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German Pages [492] Year 1985
WILHELM DILTHEY · GESAMMELTE SCHRIFTEN XVI. BAND
V&R
WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN Von Band XV an besorgt von Karlfried Gründer
XVI. BAND
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
ZUR GEISTESGESCHICHTE DES 19. J A H R H U N D E R T S
AUFSÄTZE U N D
REZENSIONEN
AUS Z E I T U N G E N U N D
ZEITSCHRIFTEN
1859-1874
Herausgegeben von Ulrich Herrmann
2., unveränderte Auflage
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
CIP-Kurztitelaufnahme Dil they,
der Deutschen
Bibliothek
Wilhelm:
G e s a m m e l t e S c h r i f t e n / Wilhelm Dilthey. V o n Bd. 15 an b e s o r g t von K a r l f r i e d G r ü n d e r . - G ö t t i n g e n : Vandenhoeck und Ruprecht Teilw. a u ß e r d e m im Verl. T e u b n e r , Stuttgart N E : G r u n d e r , K a r l f r i e d [ H r s g . ] ; Dilthey, Wilhelm: [ S a m m l u n g ] Bd. 16. Z u r Geistesgeschichte des 19. J a h r h u n d e r t s : A u f s ä t z e u. R e z e n s i o n e n aus Z e i t u n g e n u. Z e i t s c h r i f t e n 1859-1874 / hrsg. von Ulrich H e r r m a n n . - 2., u n v e r ä n d . Aufl. - 1985. ISBN 3-525-30318-1
2. A u f l a g e 1985 © V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t in G ö t t i n g e n
1972. - P r i n t e d in G e r m a n y .
-
O h n e a u s d r ü c k l i c h e G e n e h m i g u n g d e s V e r l a g e s ist es n i c h t g e s t a t t e t , d a s B u c h o d e r T e i l e d a r a u s auf f o t o - o d e r a k u s t o m e c h a n i s c h e m W e g e z u vervielfältigen. - Gesamtherstellung: H u b e r t & Co., G ö t t i n g e n
I N H A L T
Vorbericht des Herausgebers
IX
AUFSÄTZE UND REZENSIONEN AUS Z E I T U N G E N UND Z E I T S C H R I F T E N I . GESCHICHTE —
GESELLSCHAFT —
1859—1874
P O L I T I K . Z U R PUBLIZISTIK UND H I S T O -
RIOGRAPHIE
A. Von Dilthey gezeichnete
1
oder anders nachgewiesene
Abhandlungen
Zur Charakteristik Macaulays
. . .
1 1
Zur Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Giesebrecht und Sybel)
29
Goethe als Staatsmann (Schöll)
46
Englische Geschichte (Buckle)
51
Geschichte Spaniens (Baumgarten)
57
Die „Preußischen Jahrbücher"
66
Volkszählungen (Engel)
69
Vorlesungen zum Besten des Germanischen Museums (Brugsch)
73
Friedrich II., Kurfürst von Brandenburg
76
Zur Geschichte des Parlamentarismus (Stahl)
80
Aus der englischen Gesellschaft von 1840 (Guizot)
83
B. Dilthey
91
zuzuschreibende
Abhandlungen
Zur Biographie des Freiherrn vom Stein (Baur)
91
Die Memoiren Guizots
96
Geschichte und Wissenschaft (Buckle)
100
Der preußische Staat (Eiselen)
107
Ein System der Politik (Georg Waitz)
109
Deutsche Geschichte um 1800 (Perthes)
113
Die Memoiren Kaiser Karls V
127
Preußische Landtagsmänner (Schmidt-Weißenfels)
132
Der Mensch und die Zahlen (Kolb)
134
Eine Politik der Zukunft (Frantz)
138
„Deutsche Geschichte" von Ludwig Häusser (1863)
141
Ein preußischer Staatsmann (von Hippel)
156
„Deutsche Geschichte" von Ludwig Häusser (1865)
159
VI
Inhalt
I I . Z U R L I T E R A T U R UND K U N S T
169
.
169
Osterfest und Osterspiele Kingsley's „Hypatia" als historischer Roman Goethes „Iphigenie" in ihrem Verhältnis zur Bildungsgeschichte des Dichters (Hettner) Goethe und die Erzählkunst (Auerbach) Goethe in Italien (Herman Grimm) Goethe und Schiller (Hotho) Goetheausstellung Die gelehrten Zeitschriften im 18. Jahrhundert Notiz über die Schleiermacher-Briefe Die Poesie des Weltschmerzes mit besonderer Rücksicht auf Lenau . . . . „Lohengrin" (Gosche) Johann Joachim Winckelmann (Friedrichs) Julian Schmidts „Literaturgeschichte" Der „Quickborn" von Klaus Groth Die Raffael-Biographie von Herman Grimm
169 191 201 203 210 216 223 229 235 238 245 250 257 260 268
B. Dilthey zuzuschreibende Abhandlungen
279
Zur Biographie von Reinhold Lenz Die moderne Novelle (Tieck, Heyse, Herman Grimm) Friedrich Schlegels Katholizismus Drei Besuche bei Goethe (Sulpiz Boisse^e) Ludwig Uhland Zur Theorie der Musik (Helmholtz)
279 283 293 300 311 320
I I I . Z U R P H I L O S O P H I E UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE
328
A. Von Diltbey gezeichnete oder anders nachgewiesene Abhandlungen .
A. Von Dilthey gezeichnete oder anders nachgewiesene Abhandlungen .
.
.
.
328
Christliche Dogmatik und Ethik (Schenkel)
328
Goethe als Naturforscher, besonders als Anatom (Virchow) Zur Philosophie Kants Albertus Magnus Johannes Kepler und die Harmonie der Sphären Zur Philosophie Arthur Schopenhauers Schleiermachers „Psychologie" Die „Anthropologie" von Theodor Waitz Adolf Trendelenburgs „Kleine Schriften"
334 340 344 348 356 370 373 380
Inhalt Β. Dilthey zuzuschreibende
VII
Abhandlungen
382
Zur Philosophie des Rechts (Trendelenburg)
382
Schopenhauers Lehre und Leben
394
Fichte als Ethiker und Politiker
397
Aus Schellings philosophischem Nachlaß
407
Biographisches über Friedrich Carl von Savigny
409
Joachim Jungius Aus dem Studierzimmer eines materialistischen Philosophen (Büchner) .
413 .
.
