichte, Rechts- und Staatswissenschaften, Theologie, Kunstgeschichte und auch den Naturwissenschaften ist weitgehend aus dem Blick geraten. Die ganze Fülle der hier von Dilthey rezipierten Aspekte und hier konvergierenden Entwicklungen, die er dann in eigenen systematischen Arbeiten fruchtbar zu machen suchte, kommt erst mit dieser breiter angelegten Ausgabe seiner frühen Schriften zur Geltung, nachdem ein Teil des Diltheyschen Planes durch die Edition der Bände X I und X I I der „Gesammelten Schriften" durch Erich Weniger realisiert worden ist 2 7 . Hier werden die Anregungen, Probleme und Quellen deutlich, die Dilthey bei seinem Programm der Vermittlung von Philosophie und Einzelwissenschaften, der Wissenschaftstheorie der N a t u r - und Geisteswissenschaften und der Begründung seiner Wissenschaftslehre der Geisteswissenschaften in dem oben bezeichneten Sinne vor Augen hatte.

Nachweis und Anordnung

der

Texte

Zum Nachweis der Texte. — Die Dilthey-Forschung verdankt Erich Weniger eine detaillierte Bibliographie der Diltheyschen Veröffentlichungen von 1857 bis 1883. Diese Bibliographie konnte vervollständigt werden durch die Arbeiten des Herausgebers f ü r die vorliegende Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey": durch Nachforschungen im Berliner Dilthey-Nachlaß, in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen (Dilthey-Sammlung aus dem N a d i laß Herman Nohls und Georg Mischs), die Auswertung der Korrespondenz mit dem Verlag Georg Westermann (Braunschweig, Werksarchiv) und schließlich durch die Sichtung von Zeitungen und Zeitschriften, in denen Veröffentlichungen Diltheys nachgewiesen sind oder vermutet werden konnten. Das Verzeichnis von Paul Ritter über die Bestände des Dilthey-Nachlasses in Berlin (vom März 1912) verweist unter Faszikel C 108 auf Korrespondenzen Diltheys mit Adolf Glaser, mit dem als Redakteur von Westermanns Monatsheften auch enger persönlicher Kontakt bestand, und auf Honorarabrechnungen des Westermann-Verlages f ü r Beiträge Diltheys 2 8 . Obwohl die Honorarabredinungen offenbar lückenhaft sind, ermöglichten sie auf Grund der quartalsweisen Umfangsbestimmung der gelieferten Beiträge nach Zeilen und Spalten bis auf wenige Ausnahmen eine genaue Bestimmung der anonymen Rezensionen Diltheys 27 Weniger hatte ursprünglich weiterreidiende Pläne, vgl. Ges. Sdir. XI, S. V und S. VII. Seine Bibliographie in Ges. Sdir. XII, S. 208—213, zeigt jedodi, daß er die frühen publizistischen Arbeiten noch nidit ermittelt hatte. Über die Nachweise dieser Aufsätze und Rezensionen vgl. die Vorberidite zu den Bänden X V I und X V I I dieser Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" (s. o. Anm. 1). 28 Das von Paul Ritter angelegte Verzeichnis der Nachlaßabteilungen Α, Β und C befindet sich in einer Durchschrift auch in Göttingen; das Verzeichnis der im Berliner Nachlaß befindlichen Druckschriften (Abt. D) ist von der Hand Max Diltheys.

Einleitung für mehrere Jahrgänge. —

XIX

E i n e G e g e n p r ü f u n g w u r d e möglich durch die

w e r t u n g der B r i e f e D i l t h e y s an die R e d a k t i o n der Monatshefte die Erich

Weniger

Aus-

in Braunschweig,

— ebenso w i e die H o n o r a r a b r e c h n u n g e n — u n b e k a n n t geblieben

w a r e n 2 9 . Diesen B r i e f e n sind Bücherlisten beigegeben, die die T i t e l

derjenigen

W e r k e a u f f ü h r e n , die D i l t h e y z u r R e z e n s i o n a n f o r d e r t e . V e r m e r k e zeigen, welche Bücher beschafft u n d an D i l t h e y weitergeleitet w u r d e n , soweit sie nicht bereits als Rezensionsexemplare

eingegangen

waren;

auch w u r d e

vermerkt,

wenn

andere

R e z e n s e n t e n und M i t a r b e i t e r um eine A n z e i g e gebeten w o r d e n w a r e n (besonders in der Z e i t Friedrich

Spielhagens

als H e r a u s g e b e r ) . I n den F ä l l e n also, w o lediglich

dieser A n f o r d e r u n g s z e t t e l einen H i n w e i s a u f D i l t h e y s Autorschaft gab, k o n n t e n die entsprechenden B e i t r ä g e in den M o n a t s h e f t e n dem W e r k D i l t h e y s nur mit V o r b e h a l t zugerechnet werden. — Schließlich f a n d sich im W e r k s a r c h i v des W e s t e r m a n n s - V e r l a g e s noch ein H o n o r a r b u c h ( a b 1 8 7 0 ) , das D i l t h e y s B e i t r ä g e v o n 1 8 7 0 bis 1 8 8 4 a u f f ü h r t , so d a ß eine erneute G e g e n p r ü f u n g möglich w u r d e 3 0 . Einziges neu festgestelltes P s e u d o n y m w a r im J a h r g a n g 1 8 7 0 „ G e o r g S t e v e n aus K i e l " (für den d o r t abgedruckten A u f s a t z „Selbstbekenntnisse eines P h a n t a s i e m e n s c h e n " ) . F ü r die B e s t i m m u n g v o n D i l t h e y s A n t e i l an T a g e s z e i t u n g e n

war

besonders

hilfreich die A u s w e r t u n g des Druckschriftenverzeichnisses des Nachlasses. A n f r a g e n — u n t e r s t ü t z t durch freundliche H i n w e i s e der A b t e i l u n g Deutsche Presseforschung der S t a a t s b i b l i o t h e k B r e m e n 3 1 — f ü h r t e n z u r A u f f i n d u n g der Preußischen und der Allgemeinen

Preußischen

Herzog-August-Bibliothek

(Stern)

Zeitung

Zeitung

(als deren F o r t s e t z u n g ) in der

W o l f e n b ü t t e l und der Berliner

Allgemeinen

Zeitung

in der U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k G r e i f s w a l d . D e r N a c h w e i s der A r t i k e l und R e z e n sionen w ä r e nicht möglich gewesen, w e n n nicht beide B i b l i o t h e k e n in großzügigem E n t g e g e n k o m m e n die Zeitungen ausgeliehen h ä t t e n , so d a ß das B e r l i n e r D r u c k schriftenverzeichnis e r g ä n z t und bisher U n b e k a n n t e s e r m i t t e l t werden k o n n t e 3 2 . D e r H e r a u s g e b e r k o n n t e die Schlesische

Zeitung



( B r e s l a u ) , in der eine R e z e n s i o n

D i l t h e y s im J a h r e 1 8 7 2 nachgewiesen ist, nicht einsehen. D i e J a h r g ä n g e für die Z e i t der T ä t i g k e i t D i l t h e y s an der Breslauer U n i v e r s i t ä t sind vollständig in der U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k W a r s c h a u e r m i t t e l t w o r d e n . E i n e Ausleihe w a r nicht m ö g 2 * Die Briefe und Bücherlisten für Rezensionen werden im Werksarchiv des GeorgWestermann-Verlages in Braunschweig aufbewahrt. Dem Verlagshaus ist besonders zu danken für die kostenlose Überlassung von Kopien des gesamten Materials, Frau Elisabeth Eickhoff dankt der Hrsg. für freundliche Beratung und wiederholte Auskünfte. — Der Verlag verfügt weder über das Redaktionsarchiv noch über ein Redaktionsexemplar der Monatshefte; beides verbrannte bei der Zerstörung des Redaktionsardiivs in Berlin im Zweiten Weltkrieg. 3 0 Die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" und die Quellennachweise in diesen Bänden der Gesammelten Schriften geben jeweils an, wie die einzelnen Beiträge gesichert sind. Die Artikel in der Allgemeinen Preußischen (Stern) Zeitung und einiges aus den Monatsheften fehlen nodi in dieser Bibliographie. 31 Für Auskünfte aus dem unveröffentlichten Zeitungsstandortkatalog danke ich Frau Doris Nold und Herrn Dr. Elger Blühm. 3 2 Der besondere Dank gilt Herrn Erhart Kästner, früherer Bibliotheksdirektor in Wolfenbüttel, und Herrn Rodigast in Greifswald.

XX

Einleitung

lieh. Alle Jahrgänge zu verfilmen, was audi im Interesse westdeutscher Zeitungsarchive lag, überstieg die für die Dilthey-Ausgabe bereitgestellten Mittel 33 . Lediglich das aus den hier in Frage kommenden Jahrgängen in der Deutschen Staatsbibliothek Berlin fragmentarisch Vorhandene — soweit nicht infolge Auslagerung im letzten Krieg verschollen — konnte durchgesehen werden. Es ergaben sich jedoch keinerlei Hinweise auf Dilthey-Beiträge, so daß auch von daher eine Verfilmung der Warschauer Bestände nicht geboten schien. — Basler Tageszeitungen wurden für diese Ausgabe und die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" ebenfalls nicht herangezogen. Die Briefe der Basler Zeit berichten nichts von publizistischer Tätigkeit; Dilthey war stark belastet durch seine Vorlesungen, die Beendigung des zweiten Teiles des ersten Bandes seines „Leben Schleiermachers" und die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, die dann zur „Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 führten. Ohne Ergebnis blieb die Durchsicht der Neuen Evangelischen Kirchenzeitung (Berlin) 34 . Audi in der Protestantischen Kirchenzeitung (Berlin) konnte über das von Weniger Ermittelte hinaus keine Veröffentlichung nachgewiesen werden, die von Dilthey stammen könnte oder ihm zuzuschreiben wäre. Das gleiche gilt für die Berliner Nationalzeitung, die für die Zeit von Diltheys erstem Berliner Aufenthalt bis in die 1890er Jahre durchgesehen wurde 3 6 . Eine Uberprüfung von Kieler Tageszeitungen 39 in der Kieler Landesbibliothek ergab keine Hinweise auf Veröffentlichungen Diltheys dort während des kurzen Aufenthaltes an der Kieler Universität. Das ohnehin schmale Feuilleton war ausgefüllt durch Berichte von Lokalereignissen, Erzählungen und besonders Berichten vom Kriege 1870/71. Abschließend kann noch einmal der Befund Wenigers bestätigt werden, daß Diltheys Anteil an den politischen Artikeln im Nachrichten- oder Kommentarteil der Tageszeitungen — besonders bei der Preußischen Zeitung, der Preußischen Allgemeinen (Stern) Zeitung und der Berliner Allgemeinen Zeitung — nicht ermittelt werden kann, da die Artikel durchweg anonym erschienen oder mit Siglen versehen sind, deren Gebrauch durch Dilthey bisher nicht bezeugt ist. Da in keinem Fall ein Redaktions- oder Zeitungsverlagsarchiv festgestellt werden konnte — die Lage ist bei den Zeitschriften nicht anders —, war weder eine zusätzliche Uberprüfung der bibliographischen Nachweise noch eine Ergänzung des Werkverzeichnisses möglich. Die Durchsicht der Zeitschriften brachte mit Ausnahme von Westermanns Monatsheften auf Grund der dafür gefundenen neuen Quellen keine Ergänzungen 33 Für freundliche Auskünfte ist dem Vize-Direktor der UB Warschau, Herrn Mgr Adam Wröbleivski, zu danken. — Das Buch von Carl Weigelt (150 Jahre Sdilesische Zeitung 1742—1892. Breslau 1892) behandelt lediglich den politischen Journalismus dieser Zeitung. 34 Vgl. Der junge Dilthey, Brief Nr. 32 an die Eltern, 2 7 . 1 1 . 1 8 5 8 , S. 53. 35 Für die Spätzeit waren hier Veröffentlichungen zumindest geplant, vgl. die Quellennachweise zu dem Aufsatz „Schulreform und Schulstuben" von 1890 in Ges. Sehr. VI, S. 306 f. 3i Es handelt sich um die Kieler Zeitung und das Kieler Correspondenzblatt; für nützliche Hinweise danke ich dem damaligen Leiter der Kieler Landesbibliothek, Herrn Dr. Olaf Klose.

Einleitung

XXI

der bereits bei Weniger ausgewiesenen Veröffentlichungen. In der Deutschen Zeitschrift für christliche Wissenschaft und christliches Leben und in den Preußischen Jahrbüchern erschienen Beiträge oft anonym 3 7 , in der Zeitschrift Im neuen Reich kann nur der Artikel über Klaus Groth im Jahrgang 1871 als gesichert gelten. Die d a f ü r benutzte Sigle wird Im neuen Reich nur f ü r diesen einen Artikel und dann nicht mehr benutzt 3 8 . Zur Anordnung der Texte. Die Bände der Gesammelten Schriften wurden bisher, soweit sie Aufsatzsammlungen darstellen, weder streng chronologisch nodi streng thematisch gegliedert. Auch f ü r die vorliegende Ausgabe mußte ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Textanordnung gefunden werden 3 ®. Der erste Band bringt vor allem Portraits und biographische Skizzen, verstreut in Westermanns Monatsheften und verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften, aus der gesamten Schaffensperiode Diltheys. Der folgende Band vereinigt vor allem Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften von 1859 bis 1874 mit Abhandlungen und Rezensionen aus der Berliner Allgemeinen Zeitung, deren Nachweis unsicher ist, die aber in der Mehrzahl wohl von Dilthey stammen 40 . Der Sdilußband teilt die Literarischen Notizen und Mitteilungen sowie die Literaturbriefe und Berichte zur Kunst aus Westermanns Monatsheften mit. Der Umfang der publizistischen Tätigkeit Diltheys, die sich seit 1867 nach dem Weggang aus Berlin auf die Monatshefte konzentrierte, wird hier so geschlossen überschaubar. Zugleich stehen die Arbeiten damit in den beiden letzten Bänden dieser Neuausgabe in einer wenn audi nicht strengen chronologischen Anordnung. Wie in den bisherigen Bänden der Gesammelten Schriften werden auch hier die Texte unverändert wiederabgedruckt;.dies gilt audi f ü r die von Dilthey wiedergegebenen Zitate. Lediglich Orthographie und Interpunktion wurden dem heutigen Gebrauch angeglichen. Nicht aufgenommen wurden einige Arbeiten Diltheys, die sowohl den Rahmen dieser drei Bände gesprengt hätten als audi in andere sachliche Zusammenhänge gehören, die erneute Nachlaßforsdiungen notwendig machen. Es handelt sich um Diltheys einzigen literarischen Versuch, die Novelle „Lebenskämpfe und Lebensfriede", die 1867 in Westermanns Monatsheften erschienen war. Es wurde audi auf die f ü r Diltheys Erlebnisbegriff so widitige Abhandlung „Über die Einbildungskraft der Dichter" — 1877 in der Zeitschrift für Völkerpsychologie erschienen — verzichtet, da sie zusammen mit den Umarbeitungen in den verschiedenen Auflagen in der Sammlung „Das Erlebnis und die Dichtung", wo sie unter dem 97 Vgl. für die Preußischen Jahrbücher die Bemerkung von Erich Weniger in Ges. Sehr. XI, S.VI. se Für die Überprüfung aller Beiträge Im neuen Reich, die mit Y oder D (in verschiedenen Drucktypen) gekennzeichnet sind, danke ich dem jetzigen Direktor der HerzogAugust-Bibliothek in Wolfenbüttel, Herrn Dr. Paul Raabe. " Eine chronologische Übersicht über sämtliche Veröffentlichungen Diltheys mit Einschluß der Arbeitspläne, Briefe und Vorlesungen gibt der erste Teil der »Bibliographie Wilhelm Dilthey" des Hrsg.s. 40 Vgl. besonders den Brief an den Vater vom Juli 1862, in: Der junge Dilthey, Brief Nr. 73, S. 176.

XXII

Einleitung

Titel „Goethe und die dichterische Phantasie" erschien, und abweichenden unveröffentlichten Nachlaßmanuskripten zur Poetik Gegenstand eigener editorischer Arbeiten mit einem synoptischen Abdruck der Textvarianten werden muß. — Alles von Dilthey Edierte wurde ebenso ausgeschieden — es gehört in pädagogische bzw. philosophische Zusammenhänge — wie seine Dissertation von 1864, deren zweiter Teil in deutscher Fassung von Redeker im zweiten Bande des „Leben Schleiermachers" (Ges. Sehr. X I V , 1) mitgeteilt wurde. Auch die selbständig erschienenen Grundrisse zur Philosophie (Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften, 1865; Biographisch-literarischer Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie, 1885 u. ö.) stehen im Zusammenhang mit zu erwartenden Editionen von Texten zur Philosophie (insbesonders Logik und Erkenntnistheorie) und zur Theorie der Geisteswissenschaften (vor allem der zweite Band der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" mit den dazugehörigen Vorstudien), so daß ein erneuter Abdruck hier unzweckmäßig gewesen wäre.

Zu diesem

Band41

I. Am 16. Januar 1889 hielt Dilthey seinen Vortrag über Archive der Literatur, der diesen Band einleitet. Der Text des Vortrages wurde in der Deutschen Rundschau42 abgedruckt, eine veränderte Fassung — mit besonderer Betonung der hier herausgearbeiteten Aspekte f ü r die historisch-philosophische Forschung — erschien in dem von Dilthey mitherausgegebenen Archiv für Geschichte der Philosophie'13. Der Vortrag eröffnete nach Diltheys Angabe die Zusammenkünfte einer „Gesellschaft f ü r deutsche Literatur", die sich besonders als Förderergesellschaft f ü r literarhistorische Forschungen verstand. In dieser Zeit erfolgten die Gründungen von Gesellschaften und Archiven, die Diltheys Anregungen zu verwirklichen suchten: 1889 das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, 1891 die Literaturarchiv-Gesellschaft in Berlin, 1903 das Schiller-Nationalmuseum in Marbach 4 4 . Diese Abhandlung eröffnet diesen Band, weil sie bis in die technischen Voraussetzungen hin einen Einblick gibt in die Schwierigkeiten, denen sich der Biograph 41 Für Diltheys Publizistik sei grundsätzlich verwiesen auf die Abhandlung v o n Bodo Sartorius von Waltershausen: D i e Publizistik Wilhelm Diltheys, in: Bll. f. dt. Philos. 12 (1938/39), S. 50—93. Der Verfasser beschäftigt sich vornehmlich mit den Bänden X I und X I I der Ges. Sehr., bringt aber eine Fülle v o n Materialien und Verweisen, die auch für weitere Ausführungen des hier vorliegenden Abschnittes dieser Einleitung herangezogen werden müssen. — Zur Publizistik im 19. Jahrhundert allgemein vgl. Kurt Koszyk, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. (Abh. u. Materialien zur Publizistik, Bd. 6) Berlin 1966. — Literatur zu einzelnen Zeitungen und Zeitschriften weisen nadi: Karl Börner, Internationale Bibliographie des Zeitungswesens, Leipzig 1932; Fritz Franzmeyer (Bearb.), Presse-Dissertationen an deutschen Hochschulen 1885—1938. Hrsg. v. Walther H e i d e . Leipzig 1940. 42

58. Bd., Berlin 1889, S. 360—375. 2. Bd., Berlin 1889, S. 3 4 3 — 3 6 7 ; wiederabgedruckt in Ges. Sehr. IV, S. 5 5 5 — 5 7 5 . 44 Vgl. Paul Raabe, Quellenrepertorium zur neueren deutschen Literaturgeschichte. (Slg. Metzler, Realienbücher für Germanisten, Abt. B) 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 8 f., mit w e i terer Literatur. 43

Einleitung

XXIII

in der zweiten H ä l f t e des neunzehnten Jahrhunderts gegenüber sah. Zwar schließt Dilthey sich in seinen biographischen Skizzen dieses Bandes teilweise an größere Werke an (dadurch können die Abhandlungen zum Teil audi als Rezensionen gelten), es handelt sich aber auch um Originalarbeiten, die die im Vortrag genannten äußeren Schwierigkeiten der Textbeschaffung und Nachlaßbenutzung zu bewältigen hatten 4 5 . Die Rezension des Hegel-Buches von Kuno Fischer zeigt, wie fruchtbar und anregend audi in gelegentlichen Mitteilungen die eingehende Kenntnis der Handschriften ist. Vor allem aber die großen Arbeiten über Schleiermacher und Hegel zeigten Dilthey die Notwendigkeit zentraler Literaturarchive, die nicht zuletzt dann die in seinem Vortrag angeregten Arbeiten übernehmen sollten, die z.B. Dilthey selbst mit der Herausgabe von zwei Bänden der Briefe Schleiermachers (1861/63) und sein Schüler Herman Nohl mit der Edition der theologischen Jugendschriften Hegels (1907) leisteten. Auch als Vorsitzender der Kommission der Berliner Akademie der Wissenschaften für die Vorbereitung der Kant-Ausgabe der Akademie konnte Dilthey seine Intentionen vielfältig fördern; er hat auch immer wieder Briefe und Akten publiziert, um Beiträge zur Lösung strittiger Fragen zu liefern oder bei aktuellen Problemen den historischen Bezugsrahmen aufzuzeigen (Ein Brief A.W.Schlegels an Huber, 1861; Die Rostocker Kant-Handschriften, 1889/90; Ein Gutachten Wilhelm von Humboldts, 1899; Urkundliche Beiträge zu Herbarts praktischer pädagogischer Wirksamkeit, 1900; Drei Briefe Schleiermachers an Gaß, 1901). Um eine möglichst große Publizität seiner Anregungen zu erreichen, wählte Dilthey wohl als Publikationsort Rodenbergs ,Deutsche Rundschau', die unstreitig die deutsche Nationalrevue war, den ausländischen Vorbildern — Revue des deux mondes und Quarterly Review — durchaus ebenbürtig 4 0 . Julius Rodenberg hatte es sich als Herausgeber besonders angelegen sein lassen, wie Haacke im einzelnen nachweist, die hervorragendsten Vertreter der Wissenschaften und Künste, die in der Rundschau zu Wort kommen sollten, als Mitarbeiter zu gewinnen. In der Rundschau veröffentlichten u . a . G. Keller, C. F.Meyer, Storm und Fontane ihre Novellen zum erstenmal, neben Dilthey steuerten u. a. Herman Grimm und K. Hillebrand glänzende Essays bei, die bedeutendsten Germanisten der Zeit zählten zu den Autoren: Burdacb, Ermatinger, Heusler, Köster, R. M. Meyer, 45 Vgl. Diltheys Bemerkungen noch in seiner Aufsatzsammlung „Das Erlebnis und die Dichtung", 14. Aufl., Göttingen 1965, S. 318 ff. 4 · Vgl. Fritz Schlawe, Literarische Zeitschriften, Teil I: 1885—1910. (Slg. Metzler, Realienbücher für Germanisten, Abt. D) 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 9 ff., mit weiterer Literatur; Wilmont Haacke, Julius Rodenberg und die Deutsche Rundschau (Beiträge zur Publizistik, Bd. 2) Heidelberg 1950, bes. im Kap. 5, S. 154 f., über Diltheys geistesgeschichtliche Aufsätze; Harry Pross, Literatur und Politik. Geschichte und Programm der politischliterarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870. Olten/Freiburg i. Br. 1963, bes. S. 28 ff. „Die geglückte Nationalrevue", S. 149—152 das Programm der Rundschau; der dritte Herausgeber der Rundschau von 1919 bis 1961, Rudolf Pechel, gab einen Querschnitt durch die Rundschau in Form bedeutender Beiträge heraus: Deutsche Rundschau. Acht Jahrzehnte deutschen Geisteslebens. Hamburg 1961 (darin S. 261—272 Diltheys Abhandlung über Anna von Helmholtz).

XXIV

Einleitung

Seuffert, Stammler, Suphan, Walzel, Georg BrandesDilthey veröffentlichte in der Rundschau seinen Nachruf auf Wilhelm Scherer (1886), eines der wichtigsten Dokumente f ü r die Probleme der Grundlegung der Geisteswissenschaften nach dem Erscheinen seiner „Einleitung" von 1883; seine große Rezension der Literaturgeschichte seines Freundes Julian Schmidt (1887); seine grundlegende Abhandlung über die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892); die Abhandlung über Eduard Zellers Jugendjahre, die zugleich in Diltheys historische und theologisch-philosophische Studien über die Historische Schule einführen (1897); den Nachruf auf Anna von Helmholtz (1900), eines der Meisterwerke Diltheyscher Biographik, ein Paradigma der Verflechtung von äußerer und innerer Biographie, von Wissenschafts- und Geistesgeschichte wie sein späterer Nachruf auf Eduard Zeller; den Nachruf auf seinen Freund und Förderer Otto Ribbeck48, der in diesem Band erneut abgedruckt wird; schließlich in den Jahren 1900/1901 die drei großen Abhandlungen über die Berliner Akademie, die Aufklärung im Staate Friedrichs des Großen und — eines seiner zentralen Forschungsgebiete seit seinen ersten frühen Arbeiten über die deutschen Geschichtsschreiber, besonders Friedrich Christoph Schlosser — : Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt, ergänzt durch die Abhandlungen über die Anfänge der historischen Weltanschauung Niebuhrs (1911). In diesen letzten Jahren seiner Arbeit beschränkte Dilthey seine Publikationen fast ausschließlich auf die Sitzungsberichte und Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften und auf die Rundschau. II. Die Abhandlung über Schleiermacher aus dem Jahre 1859 war Diltheys erster größerer biographischer Versuch und zugleich sein erster Beitrag in ,Westermanns Monatsheften'. 1. Diltheys Essays in ,Westermanns Monatsheften'. Diltheys Beiträge in den Monatsheften gliedern sich in vier Abteilungen: die Portraits und biographischen Skizzen, die Literaturbriefe, die Literarischen Mitteilungen (zusammen mit einzelnen verstreuten Rezensionen) und die Rezensionen aus dem Bereich der darstellenden Kunst 4 9 . Die Monatshefte — ihr Programm wurde oben kurz ange-

47

Schlawe, a.a.O., S . U . Vgl. Julius Rodenberg, Die Begründung der „Deutschen Rundschau". Berlin 1899 (mit dem Programm der DR). — Eine Mitarbeiterliste findet sich bei: Walter Paetow, „Deutsche Rundschau" 1874—1899. Berlin 1899, S. 28—37. — Die im folgenden genannten Abhandlungen Diltheys finden sich fast alle in früheren Bänden der Ges. Schriften. 48 Otto Ribbeck war Dekan der Philos. Fakultät in Kiel, als Dilthey im Winter 1867/68 als Nachfolger von Friedrich Harms dorthin berufen wurde. Die Berufungsakten liegen im D Z A Merseburg, Rep. 76 V a, Sekt. 9, Tit. IV, Nr. 1, Bd. 1. Vgl. den Abschnitt „Philosophie" von Peter Rohs in: Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665—1965, Bd. 5, Teil 1, Neumünster 1969, bes. S. 68 f. — Die Akten zeigen, daß Dilthey ursprünglich an dritter Stelle hinter Überweg und Lazarus stand; beachtenswert ist das Dilthey unterstützende Gutachten der Theologischen Fakultät in Kiel. 4 ' Im einzelnen nachgewiesen in meiner „Bibliographie Wilhelm Dilthey", s. o. Anm. 1. Über die Monatshefte vgl. die Dissertation von Ebekircher, s.o. Anm.25.

Einleitung

XXV

deutet 5 0 — gehören mit der Deutschen Rundschau, den Grenzboten, den Preußischen Jahrbüchern (auf die unten einzugehen sein wird), der Gegenwart und der Deutschen Revue zu den großen Zeitschriften der zweiten H ä l f t e des neunzehnten Jahrhunderts, die bis weit in die erste H ä l f t e unseres Jahrhunderts erschienen und die literarische Bildung in Deutschland maßgeblich mitbestimmten. „Sie repräsentieren das Bildungsinteresse des oberen Bürgertums und verbanden demgemäß in charakteristischer Weise und mit Maß politischen Liberalismus mit kulturellem Konservatismus." 5 1 Adolf Glaser — mit Dilthey aus der gemeinsamen Berliner Studienzeit befreundet 6 2 — leitete die Monatshefte von 1856 (dem Gründungsjahr) bis 1878 und von 1884 bis 1907 5 3 . Ihm gelang es in ähnlicher Weise wie Rodenberg, Mitarbeiter zu gewinnen, deren Beiträge rasch den Ruf der Monatshefte begründeten: u.a. Herman Grimm, Riehl, Scheffel, Hebbel, Jensen, Rosegger. Vor allem Wilhelm Raabe und Theodor Storm veröffentlichten in den Monatsheften zahlreiche Erzählungen. Auerbach, Brehm, Curtius, Dahn, Fontane, Kl. Groth, Heyse, Macaulay, Schücking, Spielhagen, Julian Schmidt traten hinzu. So konnte der Verleger 1874 sagen: die Monatshefte „sind f ü r Deutschland genau dasselbe, was die Revues und Reviews f ü r andere Nationen sind, und ihre Mitarbeiter, die nach Hunderten zählen, repräsentieren die deutsche Belletristik u n d populär-wissenschaftliche Literatur in so vorzüglicher Weise, wie es in Deutschland überhaupt möglich ist." 54 Diltheys Arbeiten — pseudonym oder anonym erschienen — hatten an diesem Erfolg bedeutenden Anteil. Neben seinen Rezensionen sind es vor allem die biographischen Skizzen, die in den Monatsheften einen besonderen Akzent setzten. Sie bilden zugleich eine wichtige Vorarbeit f ü r seine selbständigen historischen Untersuchungen und Forschungen zum Problem der Grundlegung der Geisteswissenschaften. 2. Diltheys Biographiksi. Das Problem der Individuation ist das Kernproblem der Geisteswissenschaften und ihrer Methodologie. Dilthey ist über historischbiographische Forschung dieser Frage nachgegangen, das erste — und aufs Ganze gesehen — bedeutendste Ergebnis seiner Historiographie und Biographik sind seine Arbeiten über Schleiermacher.

M 51

S.o.S.XII.

Schlawe, a.a.O., S. 9. 52 Vgl. Der junge Dilthey, Brief Nr. 12, März 1854, S. 24. 53 Von 1878 bis 1884 waren Triedr'ub Spielhagen und Gustav Karpeles leitende Redakteure, vgl. die Einleitung zu Bd. X V I dieser Ausgabe. M Zitiert in: Hundert Jahre Georg Westermann Braunschweig. Braunschweig 1938, S. 96 (dort S. 95—104 über die Monatshefte). M Wenig ergiebig ist die Abhandlung von Joachim Müller, Dilthey und das Problem der historischen Biographie. In: Ardi. f. Kulturgesch. 23 (1932), S. 89—108. — Nützliche Literaturhinweise finden sich bei Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Probleme. Bern 1948, S. 103 ff., 141 ff.

Einleitung

XXVI

Bereits in seiner H e i d e l b e r g e r S t u d i e n z e i t h ö r t e er eine V o r l e s u n g ü b e r Schleiermachers D o g m a t i k (bei Schöberlein)5e u n d Neander

b e e i n f l u ß t e n Ulimann.

Lehrern

dem

auf

Τwesten),

Gebiet

der

u n d s t u d i e r t e bei d e m v o n

Theologie

er b e s c h ä f t i g t e sich m i t

Schleiermacher

I n B e r l i n u m g a b i h n in seinen a k a d e m i s c h e n die Schleiermacher-Schule

Rothe

und

Hengstenberg57.

(besonders

Neben

seinen

A r b e i t e n ü b e r d i e frühchristlichen Systeme, aus d e n e n sein A r t i k e l ü b e r M a r c i o n u n d d i e Gnosis e n t s t a n d , u n d d i e m i t t e l a l t e r l i c h e P h i l o s o p h i e sah D i l t h e y sich so f r ü h auf Schleiermacher

v e r w i e s e n 5 8 . D i e A r b e i t a n Schleiermachers P h i l o s o p h i e

u n d T h e o l o g i e ließ i h n bis z u seinem L e b e n s e n d e nicht m e h r los. I n s o f e r n ist dieses erste E r g e b n i s seiner A r b e i t e n v o n Interesse, w e n n D i l t h e y auch v o n diesem A u f s a t z — w i e ü b r i g e n s v o n allen seinen f r ü h e n p o p u l ä r e n A r b e i t e n — k e i n e h o h e M e i n u n g h a t t e : ein „schlechtes D i n g " , „solcher P l u n d e r " 5 9 . G l e i c h w o h l s t e h e n D i l t h e y s b i o g r a p h i s c h e A r b e i t e n u n t e r einem w e i t e r r e i c h e n d e n A n s p r u c h , d e n er in d e n V o r r e d e n z u m ersten B a n d seines Leben machers

Schleier-

( 1 8 6 7 / 1 8 7 0 ) f o r m u l i e r t e : „ E s gilt also d e n Z u s a m m e n h a n g i h r e r [sc. d e r

f r ü h e r e n G e n e r a t i o n ] Lebensergebnisse m i t u n s r e n h e u t i g e n A u f g a b e n h e r z u s t e l l e n , d e m B l e i b e n d e n in i h n e n eine e r n e u t e W i r k u n g in d e r G e g e n w a r t z u schaffen. D i e K o n t i n u i t ä t u n s r e r geistigen E n t w i c k l u n g h ä n g t d a v o n a b , in welchem M a ß e uns d a s gelingt. M i t d e r eignen A r b e i t a n d e n wissenschaftlichen A u f g a b e n d e r G e g e n w a r t m u ß sich z u diesem E n d z w e c k geschichtliche F o r s c h u n g v e r b i n d e n . I m U m f a n g dieser u m f a s s e n d e n A u f g a b e liegt auch dies L e b e n Schleiermachers u n d seine Absicht."60

„Denn

in

dem

Verhältnis

des

Einzelnen

zu

der

Gesamtheit,

in

welcher er sich e n t w i c k e l t u n d a u f d i e er z u r ü c k w i r k t , liegt d e r S c h w e r p u n k t d e r B i o g r a p h i e w i e des L e b e n s selber; z u m a l a b e r die B i o g r a p h i e eines D e n k e r s o d e r K ü n s t l e r s h a t die g r o ß e geschichtliche F r a g e z u lösen, w i e g a n z z e r s t r e u t e E l e m e n t e d e r K u l t u r , welche d u r c h a l l g e m e i n e Z u s t ä n d e , gesellschaftliche u n d sittliche V o r a u s s e t z u n g e n , E i n w i r k u n g e n v o n V o r g ä n g e r n u n d Zeitgenossen gegeben sind, in d e r W e r k s t a t t des e i n z e l n e n Geistes v e r a r b e i t e t u n d z u e i n e m o r i g i n a l e n G a n z e n g e b i l d e t w e r d e n , d a s w i e d e r u m schöpferisch in d a s L e b e n d e r G e m e i n s c h a f t eingreift."

81

59 Diltheys Heidelberger Studienzeugnis (im Göttinger Dilthey-Nadilaß) weist folgende theologische akademische Lehrer aus: Ulimann, Umbreit, Schenkel, Schöberlein und Hundeshagen. 57 Vgl. Der junge Dilthey, passim. — In Breslau wurde Dilthey dann Nachfolger von Braniß, der ebenfalls in der Schleiermacher-Nachfolge steht. Braniß war Lehrer des Grafen Yorck. — Die Unterlagen zu Diltheys Berufung nach Breslau finden sidi im DZA Merseburg, Rep. 76 V a , Sekt. 4, Tit. 4. Dilthey stand auf der Berufungsliste an zweiter Stelle hinter Rudolf Haym. 58 Vgl. Der junge Dilthey, Brief Nr. 43, 13. 7.1859, S. 77; Tagebuch 1859, S. 90ff.; Brief Nr. 47, März 1860, S. 103; Brief Nr. 51, 18. 3. 1860, S. 110. 5 » Der junge Dilthey, Brief Nr. 36, März 1859, S. 62. w Vorwort zum ersten Halbband des ersten Bandes von Leben Schleiermachers, Berlin 1867, S.V. 61 Vorwort zur vollständigen Ausgabe des ersten Bandes von Leben Schleiermachers, Berlin 1870, S. I.

Einleitung

XXVII

Wie vollkommen Dilthey die Lösung dieser Aufgabe gelang, zeigt die Rezension des ersten Bandes des Leben

Schleiermachers

und Rudolf

Hayme2,

dessen Buch

über die Romantische Schule gleichzeitig erschienen war. Das Leben

Schleiermachers

begründete den R u h m des jungen Gelehrten, es leuchtete nach den Worten seines Freundes Ernst

von

Wildenbruch

„wie eine Aureole" über seinem Haupt® 3 .

D e r Zusammenhang von Individuellem und Generellem begründet das logische Problem der Geisteswissenschaften. Die Erfassung des Individuellen auf der Grundlage seiner Anthropologie und Strukturpsychologie in der Form der Biographie bedeutender historischer Persönlichkeiten erschien Dilthey als „die am meisten philosophische Form der Historie"

e4

. In der Biographie wird die Realität der

gesellschaftlich-geschichtlichen Welt erfaßt, ihre Strukturanalyse in den Systemen der Kultur und der äußeren Organisation der Gesellschaft hat in der Darstellung des Individuums als dem „Kreuzungspunkt" und bewegenden Zentrum dieser Systeme ihren Erfahrungshintergrund. In der Rezension der Raphael-Biographie seines Freundes Herman

GrimmK

schreibt Dilthey: „Wo der Biographie so mög-

lich wird, die Erforschung der Wechselwirkung eines großen Individuums mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen als Problem zu stellen: da ist sie an Bedeutung jeder anderen größten historischen Aufgabe gleich; da arbeitet sie durch die Einzeldarstellung jedesmal an der fortschreitenden Lösung einer der ersten und allgemeinsten Fragen der Geschichte: der Stellung der produktiven Individuen zu dem Volksgeiste, welchem sie angehören, der Zeit, in der sie emporkommen, der voraufgegangenen

Reihenfolge von Geschlechtern

und Leistungen, welche

die

Grundlage .ihrer Arbeit bilden." β β Wenn es Dilthey um eine Grundlegung der „moralisch-politischen

Wissenschaften",

der

„Wissenschaften

vom

handelnden

Menschen", ging, die Absicht seiner Forschungen in diesem Sinne eine „Kritik der

historischen

Vernunft"

war,

so

mußte

das

Zentrum

der

zu

leistenden

Forschungen auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, der Pädagogik, der Soziologie, Jurisprudenz, der Theologie usw. liegen. Das Handeln des Menschen im anthropologisch-soziologischen K o n t e x t und das dieses Handeln begleitende •2 In: Preußische Jahrbücher 26 (1870), S. 5 5 6 — 6 0 4 ; wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze. Berlin 1903, S. 355—407. Haym schrieb am 2 2 . 4 . 1 8 7 0 an seinen Freund Wilhelm Schräder: „Ich muß Dir also klagen, daß ich einen großen Schmerz darüber gehabt habe, daß Dilthey mir nun doch mit seinem ersten Bande Schleiermacher zuvorgekommen ist. Er hat zum Teil dasselbe Material gehabt und aus diesem Material vielfach gerade dasselbe mitgeteilt wie ich. Es ist fast, wie wenn wir Zwei über dasselbe Thema geschrieben hätten, und ich kann mir nicht verhehlen, daß bei ihm vieles reichlicher und besser ist als bei mir." In: Ausgewählter Briefwechsel Rudolf Hayms. Hrsg. v. Hans Rosenberg. (Deutsche Geschiditsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 27) Berlin/Leipzig 1930, Brief Nr. 225, S. 275. M Ernst von Wildenbruch, Wilhelm Dilthey. [Rede zu Diltheys 70. Geburtstag.] In: Ders., Gesammelte Werke, 16.Bd., Berlin 1924, S. 421. M Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), Ges. Sdir. V, S. 225.