419
Die Spradie (Max Müller)
423
Aus Carl Ritters Nachlaß
426
Rousseaus Entwicklungsgeschichte
429
Friedrich August Wolf
435
Materialismus der Naturwissenschaft (Schleiden)
438
Die Grundzüge der Weltordnung (Wiener)
446
Die „Kirchengeschichte" Ferdinand Christian Baurs
449
Die „Gesammelten Werke" John Stuart Mills
456
Anmerkungen
458
Personenregister
464
VORBERICHT DES H E R A U S G E B E R S Der vorliegende Band enthält Diltheys Aufsätze und Rezensionen, die in den Jahren von 1859 bis 1874 in Zeitschriften und vor allem in Berliner Tageszeitungen erschienen sind. Die Beiträge in Westermanns Monatsheften erscheinen in einem eigenen Band. In der Einleitung zu Band X V der Gesammelten Schriften ist berichtet worden, wie die einzelnen Zeitungen und die darin von Dilthey veröffentlichten Artikel ermittelt worden s i n d D e r genaue Nachweis erfolgte in der Bibliographie Wilhelm Dilthey*; für die hier abgedruckten Aufsätze ist er nodi einmal in den Anmerkungen wiedergegeben. Die Allgemeine Preußische Zeitung wurde erst nach der Drucklegung dieser Bibliographie ermittelt, so daß die hier mitgeteilten Aufsätze zugleich eine Ergänzung der früher erschienenen Bibliographie darstellen. Die Aufsätze dieses Bandes stammen fast ausschließlich aus der Preußischen Zeitung und deren Fortsetzung, der Allgemeinen Preußischen Zeitung, sowie der Berliner Allgemeinen Zeitung. Die Preußische Zeitung und die Allgemeine Preussische Zeitung werden in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel aufbewahrt, die Berliner Allgemeine Zeitung befindet sich in der Universitätsbibliothek Greifswald. Der Nachweis der Arbeiten in diesen Zeitungen war in den Fällen, wo sie im Druckschriftenverzeichnis des Dilthey-Nachlasses im Akademie-Archiv der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin aufgeführt oder im Druck mit der bekannten Sigle -v. gekennzeichnet sind, unproblematisch. Schwieriger war die Zuordnung der anonymen Artikel in der Berliner Allgemeinen Zeitung. Aus den Briefen der Jahre 1861 und 1862 wissen wir, daß in diese Zeit der Schwerpunkt der Diltheyschen politischen Publizistik und seines politischen Engagements fiel. An den Vater schrieb er im Juli 1862 3 , er arbeite ständig für Zeitungen, darunter auch für die „Berliner Allgemeine". Einzelne Artikel erwähnt Dilthey jedoch nur selten. Bernhard und Luise Scholz gegenüber erwähnt er beiläufig, er habe etwas über die Politik Ottos I. geschrieben und plane eine „comparative Politik" — gibt jedoch keinen Hinweis auf seinen umfangreichen Artikel über Giesebrechts „Kaisergeschichte". Ebenso erwähnt er den Vortrag von Herman Grimm über „Goethe in Italien", verweist jedoch nicht auf seinen Zeitungsbericht über diesen Vortrag. Ein großer Teil der Anzeigen und Aufsätze im Feuilleton dieser Zeitung muß also von Dilthey stammen. Eine Durchsicht ergab, daß von der Thematik her vor allem Güttingen 1970, S. X V I ff. Ulrich Herrmann, Bibliographie Wilhelm Dilthey. Weinheim/Berlin/Basel 1969. 3 Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852 bis 1870. Zusammengestellt von Clara Misch, geb. Dilthey. 2. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1960, Brief N r . 73, S. 176. 1
2
χ
Vorberidit des Herausgebers
die Arbeiten Dilthey zuzuschreiben sind, die im vorliegenden Band mitgeteilt werden. Die Berliner Allgemeine Zeitung wurde von Julian Schmidt redigiert, der als Liberaler schon in den 1850er Jahren zusammen mit Gustav Freytag den Grenzboten redigiert hatte 4 . Die gemeinsame politische Überzeugung führte Dilthey und Schmidt zusammen. Dazu kam das gemeinsame Interesse an der geschichtlichen Erfassung geistesgeschichtlicher und literarischer Zusammenhänge, wie es Dilthey in seinem Nachruf auf Julian Schmidt im Jahre 1887 noch einmal rückblickend skizzierte 5 . Daher hat sich Dilthey audi immer wieder mit Schmidts „Literaturgeschichte" beschäftigt, wofür die hier mitgeteilte Rezension aus den Preußischen Jahrbüchern ein besonderes Zeugnis darstellt. Aber auch über die Kontakte im Zusammenhang mit der Berliner Allgemeinen Zeitung hinaus — nach zwei Jahren stellte sie ihr Erscheinen ohnehin ein® — waren gemeinsame Bestrebungen im Kreise der Berliner Freunde für Dilthey unmittelbar bestimmend. Dilthey fand in Berlin einen Kreis Gleichgesinnter, für die die Frage nach den wissenschaftstheoretischen Problemen des Historismus und der historischen Forschung, der Verbindung von Geschichte und Politik, der Grundlegung der Geisteswissenschaften im Sinne der anthropologischen bzw. soziologischen „Menschheits-" und Gesellschaftswissenschaften7 das Forschen und Denken bestimmte. Erich Rothacker hat auf den — von Julian Schmidt so bezeichneten — „Selbstmörderclub" in Berlin hingewiesen: einen Gesprächskreis junger Gelehrter, in dem die aktuellen politischen und wissenschaftlichen Fragen erörtert wurden. Dilthey selbst schreibt dazu in seinem Nachruf auf Wilhelm Scherer6·. „ . . . die Jüngeren, die sich zu Berlin in den sechziger Jahren zusammenfanden und sich da ganz anders, als es heute in der Reichshauptstadt möglich wäre, aneinanderschlossen, hatten nun auch ihr eigenes Leben. Ein so spröder und stolzer Zug durch das gelehrte Wirken von Trendelenburg, Möllenhoff, Droysen hindurchging: sie haben doch ihre Schüler niemals einengen wollen. Unter diesen herrschte der Geist einer veränderten Zeit. Die Erfahrungsphilosophie, wie sie Franzosen und Engländer ausgebildet haben, wurde ihnen durch Mill, Comte und Buckle nahegebracht, und von ihr aus formten sich ihre Überzeugungen. Die aufstrebenden Naturwissenschaften forderten 4 Vgl. dazu vor allem die Lebenserinnerungen von Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 1928, S. 1 7 5 — 2 0 5 das Kapitel „Bei den Grenzboten". 5 Julian Schmidts Literaturgeschichte, in: Deutsche Rundschau 52 (1887), S. 151—155, gekürzt wiederabgedruckt in: Ges. Sehr. X I , S . 2 3 2 — 2 3 6 . β Vgl. Dilthey an Haym (in dem von Erich Weniger mitgeteilten Briefwechsel, in: Abhh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Jg. 1936, phil.-histor. Kl., N r . 9, Brief N r . 5, Februar 1862, S. 13): „Zu einem wahren Unglück für die Partei wächst allmählich die Berliner Zeitung h e r a n . . . Schmidt ist nun einmal in einem kaum glaublichen Grade ohne jedes Organisationstalent." — Ähnlich Wilhelm Wehrenpfennig an Hermann Baumgarten am 1 3 . 6 . 1 8 6 6 (bei: Julius Heyderhoff, Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung. l . B d . : Die Sturmjahre der preußischen Einigung. Bonn/Leipzig 1925, S . 3 0 8 ) : „Ja, wenn Julian nicht die Berliner Allgemeine ruiniert hätte!" 7 2. Aufl., Tübingen 1930, S. 137 ff., 204, 220. 8 Zuerst in: Deutsche Rundschau 49 (1886), S. 132—146, jetzt in: Ges. Sehr. X I , S . 2 3 6 — 2 5 3 , Zitat S.243.
Vorbericht des Herausgebers
XI
eine Auseinandersetzung mit denselben, wollte man zu festen Ansichten gelangen. Zugleich entsprangen den Freunden in diesem schönen Zusammenleben aus ihren so verschiedenen Studien lebendige gegenseitige Anregungen. Dürre Strecken in dem Empirismus unserer Nachbarn wurden da belebt. Der auf die Einheit unseres Volkes gerichtete politische Affekt gab audi der Betrachtung unserer Literatur seine Farbe und seine praktische Energie. Das Studium der wissenschaftlichen Versuche der Romantiker, besonders von Friedrich Schlegel und Novalis, regte freiere und der deutschen Wissenschaft gemäßere Betrachtungen über den Zusammenhang der Geschichte an, als Mill, Buckle und Comte gegeben hatten. Eine an Carlyle, Emerson, Ranke erzogene Vertiefung in große Persönlichkeiten lehrte ihre Rolle in der Geschichte anders beurteilen, als. jene englischen und französischen Schriftsteller es getan haben. Der von Sthleiermacher am schönsten entwickelte Begriff des Lebensideals ließ gründlicher in den Zusammenhang der Geschichte der Dichtung mit der Entfaltung des sittlichen Nationallebens blicken. Und das vergleichende Verfahren, das sich für die Erkenntnis von Sprachen und Mythen so fruchtbar erwiesen hatte, versprach auch auf andere Gebiete, zunächst das der Dichtung, Licht zu werfen." Diskussionspartner waren 9 : Herman Grimm, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Scherer, Bernhard Erdmannsdörffer, Adolf Tobler, der Jurist Boretius, Julian Schmidt, gelegentlich auch Theodor Mommsen und Heinrid) von Treitschke. Diltheys „Erinnerungen an deutsche Geschichtschreiber"10 zeigen, wie die prägenden Einflüsse dieses Kreises ihm sein Leben lang gegenwärtig waren: Schlosser, der „ganz im 18. Jahrhundert und seiner politisch historischen Literatur" wurzelt 11 , seine Durchführung der Universalgeschichte; Gervinus, dessen Literaturgeschichte „getragen ist vom Verhältnis der Poesie zum nationalen Leben" 1 2 ; Ranke als Repräsentant des historischen Denkens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 13 , den Dilthey als Student in Berlin noch selbst als akademischen Lehrer erlebt hatte; die Generation von 1830 14 , die Entstehung der politischen Historie (Sybel und Treitschke) und die Begründung der Historik auf die Staats Wissenschaften15; Haym im Kreise der nationalliberalen Historiker wie Duncker und Ηäußer18 und die Kontinuität „von Schleiermadier, Niebuhr, Böckh, den beiden Humboldt" zu „Dahlmann, Duncker, Droysen, Η äußer, Treitschke"17; schließlich seine Bemerkungen über Droysen, Giesebrecht und Mommsen18, wobei Droysen „zu dem Kreise derjenigen nationalen Politiker [gehört], welche, in der Richtung von Dahlmann, Vincke, Schwerin voranschreitend, eine Mittelstellung zwischen den politischen Parteien einnehmen. Diese Männer setzen heute noch in der Literatur jene altliberale Partei fort, welche als solche . . . aus unserem parlamentarischen Leben geschwunden ist." 19 9
Rotbacker, a.a.O., S. 137. Aus dem Nadilaß mitgeteilt von Erich Weniger, in: Ges. Sehr. XI, S. 215—231 (Fragmente). 11 12 Ebd. S. 215. Ebd. S. 216. 13 Ebd. S. 216 ff., vgl. Ges. Sdir. V, S.9. 14 15 Ebd. S. 219 f. Ebd. S. 220—224. 18 Ebd. S. 224—226. " Ebd. S. 226. 18 19 Ebd. S. 226—231. Ebd. S. 227. 10
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Vorbericht des Herausgebers
Aus diesem Kreise gingen für die Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wichtige Entwürfe der neuen Geisteswissenschaften hervor: von Hermann Usener20, von Wilhelm Scherer21, Droysens „Historik", und schließlich derjenige Diltheys, dessen früheste Ausarbeitung eben in die sechziger Jahre in Berlin zurückreicht. Georg Misch hat ein Fragment „Über die philosophische Behandlung der Geschichte" mitgeteilt 22 , das aus den Jahren um 1865 stammt und als weitere Titel die Überschriften „Über das Studium des Menschen und der Geschichte" und „Über die Methoden der Wissenschaften des Geistes" trägt. Es enthält im Kern die systematischen Gedanken der späteren Abhandlung „Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat" (1875) und der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883). Der Entwurf ist den „mitforschenden Freunden Β. Ε. — H . Sch. — H . Us." gewidmet, also Bernhard Erdmannsdörffer, Wilhelm Scherer (H. ist wohl ein Versehen) und Hermann Usener. Sie hätten ihn „dazu gedrängt, seine systematischen Anschauungen mitzuteilen" in der Absicht, „auf der Basis der positiven Wissenschaften des Geistes und der Natur" eine neue Wissenschaftslehre und Philosophie zu begründen 23 . Dilthey widmete Usener auch seine 1906 erschienene Aufsatzsammlung „Das Erlebnis und die Dichtung" „als ein Andenken an unsere geistige Gemeinschaft seit den schönen Jahren her, in denen die beiden ersten Aufsätze entstanden". Gemeint sind die Aufsätze über Lessing und über „Goethe und die dichterische Phantasie", Themenkreise also, die Dilthey in seinem Severer-Nachruf eigens hervorgehoben hatte. Aber auch die andere Seite der Diskussionen und Forschungen — Philosophie und Geschichte — kam nicht zu kurz. In diesem Berliner Freundeskreis wurde die Rezeption des Positivismus in den Geisteswissenschaften geleistet, besonders durch die einschlägigen Abhandlungen in den Preußischen Jahrbüchern24 und dann Diltheys Aufsätze in Westermanns Monatsheften. Vielleicht ist hier audi die große ^//-Übersetzung von Theodor Gomperz angeregt worden. Gomperz war in seiner Leipziger Studienzeit mit Julian Schmidt und später in Wien mit Wilhelm Scherer eng befreundet gewesen Diese hier angedeuteten Zusammenhänge müssen in einer eigenen Studie über die Entstehung der modernen Konzeptionen der Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausführlicher analysiert werden. Hier dienen sie nur als Hinweis auf die Hintergründe, auf denen Diltheys publizistische Tätigkeit in der Wendung zur Philosophie, Geschichts-, Gesellschafts- und Politikwissenschaft, aber auch zur Literatur, zu verstehen ist. „Es ist unglaublich und für die Forschung erschreckend, wie jetzt alle Probleme der Philosophie, Geschichte und Politik in20