« In: Schlesische Zeitung, Nr. 302 vom 2. 7. 1872, S. 1 ff.

M Eine ähnliche Stelle findet sich in Leben 1870), Ges. Sehr. X I V , 1, S. 26.

Schleiermachers,

2.Bd., l.Halbbd. (nach

XXVIII

Einleitung

Selbst- und Weltverständnis wird auf der Grundlage biographischer Forschung analysiert, da hier der unmittelbare Zusammenhang von individuellen Motiven und Antrieben, Idealen und Lebensplänen und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung gegeben ist. Damit stehen einerseits Psychologie und Anthropologie bei der Grundlegung der Geisteswissenschaften im Frühwerk, besonders in der „Einleitung" von 1883, im Vordergrund, und die „Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der Anthropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntnis ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, ein Höchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet." 67 Andererseits steht damit die Biographie auch zentral am Anfang der hermeneutischen Problematik der Grundlegung der Geisteswissenschaften im Spätwerk, besonders im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" und den vorbereitenden Studien dazu, sofern die Erfassung der geistigen Welt im Verhältnis von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen ihre größte Realität und Gewißheit in der Darstellung der Wirkungszusammenhänge von Ich und Welt in der Autobiographie und Biographie gewinnt: „Leben erfaßt hier Leben", wie Dilthey gelegentlich sagte. „Wie könnte man nun leugnen, daß die Biographie für das Verständnis des großen Zusammenhanges der geschichtlichen Welt von einer eminenten Bedeutung sei! Ist es doch eben das Verhältnis zwischen den Tiefen der menschlichen Natur und dem universalen Zusammenhang des ausgebreiteten historischen Lebens, das an jedem Punkt der Geschichte wirksam ist. Hier ist der ursprünglichste Zusammenhang zwischen dem Leben seihst und der Geschichte."68 Zugleich wird deutlich — und darin liegt der Fortschritt in der Erfassung der geistigen Welt im Spätwerk —, daß das Individuum nur partiell der geistigen Welt angehört, nur „Kreuzungspunkt" von Systemen ist, die allein aus dem Lebenszusammenhang des Individuums und seiner Verwirklichung und Darstellung nicht zureichend verstanden werden können. Auch hier stellt sich der Zusammenhang mit Diltheys frühen Arbeiten unmittelbar her. In den Tagebüchern heißt es im Jahre 1861 89 : „Aber zwischen diesen Gruppen der menschlichen Wesen [die durch .vielfache Bande der Wechselwirkung* verbunden sind] wirkt erregend, sie gegenseitig aufklärend und mit bedeutendem Inhalt versehend, die bewegte Atmosphäre geschichtlichen Seins. Zwischen den kräftigen Gestalten und Gruppen, wie sie, mit Antrieben und Strebungen, ihrer inneren Natur und ihren Verhältnissen entsprungen, die Erde füllen, walten die regsamen Kräfte aller Geister, die je wahrhaft gelebt haben. Wunderbar, wie sie, wehrlos gegen den Anprall des Lebens, doch das gegenwärtige Leben beherrschen, bildsam und doch mit unsäg' 7 Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), Ges. Sehr. I, S. 33. 118 Aufbau der Geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Plan der Fortsetzung (1910/11), Ges. Sdir. VII, S. 247. OT Der junge Dilthey, S. 143.

Einleitung

XXIX

lieber Zähigkeit überraschen Versuchen widerstreben." Das bedeutet, daß in der Erkenntnis universalhistorischer Zusammenhänge der geistigen Welt die „festen Beziehungen in der Selbstbiographie schwinden" 7 0 , und d a ß „neue Kategorien, Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben selbst nicht aufgehen"n, gefunden werden müssen. Aber audi diese Forschungen bleiben zurückgebunden an individualpsychologische, anthropologische und biographische Untersuchungen, ohne die die Vermittlung der geistigen Welt mit der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gelingen könnte. Diese Vermittlung — in der Weise der biographischen Historiographie und der „Studien zur Geschichte des deutschen Geistes", die die Arbeiten am „ A u f b a u " begleiten — zwischen dem Individualleben und der geistigen Welt im universalgeschichtlichen Sinne, leistete Dilthey in seinen biographischen Studien, die das Korrelat zu seinen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Erörterungen bilden. Dies begründet die Bedeutung der hier wiederabgedruckten Portraits und biographischen Skizzen f ü r das Verständnis der theoretischen Arbeiten zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. I I I . Dilthey nahm in den Jahren seines ersten Berliner Aufenthaltes regen Anteil am politischen Geschehen der liberalen Strömungen in der Neuen Ä r a Preußens 7 2 . Er gehörte zum linken Flügel der Liberalen und lebte in regem persönlichem Umgang und Gedankenaustausch mit den politischen Führern und Publizisten der Fortschrittlichen und (National-)Liberalen: Haym, J.Schmidt, Wehrenpfennig, H. Baumgarten, F. Duncker, Häusser, Bennigsen, Treitschke, Droysen u . a . 7 3 . Rudolf Haym gehörte bereits zum Paulskirchen-Parlament von 1848 und war 1866/67 als Mitglied des preußischen Landtags einer der Mitbegründer der nationalliberalen Partei. 1858 gründete er die Preußischen Jahrbücher, die er bis 1864 als Herausgeber betreute 7 4 . Sein Nachfolger wurde Wilhelm Wehrenpfennig, der die Jahrbücher, zusammen mit Heinrich von Treitschke seit 1867 7S , bis 1883 leitete. Wehrenpfennig w a r 1859 bis 1862 Leiter des Literarischen Büros im preußischen Staatsministerium gewesen, gehörte zu den führenden Mitgliedern der nationalliberalen Rechten und w a r seit 1879 im preußischen Unterrichts70

Aufbau, Plan der Forts. (1910/11), Ges. Sehr. VII, S. 252. Ebd. S. 251. 12 Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung. l . B d . : Die Sturmjahre der preußischen Einigung 1859—1870. Hrsg. v. Julius Heyderboff. Bonn/ Leipzig 1925 (darin ein Brief Diltheys an Hermann Baumgarten S. 89 f.). Vgl. audi von Heyderhof}, Rudolf H a y m und Karl Twesten. Ein Briefwechsel über positive Philosophie und Fortschrittspolitik 1859—1863. In: Preuß. Jbb. 161 (1915), S.232—256. — Zur Historiographie: Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859—1959. Hrsg. v. Theodor Schieder. ( = H Z Bd. 189) München 1959, bes. die Abh. von Scbieder, S. 1 ff. ,s Vgl. Der junge Dilthey, passim. 74 Vgl. Diltheys Briefe an Rudolf Haym 1861—1873. Mitgeteilt von Erich Weniger. (Abh. d. preuß. Akademie d. Wissenschaften, 9. Jg., Berlin 1936, phil.-hist. Kl., Nr. 9.) Weitere Angaben s. u. Anm. 90 ff. 75 Vgl. Ernst Leipprand, Heinrich von Treitschke im deutschen Geistesleben des ^ . J a h r hunderts. Stuttgart 1935. 71

XXX

Einleitung

ministerium tätig. Julian Schmidt hatte von 1848 bis 1860 zusammen mit Gustav Freytag die Grenzboten, ebenfalls ein liberales Organ des höheren Bürgertums, redigiert; f ü r die letzten Jahrgänge war er leitender Redakteur der Berliner Allgemeinen Zeitung, eines der kurzlebigen Blätter des Liberalismus während der Neuen Ära Preußens 7e . Ludwig Η ausser, neben Schlosser und Gervinus Historiker in Heidelberg, gehörte zum Aussdhuß des 1859 gegründeten Deutschen Nationalvereins (einer Honoratiorenvereinigung zur Förderung der nationalstaatlichen Einheit des Reidies), dessen Vorsitzender, Rudolf von Bennigsen (1842—1902), später zeitweise audi Führer der Nationalliberalen im Reichstag w a r 7 7 . Dilthey erwähnt die Teilnahme an einem Festessen des Ausschusses des Nationalvereins am 11. 3. 1860 in seinem Brief an den Vater vom 12. 3. I86 0 78 . In diesen Kreisen traf Dilthey auch Franz Duncker — den Bruder des Historikers Max Duncker —, den Mitbegründer des Nationalvereins und der Fortschrittspartei, Max Weber, Vater des Heidelberger Soziologen, damals Redakteur des Preußischen "Wochenblatts. Dilthey empfing von hier seine Impulse zur Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung Sybels, Giesebrechts, Droysens, Häussers, Macaulays, Buckles u. a. m., die er in den Preußischen Jahrbüchern, der Preußischen Zeitung, der Nationalzeitung, der Berliner Allgemeinen Zeitung und in Westermanns Monatsheften veröffentlichte. Seine Erinnerungen an deutsche Geschichtsschreiber in der geplanten Sammlung „Zeitgenossen" 79 skizzieren die Wendung der deutschen und preußischen Politik und die damit verbundene Neuorientierung der politischen Geschichtsschreibung. Der geistesgeschichtliche Zusammenhang mit der ersten nationalen politischen Bewegung in Deutschland und der damit verbundenen Geschichtsschreibung der Historischen Schule sollte in einer Folge von Aufsätzen f ü r die Preußischen Jahrbücher hergestellt werden; die Abhandlungen erschienen dann unter dem Titel „Deutsche Geschichtsschreiber" in Westermanns Monatsheften. Der Aufsatz über Schlosser, der in der Nationalzeitung und in den Preußischen Jahrbüchern erschien, ist f ü r Diltheys Staats- und Geschichtsauffassung in dieser Phase seiner politischen Publizistik besonders aufschlußreich 80 . Er charakterisiert zugleich die Zeitschrift, in der er erschien. IV. Im Gegensatz zu Westermanns Monatsheften, die sich als bewußt unpolitisches Blatt fast ausschließlich den kulturellen Interessen des Bürgertums zuwandten, wurden die Preußischen Jahrbücher als politisches Organ der Liberalen und Liberal-Nationalen konzipiert und standen damit der Historischen Zeitschrift nahe, die 1858/59 unter der Leitung Heinrich von Sybels ins Leben trat. Die ersten entscheidenden Herausgeber und Publizisten waren Haym, Wehrenpfennig und 76 Dazu in der Einleitung zum nächsten Band dieser Ausgabe, der die Zeitungsartikel bringen wird. Uber Julian Schmidt vgl. Diltheys Rezension von Schmidts Literaturgeschichte in der Deutschen Rundschau 52 (1887), jetzt Ges. Sehr. XI, S. 232 ff. 77 Vgl. Karl Twestens Gründungsentwurf der nationalliberalen Partei bei Heyderhoff, a.a.O., S. 500 ff. 78 Der junge Dilthey, S. 108—110. 79 Von Erich Weniger aus dem Nadilaß hrsg. in Ges. Sdir. XI, S. 215 ff. 80 Vgl. Westphal, a.a.O., S. 236 ff., 248 ff., 278 ff.

Einleitung die die Jahrbücher

Treitschke,

XXXI

zu einem festen B e s t a n d t e i l der politischen P u b l i -

zistik in der z w e i t e n H ä l f t e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s machten. D a z u trugen auch diejenigen M i t a r b e i t e r bei, die als H i s t o r i k e r o h n e h i n der historisch-politischen P u b l i z i s t i k n a h e s t a n d e n wie z u m Beispiel Max Bernhard Ludwig

Häusser

Duncker,

Theodor

in H e i d e l b e r g und Georg

Waitz

von

Mohl

Bernhardt,

D. F. Strauß, Eduard

und Gustav

von

Schmoller

Baumgarten,

in G ö t t i n g e n . B e d e u t e n d e V e r -

t r e t e r ihrer D i s z i p l i n e n unter den A u t o r e n der Jahrbücher

und L. Friedländer,

von

(ein S t u d i e n f r e u n d D i l t h e y s ) , Hermann

Erdmannsdörffer

w a r e n A.

Zeller und Christoph

Springer

Sigwart,

Robert

(der bedeutendste V e r t r e t e r der j ü n g e r e n

historischen Schule der N a t i o n a l ö k o n o m i e 8 1 ) 8 2 . D a s erste H e f t der Jahrbücher B e g r ü n d u n g der Jahrbücher

erschien im J a n u a r 1 8 5 8 . I n Hayms

Aufruf zur

v o m 1. M a i 1 8 5 7 h i e ß e s 8 3 : „ D i e k o n s t i t u t i o n e l l e und

n a t i o n a l e P a r t e i in P r e u ß e n e n t b e h r t augenblicklich eines O r g a n s f ü r den A u s druck ihrer Gesinnung, i h r e r Ansichten und Bestrebungen . . . Es w i r d die A u f g a b e dieser Monatsschrift sein, die G e g e n w a r t des deutschen Lebens, die E n t w i c k l u n g desselben aus den B e d i n g u n g e n unserer V e r g a n g e n h e i t , im H i n b l i c k a u f die Ziele der Z u k u n f t t e i l n e h m e n d und b e w u ß t zu b e g l e i t e n . " S o w i r d sowohl die politische E i n s t e l l u n g der Zeitschrift deutlich als audi ihre Absicht, aus dem

historischen

B e w u ß t s e i n der „ B e d i n g u n g e n unserer V e r g a n g e n h e i t " heraus t ä t i g in das p o l i tische L e b e n der G e g e n w a r t einzugreifen. H i e r zeigt sich die enge V e r k n ü p f u n g v o n Geschichte und P o l i t i k , die V e r b i n d u n g v o n V e r g a n g e n h e i t , G e g e n w a r t und Zukunft, die f ü r die H i s t o r i o g r a p h i e dieser Z e i t in ihren h e r v o r r a g e n d e n

Ver-

tretern kennzeichnend i s t 8 4 . D i e s e r I m p u l s z u r politischen P r a x i s — ähnlich wie der I m p u l s zur „ B i l d u n g durch Wissenschaft" im P r o g r a m m der M o n a t s h e f t e



h a t a b e r auch hier Wissenschaft z u r V o r a u s s e t z u n g und bildet in D i l t h e y s E n t w u r f einer G r u n d l e g u n g der „moralisch-politischen W i s s e n s c h a f t e n " , den „Wissenschaften v o m

handelnden

M e n s c h e n " , im historisch-systematischen

Verfahren

wissenschafts- und geistesgeschiditlichen S t u d i e n eine entscheidende

seiner

Komponente.

W i e sehr D i l t h e y d a m i t auch T e n d e n z e n seiner F r e u n d e und Zeitgenossen aufgreift, zeigt ein Rundschreiben Hayms bücher:

v o n O k t o b e r 1 8 5 7 an die M i t a r b e i t e r der

E i n O r g a n wie die Jahrbücher

Jahr-

„ m u ß sich a u f den B o d e n der Wissenschaft

stellen, j e n e r lebendigen Wissenschaft, welche gleich w e i t v o n t o t a l e r G e l e h r s a m keit w i e v o n übersichtiger S p e k u l a t i o n e n t f e r n t ist. D i e deutsche Wissenschaft h a t gegenwärtig

das u n v e r k e n n b a r e

Bestreben,

sich dem G e s a m t l e b e n

der

Nation

n ä h e r zu befreunden und den Bedürfnissen desselben e n t g e g e n z u k o m m e n . Sie f ü h l t , d a ß d o r t die W u r z e l n ihrer K r a f t liegen und d a ß sie dorthin befruchtend zurückVgl. Ges. Sehr. X I , S. 254—258. Vgl. Westphal, a.a.O., S. 52—96: Die Mitarbeiter. 83 Bei Westphal, a.a.O., S. 307—309. 84 Vgl. dazu die paradigmatisdie Untersuchung über Droysen von Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens. (Diss. phil. Köln 1966) Paderborn 1969; für den Zusammenhang von „Zeitgeschehen und Geschiditsdireibung" im 19. Jahrhundert vgl. die Abh. dieses Titels von Fritz Ernst, in: Welt als Geschichte 17 (1957), S. 137—189. 81

82

XXXII

Einleitung

wirken muß. Ihre vorwiegend geschichtliche Haltung, ihr Sinn für das Tatsächliche und Wirkliche, ihr Bemühen um allgemeine Verständlichkeit macht sie zur natürlichen Bundesgenossin derjenigen, welche eine vernünftige und sittliche Entwicklung unserer praktischen Verhältnisse anstreben. Ihr Pathos ist nicht verschieden von dem praktischen und nationalen Pathos. Ihre Interessen lebendig und ununterbrochen mit der Bewegung der Zeit zu verknüpfen, ist eine Aufgabe, die um so ausführbarer erscheint, je mehr die politischen Parteien ihren Streit unter sich beizulegen und zu dem einen Ziel des Fortschritts und der nationalen Wohlfahrt zusammen zu wirken angefangen haben. Der Lösung dieser Aufgabe soll die neue Zeitschrift gewidmet sein. Sie will dem Leben dienen, indem sie der lebendigen Wissenschaft dient." 85 In diesem Zusammenhang müssen auch Diltheys Beiträge zu den Preußischen Jahrbüchern verstanden werden, in denen sich — besonders im Schlosser und in der Abhandlung über Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (1862) — in Diltheys Geschichtschreibung seine Orientierung im Sinne dieses von Haym skizzierten Programms der Jahrbücher ausdrückt, die man noch bis zur Jahrhundertwende in Diltheys pädagogischen Schriften weiterverfolgen kann 8 8 . Dilthey begrüßte das Erscheinen der Jahrbücher lebhaft, in ihnen findet für ihn „dieser Zusammenhang der Politik [der Liberalen] mit den allgemeinen geistigen Bewegungen und mit den der Politik benachbarten Wissenschaften, der Staatswissenschaft und Geschichte, seinen Ausdruck" 87 . Für ihn sind die Jahrbücher damals „denn doch die vornehmste deutsche Zeitschrift" 88 , an deren Entwicklung er lebhaften Anteil nahm. Es bestand sogar die Absicht, ihn zum Mitredakteur zu machen 8e . Dazu kam es auf Grund der Belastungen durch seine zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten jedoch nicht, aber er blieb mit dem Herausgeber Haym weiterhin in einem freundschaftlichen Verhältnis. Rudolf Haym war in diesem Berliner Kreise der Liberalen einer der großen alten Männer des deutschen Liberalismus 90 . Dilthey erinnert sich um 1900 noch lebhaft an seine frühen Begegnungen mit Haym und die Zusammenarbeit für die 85

Westphal, a.a.O., S. 310 f. Vgl. dazu auch Hermann Lübbering, Politik und Pädagogik bei Wilhelm Dilthey. Diss. phil. (masdi.schr.) Frankfurt 1953. 87 Ges. Sehr. XII, S. 123 aus Diltheys Anzeige der Jahrbücher in der Allg. Preußischen (Stern) Zeitung 1861; vgl. audi die „Bibliographie Wilhelm Dilthey" für 1861/62 mit den vollständigen Nachweisen. 88 Der junge Dilthey, Brief Nr. 68, 23. 11.1861, S.166. 8 · Ebd., Brief Nr. 74, November 1862, S. 179: „Bei einem neulichen Circular von Häußer-Sybel — worüber völlig Schweigen natürlich bitte — über die Preußischen Jahrbücher, das Haym, Wehrenpfennig und ich bekamen — ich qua möglicher künftiger Mitredakteur, falls ich nämlidi Zeit habe." Dilthey trat dann in die Redaktion der Jahrbücher nicht ein, da er sich ein Augenleiden zugezogen hatte, seine Arbeiten zur Philosophie des 10. und 11. Jahrhunderts nicht fortsetzen konnte und daher einen neuen Ansatz seiner Arbeiten bewältigen mußte (vgl: Brief an Haym vom Frühjahr 1863, mitgeteilt bei Erich Weniger [Abhh. d. preuß. Ak. d. Wiss., Jg. 1936, Nr. 9, Brief Nr. 11, S . 2 7 f . ] ) . Vgl. Hans Rosenberg, Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus. (Beiheft 31 der Histor. Zeitschrift) München/Berlin 1933. 88

Einleitung

XXXIII

Jahrbücher91: M a n traf sich im Kreise mit Max Duncker, Droyscn, Hausser und Treitschke zum politischen Gespräch, oder „wir f a n d e n uns in dem stillen Arbeitszimmer von Julian Schmidt, die W ä n d e gefüllt mit zierlichen Dichterbänden, durch die großen runden Brillengläser blickten in dem mächtigen H a u p t treuherzige schalkhafte Augen: der lieber zuhörte als sprach, u n d wenn er sprach, so k n a p p und so kurz. O d e r ich sehe Sie [ H a y m ] in meinem Studierzimmer, wo Sie Ihres Amtes als R e d a k t e u r der Jahrbücher walten, besonders gedenke ich eines harten Vormittags, wo Sie mein übermäßig angeschwollenes Manuskript über Schlosscr mir zusammenstrichen, um es dem R a u m der Jahrbücher anzupassen. Schere und Bleistift des Redakteurs der Jahrbücher waren in ganz Deutschland gefürchtet." Sein Briefwechsel mit Haym aus den Jahren 1861 bis 1873 n 3 zeigt die N ä h e der gemeinsamen politischen Überzeugungen, aber auch das Trennende, worauf schon Erich Weniger in seiner Einleitung z u m Briefwechsel hingewiesen h a t 0 4 . Der Kontakt zu Haym ließ sich nicht intensivieren, da Dilthey nicht in die Redaktion der Jahrbücher eintreten konnte und — nachdem Haym 1866 Reichtagsabgeordneter geworden w a r — 1867 von Berlin nach Basel überwechselte. Persönliche Verstimmungen waren sicherlich nicht eingetreten 9 5 , aber Diltheys Annäherung an die politische Linie Bismarcks in der Breslauer Zeit wird eine E n t f r e m d u n g von H a y m befördert haben; Diltheys Interesse an politischen Tagesfragen ließ schließlich mehr und mehr nach. H ö h e p u n k t der Freundschaft zwischen Dilthey und Haym w a r eine gemeinsame Reise in die Schweiz u n d nach Oberitalien im August 1863 gewesen. Dilthey m u ß t e diese Reise unternehmen, um sein Augenleiden auszuheilen und um sich zu erholen. Haym berichtet in seiner Autobiographie „Aus meinem Leben" von dem Eindruck, den Dilthey damals auf ihn machte: „Sowohl über die politischen Dinge, wie über literarische u n d philosophische Fragen hatte der geistreiche Freund immer seinen eigenen Gesichtswinkel, von dem sie sich neu und anders darstellten, als ich sie bisher gesehen; Dinge und Menschen nahmen bei ihm, so schicn es mir, die Farbe eines reizbaren Gefühls oder einer Stimmung an und verzogen sich dadurch gelegentlich ins Paradoxe, wogegen ich d a n n die einfachere Ansicht des nüchternen Verstandes zu vertreten u n d mich mit skeptischen Gegenbetrachtungen zu wehren h a t t e . " " In dieser Charakterisierung werden die Konturen des späteren Schleiermacher-Biographen und des sensiblen Psychologen, Literaturinterpreten, Geistesgeschichtlers deutlich — k a u m eines Mannes der Tagespolitik und des ParteiEngagements. U n d doch ist der Hinweis auf Diltheys enge Beziehungen zu Rudolf Haym und zu den Politikern der Neuen Ära mehr als eine Marginalie in der Biographie des jungen Dilthey. Leonhard von Renthe-Fink hat darauf hingewiesen, d a ß das sich bei Dilthey und Yorck entfaltende Geschichtsbewußtsein „gemeinsame Anschau" Vgl. das v o n Weniger mitgeteilte N a d i l a ß - M a n u s k r i p t ü b e r Rudolf Haym Sehr. X I , S. 2 2 4 — 2 2 6 . E b d . , S. 225. ·> S. o. A n m . 75. »4 A . a . O . , S. 5 f. 05 Vgl. D i l t h e y s B r i e f e an Haym 1867 u n d 1873, bei Weniger a.a.O., S. 32 ff. 80 Rudolf Haym, A u s meinem Leben. Berlin 1902, S. 2S3 f.

in Ges.

XXXIV

Einleitung

ung" einer ganzen Generation ist 9 7 . Demgemäß muß gerade für Diltheys Forschungen zur Geschichte der Geisteswissenschaften im neunzehnten Jahrhundert, seine Auseinandersetzungen mit der Romantik, mit Hegel und der Historischen Schule, schließlich f ü r den historisch-politischen Ansatz seiner Theorie der Geisteswissenschaften und die Bemühungen um eine historisch wirksame, auf Gestaltung der Zukunft drängende Vermittlung von Theorie und Praxis in den Geisteswissenschaften als den Wissenschaften der menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Welt — also den im weiteren Sinne ,Handlungs'- und Sozialwissenschaften — der Zusammenhang mit den wissenschaftlichen und politischen Einflüssen und Impulsen in Diltheys frühen Berliner Jahren, der Zeit der Formulierung seiner Konzeption einer „Kritik der historischen Vernunft", präsent gehalten werden. V. In der Nationalzeitung veröffentlichte Dilthey nur einige wenige Aufsätze, darunter seinen Schlosser-Aufsatz von 1861/62. Die Nationalzeitung war ursprünglich ein liberal-radikales Blatt, dann in der Neuen Ära liberal-konservativ und mit der Fortschrittspartei durch Franz Duncker als Verwaltungsratsmitglied der Nationalzeitung verbunden® 8 . Politischen Rückhalt fand die Zeitung in der Neuen Ära bei der am 9. Juni 1861 gegründeten Fortschrittspartei, die der Zeitung ihr liberales Gepräge gab. Diese Partei war von Friedrich Zabel mitbegründet worden; er war zugleich von der Gründung der Nationalzeitung im Jahre 1848 bis zu seinem Tode 1875 erster Chefredakteur des Blattes. Zabel, geboren 1802, hatte Geschichte und Philosophie studiert und gehörte als Theologiestudent in Berlin zu den H ö r e r n Schleiermachers**. Sein Nachfolger (bis 1890) als Chefredakteur w a r der nationalliberale Führer der hessischen Fortschrittspartei und Reichstagsabgeordnete Friedrich Dernburg10°. Einer der späteren Redakteure, Karl Frenzel, Korrespondent f ü r Kultur- und Kunstangelegenheiten in Wien und Berlin 1 0 1 , war der Adressat der Diltheyschen Abhandlung über „Schulreform und Schulstuben", die in der Nationalzeitung zusammen mit weiteren Aufsätzen zur Schulkonferenz von 1890 erscheinen sollte 102 . Der schulpolitische Tenor dieser Abhandlung wird noch deutlicher, wenn man ihn auf dem Hintergrund der nationalliberalen H a l t u n g sieht, die auch die Zeitung, f ü r die er bestimmt war, vertrat, wenn auch weitaus gemäßigter, „zahm", als Dilthey selbst 103 . Dieser Aufsatz — wie die übrigen geplanten — erschien dann doch nicht in der

Nationalzeitung.

" Leonhard von Renthe-Fink, Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck. (Abhh. d. Ak. d. Wiss. in Göttingen, phil.histor. KL, 3. Folge, Nr. 59) 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 57; dort S. 62—67: Die Beziehungen zwischen Haym und Dilthey. Über die Nationalzeitung vgl. Kurt Koszyk, op. cit.; Ernst Gerhard Friehe, Die Geschichte der Berliner Nationalzeitung in den Jahren 1848 bis 1878. (Wesen der Zeitung, Bd. 2, 4) (Diss. phil. Leipzig 1933) Leipzig 1933; Walter Lotze, Das Feuilleton der Nationalzeitung von 1848 bis 1910. (Diss. phil. Leipzig) Würzburg 1933 (Teildruck). 1M · · Vgl. Friehe, a.a.O., S. 200 ff. Ebd., S. 207 f. 101 Vgl. vor allem die Arbeit von Lotze und die Schrift: Zur Erinnerung an die 25jährige Tätigkeit des Herrn Dr. Karl Frenzel in der Redaction der „Nationalzeitung". Berlin 1886. 102 Vgl. Ges. Sehr. VI, S. 307. "" Vgl. Briefwechsel mit Yorck, Brief Nr. 78, Dezember 1890, S. 114 ff.

Einleitung

XXXV

Dilthey veröffentlichte hier nur noch im Jahre 1904 seinen Nachruf auf Zeller.

Emilie

VI. Diltheys religionsphilosophische Arbeiten liegen noch unausgewertet im Berliner Nachlaß. So können die biographischen Daten und die wenigen theologischen bzw. religionsphilosophischen Veröffentlichungen nur einen unzureichenden Einblick in Diltheys Theologie gewähren. Dilthey begann seine Studien als Theologe in Heidelberg und Berlin und durchlief dann den für die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts so charakteristischen geistigen Werdegang, den viele bedeutende Denker des neunzehnten Jahrhunderts mit ihm gemeinsam haben: von der Theologie zur Philosophie und von der Philosophie zur allgemeinen Geistesgesdiichte, Geschichtsforschung, Literatur und Ästhetik, zur Weltanschauungsanalyse und allgemeinen Wissenschaftslehre. Im Zusammenhang mit der ersten Abhandlung über Schleiermacher wurde bereits auf die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge mit der Theologie des neunzehnten Jahrhunderts verwiesen, Dilthey selbst charakterisiert sie in der — soweit sich übersehen läßt — ersten zusammenhängenden Darstellung seiner Studien in folgender Weise 1 0 4 : „Curriculum

vitae des Candidateη

der Theologie,

Wilhelm

Dilthey

Geboren zu Biebrich den 19. November 1833, besuchte ich das dortige [Erziehungs-] Institut bis zu meinem 13. Jahre, in welchem ich in die Q u a r t a des Gymnasiums zu Wiesbaden überging. Nachdem ich daselbst den vorgeschriebenen Cursus vollendet hatte, besuchte ich die Universität zu Heidelberg, um Theologie zu studieren. Eine früh erwachsene Neigung zog mich dort zur Philosophie hin. Während eines anderthalbjährigen Aufenthaltes machte ich mich dort neben den exegetischen und historischen Anfängen des theologischen Studiums mit den Hauptsystemen der Philosophie bekannt, vorzüglich mit der Hegelsdnen und den Elementen der Schleiermachersdien. Die wichtigsten theologischen Collegien betrafen die Psalmen und Jesaja, die Synopse und die kleineren paulinisdien BrieTe, Kirchengeschichte und Geschichte der neueren Theologie. Von da ging ich nach Berlin über. Für die Philosophie Schloß ich mich daselbst in Collegien und im persönlichen Umgange an H e r r n Prof. Trendelenburg an. Ich begann, midi mit der alten Philosophie, besonders mit Aristoteles eingehender zu beschäftigen. Es schlossen sich philologische Studien daran, angeregt durch die herrlichen Vorlesungen des H e r r n Prof. Böckh über die Rede des Demosthenes vom Kranze. Aber schon im Verlaufe meines ersten Semesters auf der hiesigen Universität begann mein Interesse, angeregt durch die Vorlesungen der hiesigen Professoren, vorzüglich aber durch die theologische Persönlichkeit des H e r r n Prof. Nitzsch, sich ganz der Theologie zuzuwenden. Es waren zunächst kritische Untersuchungen 104 H a n d s c h r i f t l i c h in d e n P r ü f u n g s a k t e n im Z e n t r a l a r c h i v der K i r c h e n l e i t u n g der E v a n gelischen Kirche in Hessen u n d N a s s a u , B e s t a n d 3, A k t e n b a n d 3/19. D e r Lebenslauf D i l theys ist seiner M e i n u n g z u m ersten theologischen (landeskirchlichen) E x a m e n v o m 27. 2 1855 b e i g e f ü g t .

Einleitung

XXXVI

und die Vorlesungen über die E t h i k , die mich in Anspruch n a h m e n . D i e letzteren h ö r t e ich in den zwei ersten Semestern bei H e r r n P r o f . Twesten P r o f . Nitzsch,

und bei H e r r n

d a n e b e n Vorlesungen über biblische T h e o l o g i e , über die K o r i n t h e r -

briefe, Geschichte des kirchlichen Lebens, S y m b o l i k usw. Z u dem U r s p r u n g der hiesigen T h e o l o g i e zurückgeführt, f a n d ich in Schlciermacber

meinen wissenschaft-

lichen F ü h r e r . U n d hier gelangte ich nun zu der inneren R u h e , die es möglich machte, meinen Studien m e h r O r d n u n g zu geben, und auch das Historische in sein R e c h t eintreten ließ. —

S o w a r es in der letzten Z e i t besonders die K i r c h e n -

geschichte, die mich in ausführlicheren D a r s t e l l u n g e n einzelner T e i l e vorzugsweise beschäftigte. — Es wird schon aus diesen A n d e u t u n g e n genugsam

hervorgehen,

wie ich in meinen Studien m e h r von dem D r a n g persönlicher B e d ü r f n i s s e als v o n einem regelmäßigen und allseitigen P l a n e geleitet w o r d e n bin — ein Ü b e l s t a n d freilich, dem die meisten J ü n g e r e n , die nicht o h n e D r a n g nach W a h r h e i t a u f die U n i v e r s i t ä t übergehen, unter den gegenwärtigen V e r h ä l t n i s s e n nur durch besonderes Glück entgehen w e r d e n . " D i e B e t r a c h t u n g weiterer biographischer Zeugnisse w i r d zeigen, d a ß

Dilthey

in dieser D a r s t e l l u n g seiner S t u d i e n und ihrer S c h w e r p u n k t e durchaus den A d r e s saten — die Kirchenleitung — im Auge h a t t e und d a ß seine wirklichen Interessen in W a h r h e i t auf ganz a n d e r e n G e b i e t e n lagen. D i l t h e y s V a t e r ,

Kirchenrat

in

Biebrich und hessen-nassauischer H o f p r e d i g e r , h a t t e w o h l gewünscht, seinen S o h n im kirchlichen D i e n s t zu sehen, nachdcm dieser ein glänzendes E x a m e n

abgelegt

h a t t e 1 0 5 . A b e r w e d e r f ü r das P f a r r a m t noch f ü r den Schuldienst k o n n t e D i l t h e y sich begeistern, er entschloß sich — nach der S c h u l a m t s p r ü f u n g im H e r b s t

1856

und k u r z e r L e h r t ä t i g k e i t am Französischen und a m Joachimsthalschen G y m n a s i u m in B e r l i n bis zum H e r b s t 18 5 7 1 0 0 — zur U n i v e r s i t ä t s l a u f b a h n und p l a n t e P r o m o tion und H a b i l i t a t i o n in der T h e o l o g i e an der B e r l i n e r U n i v e r s i t ä t . S e i n e t h e o l o gischen Studien, v o n denen er i m m e r wieder an den V a t e r b e r i c h t e t e 1 0 7 , setzte er entschieden und m i t k l a r e m sachlichem und methodischem K o n z e p t f o r t : „ A u f der G r e n z e zwischen der griechisch-römischen W e l t und der mittelalterlich-christlichen e n t s t a n d e n Systeme, D a r s t e l l u n g e n

des Z u s a m m e n h a n g s der W e l t , die

dasselbe

versuchen, was auch noch unsre A u f g a b e ist, das römisch-griechische L e b e n

und

D e n k e n zu verbinden und v e r m i t t e l n mit dem christlichen. Zunächst m i t einem dieser philosophischen

Systeme,

die bis j e t z t z w a r u n z ä h l i g e M a l e

dargestellt

w o r d e n sind, a b e r fast noch gar nicht m i t philosophischem Geiste, beschäftige ich mich nun, h a b e schon sehr vieles d a f ü r gelesen und denke h i e r schon ein Bruchstück zu schreiben, w o r a u s ich dann w o h l auch eine D o k t o r a r b e i t m a c h e . " 1 0 8

Dilthey

105 Die Niederschrift des Prüfungsergebnisses befindet sich bei den Anm. genannten Akten. Vgl. auch die lobende Äußerung des prüfenden Kirclienrates Schultz an die Eltern, in: Laura Kocpp, Die Familie Dilthey. Wiesbaden o. J., S. 25. l o e Vgl. Der junge Dilthey, S . 3 0 4 ; s. o. S . X I I . 107 Vgl. ebd., Brief Nr. 4, 22. 11. 1S53, S. 10; Nr. 8, Februar 1S54, S . 1 9 f . ; Nr. 10, 17. 3. 1854, S. 21 f.; Nr. 11, Frühjahr 1854, S. 23. 108 Ebd. Brief Nr. 25, Juli 1857, S. 41.