Ebd. S. 134—140. Ebd. S. 207—252, besonders S. 220 ff. der Abdruck seiner „Widmung an Müllenhoff". 22 In: Sammlung V I I (1952), S. 378—395 in dem Aufsatz „Dilthey versus Nietzsche". 23 Ebd. S. 392, Anm. 39. 24 Vgl. den Briefwechsel „über positive Philosophie und Fortsdirittspolitik" 1859 bis 1863 zwischen Rudolf Haym und Karl Τ Westert, hrsg. v o n Julius Heyderhoff, in: Preußische Jahrbücher 161 (1915), S. 232—256. 25 Rothacker, a.a.O., S.203. 21
Vorberidit des Herausgebers
XIII
einander verkettet sind."2® Diese Verkettung galt es aufzulösen und analysierend zu durdidringen, wenn der Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung und eines rationalen politischen Handelns nicht verlorengehen sollte: durch Reform und nicht durch Revolution „einsichtig das vorhandene [gesellschaftliche] System mit den Bedürfnissen [des einzelnen Bürgers] aus [zu] gleichen und so fort[zu]bilden" 2 7 . In dieser Hinsicht zählt Dilthey zu den Liberalen, die die Wendung der deutschen Politik unter Bismarck bejahten und denen ein konservativer Grundzug bei aller persönlichen Liberalität und kritischen Reflexion gesellschaftlicher Veränderungen nicht abzusprechen ist. Wolfgang Harich hat in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Rudolf Hayms „Herder" die Geisteshaltung, die Dilthey und seinen Freundeskreis unter den Liberalen kennzeichnete, einer scharfen Kritik unterzogen 28 . Harich zeigt, wie Haym und die Preußischen Jahrbücher aus seiner Sicht paradigmatisch für die bürgerliche Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind; wie sich der Übergang — oft unmerklich — von den liberalen Forderungen der 1848er Jahre zum Nationalliberalismus und von dort zum Imperialismus der Jahrhundertwende vollzog, der den liberalen Fortschrittsgedanken zum Verschwinden brachte. So berechtigt diese Kritik ist — und sie gilt in hohem Maße auch für Dilthey — , so muß doch auch beachtet werden, daß das Denken Hayms und Diltheys darin nicht aufgeht: „Wenn es, bei aller gebotenen Kritik, heute möglich ist, diese Leistungen [in der Literaturwissenschaft und der philosophischen Historiographie] als Bildungswerte auch der neuen [sozialistischen] Gesellschaft zu betrachten, an sie als Ausgangsmaterial kritischer Fortarbeit anzuknüpfen, so vor allem deswegen, weil Haym [wie Dilthey auch] als liberaler Ideologe der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis zu einem gewissen Grade noch bestrebt war, das Fortschrittliche, Humanistische der deutschen Aufklärung und Klassik herauszuarbeiten, und zu reaktionären Überlieferungen dementsprechend in erklärtem Gegensatz stand." 2 9 Dem Zusammenhang von liberaler politischer Konzeption und Positivismus-Rezeption entsprach der Zusammenhang von Aufklärung und Tradition: es geht um die Kontinuität der Geschichte, jede revolutionäre Veränderung gefährdet die kontrollierte Modifizierung rational-politischer Handlungsmuster. Das aus liberalen und progressiven Ansätzen erwachsene Bewußtsein der Geschichtlichkeit und der Notwendigkeit einer „Kritik der historischen Vernunft" steht so ständig in der Gefahr, in Dezisionismus oder nationalen Konservatismus — auf der Grundlage der Positivität und Normativität des Historisch-Faktischen — umzuschlagen oder jedenfalls von diesen in Anspruch genommen werden zu können 3 0 . « Der junge Dilthey, a.a.O., Tagebücher, 1 6 . 4 . 1 8 6 1 , S. 146. Pädagogik, Ges. Sehr. I X , S. 179 (undatiert). 28 Rudolf Haym, Herder. Mit einer Einleitung von Wolf gang Harich. l . B a n d , Berlin 1954, S . V — C V I I , bes. S . X X X V I f f . : Zur politischen Ideologie Hayms. 2 9 Ebd. S. X L . 3 0 Vgl. dazu die Bemerkungen von Frithjof Rodi (Die Lebensphilosophie und die Folgen, in: Zs. f. philos. Forschung 21 [ 1 9 6 7 ] , S . 6 0 0 f f . ) zu Hans-Joachim Lieber (Geschichte und Gesellschaft im Denken Diltheys, in: Kölner Zs. f. Soziologie und Sozialpsydiologie 17 [ 1 9 6 5 ] , S . 7 0 3 f f . ; Die deutsche Lebensphilosophie und die Folgen, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966. Veröffentlichung der F U Berlin. Berlin 2
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XIV
Vorbericht des Herausgebers
Vergleicht man Diltheys spätere Publikationen auf seinen angedeuteten Forschungsgebieten und denen seiner Freunde, so ist der enge Zusammenhang der frühen skizzenhaften Arbeiten und der späteren großen Analysen evident. Hervorzuheben ist vor allem die Anknüpfung an die „Erfahrungsphilosophie" und die immer wieder übersehene Tatsache, daß sich von Mill, Comte und Buckle her die „Überzeugungen" formten, jedoch nicht in unkritischer Übernahme, sondern in der „Belebung" der „dürren Strecken" des Empirismus31. Dafür wurden einerseits die naturwissenschaftliche Methodologie und ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen genauer analysiert und andererseits das vergleichende und das historischsystematische Verfahren der Geisteswissenschaften präzisiert. In der Vorrede zur geplanten Ausgabe philosophischer Aufsätze aus dem Jahre 1911 — die Sammlung erschien dann als Band V und VI der Gesammelten Schriften Diltheys — faßte Dilthey noch einmal den beherrschenden philosophischen Impuls seiner Anfänge zusammen: „Als ich in die Philosophie eintrat, war der idealistische Monismus Hegels abgelöst von der Herrschaft der Naturwissenschaft. Wenn der naturwissenschaftliche Geist Philosophie wurde, wie in den Enzyklopädisten, in Comte und in Deutschland in philosophierenden Naturforschern, so versuchte er den Geist als ein Produkt der Natur zu begreifen — und er verstümmelte ihn. Die großen Naturforscher (suchten) das Problem tiefer zu fassen. Und das führte auf Kant zurück. Wie Kant vom naturwissenschaftlichen Geist bestimmt gewesen war, erschien in Helmholtz die Verbindung des naturwissenschaftlichen Geistes mit ihm wie verkörpert." „Daß man sich nichts wollte vormachen lassen, das war die ungeheure Kraft, die in diesem Positivismus lag. Daß er die geistige Welt verstümmelte, um sie in den Rahmen dieser äußeren Welt (einzufügen): das war seine Schranke." „Der Aufsatz über das Studium des Menschen und der Geschichte [1875] zeigt, wie ich mich in diesem philosophischen Streben dem Positivismus verwandt fühlte." 