Einleitung

XXXVII

beschäftigte sich intensiv mit Platom und den Neuplatonikern n o , studierte Philo 111 und Origenes . 1860 ist er bereits mit seinen historischen Studien im Mittelalter und bei der Scholastik angelangt: „Sonst [neben dem Briefwechsel Schleiermachers] arbeite ich die erste Periode der Scholastik durch und werde daraus auch wahrscheinlich meine Dissertation nehmen . . . Ich lasse daher die Geschichte der gnostischen Systeme, ihres Verhältnisses zum Neuplatonismus und Origines liegen und will hierüber zuerst schreiben." 112 Aber auch dieses Thema konnte ihn nicht mehr zufriedenstellen — er hatte sich vollends auf „den Weg der historischkritischen Untersuchung" begeben 1 1 3 konzipierte eine „neue Kritik der [historischen] Vernunft" 1 1 4 — eben im Zusammenhang mit der systematischen Analyse des Wesens der Religion und der Weltanschauung —, sah sich durch das Studium über die alexandrinische Religionsphilosophie, die Gnosis und die Philosophie des Mittelalters zu seinen „letzten Bestrebungen" als dem „Zweck seines Lebens" weitergeführt 1 1 5 und geriet im Zusammenhang mit dem Studium der griechischen Philosophie bei Trendelenburg und seinen Arbeiten über die Historische Schule des neunzehnten Jahrhunderts in der Theologie und der Geschichtswissenschaft auf „viele Fragen allgemeinerer A r t " 1 1 0 : das Problem der geistig-geschichtlichen Welt ging ihm als seine Lebensarbeit auf. Als Dilthey sich beim Studium der mittelalterlichen Philosophie ein Augenleiden zuzog, gab er den Plan einer Dissertation über die Philosophie des 10. und 11. Jahrhunderts auf 1 1 7 und entschloß sich, bei Trendelenburg eine „Kritik der Schleiermachcrsctien Ethik" als Dissertation vorzulegen und die früheren Arbeiten zu einer Habilitationsschrift „zurechtzustutzen" 1 1 8 . Aber auch dieser letzte Plan wurde nicht realisiert, Dilthey habilitierte sich im Sommer 1864 in Berlin einige Monate nach der Promotion über Schleiermachers Ethik mit einer systematischen Analyse des moralischen Bewußtseins. Seitdem sind seine theologischen Arbeiten völlig in den Hintergrund getreten, wenn ihn auch die Problematik sein Leben lang begleitete 11 ®. So konnte Dilthey zwar mit Recht sagen, daß die historische 109

Ebd. Brief N r . 16, März 1856, S. 28; N r . 18, Mai 1856, S. 31. Ebd. Brief N r . 32, 27. 11. 1S58, S. 54; N r . 33, D e z e m b e r 1858, S. 55 f. , 111 Ebd. Brief N r . 31, N o v e m b e r 1858, S. 51; N r . 33, Dezember 1858, S. 55 f.; N r . 37, März 1859, S. 64; N r . 40, 19. 5. 1859, S. 6 9 f . ; N r . 43, 13. 7. 1859, S. 7 7 f . ; Tagebuch April 1859, S. 84 f. „Über die Emanationssysteme" und die frühe Geschichte des Christentums. 112 1,5 Ebd. N r . 51, 1 8 . 3 . 1860, S. 110. E b d . B r i e f N r . i l , Frühjahr 1854, S. 23. m 115 Ebd. Tagebuch 2 6 . 3 . 1859, S. 80. Ebd. Brief N r . 57, August 1860, S . 1 2 9 f . " · Ebd. Brief N r . 72, 1 8 . 3 . 1 8 6 2 , S. 175. 117 Ebd. Brief N r . 75, Dezember 1862, S. 180. Für D i l t h e y selbst bedeutete diese U m orientierung auch eine Krise. A n Hermann Baumgarten schreibt er im September 1862 noch v o m Absdiluß seiner Studien über die Philosophie des 10. und 11. Jahrhunderts, Haym gegenüber äußert er im Frühjahr 1863, es habe keinen Sinn, über sein „Mißgeschick" und die „Zerstörung" seines „ganzen Lebensplanes" zu klagen (vgl. die Briefe, v o n Erich Weniger mitgeteilt in den Abhh. d. preuß. Ak. d. Wiss., Jg. 1936, N r . 9, hier S. 24 und 27). 118 Ebd. Brief. N r . 76, Februar 1863, S. 181. u t Vgl. besonders das Fragment „Rechnungsabsdiluß der Gegenwart", das M. Redeker im zweiten H a l b b d . des 2. Bandes v o n „Leben Schleiermadicrs" mitgeteilt hat, Ges. Sehr. X I V , 2, S. 588—593. 110

XXXVIII

Einleitung

Forschung bestimmender Impuls seiner Studien w a r 1 2 0 ; gleichwohl wird dies Bild durch eine Reihe von Veröffentlichungen und Briefen korrigiert, so d a ß eine Rückwendung an die Anfänge notwendig wird. Auf diesem Hintergrund ist Diltheys Artikel über Marcion und die Gnosis in Herzogs „Realencyclopädie f ü r protestantische Theologie und Kirche" als zusammenfassendes Ergebnis seiner frühen theologischen Studien zu betrachten. Zugleich gibt die Abhandlung frühe Quellen f ü r Diltheys Aneignung und Auseinandersetzung mit der Historischen Schule in der Theologie (Baur, Neander), aus der dann mehrere Publikationen entstanden bzw. in andere Arbeiten einflossen: über F. Chr. Baur (1865), die Schleiermacher-~Bio%r&phie (1867/70), die Glaubenslehre der Reformatoren ( 1 8 9 4 ) m , über die Reden Schleiermachers (1897); schließlich über Das Christentum in der alten Welt (1907) 1 2 2 — nun eine völlig freie und selbständige Durchdringung der frühchristlichen „Bewußtseinsstellung". Die Rezensionen in Westermanns Monatsheften zeigen, daß er die Theologie seiner Zeit regelmäßig verfolgte (besonders D.F.Strauß); audi sein Briefwechsel mit dem Grafen Yorck bis zur Jahrhundertwende ist d a f ü r ein beredtes Zeugnis. Wie Diltheys Anfänge nicht ohne seine theologischen Studien verständlich sind, wie er sein Leben lang seine Schleiermacher-Torsdmngen nicht ruhen ließ, die Ethik von 1890 den Abschluß seiner systematischen Gedanken geben sollte 123 , so beschloß „Das Problem der Religion" seine geplanten Veröffentlichungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Vier Wochen vor seinem Tode schrieb er am 2. 9. 1911 an Georg Misch: „Um die Sammlung [der Abhandlungen in den Bänden V und VI der Gesammelten Schriften] zu arrondieren, will ich eine kurze Einleitung und einen Aufsatz über Religion hineingeben, der bei Gelegenheit des Schleiermacher in mir entstanden ist und den ich in der Hauptsache hier [in Seis am Schiern] schreibe. So wird der Titel ,Die geistige Welt' ganz mit dem Inhalt übereinstimmen, und der Inhalt wird ein Ganzes bilden."124 So bleibt der Theologe und Religionsphilosoph Dilthey erst noch zu entdecken. VII. Das Archiv für Geschichte der Philosophie erschien seit 1887, begründet von Dilthey, dem klassischen Philologen Hermann Diels, von Benno Erdmann und Eduard Zeller. Herausgeber war der durch seine kulturphilosophischen Arbeiten bekannt gewordene Ludwig Stein. Die Zeitschrift wurde im ersten Band eröffnet durch Zellers programmatischen Aufsatz über „Die Geschichte der Philosophie, ihre Ziele und Wege". Jeder Band enthielt Beiträge bedeutender

120 Vgl. Diltheys Antrittsrede vor der Berliner Akademie der Wissenschaften 1887, jetzt Ges. Sehr. V, S . l O f . ; vgl. oben S . X I . 121 Aus dieser Zeit audi die Fragmente „Zur Würdigung der Reformation", Ges. Sehr. II, S. 512—518. 122 Aus dem Nachlaß im Zusammenhang mit den „Studien zu Geschichte des deutschen Geistes" jetzt in Ges. Sehr. II, S. 499—512. 123 Briefwechsel mit Yorck, Brief N r . 68, J a n u a r 1890, S. 90. 124 Ges. Sehr. VI, S. 320.

Einleitung

XXXIX

Philosophen der Zeit: u . a . von Eucken, Siebeck, Tönnies, Hö ff ding, Stumpf, P. Barth, 'Windelband, E. v. Aster, Gomperz und K. Joel. Die Herausgeber steuerten zahlreiche Abhandlungen bei, vor allem 'Zeller zur antiken Philosophie. Diels sorgte f ü r den Kontakt zur klassischen Philologie. Dilthey lieferte ohne Zweifel f ü r mehrere Bände die bedeutendsten Aufsätze, die — neben den Abhandlungen und Sitzungsberichten der Berliner Akademie — die Ergebnisse seiner Forschungen nach Abschluß des ersten Bandes der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" mitteilen. Sie wurden großenteils im zweiten Band der Gesammelten Schriften von Georg Misch wiederabgedruckt. Miscbs Einleitung zeigt den Zusammenhang mit den früheren Arbeiten und den Forschungen im Zusammenhang mit dem „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" und der Neuorientierung bei der Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften. So wurde das Archiv für Geschichte der Philosophie zu einem Organ universalgeschichtlicher Darstellung philosophie-historischer Forschung: „Die Geschichte der Philosophie macht die Stellungen des Bewußtseins zu der Wirklichkeit, die realen Beziehungen dieser Stellungen aufeinander und die so entstehende Entwicklung sichtbar. So gibt sie die Möglichkeit, den geschichtlichen O r t f ü r die einzelnen Erscheinungen der Literatur, der Theologie, der Wissenschaften zu erkennen. Die exakte Grundlage kann überall nur durch die philologische (literarische) Methode hergestellt werden. Den Versuch, von diesem Standpunkte aus die Entwicklung der Philosophie universalhistorisch darzustellen, habe ich begonnen in: Einleitung in die Geisteswissenschaften l . B d . 1883 (Altertum und Mittelalter). An dieses Buch schließen sich als Fortsetzung meine Aufsätze im ,Archiv f ü r Geschichte der Philosophie' . . ., sie behandeln von Bd. IV (1891) ab die Entwicklung vom 15. bis 17. Jahrhundert." 125 Das Archiv setzte sich besonders mit der abendländischen (im Sinne dieser universalhistorischen Fragestellung) und speziell der neueren europäischen philosophischen Entwicklung auseinander. Diesem Ziel diente vor allem der umfangreiche Jahresbericht über neue philosophische Literatur, der jedes Heft beschloß. Dilthey publizierte in diesen Jahresberichten Rezensionen zu Gebieten seiner eigenen Forschungen: zur Philosophie der deutschen Bewegung von Herder bis Hegel, zur Ästhetik, über den anglo-französischen Positivismus, die dann in der systematischen Abhandlung über „Die drei Grundformen der Systeme in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts" 126 abgeschlossen werden. Diese letzte Abhandlung weist auf Arbeiten Diltheys nach 1900. Aus diesem Grunde wurde dem Wiederabdruck der Diltheyschen Jahresberichte seine Rezension des Hegel-Buches seines Heidelberger Lehrers Kuno Fischer beigegeben, die 1900 in der Deutschen Literaturzeitung erschien. Die Ausführungen über neue Hegelforschungen aus dem handschriftlichen Nachlaß Hegels weisen auf die Rede

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Wilh. Dilthey, Grundriß der allgemeinen Geschichte der Philosophie. Nach der 6. Aufl. (1905) hrsg. u. ergänzt von H. G. Gadamer. Frankfurt 1949, S. 13 " · Im Archiv XI (1898), S. 551—586; wiederabgedruckt in Ges. Sehr. IV, S. 528—554.

Einleitung

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über Archive der Literatur zurück; sie weisen auf Diltheys „Jugendgeschichte H e gels" und Nohls Ausgabe der theologischen Jugendschriften, die zusammen eine neue Epoche der Hegel-Forschung einleiteten. » Nach Fertigstellung des Umbruchs wurde durch die Auswertung der oben erwähnten Honorarabrechnungen im Archiv des Westermann-Verlages der Aufsatz „Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen" von Georg Steven als ein Beitrag Diltheys nachgewiesen; damit zugleich ein weiteres, vorerst einmaliges Pseudonym. Es handelt sich um eine biographische Skizze von Karl Philipp Moritz nach dessen autobiographischem Roman „Anton Reiser". Diese Abhandlung konnte nicht mehr an die entsprechende Stelle in der Chronologie der Portraits und biographischen Skizzen

eingeordnet werden, sie folgt hier als Nachtrag. *

Abschließend danke ich herzlich H e r r n Dr. Arnold Fratzscher, der im Verlagshaus Vandenhoeck & Ruprecht diese Ausgabe von drei Bänden publizistischer Arbeiten Diltheys verständnisvoll und tatkräftig förderte, und meiner Frau, die die mühevolle Arbeit des Korrekturenlesens und der Anfertigung des Personenregisters übernahm. Tübingen, im Juni 1970

Ulrich Herrmann

ARCHIVE FÜR LITERATUR1

Nachdem die deutsche N a t i o n zur politischen Einheit gelangt ist, erscheint von diesem nun gewonnenen Abschluß aus die ganze deutsche Vergangenheit in einer neuen Beleuchtung. Es ist, als sähe man in dieser Geschichte aus der Morgendämmerung das Tageslicht sich entfachen und die Sonne allmählich emporsteigen. So sehen wir jetzt audi unsere Literatur mit anderen Augen an. Unser Volk ist zum Gefühl seines eigentümlichen Wertes gelangt. Es hat wieder Freude an sich selber gewonnen. U n d nun erst empfindet es ganz, was ihm seine Literatur, dieser erste Ausdrude deutschen Geistes, dieses einigende Band in trüben Tagen politischer Zerrissenheit und militärischer Ohnmacht, bedeutet. I. D i e neueren europäischen Völker bilden eine Einheit. In ihrem Jugendalter ordneten sie sich alle einem theologisch-metaphysisdien System unter. Als sie aber dann zur Mündigkeit herangewachsen waren, haben diese Völkerindividualitäten jede ihre K u l t u r a u f g a b e in freiem Zusammenwirken erfüllt: wie selbständige Stimmen in einer Sinfonie zusammenklingen. Manches haben andere Völker vor uns voraus. In heiterem Lebenssinn, in mathematischer und logischer Klarheit, in einem seit den Tagen des Descartes stetig ausgebildeten Studium der Außenwelt sind uns die Franzosen überlegen. In dem Beobachten, dem Sammeln, in einem affektiven Zusatz dazu, der jedem Vers von Shakespeare, jedem Brief von Dickens oder C a r l y l e einen eigenen exzentrischen R e i z gibt, liegt die Stärke englischen Denkens und Dichtens. Unser Volk hat die geistige Kontinuität der europäischen Entwicklung festgehalten, die bei Franzosen und bei Engländern zerriß. Melanchthon lebte in der Einheit des griechisch-römischen Geistes mit dem christlichen. Leibniz und seine Zeitgenossen erweiterten diese Einheit durch die N a t u r wissenschaften. Altertum, Christentum, modernes naturwissenschaftliches Erkennen suchten sie zu umspannen und zu verknüpfen. Hier ist die eigentümliche Univer1 Dieser A u f s a t z gibt einen V o r t r a g wieder, der hier a m 16. J a n u a r d. J . [1889] gehalten w u r d e und die Z u s a m m e n k ü n f t e einer Gesellschaft f ü r deutsche Literatur eröffnete, welche sich F ö r d e r u n g und Verbreitung literarischer Forschung zum Zwecke gesetzt hat.

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D i l t h e y , Schriften X V

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Archive f ü r L i t e r a t u r

salität des deutschen Geistes begründet. Während andere Völker zu L a n d und zu Meer sich ausbreiteten, begann bei uns ein Zusammenhalten geistiger Lebensgestalten, ein Verknüpfen derselben in der Tiefe des Bewußtseins. Plato und Aristoteles, Paulus und Thomas von Aquino, Galilei und N e w t o n berührten sich nun und verschmolzen in diesem die ganze geistige Welt umspannenden Bewußtsein. D a m i t waren die innere Geschichtlichkeit und philosophische Tiefe als eigene Vorzüge deutschen Denkens, Dichtens und Forschens gegeben. Winckelmann konnte durch den bei uns lebendigen Plato die bildende Kunst der Alten verstehen. Herder schienen aus der so erwachsenen geschichtlichen Fühlsamkeit hundert Augen entstanden zu sein, um das historisch Wirksame zu gewahren. Dies alles w a r d verstärkt durch die ökonomischen und politischen Bedingungen. Eine bunte K a r t e von Ländern: in allen dieselbe wirtschaftliche, staatliche und militärische Armseligkeit. Der Sieger von Roßbach weckt ein stolzeres Selbstgefühl, hält aber dessen natürliche Kraftäußerung im politischen Leben nieder: sonst überall Windstille. D a s Streben der Mittelklassen eingeengt durch die Herrschaft des Adels. So wendet sich der Wille dieser Menschen nach innen. Dabei durchdringt eine eigentümliche Harmonie, wie sie mittlere und gebundene Lebensverhältnisse dem Willen geben, all ihr Dichten, Denken und Forschen. D a aber unser langsam sich entwickelndes Volk zuallerletzt von den großen Kulturnationen eine Literatur hervorbrachte, inmitten hochentwickelter wissenschaftlicher Reflexionen, wie das schon Mirabeau hervorhob: so durchdringen sich nun in dieser Literatur Denken und Dichten, Wissenschaft und Fabulieren, Metaphysik und Poesie. Daher sind ihre eigensten Erzeugnisse Lessings „ N a t h a n " , Goethes „ F a u s t " und Schillers philosophische Gedichte. Aus der Vermählung eines großen, männlichen, dramatischen Vermögens mit tiefem Studium des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts entsprang Schillers historisches D r a m a , das die großen, von Ideen getragenen Bewegungen eines Zeitalters in Spiel und Gegenspiel ringend darstellt. D a s Schauspiel erweitert sich hier zur Bühne der geschichtlichen Welt. In Marquis Posa und Philipp, in Teil und Geßler gewahrt man die geschichtlich wirksamen K r ä f t e , die ein Zeitalter bewegt haben. Alle Idealität des europäischen Denkens und Dichtens von H o m e r und Plato durch Paulus und Dante, Shakespeare und Calderon bis zu Corneille und Voltaire ist in dem Bewußtsein der großen Menschen versammelt, welche den Höhepunkt unserer Literatur, philosophischen Spekulation und Geschichtsschreibung bilden. Unsere großen Dichter gehen umgekehrt als die anderer Völker von dem Gehalt aus und bemächtigen sich dann mit rührender Mühsamkeit der Technik. So ist im „ N a t h a n " , in Herders „ I d e e n " , in „ F a u s t " und „Wilhelm Meister" eine befriedigte H a r m o n i e der Weltansicht, ein erhabenes Ideal des Menschen, zugleich ein in sich gesammeltes Bewußtsein der ganzen Vergangenheit und ein frohes Vertrauen auf den fortschreitenden Geist in einziger Art verbunden. Daher hat in dieser Literatur die geistige Substanz, der ideale Lebensgehalt des deutschen Volkes K r a f t der D a r stellung, redenden Ausdruck, lebenatmende Form erhalten. So wird dieser ideale Gehalt jeder künftigen Generation überliefert. Aus diesen Fonds schöpfen Unterricht, persönliche humane Bildung und Presse. Aus ihnen fließen audi die nach-

Archive für Literatur

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haltigen W i l l e n s k r ä f t e f ü r den neuen Realismus, mit welchem der jüngste der N a t i o n a l s t a a t e n sich heute in der Welt einrichtet. Für das Studium dieser L i t e r a t u r ist vieles seit D a n z e l u n d G e r v i n u s geschehen. Mancher sagt: zu viel! Dennoch scheinen mir aus der Pietät gegen unsere Schriftsteller u n d aus dem Bedürfnis unserer Forschung neue A n f o r d e r u n g e n zu entstehen, die sich auf E r h a l t u n g , S a m m l u n g u n d zweckentsprechende E r ö f f n u n g der Quellen beziehen. Die Geldmittel, welche sie e r f o r d e r n , sind nicht beträchtlicher als die f ü r eine der größeren naturhistorischen S a m m l u n g e n , u n d so wollen wir uns einmal der v o n den Regierungen den Geisteswissenschaften anerzogenen Bescheidenheit entäußern. Die H a u p t q u e l l e f ü r unsere neuere Literatur sind natürlich die Bücher selber. Einen sehr großen V o r z u g haben diese Quellen vor denen der politischen Geschichte v o r a u s : Bücher lügen nicht. D e r Genius Goethes ist ohne Retizenz in seinem „Faust" enthalten u n d der K a n t s in seiner „ K r i t i k der reinen V e r n u n f t " . U n d z w a r m u ß dem, der sich mit einem Zeitalter unserer L i t e r a t u r beschäftigt, der ganze Bücherbestand desselben zugänglich sein; denn der innige Z u s a m m e n h a n g zwischen G l a u b e n , D e n k e n u n d Dichten zeigte sich uns als charakteristisches M e r k mal unserer Literatur. H i e r genügt die Einrichtung unserer Bibliotheken immer noch nicht billigen Wünschen. Was sich seit dem Beginne des Buchdruckes v o n deutschen Büchern erhalten h a t , ist an verschiedene Bibliotheken zerstreut. Z u weilen w e r d e n k o s t b a r e Büchersammlungen wieder zersplittert. Welcher L i t e r a t u r f r e u n d k e n n t nicht die Geschichte der V e r h a n d l u n g e n über die b e r ü h m t e Meusebachsche Bibliothek: wie n a h e w a r w ä h r e n d dieser V e r h a n d l u n g e n die G e f a h r der Versteigerung u n d Zersplitterung dieses Schatzes! U n d immer noch f e h l t uns eine Zentralstelle, die wenigstens einen K a t a l o g der noch v o r h a n d e n e n Bücher e n t h ä l t . Für den Literarhistoriker w ä r e a m gunstigsten, w e n n derselbe im Unterschied von R e a l - oder N a m e n k a t a l o g e n chronologisch geordnet w ü r d e . M a n k ö n n t e d a n n in demselben die i n n e r h a l b eines J a h r e s erschienenen Bücher u n t e r bestimmten Sachr u b r i k e n überblicken. A b e r freilich w ü r d e n die ohnehin sehr großen technischen Schwierigkeiten u n d der sehr erhebliche A u f w a n d an Geld u n d Zeit durch die W a h l einer solchen besonderen A n o r d n u n g erheblich v e r m e h r t . Diese u n d andere Einrichtungen, welche der Übersicht über den noch v o r h a n denen Bücherbestand u n d seiner leichteren Benutzung dienen, w ü r d e n die bisherige Arbeitsweise erleichtern: zugleich w ü r d e n sie die A n w e n d u n g neuer M e t h o d e n ermöglichen. Die Geschichte der L i t e r a t u r , d e r Philosophie, der Wissenschaften ist v o n der Betrachtung weniger ausgezeichneter Personen ausgegangen. Sie w i r d aber die geistigen V e r ä n d e r u n g e n , die S t r ö m u n g e n in der ganzen literarischen A t m o sphäre zu beschreiben u n d zu messen lernen müssen. Die Z a h l der Bücher u n d Drucke ermöglicht innerhalb gewisser Fehlergrenzen eine messende Betrachtung. N e b e n die Bücher treten als a n d e r e Quelle die H a n d s c h r i f t e n . W o h l haben die handschriftlichen Q u e l l e n f ü r die Geschichte der L i t e r a t u r nicht dieselbe Bedeutung als f ü r die politische Geschichte. I n dieser letzteren setzt sich der reale V o r g a n g aus mündlichen u n d schriftlichen V e r h a n d l u n g e n , Beschlüssen u n d Verträgen zusammen. G e w i ß unterschätzt m a n jetzt oft, was uns gleichsam zwischen den

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Archive f ü r L i t e r a t u r

Papieren unsichtbar bleibt; dennoch bilden dieselben die wichtigste Quelle, und gedruckte Denkwürdigkeiten, Zeitungen, Darstellungen von Zeitgenossen treten dagegen zurück. Der V o r g a n g in der Literatur setzt sich hauptsächlich aus Büchern zusammen. Der handschriftliche Nachlaß der Schriftsteller ist trotzdem unschätzbar. Auch Briefe haben oft bedeutsame Wirkungen geübt. Aus dem Nachlaß großer Schriftsteller sind öfter, wie in dem Fall von Leibniz und von Lessing, Arbeiten hervorgetreten, welche den gedruckten an Bedeutung nahekamen. Vor allem aber möchte ich nun darauf aufmerksam machen: Genuß und Verständnis unserer Literatur empfängt aus diesen Handschriften eine unberechenbar wertvolle Bereicherung, und die wissenschaftliche Erkenntnis ist an ihre möglichst ausgiebige Benutzung schlechthin gebunden. Auch die ungedruckten Bestandteile unserer Literatur gehören neben dem Gedruckten zum geistigen Besitztum unseres Volkes. Wer kennt nicht die K l a g e , Erhaltung und Druck solcher Papiere diene nur einem gelehrten Interesse; ja schließlich breche in diesen ungeheueren Papiermassen und ihre Vervielfältigung durch den D r u d e das neue alexandrinische Zeitalter über uns herein. D i e N a t i o n möge sich an die großen Werke selber halten. Diese K l a g e entspringt in vielen Fällen aus Mangel an Einsicht; sehr oft jedoch auch aus der Verschulung durch einen kühlen Kunstverstand, der den Wert unserer Literatur in die Objektivität eines einzelnen Kunstwerkes verlegt. Jeder Mensch, der nach einem Briefwechsel oder nach einer Biographie mit Interesse und Spannung greift, ist der lebendige Gegenbeweis gegen diese ausschließliche Objektivität des Kunstgenusses. Bücher sind K r ä f t e in einem abgeleiteten Sinne; wir suchen den Menschen, der hinter ihnen steht. Wir gewahren im wirklichen Leben immer zuerst Personen, die handeln und schreiben. Diese erscheinen uns immer als die Hauptsache; sind sie dann in das Dunkel zurückgetreten und haben nur Taten und Worte zurückgelassen, dann ist eben dies die A u f g a b e der Geschichtsschreibung, diese wirkenden K r ä f t e wieder sichtbar zu machen. Wir wollen mit unseren großen Schriftstellern an den idealen Sinn des Lebens glauben; dies setzt wie aller G l a u b e voraus, daß wir diese Menschen kennen, lieben und verehren. Schauspiele und Romane, Philosophien und Historien sind für den natürlichen Menschen K r ä f t e , die ihm das eigene Dasein erhöhen. D i e ideale Mächtigkeit des Mannes, der sie hervorbrachte, geht gleichsam durch diese Werke in den Leser oder H ö r e r über. Wohl haben die Gestalten, die der Dichter geschaffen hat, nun in sich ein eigenes Leben. D i e H a n d l u n g eines D r a m a s verläuft wie eine zweite selbständige Wirklichkeit. Die Begriffe, durch welche die Welt gedacht wird, behaupten ihre Existenz unabhängig von dem K o p f e , in welchem sie entstanden sind. Aber in diesen Gedanken und Gestalten pulsiert das H e r z b l u t eines Menschen, in jedem Worte ist der Atem desselben. Aus der Gesellschaft dieser mächtigen Personen, gleichsam aus deren A u f n a h m e in das eigene Seelenleben entsteht seinen H ö r e r n oder Lesern eine dauernde Erhöhung des eigenen Lebens, eine Zunahme an innerer K r a f t . S o liegt die tiefste und dauerndste Wirkung literarischer Werke auf uns eben darin, daß die Dichter und Denker selber zu einem Teil unseres eigenen Lebens werden. So lebt der heldenhafte Mensch unter unseren Schriftstellern, Schiller, in einem jeden von uns als ein großer, hoher

Archive für Literatur

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Wille, der aus wenigen rasch zusammengerafften philosophischen und historischen Materialien in stürmischer Hast, wie im Vorgefühl der Kürze seines Lebens, eine reinere, edlere, seinem Wesen mehr entsprechende Welt aufbaute. Je realistischer der heutige Mensch denkt, desto mehr sucht er hinter den Schleiern der Poesie Auge und Herz des Dichters und hinter den Symbolen metaphysischer Gedanken die Realität wahrhaftiger innerer Erfahrung. Der verständnisvolle Genuß eines heutigen Lesers und die Methoden eines heutigen Forschers sind darin verwandt: sie ergreifen beide hinter jeder Gestalt des geschichtlichen Lebens und hinter jedem Rückstand der geschichtlichen Prozesse den Menschen selbst als die Realität, in welcher dieses alles sein Dasein hat. U n d darum ist uns nun der Atem der Menschen so lieb, welcher uns aus Entwürfen, Briefen, Aufzeichnungen entgegenkommt. Was würden wir heute darum geben, könnten wir vermittelst solcher direkten einfachen Äußerungen in der Seele des Äschylus oder Plato lesen! Zugleich sind Erhaltung, Sammlung und zweckmäßige Anordnung der H a n d schriften f ü r das wissenschaftliche Studium der Literatur ganz unentbehrlich. Wir verstehen ein Werk aus dem Zusammenhang, in welchem es in der Seele seines Verfassers entstand, und wir verstehen diesen lebendigen seelischen Zusammenhang aus den einzelnen Werken. Diesem Zirkel in der hermeneutischen Operation entrinnen wir völlig nur da, wo Entwürfe und Briefe zwischen den vereinzelt und kühl dastehenden Druckwerken einen inneren lebensvollen Zusammenhang herstellen. Ohne solche handschriftliche Hilfsmittel kann die Beziehung von Werken aufeinander in dem Kopfe des Autors immer nur hypothetisch und in vielen Fällen gar nicht verstanden werden. Nach allen Zergliederungen sämtlicher Werke von Shakespeare ist uns das innere Leben dieses Mannes und der Zusammenhang seiner Werke in ihm dasselbe Rätsel geblieben. Briefe, Entwürfe, Lebensnachrichten würden dies Rätsel lösen, das jetzt aller zergliedernden Arbeit spottet. Die moderne entwicklungsgeschichtliche Methode ist der des Naturforschers analog. Sie will Vater und Mutter des Mannes kennen, die Bedingungen, unter denen er arbeitete, die älteren Personen, die auf ihn wirkten, die mitstrebenden Genossen, ja die Geschichte jedes Werkes von seinem ersten Entwurf ab. Und all dies, ja darüber hinaus die ganze eine Person umgebende Atmosphäre ist in dem handschriftlichen Nachlaß enthalten. Die Literaturgeschichte möchte weiter die Kausalverhältnisse kennen, welche zwischen diesen einzelnen Personen obwalten. Denn alle Wissenschaft ist Kausalerkenntnis. Das Problem der Romantik besteht schließlich darin, wie eine Anzahl von Personen, die in dem Jahrzehnt von 1767 ab geboren sind und so eine Generation ausmachen, durch die Umstände, unter denen sie lebten, durch die älteren Personen, die auf sie wirkten und durch den Gehalt und das Streben, das sie vorfanden, gebildet worden sind. Wie hilflos ständen wir diesem Problem gegenüber, wenn uns nicht aus einer Fülle von Korrespondenzen das Lebensgefühl der Menschen jener Tage und die unzähligen wirkenden Kräfte, von denen die Luft der Zeit gleichsam erfüllt war, entgegenträten. Hier wie überall würde die Analyse der Werke nur zu Hypothesen führen; aber das handschriftliche Material gibt die quellenmäßigen Belege, es ergießt Farbe, Wärme und Wirklichkeit des Lebens über

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Archive für Literatur

die unzähligen w i r k e n d e n K r ä f t e , die hier tätig gewesen sind. Dies L e b e n , das von Handschriften

ausströmt, m u ß

uns auch zu G r u n d v o r s t e l l u n g e n

welche wir den K a u s a l z u s a m m e n h a n g

geistiger B e w e g u n g e n

führen,

durch

angemessener

zer-

gliedern. So h a b e ich f r ü h e r , von der Beschäftigung m i t diesen Q u e l l e n aus, v e r sucht, die G r u n d v o r s t e l l u n g der G e n e r a t i o n zu e n t w i c k e l n 1 . Zu dem L i t e r a r h i s t o r i k e r t r i t t der Ä s t h e t i k e r , und auch er macht seine A n sprüche a u f diese H a n d s c h r i f t e n geltend. E r möchte die N a t u r der E i n b i l d u n g s k r a f t , ihre F o r m e n , die R e g e l n des Schaffens u n d die E n t w i c k l u n g der Technik e r k e n n e n . D a s e r f o r d e r t den intimsten Einblick in das L e b e n des D i c h t e r s : er m u ß bei ihm in seiner W e r k s t a t t sitzen. Auch diese R ä t s e l lösen sich nur dem, welcher die Z e r gliederung der W e r k e m i t der B e n u t z u n g der H a n d s c h r i f t e n v e r k n ü p f t .

Hand-

schriften, wie die B r i e f e G o e t h e s u n d Schillers, die T a g e b ü d i e r H e b b e l s , die A u f zeichnungen Goethes und O t t o L u d w i g s , lassen den Ä s t h e t i k e r das B i l d e n

der

P h a n t a s i e v o n ihren U r p h ä n o m e n e n a u f w ä r t s v e r f o l g e n . H a n d s c h r i f t e n , w i e die K o r r e s p o n d e n z e n von G o e t h e und Schiller, lassen ihn in die Ausbildung unserer Technik des D r a m a s und des R o m a n s hineinsehen. Es k a n n phantastisch erscheinen, u n d ich möchte es doch aussprechen. W a s w o h l geordnete S a m m l u n g e n des Nachlasses v o n Schriftstellern der

literarhistorischen

Wissenschaft einmal werden leisten k ö n n e n , zu welchen neuen M e t h o d e n sie einst anregen und befähigen w e r d e n : das l ä ß t sich v o n unserem S t a n d o r t e aus noch gar nicht ermessen. M a n denke sich die L a g e der Geschichtsschreibung zu der Z e i t , als A r c h i v a r b e i t in unserem S i n n e noch nicht bestand, sondern die gedruckten M a t e rialien nur nach G e l e g e n h e i t u n d G u n s t der U m s t ä n d e durch handschriftliche ergänzt wurden. M a n Johannes

denke sich die Leistung so g r o ß e r Geschichtsschreiber,

M ü l l e r und S p i t t l e r

waren. D a

als

gab es g l ä n z e n d e Schilderungen

des

ä u ß e r e n V e r l a u f s der Begebenheiten, Erfassen des K e r n s der geschichtlichen

Er-

scheinungen im g r o ß e n , V e r s t ä n d n i s der M o t i v e , der H a n d l u n g e n u n d der leitenden Ideen. A b e r w e r h ä t t e damals ahnen k ö n n e n , durch welche M e t h o d e n der B e f r a gung v o n Archiven der g r o ß e T o c q u e v i l l e , der Schöpfer einer Zergliederung des politischen

Körpers,

das

Funktionieren

der

einzelnen

Organe

dieses

Körpers

w ä h r e n d des ancien regime feststellen w ü r d e ! W i e er so gleichsam in pathologischanatomischen P r ä p a r a t e n die w a h r e n Ursachen der Krankheitsgeschichte vorzeigen 1 Auf die Bedeutung des Begriffes der Generation für das Studium geistiger Bewegungen habe ich in der Abhandlung über Novalis (Preußische Jahrbücher, Bd. X V , 1865, S. 5 9 6 — 650) hingewiesen (S. 598). Derselben Grundvorstellung hat dann Rümelin (Reden und Aufsätze, 1875, S. 285 ff.) vom Standpunkte des Statistikers aus und in dessen Interesse seine Aufmerksamkeit zugewandt. Wenn ich in dem zitierten und dann in einem späteren Aufsatz über das Studium der Geschichte der Wissenschaften diese Grundvorstellung für die Geschichte geistiger Bewegungen benutze, so kann ich mich doch der Art, wie neuerdings Ottokar Lorenz in seinem beachtenswerten Buche über die Geschichtswissenschaft (1886) auf diesen Begriff ein natürliches System geschichtlicher Perioden gründen will, nicht anschließen. Einigermaßen fest sind ja nur die Zeitabstände, nicht aber die Zeiteinschnitte selbst. In jedem Jahr beginnt eine neue Generation. Gibt dagegen der Beginn einer geistigen Bewegung das Leben, der Träger derselben einen festen Ausgangspunkt, so ist von diesem aus für den Verlauf derselben die Abfolge der Generationen die natürliche von innen abmessende Zeiteinheit.

Archive für Literatur

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würde, die Französische Revolution heißt! U n d wer hätte die feinen Methoden ahnen können, durch welche es dann in unseren Tagen der archivalischen Arbeit von Taine gelang, die ganze Maschinerie bloßzulegen, vermittelst welcher insgeheim die Figuranten der großen Revolution wie an Drähten hin- und hergezogen worden sind! Was wir Ästhetiker nun erstreben, ist doch auch, gleidisam den Körper der Literarhistorie zu zergliedern, die Struktur der menschlichen Einbildungskraft, ihre Formen und ihre Entwicklung in der Technik zu ergreifen. Audi wir möchten die analytische Kunst Tocquevilles üben.

II. Diesen Aufgaben genügen die gegenwärtigen Einrichtungen nicht. N u r Archive ermöglichen die Erhaltung der Handschriften, ihre angemessene Vereinigung und ihre richtige Verwertung. Wir müssen also einen weiteren Schritt in der Organisation unserer Anstalten für historische Forschung tun. Neben die Staatsarchive, auf deren Verwertung jetzt alle politische Historie beruht, müssen Archive für Literatur treten. Hier muß wohl zuerst verdeutlicht werden, was unter Archiven der Literatur neben den politischen Archiven zu verstehen sein würde. Der Kern unserer politischen Archive bildete sich, als man sich nicht mehr nach dem alten germanischen Brauch mit der mündlichen Ankündigung der Veränderungen begnügte, die mit Güterbesitz, Land und Leuten vor sich gingen. Klöster sammelten Urkunden über ihren wachsenden Grundbesitz; Fürsten erteilten in größerer Zahl Stiftungspergamente und Privilegienbriefe. Gerade die politische Zersplitterung vermehrte die Fülle der Urkunden. Und wie die fürstliche Gewalt sich konzentrierte, hatte jeder dieser Herren in seinem Ardiivgewölbe eine Rüstkammer des Angriffes und der Verteidigung. Daneben entstanden Aktenarchive bei den Behörden und mehrten sich ungemessen durch ein schreibseliges Beamtentum. N u r vorübergehend haben dann die Aufklärung und die Revolution diese papierene Herrlichkeit bedroht. Vieles wurde damals doch verschleudert und zerstört. Der alte Gerichtsdirektor und Rechtshistoriker Wigand erzählte gern, wie unter den Fenstern der fürstlichen Abtei Corvey große Erntewagen standen: aus den Fenstern wurden die Urkunden auf sie heruntergeschüttet, und Wagen auf Wagen kam zu den Händlern. Gerade die Revolutionskriege brachten nun aber jene Besitzveränderungen und Mediatisierungen, welche notwendigerweise auch das Zusammenlegen der alten klösterlichen, bischöflichen und fürstlichen Archive an Zentralstellen zur Folge hatten. Die großen modernen Staatsarchive sammelten in sich beinahe alle archivalischen Schätze; langsam bewältigten sie die durcheinandergeschobenen Massen; langsamer noch öffneten sie sich der Wissenschaft. Als aber das geschah, als in diese peinlich gehüteten Gemächer voll von Papier und Geheimnissen, Staats- und Familiengeheimnissen, Luft und Sonne hineinkamen; da begann der Tag unserer modernen Geschichtswissenschaft. U n d nun ergab sich auch, wie viel günstiger die neue mit weiser Mäßigung gewährte Öffentlichkeit den Staaten, den fürstlichen Familien

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Archive f ü r Literatur

und den Ministern war, als Riegel und Geheimnis der alten Zeit mit ihren Brandschriften, ihren abenteuerlichen Anekdoten und übertriebenen Gerüchten. Von dieser Geschichte der Staatsarchive haben wir Literarhistoriker überall zu lernen. Was hier erreicht wurde, ist unser Ideal. Der Weg, auf dem es erreicht wurde, muß nun auch von uns beschritten werden: Zusammenlegung der Handschriften, systematisches Anordnen, vorsichtiges Eröffnen derselben. Stehen wir doch noch in den Anfängen. Die einfachste Form, in welcher der Nachlaß eines hervorragenden Schriftstellers aufbewahrt wird, ist das Familienarchiv. So liegt der Nachlaß von Novalis in dem Familienarchiv der Hardenbergs. Im Schloß zu Tegel ist ein reichhaltiges Archiv der Humboldtschen Familie. In Wiesbaden bewahrt der Kammerherr von Goeckingk in der dortigen Familiensammlung auch den Nachlaß des Dichters. Und die Hinterlassenschaft von Schiller wird in Unterfranken verwahrt. Hierin haben sich dann die dem Nachlaß eines einzelnen Schriftstellers gewidmeten Archive angeschlossen, die sich der Benutzung wirklich eröffnen. So ist zu Halberstadt in dem Hause, das Gleim bewohnte, der Nachlaß desselben zur Benutzung aufgestellt und wird von einem dortigen Lehrer verwaltet: eine unerschöpfliche Fundgrube f ü r die Literatur in der zweiten H ä l f t e des achtzehnten Jahrhunderts. Mit bescheidenen Mitteln hat man in Quedlinburg auf Pröhles Antrieb ein Klopstockarchiv herzustellen begonnen. Als nun aber mit dem Tode des letzten Goethe das Familienarchiv in dem Goethehause zu Weimar auf die Großherzogin von Sachsen überging, hat der hohe Sinn dieser Frau dort den ersten bedeutenden Sammelpunkt f ü r deutsche literarhistorische Forschung geschaffen. Was noch von Goethes Nachlaß zu erlangen war, ist jetzt dort versammelt. N u n gilt es, den Fortschritt, welchen die Verhältnisse selber den politischen Archiven aufgezwungen haben, f ü r die literarischen aus freier überlegter Entschließung zu tun. Was in Familienarchiven vorhanden ist, was sich auf Bibliotheken gerettet hat und was Sammler besitzen: von diesem allen muß soviel als möglich in großen Archiven der Literatur gesammelt werden, deren Charakter dem der Staatsarchive ähnlich ist. Wieder muß sich auf diesem literarischen Gebiet derselbe Vorgang vollziehen, den wir auf dem politischen beobachten: Zusammenlegen des Zusammengehörigen, Ordnen und mit Vorsicht Aufschließen. Die Entwicklung drängt zu solchen selbständigen, von den Bibliotheken getrennten Anstalten hin. Wie aus der N a t u r der politischen Papiere das Staatsarchiv seinen Charakter und den besonderen in ihm wirkenden Geist erhielt, so wird in diesen neuen Räumen gleichsam ein genius loci sich ausbilden; aus der N a t u r des Nachlasses bedeutender Schriftsteller wird der Charakter und das Gesetz der Archive sich entwickeln, die ihnen gewidmet sind. Ein eigener Geist muß in den Räumen wehen, die das vertrauliche und intime Leben der ersten Schriftsteller unseres Volkes umschließen; eine eigene Art von Beamten muß für solche Archive sich ausbilden. Das ist eben der Begriff von Archiven, daß die eigentümliche N a t u r der Anordnung und Benutzung einen bestimmten Charakter aufdrücken. Archive der Literatur: hier wie überall in dieser Darlegung ist der Ausdruck Literatur

Archive für Literatur

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im weitesten Sinne genommen. Er bezeichnet alle dauernd wertvollen Lebensäußerungen eines Volkes, die sich in der Sprache darstellen: also Dichtung wie Philosophie, Historie wie Wissenschaft. Dies ist der Begriff von Archiven der Literatur, wie dieselben mir vorschweben. Ein Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft, das den politischen Archiven nicht gleichwertig, doch aber nahestehend wäre. Ich erweise nun zuerst, daß der jetzige Zustand unerträglich ist. Dann ist zu erörtern, ob durch solche Archive ihm Abhilfe geschafft werden könne. Unerträglich ist in der Tat der Zustand, wie er jetzt besteht. Aus der Natur der Sache folgt für die meisten Fälle das Schicksal des Nachlasses eines bedeutenden Schriftstellers. Schlecht geordnet, dann durch Aufbewahrung im engen Raum noch mehr ineinandergeschoben, wird er von den Angehörigen zuweilen besehen, niemals durchgearbeitet. Es besteht ein dunkler Argwohn von vielem Vertraulichen und die verschiedensten Personen Verletzenden darin. Wie möchte man ihn einer Bibliothek übergeben, auf der er für jedes neugierige Auge offenliegt? Die erste Generation bewahrt ihn sorgsam in einem Schrank; jeder folgenden wird er fremder und unbequemer, schließlich wandert er meist in einer Kiste auf den Speicher. In der Unruhe des modernen Lebens können aber auch die sorgsamsten Erben so großer Papiermassen diese nicht durch den Wechsel der Zustände und Wohnstätten hindurch gleichmäßig schützen. Sie müssen dieselben in Erbschaften überweisen. Sie müssen sie von Wohnung zu Wohnung transportieren. Umsiedelungen in andere Städte oder Gegenden sind eine neue Gefahr. Anfragen wißbegieriger Literarhistoriker sind eine Quelle von beständigem Verdruß; ist doch eben die dunkle Erinnerung an das Mißliche und Anstoßerregende darin immer in der Familie. Und wie ein Mensch einer oder der anderen der Gefahren, die ihn in Wasser und Feuer, in Krieg und Hauskreuz, in Krankheiten und Ärzten beständig umgeben, irgendeinmal erliegt, so muß es doch auch schließlich diesen hilflosen Papiermassen ergehen. Familien sterben aus, und ihr Nachlaß kommt unter den Hammer. Sie verarmen und müssen sich der raumbeengenden Makulatur entledigen. Unwürdige Familienmitglieder verschleudern, Wasser und Feuer, Staub und Mäuse zerstören. Und zuletzt erhält sich von all dem angreifbaren Papier nur das, was in Bibliotheken oder andere öffentliche Räume gerettet ist. So gerieten Handschriften Kants in die Makulatur einer Verlagshandlung, und selbst aus einem so jungen Nachlaß wie der von Eichendorff und Platen verlor sich sehr Bedeutendes in den Speicherraum eines Dresdner Antiquars und wurde dann dort von unserem Stargart aufgespürt und der hiesigen Bibliothek angeboten. Hieraus wird das Geschick der literarischen Handschriften verständlich. Ich fasse es in folgende fünf historische Sätze zusammen. Erster Satz. Nachlässe aus dem siebzehnten Jahrhundert haben sich in ihrer Hauptmasse erhalten, wenn Schriftsteller mit Bibliotheken und gelehrten Anstalten in Verbindung oder wenn sie ö0entliche Charaktere waren; dagegen sind die übrigen Nachlässe meist untergegangen. So bildet der Nachlaß von Leibniz in Hannover für sich allein ein Archiv. Ebenso ist der ganze Nachlaß von Jungius auf der Hamburger Stadtbibliothek erhalten. Aus dem Nachlaß von August Her-

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m a n n Francke liegen allein auf der hiesigen Universität 2448 Briefe; auch von Spener hat sich viel erhalten. Geht man in die erste H ä l f t e des achtzehnten J a h r hunderts hinein, so ist aus denselben G r ü n d e n ein großer Handschriftenreichtum von Christian Wolff, Gottsched u n d Bodmer bewahrt geblieben. Kollegienhefte, ungedruckte Werke u n d Korrespondenzen von Universitätsgelehrten sind auf vielen großen u n d kleinen Bibliotheken zerstreut. Wieviel enthalten nicht allein in Zürich die 50 Bände des Thesaurus Hottingerianus u n d die freilich buntergemischten 200 Bände der Simmlerschen Sammlung. Wie wenig h a t sidi dagegen von den Dichtern dieses Zeitraums, selbst von so berühmten wie Gryphius u n d H o f m a n n von H o f m a n n s w a l d a u waren, erhalten. So läßt sich der N a c h l a ß v o n Gryphius bis in das achtzehnte J a h r h u n d e r t hinein verfolgen, w o er in dem Besitz eines Breslauer Gymnasialprofessors Leubscher w a r ; von da geht seine Spur verloren: Nichts mehr von der Selbstbiographie, alle E n t w ü r f e u n d halbvollendete Arbeiten verschwunden; kümmerliche Reste sind unter anderem auf unserer Bibliothek. Die Durchmusterung der Handschriftenkataloge zeigt erschreckend deutlich, wie wenig von den Dichtern des siebzehnten J a h r h u n d e r t s gerettet ist. Zweiter Satz. Der Nachlaß von Personen zweiten und dritten Ranges aus dem achtzehnten Jahrhundert ist, sofern er nicht durch deren Stellung geschützt war, zum großen Teil verlorengegangen, ja der von Personen ersten Ranges ist in einigen Fällen sehr zerrüttet. Schon in Fällen, in denen ein in P r i v a t h ä n d e n verbliebener N a c h l a ß Gegenstand der sorgsamsten Behandlung gewesen ist, w a r derselbe doch G e f a h r e n ausgesetzt, die in einem gut verwalteten Archiv ausgeschlossen sein w ü r d e n . Die Handschriften Goethes wurden schon zu seinen Lebzeiten mit einer Sorgfalt verwaltet, die vielleicht in der Geschichte der Literatur einzig ist. Ein geräumiges eigenes H a u s stand zur Verfügung, Personen, die sich Goethe mit leidenschaftlicher Ergebung widmeten. Diese verehrungsvolle Sorgfalt steigerte sich nach seinem Tode. Dennoch k a m nicht weniges in Verlust, insbesondere aber w a r der bauliche Zustand des Hauses zuletzt derart geworden, d a ß den Handschriften hieraus eine sehr ernstliche G e f a h r erwachsen w a r . W o aber nicht große Verhältnisse und Mittel eine solche Pflege der Handschriften ermöglicht haben, da hat auch bei Schriftstellern ersten Ranges der N a c h l a ß sehr erheblichen Schaden erlitten. Ich erläutere das a n dem Schicksal der Handschriften von zwei Schriftstellern ersten Ranges. Schon zu seinen Lebzeiten gab K a n t einen Teil seiner Papiere an jüngere Freunde. Aber die H a u p t m a s s e ging nach seinem Tode an drei Personen über. Nach deren Ableben w a r d d a n n nur ein Teil der Königsberger Bibliothek übergeben, ein anderer k a m z u m öffentlichen V e r k a u f . Wieviel aus den so zirkulierenden Papieren verlorengegangen, wissen wir nicht. Als die Nachlassenschaft des Verlegers N i k o lovius verkauft w u r d e , w a r ein Teil der Kantschen Handschriften in dieser Masse, w u r d e zufällig durch den Herausgeber der W e r k e Kants e r k a n n t u n d f ü r die Königsberger Bibliothek erworben. Ein Teil w a r unter die M a k u l a t u r des vieljährigen Verlags geraten, die zentnerweise a n G e w ü r z k r ä m e r abgegeben wurde. I m Leben eines solchen f a n d d a n n zufällig ein Prediger Andersch die wichtigen Bemerkungen K a n t s zu seiner A b h a n d l u n g über das Schöne und Erhabene. Aus

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diesem Sdiiffbruch des Nachlasses von Kant sind drei kleinere Massen gerettet worden. Auf der Königsberger Bibliothek liegen die berühmten losen Blätter; dann Entwürfe Kants zu Briefen, Briefe an ihn und biographische Nachrichten 1 . Dorpat besitzt ebenfalls Briefe an Kant, daneben handschriftliche Bemerkungen zu den von ihm benutzten Lehrbüchern. Und Krause in H a m b u r g hat kürzlich das letzte leider unvollendete Werk Kants angekauft. N u r weniges ist sonsthin zerstreut. Von dem Nachlaß von Klopstock ist eine erhebliche Masse, die zu Hamburg in Privatbesitz sich befand, in dem großen Brande zerstört worden. Das noch Vorhandene ist von Zürich bis nach Hamburg, Kiel und Kopenhagen zerstreut. Ein merkwürdiges Schicksal hatte der N a d i l a ß von Matthias Claudius. Dieser hatte auf dem Sterbebette seinen Sohn Franz beauftragt, seine ganze Korrespondenz zu verbrennen; der Sohn brachte es nicht über das Herz, das Autodafe sofort zu vollziehen, löste dann aber während seiner letzten Krankheit das dem Vater gegebene Wort ein. So ist eine ganze Reihe von Briefen Goethes und Lessings an Claudius unwiederbringlich verlorengegangen. Als ein weiteres Beispiel wähle ich aus den Personen zweiten Ranges Karl Philipp Moritz. Er stand mit Goethe und Herder, mit anderen zahllosen Zeitgenossen in lebhaftem Briefwechsel. Er hatte eine ganze Anzahl von Arbeiten entworfen und begonnen. Nichts von alle diesem aufzufinden. N u r zwei Briefe liegen hier im Herderschen Nadilaß und andere im Staatsarchiv. Dritter Satz. Da die Briefe hervorragender Schrißsteller in der Regel nicht zurückgefordert wurden, sondern bei den Korrespondenten verblieben, mußte die Gleichgültigkeit gegen Personen zweiten oder geringeren Ranges auch den Untergang vieler Briefe hervorragender Schrißsteller zur Folge haben. Das Gleimarchiv in Halberstadt, die Ringsche Briefsammlung in Freiburg, die 200 Briefe von Goethe, Herder, Klinger, Lavater u. a., welche aus den etwa 4000 im Nadilaß Soemmerings befindlichen Briefen die Familie auslas und bewahrte, zeigen, welche Schätze ein wohl erhaltener Nachlaß eines Mannes zweiten oder geringeren Ranges unter Umständen birgt. U n d der geringe Bestand Kantscher und Lessingsdier Briefe erweist, welche nachteiligen Wirkungen die Gleichgültigkeit gegen den Nachlaß ihrer Korrespondenten gehabt hat. Vierter Satz. Aber auch was sich von einem bedeutenden Schriftsteller erhalten hat, ist nur in Ausnahmefällen einigermaßen vollständig vereinigt. Man kann zwei 1 Eben sendet mir der um Kants N a d i l a ß hochverdiente H . Rudolf Reicke das erste Heft der von ihm hergestellten Ausgabe dieser losen Blätter aus Kants Nachlaß (Königsberg, Beyer 1889); auch hier findet sich wieder ein interessanter Beleg f ü r die Zerstreuung der Papiere Kants. Bei Gelegenheit des im Herbst 1878 zu Danzig veranstalteten Bazars zum Besten des Johannisstiftes zu O h r a - N i e d e r f e l d , einer Rettungsanstalt f ü r verwahrloste Knaben, wurde unter anderen Gaben auch ein Päckchen mit Papieren, Kantiana enthaltend, zur Verwertung übergeben. Das Komitee beabsichtigte, die verschiedenen Stücke sofort einzeln als Autographen zum Verkauf zu stellen. Der verdiente Germanist M a n n h a r d t rettete diese Papiere vor der Gefahr, in alle Welt zerstreut zu werden, indem er ihren Ankauf f ü r die Königsberger Bibliothek durchzusetzen wußte. Es waren sehr wertvolle Sachen, welche ein Zuhörer und Verehrer Kants, von Duisburg, auf eine uns nicht bekannte Art an sich gebracht hatte und die in der Familie verblieben waren.

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Formen von Zersplitterungen unterscheiden; entweder eine Hauptmasse blieb zusammen und mehr oder weniger splitterte ab oder die Masse zerfiel in Teile. So sorgsam Herders, Goethes und Schillers Nachlaß zusammengehalten worden ist, so finden wir doch schöne Sachen von den beiden letzteren auf der hiesigen Bibliothek und anderwärts, und auch von Herder ist einiges zerstreut. Von Lavater hat sich in die Darmstädter Hofbibliothek ein physiognomisches Schriftchen verirrt und in die Tübinger Universitätsbibliothek ein Briefwechsel. In der Regel aber ist die Zerstreuung viel größer. In vielen Fällen zerfiel der Nachlaß in einzelne Teile. Hiervon sind die berühmtesten Beispiele der Zerfall des Nachlasses von Kant in drei und des Nachlasses von Lessing in vier Massen. Lenz zersplitterte in die unzugängliche Privatsammlung Maitzahns, in die wohlverwaltete von Sievers stammende, Weinholds, und in die nicht ganz durchsichtige von Falk. Die Handschriften Klingers sind in Privatbesitz in Hamburg, Darmstadt, F r a n k f u r t und an anderen Stellen zerstreut. Noch mehr sind die Wielands zersplittert. Und den Philosophen H e r b a r t muß man in Oldenburg, Bremen, Varel aufsuchen. Solche Zerstreuung ist natürlich durch das Verbleiben der Briefe bei den Korrespondenten sehr gesteigert. Die großen Sammlungen, wie die erwähnten von Gleim und Ring oder die von Bötticher in Dresden, diese cloaca maxima von Verleumdungsunrat, enthalten die Briefe unzähliger Personen. U n d wie manches ist in Winkel geraten, in denen niemand es aufsucht. So findet sich in einer Gymnasialbibliothek zu Frankfurt a. d. O . ein Reisejournal, das die Universitäts- und Kirchenzustände aus den Jahren 1740 bis 1742 beschreibt. Briefe Klopstocks, Herders und Wielands haben sich in das britische Museum verloren; bis nach Paris haben sich Herdersche Briefe verirrt, anderes bis Brüssel. Fünfter Satz. Geht man im achtzehnten Jahrhundert weiter und in das neunzehnte hinein, so nimmt der Bestand erhaltener Nachlaßmassen zu, zugleich aber überwiegt immer mehr der Familienbesitz über den Bibliotheksbestand, und die Zurückhaltung der Familien nimmt immer zu. Je näher man der Gegenwart kommt, desto mehr ziehen sich die Nachlässe in die Familien zurück. N u r besondere Schicksale geben sie dem Verkauf preis oder bringen sie durch Schenkung auf die Bibliotheken. Die großen Nachlässe aus der jüngsten Zeit im Besitz der Bibliotheken enthalten in der Regel die Briefe und vertraulicheren Papiere nicht; dagegen entledigen sich die Familien sehr gern der wissenschaftlichen Papiere. So gewähren die Nachlaßmassen von Gottfried Hermann, von den bedeutenden Germanisten und von Rücken in der hiesigen Handschriftensammlung des Persönlichen und Brieflichen nur wenig. Fichte, Sdielling, Schleiermacher, Hegel, Schiller, Novalis, Uhland, Kerner, Mörike, Rückert, Niebuhr, Baur, Strauß, Savigny, Ranke: überall sind die Briefschaften im Familienbesitz. Immer noch kann der Nachlaß von Merck nur unter günstigen Umständen in Darmstadt benutzt werden. Immer noch wird der bedeutende Briefwechsel des tiefsinnigen Dichters Arnim von der Familie gänzlich verschlossen gehalten. U n d der Verlauf der Dinge muß audi an diesen Papieren, wie an denen der früheren Jahrhunderte sein Werk tun: bleiben sie in Privatbesitz, so muß dieser überall Zerstörung und Zersplitterung mit sich bringen.

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III. Gewiß, der in diesen Sätzen dargestellte Zustand darf nicht fortbestehen. Ich versuche nunmehr zu zeigen, wiefern ihm die Einrichtung von Archiven abzuhelfen vermag. Für das siebzehnte Jahrhundert und einen erheblichen Teil des achtzehnten bedarf es darum schon einer zusammenhängenden Archivverwaltung, damit jetzt noch, im letzten Augenblick, die im Privatbesitz befindlichen, zersplitterten Reste wie mit Besen zusammengekehrt werden. Man wird die ganze Findigkeit leidenschaftlicher Sammler hier zur Hilfe nehmen müssen. Dann ist eine Zusammenlegung des auf Bibliotheken Getrennten erforderlich. Der erste Schritt hierfür wäre eine Registrierung der vorhandenen Handschriften. Und zwar in einer Ordnung, welche nicht wie mancher Handschriftenkatalog die Manuskripte nach Folio, Oktav und Quart trennt, und welche die Briefe nicht unter die Namen der Empfänger, sondern die der Schreiber sammelt. Dann aber muß zur Zusammenlegung selber geschritten werden. Welch ein Licht wird auf unseren Anteil an dem männlichen und schöpferischen Werk des siebzehnten Jahrhunderts fallen, wenn einmal in denselben Räumen unter den Namen der Schreibenden Handschriften und Briefe vereinigt sein werden. Und was wird ein solches Archiv uns für das achtzehnte Jahrhundert und die Geschichte der Aufklärung sein! Allzulange hat diese deutsche Aufklärung unter dem Schatten der Romantik und der historischen Schule gestanden. Diese Bewegung, die sich in der Staatsverwaltung Friedrichs, der Gesetzgebung des Landrechts, dem Unterrichtssystem von Zedlitz, der Philosophie Kants und der Kritik Lessings manifestiert· hat, kann erst auf den Standort unserer realistischen Zeit und unseres nationalen Staates gewürdigt werden. Aber ihr Verständnis ist bedingt durch den Einblick in die Kooperation vieler gescheiter, charaktervoller und tüchtiger Menschen. Wir müssen diese in ihrer ganzen Wesenheit, sonach in ihrem vertraulichen Leben kennenlernen. Wir müssen die Atmosphäre um sie her fühlen; wir müssen ihre praktischen Entwürfe aus den Ideen ihrer Zeit entstehen sehen; wir müssen ihre Kooperation in ihren Korrespondenzen ergreifen. Der Staat Friedrichs des Großen muß dies grundlegende Zeitalter der Aufklärung durch Sammlung aller Reste desselben sich zur Erkenntnis bringen; und nur hier in Berlin im Mittelpunkte dieser Aufklärungsbewegung können diese Handschriften vereinigt werden. Kommt man dann zu den Schriftstellern, die Ende des vorigen und in unserem Jahrhundert blühten, so ergibt sich eine weitere nicht minder bedeutende Aufgabe. Ich habe gezeigt, wie sich in dieser Epoche der Nadilaß durchweg in den Familien verschließt und welche Gefahren für seine Erhaltung, welche Schwierigkeiten für seine Benutzung hieraus fließen. Hier helfen uns allein öffentliche Sammelstätten, die eine wirkliche Attraktionskraft auf diese Schätze üben. Meine ganze Hoffnung ist auf den Archivar der Literatur gerichtet, dessen Bild vor mir steht. Selten hat eine Familie Muße und Geschick, einen umfassenden Nachlaß durchzuarbeiten. Niemals kann sie ihn der Wissenschaft offenhalten. Aber Archive, von hervorragenden und mit der Literatur vertrauten Personen geleitet, können

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dem ernsten Familiensinn alle Garantien bieten und doch zugleich der Wissenschaft die Handschriften erschließen. Durchgreifende Maximen, in gedruckten Reglements den Familien zugänglich, müssen feste Rechtsverhältnisse zwischen dem Archiv und den Familienvertretern schaffen. Folgende oberste Regel macht solche Rechtsverhältnisse erst möglich. Das Interesse, den Nachlaß bedeutender Schriftsteller unseres Volkes an öffentlicher Stelle zu sammeln, zu erhalten und einer ernsten Wissenschaft zu erschließen, muß überall durchgreifen gegenüber dem Interesse an der Zugänglichkeit einzelner dem Familiensinn anstößiger Tatsachen. Ich überlasse dem einzelnen, wie er solche Tatsachen abschätzen mag. Jede derselben hat f ü r die Induktion auf den Charakter einer Person oder ihrer Zeit eine Bedeutung. Aber diese Bedeutung reicht nie an die derjenigen Maximen heran, an welche, dem stets verehrungswürdigen Familiensinn entsprechend, Erhaltung, Sammlung und Offenlegung unserer großen Schriftsteller gebunden ist. Der Archivar dieser Schätze muß der verschwiegene Inhaber vieler Familiengeheimnisse sein. Er arbeitet den neu eintretenden Nachlaß durch. Er setzt sich über Anstößiges oder auch nur Mißverständnis Erregendes mit der Familie in Beziehung. Diese weiß, daß sein scharfes Auge alles sehen und seine Rechtschaffenheit ihr alles vorlegen wird. Sie kann mit ihm besondere Bestimmungen über die Behandlung der H a n d schriften, ihre nur bedingte oder nur allmähliche Erschließung verabreden. Audi braucht keineswegs das Eigentum eines Nachlasses von einer Familie aufgegeben zu werden, wenn sie denselben einem Archiv übergibt. Vielmehr bietet sich hier die Deposition eines Nachlasses im Archiv als eine Form, welche das Eigentumsrecht der Familien oder auch einer Stadt, eines Staates unberührt ließe und doch den Nachlaß eröffnete. Das rechtliche Verhältnis einer solchen Deposition würde entweder durchgreifend durch die Reglements des Archivs oder f ü r jeden einzelnen Fall durch Stipulation geordnet. Schließlich entsteht die Frage, an welchen Stellen und in welchem U m f a n g solche Archive zu errichten seien. Natürliche Mittelpunkte sind da. An sie muß alles anknüpfen. Für die spärlichen Reste unseres deutschen Humanismus ist die Heidelberger Bibliothek der natürliche Mittelpunkt. Ein Zentrum f ü r die Handschriften der altprotestantischen Kirche und ein solches für die des siebzehnten Jahrhunderts bis zum Auftreten Wolffs hin wird sich bei der Konkurrenz so bedeutender H a n d schriftensitze als Hannover, Hamburg, Leipzig und Dresden nur in schwierigen Verhandlungen feststellen lassen. D a n n beherrscht vom Auftreten Wolffs ab bis zu den sechziger Jahren und dem Auftreten von Klopstodc, Herder, Jacobi, den Sturm-und-Drang-Dichtern die Aufklärung alles, behauptet weiter aber audi nodi neben der neuen Bewegung den überwiegenden praktischen Einfluß. Die H a n d schriften dieses großen Vorganges gehören auf ein Archiv in der Stadt Friedrichs des Großen. Man könnte sich denken, daß im Staatsarchiv, an das ja viele Handschriften von Beamten und Militärs abgegeben sind, eine ganz selbständig verwaltete Abteilung f ü r die Handschriften der Schriftsteller geschaffen würde, oder die Leitung eines solchen Archivs stünde mit der Berliner Akademie der Wissenschaften in einem ähnlichen Verhältnis wie die Leitung der Monumenta

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Germaniae. War das doch die historische Position der Akademie im vorigen J a h r hundert, trotz des Ausschlusses von Lessing und Mendelssohn aus ihr, daß sie den Geist der A u f k l ä r u n g repräsentierte. Treten dann Herder, Goethe und Schiller auf den Plan, um sie her die N a m e n : Klinger, Lenz, Heinse, Jacobi, dann ist auch hier nur ein Handschriftenmittelpunkt möglich: Weimar und sein Goethearchiv. Mit dem, was dort Hochsinn und Einsicht der Großherzogin vereinigt haben, muß zuerst unser hiesiger Herdernadilaß verbunden werden. Ich habe diesen Wunsch schon bei einer anderen Gelegenheit ausgesprochen. Probleme wie das von der Entstehung des neuen Stils in Lyrik und Prosa oder das von der Ausbildung der neuen Naturansicht könnten so vielleicht der Lösung etwas nähergeführt werden. Möchte dann bald die Familie Schillers diesem Archiv ihre Schätze überlassen und dort beide Freunde vereinigen. Sie erwäge, wer ohne Zögern gibt, gibt doppelt. D a n n wird die in Weimar vereinigte Masse audi kleinere Nachlässe an sich ziehen. Für die spätere R o m a n t i k , die historische Schule und die nachkantisdie Spekulation bis auf Lotze ist das Archiv in Berlin wieder der natürliche Mittelpunkt. U n d wahrscheinlich würde die Leitung des Archivs durch die Akademie bei deren Stellung zu diesem Teil unserer Geschichte, bei dem Vertrauen der Familien in den beteiligten Kreisen zu der Akademie den Zutritt der Papiere erleichtern. M ö g e jeder dies Phantasiebild weiter ausmalen! In Stuttgart oder Tübingen die H a n d schriften der schwäbischen Dichterschule und der so hoch bedeutsamen Tübinger Theologie; in Wien ein österreichisches Literaturarchiv, in der ersten deutschen Kunststadt, München, Handschriften der Künstler: ein unschätzbares Material für eine künftige empirische Ästhetik und urkundliche Kunstgeschichte. Phantasien! Es bedürfte der Geldmittel und der Zeit. Die Bibliotheken müßten im Bewußtsein ihrer eigenen, immer wachsenden Aufgaben neidlos den neuen Schwesteranstalten A u f g a b e n überlassen, für deren Abtrennung von den ihren nun einmal die Zeit gekommen ist. D i e einzelnen Staaten müßten im Austausch der Handschriften das Interesse an unserer Literatur über das an ihrem Handschriftenbesitz stellen. Wie wenig oder viel aber auch von diesen patriotischen Phantasien verwirklicht werden m a g : es wird zugleich die Lösung einer vor unseren Füßen liegenden A u f g a b e erleiditern. Wir haben keine würdige Ausgabe von H a n s Sachs, von Winckelmann, von Justus Moser, von H a m a n n , von Wieland, ja von K a n t . Man wird sagen: Papier und wieder Papier! Bricht nicht doch der neue Alexandrinismus herein? D a ß die literarische Betrachtung der Alten in solcher Sterilität verkam, das war die Folge ihrer Einschränkung auf Formbetrachtung und auf Klassifikation. Die moderne Wissenschaft hat ein solches Schicksal nicht zu befürchten, mögen auch einzelne Literatoren demselben verfallen. Denn sie schreitet voran unter dem Zeichen der Kausalerkenntnis, der Erkenntnis von Gesetzen. D a s Unscheinbare und Kleine ist hier ein Glied in einem Kausalzusammenhang, ein Fall für ein Gesetz. Jene Andacht zum Unbedeutenden, welche so bezeichnend für J a k o b Grimms Arbeitsweise ist, hat doch diesen ehrwürdigsten und tiefsten Gelehrten gerade zur Auffindung durchgreifender, die Sprache beherrschender Gesetze und großer geschichtlicher Zusammenhänge geführt. Sooft wir durch die ent-

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sprechenden Einrichtungen ein O b j e k t dem Begriff wissenschaftlicher

Methoden

zugänglich machen, entziehen wir es der Mikrologie und der Neubegier. Zugleich aber würden Sammlungen von Handschriften das Bedürfnis des Drucks derselben erheblich einschränken. Ich endige wie ich begann. Mit dem Interesse der zeitlosen Wissenschaft verknüpfte sich in diesen Vorschlägen das an der Pflege unseres nationalen

Bewußtseins.

Stätten, an denen die Handschriften

unserer

großen

Schriftsteller erhalten und vereinigt lägen, die erhaltenen Büsten und Bildnisse darüber, wären Pflegestätten der deutschen Gesinnung. Sie wären eine andere Westminsterabtei, in welcher wir nicht die sterblichen K ö r p e r , sondern den unsterblichen idealen Gehalt unserer großen Schriftsteller versammeln würden.

PORTRAITS UND BIOGRAPHISCHE SKIZZEN

Schleiermacher „Aus jedem Kunstwerk strahlet mir, was Menschliches darin ist abgebildet, weit heller als des Bildners Kunst entgegen. Ich gebe frei mich hin der freien N a t u r : und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeidien mir darbeut, wecken sie alle in mir Empfindungen und Gedanken, ohne daß mich's je gewaltsam drängte, was ich geschaut, umbildend anders und bestimmter zum eigenen Werke zu gestalten. Drum darf ich auch nicht, wie der Künstler, einsam bilden; es trocknen mir in der Einsamkeit die Säfte des Gemüts, es stocket der Gedankenlauf; ich muß hinaus in mancherlei Gemeinschaft mit den andern Geistern, immer fester durch Geben und Empfangen das eigene Wesen zu bestimmen. Der ungestillte Durst, es weiter stets zu bilden, verstattet nicht, daß ich der Tat, der Mitteilung des Innern, auch äußere Vollendung gebe; ich stelle die H a n d l u n g und die Rede hin in die Welt, es kümmert mich nicht, ob Schauende und H ö r e r mit ihrem Sinn durchdringen durch die rauhe Schale, ob sie den innersten Gedanken, den eigenen Geist audi in der unvollkommneren Darstellung glücklich finden. Mir bleibt nicht Zeit, nicht Lust, danach zu fragen; fort muß ich von der Stelle, wo ich stand, durch neues Tun und Denken in dem kurzen Leben noch das eigene Wesen, soweit es möglich, zu vollenden." Mit diesen Worten hat Schleiermacher seine Eigentümlichkeit selber bezeichnet, wie er denn über sie zu reflektieren, sich in jeder Bewegung zu beobachten nicht müde wurde. — Er war eine religiöse N a t u r ; religiöses Leben in sich zu gestalten und außer sich anzuregen, war der innerste Trieb seines Geistes. Die schärfste, immer kampfgerüstete Dialektik, ein ruheloser, von der lebendigsten Phantasie getragener, durch philologische Methode geübter Scharfsinn waren doch nur dem religiösen Leben in ihm dienstbar, das danach rang, einen dem wissenschaftlichen Bewußtsein jener Zeit angemessenen Ausdruck zu finden. Treffender Witz, heitere gesellige Gewandtheit, die glücklichste Geistesgegenwart, die jedes Gespräch und 2

Dilthey, SAriften X V

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Portraits und biographische Skizzen

jedes Verhältnis beherrschte, verhüllten bald die Bewegungen eines innigen Gemütes, bald ließen sie dieselben leicht und liebenswürdig hervortreten. Eine immer wache Besonnenheit w a r ihm eigen: wie sehr er auch den Scherz liebte, in ernsten Verhältnissen erschien er stets w ü r d i g u n d haltungsvoll; mit Äußerungen seines Gefühls w a r er wie viele tiefe Gemüter zurückhaltend, so d a ß er leicht k a l t erschien. Besonders in späterer Zeit w a r sein Witz ö f t e r schneidend, fast bitter; die verschlungenen Wege der Dialektik reizten seinen scharfen Geist wohl mehr als billig. Aber den Freunden gegenüber blieb er der offensten Hingebung in seltenem M a ß e fähig und — was oft wie ein kindlicher Zug in dieser männlichen Seele herv o r t r i t t — er w a r derselben immer auch ir. hohem M a ß e bedürftig. Wo es das Wohl seines Vaterlandes oder der protestantischen Kirche galt, hat er das W o r t wie ein Schwert gehandhabt, schneidend u n d furchtlos. Wilh. v. H u m b o l d t urteilte von ihm, „daß sein Sprechen sein Schreiben übertroffen habe u n d d a ß demjenigen, der seinen mündlichen V o r t r a g nie gehört, das seltenste Talent u n d die merkwürdigsten Charakterseiten des seltenen Mannes u n b e k a n n t geblieben seien". So ist es denn gar sehr zu bedauern, d a ß keiner von den befreundeten Zeitgenossen sich bis jetzt hat entschließen wollen, den Eindruck seiner Persönlichkeit durch eine eingehende Schilderung seines Lebens u n d seiner Erscheinung den S p ä t e m zu erhalten"'. Eine Herausgabe seines wissenschaftlichen Briefwechsels w i r d seit längerer Zeit vorbereitet. Für die nächste Zeit aber müssen wir uns noch damit begnügen, die zerstreuten Züge seiner Erscheinung aus verschiedenen Aufsätzen, D e n k w ü r d i g keiten u n d Briefwechseln zusammenzusuchen. Indem wir zu solchen Versuchen einen Beitrag geben, sehen wir von einer wissenschaftlichen K r i t i k seiner Werke natürlich ab. Uns k o m m t es nur auf die Vergegenwärtigung seines Lebens u n d seiner Persönlichkeit an. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher w a r den 21. N o v e m b e r 1768 zu Breslau geboren. Sein V a t e r w a r reformierter Feldprediger in Schlesien. Häufige Amtsreisen hielten denselben oft vom H a u s e fern. So Schloß der K n a b e sich desto herzlicher an seine Mutter, eine verständige, innig f r o m m e Frau, an. M i t den ersten V o r stellungen u n d Gefühlen sog er hier die Heilslehren des Christentums ein. Es ist merkwürdig, wie die ersten Worte, die uns von dem dreizehnjährigen Knaben berichtet werden, bereits jenen tiefen Gegensatz von Sünde u n d G n a d e in der kindlichen Seele zeigen, der nachher der G r u n d p f e i l e r des bewunderungswürdigen * Daher denn solche Verzerrungen seines Bildes möglich sind, wie die bei Hillebrand, Nationalliteratur III, 216. Die einzige Anmerkung „Schleiermachers eigentlich (sie!) philosophische Schriften, z.B. die Didaktik und die Geschichte der Philosophie, hat Jonas nach seinem Tode (1839) herausgegeben" kennzeichnet den Grad seiner Kenntnis des Schleiermacherschen Systems völlig. Hat etwa, anderes zu übergehen, Jonas die philosophische Ethik auch herausgegeben oder ist sie nicht „eigentlich philosophisch?" Auch bei seinen sonstigen feuilletonistischen Sprüngen berührt er diese bedeutendste philosophische Schöpfung Schleiermachers nirgends; obgleich er, da er die negative Dialektik der Kritik der Sittcnlehre zu tadeln sich herausnimmt, wohl Grund hätte, nach deren positiver Ergänzung sich umzusehen. Was Gutzkow über Schleiermachers Stimmung in seinen letzten Jahren gesagt hat, wiederholt er ruhig, obgleich es von zuverlässigen Gewährsmännern längst widerlegt ist.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermadier

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Kunstwerks seiner Dogmatik wurde. „Du schreibst, mein lieber S o h n " , so lesen wir in einem Briefe seiner Mutter von 17S2, „Du empfindest es recht, daß die Liebe Jesu Christi noch nicht in Deiner Seele wohne, daß Du ein Sünder und noch nicht von Jesu begnadiget seiest und wünschest unsern R a t , wie Du zu dem liebevollen Geist Jesu gelangen mögest." Doch neben den religiösen Kämpfen trägt sich der Knabe schon mit kritischen Gedanken; die Idee ist ihm gekommen, alle alten Schriftsteller und mit ihnen die alte Geschichte könnten untergeschoben sein. Sein Lehrer begeistert ihn für die Beschäftigung mit den Wissenschaften und für gelehrten Ruhm. Sein Vater, eine ernste, männliche Natur, war nach harten Kämpfen zu einem scharf umgrenzten Christentum gekommen. Und wie es bei solchen Männern nicht selten ist, wollte er diese K ä m p f e seinen Kindern ersparen. D a er nun auf einer Reise eine in ihrer Art treffliche Erziehungsanstalt der Herrnhuter zu Niesky kennengelernt hatte, übergab er derselben unsern Schleiermadier nebst dem jüngern Bruder desselben. D e r O r t liegt in den schlesischen Abhängen des Riesengebirges, ein paar Stunden von jenem Görlitz, in dem der tiefsinnige Mystiker J a k o b Böhme gelebt hat. Als Schleiermacher dorthin kam, geriet er in den peinlichsten Zustand: sein Vertrauen auf das eigene moralische Vermögen des Menschen war erschüttert, und doch rang er vergebens nach den übernatürlichen Gefühlen, in denen die Brüdergemeinde Zeichen der wiedererlangten Gnade Gottes sieht. U m so verlangender hing er an der Hoffnung, durch das Zusammenleben mit so vielen frommen Christen in der Gemeinde Frieden zu finden. In seiner kindlidien H i n gebung war er sogar entschlossen, wenn das Los, das über die Aufnahme in diese Anstalten entscheidet, ihm ungünstig sein sollte, „lieber in der Gemeinde eine ehrbare Hantierung zu lernen" und allen schönen Hoffnungen auf gelehrten R u h m zu entsagen. In dieser Verfassung trat er 1783 in das Pädagogium zu

Niesky.