31 Zugleich wurde Dilthey durch das Studium der Historischen Schule auf das Problem der „Verstümmelung der geistigen Welt" durch den Positivismus verwiesen, auf das Problem einer neuen „Kritik der Vernunft", worin die hier mitgeteilten Arbeiten ihren inneren Zusammenhang gewinnen. Die verschiedenen Aspekte zur Lösung dieses Problems kündigen sich früh an. Das umfassendste Thema ist die Erkenntniskritik dieser „neuen Kritik der Vernunft": Sie „muß ausgehen: 1. Von den psychologischen Gesetzen und Antrieben, welchen Kunst, Religion und Wissenschaft gleichmäßig entspringen. 2. Sie muß die Systeme wie Naturprodukte analysieren, als Kristallisationen, deren Urform Schemata; welche aus jenen Grundzügen in 1. folgen. 3. Sie gelangt von da aus nicht 1966, S. 192 ff.). — Den wissenssoziologischen Aspekt hat zuletzt Manfred Riedel hervorgehoben (Einleitung zu seiner Ausgabe des „Aufbaus der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften", Frankfurt 1970, S. 17): „Nicht zufällig gewinnt der Begriff der .Geschichtlichkeit' erst in jener Epoche nach 1848 feste Konturen, als das Bürgertum unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution den von der klassischen deutschen Philosophie erhobenen Anspruch der Vernunft und damit seine eigenen Ansprüche auf eine vernünftige Leitung der Gesellschaft preisgab und politisch resignierte." Auf diese Krise sucht Diltheys Konzept der Geisteswissenschaften als den „moralisch-politischen" Wissenschaften zu antworten. 3 1 Ges. Sehr. V, S. 3 f.
Vorberidit des Herausgebers
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zur Skepsis, sondern hat in jenen notwendigen und allgemeinen Wirkungsweisen des menschlichen Geistes die Basis, wie alle Sinnenwahrnehmung wissenschaftlich zu behandeln i s t " 3 2 . Diese Problematik wurde im Zweiten Buch der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 (Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften — Ihre Herrschaft und ihr Verfall) 3 3 , in den psychologischen Abhandlungen (jetzt Gesammelte Schriften Band V) und schließlich in den Versuchen einer Typologie der philosophischen und Weltanschauungssysteme, wie sie schon sein Lehrer Trendelenburg versucht hatte, entwickelt. Die Thematik wird weitergeführt zu einer neuen „Kritik der historischen Vernunft": „Wer mit solchem Ausblick" — wie oben in der „neuen Kritik der Vernunft" angedeutet — „nach den Formen des menschlichen Daseins, den Gesetzen, die es beherrschen, den Richtungen, die seiner Natur entspringen, Geschichte studiert, in dem ist ein ebenso großer Teil der uns vergönnten Wahrheit auf originale Weise lebendig, als in dem Philosophen" 3 4 , denn „der Mensch vollendet sich allein in der Anschauung aller Formen des menschlichen Daseins" 3 5 . — Diese Kritik der historischen Vernunft hat zweierlei zu leisten: die Analyse geschichtlich-gesellschaftlicher Bedingungen des Handelns und die Verknüpfung dieser Analyse mit der „praktischen Behandlung" der gegenwärtigen Gesellschaft im Sinne der von Dilthey konzipierten „moralisch-politischen Wissenschaften", seiner Ethik und der von ihm intendierten „Politik". Nichts anderes meint im Ersten Buch der „Einleitung" von 1883 die Analyse der Systeme der Kultur und der Systeme der äußeren Organisation der Gesellschaft als den Systemen gesellschaftlicher Interaktion, in diesem Sinne ist im V I I . Band der Gesammelten Schriften der „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" zu verstehen als Analyse dieser Zusammenhänge in geschiditsphilosophischer und universalhistorischer Absicht. In diesem Zusammenhang nun bedeutet Positivismus-Rezeption die „Positivierung" der Geistes Wissenschaften 3 8 und die philosophische Kritik des Empirismus im Sinne einer neuen Bestimmung von „Erlebnis", „Bewußtsein", „Erkennen", „Wirklichkeit", „Realität der Außenwelt", „Leben" usw.: „Kein anderer ist der Charakter, der unserer Epoche aufgeprägt ist, als die Durchdringung der empirischen Wissenschaften und der Philosophie." 3 7 Im (bisher unveröffentlichten) zweiten Band der „Einleitung in die Geisteswissenschaften" — Grundlegung der ErkenntnisDer junge Dilthey, a.a.O., Tagebuch 1859, S . 8 0 . Vgl. dazu nun die Arbeiten von Manfred Riedel: I) Wilhelm Dilthey und das Problem der Metaphysik, in: Philos. Jb. d. Görres-Gesellschaft 76 (1968/69), 2. Halbbd., S . 3 3 2 — 3 4 8 ; II) Das erkenntnistheoretisdie Motiv in Diltheys Theorie der Geisteswissensdiaften: in Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für H . G.Gadamer. Bd. 1, Tübingen 1970, S. 2 3 3 — 2 5 5 ; III) Einleitung zur Ausgabe von Diltheys „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften". Frankfurt 1970. 3 4 Der junge Dilthey, a.a.O., Tagebuch 1859, S.81. 3 5 Ebd. S. 88. 3® Vgl. dazu die beiden Aufsätze von Alwin Diemer: Die Differenzierung der Wissenschaften in die Natur- und Geistes Wissenschaften; Die Begründung der Geisteswissenschaften als Wissenschaft, in: Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Hrsg. v. A. Diemer. (Studien zur Wissenschaftstheorie, Bd. 1) Meisenheim 1968. 3 7 Der junge Dilthey, a.a.O., S. 81. 32
33
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Vorbericht des Herausgebers
theorie — schreibt Dilthey dazu in dem Kapitel „Voraussetzungen oder Bedingungen des Bewußtseins oder der -wissenschaftlichen Erkenntnis" 3 8 : „Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß von der Wahrnehmung ab bis in die höchsten Formen der Erkenntnis die menschliche Intelligenz unter Bedingungen des Bewußtseins steht, welche sie als Voraussetzung in die Konstruktion der wirklichen Welt sukzessive einführt in der Art, daß die Realität des Empfindungsinhaltes die erste Voraussetzung bildet, welcher alsdann andere Voraussetzungen so angepaßt werden, daß das System unserer Empfindung zur Konstruktion dieses Realen verwandt wird, unter Verknüpfung und gegenseitiger Übertragung des in innerer und äußerer Wahrnehmung Gegebenen. Daß demgemäß die wissenschaftliche Analyse unserer Erkenntnis das Verhältnis dieser Voraussetzungen zueinander und ihren Erkenntniswert zum Gegenstande hat, und zwar diesen letzteren nur auf indirektem Wege prüfen kann. Daß ferner die Geschichte der Wissenschaft, der Fortschritt der Erkenntnis in Einführung, Abänderung und Elimination dieser Voraussetzungen ihr wichtigstes deduktives Element besitzt, von welchem aus sie allein verständlich wird. Hiermit führe ich in die Theorie der sich verwirklichenden Erkenntnis und der Geschichte der Wissenschaft die von Kant begründete, aber kritisch umgeänderte Theorie von den Bedingungen des Bewußtseins ein. Durch diese wird die Geschichte der Wissenschaft erst verständlich, und an die Stelle des mechanischen Geklappers von Induktion bei Comte, Mill, Spencer tritt die Einsicht in die souveräne Natur der menschlichen Intelligenz, kraft deren sie vermöge der in ihr gelegenen Bedingungen des Bewußtseins sich der Gegenstände bemächtigt, sie konstruiert; zugleich aber auch, und hierdurch unterscheide ich mich hauptsächlich von Kant, an der Vertiefung in die Dinge ihre eigenen Voraussetzungen umgestaltet. Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung, sie haben ihre Geschichte, und der Verlauf dieser Geschichte ist ihre Anpassung an die immer genauere induktiv erkannte Mannigfaltigkeit der Erfahrungsinhalte. Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken. Nie können sie zerstört werden, da wir durch sie denken, aber sie werden entwickelt. Hiermit setze ich die Untersuchung der menschlichen Intelligenz in die ihr naturgemäße Verbindung mit unserer Erkenntnis der ältesten Zustände des Menschengeschlechtes, welche wir erreichen können, der Entwicklung der Bedeutungen in der Sprache, der Entwicklung mythischen Vorstellens." 39 38 Breslauer Ausarbeitung, aus dem Nadilaß von Georg Misth im Dilthey-Nachlaß der UB Göttingen (Cod. Ms. Dilthey, 2) fol. 60 f. Vgl. dazu Anm. 32 die Arbeiten von Manfred Riedel, bes. II). 39 Eine parallele Stelle findet sich in der Vorrede zum 1. Bd. der „Einleitung" von 1883 (Ges. Sehr. I, S. X V I I I ) : „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen audi der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen, ob die Erkenntnis gleich diese ihre Be-
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Damit muß die Analyse der geistigen Welt vor allem audi die Analyse der geschichtlichen Objektivationen des Geistes in Religion, Kunst und Literatur einbeziehen. Insbesondere die Darstellung der Individualität in Kunst und Literatur, aber auch zum Beispiel in der von Dilthey besonders hervorgehobenen Historiographie Rankes, bildet für das Studium der Individualität — so der Titel der Abhandlung von 1895/96 — das grundlegende Material. Davon ausgehend, wendet sich Dilthey der Biographik zu und gewinnt in seiner Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften die wesentlichen Kategorien — Erlebnis, Ausdruck und Verstehen, Intuition, Genialität usw. — am Leitfaden der Erfahrung der Kunst. Uberblickt man von dieser einleitenden Skizze aus die in diesem Bande zusammengestellten Texte, so ergeben sich neben Hinweisen auf Quellen und Literatur als Grundlagen der späteren selbständigen Analysen Diltheys auch Verweise auf genetische und systematische Zusammenhänge im Werk Diltheys, die zum Beispiel eine Zuordnung anonymer Artikel aus der Berliner Allgemeinen Zeitung erlaubt, wenn auch in einzelnen Fällen letzte Zweifel nicht ausgeräumt werden können. Hilfreich ist hier der Vergleich mit den übrigen Veröffentlichungen Diltheys, wobei allerdings zu beachten ist, daß sich Dilthey stilistisch mit großem Einfühlungsvermögen auf den Leserkreis einer Tageszeitung, einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift oder eines fachwissenschaftlichen Organs einstellen konnte. Auf Grund der gebotenen Umfangsbeschränkungen mußte auf Textverweise und -vergleiche in Diltheys Gesamtwerk verzichtet werden. Nur ein Beispiel sei für die Zuordnung anonymer Artikel zum Werk Diltheys gegeben: die anonyme Rezension der Rechtsphilosophie Trendelenburgs in der Preußischen Zeitung40. Eine Passage, die in Diltheys Anzeige nur in Auszügen abgedruckt ist, die man aber einmal mit Diltheys eigenem Sprachgebrauch vergleichen muß, lautet im Zusammenhang: „Die wachsende Verwirklichung der Idee des Menschen ist der Impuls der Weltgeschichte — und der einzelne Mensch ethisiert sich nur in diesem großen Zusammenhang. Oer Mensch ist insofern ein geschichtliches Wesen, als der Einzelne an dem objektiven Menschen ein Glied wird, an der Gliederung des historischen Staates, und zuletzt an der in der Geschichte sich entwickelnden Substanz der Menschheit. griffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zu weben scheint. Die Methode des folgenden Versuchs /einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte!] ist daher diese: jeden Bestandteil des gegenwärtigen abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang. Und so ergibt sich: die wichtigsten Bestandteile unseres Bildes und unserer Erkenntnis der Wirklichkeit, wie eben persönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung, sie alle können aus dieser ganzen Menschennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat. Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwidelungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben." 40 Zur Philosophie des Rechts: Adolf Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. Leipzig 1860. Rez. in: Preußische Zeitung, N r . 6 0 3 vom 23.12.1860; N r . 6 0 7 vom 28.12.1860; Nr.611 vom 30.12.1860; in diesem Band siehe Seite 382ff.