Hier warf er sich nun auf das Studium der Klassiker mit brennendem Eifer. Nach schlechter Anleitung und mit noch schlechtem Hilfsmitteln vertiefte er sich gemeinsam mit seinem Freunde Albertini in die Griechen. Die beiden

Knaben

schrieben Abhandlungen voll von ihren neuen Entdeckungen, die nur leider für die übrige Welt nicht mehr neu waren. Heftig erschütterte ihn in dieser Zeit der T o d seiner vortrefflichen Mutter. E r erinnerte sich seiner Ahnungen, als er in Gnadenfrei Abschied von ihr nahm, und ihrer W o r t e : „ J e t z t wird man die Kinder alle in die Gemeinde bringen, dann ist man ja doch hier zu nichts mehr nutz, da legt man sich hin und schläft ein." Und er fühlt sich durch den darin liegenden Wunsch und durch die Erzählung ihres frommen Endes nur noch enger mit der Gemeinde, in der er lebt, verknüpft. Wie früher mit der Mutter, wechselt er nun mit einer Schwester Briefe über den Zustand seines Innern und begrüßt das Fest ihrer K o n firmation

mit einem Liede ganz in der zu Herrnhut beliebten Manier, voll frommer

Innigkeit. Indes hatten die beiden Freunde die Gymnasialstudien vollendet und bezogen das Seminarium zu Barby. Es war dieser O r t eigentlich die Universität der Brüdergemeinde. Will man sich das dortige Leben vorstellen, so muß man einen Augenblick vergessen, daß damals rings auf den deutschen Kathedern die Aufklärung 2*

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Portraits und biographische Skizzen

dozierte, daß gerade damals die Allgemeine Deutsche Bibliothek über alles, was sich von „veralteten Schwärmereien" auf dem literarischen Markte blicken ließ, in langatmigen Verhandlungen ihre Gerichte hielt. Nur verworrene und unverständliche Töne drangen von diesem Lärm der öffentlichen Debatten herein in die tiefe Ruhe der Gemeinde. Die natürliche Abgeschlossenheit ihrer Lage vermehrten künstliche Mittel. Ein Index Schloß alle dem hier gepflegten Christentume gefährlichen Bücher aus. In den Kollegien wurden die Ansichten der Gegner abgefertigt, ohne daß ihre Gründe mitgeteilt wurden. In der Tat war auch für künftige Lehrer der Brüdergemeinde die Kenntnisnahme von den Bewegungen draußen im wissenschaftlichen Leben wohl entbehrlich. Aber auch diese abgeschlossene Einsamkeit konnte den regsamen und vordringenden Geist Sdileiermachers nicht hemmen. „Der Knoten des psychologischen Dramas", so drückte er sich selbst später über diese Zustände aus, „war so fest geschürzt als möglich; er mußte anfangen, sich zu lösen." War bisher sein beweglicher Verstand mit dem klassischen Altertume beschäftigt gewesen, sein Gemüt nur mit dem Christentum, so richteten seine theologischen Studien nunmehr den durch die bisherige Beschäftigung geübten Scharfsinn auf die christlichen Lehren selbst. Die Freunde machten nun die Bewegungen ihres Innern wie die Dogmen der Brüdergemeinde zu Gegenständen unablässigen Nachdenkens: so begannen sie aus innerem Drang, ohne äußere Anregung zu philosophieren und zu zweifeln. Aus dem, was sie selbst entdeckten, konnten sie erraten, was draußen geschah. Die philosophischen und theologischen Schriften, die damals in der Wissenschaft wirkten, näher kennenzulernen, fühlten sie kein Bedürfnis, so sehr waren sie von der Gärung ihrer eigenen Gedanken und von der Beobachtung derselben ergriffen. Daneben erschlossen ihnen Goethes „Werther" und andere Schriften, die sie sich durch meilenweite heimliche Gänge zu verschaffen wußten, das innere Leben einer ihnen ganz fremden, von weltlichen Empfindungen tiefbewegten Welt. Während solchergestalt in den Jünglingen alle Elemente gärten, die draußen die Welt bewegten, rückte die Zeit, in der sie in den geistlichen Dienst der Gemeinde treten sollten, täglich näher. Schleiermacher fühlte, daß es in diesen Zuständen gegen sein Gewissen, daß es ihm unmöglich sein werde. Offen redete er über seine Überzeugungen mit seinen Oberen. Aber die fromme Beschränkung der Brüdergemeinde, der wir so Herrliches verdanken, mußte sich hier, im Konflikt mit weiterem wissenschaftlichen Streben in ihrem Innern, von einer unschönen Seite zeigen. Auf den Jüngling durch Gegengründe zu wirken, ward nicht einmal der Versuch gemacht. Dagegen stellte man ihm als möglich, ja wahrscheinlich vor, daß sein Vater sich ihm im Falle seiner Verhärtung ganz entziehen und ihn seinem Schicksale überlassen könne. „Mein Blut kochte", schrieb Schleiermacher seinem Vater, „als ich hörte, daß man Sie so verdammte, so lieblos urteilte; aber ich verbiß es." Zu Ostern 1787 muß er als ein unheilbar Dissentierender die Gemeinde verlassen. „Schreiben Sie nicht erst nach Herrenhut", bittet er seinen Vater, „es wäre vergebene Mühe; man kann einen Dissentierenden, wie ich bin, nicht länger hier dulden. Man fürchtet, ich möchte mein schädliches Gift andern mitteilen, man kann mich auch, sei ich, wo ich sei, nicht als in der Gemeinschaft der Gemeinde

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ansehn." Ergreifend sind nun die Briefe in denen er seinem Vater die Vernichtung aller Wünsche desselben, schmerzlich bewegt und doch voll innerer Festigkeit, mitteilt. In der Art, wie hier die kindlichste Unterwerfung doch überall eine bereits ausgeprägte entschlossene Eigentümlichkeit und das schärfste Nachdenken zeigt, sind diese Briefe nur mit den berühmten Briefen Lessings aus einer ähnlichen Lage vergleichbar. Sein Wunsch ist, in Halle Theologie weiterzustudieren. „Es wird Ihnen vielleicht", schreibt er seinem Vater, „unwahrscheinlich vorkommen, daß ich mitten unter so vielen heterodoxen Lehrern meine Meinungen ändern sollte; aber soviel ich mich kenne, ist dies der beste Weg dazu. In Halle käme ich in eine Lage, wo ich alles prüfen könnte. Der schöne Vortrag würde mich nicht verführen, weil ich mich gewöhnt habe, alles, was ich lese oder höre, von allem Schmuck zu entkleiden und so zu erwägen." Endlich willigte sein Vater in den Übergang nach Halle. Schleiermacher verließ die Gemeinde, und das Kleeblatt der Freunde — denn es hatte sich zu den beiden noch ein junger, talentvoller Engländer gesellt — wurde so getrennt. Wie verschieden war ihr Schicksal! Jener Engländer, Okely, von Haß gegen die religiösen Umgebungen seiner Jugend ergriffen, verfällt überreiztem Skeptizismus. Albertini, in seiner ruhigen, fast quietistischen Weise eine vorwiegend religiöse Natur, verarbeitet die Zweifel in sich: er wurde später ein berühmter Bischof der Gemeinden. Schleiermacher allein von den Freunden riß sich los von den Banden beschränkter, der Wissenschaft fremder Verhältnisse, aber nicht los von der Frömmigkeit, in der seine Jugend wurzelte. Er wurde der Erneuerer der protestantischen Theologie. Uber den Drang, der ihn von Albertini und seiner Schwester, die in der Gemeinde lebte, hinwegtrieb, sprach er sich nachmals in einem Briefe an die letztere treffend aus: „In der Gemeinde habt Ihr gleichsam eine weibliche Konstitution, die man auch im Körperlichen durch Ruhe und Stille heilt und stärkt, dagegen wer eine männliche hat und starke Bewegung braucht, in die Welt hinaus muß und da mit seinem Gemüt auf dem entgegengesetzten Wege an demselben Punkte ankommt." Es geschah in demselben Jahre 1787, in dem Schleiermacher aus der Brüdergemeinde ausgeschlossen wurde, daß der Kandidat der Theologie Fichte sich um eine Stelle als Landprediger bewarb, die ihm aber seiner religiösen Denkweise wegen abgeschlagen wurde. Die beiden Männer, die in der religiös-sittlichen Erneuerung Deutschlands später die ersten Stellen einnehmen sollten, wurden so zu derselben Zeit von den religiösen Gemeinschaften abgewiesen, deren Dienste sie ihr Talent widmen wollten. — Schleiermacher trat nun in die freie Welt. Aber unbekannt mit ihren Verhältnissen, wie er war — war er ihr doch seit seinem vierzehnten Jahre fremd geblieben —, wie einst Lessing, als er die Universität bezog, von dem Bewußtsein eingeschüchtert, daß es ihm an Geschmeidigkeit und feinen Sitten gänzlich fehle, führte er im Verkehr mit seinem Oheim Stubenrauch und jüngern Studiengenossen ein wissenschaftliches Stilleben. Zum ersten Male hielt sein scharfer Geist Umschau * Neuerlich abgedruckt in den protest. Monatsblättern von Geizer, 55, Juliheft, und in: Aus Schleiermadiers Leben, Bd. I. Einzelnes daraus mitzuteilen, erscheint wegen ihres inneren Zusammenhanges untunlich.

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auf dem weiten Gebiete wissenschaftlichen Denkens, und der neugewonnenen Freiheit froh, verfolgte er in autodidaktischer Willkür bald dieses, bald jenes Problem, dieses oder jenes System, um den Ursprung und die Geschichte der menschlichen Meinungen so von allen Seiten näher zu erkennen. Als er 1789 seine Studien vollendete, hatte er sich noch immer keinem theologischen oder philosophischen System angeschlossen. „Ich habe von jeher geglaubt", schreibt er damals seinem Vater, „daß das Prüfen und Untersuchen, das geduldige Abhören aller Zeugen und aller Parteien das einzige Mittel sei, endlich zu einem hinlänglichen Gebiet von Gewißheit und vor allem zu einer festen Grenze zwischen dem zu gelangen, worüber man notwendig Partei nehmen und einem jeden andern Red' und Antwort muß stehen können, und zwischen dem, was man ohne Nachteil seiner Ruhe und Glückseligkeit unentschieden lassen kann." War doch auch das Zeitalter vorwiegend kritisch gestimmt. Wie nun die ersten Fäden des dialektischen Gewebes, auf das er sein System gründete, sich verbanden, entzieht sich der Beobachtung wegen der Dürftigkeit der Nachrichten über die nun folgende Zeit. Von dieser Zeit ab bis in seinen Berliner Aufenthalt herein sind wir nur mit den Umrissen seiner äußern Geschichte bekannt. Er hielt sich bei seinem Oheim Stubenrauch, der inzwischen Prediger zu Drossen geworden war, ein Jahr lang auf, bestand dann sein Examen pro facultate docendi, und wurde Hauslehrer bei dem Grafen Dohna auf Schlobitten in Preußen. D o r t scheint er eine glückliche Zeit verlebt zu haben, in der er zum ersten Male der ihm eigentümlichen Neigung und Gabe f ü r das gesellige Leben zu folgen Gelegenheit fand. Nachdem er dann eine kurze Zeit am gelehrten Seminar und am Kornmesserschen Gymnasium zu Berlin beschäftigt worden war, erhielt er einen Ruf als Hilfsprediger nach Landsberg an der Warthe; von da kehrte er dann 1796 nach Berlin zurück, wo er bis 1802 als Prediger am Charitehause geblieben ist. Hier trat er nun aus seiner Einsamkeit in den lebendigsten wissenschaftlichen und literarischen Verkehr ein. Vergegenwärtigen wir uns kurz die wissenschaftlichen Verhältnisse, in die er eintrat. Der Streit, der über Lessings Grabe zwischen Jacobi und Mendelssohn um Spinoza und den Spinozismus Lessings entstanden war, bildet den sichtbaren Ausgangspunkt f ü r eine mächtige philosophische Bewegung. An dem hellen Tage des kritischen Rationalismus begann der Schatten Spinozas, des großen Pantheisten, umzugehen. U n d kurz nach der Zeit (seit 1784), in der Fichte Kants Kritizismus durch den Satz abschloß, daß nichts f ü r den Menschen sei als seine Vorstellungen, sein Bewußtsein, da er auch die Dinge nicht anders haben könne als in diesem, stellte eine Anzahl junger von Spinoza und dem poetischen Reiz des Pantheismus begeisterter Männer diesem Gedanken die Spinozische All-Einheit gegenüber — Hölderlin, Sdielling, Novalis, Schlegel. Aufsteigend von der Welt des Geistes und der der N a t u r zu dem Ursprung beider, vertieften sie sich in diese alles Sein und Denken aus sich wirkende, alles umfassende, alles nährende heilige Kraft, die in unbewußter, gärender Fülle und doch nach einem göttlichen Gesetz die Welt aus sich zu entfalten schien. Sdielling gab diesem modernen Spinozismus in dem Buche über die Weltseele (1798) den ersten wissenschaftlichen Ausdrude und gestaltete sie in immer neuen Versuchen, auf mittelalterliche Philosophen gestützt, zu einem

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philosophischen System aus. Anders der Kreis, der sich in Berlin bildete, in dem sich die beiden Schlegel, Novalis, Bernhardi befanden. Sie waren bemüht, diese Anschauungen auf die Sphäre der Kunst, der Kunsttheorie, des geselligen Lebens anzuwenden. U n d zwar geschah dies anfangs im besten Einvernehmen mit den Häuptern unsrer klassischen Poesie. Schien doch dem Dichter des „Faust" dieselbe Anschauung der Welt als des Kunstwerks der das All machtvoll tragenden, unbewußt durchwirkenden Weltseele überall vorgeschwebt zu haben. Was dort in poetischem Instinkt geschah, sollte jetzt mit Bewußtsein vollendet werden: die Kunst sollte der Abbildung des ewigen Kunstwerks der Welt nachtrachten. Eine Zeitschrift, das „Athenäum", wurde gegründet, um dieser Richtung Bahn zu brechen. Ehe dieselbe noch erschien, kam es zum Bruch zwischen der neuen Richtung und Schiller; auch Goethe bezeigte sich kalt. So konstituierte sich die Romantik als neue selbständige Richtung. In Berlin, ihrem Mittelpunkte, begegnete ihr nun Schleiermacher. Auf seinen eigenen Wegen, durch den Spinozistischen Streit angeregt, war er zum Studium Spinozas gekommen und hatte sich mit nachhaltiger Begeisterung diesem System und den verwandten hingegeben. Er fand sich nun plötzlich in einem bedeutenden Kreise geistesverwandter Männer. Der Graf Dohna hatte ihn in das Haus der Henriette H e r z geführt, und dort traf er Friedrich Schlegel, das H a u p t der romantischen Schule. Die beiden fühlten sich rasch voneinander angezogen und es entstand das freundschaftlichste Vernehmen. Die redegewandte, kühne und scheinbar in sich fertige Art Friedrich Schlegels, verbunden mit dem Namen, den er schon damals in der Literatur hatte, gaben ihm in diesem Verhältnisse das Ubergewicht. „Ihre Studien und Vergnügungen waren gemeinsam, ihre frühen Spaziergänge im Tiergarten, ihre späten Abendstunden bei Sala Tarone waren durch den beständigen Austausch ihrer Kenntnisse, Ideen und Einfälle belebt." Schleiermachers alte Studien des Piaton und Spinoza waren audi die Schlegels. Im Hause von Dorothea Veit, der spätem Frau Schlegels, wurde der Plan einer gemeinsamen Ubersetzung des Piaton entworfen. Auch sonst erwuchs aus ihren Gesprächen vielfache Anregung zu schriftstellerischen Arbeiten. Liebte doch die Romantik, Wissenschaft und Kunst, Kunst und Leben zu einigen; die leichtesten, das Leben unmittelbar nachbildenden Formen, wie die des Gespräches oder des Briefes, ja die Unform des Fragments, in der die vielseitige, witzige, aber zu flüchtiger Paradoxie geneigte Art der Romantik sich am ungezwungensten ausprägte, gestatteten die Früchte des geselligen Verkehrs ohne weiteres herüberzunehmen in literarische Arbeiten. Und wer konnte dann noch unterscheiden wollen, wem diese im Gespräch zu Tage geförderten Gedanken angehören sollten? Man verband das gemeinsame Eigentum, so gut es gehen wollte, zu einem Ganzen. So sind die berühmten Fragmente entstanden, die von Schleiermacher und Friedrich Schlegel, zum Teil auch von A . W . Schlegel stammen. Es war die erste schriftstellerische Arbeit, zu der die Freunde Schleiermacher bewegten. Noch heute, wenn man die Aufsätze des „Athenäums" durchblättert, fesseln sie vor den übrigen durch feinen Witz, Kühnheit der Gesichtspunkte und Schärfe des Ausdrucks. Von hier stammt das bekannte W o r t : „Der Historiker ist der rückwärts gewandte Prophet." „ H u m o r " , heißt es treffend, „ist gleichsam der Witz der Empfindung." „Klopstock ist der grammatische Poet und

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der poetische Grammatiker." Wie bezeichnend ist für Schleiermachers Denkart der Satz: „Es ist gleich löblich für den Geist, ein System zu haben und keines zu haben; er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden." — Großen Anstoß erregte nun aber Schleiermachers nächste Schrift, die anonymen Briefe über Schlegels „Lucinde". Dieser Roman hatte mit Recht allgemein mißfallen. Aber es gehörte auch das zu Schleiermachers treuer Art, daß er nicht zauderte, den von allen Seiten angegriffenen Freund zu verteidigen, wie vieles er audi in seinem Werke nicht billigen konnte. Doch darf nicht geleugnet werden, daß Schleiermachers Urteil über den ästhetischen Wert des Romans überschwenglich, die ethischen Grundsätze, die er zur Verteidigung aufstellt, wie große Züge sie audi enthalten, einseitig sind. Aber dauernder als dieses Verhältnis wurden andere Verbindungen, die Schleiermacher damals knüpfte. Das Haus des Berliner Arztes Marcus Herz war einer der Mittelpunkte der beweglichen Geselligkeit, die sich in dieser Zeit in Berlin entwickelte. Während Herz selbst ein Mann der alten Schule war, ein Schüler Kants und Freund Mendelssohns, der vordem die persönliche Verständigung dieser beiden, in ihrer Richtung verwandten Persönlichkeiten vermittelt hatte, sah er es doch gern, daß seine junge, bildungseifrige Frau, die berühmteste Schönheit Berlins, in seinem Salon die bedeutendsten Vertreter der neuen gärenden Bestrebungen versammelte. Obgleich weitaus nicht die talentvollste, ist sie doch durch edle Mäßigung und tätige Herzensgüte die liebenswürdigste Erscheinung in diesem Kreise der Romantik, welcher der Ausbildung von Männern günstiger gewesen zu sein scheint, als der der Frauen. In diesem Kreise haben sich die beiden Humboldt, die Schlegel, Gentz, Mirabeau, der Prinz Louis Ferdinand zu verschiedenen Zeiten bewegt. Auch Jean Paul erschien einmal in demselben wie ein Meteor, um sogleich wieder zu verschwinden. Zu keinem der Freunde aber trat das Haus Herz in eine so nahe Verbindung als zu Schleiermacher. Nicht ohne eine kleine verzeihliche Eitelkeit erzählte Henriette Herz später, wie er von seiner Wohnung vor der Stadt mit einer kleinen Laterne im Knopfloch an jedem Winterabend zu ihnen wanderte. Während die Freunde dann im Sommer auf einem Landgute in der Nähe der Stadt waren, gingen fleißig Briefe hin und her. Es ist ein Schleiermacher eigentümlicher Zug, wie er inniges geistiges Zusammenleben, Lebens- und Liebeszeichen fortdauernder Freundschaft nicht entbehren kann. „Ach, Liebe", schreibt er der Freundin, „tun Sie Gutes an mir und schreiben Sie fleißig. Dies muß mein Leben erhalten, welches schlechterdings in der Einsamkeit nicht gedeihen kann. Wahrlich, ich bin das allerabhängigste und unselbständigste Wesen auf der Erde, ich zweifle sogar, ob ich ein Individuum bin. Ich strecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach Liebe, ich muß sie unmittelbar berühren, und wenn ich sie nicht in vollen Zügen in mich schlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk. Das ist meine innerste Natur, es gibt kein Mittel dagegen und ich möchte auch keins." Aber auch das ist für den Ethiker, der mit so scharfen, bestimmten Linien später die sittlichen Verhältnisse umgrenzt hat, bezeichnend, daß er über die Art dieser freundschaftlichen Verbindung in seinen Briefen gern reflektierte und nicht müde wurde, das Verhältnis dieses Verkehrs zu den übrigen sich und den Freunden ins Klare zu setzen. — Aber auch in andere Kreise dehnten sich seine Verbindungen aus. D a ß nun mitten in diesem lebendigen

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Verkehr seine großartige Kritik der Sittenlehre, unbestritten das philosophisch gelehrteste Werk seiner Zeit, reifen konnte, dazu gehörte die Regsamkeit des Geistes, mit der er imstande war, unmittelbar nach dein fröhlichsten Souper in später Nacht zum Arbeitstisch zurückzukehren und sogleich ganz in der Sache zu sein. Bei Spalding und Sack verkehrte er lebhaft; Brinkmann war er von früher her verbunden. Auch die nachher so bedeutsame Verbindung mit Scharnhorst knüpfte er damals an. — Die Berliner Geselligkeit trug damals einen höchst eigentümlichen Charakter. Berlin begann eine große Stadt zu werden und sich als einen geistigen Zentralpunkt zu fühlen. Aber die Universität, die Akademie der Künste, die künstlerische Ausschmückung der Stadt — das alles war noch nicht vorhanden. Noch waren die Kreise streng geschieden und die mittlem Stände hielten fest an der prosaischen Verständigkeit, aber auch der sittlichen Nüchternheit der Männer der allgemeinen Bibliothek. U m so fester hielten die eben berührten, anfangs vereinzelten, aber geistig bedeutenden Zirkel aneinander fest. Es war eine wunderliche Zeit, in der Gentz und Humboldt, Fichte und Schlegel von einem Kreise umschlossen wurden. Vorlesungen von Fichte und Aug. Wilh. Schlegel boten zuerst damals geistige Anregung für die weitern Kreise der Gebildeten. An der Spitze der Bewegung aber standen die Romantiker. Die Romantik durchlebte damals, nach dem Ausdrucke eines geistreichen Kritikers, ihre Flegeljahre. 1797 war das „Athenäum" erschienen, im selben Jahre Tiecks „gestiefelter K a t e r " und, damit doch audi die zarte Schwärmerei, die nach Jean Paul zu diesem Alter gehört, nicht fehle, die „Herzensergießungen eines Klosterbruders" von Tieck und Wackenroder. Gleich im folgenden J a h r e erschienen die kühnen Fragmente und die mehr als kühne „Lucinde". Die Romantiker versprachen das Höchste und Wunderbarste: das Unendliche dichterisch darzustellen, eine Kunst zu schaffen, die aus der Religion selber lebendig entspringe, alle Formen und alle Stoffe der Welt zur Lösung dieser großen Aufgabe zu umfassen, Kunst und Wissenschaft, Poesie und Leben zu verknüpfen. Mit dem letztern machten sie in der T a t sogleich einen Anfang in ihren Kreisen. Auch der Adel, den Prinzen Louis Ferdinand an der Spitze, fand an dem poetischen Leben Gefallen, und so schien in dieser Gesellschaft die Scheidung der Stände aufgehoben. Selbst die Grenzen des Schicklichen und des Sittlichen wurden von den jungen Genialitäten nicht geachtet. Die Gesellschaft, die so lange den Druck verständiger Mittelmäßigkeit empfunden hatte, bezeigte sich gegen alles nachsichtig, nur nicht gegen Langeweile und Unbeholfenheit. Zum ersten Male war Berlin Mittelpunkt des literarischen Deutschlands, wenn auch nur für einen Augenblick, und entwickelte eine großstädtische Geselligkeit. Wie verschieden war doch diese Gesellschaft von der, durch welche Weimar ein Jahrzehnt vorher geglänzt hatte. In beiden spricht sich ein tiefer Trieb der deutschen Poesie aus, das Leben künstlerisch zu gestalten. Was aber dort aus unwillkürlichem naiven Drange geschah, ward hier mit bewußter Absichtlichkeit versucht. Es gab eine Zeit in Goethes Entwicklung, in der sein Leben allerdings wie von künstlerischer Harmonie gesättigt erschien; daher die Liebe, mit der alle poetischen Gemüter sich in dies Leben vertiefen. Die Romantiker zeigen nur ein unaufhör-

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liches, sehnsüchtiges Streben nach der Verklärung des Lebens durch das Schöne. Sie bringen es in der Geselligkeit wie in der Kunst nicht über das Wollen. Besonders deutlich traten diese Züge an Rahel Levin, der bedeutendsten Frau dieses Kreises, mit der auch Schleiermacher zu verkehren und scherzend zu streiten liebte, ins Auge. Mit einem tiefen und feinen Sinn f ü r das Schöne und Eigentümliche begabt, von scharfem Verstände, bewegt sie sich doch unaufhörlich und hastig zwischen exzentrischer Sehnsucht und aburteilender Schärfe, wie oft auch Laute ursprünglicher N a t u r hervorklingen, wie eindringend sie auch fremde Eigentümlichkeiten zu erfassen weiß. Auch das gehört zu der Physiognomie dieses geselligen Lebens, wie man nach allen Seiten hin die Fühlfäden ausstreckte, die Blüten aller geistigen Erscheinungen zu genießen trachtete. War jener Kreis zu Weimar ausschließlich poetischen Interessen hingegeben gewesen, so zeigte sich hier ein fast hastiger Bildungstrieb, ein nicht selten überspanntes Streben, die Bildungselemente der ganzen Welt gesellig zu genießen. So wurden die damaligen Kreise f ü r den Charakter der Berliner Geselligkeit auch in spätere Zeiten hinein mitbestimmend. Von hier aus wird nun wohl verständlich, wie Schleiermachers „Reden über Religion" entstanden, welcher Art der Kreis war, an den sie gerichtet wurden und was ihnen ihre eigentümliche Form gab. Dem, was die Freunde innerlichst bewegte, gab er hier Sprache. In den ersten Monaten von 1799 schrieb er sie zu Potsdam nieder. Fast zugleich korrespondierte er in dieser Zeit mit den Berliner Freunden, besonders mit Henriette Herz, und legte den Freunden Rechenschaft von dem Fortschreiten seines Werkes ab. Die fertigen „Reden" wurden dem Hause Herz, Friedrich Schlegel und Dorothea Veit mitgeteilt. Wie er sonst mit den Freunden unbefangen Religiöses besprach, so trat er auch jetzt, den ersten Verteidigern des Christentums ähnlich, nicht im Gewände des Priesters vor sie, sondern im Philosophenmantel. „Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Geheimnissen der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem, was in mir war, als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte, von dem, was, seit ich denke und lebe, die innerste Triebfeder meines Daseins ist." U n d die Religion, von der er zu ihnen redet, „hat nichts zu schaffen mit den altgläubigen und barbarischen Wehklagen, wodurch seine Zunftgenossen die eingestürzten Mauern ihres jüdischen Zions und seine gotischen Pfeiler wieder emporschreien möchten". In der Tat waren die „Reden" ebensosehr gegen diese Verteidiger der geltenden Lehre als gegen die Verächter der Religion gerichtet. Nicht in beschränkten Formen des Dogma, des Kultus oder der Moral liegt ihm die Religion; in der verborgenen Tiefe des Gemüts sucht er sie auf. „Sie ist das Zusammentreten des allgemeinen Lebens mit einem besonderen und erfüllt keine Zeit und bildet nichts Greifliches; sie ist die unmittelbare, heilige Vermählung des Universums mit der fleischgewordenen Vernunft. Ihr liegt dann unmittelbar an dem Busen der unendlichen Welt, Ihr seid in diesem Augenblicke ihre Seele; denn Ihr fühlt alle ihre K r ä f t e und ihr unendliches Leben wie Euer eigenes." Und aus diesem Gefühl des Unendlichen entspringt dann alles Tun und Denken und Wollen; das Göttliche durchwaltet die ganze Welt des Geistes. Kaum möchte jetzt noch jemand die Theorie der Religion, die dieses Buch enthält, wissenschaftlich rechtfertigen wollen. Sie beruht auf einer kühn gedichteten Psycho-

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logie. A b e r das w a r die Bedeutung dieser „ R e d e n " , d a ß hier mitten in einer Z e i t , die v e r s t ä n d i g e r P h i l o s o p h i e und ästhetischem G e n u ß g a n z hingegeben w a r , die R e l i gion höchstens schönen weiblichen Seelen verzieh, ein männlicher Geist, geharnischt m i t u n n a h b a r e r S c h ä r f e der D i a l e k t i k , das mächtige religiöse L e b e n , das in ihm d r ä n g t e und w o g t e , offen u n d stolz hinstellte. D a s w a r es, w a s diesem Buch eine m e r k w ü r d i g e W i r k u n g verschaffte. M o c h t e auch der T o n der begeisterten R e d e zuviel nach der K u n s t P i a t o n s schmecken, die Begeisterung selbst w a r w a h r

und

männlich und f a n d d a h e r in u n z ä h l i g e n G e m ü t e r n einen W i d e r h a l l . N i c h t wenige h a b e n dieses Buch allen späteren Schleiermachers v o r g e z o g e n wegen der mächtigen sprudelnden K r a f t , die sich darin k u n d gibt. E s ist zwischen diesem jugendlichen W e r k u n d den späteren genau dasselbe V e r h ä l t n i s w i e zwischen G o e t h e s

und

Schillers J u g e n d w e r k e n u n d den reiferen, o d e r wie zwischen H e g e l s „ P h ä n o m e n o l o g i e " u n d seiner „ L o g i k " . D i e noch gärende K r a f t schäumt mächtiger, und der innere D r a n g , einen noch gar nicht ausgemessenen I n h a l t des Geistes zu o f f e n b a r e n , v e r leiht den W e r k e n der J u g e n d den reizenden Schein einer unendlichen P e r s p e k t i v e . A b e r der G e i s t soll v o n jugendlichem Enthusiasmus fortschreiten zu r u h i g - k l a r e r A u s p r ä g u n g des G e d a n k e n s . D a h e r die F r e u n d e G o e t h e s und Schleiermachers, die sich in diesen F o r t s c h r i t t nicht zu finden vermochten, und ein T e i l des P u b l i k u m s , dem es ähnlich ging, sehr m i t U n r e c h t sich über einen A b f a l l o d e r gar eine U n t r e u e dieser M ä n n e r b e k l a g t e n . Es w a r töricht, wenn F r . Schlegel R e d e n s a r t e n wie „als Schlciermacher m i r noch treu w a r " später fallen ließ u n d die W o r t e im H e r k u l e s Musagetes „ w i e mein A r m Dich glühend u m f a ß t e , R e d n e r der R e l i g i o n ,

früher

N o v a l i s auch D i c h " in den P e n t a m e t e r v e r w a n d e l t e „deren m i r einen der T o d , a n d r e das L e b e n g e r a u b t . " D a m a l s pries er im „ A t h e n ä u m " ( I I , S. 2 9 9 ) Schleiermadier als den, der „ g r o ß u n d herrlich, w i e es seit langer Z e i t nicht geschehen, über diesen G e g e n s t a n d aller G e g e n s t ä n d e geredet h a b e " . N u r , d a ß ihm — für den R o m a n t i k e r höchst charakteristisch — dies bedenklich schien, d a ß Schleiermadier „sich aus W i l l k ü r und um der V i r t u o s i t ä t willen nicht auf gleiche, a b e r dodi a u f ähnliche Weise begrenzt h a b e , wie w i r oft durch N a t u r und G e n i e die Poesie o d e r

Philosophie

b e g r e n z t sehen, w o denn auch in den höchsten Erscheinungen ein R e s t von U n p o e s i e o d e r U n p h i l o s o p h i e b l e i b t " . Es ist b e k a n n t , wie h a r t sich Schiller und K ö r n e r in ihrem Briefwechsel gegenseitig d a r ü b e r ausspradien, d a ß diese Begeisterung f ü r das Unendliche, U n s c h a u b a r e , U n b e s t i m m b a r e n u r eine künstliche E m p f i n d u n g

sein

k ö n n e . N a c h ihrer der A n t i k e z u g e w a n d t e n B i l d u n g w a r das k a u m anders möglich. I m folgenden J a h r e schrieb Schleiermadier die „ M o n o l o g e n " , in denen die sittliche S e l b s t ä n d i g k e i t des Menschen und das R e c h t der E i g e n t ü m l i c h k e i t m i t der stolzen F r e u d e eines männlichen und eigenartigen Geistes über dies sein Wesen verherrlicht w i r d . D e r sittliche B e g r i f f der selbständigen E i g e n t ü m l i c h k e i t t r i t t hier zuerst in die neuere E t h i k ein, dem G o e t h e in der Poesie, Fichte in der S p e k u l a t i o n zu seinem R e c h t e v e r h o l f e n h a b e n , den a b e r in der E t h i k genauer b e s t i m m t und dem A l l gemeinen gegenüber a b g e g r e n z t zu h a b e n , eines der wichtigsten späteren V e r d i e n s t e Schleiermachers ist. W i e nun die älteren Geistlichen zu B e r l i n d a m a l s Schleiermachers T ä t i g k e i t und S t a n d p u n k t ansahen, d a r ü b e r gibt ein B r i e f Sacks an Schleiermacher und die A n t -

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wort des letzteren aus dem Jahre 1801 (Theologische Studien 1850, p. 158) interessante Aufschlüsse. Sack macht Schleiermacher aus seinem vertrauten Verkehr mit Schlegel, der eben damals die „Lucinde" geschrieben hatte, einen Vorwurf. „Nie werde ich", antwortet Schleiermacher, „aus Menschenfurcht einem unschuldig Geächteten den Trost der Freundschaft entziehen, nie werde ich meines Standes wegen, anstatt nach der wahren Beschaffenheit der Sache zu handeln, mich von einem Schein, der andern vorschwebt, leiten lassen. Einer solchen Maxime zufolge würden ja wir Prediger der Vogelfreien sein im Reiche der Geselligkeit." Audi die „Reden über Religion" hatte Sack getadelt, da sie ihm den Pantheismus zu rechtfertigen schienen, und sich gewundert, daß er diesen Standpunkt mit seinem Predigtamte zu vereinen imstande sei. Darauf antwortete Schleiermacher unter anderm: „Mein Endzweck ist gewesen, in dem gegenwärtigen Sturm philosophischer Meinungen die Unabhängigkeit der Religion von jeder Metaphysik recht darzustellen und zu begründen. In mir ist also um irgend einer philosophischen Vorstellung willen der Gedanke eines Streites meiner Religion mit dem Christentume nie e n t s t a n d e n . . . Ich halte den Stand des Predigers für den edelsten, den nur ein wahrhaft religiöses, tugendhaftes und ernstes Gemüt würdig ausfüllen kann, und nie werde ich ihn mit meinem Willen gegen einen andern vertauschen." Wie er dann weiter in edler Entrüstung sein Verhältnis zu der damaligen Berliner Theologie bespricht, das verdient an der bezeichneten Stelle nachgelesen zu werden. Nachdem nun Schleiermacher bis 1802 zu Berlin als Prediger am Charitöhause gewirkt hatte, ging er in diesem Jahre nach Stolpe in Pommern über. Es geschah das in demselben Jahre, in welchem Schlegel nach einem mißglückten Versuch bei der Jenaer Universität sich nach Paris begab, von wo aus er sich bald nach Köln und zum Katholizismus wandte. Die „Flegeljahre" der Romantik waren zu Ende; aber wie verschieden endeten sie für die Freunde! Schleiermacher trat aus den Jahren des Sturms und Drangs heraus, die noch an der Grenze des männlichen Alters nach einer in strengen Studien verbrachten Jugend über ihn gekommen waren. Wie Goethe wandte er sich zu ruhig künstlerischer Darstellung seines inneren Lebens und Denkens; wie Goethe sah er sich von den alten Freunden getrennt, die auf der abschüssigen Bahn maßlosen Empfindungslebens weiterschritten. In dieser Beziehung sind die noch ungedruckten Briefe, die er mit Fr. Schlegel eben damals über die Ubersetzung des Piaton wechselte, höchst merkwürdig. — Seit der Wiederherstellung der Wissenschaften war für Piaton wenig geschehen. Auch die ganz offenbar unechten Schriften nahm man ohne Kritik an, und die Anordnung der Dialoge geschah aus den beschränktesten Gesichtspunkten. Als nun die neu aufgekommene spekulative Philosophie, die in Spinoza und Piaton ihre Väter ehrte, das Studium Piatons neu anregte, warfen sich Wolf, Heindorf, Schlegel und Schleiermacher zugleich auf diesen Stoff. Schleiermacher trug den Preis davon, eine neue Epoche in der Erkenntnis dieser Philosophie zu bezeichnen. Damals war er von Schlegel zu dem Plan angeregt worden, mit diesem gemeinsam eine Übersetzung und Darstellung des Systems zu veranstalten. In mannigfachen Gesprächen hatte Schlegel bereits Schleiermacher seine Ansicht vom Zusammenhang und der Zeitfolge der Dialoge mitgeteilt. Nun bildete sidi aber Schleiermacher aus angestrengten

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Studien eine eigene, abweichende Grundansicht. Vergebens ersucht er nun Schlegel um die Begründung der von ihm vordem so zuversichtlich vorgetragenen Ansicht. Auf seine wissenschaftlichen Beweise antwortet derselbe mit hohen Worten im Orakelton; auf seine Widerlegungen mit der Versicherung, daß sie nichts bedeuteten. Zuletzt hüllt er sich in Schweigen mit der bescheidenen Erklärung, er, Schlegel, und Schleiermacher verstünden jetzt unter allen Gelehrten Piaton am besten. Vergebens sucht Schleiermacher ihn auch nur zur Übersetzung der übernommenen Dialoge anzutreiben. Während Schleiermacher trotz mannigfacher Amtsgesdiäfte einen Dialog nach dem anderen übersetzt, verspricht, zögert, wartet Schlegel. Schleiermacher sieht sich endlich genötigt, den von Schlegel geschlossenen Kontrakt mit dem Verleger durch Erlegung einer Geldsumme zu lösen, um selbst freie H a n d zu haben. Und nun begann er allein jenes Unternehmen, durch das Piaton zuerst deutsch reden gelehrt, eine wissenschaftliche Grundlage der Kritik dieser Schriften geschaffen, dem Studium Piatons unsägliche Anregung gegeben wurde. Neben dieser Arbeit, die ihn von da ab zu verschiedenen Zeiten sein ganzes Leben hindurch beschäftigt hat, geht während eines zweijährigen Aufenthaltes zu Stolpe eine andere her über verschiedene ethische Systeme. 1803 erschien dies in seiner Art ebenfalls epochemachende Werk, die „Kritik der bisherigen Sittenlehre". In der Art und Form dieser Schrift zeigt sich sehr scharf der Gegensatz einer streng wissenschaftlichen N a t u r gegen das romantische Spiel mit der Wahrheit. Es scheint fast, als hätte Schleiermacher das Bedürfnis gefühlt, diesen Gegensatz, dessen er sich eben so redit bewußt geworden, in schroffster Weise hinzustellen. Sprache und Ordnung sollten hier „zu der Strenge und Einfachheit mathematischer Analyse zurückgeführt werden". In seiner knappen Form ohne allen rednerischen Schmuck, ja selbst ohne Anwendung der kleinen Mittel, die das Verständnis zu erleichtern dienen, ist das Buch nur f ü r die Kenner der ethischen Systeme lesbar. So hat das Buch nur auf wenige gewirkt, aber auf die Besten. Der entschiedenste und tüchtigste Gegner der Schleiermacherschen Richtung, Herbart, erklärt es (Metaphysik I, 394) für ein Denkmal von Scharfsinn, Gelehrsamkeit und Fleiß, dergleichen die philosophische Literatur gar wenige besitze. Aus dieser arbeitsvollen Einsamkeit, in der er indes den lebhaftesten Briefwechsel ipit den Berliner Freunden unterhielt, wurde er 1804 als Professor der Theologie nach Halle berufen. Den 22. Oktober fingen seine Vorlesungen an. Es begann damit der bedeutendste Abschnitt seiner Tätigkeit. Auf der Höhe des Lebens wurde er an die damals blühendste Universität Deutschlands berufen, neben Männern wie Fr. Aug. Wolf, Reil, Steffens zu wirken. Ein Zeitgenosse entwirft von seiner äußeren Erscheinung in dieser Zeit — er war den Vierzigern nahe — ein meisterhaftes Bild (Steffens V, 114). „Schleiermacher war klein von Wuchs, etwas verwachsen, doch so, daß es ihn kaum entstellte. In allen seinen Bewegungen war er lebhaft, seine Gesichtszüge höchst bedeutend. Etwas Scharfes in seinem Blick mochte vielleicht zurückstoßend wirken. Er schien in der Tat einen jeden zu durchschauen. Sein Gesicht war länglich, alle Gesichtszüge scharf bezeichnet, die Lippen streng geschlossen, das Kinn hervortretend, das Auge lebhaft und feurig, der Blick fortdauernd ernsthaft zusammengefaßt und besonnen. Ich sah ihn in den mannig-

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faltigsten wechselnden Verhältnissen des Lebens, tief nachsinnend und spielend, scherzhaft, mild und erzürnt, von Freude wie durch Schmerz bewegt; fortdauernd schien eine unveränderliche Ruhe, mächtiger als die vorübergehende Bewegung, sein Gemüt zu beherrschen. U n d dennoch w a r nichts Starres in dieser Ruhe. Eine leise Ironie spielte in seinen Zügen, eine innige Teilnahme bewegte ihn innerlich und eine fast kindliche Güte drang durch die sichtbare Ruhe hindurch. D i e herrschende Besonnenheit hatte seine Sinne auf eine bewundernswürdige Weise verstärkt. Während er im lebhaften Gespräch begriffen war, entging ihm nichts. E r sah alles, was um ihn her vorging, er hörte alles, selbst das leise Gespräch anderer." Unter allen Theologen jener Zeit war ohne Frage Schleiermacher allein imstande, die ihm hier gestellte A u f g a b e zu lösen. Während man in J e n a noch von einem halb poetischen, halb wissenschaftlichen Taumel erfüllt war, ergriff H a l l e zuerst die Aufgabe, die Ideen, welche die klassische Zeit der Literatur und Philosophie ans Licht gebracht hatte, im Gebiete strenger Wissenschaft zu verarbeiten. So trat Wolf, der Freund Goethes und Wilhelm von Humboldts, hier mit der ersten wissenschaftlichen Gesamtanschauung des griechischen Altertums auf. Im Gebiet der N a t u r wissenschaft und Medizin erstrebten Steffens und Reil Ähnliches, wenn auch mit geringerem Erfolg. Der Studenten bemächtigte sich ein Enthusiasmus, von dem noch jetzt alle, die jene glänzenden Zeiten der Universität erlebt haben, mit inniger Freude berichten. Schleiermacher war jetzt endlich ganz in seinem Lebenselement. Es w a r immer mehr seine Sache gewesen, durch seine Persönlichkeit, durch lebendige Rede und freien Verkehr zu wirken als durch die Schrift. E r hat wenig geschrieben zu Halle, bis die französischen Waffen seine Lehrtätigkeit unterbrachen. Der Piaton wurde fortgesetzt, der sich durch sein ganzes Leben hindurchzieht, und die Weihnachtsfeier verfaßt, ein p a a r Bogen, die ein Ideal religiöser Geselligkeit darstellen. Wie einst für Sokrates, w a r für ihn Methode und Gesinnung in der Wissenschaft das Wesentliche, „ d a s Lernen des Lernens". Daher mußte ihm die Wirksamkeit von Person zu Person unentbehrlich sein. Ein weiter Kreis strebsamer Jünglinge sammelte sich um ihn, darunter Neander, K a r l von Raumer, jener Marwitz, der durch seine vielversprechende Jugend und sein tragisches E n d e bekannt geworden ist, Chamisso, Varnhagen, Joh. Schulze. Chamisso brachte ihm seine Gedichte und erfreute sich seiner beistimmenden Aufmunterung. Neander, der damals Jurisprudenz studierte, ward von seiner religiösen Persönlichkeit ergriffen und zu dem Gedanken angeregt, die Kirchengeschichte als die Geschichte religiöser Gemütszustände darzustellen. An einem bestimmten Abend der Woche sah er die jungen Freunde um sich. Er liebte e;, über ethische Gegenstände zu sprechen. Oft unterredeten sich die Jünglinge vor solchen Abenden vom Mittag ab über die ethischen Fragen, die sie zur Besprechung vorbringen wollten. U n d hatte dann Schleiermacher mit seinen scharfsinnigen, überall auf das G a n z e der Wissenschaft hindeutenden Gedanken sie ergriffen, so saßen sie manches Mal unter Nachwirkung so vieler anregender Ideen noch lange beieinander; es kam vor, daß sie das graue Licht des Morgens noch in erregten Gesprächen fand. Außerordentlich anregend wirkten seine Vorlesungen. Was man theologische Gelehrsamkeit nennt, besaß er eigentlich nicht, als er nach H a l l e kam. U n d

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auch als er sich mit dem historischen Stoff der Theologie eingehender beschäftigte, tat er es mehr auswählend als sammelnd. U m so klarer und beweglicher traten die leitenden Gedanken in seinen Vorlesungen hervor. E r sprach frei; ein p a a r fragmentarische Sätze, die ihn im Zusammenhang des G a n z e n erhalten sollten, waren das Einzige, was er für den V o r t r a g zu Papier brachte. Aber es w a r dies nicht der geringste Reiz für den Zuhörer, daß er die Gegenstände unter seinen Augen immer aufs neue entstehen sah, sich unmittelbar mit hineingezogen fühlte in die Arbeit der Gedanken, die vor ihm sich vollzog; er haßte das gewohnheitsmäßige Überliefern. ö f t e r s äußerte er die Absicht, nicht länger als zehn J a h r e der Universität anzugehören. Für so lange dachte er immer neue Arbeit, neue Stoffe zu finden. Zunächst wählte er die seinen bisherigen Studien verwandten Disziplinen, E r k l ä rung der Briefe des Apostels Paulus und Sitten- und Glaubenslehre. Sein genialischer Blidc f ü r Verständnis und Beurteilung von Sdiriftdenkmalen des Altertums war durch seine platonischen Studien geschärft und geregelt. Die dort geübte Methode wandte er nun auf Paulus an und ruhte nicht, bis er sagen konnte, daß er nun denselben wohl so gut wie den Piaton verstehe. Der Zuhörer sah in diesem, dem dialektischen Tiefsinn des Paulus verwandten Geiste zum zweiten M a l e die Paulinischen Gedanken entstehen und sich zu den Abschnitten der Briefe zusammenfügen; der Spradikreis des Paulus, die V e r k n ü p f u n g der Gedanken und die A n ordnung des G a n z e n wurde ihm auf das Anschaulichste klar. Mehr noch wirkte er durch die Vorlesungen, die das System christlicher Lehre und Lebens behandelten. Seit den „Reden über Religion", den „ M o n o l o g e n " und der „ K r i t i k der Sittenlehre" hatte er unablässig gearbeitet, den Zusammenhang der Gemütszustände, Lehren und Institutionen des Christentums zu erfassen. Schon damals w a r in seinen Predigten die Innigkeit, mit der er an dem eigentümlich Christlichen, der Tatsache der Erlösung und der Person des Erlösers hing, vielfach hervorgetreten. In der Weihnachtsfeier, diesem christlichen Gegenstück des platonischen Symposion, wird dann die Person Christi Mittelpunkt aller Betrachtungen. Anknüpfend an die Geburt des heiligen Kindes wird Christi Person unter mannigfachen Gesichtspunkten dargestellt. Aber den Sieg über die Redenden trägt der zuletzt Hinzugekommene davon, der sich weigert, zu reden, und der festlichen Stimmung nichts angemessen findet ^ls Töne innigen Gesangs, anmutiges Plaudern aus einem Herzen voll Liebe; „der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt audi mir eine sprachlose Freude; die meinige kann, wie ein K i n d , nur lächeln und jauchzen." Die Heiterkeit der christlichen Religion wird herrlich geschildert, verbunden mit dem antiken Zug s o m a tischer Freundschaft; das Ideal geselligen Verkehrs, wie es der R o m a n t i k vorschwebt, wird, von einem ethischen Geiste gereinigt, in der Sphäre der Religion lebendig, wenn auch zuweilen etwas geziert ausgedrückt. Was er nun in dieser Weihnachtsfeier an einem einzelnen Beispiele zeigte, wie Religion Sache des Gefühls sei, das christliche Gefühl aber sich immer auf die Person des Erlösers beziehe, war auch der Grundgedanke seiner D o g m a t i k . Mehr Vorliebe wandte er in H a l l e der Ethik zu, die das Resultat so vieljähriger ethischer Studien, fortdauernder Beobachtung und Ü b u n g im Gebiete des sittlichen Lebens und einer unsäglichen dialektischen und logischen Ü b u n g war.

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Die Weise des jungen Professors, der dazu nicht einmal Mitglied der Fakultät war, mochte allerdings zu der der übrigen theologischen Professoren einen wunderlichen Gegensatz bilden. Nösselt, Knapp, Vater, Niemeyer, meist im Kampfe zwischen Rationalismus und Supranaturalismus grau geworden, wußten den Kollegen, der kühn ohne weiteres diese üblichen Parteisdiranken übersprang, nicht unterzubringen. Sie sahen erstaunt ihre vergilbten Hefte, in die sie doch regelmäßig die neueste Literatur seit einem halben Jahrhundert eingetragen hatten, plötzlich von der strebsamen Jugend als veraltet betrachtet. Nicht ohne Kopfschütteln sah man den theologischen Professor, der eben damals von Steifens zu naturwissenschaftlichen Studien angeregt war, in kurzer grüner Jacke, mit hellen Beinkleidern, die Blechbüchse über der Schulter, durch Halle wandern, um zu botanisieren. Steffens erzählt sehr liebenswürdig (V, 146) von einer Fußtour, die er mit Schleiermacher machte. Dieser hatte am folgenden Tage zu predigen, aber der sonnige Märztag lockte sie immer weiter. Anderthalb Meilen von Halle übernachteten sie in einer Schenke. Der herrliche Tag hatte die Herzen der Freunde geöffnet. „Wir schlossen uns nie inniger, nie tiefer f ü r einander auf. Mir erschien Schleiermacher nie geistig größer, nie sittlich reiner. Noch immer erscheint mir diese Nacht, wie eine der merkwürdigsten meines Lebens, wie geheiligt." Spät in der Nacht gönnten sidi die Freunde einige Stunden Schlaf und traten dünn den Rückweg an. Aber die Märzsonne hatte die Straße unwegsam gemacht, iichleiermacher, ein rüstiger Fußgänger, schritt eilig voran, offenbar in tiefes Nachsinnen versunken, das der Freund nicht störte. Endlich langten sie in Halle an, und Steffens hatte kaum Zeit, sich umzukleiden und zur Kirche zu eilen. Unter den Kollegen w a r bereits das Gerücht von der romantischen Reise verbreitet. Als die Glocken aller Kirchen läuteten und Schleiermacher noch nicht zurückgekehrt war, schien man zu erwarten, ja, einige sogar zu hoffen, daß er gar nicht kommen würde. Als nun aber Schleiermacher auf der Kanzel erschien mit dem imponierenden Ernst, der ihm eigen war, als seine Rede, großartig und kunstreich wie je, die Zuhörenden ergriff, verwandelten sich die lautesten Tadler in Bewunderer. Wie in Berlin lebte Schleiermacher auch in Halle gern in geselligem Verkehr. In Giebichenstein bewohnte der bekannte Kapellmeister Reichardt ein Landhaus in einem schönen Garten, den er mit vielem Geschmack erweitert und zu einem reizenden Aufenthalt umgeschaffen hatte. Gastfrei und in mannigfachem Verkehr mit Gelehrten und Vornehmen, hatte er sein H a u s zum Mittelpunkt des geselligen Lebens in Halle gemacht. Auch Goethe, dessen Lieder er so lieblich schlicht komponiert hat, erschien während eines Aufenthaltes in Halle hier öfters. Damals sah denselben auch Schleiermacher, dort oder bei Wolf, in dessen Hause Goethe wohnte. Achim von Arnim hielt sich einen ganzen Sommer hindurch im Reichardtschen Hause auf. Durch Steffens, den Schwiegersohn des Hauses, der mit Schleiermacher innig befreundet war, wurde auch Schleiermacher in demselben heimisch. Varnhagen erzählt (II, 91), wie er ihn dort zuerst sah und wie überrascht er war, so gar nichts von dem gefühlvollen Enthusiasmus des Redners über Religion zu finden, sondern anstatt dessen ruhige Zurückhaltung, die nur in kurzen scharfen .Zwischenreden einen klaren leuchtenden Verstand durchblicken ließ. Wenn er

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aber sprach, widersprach man ihm selten, was sonst bei Reichardt jedermann leicht widerfuhr. In fast täglichem Umgang lebte er mit Steffens. Es ist dieser eine der wohltuendsten Erscheinungen der damaligen Literatur. Neben Sdielling war er die bedeutendste Autorität der rasch emporgekommenen Naturphilosophie. Schleiermacher, dessen System ja mit dem Schellings in den meisten Punkten gemeinsame Grundlage hatte, sah Steffens Naturphilosophie als willkommene Ergänzung seiner Ethik an, und Steffens lebte sich ganz in den Geist des überlegenen Freundes ein. Nordländer von Geburt, eine heiter-liebenswürdige Erscheinung, lebhaft im Gespräch, in seinen Vorlesungen von einer hinreißenden Beredsamkeit, die durch den Kampf mit der Sprache eher erhöht als beeinträchtigt wurde, gewann er durch den Zauber seiner Persönlichkeit alle, die ihm nahe kamen. Das Naturell der beiden Freunde ergänzte sich auf das glücklichste, und obgleich sich Steffens später exzentrischen Meinungen hingab, hat Schleiermacher doch stets mit der ihm eigenen Treue an ihm festgehalten. Indes verging das letzte Jahr, das er ungestört in Halle zubrachte, 1805, nicht ohne eine ernste Erfahrung. Gegen das Ends desselben löste sich das Verhältnis zu Eleonore Grunow. Die „Weihnachtsfeier", kurz darauf geschrieben, ist noch von einem tiefen Schmerze durchweht, vielleicht verdankt sie demselben ihre Entstehung. „Wie ein Kind den kindischen Schmerz erstickt und die Seufzer zurückdrängt und die Tränen einsaugt, wenn ihm eine kindische Freude gemacht wird, so ist auch mir heute der lange, tiefe unvergängliche Schmerz besänftiget wie noch nie . . . Mit frohem Auge schaue ich auf alles, auch auf das Tiefverwundende. Wie Christus keine Braut hatte als die Kirche, keine Kinder als seine Freunde, kein H a u s als den Tempel und die Welt, und doch das Herz voll himmlischer Liebe und Freude, so scheine audi ich mir geboren, eben danach zu trachten." Ähnlich schreibt er dem Freunde: „ N u r die Arbeit, die LieDe zu meinem Beruf, die Freude an meinen Freunden kann midi aufrechterhalten." Unterdessen begannen die politischen Ereignisse die Blicke von allen persönlichen Interessen abzulenken. Der Sommer des Jahres 1806 verging in immer wachsender Spannung. Täglich erwartete man eine Kriegserklärung von England, mit dem sich doch alle Edlen gegen Frankreidi verbunden fühlten. Im Herbst rückte das preußische Heer gegen Napoleon vor. Bei Reichardt sahen die Freunde einige von den alten Generälen, die später so vorschnell die Festungen übergaben, und ihr beschränktes Podien auf die alten preußischen Siege erschien ihnen als eine schlimme Vorbedeutung. So kam der verhängnisvolle 14. Oktober. Die entgegengesetztesten Nachrichten wechselten. Endlich am Abend des 15. erfuhr man, doch immer noch ungewiß, den Verlauf der Jenaer Schlacht. Ein Angriff auf die in Halle befindliche preußische Reserve war zu erwarten. Am Morgen des 16. näherten sidi kämpfende Truppenmassen der Stadt. Von einem nach der Saale schroff abfallenden Felsen aus, von dem sich die weite Ebene überblicken ließ, sahen Sdileiermadier, Steffens und Gaß voll Spannung dem wogenden Getümmel zu. Aber bald war die Flucht der Preußen offenbar, und die Freunde begaben sich eiligst nach ihren Wohnungen. Steffens eilte mit seiner Familie in das besser geschützte Haus Schleiermachers, das 3

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jedoch auch nicht völlig von der plündernden Avantgarde verschont blieb. Dort brachten sie eine Nacht voll Aufregung zu, während die fliehenden Preußen und ihre Verfolger die Stadt durchzogen. Bernadotte erschien. Seine Proklamation versprach das ruhige Fortbestehen der Universität. Aber bald vernahm man, daß Napoleon, vielleicht wegen einer Schrift Reichardts erzürnt, mit der Auflösung der Universität umgehe. Reichardt selbst war entflohen. Vergebens versuchten Schleiermacher und Steffens bei dem Prorektor Maaß eine Versammlung der Fakultäten durchzusetzen. Die erschreckten Herren fürchteten, Napoleon möchte darin eine Konspiration sehen. Napoleon verließ Halle nach dreitägiger Rast und löste die Universität auf. Die Hallischen Professoren hätten ihre Stellung verkannt, da sie nicht dazu da seien, sich um Politik zu kümmern. Das war die ganze Begründung. Da war nun auch die persönliche Lage der Freunde nicht die beste. Sie hatten die Kollegiengelder an die abziehenden Studenten zurückzahlen müssen, und es waren ihnen nur wenige Taler übriggeblieben. Sie machten nun in Steffens' Hause gemeinschaftliche Wirtschaft. Dort, in einer Ecke von Steffens' Studierzimmer, hat Schleiermacher sein geniales Sendschreiben an G a ß über die Echtheit des ersten Briefes an Timotheus verfaßt. In diesem Werk wurde die kritische Methode Bentleys und Wolfs auf eine Schrift der Bibel angewandt. Nicht aus äußeren Zeugnissen, sondern aus der vollkommensten Herrschaft über den Sprachkreis, die Denk- und Redeweise Pauli wurde die Unechtheit des Briefes begründet. Die Darstellung ist voll von innerem Leben, hinreißend durch ihre Anschaulichkeit und den überall hervorleuchtenden Scharfsinn. Im Sommer 1807 war Schleiermacher in Berlin und las vor einer ansehnlichen Zuhörerschaft über die Geschichte der Philosophie. Er befand sich grade auf dem Gut von Marwitz in größerer Gesellschaft, als die Nachricht von dem schmachvollen Tilsiter Frieden ankam. Sie erschütterte ihn tief; k a u m - d a ß es den Bemühungen von Marwitz gelang, sein hartnäckiges Schweigen zu durchbrechen und seine Reizbarkeit zu mildern. Von da ab war er bis zum Ausbruch des Freiheitskriegs, in Gemeinschaft mit den Edelsten der Nation, unablässig tätig f ü r die große Sache des Vaterlandes. Die Regeneration Preußens unter Stein und H u m b o l d t begann. Schon im Herbst des Jahres 1807 ging man mit dem Plane um, zum Ersatz f ü r das jetzt verlorene Halle in Berlin eine Universität in großem Stile zu errichten. Schleiermacher w a r d a f ü r auf alle Weise tätig, durch Pläne, mündliche Unterredungen, eine Schrift über die Universitäten. Als sie 1809 eröffnet wurde, war er einer der ersten lesenden Professoren. Direkter noch wirkte er durch seine Predigten, zu denen Leute alles Alters und aller Stände sich herzudrängten. Neben den Reden Fichtes haben diese Predigten am meisten beigetragen, immer neu die nationale Begeisterung anzufachen. Seine kühnen Worte gaben dem bevorstehenden Kampf die religiöse Weihe. „Sein Entschluß, sich f ü r das schmachvoll gedrückte Vaterland zu opfern, hatte damals eine ansteckende Gewalt und unterhielt die kühne Gesinnung, die entschlossen war, nicht bloß bessere Zeiten untätig zu erwarten, sondern auch, wo sich die Gelegenheit darbot, durch die T a t herbeizuführen. Sein mächtiger, frischer, stets fröhlicher Geist war einem kühnen Heere

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gleich in der trübsten Z e i t . " * A u d i ein einflußreiches M i t g l i e d des T u g e n d b u n d e s w a r er, j e n e r geheimen V e r b i n d u n g der patriotisch G e s i n n t e n in N o r d d e u t s c h l a n d . E r stand m i t S c h a r n h o r s t und R ö d e r in n a h e r V e r b i n d u n g , m i t dem L e i t e r des Bundes in inniger Freundschaft. Steffens f a n d ihn bei seiner A u f n a h m e in den B u n d in Dessau, w o Schleiermacher, L ü t z o w und a n d e r e B u n d e s m i t g l i e d e r zur Z e i t der K a i s e r z u s a m m e n k u n f t in E r f u r t sich m e h r e r e T a g e m i t e i n a n d e r

besprachen.

D a s J a h r 1 8 1 3 k a m . D a s Z a u d e r n des preußischen S t a a t s e r f ü l l t e ihn mit g r o ß e r S o r g e . „ W e n n unser K a b i n e t t " , so schreibt er einem F r e u n d e , „noch einen M o n a t unentschieden b l e i b t , so geht die Sache, wenigstens g a n z D e u t s c h l a n d z u m T e u f e l . " Endlich k a m der l a n g ersehnte K r i e g und der Sieg der preußischen W a f f e n . V o n dieser Z e i t a b beherrschte S d i l e i e r m a c h e r in einer langen P e r i o d e ungestörter R u h e einen w e i t e n K r e i s w o h l t ä t i g e r W i r k s a m k e i t bis zu seinem

Tode.

D i e Freiheitskriege w a r e n die l e t z t e v o n den g r o ß e n geistigen B e w e g u n g e n , die ihn gebildet haben. K e i n T h e o l o g der neuern Z e i t , audi H e r d e r nicht, h a t eine solche Schule durchlaufen. D a s stille L e b e n der B r ü d e r g e m e i n d e , die R o m a n t i k , die l e t z t e E n t w i c k l u n g der deutschen P h i l o s o p h i e , die E r n e u e r u n g einer g r o ß a r t i g e n philologisch-kritischen M e t h o d e f ü r a l l e historische Wissenschaft, die Freiheitskriege endlich — a l l e diese K ä m p f e des deutschen Geistes h a t er nicht b l o ß aus der F e r n e angeschaut, er w a r ü b e r a l l m i t a u f dem K a m p f p l a t z m i t seinen scharfen W a f f e n . S e i n e späteren K ä m p f e und Bestrebungen gehören dem engeren

theologischen

u n d kirchlichen G e b i e t an. A u f die verschiedenste W e i s e w a r er in demselben t ä t i g , durch V o r l e s u n g e n , P r e d i g t e n , S c h r i f t e n , zeitweise auch durch M i t l e i t u n g der kirchlichen A n g e l e g e n h e i t e n . S o w a r er einer der H a u p t u r h e b e r der U n i o n . E r w a r der Präses der B e r l i n e r S y n o d e , regte die gemeinsame A b e n d m a h l s f e i e r derselben a m 3 0 . O k t o b e r 1 8 1 7 an u n d verteidigte dieselbe m i t schonungsloser S c h ä r f e gegen A m m o n s Angriffe. A n der A u s a r b e i t u n g des B e r l i n e r Gesangbuchs h a t t e er großen A n t e i l . Als P r e d i g e r h a t t e er einen nicht a l l z u g r o ß e n K r e i s v o n Z u h ö r e r n , die desto inniger an ihm hingen. Es ist noch ein schönes Ö l b i l d v o r h a n d e n , das ihn a u f der K a n z e l v e r g e g e n w ä r t i g t . Sein K ö r p e r blieb fast unbeweglich auch in der höchsten E r r e g u n g , wie das auch v o n H e r d e r e r z ä h l t w i r d ; n u r a u f dem geistvollen, ernsten Gesicht spiegelten sich die tiefen und wechselnden B e w e g u n g e n des I n n e r n .

Er

sprach nach k u r z e r V o r b e r e i t u n g ; n u r die H a u p t p u n k t e des T h e m a s n o t i e r t e er schriftlich. S e i n e R e d e w a r o h n e Schmuck; a b e r in der A n o r d n u n g des G a n z e n o f f e n b a r t e sich der künstlerische Geist. S c h a r f und ruhig b e g a n n e r ; nachdem er aber m i t künstlicher D i a l e k t i k einen K r e i s des religiösen Lebens durchmessen h a t t e , h o b das religiöse G e f ü h l seine Schwingen und ergriff ihn und die H ö r e n d e n i m m e r mächtiger.

Wissenschaftlich

kritischen Untersuchungen

war

er

auf

die

neutestamentlicher

tätig.

Die

Schriften w u r d e n f o r t g e s e t z t .

mannigfaltigste

Weise

Als

M i t g l i e d der A k a d e m i e teilte er in einer R e i h e einzelner A b h a n d l u n g e n die H a u p t p u n k t e seiner philosophischen E t h i k und Untersuchungen über die alte P h i l o s o p h i e mit. Auch noch ein B a n d seines P i a t o n erschien, obgleich derselbe u n v o l l e n d e t blieb. D a s wichtigste W e r k seines Lebens w a r aber die „ D o g m a t i k " , die 1 8 2 1 und 1 8 2 2 in * Steffens V I , 272. 3*

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Portraits und biographische Skizzen

2 Bänden erschien, ein Buch, von dem eine neue Epoche auf dem Gebiet der dogmatischen Theologie datiert. Sein Familienleben war sehr glücklich. Mitten in den Jahren öffentlichen Unglücks — es war im Jahre 1809 — hatte er sich mit der Witwe eines geliebten Freundes, des Predigers Willich von Stralsund, verheiratet. In einem weiten Kreise von Freunden und Schülern bewegte er sich mit der alten Neigung f ü r das gesellige Leben. Mitten im frischen Leben, wie er sich's gewünscht, nahm ihn der Tod hinweg. Er starb den 12. Februar 1834. Seine Schule aber breitete sich weit aus, und an allen Universitäten Deutschlands lehren Männer, die ihm die Anregung zu ihrem wissenschaftlichen Leben verdanken. Doch über der Hinfälligkeit und dem Streit der Schulen steht das Bild des Mannes, der nicht eine Schule gründen, ein System überliefern wollte, sondern mit Lessingschem Geiste die Gesinnung und Methode der wissenschaftlichen Forschung allein unverkürzter Überlieferung wert achtete 1 . 1 Wir haben bis jetzt über Schleiermachers Leben folgende wichtigeren Quellen: 1. Für die Jugend: Geizers Monatsblätter, 1855, Juli; Niedner, Zeitschrift für historische T h e o l o gie, 1851, H e f t 1. 2. Erste Berliner Periode: Henriette H e r z , v o n Fürst, bes. S. 156 f. Fichtes Leben und Briefe I, 377. Varnhagen, D e n k w . 4, 267 ff. 3. Aufenthalt zu Halle: Theologisdie Studien, 1850, S. 145 ff. Steffens: Was ich erlebte. B d . V . Varnhagen, D e n k w . , Bd. II. 4. Zweiter Berliner Aufenthalt: Steffens; Delbrück: der verewigte Schleiermacher, vgl. Varnhagcns Ree. D e n k w . , Deutsche Zeitschrift 1850, N r . 50. Theologische Studien 1834, 5. 750. Uber das Ganze: Baumgarten-Crusius: über Schleiermacher, seine Denkart und sein Verdienst. Jena 1834. Gaß, Schleiermachers Briefwechsel mit G a ß . Strauß: Charakteristiken und Kritiken, S. 3 ff. Varnhagen: Bildnisse aus Raheis U m g a n g . Aus Schleiermachers Leben. In Briefen.

Friedrich Christoph Schlosser I. Lehr- und

Wanderjahre

Einer der Begründer der historischen und politisdien Bildung unserer Zeit, einer aus jener kleinen aber unvergeßlichen Zahl von Männern, die Deutschland aus der Periode der Spekulation und ästhetischen Beschaulichkeit zur politischen Handlung und historischen Beleuchtung der Dinge geführt haben — Friedrich Christoph Schlosser ist, beinahe an der Grenze der Menschen zugemessenen Lebenszeit, vor kurzem uns entrissen worden. Es ist schon viele Jahre her, daß es den Heidelberger Studenten zuletzt vergönnt war, seinen eigenartigen Vortrag, der mit der Fülle der Tatsachen in immer neu verschlungenen Perioden rang, zu vernehmen. Darauf konnte man noch zuweilen auf den schönen Spaziergängen, welche die heitere Neckarstadt umgeben, seiner gedrungenen, nur leise gebeugten Gestalt begegnen; die eigentümlich kräftige, scharfgeschnittene Nase, die Augen, die auch als sie zu leiden begannen, noch so glänzend und so scharf ausschauten, ließen auch den Fremden unwillkürlich dem Greise nachblicken oder von irgendeinem begegnenden Studenten seinen N a m e n erfragen. D a n n lebte er, ins Zimmer gebannt, ja lange Zeit ans Bett gefesselt. Sein Gedächtnis — dies Gedächtnis, das einst so frei über den Tatsachen der Jahrtausende umspannenden Universalgeschichte gewaltet hatte! — begann ihm untreu zu werden, auch in dem engsten Bezirk des täglichen Lebens. Sein Tod war sanft. Der dazu berufenste von unsern Historikern, Gervinus, wird den Lorbeerkranz der Geschichte auf sein Grab legen. Ist doch er neben Häusser der wahrste Erbe seiner historischen Richtung. Schüler hat Schlosser nie gewollt. U n d diese Männer waren am wenigsten dazu gemacht, irgend jemandes Schüler zu sein. Aber selbständige N a t u r e n können sich schwerlich in ihrer historischen Anschauung, die das ungezwungene und ungekünstelte Resultat des ganzen Menschen sein soll, näher berühren, als diese es tun. Schlosser, nach unserer Erinnerung, war es zuerst von den älteren Historikern, der die historische Kraft in den ersten Versuchen von Gervinus, darunter in seiner Geschichte der florentinischen Geschichtsschreiber, besonders Machiavellis, mit lauter Freude anerkannt h a t : nun soll diese selbe Gabe, aus den Darstellungen eines Historikers die Geschichte und den Charakter seines Geistes herauslesen, die Schlosser dort bewunderte, ihm selber ein Denkmal setzen. Dies Denkmal wird uns Gelegenheit geben, noch einmal auf Schlosser zurückzukommen. Aber es drängt uns gerade jetzt durch bescheidene Zusammenstellung einiger Grundzüge seines Lebens und seiner Geschichtschreibung das Bild des männlichen Historikers bei unsern Lesern wieder zu beleben, so lange noch die Nachricht von seinem Tode in so manchem nachklingt, der zu seinen Füßen gesessen oder der doch zu schätzen weiß, wie unendlich viel ihm die Geschichte in Zeiten verdankte, in welchen männliches Urteil über die Dinge des Staates beinahe verstummt zu sein schien.

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Portraits und biographische Skizzen

An der äußersten Spitze des Oldenburgischen, nicht volle zwei Stunden von der Nordsee, liegt das Städtchen Jever, in dem Friedrich Christoph Schlosser den 17. November 1776 geboren ist. Hier, in dem ganzen gleichnamigen Ländchen, hatte sich die alte sächsische Bauernaristokratie bis in Schlossers Kindheit hinein erhalten — und mit ihr Einfalt, Derbheit, gastfreie Offenheit. So glichen die ersten Eindrücke seiner Kindheit denen, welche auch Justus Moser zum Historiker gebildet haben. „Meine Kindheit" — sagt er — „scheint mir einer ganz andern Welt, einem ganz andern Jahrhundert anzugehören, weil ich jene alte Zeit schon als Knabe unter meinen Augen der sogenannten Aufklärung der Romane weichen sah. Bei Lichte besehen war freilich, wie in allen menschlichen Dingen, auch an der Riistringschen Derbheit, die ich nie habe verleugnen können und noch weniger verleugnen wollen, nicht so gar viel verloren." Recht ein Kind dieses friesischen Landstrichs war offenbar seine Mutter. Aus einer alten und reichen Familie, hatte sie einen Advokaten von oberdeutscher Herkunft geheiratet, der leichtlebend und verschwenderisch ihre Verhältnisse zerrüttet hatte. In den bedrängtesten Verhältnissen wußte sie den Stolz ihrer alten Familie aufrechtzuerhalten und die Reste ihres Vermögens, zwei kleine Gütchen, sich und ihren Kindern zu retten. Die Kinder erzog sie hart, wie sie selber erzogen worden war, so daß Schlosser lange die schädlichen Wirkungen dieser Härte nicht verwinden konnte. Wie gerade und scharf ihr Geist war, geht daraus hervor, daß sie, ohne alle Bildung, doch im Stande war, den plattdeutsch redenden Bauern in ihrer Mundart juristische Konsultationen zu geben. Unser Friedrich, der zehnte Sohn, war eben sechs Jahre alt, als der Vater starb. Er kam nun zu einer reichen, kinderlosen Tante ins Haus, und die friedlichen Jahre, die er hier in eifriger Lesewut über Campes Schriften, Reisebeschreibungen und dergleichen Büchern der damals herrschenden pädagogischen Schule und in der Stille der wohlhabigen Witwenwohnung verbrachte, hinterließen in ihm einen so unauslöschlichen Eindrudc, daß er ihnen noch später seinen Hang nach Einsamkeit, nach dem Genuß der Natur, seine Freude am Idyllischen zuschrieb. Audi an lebhaften Szenen und Unterbrechungen der Einsamkeit fehlte es in der kleinen Stadt nicht. Der Fürst von Anhalt-Zerbst vermietete den Engländern, wie andere deutsche Fürsten, aus ganz Deutschland zusammengeworbene Truppen: da war nun in Jever ein wiederholtes Gehen und Zurückkommen derselben, und der Knabe war dann von den Offizieren und Soldaten unzertrennlich. Es konnte nicht fehlen, daß der Acht- und Neunjährige hier vieles zu hören bekam, was für sein Alter nicht gerade berechnet war, und daß er lernte, sich in die Unterhaltung Älterer vorlaut einzumischen. So war es denn gut für ihn, daß er nach dem Tode der Tante wieder unter die strenge Zucht der Mutter kam. E r besuchte nun schon die lateinische Schule des Städtchens; das hinderte ihn indes nicht, seiner Lesewut ins Unbeschränkte Raum zu lassen: viertausend Bände einer dortigen Lesebibliothek durchlief er in drei Jahren; sein Verstand für diese Dinge stand bei dem Bücherverleiher in soldier Achtung, daß er ihm zu bestimmen überließ, ob er für die neuen Bücher vier oder fünf Grote wöchentlich nehmen sollte. D a war unter andern die ganze Allgemeine Deutsche Bibliothek, die Schriften von Nicolai und Bahrdt und dergleichen Büdier, welche ihn dem guten Konrektor in Angelegenheiten der Religion so überlegen machten, daß er sich vor

Friedridi Christoph Schlosser seinem unermüdlichen

Disputieren

gelegentlich

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nur durch Maulschellen

retten

konnte — das dem K n a b e n nur zu wohlbekannte Hausmittel der Mutter. Wie er nun aber älter wurde und die Notwendigkeit gründlicherer Kenntnisse begriff, warf er sich mit autodidaktischem Eifer auf die alten Sprachen, besonders leidenschaftlich aber auf M a t h e m a t i k und Physik. So sehr er die D o g m a t i k schon früh verachten gelernt hatte, so entschied er sich doch für Theologie, in einem unbestimmten G e fühl, daß der hloße Verstand nicht ausreiche im Leben und in w a h r e r Verehrung der Bibel. Zu diesem Studium trieb ihn auch die weite Aussicht in die Wissenschaft, die es eröffnete, der Wunsch, alles was er kennenlernte, nacheinander zu studieren, sein angeborener H a n g zum einsamen Leben und zur K o n t e m p l a t i o n . So bezog er zu Ostern 1794 Göttingen.