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Wenn einst Aristoteles die Bestimmung des Menschen mit dem Ausdruck des politischen Wesens (zoon politik0n), des Wesens im Staat, bezeichnete, so faßte er darin den Menschen als das Wesen der Gemeinschaft in der Gegenwart seines Lebens auf. Nur im Staat entwickelt der Mensch seine menschliche Natur. Aber es genügt dieser Begriff noch nicht. Der Mensch ist ein historisches Wesen, ein Wesen der Gemeinschaft in der Geschichte, in der geistigen Substanz einer Geschichte geboren, auferzogen, von ihr genährt und wiederum sie fortsetzend, weiterführend, ein lebendiges Glied von der Vergangenheit zur Zukunft, immer in einem, großen Übergang tätig. Denn der einzelne Mensch ist allenthalben durch das bedingt, was hinter ihm liegt, durch die vorangegangenen Geschlechter der Familie, in welcher er geboren wird, durch die Geschichte seines Volkes, in dessen Zustände er eintritt, durch die gegebene Religion, die an ihm arbeitet, durch den Erwerb der Erfahrungen, an denen er teilnimmt, durch die gemachten Erfindungen, deren Früchte er genießt. Das historische Material ist stets darauf aus, mit der Gewalt seiner Eindrücke und Einflüsse den einzelnen Menschen zu formen, aber die ethische Aufgabe des Einzelnen bleibt, im Anfang der Dinge wie mitten im Lauf der Geschichte, in beschränkten wie in großen Verhältnissen, immer die Eine, an dem gegebenen Stoff das in der Idee sich immer gleiche menschliche Wesen auszuleben und ihm die edle Form desselben aufzuprägen." 41 Dieser Text wird von Trendelenburg durch eine längere historische Herleitung (Hobbes, Spinoza, Rousseau, Kant und Fichte) eingeleitet, die ethischen Prinzipien werden dann über eine organologisch-teleologische Deduktion bestimmt, wie sie bei Dilthey in der Psychologie und dann vor allem in seiner Ethik (1890) durchgeführt worden ist. — Nun war Trendelenburg für Dilthey in seinen letzten Berliner Studienjahren derjenige akademische Lehrer, der sein späteres Philosophieren am stärksten prägte 42 ; Trendelenburg promovierte Dilthey mit der Dissertation über Schleiermachers Ethik und betreute auch die Habilitationsschrift „Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins" (beides 1864 abgeschlossen), die von der Thematik her diesem Buche Trendelenburgs über Ethik und Rechtsphilosophie nahestehen. Vergleicht man die oben mitgeteilte Äußerung Trendelenburgs mit Diltheys Notizen in den frühen Tagebüchern43 und dann den späteren Äußerungen zum Thema „Geschichtlichkeit'', beachtet man den Zusammenhang von Trendelenburgs Abhandlung „Ober den Grundunterschied der philosophischen Systeme" 44 mit Diltheys Arbeiten zur Typologie der philosophischen und Weltanschauungssysteme, A.a.O., S. 40 f. Vgl. Diltheys Rede zu seinem 70. Geburtstag (1903), Ges. Sehr. V, S. 7: „Und hier ist mir nun mein Lehrer Trendelenburg vor allen gegenwärtig, der auf midi den größten Einfluß gewann. Von seiner Machtstellung macht man sich heute keine Vorstellung mehr. Sie lag darin, wie er die sorgfältig erforschten Tatsachen der Geschichte der Philosophie zu einem Ganzen verknüpfte, das dann als lebendige Kraft in seinen Zuhörern wirkte. Er verkörperte in sich die Überzeugung, daß die ganze Geschichte der Philosophie dagewesen sei und fortgeht, um das Bewußtsein vom idealen Zusammenhang der Dinge zu begründen." 43 Z.B. Der junge Dilthey, a.a.O., Tagebuch 1861, S. 142f. 44 Berliner Akademie-Rede des Jahres 1847, dann in Trendelenburgs „Historischen Beiträgen zur Philosophie" (2. Bd., 1855, S . l — 3 0 ) gedruckt. 41
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vor allem aber mit den ganz frühen Äußerungen über die Klassifikation philosophischer Systeme in den Tagebüchern 45 — dann ist der unmittelbare Zusammenhang des philosophischen Denkens von Trendelenburg und Dilthey evident 46 . Wenn es audi keinen direkten Beleg für Diltheys Autorschaft der hier mitgeteilten Rezension gibt, so läßt sich die Zuordnung auf Grund der skizzierten Erwägungen rechtfertigen. Innerhalb der einzelnen Abteilungen dieses Bandes wurden die Aufsätze chronologisch geordnet. Dabei mußte in Kauf genommen werden, daß die Beiträge aus den jeweiligen Zeitungen nicht direkt aufeinander folgen konnten und daß zum Beispiel auch aus der Reihe der Vorträge zum Besten des Goethe-Denkmals in der Berliner Sing-Akademie der Bericht über Schölls Vortrag „Goethe als Staatsmann" abgetrennt und in die erste Abteilung eingeordnet werden mußte. — Die Textwiedergabe folgt der Erstveröffentlichung; Orthographie und Interpunktion wurden dem heutigen Gebrauch angeglidien. Die Zitate wurden in der Regel überprüft, fehlende Belegangaben in [ ] ergänzt. — Eine Reihe von Nachlässen und Briefsammlungen aus dem Kreise der Diltheyschen Freunde und Gesprächspartner ist audi heute noch nicht erschlossen oder inzwischen verschollen. Wo Hinweise aus den Archivalien dafür gegeben werden können, ob die Zuordnung eines anonymen Artikels zum Werk Diltheys zu Recht oder zu Unrecht geschah, dankt der Herausgeber für jede Mitteilung. Tübingen, August 1970
Ulrich Herrmann
" Etwa Der junge Dilthey, a.a.O., Tagebuch 1860. S. 124. 48 Vgl. allgemein die Studie von Joathim Wach: Die Typenlehre Trendelenburgs und ihr Einfluß auf Dilthey. (Philosophie und Geschichte, 11) Tübingen 1926, bes. S. 11 ff.