G a n z auf sich selbst gestellt: denn seine

Mutter w a r ein J a h r zuvor gestorben. Sein kleines Vermögen reichte gerade für die Studienzeit aus. So weit angelegt, scheinbar ohne verknüpfendes Endziel seine bisherigen Studien waren, ebenso waren es auch die Pläne der künftigen, die er dorthin mitbrachte. U n d Göttingen w a r in der T a t der O r t , ihn in dieser P o l y historie zu bestärken. W a r doch aus einer ähnlichen polyhistorischen

Richtung

Heynes wissenschaftliche Bedeutung hervorgegangen, dessen Schule hier blühte. Und konnte es ein leuchtenderes V o r b i l d für einen so gearteten Geist geben als Eichhorn,

der, audi Theologe, liuguistische, kritische und historische Studien aller

Art miteinander

verknüpfte und durcheinander unterstützte?

Hier

mochte

er

Mathematik und Physik, Hebräisch, D o g m a t i k und Historie nebeneinander treiben mit dem dunklen Gefühle eines sie alle verknüpfenden Bandes — einem Gefühl, aus dem sich dann viele J a h r e später der Plan seiner universalhistorischen, das heißt in seinem Sinne philosophischen Übersicht der K u l t u r der alten W e l t entwickeln sollte. U n d hier sollte er auch den M a n n sehen, der von allen ihm voraufgehenden

politischen

Geschichtsschreibern

allein

die gesunde Männlichkeit

des

Charakters in jedem Zuge zeigte, welche die Grundlage aller geschichtlichen Betrachtung ist — den großen Spittler,

den eben damals sein echt politischer Sinn in

jene praktische Tätigkeit in seinem heimatlichen Württemberg hineintrieb, die nach der damaligen L a g e Deutschlands freilich nicht anders endigen k o n n t e als so schmerzlich wie sie geendet hat. N e b e n Spittler und Eichhorn liebte er den trefflichen P l a n k , den Kirchenhistoriker, v o r allen, und die Studien, die er unter diesem begann, scheinen sehr nachhaltig auf ihn gewirkt zu haben. E r lernte nämlich durch diesen das System der protestantischen Scholastik kennen, um dessen historisches Verständnis sich Planck so außerordentliche Verdienste erworben h a t ; er trieb Quenstädt und andere protestantische D o g m a t i k e r eifrig; und hier lag für ihn die erste Vorbereitung für seine späteren Arbeiten über die mittelalterlichen scholastischen Systeme, deren Studium seinen Begriff der Kulturgeschichte vorbereiten sollte. Neben diesen Studien las er zur Erholung, wie schon früher, historische, geographische, ethnographische W e r k e und trieb Englisch, Spanisch und

Italie-

nisch — kurz er schwelgte in den Schätzen der Göttinger Bibliothek. Nicht volle einundzwanzig J a h r e alt, kehrte er im H e r b s t 1 7 9 7 nach Hause zurück — ohne G e l d , ohne nahe Aussicht, ohne Verwandte. Was beginnen? W ä h rend er ratlos auf der Heimreise nach einer möglichen Zukunft für sich suchte, kam

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Portraits und biographische Skizzen

ihm durch einen Vetter, der Kammerdirektor des Grafen von Bentinck-Rhoone war, der Antrag, in dem diesem gehörigen Varel, wo sich ein ganzer Schwärm vornehmer Holländer von dem zersprengten H o f e des ehemaligen Statthalters aufhielt, den Unterricht zu übernehmen. Hier sollte er sich zuerst mit jener frivolen, französisch gebildeten Gesellschaft berühren, die er lange nachher in seiner Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts so bitter und gründlich dargestellt hat. Es ist begreiflich, daß er nicht allzulange in diesen Verhältnissen verblieb. Die anderthalb Jahre indes, die er in ihnen zubrachte, waren nicht nur für ihn an Erfahrungen über das Leben dieser Kreise reich: er machte auch in seinen historischen Studien in dieser Zeit einen sehr erwähnenswerten Fortschritt, indem er die Philosophie in sie hineinzog. Gleich der Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit derselben war bestimmend f ü r den Geist, in dem er sie behandelte. In Göttingen hatte er mit einem Studenten, der eben von Jena und aus der Schule Fichtes herkam, ein Kollegium Heerens über Geschichte der Literatur gehört. „Bei Gelegenheit dieses Kollegiums bewies er mir, daß so etwas ohne gründliche Philosophie immer ein unbestimmtes H i n - und Herreden, ein vornehmes Absprechen ohne alle Prinzipien bliebe, und daß auch die Geschichte, wenn sie nicht bloßes politisches Raisonnement und Raten werden sollte, der philosophischen Wissenschaft nicht entbehren könne." N u n begann er in Varel mit dem Studium des Plato und Aristoteles. Dies Studium setzte er dann in Othmarschen bei Altona fort, wohin ihn sein Schicksal oder vielmehr seine echt- und altdeutsche abenteuerliche Neigung, sich ohne besondere äußere Zwecke vom Schicksal in der weiten Welt umherwerfen zu lassen, gebracht hatte. Er war nämlich nach Hamburg in der Absicht gekommen, nach Rußland zu gehen. Der russische Gesandte lebte damals in Altona; als er von diesem über die Schwierigkeiten, einen P a ß zu erhalten, unterrichtet wurde, schreckte diese Beschreibung, die wohl auch nicht ohne wohlwollende Absicht war, ihn zum Glück so ab, daß er sich eben entschloß, sein deutsches Hauslehrer- und Kandidatenleben fortzusetzen. Zufällig fand sich in dem genannten kleinen Orte, eine halbe Stunde von Altona, Gelegenheit. Die Familie eines kleinen Kaufmannes lebte dort auf dem Lande; der Unterricht, der den Kindern zu erteilen war, war unbedeutend, und so konnte Schlosser zum ersten Male wieder seit Göttingen, und diesmal nun ganz in sich gesammelt und seinen eigenen Weg verfolgend, den Studien leben. Dazu war er ohne Sorgen; er gedachte ruhig die Zeit zu erwarten, in der die Reihe, ein P f a r r a m t zu erhalten, an ihn käme. Denn ein solches war damals noch sein Wunsch; hatte er doch nicht lange vorher einem befreundeten Pfarrer während einer vierteljährlichen Reise desselben sein Amt versehen. Auch Verkehr gab es hier genug: teils lustige Gesellschaft im benachbarten Hause eines sächsischen Edelmanns von Schütz, Schauspieler, abenteuernde Schriftsteller, alle Arten von verdorbenen Genies, teils ernste Belehrung in der kleinen Gesellschaft, die sich um den alten erblindeten Advokaten Vogel in H a m b u r g wöchentlich mehrmals versammelte. Vor allem: er konnte nun in Muße die philosophischen Studien von Varel fortsetzen. Von Plato ging er zu Leibniz über und von diesem zu den Franzosen, die er von Pascal bis Helvetius hin studierte; Montesquieu las er dreimal, „ohne ihn zu bewundern, aber auch ohne ihn geringzuschätzen". Seit jener Zeit lag

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Friedrich Christoph Schlosser

immer eine der berühmten französischen Schriften dieser Periode neben ihm auf dem Schreibtisch zu seiner Erholungslektüre. S o wurde hier der Grund zu jener Vertrautheit mit der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts gelegt, die seiner G e schichte desselben vielleicht den größten Reiz gibt. Es ist kein Zweifel, daß er der größte K e n n e r dieser Literatur in unserem Jahrhundert gewesen ist. Er las diese Schriften nicht, um über sie zu schreiben, wie einige gegenwärtige Literarhistoriker tun; er stellte sie nicht beim Lesen von vornherein in die künstliche Perspektive historischer Ferne; erst nachdem er viele J a h r e aus ihnen zu lernen gesucht hatte, fing er im Alter an sie zu beurteilen. Und daher ist in diesen Urteilen eine vertrauliche Unbefangenheit, eine einfädle Sachlichkeit, welche die wirklichen Resultate herausgreift, ohne mit der Schale viel Zeit zu verlieren, die uns immer wieder zu diesen Partien seiner sonst so vielfach veralteten Geschidite hinzieht. Ernstere Anstrengungen

als

die französische

kostete

ihn

die deutsche

Philosophie.

Er

studierte Crusius zur Vorbereitung K a n t s ; dann diesen selbst, seine Hauptschriften zweimal, endlich Fichte und Sdielling. Aber indem er immer mehr erkannte, d a ß Spekulation nicht sein Beruf sei, wandte er sich der historischen Auffassung der schönen wie der philosophischen und politischen Literatur immer entschiedener zu. Hierbei kam ihm die werdende Wissenschaft der Literatur, wie sie damals die beiden Schlegel gründeten, zu H i l f e . M a n muß die Stelle kennen, in der Schlosser diesen Männern seine D a n k b a r k e i t ausspricht, um das aburteilende Gerede jener kulturhistorisdien Literarhistoriker, die doch ihren ganzen Begriff der Literatur von Schlosser überkommen haben, über die beiden Schlegel recht zu würdigen. „In dieser Z e i t " — sagt er — „arbeiteten einmal, wenigstens einige M o n a t e durdi, sehr vorzügliche K ö p f e an der Erlanger gelehrten Zeitung; durch diese erhielt ich ein Licht über die rechte A r t , die schöne Literatur zu beurteilen, ich ward auf die Arbeiten der Schlegel aufmerksam und schaffte sie mir an. D a ß ich den früheren Arbeiten der Brüder Schlegel,

welche, was sie damals sagten, vielleicht selbst jetzt

nicht billigen, und denen ich in vielen, besonders historischen Dingen nicht beistimmen kann, sehr viel, mehr

als allen

danke, halte ich für meine Pflicht, öffentlich

meinen

anderen

durchaus

Lehrern,

ver-

einzugestehen."

Schlosser selbst hat diese Zeit des Othmarschenschen Aufenthaltes —

Oktober

1798 bis Mai 1800 — die wichtigste seines Lebens genannt. M a n wird nicht mit der A n n a h m e irren, daß ihm damals der innere Zusammenhang der geistigen Bewegung in der Literatur zum ersten M a l e — zunächst am achtzehnten

Jahr-

hundert — aufging. M a n muß den praktischen, der Schriftstellerei ursprünglich abgeneigten Zug in seiner N a t u r bedenken, um zu begreifen, wie Schlosser diese seine Studien plötzlidi abbrach, um sich sieben J a h r e lang dem Geschäft der Erziehung wieder mit größtem Eifer zu widmen. Die Verhältnisse, in die er trat, hatten freilich vieles Lockende. Einer der angesehensten Frankfurter

Kaufleute, lange Zeit Präsident des Bürger-

kollegiums, ein M a n n , welcher den Wert wahrer Bildung im höchsten G r a d e zu schätzen wußte, übertrug ihm mit völlig freier H a n d die Erziehung seiner Kinder. Ihre Vorbildung w a r so weit vorgeschritten, daß er an ihren Unterricht alle seine Studien anschließen konnte. Darin lag denn freilich für ihn etwas sehr G e f ä h r -

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Portraits und biographische Skizzen

liches. Er begann die Kinder mit hineinzuziehen in die Bewegungen seines unersättlichen Wissenstriebes. D i e Naturwissenschaften, besonders Botanik, wurden aufs eifrigste betrieben. Geschichte trug er ihnen aus den Quellen vor. D a er bemerkt hatte, wieviel Ü b u n g des Gedächtnisses zur Geschichte gehöre, trug er täglich neu aus den Quellen vor u n d bei jeder Wiederholung aus vorher unbenutzten — der erste Kursus der Universalgeschichte, den er durchmachte. Jene Verbindung philosophischer und historischer Studien, in der er sich damals bewegte, hatte ihn n a t u r g e m ä ß von der neuesten philosophischen Literatur zu der des Mittelalters geführt, u n d diese begann er nun in F r a n k f u r t aus den unermeßlichen Quellen zu studieren. In ihr f a n d er den ersten Stoff einer literarischen Arbeit. D a ß sie z u m Druck gelangte, d a v o n w a r wohl die erste Ursache, d a ß der Dreißigjährige wohl anfangen m u ß t e , a n sein künftiges Schicksal ernsthafter zu denken u n d zugleich audi zu zweifeln, ob eine P f a r r e am einsamen Meerstrand wohl f ü r ihn der geeignetste P l a t z sei. Historische Arbeiten sollten auf ihn a u f merksam machen. Die erste, mit der er h e r v o r t r a t , w a r das kleine Buch: Abälard und Dulcin oder Leben u n d Meinungen eines Schwärmers u n d eines Philosophen (1807). Es sollte n u r die erste einer größeren A n z a h l von Abhandlungen sein, in denen er alle bedeutenden Scholastiker aus ihren Schriften zu charakterisieren gedachte. Es versteht sich nach dem damaligen Zustande dieser Studien von selbst, d a ß diese ohnehin etwas flüchtig gearbeitete Schrift gegenwärtig nicht mehr brauchbar ist: die Quellen u n d die kritischen Untersuchungen sind gerade f ü r diesen M a n n seitdem sehr gewachsen. Aber die Methode der Behandlung w a r f ü r jene Zeit ein entschiedener Fortschritt. Diese Methode spricht er so aus: „ein bloßer Auszug aus den W o r t e n eines Schriftstellers, eine Darstellung seiner Meinungen, welche nicht in seinem Geiste gearbeitet ist, könne den Schriftsteller selbst nie bezeichnen, weil sie zugleich das eigene u n d die H ü l l e , welche die Zeit notwendig machte, enthält. Es bedarf einer freien Ansicht des Mannes, aus dem Studium seiner Schriften erhalten." U n d diese W o r t e bezeichnen in der T a t die Form, in welcher die Geschichte die philosophische Literatur aufzunehmen hat, gegenüber der älteren Manier genau; an die Stelle einer geistlosen R e p r o d u k t i o n der Schriften soll Charakteristik treten. So schlug er zuerst den Weg ein, auf dem b a l d darauf jene so außerordentlich wirksamen Monographien Neanders entstanden, wie Julian u n d der heilige Bernh a r d ; auch das einzelne in A n o r d n u n g u n d Behandlung bei N e a n d e r erinnert durchaus an seinen Vorgang, so d a ß wir nicht zweifeln, d a ß an diesem P u n k t e mit Schlossers Studien der mittelalterlichen Philosophie u n d Theologie die folgenreiche Durchforschung dieses Gebiets durch die Neandersche Schule zusammenhängt. Die beabsichtigte Fortsetzung dieser Studien erlitt indes durch äußere U m s t ä n d e wie durch einen neuen Gegenstand der Forschung eine längere Unterbrechung. Löffler in Gotha, mit welchem er durch A b ä l a r d in Verbindung gekommen w a r , machte ihm die in G o t h a liegende, bis dahin unbeachtete Korrespondenz Bezas u n d anderer R e f o r m a t o r e n zugänglich. So entstand sein höchst verdienstvolles Buch „Leben des Theodor de Beza und des Peter Martin Vermili", das 1809 erschien. Es ist auch noch gegenwärtig sehr brauchbar u n d was klare u n d zutreffende Charakteristik betrifft, gehört es zu Schlossers besten Leistungen. — Noch bevor

Friedrich Christoph Schlosser

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diese Schrift gedruckt war, hatte er das Konrektorat an dem Gymnasium seiner Vaterstadt angenommen. Da war es denn mit seinen Studien zu Ende. Von 4 Uhr morgens bis 10 Uhr abends war er tätig, das sehr vernachlässigte Gymnasium auf jede mögliche Weise zu fördern; selbst seine gewöhnlichen Spaziergänge mußte er einstellen; nur sonntags und in den Ferien durfte er zu seinen geliebten Büchern zurückkehren. Die Sehnsucht nach seinen Studien, dazu die Ungewißheit seiner Lage, die sich seine hypochondrische Einbildungskraft vergrößert zu haben scheint, brachten ihn nun zu einem neuen abenteuerlichen Entschluß. Er legte plötzlich die Stelle, in der er sich so mühsam festgesetzt hatte, nieder; ohne Stellung, ja ohne die Aussicht einer solchen begab sich der vierunddreißigjährige Mann — und zwar in so trostlosen Zeiten allgemeiner Unsicherheit der Dinge — abermals auf die Wanderung. Sein nächstes Ziel war Frankfurt, wo sein edler Frankfurter Freund ihm ein Asyl in seinem Hause angeboten hatte. Die abenteuernde Fahrt erinnert an die ähnliche Dahlmanns nach Dresden; „man wußte in diesen napoleonischen Zeiten nichts mit sich anzufangen", sagt dieser sehr charakteristisch einfach in seiner bekannten prächtigen Erzählung. Mitten im Winter, den ersten Januar, tritt Schlosser seine Reise an; er fährt mit Extrapost, um mit sich allein zu sein und unterwegs auf eine neue Schrift denken zu können. Kurz vor seiner Durchreise durch Gießen läßt er sich, um nicht ganz ohne Beruf zu sein, dort zum Doktor kreieren. Es flößt ihm einiges Zutrauen ein, daß er hier und da seinen „Abälard" und „Beza" loben hört, und er sinnt unaufhörlich darauf, einen Gegenstand zu finden, in dem er seine gesamte Kenntnis der alten Sprachen und der historischen Quellen zeigen könnte. Derselbe müßte zwischen Kirchen- und politischer Geschichte liegen, da er sich immer noch nicht zwischen beiden entscheiden konnte. Seine Wahl traf die Geschichte der bilderstürmenden Kaiser, die denn nun in Frankfurt in den zwei nächsten Jahren ausgearbeitet wurde. Audi seine äußere Stellung gestaltete sich bald angenehm. Noch am Abend seiner Ankunft kam der Direktor des dortigen Gymnasiums zu ihm, ihm die Stellung, welche dort der berühmte Geograph Ritter kurze Zeit hindurch gehabt hatte, anzubieten. Sie war unbedeutend, doch bot sie einen Anhaltspunkt. Als in Frankfurt der Versuch eines Lyzeums gemacht wurde, erhielt er die Professur der Geschichte und Geschichte der Philosophie. Mit seiner festen Ansiedelung in Frankfurt sind seine Lehr- und Wanderjahre beendigt. In verschiedener Beziehung, innerlich wie äußerlich betrachtet. Frankfurt wurde ihm eine zweite Heimat, von der er sich erst viele Jahre später, und nur schwer, ja nicht ohne eine Art Reue öfter zu äußern, getrennt hat. Das lebendige Bedürfnis der Freundschaft, das bei dieser schroffen Natur nur um so intensiver war, fand hier volles Genüge. Er selbst hat es ausgesprochen, wie der hypochondrische Skeptizismus, mit dem er die menschliche Natur zu betrachten so geneigt war, durch die Erfahrungen, die er in diesem Kreise von Freunden und Freundinnen machte, gemäßigt wurde. „In das Jahr 1810" — sagt er — „fallen zwei für meine ganze Bildung und für meine völlige moralisdie Genesung höchst wichtige Ereignisse. Der Adel der menschlichen Seele, an den ich nicht mehr geglaubt hatte und den ich nur in der Dichtung zu finden meinte, zeigte sich mir im äußeren Verkehr. Die idealischen Träume meiner Jugend von Freundschaft und wahrem Leben

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Portraits und biographische Skizzen

schienen mir kein eitler Wahn mehr, und ich gewann neuen Mut für den Kampf mit der Gemeinheit." Jener Moralismus, welcher den innersten Kern seines Wesens bildete, gestaltete sich hier zu dem Grundsatz: jedem Schein historischer Größe gegenüber an dem schlichten Maßstab jener Moralität des Herzens festzuhalten, welche, von keiner äußeren Lage abhängig, unbedingt den Wert des einzelnen ausmacht. Indem er den historischen Erfolg von dem moralischen Wert des einzelnen sonderte, gewann er gleicherweise Raum für die reine Strenge des sittlichen Urteils und für eine freie politische Würdigung. Wenn er sich so in seinen innersten Überzeugungen festigte und abschloß und auch seine äußere Lage ihnen gemäß fester gestalten durfte, so erreichten auch seine wissenschaftlichen Wanderungen — nicht weniger abenteuerlich als seine äußeren — damals ihr Ende; der Plan entstand, dessen zusammenhängende Ausführung ihn sein ganzes folgendes Leben hindurch beschäftigt hatte. Aus seinen Vorlesungen über philosophische Geschichte ging der Gedanke hervor, eine Universalgeschichte zu schaffen, welche die ganze europäische Kultur in ihrem Fortgange umfaßte. Die größte Weite des Horizonts, nach der seine Studien strebten, war damit erreicht; wieviel Umgestaltungen auch noch die Ausführung erfuhr, ohne Zweifel stand damals gleich beim Beginn dieser Vorlesungen das Bild seiner Universalgeschichte bereits vor seiner Seele. In unseren Zeiten, in denen die verschiedenen Wege des Studiums wie des Lebens in scharfer Sonderung auseinanderliegen, ist es ein eigenes Schauspiel, die Entwicklung jener bahnbrechenden Männer zu verfolgen, die in suchender Polyhistorie und in wechselnden Lebensschicksalen erst spät den Mittelpunkt ihres Geistes gefunden haben. Die seltsamen Wechsel ihres Lebens und ihres Studiums gehören einer, wie es jetzt scheinen will, beinahe aussterbenden Welt an. Aber gerade aus diesem Wechsel ging bei ihnen im Leben jene abgerundete Männlichkeit, gingen in den Studien jene aus großen Kombinationen stammenden Fortschritte der Wissenschaften hervor, um derentwillen wir sie bewundern. So wird man auch in dem beinahe abenteuerlichen Verlauf von Schlossers Studien und Leben leicht den tieferen Zusammenhang finden, wenn man seine stetige Fortbildung zu jenem Gedanken einer Staat und Literatur umfassenden Kultur und ihrer zusammenhängenden Darstellung verfolgt, auf dem seine epochemachende wissenschaftliche Bedeutung beruht.

II. Die

Universalgeschichte

Wir haben Schlossers Entwicklung vom Standpunkte einer allgemeinen Polyhistorie aus bis zu dem Momente verfolgt, in dem er die Grundlinien einer Universalgeschichte zog, deren Ausführung von da ab die Arbeit seines Lebens war. Zur selben Zeit schien ein verlockender äußerer Antrag noch einmal diese Lebensarbeit in Frage stellen zu wollen. Er hatte eben seine Bestallung für das Frankfurter Lyzeum erhalten, als die Heidelberger theologische Fakultät ihn zum Nachfolger des rasch berühmt gewordenen Kirchenhistorikers August Neander berief. Es war natürlich, daß man gerade an ihn als den Nachfolger dieses Mannes dachte.

Friedrich C h r i s t o p h Schlosser

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D i e bisherigen Arbeiten beider Historiker waren durchaus in der Methode verwandt gewesen: sie versuchten Richtungen und Zeitalter durdi allseitige C h a r a k teristik bedeutender Männer dem Gemüt verständlich zu machen: hatten sie auch noch nicht die künstlerische Farbe und Knappheit der modernen Biographie, so lag doch gerade in ihrer subjektiven und behaglichen Manier ein eigener Vorzug. Beide Historiker gingen darauf aus, auf den ganzen Menschen erhebend zu wirken; sie hatten wenig Interesse für die sich auf ihrem Wege erhebenden kritischen Fragen, noch weniger für die lebendigen Farben und Kontraste des Lebens: desto mehr für den Kern der Charaktere und der sachlichen Fragen. Aber schon damals konnten tiefer Blickende den Punkt sehen, von welchem aus Schlosser später weit über Neanders Methode der Geschichtsschreibung hinausgegangen ist, einer Methode, deren Grundzug stets in der Betrachtung von Charakteren als Repräsentanten gegensätzlicher Richtungen gelegen hat und die daher nie völlig über den Standpunkt monographischer Charakteristik hinauskam. Dieser Punkt lag in dem fruchtbaren historischen Begriff der Kultur, auf welchen allerdings zunächst die kirchenhistorischen Studien Schlosser geführt hatten. Indem er die Einheit der Geschichte in dem Zusammenhang dieser Kultur sah, überschritt er nicht nur Neanders Anschauungskreis, sondern audi das Fach, welches der Nachfolger N e a n ders in Heidelberg lehren sollte. Er wurde seinem eigensten Gedankenkreise erhalten, indem er den Heidelberger R u f ablehnte. Welche Aufgabe, die er nun vor sich hatte! Abermals stand der unermüdliche Mann, nach so unsäglichen Studien, am A n f a n g eines ungeheueren Wegs. Gewohnt, nur aus den Quellen zu arbeiten und doch auf das G a n z e menschlicher Kultur gerichtet, schien er sich etwas Unmögliches vorgesetzt zu haben. U n d die scheinbar unendliche Ausdehnung des Gebiets w a r es nicht allein. Auch die Durchbildung seiner Behandlungsart war eine Sache vieljähriger Anstrengung. Wir verfolgen die Hauptstadien dieses Wegs, der durch so viel Folianten geht, wie sie wohl außer ihm wenig Menschen bewältigt haben. N u r diese eisenfeste Gesundheit, diese einsame Zurückgezogenheit, dieses lange Leben konnten Aufgaben bezwingen, wie er oder der große Kirchenhistoriker, der in einem J a h r e mit ihm gestorben ist, Ferdinand Christian Baur, sie bewältigt haben. . Die A n f ä n g e seiner allgemeinen Geschichte waren sehr bescheiden. Für seine philosophische Geschichte, wie er sie am Lyzeum las, bedurfte er eine feste G r u n d lage des Tatsächlichen, die er bei den Schülern voraussetzen durfte. Zu diesem Zweck wollte er einen Entwurf der Tatsachen in drei kleinen Bänden drucken lassen — ohne Raisonnement, ohne künstlerische Gruppierung, in chronologischer Folge, möglichst oft in den Worten der Quellen selbst redend, um in diese die Schüler hineinzuführen. Dieser nächste Zweck fiel nun aber bald weg, d a das Lyzeum einging; die Behandlung durfte daher vom dritten Bande um so tiefer in die Quellen eingehen. Den dritten Band hat er selber für mangelhaft erklärt, da es ihn bei diesem drängte zu zeigen, daß er keineswegs angesichts der undurchdrungenen Urwälder des Mittelalters und ohne praktischen Zweck seinen Plan nun aufgebe, wie das Luden, Rühs und andere Freunde befürchtet hatten. Mit immer steigender Ausführlichkeit und Gründlichkeit bearbeitete er nun jene Reihe von

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P o r t r a i t s und biographische S k i z z e n

Bänden der mittelalterlichen Geschichte, deren Quellenauszüge unsere Leser wohl öfter bewundert oder nachgeschlagen, aber deren Text sie schwerlich je gelesen haben. In bezug auf die Behandlungsart ist darin ein merkwürdiger Fortschritt zu beobachten. In den ersten Bänden war es ihm ausschließlich um die genaue Erforschung der Reihe der Tatsachen zu tun. Neuling auf diesem Gebiete, noch von seinem ersten Plane bestimmt, hatte er sich jener Reihe verdienstvoller Gelehrten angeschlossen, welche, wie Stenzel, Rehm, Wilken, mit dem ungeheueren Material der mittelalterlichen Quellen und Ereignisse in umfassender Quellenlektüre rangen. Der Begriff der historischen Solidität und Wahrhaftigkeit wurde ihm im Eifer der Verteidigung dieser Manier beinahe identisch mit dem der Trockenheit und bloßen Aneinanderreihens nackter Tatsachen. Die Abneigung gegen die „englischfranzösische raisonnierende Manier" verleitete ihn, mit deren tendenziöser Oberflächlichkeit zugleich politische Reflexion und lebendige Schilderung zu verwerfen. Jener erste Unterschied einer grundlegenden Zusammenstellung der Tatsachen und des „philosophischen" mündlichen Unterrichts über dieselben verwandelte sich ihm im Laufe seiner Verteidigung in den des Tatsachen gebenden Schriftstellers und des wahren, d.h. in eigener Weise sie zusammen schauenden und beurteilenden Publikums. „Der Leser muß gute Natur, Sinn, unbefangenen Verstand, was bei dem gewöhnlichen Gelehrten eben nicht ganz gemeine Gaben scheinen, mitbringen; dann muß der Schriftsteller durch Stellung der Tatsachen den Gebrauch der Gaben und das weitere Nachforschen des Angedeuteten erleichtern. Was dieser oder jener einmal darüber gesagt hat, was er darüber denkt oder gedacht hat, ist mir höchst gleichgültig. Mischmasch von Politik, Strategie, Statistik, Vergleichungen des Ungleichsten, deklamatorische Schilderungen, geben bei dem Haufen das Ansehen des Genies; aber mag sie auch als Geschichte preisen, wer da will, ich erkenne sie als Wissenschaft nicht. Was aber die breite Rede oder rhetorischen Schmuck angeht, deren Urheber über alles Kunde erteilen, als wären sie zugegen gewesen, so mag sie für die Leute, die, ohne sich erst selber zu bessern, die Staaten verbessern usw., in Wäldern und Sümpfen roher Barbaren die wahren menschlichen Verfassungen und Gesetze suchen usw., passend sein, Wahrheit, Weisheit, Bedachtsamkeit, Fleiß wird dadurch nicht befördert." Man sieht, wieviel Schläge in solchen Sätzen gegen die verschiedensten, zum Teil wertvollsten Richtungen der erregte Eifer richtet; Schlosser ist hierin so wenig als in den späteren Händeln mit dem trefflichen Otfried Müller von eigensinniger Rechthaberei freizusprechen, die in jeder abweichenden Richtung unlautere Motive sieht, während sie selbst sich eifrigst das Recht wahrt, „den eigenen Gang zu gehen und den eigenen Stil zu schreiben". Ist er doch eine Reihe von Jahren darauf in der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts so tief in die „raisonnierende Geschichte" eingegangen wie keiner der deutschen Vorgänger, denen seine scharfen Worte gelten. J a schon in den nächsten Bänden begann er, sich bequemer in Darstellung und Urteil gehen zu lassen. „Ich habe" — sagt er — „dem Wunsche nachgegeben, von der nackten bloß andeutenden und zusammendrängenden Form so weit abzugehen, als der Zweck des Werkes und meine Grundsätze nur immer erlauben möchten." Wie er jene andere darstellende, und wie er es nennt, philosophische, das heißt die Stellung der einzelnen Erscheinung

Friedrich Christoph Schlosser

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in der Kulturgeschichte auffassende Methode, welche er nur in den Vorlesungen am Lyzeum vorübergehend versucht hatte, auch in bezug auf das Mittelalter vollkommen beherrschte, davon gibt eine Monographie Zeugnis, die am Ende dieser Periode entstand und uns in der Tat im höchsten Grade bedauern läßt, daß er nicht das Mittelalter auf diese Weise behandelt hat. Wir meinen die trefflichen „ Abhandlungen über Gang und Zustand der sittlichen und gelehrten Bildung in Frankreich his zum dreizehnten Jahrhundert und im Laufe desselben", welche er seiner Übersetzung des pädagogischen Handbuchs von Vincent von Beauvais beigegeben hat. Hier ist der Anfang zu einer wahren Geschichte der philosophischen und theologischen Hilfsmittel und Elemente der mittelalterlichen Kultur gemacht. Wer die „Spiegel" des Vincentius kennt, der weiß, welche Arbeit in einem so kurzen und einfachen Abschnitt wie „über den historischen Spiegel" steckt, der uns die deutlichste Anschauung von den Hilfsmitteln gibt, aus denen man in jenem Zeitalter Geschichte betrieb. U n d mit welchem tiefen Gemüt ist hier an den praktischen Zweck des alten Handbuchs der eigene geknüpft, wie er ihn im Kreise der edlen Frankfurter Freundinnen verfolgte — an der frommen und schlichten Erziehung der alten Zeiten festzuhalten, Gemütsinnigkeit und einfachen praktischen Verstand zu fördern, anstatt frühreifen Urteils moralischen Ernst und Reinheit der Seele zu pflegen, wie das der alte Bruder Vincentius der Königin Margarethe von Frankreich in jenem Buche so eindringlich vorgehalten hatte. Diese Monographie schrieb er bereits als Professor der Geschichte in Heidelberg (1819), wohin er an Wilkens Stelle, besonders durch Daubs und Creuzers Einfluß, berufen worden war. Er schrieb sie als Vorarbeit für eine Reise nach Paris, wo er den letzten Teil der mittelalterlichen Geschichte mit Hilfe der dortigen Hilfsmittel und Manuskripte beendigen, zugleich aber sich für ein neues umfassendes Unternehmen rüsten wollte. Die Vorlesungen führten ihn nämlich auf die alten Studien des achtzehnten Jahrhunderts zurück. Wir wissen, daß er unablässig mit der Literatur dieses Zeitalters seit sehr früher Zeit beschäftigt war, daß ihn sein Lebenslauf mit den zersprengten Kreisen des älteren Frankreich vielfach zusammenführte. Es ist zugleich klar, daß gerade dies Jahrhundert die Wechselbeziehung von Literatur und Staat aufs deutlichste zeigt, so daß dieser Grundzug seiner Methode hier den besten, freiesten Spielraum hatte. So entstand der Plan seiner Gejcfcicfcfe des achtzehnten Jahrhunderts „mit besonderer Rücksicht auf den Gang der Literatur" — seines populärsten und wirksamsten Werkes. Wir haben bisher die minder bekannten Arbeiten Schlossers unseren Lesern ins Gedächtnis zurückzurufen gesucht: um so kürzer können wir hier in bezug auf ein Werk sein, das in vier starken Auflagen in jedermanns H ä n d e n ist. H a t t e Schlosser in der „Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung" den Stoff der Quellen zu bewältigen gesucht, die Anschaulichkeit der hinzugefügten Sammlung von Quellenstellen, das Urteil dem mündlichen Vortrag und dann dem denkenden Leser überlassen; hatte dann in den späteren Bänden seine Erzählung immer mehr vom Pragmatismus der Begebenheiten, von den Triebfedern der handelnden Personen in die Darstellung hineingenommen: so mußte der neue Stoff eine totale Verschmelzung jener künstlich und allzu hartnäckig auseinandergehaltenen Elemente der geschichtlichen

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Portraits und biographische S k i z z e n

Anschauung von ihm fordern. Die N ä h e der Zeit, welche allen Fragen u n d Gegensätzen eine praktische Bedeutung f ü r gegenwärtige Politik gab, der U m s t a n d , d a ß er mit diesen Schriften gelebt u n d aus ihnen selber sich unterrichtet hatte, d a ß er mit den Kreisen und Parteien, die er hier darzustellen hatte, in persönliche, zum Teil feindliche Berührung geraten war, endlich die Absicht, diese Geschichte bis auf die Gegenwart f o r t z u f ü h r e n u n d so mit gegenwärtigen politischen Aufgaben, Parteien und K ä m p f e n unmittelbar zu vereinigen — dies alles m u ß t e dem politischen Urteil und dem praktischen Zweck hier ein entschiedenes Übergewicht über die Absichten bloßer Forschung u n d Sammlung geben, von denen jenes frühere Werk ausgegangen war. U n d wie das in seinem energischen Geiste lag, ebenso schroff, ebenso scharf, als er jenen früheren Zweck der sammelnden Forschung in dem früheren Werke verfolgt hatte: so schroff u n d scharf verfolgte er n u n hier den des politischen Urteils u n d der Darstellung des Zusammenhangs von Staat u n d Literatur. Besondere Lebendigkeit der Färbung und Schärfe des Urteils zeigen sich in den Partien, welche die französische Geschichte u n d Literatur behandeln. H i e r k a m ihm nun auch nicht wenig zu H i l f e , d a ß er in Paris mit vielen bedeutenden Zeugen der letzten Ereignisse lebhaft verkehrte. Besonders der U m g a n g mit Guizot und M o n t m a r q u e w a r ihm höchst belehrend. In Paris dehnte sich ihm auch erst der Plan, der anfänglich auf einen dünnen Band ging, wie seine meisten Arbeiten bescheiden begannen, zu seiner gegenwärtigen Gestalt aus. Er hat dies besonders dem Einfiuß Alexander von Humboldts zugeschrieben. „Ich w a r " — erzählt er — „an Alexander von H u m b o l d t empfohlen worden und zeigte diesem die ersten Bogen meines Entwurfs, um seine Gedanken über das G a n z e zu hören. Alexander von H u m b o l d t schrieb mir ein Billett, worin er sich über meinen P l a n so ausdrückte, d a ß ich mich schämte und seinen E r w a r t u n g e n von meiner Arbeit wenigstens durch Fleiß glaubte entsprechen zu müssen. Ich hatte von meinem N a t u r s t u d i u m her solche Achtung f ü r H u m b o l d t , ich erkannte aus seinem Gespräche das Allgemeine seiner Kenntnisse, das K l a r e (was ich oft in seinen Schriften vermißt hatte), das Umfassende seines Geistes so deutlich, d a ß gerade sein Urteil mich unter allen am mehrsten anspornte." In ähnlicher Weise Schloß sich nun an den Plan einer neuen Auflage des ersten Bandes seiner allgemeinen Geschichte das zweite Werk, welches mit der Geschichte des achtzehnten J a h r h u n d e r t s zusammen den H ö h e p u n k t seiner Geschichtsschreibung darstellt — die Universalhistorische Übersicht der Geschichte der alten Welt (1826 ff.). H i e r endlich verwirklichte er jenen alten Plan universalhistorischer Behandlung der Geschichte, wie er ihn seit dem Beginn des F r a n k f u r t e r Aufenthalts mit sich herumtrug, so vollkommen als dies seiner Individualität möglich w a r . Er erklärt in der Vorrede ausdrücklich, d a ß er hier seine „Vorträge über K u l t u r geschichte" dem Publikum mitteile u n d d a ß er dies gerade bei dem Altertum f ü r angemessen erachtet habe, nicht bei dem Mittelalter. Er unterscheidet nun zwei Arten der Behandlung, in deren erster die mittelalterliche, in deren zweiter diese alte Geschichte bearbeitet worden sei. „Zu erforschen" — so drückt er sich hierüber aus —, „was in jeder Zeit geschehen ist, die Ursachen w a r u m u n d die A r t wie es

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geschehen, der Nachwelt aufzubewahren, ist das Geschäft dessen, der politische Geschichte schreibt, und seine eigenen Gedanken so wenig als möglich einzumischen, sein höchstes Gesetz. Wer aber die Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen zeigen, seinen Gedanken durch seine ganze Erzählung durchführen will, der muß seine eigene Meinung aussprechen." „Will er noch dazu den Anfang und Ursprung der Dinge, Inneres und Äußeres zu erforschen versuchen, so wird er über so manchen Gegenstand der verschiedenen Wissenschaften und Künste reden müssen, daß auch der umfassende Geist eines Leibniz nicht überall mit gleicher Sicherheit reden könnte. Mag aber immerhin seine Kenntnis mangelhaft, sein Urteil in einzelnen Disziplinen auf unvollkommenes Wissen gestützt, unsicher sein, einmal muß er doch wagen, das Ziel zu erreichen, das er sich hei seinen Studien, beim Aufhäufen einzelner Tatsachen gesetzt hatte, und dies Ziel kann nur durch Erforschung des Grundes und der inneren Verbindung der Tatsachen erreicht werden. Ein solches Unternehmen kann freilich erst nach vielen Versuchen gelingen, und jeder Bescheidene wird, wenn er eine Geschichte der Menschheit schreibt, nichts anderes als einen Versuch oder einen Beitrag zu einer solchen Geschichte geben wollen." So auf dem Gipfel seiner Geschichtsschreibung angelangt, werfen wir einen Blick auf den gemeinsamen Charakter derselben in dieser letzten Periode der Vollendung. Es ist das Zeitalter Kants, und es ist die Atmosphäre seiner Philosophie, in denen sich Schlossers historische Weltansicht ausbildete. Das Interesse dieser Philosophie gehört der Willensbeschaffenheit des einzelnen Menschen, der sittlichen Kultur des Menschengeschlechts. Jede Form des Staats, jedes System der Philosophie, jede Entfaltung menschlicher Genialität und Größe hat nur Wert als ein Element dieser sittlichen Kultur. In diesem einfachen Gedanken liegt die allgemeine historische Grundlage der Schlosserschen Geschichtsschreibung. In ihm liegt ein sehr scharfer Gegensatz gegen den Charakter der Politik, welche Schlosser handeln sah, und gegen den Geist der Geschichtsschreibung, die sich neben ihm erhoben hatte. Nie bedurfte das Staatsleben dringender einer einfachen männlichen Mahnung an aufrichtige Sittlichkeit und nie war in der Geschichtsschreibung dies Wort der Mahnung so wie vergessen, als zu der Zeit, in welcher sich Schlosser für politische Geschichte entschied, in der unglücklichen Periode der zwanziger und dreißiger Jahre. Dies ist das Geheimnis jener populären Wirkung, welche die „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts" übte und die bis dahin in der deutschen Geschichtsschreibung ohnegleichen war. Von da stammt jene Kraft volkstümlicher, praktischer Darstellung, welche derb und beinahe formlos nur das Gewissen der Nation und ihr Herz in Anspruch nimmt: Schlosser an erster Stelle hat in unserer Historie den männlichen Geist sittlichen Urteils in den Zeiten der Romantik und Diplomatie erhalten und daß unser Bürgerstand allezeit Sinn und Sympathie hatte für diesen Geist, mit welcher derben Härte und Formlosigkeit er sich auch aussprechen mochte, das zeigt die Popularität dieses Mannes und der Erfolg seiner Schriften. Wenn ihn gleich Spittler weitaus überragt an scharfem politischem Verstand, an jenem feinen, glänzenden Geist historischer Beobachtung, ohne ihm irgend nachzustehen an 4

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Portraits und biographische Skizzen

Männlichkeit: dieser Verstand war kalt, zu politisch und historisch für unseren Bürgerstand, welcher audi die Heiden häuslich zu betrachten liebt, beinahe vornehm. Wenn ihn gleich Johannes von Müller an genialer Gewalt des Wortes unvergleichlich übertrifft: die Kenner bewunderten die Pradit jener gewaltigen Vorreden an die Schweizer, unter uns Deutschen vermochte diese kunstvolle, altertümliche Beredsamkeit nicht populär zu werden, weil zuviel Zeit und kalt bildende Kunst zwischen der Empfindung des Gemüts und der Formulierung im Worte überall bei ihm liegt. Hier aber sprach zu dem Volke, was ihm stets das Verständlichste ist, weil das Maß und der Inhalt seines eigenen Lebens darin liegt: ein gerades sittliches Urteil, in einem bewegten Leben mannigfach geübt und unverrückbar festgehalten, welches in allen Institutionen, Weltbegebenheiten, Parteibewegungen den Kern des Persönlichen, Sittlichen, Menschlichen mit.sicherer Hand ergreift. Und so durfte sich Schlosser wohl wundern, daß man seine „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts" ins Französische übersetzt habe, da dies Werk „so durch und durch deutsch gedacht sei, daß es keinem Franzosen gefallen könne". In dieser Grundrichtung wurzelten zwei Elemente, scheinbar unverträglich und doch beide in dem dargestellten moralischen Prinzip eins. Unsere Darstellung seines Lebens deutete an, wie persönliche Anlage, der moralische Idealismus Kants, das Studium der Kirchenväter, Scholastiker und Mystiker, endlich die Einsamkeit und der schroffe Wechsel seines Lebensweges in ihm jenen Hang zum beschaulichen und häuslichen Dasein ausbildeten, welcher in seinen Schriften zuweilen wie eine Flucht vor dem Lärm des geschichtlichen Lebens und den Übergriffen des Ehrgeizes, den Trübungen, welche die Leidenschaft auch auf dem Spiegel der reinsten Seele hervorbringt, erscheint. Die Geschichte und die äußere Welt lehrten ihn zweifeln an der moralischen Lauterkeit menschlicher Willensbewegungen; nur die Erfahrungen der Freundschaften haben ihre Bilder einer auf dem Christentum und häuslicher Sittlichkeit beruhenden reinen Moralität, welche sich vor der Welt zu wahren weiß. Sein Bekenntnis hierüber ist höchst merkwürdig. „In das Jahr 1810" — sagt er — „fallen zwei für meine ganze Bildung und für meine völlige moralische Genesung (von inneren Übeln, denn äußere Sünden habe ich aus Klugheit nie begangen, sooft mir auch die Lust ankam) höchst wichtige Ereignisse, die ich hier auch nicht einmal anzudeuten für gut finde. Es war mir eine neue Seite des menschlichen Lebens gezeigt, ich hörte auf, an allem wahrhaft Menschlichen zu zweifeln, ich machte meine Erfahrungen. Der Adel der menschlichen Seele, an den ich nicht mehr geglaubt hatte und den ich nur in der Dichtung zu finden meinte, zeigte sich mir im äußeren Verkehr. Die idealischen Träume meiner Jugend von Freundschaft und wahrem Leben schienen mir kein eitler Wahn mehr für den Kampf mit der Gemeinheit. Mein Herz ward zerrissen und geheilt und wenn ich zwischen einer kleinen Zahl schöner Seelen als Mann und als Tröster stand, so ward ich am mehrsten getröstet und mit der Menschheit, an der ich längst gezweifelt hatte, völlig ausgesöhnt." Man sieht beinahe mit Augen in dieser Stelle, wie sich in seiner sittlich ernsten, ja rigorosen und zu zweifelndem Pragmatismus in der Beurteilung der Handlungen geneigten Natur die Überzeugung ausbildete, daß jenseits der geräuschvollen historischen

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Welt, in der Stille des bürgerlichen Lebens jene moralische Lauterkeit zu suchen sei, vor deren Maßstab nun einmal die Gewaltigen der Geschichte nicht bestehen. Solche Erlebnisse und Überzeugungen vermittelten dann auch aufs neue seine philosophischen Ideen und seine historische Skepsis mit dem schlichten christlichen Glauben. Denn auch zu diesem verhielt er sich ganz wie K a n t : er war ihm, biblisch aber nicht theologisch gefaßt, die festeste Stütze der allgemeinen Moralität. Wie aber sollte nun ein Geist von solcher der Beschaulichkeit und Resignation zugeneigten Richtung durch Kant, die Theologie und häuslich enge Kreise erzogen, der H a n d lung und bewegten Leidenschaft der Geschichte gerecht werden? Er hat es stets nur bis zu einem gewissen Punkte vermocht. Dennoch aber bildete sich hier allmählich ein zweites Element in seiner geschichtlichen Anschauung aus, welches jenem ersten die Waage hielt: das Interesse an der bürgerlichen Gesellschaft, am Staat, als dem größten Mittel sittlicher Kultur, wie ihn Kants Philosophie der Geschichte a u f f a ß t . Immer mehr lernte er den einzelnen in seinem Verhältnis zu dieser sittlichen K u l t u r und der bürgerlichen Gesellschaft als den Träger derselben beurteilen und betrachten. Dieser historische Begriff, auf den ihn gleicherweise sein Studium der Franzosen — selbst Voltaires — und die Kantsche Atmosphäre der deutschen Wissenschaft hinführten, befreite ihn von jener Einseitigkeit seiner N a t u r immer mehr. Man würde Schlossers entscheidenden Einfluß auf unsere Geschichtsschreibung darstellen, wenn man den historischen Begriff der sittlichen Kultur analysierte, wie er ihn in diese einführte. Wenn man das Detail der Verfassungen von der inneren Staatsgeschichte, das der Diplomatie und Kriegskunst von der äußeren, wenn man die rein künstlerischen Gesichtspunkte von der Kunstentwicklung, die ausschließlich wissenschaftlichen vor der von Literatur und Philosophie ausschließt: so bleibt das Persönliche, Reinmenschliche übrig, welches Staa. und Literatur miteinander verbindet — in seiner Gesamtheit gedacht: die sittliche Kultur. Dieser gehört Schlossers Interesse beinahe ausschließlich. Über Verfassungen verrät er eine selbst f ü r jene Zeit merkwürdige Gleichgültigkeit, sofern jene nicht durch sie bestimmt wird. Ihm genügt humaner Absolutismus vollkommen. Ihn interessiert der notwendige Zusammenhang der Verfassungsformen durchaus nicht. Seine Schilderungen der Kriege sind völlig invita Minerva gemacht; wer die von Häusser, Duncker, Droysen kennt, kann sich kaum überwinden, einzelne Seiten der seinigen zu lesen. Wie er über die uralte Technik der Diplomatie denkt und gelegentlich spricht, darüber schweigen wir lieber. Auch der Sinn f ü r das Schöne scheint ihm zu fehlen. Aber den sittlichen Geist, der in all diesen Zweigen wirksam, einem Zeitalter sein gemeinsames Gepräge verleiht, stumm tätig in den Ereignissen, zum Wort gekommen in der Literatur: diesen verfolgt er durch alle Teile der geschichtlichen Bewegung hindurch mit hellem Auge; nie vielleicht wird jemand die sittliche Kultur des achtzehnten J a h r hunderts so uns nahebringen, wie er es getan. U n d von hier aus ergibt sich ihm ein Zusammenhang der Universalgeschichte, wie kein Historiker vor ihm ihn ergriffen hat und wie er das eigenste Produkt unserer modernen historischen Anschauung, ihr eigenster Fortschritt gegenüber den Meisterwerken der Alten und der Italiener ist. 4*

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Portraits und biographische Skizzen In einem Zeitalter, das Deutschland mit der schlimmsten aller G e f a h r e n bedrohte,

der, d a ß es sein politisches Gewissen an R o m a n t i k e r u n d D i p l o m a t e n verlöre, hat g e r a d e eine solche Geschichtsschreibung d a s sittliche Bewußtsein wach erhalten, eine Geschichtsschreibung, welche alle K u n s t , G e n i a l i t ä t u n d G r ö ß e f ü r nichts achtete gegenüber dem guten Gewissen u n d d e m sittlichen S t a a t s g a n z e n . D i e G e schichtsschreiber, welche jetzt der S t o l z Deutschlands sind, H ä u s s e r ,

Gervinus,

Sybel — so viele a n d e r e — haben v o n anderen vieles gelernt; wer möchte J o h a n n e s v o n Müllers oder R a n k e s Verdienste auch nur in solchem d a n k e n d e n Gedächtnis an den v o r k u r z e m uns Entrissenen irgend geringer achten als Schlosser? A b e r in einem sind sie alle Schlossers Schüler gewesen: in dem V e r s t ä n d n i s v o n K u l t u r , S t a a t u n d Geschichte aus der sittlichen A u f g a b e des Menschen u n d in der d a r a u s folgenden p o p u l ä r e n praktischen W i r k u n g . I h m u n d nach ihm D a h l m a n n verd a n k e n sie dies, zwei niederdeutschen M ä n n e r n , a n denen wir auch die Derbheit lieben gelernt haben u m ihrer Männlichkeit willen, welche die T u g e n d der T u g e n den ist.

Arthur Schopenhauer Im Jahre 1853 erschien in der Westminster Review ein Artikel „Iconoclasm in German philosophy", in dem, wenn auch nicht ohne Polemik, doch mit unverhehlter Bewunderung, die Charakteristik eines deutschen Philosophen entworfen ward, der mit einer Leidenschaftlichkeit, der vergleichbar, durch welche einst die Bilder der Heiligen aus den Kirchen gerissen wurden, gegen die Heroen der nachkantschen Philosophie, Fichte, Schelling, H e r b a r t , Schleiermacher, Hegel, als gegen Scharlatane und mittelmäßige Köpfe sich erhoben und auf dem Fundament Kants, der ihm in seiner Grundansicht mit Piaton und der indischen Philosophie einstimmig erschien, ein höchst eigentümliches System aufgerichtet hatte. Als O t t o Lindner diese Charakteristik deutsch herausgab, erschien hier ein deutscher Denker im Auslande hochberühmt, der in Deutschland ohne Schule, ohne Einfluß auf die öffentliche Meinung, ohne Wirkung auf den Gang unseres Denkens, ja beinahe ohne Leser geblieben war. Und ein noch merkwürdigeres Phänomen stand bevor: das System dieses Mannes, das 1819, in einer philosophisch sehr bewegten Epoche, ganz wirkungslos vorübergegangen war, begann, von leidenschaftlichen Bewunderern und gleich leidenschaftlichen Gegnern vor das große Publikum gebracht, eine Art von Wirkung zu üben, wie sie so keines der früheren deutschen Systeme gehabt hatte, vergleichbar der, welche die Rousseau und H u m e in England und Frankreich besaßen. Es drang nämlich über den Kreis der Gelehrten und Fachmänner hinaus in das Publikum der Kaufleute, Offiziere, Weltmänner; es wurde zur Philosophie der Feuilletonisten; ja die Person selbst seines Urhebers ward zum Gegenstande leidenschaftlichen Interesses, zur Zeit seines Lebens der abenteuerlichsten Erzählungen, nach seinem Tode umfassender Mitteilungen, bittrer Kämpfe, in denen sogar die Freunde des Philosophen sich unter sehr persönlichen Invektiven voneinander trennten. Der Grund dieser merkwürdigen Erscheinung liegt in der N a t u r dieses Systems. Es erhob sich nicht aus den Problemen, welche die wissenschaftliche Bewegung dem zusammenfassenden Nachdenken darbot; obwohl der Naturwissenschaften kundig, hatte Schopenhauer sich doch nur bestimmter Resultate derselben zum Aufbau seiner Weltansicht bedient, er hatte nicht wie Schelling ehemals, und wie heute, mit weit größerer Kenntnis, Lotze in Methode und Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Forschung selber einzugreifen unternommen; noch weit weniger hatte er irgendwie aus den Problemen der Wissenschaften des Geistes heraus, wie etwa Hegel und die moderne englische Schule, sein System gebildet und so zu den historischen Wissenschaften, zur Rechtswissenschaft, zur Religionsphilosophie eine schöpferische Stellung eingenommen. Er stand völlig außerhalb der Bewegungen der positiven Wissenschaften. Gleichviel, wieviel sie ihm gaben, empfangen konnten sie nichts von ihm. Sein System war daher schon dadurch allein

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Portraits und biographische Skizzen

unfähig, für die mit den positiven Wissenschaften beschäftigte Studienzeit und die für diese geschaffenen Universitäten etwas zu sein. Die Vorwürfe der Schopenhauerianer gegen die Universitäten und ihre Philosophie sind daher im höchsten Grade gesucht und überflüssig; wenn sie werden nachweisen können, was diese Philosophie dem mit einer positiven Wissenschaft Beschäftigten in Zusammenhang mit derselben sein konnte, so sollen sie Recht behalten. Oder auch, wenn sie andererseits nachweisen können, daß eine solche begründende, Methode, Voraussetzungen und den großen Zusammenhang aller einzelnen Forschung untersuchende Wissenschaft gegenüber dem andringenden bloß praktischen Brotstudium überflüssig sei. Bis dahin mag die einfache, in ihrem Geiste höchst unerklärliche Tatsache ihren ewigen Invektiven gegenübergestellt werden, daß bis heute kein einziger in wirklich fruchtbarer strengwissenschaftlicher Forschung in irgendeinem Zweige mensdilichen Wissens begriffener Gelehrter sich dieser Philosophie zugewandt hat, sich ihrer Prinzipien zur Leitung seiner Forschung bedienen konnte. Wogegen die gewaltigen Wirkungen Hegels in der Tübinger Schule, in der Rechtswissenschaft, in den historischen Wissenschaften mit Händen zu greifen sind. Das ist kein Vorwurf für Schopenhauers System; aber es ist eine übergenügende Rechtfertigung dafür, daß die Universitäten und die Männer der Forschung mit diesem System nichts, gar nichts anzufangen wußten; eine Erklärung des Faktums, daß von diesen nie eine Anregung zum Studium dieses Philosophen ausging, ausgehen konnte: die Kraft Schopenhauers liegt an einem ganz andern Punkte; von diesem daher mußte seine Wirkung ausgehen. Schopenhauer ist ein außerordentlicher, ja beinahe klassischer Schriftsteller. Die Wirkung des Forschers liegt in der Weise, wie er in den Gang der Wissenschaften eingreift. Die Wirkung des Schriftstellers liegt in der Weise, wie er die Richtung des Publikums, den Gang des Zeitgeistes bestimmt. Es sind ganz verschiedene Mittel, durch welche beide wirken. Darum können der große Forscher und der große Schriftsteller in einer Person vereinigt sein; aber diese Verbindung ist nicht notwendig. Alle Macht des Schriftstellers beruht auf der Originalität der Erfahrungen, der Anschauungen und der auf sie gegründeten Weltansicht; dann auf der in seiner Kunstform liegenden zwingenden Gewalt, auf freie Weise, ohne Demonstration diese Weltansicht dem Publikum einzuprägen, ich möchte sagen einzunötigen, da dieselbe keiner Demonstration fähig ist. Schopenhauer hat unzweifelhaft einige Gedanken ausgebildet, redn metaphysischer Natur, welche für die Philosophie fruchtbar sind. Hierher rechne ich vor allem die von ihm erneute und eigentümlich durchgeführte Unterscheidung der verschiedenen Grundformen des Satzes vom Grunde, dann die Hinweisung auf die Intellektualität der Sinneswahrnehmung, welche durch die neuesten Untersuchungen so glänzend bestätigt worden ist — beide Gedanken seiner frühen Jugend angehörig. Diesen beiden Gedanken ist Anerkennung gewiß; seine Aufstellungen über die Sonderung von Willen und Intellekt und die sekundäre Natur des letzteren sind der weiteren Geschichte der Philosophie anheimzugeben, ob sie je in dieser eine Nachwirkung erlangen. Wo heute Schopenhauer gelesen und verehrt wird in einzelnen Kreisen, sind diese Aufstellungen nicht der Grund; hier

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wirken ganz andere Gedanken, ja sonderbarerweise sogar der Glaube, als ob Schopenhauer endlich einmal alle Transzendenz, die ganze alte Weise willkürlichen Philosophierens abgetan hätte; hier wirken die Parerga, der zweite Band der „Welt als Wille und Vorstellung"; höchstens der ästhetische und moralische Teil des ersten. In allem diesem die ihn zu einem außerordentlichen Schriftsteller erhebende Originalität der Weltansicht und Gewalt der Kunstform. Diese seine originale Weltansicht ruht auf einer höchst eigentümlichen Welterfahrung; darauf, daß er die Lage des Menschen in der Welt, seine Natur, die Kräfte der Gesellschaft und der moralischen und intellektuellen Welt in einer Art angesehen hat wie niemand vor ihm. Unsichtbare Fäden verbinden ihn in der modernen Weltliteratur mit Byron, Leopardi, einigen andern einsamen Geistern, welche der optimistischen Betrachtung die Erfahrungen ihres Lebens, eine anhaltende und leidenschaftliche Betrachtung des Weltlaufs gegenüberstellen. Es ist

ein pathologisches Interesse der höchsten Art, was uns an diese Schriflsteller

fesselt,

weit stärker noch, als welches durch ihre philosophische oder poetische Genialität in uns hervorgerufen wurde, von diesem ihrem leidenschaftlichen Zuge abgesehen. Dieses Interesse läßt uns, so völlig subjektiven Naturen gegenüber, immer wieder mit den Gedanken zurückkehren zu ihrer Person, zu dem Gang des Schicksals, dem Umkreis der Erfahrungen, aus welchen diese leidenschaftliche Misanthropie entsprang, die hier nicht die gleichgültige Krankheit eines Individuums, sondern die gestaltende Macht genialer oder doch höchst bedeutender Schöpfungen ist. Hierin liegt die Rechtfertigung des außerordentlichen Interesses an dem Leben und Charakter des einsamen Philosophen von Frankfurt, ähnlich dem, mit welchem jeder Zug in Byrons Lebensgeschichte von seinen Zeitgenossen aufgesucht, leidenschaftlich besprochen, unvergeßlidi eingeprägt ward. Und somit die Rechtfertigung, daß wir hier eine Skizze seines Lebens und Charakters versuchen, eines Mannes, der ein einsamer Denker war und die Philosophie umzugestalten dachte, und dergestalt, daß wir seine systematischen Gedanken und ihre Entwicklung dabei zur Seite liegen lassen. So dürfte niemand über Kant schreiben, wenn er mehr tun wollte, als die bloße Neugier befriedigen. Ein Geschäft, welches nicht jedermanns Sache ist. *

Arthur Schopenhauer ist den 22. Februar 1788 geboren. Von Vaters Seite stammte er aus einem großen Danziger Handelshause. Sein Vater Heinrich Floris war ein ungewöhnlicher Mann. Als Zuschauer bei einer Parade zu Potsdam war er dem großen Friedrich so aufgefallen, daß derselbe ihn auf den andern Morgen in sein Kabinett besdiied und nach mehrstündigem Gespräch ihn auf das Dringendste aufforderte, sich in Preußen niederzulassen. Nicht allein, daß er dies von sich wies: nach seinem starren Republikanismus verließ er 1793, als Danzig preußisch wurde, vierundzwanzig Stunden nachdem er hiervon Gewißheit erhalten hatte, die Stadt und siedelte, mit Verlust eines großen Teiles seines Vermögens, nach Hamburg über. Er war bereits in sein achtunddreißigstes J a h r getreten, eine

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P o r t r a i t s und biographische Skizzen

von Jugend an hervortretende Harthörigkeit, die dann hernach auf seinen Sohn vererbte, trat störend genug hervor: als er sich entschloß, die achtzehnjährige J o h a n n a Trosiener, Tochter eines angesehenen Danziger Ratsherrn, zu heiraten. Es w a r die nachmals als Schriftstellerin so sehr bekannte J o h a n n a Schopenhauer. Eine kleine, ungemein anmutige Gestalt von den zierlichsten Formen — so wird sie uns geschildert; von hellbraunem H a a r und klaren blauen Augen. Über ihr Verhältnis zu ihrem Manne berichtet sie selbst: „Ich durfte stolz darauf sein, diesem Manne anzugehören, und w a r es auch. Glühende Liebe heuchelte ich ihm ebensowenig, als er Anspruch darauf machte." Bevor noch die in O l i v a verlebten Flitterwochen zu Ende gingen, begannen die Gatten ihre erste große Reise. Über Berlin und H a n n o v e r kamen sie nach F r a n k f u r t . „ H i e r " , sagt J o h a n n a , „wehte ein Hauch vaterländischer Luft mir entgegen: Alles erinnerte mich an D a n z i g und an das dortige reichsstädtische Leben." Sie trug damals den Sohn unter dem Herzen, der dereinst seine zweite H e i m a t und sein G r a b in dieser S t a d t finden sollte. Sie reisten durch Frankreich, Belgien nach England. Hier sollte, nach dem Gedanken des Vaters, der dies L a n d so liebte, daß er lange dorthin auszuwandern im Sinne trug, der Sohn das Licht der Welt erblicken, um das Indigenat solchergestalt zu erwerben. D i e plötzlich für J o h a n n a erwachende Sorge trieb sie im Winter nach D a n z i g zurück; dort w a r d Arthur geboren. Wohl hatte der Sohn recht, die auf freie Willensentwicklung und frühe Selbständigkeit gerichtete Erziehung des Vaters zeitlebens dankbar zu rühmen. Mit neun Jahren nahm ihn derselbe mit nach Frankreich und ließ ihn dort bei einem Geschäftsfreund, wo er mit dem gleichaltrigen Sohne desselben zwei glückliche Knabenjahre verlebte. D a n n kehrte er allein, ohne alle Begleitung, nach H a m b u r g zurück, wo nun ein Privatinstitut ihn zu seinem kaufmännischen Beruf weiter vorbereiten sollte. D a m a l s zuerst regte sich in dem K n a b e n eine brennende Liebe zu den Wissenschaften. Der Vater ließ ihm die Wahl, sofort in das Gymnasium einzutreten oder eine mehrjährige Reise mit den Eltern zu unternehmen und dann zur H a n d l u n g überzugehen. G a n z seiner Erwartung gemäß, vermochte der junge Freund der Wissenschaften dieser Aussicht nicht zu widerstehen. So begann die Familie jene Reise durch Belgien, England, Fankreich, die Schweiz und Deutschland, von der später J o h a n n a aus dem Reisejournal jener Zeit vielgelesene Beschreibungen publizierte. Es w a r entscheidend für den Zug des jugendlichen Geistes, daß er in der empfänglichsten Zeit, zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren, der Gelehrsamkeit fern, anstatt mit Worten mit Sachen, anstatt mit Begriffen mit Anschauungen verkehrte: die beinahe künstlerische Anschaulichkeit und die entschiedene Sachlichkeit seines Geistes begründeten sich damals. Den gewaltigsten Eindruck machten die Alpen auf ihn. In Chamouny quälte er seinen Vater, allein zurückbleiben zu dürfen. In England übergab ihn derselbe sechs Monate einer Pension. D a s Reiseleben, die Beziehung zu Frankreich und E n g l a n d prägten sich ihm tief ein; auch später waren englische und französische Literatur ihm beinahe gleich nahe wie die deutsche, und Zeit seines Lebens ist er, einem Reisenden gleich, fremd geblieben, wo er auch lebte. Auch hierin ein Sohn des neunzehnten J a h r hunderts.

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Ein paar Monate, nachdem er zu N e u j a h r 1805 nach H a m b u r g zurückgekehrt und in die Lehre eingetreten war, starb sein Vater plötzlich. Die Art seines Todes — er stürzte aus einer hohen Speicheröffnung in den Kanal — erregte Aufsehen; es ging das Gerücht, daß er freiwillig, wegen eingebildeter Vermögensverluste, sein Leben geendet habe. Schopenhauer gedachte später, seinen Manen die zweite Auflage der „Welt als Wille und Vorstellung" mit folgenden merkwürdigen Worten zu widmen: „Edler, wohltätiger Geist! dem ich alles danke, was ich bin. Deine waltende Vorsorge hat midi geschirmt und getragen, nicht bloß durch die hilflose Kindheit und unbedachtsame Jugend, sondern auch in's Mannesalter und bis auf den heutigen Tag. Denn, indem Du einen Sohn, wie ich bin, in die Welt setztest, sorgtest Du zugleich d a f ü r , daß er auch als ein solcher in einer Welt, wie diese ist, bestehen und sich entwickeln konnte. Ohne diese Deine Fürsorge wäre ich hundertmal zugrunde gegangen. Meinem Geist war die Richtung zu der ihm allein angemessenen Beschäftigung zu entschieden eingepflanzt, als daß ich hätte seiner N a t u r Gewalt antun und ihn dahin bändigen können, daß er, unbekümmert um das Dasein überhaupt und nur für das Dasein meiner Person wirksam, das tägliche Brot herbeizuschaffen sich zur einzigen Aufgabe hätte machen können. Du scheinst auch auf diesen Fall bedacht gewesen zu sein und dabei vorhergesehen zu haben, daß Dein Sohn, Du stolzer Republikaner, nicht das Talent würde haben können, wetteifernd mit mediocre et rampant vor Ministern und Räten, Mäzenen und ihren Ratgebern zu kriechen und ein sauer abverdientes Stück Brot erst niederträchtig zu erbetteln; daß er vielmehr als Dein Sohn auch mit Deinem geehrten Voltaire denken würde: nous n'avons que deux jours a vivre; il ne vaut pas la peine de les ramper devant des coquins meprisables. — Und so laß meine Dankbarkeit das einzige tun, was ich f ü r Dich, der Du vollendet hast, vermag: laß sie Deinen Namen so weit bringen, als meiner ihn zu tragen imstande ist." Mit vielfachen Aussprüchen höchster Verehrung gegen den Vater kontrastiert aufs schärfste das Verhältnis zu seiner Mutter. Diese Zusammenfassung der merkwürdigen Züge aus Schopenhauers Leben und Charakter soll ganz sine ira et studio geschehen; eine so bedeutende N a t u r hat nicht darum f ü r den Fortschritt der Menschheit auf die gewöhnlichen Genüsse des Lebens und sein einfaches Glück, in dem aller menschliche Friede beschlossen ist, mit großer Resignation verzichtet, um hernach in genauer Photographie ihrer Stärken und Schwächen dem Publikum zur Belehrung und Ergötzung ausgestellt zu werden; alle diese Züge können nur unter dem einen Gesichtspunkt vors Publikum gebracht werden, ihre Stellung zur Welt, aus der die Erfahrungen ihres Lebens entsprangen, zur Anschauung zu bringen. Daher der förmliche Prozeß, den seine Freunde über seinen Charakter instruiert haben, uns weder ihrer würdig, noch der Stellung des Publikums zu einem Manne dieser Art entsprechend zu sein scheint. Daher wir auch hier, wo die Empfindung unverdrängbar und völlig einfach gegenüber den Tatsachen redet, nur darstellen, nicht urteilen. Ein Jahr nach Floris Schopenhauers Tode finden wir Johanna, die nachmals so bekannte Romanschriftstellerin, mit der kleinen Tochter Adele in Weimar. Von der

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Portraits und biographische Skizzen

Wirkung dieser Stadt, nach welcher sie ihre poetischen Neigungen zogen, sagt Adele: „Diese Zeit schuf in ihr einen zweiten Geistesfrühling, denn der Himmel gewährte ihr in derselben, was er sonst nur der Frische der Jugend zu geben pflegt. Mit dem wärmsten sorglosesten Gefühle blickte sie in eine ihr bis dahin unbekannt gebliebene und dodi längst geahndete neue Welt; überrascht von der plötzlich sich entfaltenden Kraft ihrer Fähigkeiten, von ihrem bis dahin schlummernden Talent mit einem Male gehoben, genoß sie mit täglich neuer Freude den Umgang der ausgezeichneten Männer. Sie war wohlhabend genug geblieben, um bequem leben u n d den reichen Kreis dieser Freunde fast täglich um sich herziehen zu können. Ihr anspruchsloser und doch anregender Umgang machte ihr H a u s zum Mittelpunkt des geistig-geselligen Treibens." Ihr Salon versammelte wöchentlich zweimal Männer wie Goethe, Wieland, Heinrich Meyer, Falk, Fernow, Zacharias Werner, Fürst Pückler, die beiden Schlegel und andere. Inzwischen hatte der Sohn in H a m burg, vom plötzlichen Tod des geliebten Vaters tief erschüttert, aus Pietät den von diesem vorgeschriebenen, ihm verhaßten Lebensplan weiter verfolgend, aber mit sich selber ganz zerfallen, schwere Kämpfe zu bestehen gehabt. Aus diesen riß ihn die Mutter, welcher ihr Freund Fernow, als sie ihm einen Brief des Sohnes zeigte, erklärte, daß es noch nicht zu spät sei, umzukehren, den verhaßten Beruf mit den Wissenschaften zu vertauschen. Als Schopenhauer diese Erklärung durch die Mutter erhielt, brach ein Strom von Tränen aus seinen Augen; er war sofort entschieden. Nach halbjährigem Besuch des Gymnasiums in Gotha ging er zu Mutter und Schwester nach Weimar über, wo er sich unter Passows Leitung zur Universität vorbereitete. Aber so entschieden hatte sich schon der innere Gegensatz zwischen Mutter und Sohn herausgestellt, daß diese ihm den Wunsch aussprach, ihre Wohnung nicht mit ihm zu teilen. „Es ist zu meinem Glüdce notwendig" — so lautet der Brief — „zu wissen, daß Du glücklich bist, aber nicht ein Zeuge davon zu sein. Ich habe Dir immer gesagt, es wäre sehr sdiwer, mit Dir zu leben, und je näher ich Dich betrachte, desto mehr scheint diese Schwierigkeit, f ü r midi wenigstens, zuzunehmen. Ich verhehle es Dir nicht, so lange Du bist wie D u bist, werde ich jedes O p f e r eher bringen, als mich dazu entschließen. Ich verkenne Dein Gutes nicht; auch liegt das, was midi von Dir zurückscheucht, nicht in Deinem Gemüt, nicht in Deinem innern, aber in Deinem äußeren Wesen, Deinen Ansichten, Deinen Urteilen, Deinen Gewohnheiten, kurz ich kann mit Dir in nichts, was die Außenwelt angeht, übereinstimmen; auch Dein Mißmut, Deine Klagen über unvermeidliche Dinge, Deine finstern Gesichter, Deine bizarren Urteile, die wie Orakelsprüche von Dir ausgesprochen werden, ohne daß man etwas dagegen einwenden dürfte, drücken midi und verstimmen meinen heitern H u m o r , ohne daß es Dir etwas hilft. Dein leidiges Disputieren, Deine Lamentationen über die dumme Welt und das menschliche Elend machen mir schlechte Nacht und üble Träume." So sehr waren in dem damals Zwanzigjährigen alle Ursachen schon entwickelt, die gleichmäßigen Verkehr mit Mensdien ihm unmöglidi machten, und mit diesen Ursachen zugleich das Bedürfnis der Einsamkeit und der diesem allein entsprechende Pessimismus. Die paar Worte seiner Mutter vernichten alle jene Vor-

Arthur Schopenhauer

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Stellungen von der Einsamkeit des Genies, die er ausschließlich aus seiner Erfahrung abzog und die dann seine Schüler wieder wie einen richtig gefundenen allgemeinen Satz auf ihn anwandten. Die Ursachen seiner Einsamkeit lagen in seinem unseligen Naturell; und dieser Zustand des Zwanzigjährigen, mit allen Erfahrungen bedeutender Menschen verglichen, spricht eher gegen eine gesunde und freie Genialität als f ü r sie, wenn man erst überhaupt so sonderbar verschiedene Dinge mischen will. Nachdem er so, durch ein ganz außerordentliches Sprachtalent unterstützt, die Gymnasialstudien durchflogen, bezog er, einundzwanzig Jahre alt, obwohl er doch so spät die Studien begonnen hatte, mit den Alten und zugleich mit der Literatur von drei modernen Kulturvölkern innig vertraut, die damals in den allgemeinen Wissenschaften, die Philosophie ausgenommen, außerordentlich glänzende Universität Göttingen und ließ sich in der medizinischen Fakultät einschreiben. Durch seine Universitätsjahre hindurch geht ein gründliches Studium der Naturwissenschaften. O h n e Zweifel war er mit diesen unter den positiven Disziplinen am besten vertraut. Er rühmte daher auch gerne gelegentlich: „Ich habe meine Anatomie unter Hempel und Langenbeck eifrig durchgemacht, sodann über die Anatomie •des Gehirnes allein ein eigenes Kollegium bei Rosenthal im anatomischen Theater