I. G E S C H I C H T E — G E S E L L S C H A F T — P O L I T I K ZUR
PUBLIZISTIK
UND
HISTORIOGRAPHIE
A. Von Dilthey gezeichnete oder anders nachgewiesene Abhandlungen Zur Charakteristik Macaulays Thomas Babington Macaulays ausgewählte Schriften geschichtlichen und literarischen Inhalts. Neue Folge, 3 Bände, Braunschweig 1860. I. Macaulays historische Poesien und seine Geschichtsschreibung. Welches Interesse man in Deutschland an Macaulays Geschichtsschreibung und Person nimmt, kann die Tatsache zeigen, daß wir hier eine Reihe von meist früheren Schriften desselben übersetzt erhalten, die im Heimatlande selber bis jetzt noch nicht gesammelt sind. D a ß Macaulay selber eine solche Sammlung nicht unternahm, erklärt die Verlagshandlung [Westermann] in ihren „Monatsheften" aus der Tatsache, daß Macaulay es nicht liebte, auf ältere Schriften zurückzukommen, daß ihn nur die verstümmelten Ausgaben seiner Essays und später seiner Reden dazu brachten, sie selber zusammenzustellen. Das ist freilich schwerlich der Grund. Denn in der Tat stehen fast alle diese ersten Versuche so weit hinter seinen späteren Werken zurück, daß sie schwerlich um ihrer selbst willen einen Abdruck verdienten, sicher seinen Ruhm nicht vermehren werden. Auch unter dem aus späterer Zeit Mitgeteilten kann nur die Biographie des jüngeren Pitt mit seinen besseren Essays verglichen werden. Dennoch werden diejenigen, welche an dem großen Geschichtsschreiber näheren Anteil nehmen, mit größtem Interesse seine Anfänge in diesen Schriften verfolgen; sie werden seine Ausgangspunkte hier offen vor sich liegen sehen, überall werden sie Verbindungsfäden, die zu seinen späteren Werken führen, bemerken. Und aus diesem Grunde möchten auch wir an sie anknüpfen, um mit ihrer Hilfe in seine Bildungsgesdiichte weiter einzudringen. Seine Art ist so eigentümlich, der Einfluß derselben auf die Geschichtsschreibung der drei großen Kulturvölker so bedeutend, daß ein solches Eindringen in seine Bildungsgesdiichte wohl der Mühe verlohnt. Bis zu seinem vierundzwanzigsten Jahre haben wir nur eine Reihe Gedichte von ihm. Die frühesten und unglücklichsten unter denselben sind zwei akademische Preisgedichte. Schon ihr Thema „Pompeji" und „Der Abend" lädt zu punktvoller akademischer Schaustellung von Bildern, vollen Reimen und gemachten Emp1
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findungen ein. Dieser Aufforderung ist er durch eine Sammlung von gekünstelter Sentimentalität und manierierter Erhabenheit, die auch für englische Preisgedichte nicht gewöhnlich ist, nachgekommen. Als er später die in Sadlers Werk eingestreuten Poesien mit seinen Sarkasmen überschüttet hatte und dieser mit einer ähnlichen Behandlung dieser Gedichte antwortete, sprach er sich offen genug über dieselben aus. „Er hat" — sagt er von Sadler — „eine Sammlung von Universitätsgedichten durchgestöbert, in der Hoffnung, unter den Leistungen seines vermeintlichen Gegners etwas ebenso Schlechtes, wie sein eigenes, zu finden. Und wir müssen nach Recht und Billigkeit zugeben, daß ihm dies ziemlich gut gelungen ist. Wir müssen zugeben, daß der Herr, um den es sich handelt, mit siebzehn Jahren zuweilen in seinen Stilübungen ebenso großen Unsinn hineinbrachte, wie Herr Sadler auch mit sechzig Jahren in seine Bücher hineinzubringen pflegt." Dennoch ist es interessant, in diesen bereits sein außerordentliches Talent für jene Art von Schilderung zu erkennen, welche einen bestimmten Empfindungseindruck durch eine genau berechnete Fülle konkreter Züge hervorbringt, voll Absicht, während sie doch die Züge nur aus der Wirklichkeit treu aufnehmen zu wollen scheint, voll Kunst, während sie durch die Kraft der Empfindung mit fortreißt. Mit welcher Verbindung von Phantasie und Realismus schildert er den Abend: „Die Schatten — wachsend, wenn die Sonne flieht — Der Strahl, der auf der blauen Höh verzieht; Der Hauch, der flüsternd und melod'schen Klangs Den Schattenduft durchweht des Nußbaumgangs; Der See, der als ein Feuerspiegel loht, Das Spätgeläut des Turms im Abendrot; Das Echo, das hinzieht von Schlucht zu Schlucht, Das Lied der wilden Vögel auf der Flucht — J a , selbst des Homes Schall, der, frisch belebt Dann klingt, wenn er auf Morgenlüften schwebt, — Was noch so lieblich tönt, so lustig schaut, Leis' wird's vom Abendzauber angegraut: Ein Geist der süßen Trauer zieht und schwebt U m alles, was im Licht des Abends l e b t . . . Wie süß, in dieser Stund' — so hold und still, Wenn frisch die Erd' von Schauern des April — Zu wandern einen Feldweg, tief und grün, Wo Dorn wächst und wo wilde Blumen blühn, Der Sonn' entgegen, die des Tages Rest Mit Glanz bekleidend, niedersteigt den West." [ I I I , 223 f.] Für diese gemachte Naivität und gekünstelte Empfindung konnte aber keine poetische Form geeigneter sein als die des historischen Lieds, wie sie sich in England ausgebildet hat. Diese Nachahmungen von Volksliedern einer bestimmten Periode als Kunstform sind überhaupt bezeichnend für den antiquarischen Kunstsinn der
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Engländer, der überall das Kostüm der Zeiten mehr liebt als ihren Geist. Es hat nie enthusiastischere Sammler gegeben als sie, eben so, in der neueren Zeit wenigstens, nie mehr literarische Fälschungen, die nur aus literarhistorischem Enthusiasmus entsprungen waren. Selbst der große Schöpfer des historischen Romans wurzelt in diesem antiquarischen Interesse für Sitten und Kostüm der schottischen Vorzeit. Keine kapriziösere Form für diese Richtung kann aber nun gedacht werden, als die dieser historischen Lieder. Sehr bekannt sind die römischen historischen Lieder Macaulays. Die vorliegende Sammlung zeigt, daß er bereits 1824 in derselben Manier eine Reihe von „Liedern aus dem Bürgerkriege" zu dichten begonnen hatte, denen man den Anklang an den Bänkelsängerton eher verzeihen mag als den römischen. In das Jahr 1824 — Macaulays Lebensjahre gehen mit dem Jahrhundert — fällt nun audi eine Reihe von Studien, die insgesamt hier zuerst veröffentlicht werden, von denen ich, wie von den Gedichten, bezweifle, daß ihr Wiederabdruck Macaulay bei Lebzeiten angenehm gewesen sein würde: so sehr gehören audi sie noch den Nachwirkungen der Universitätsjahre und einer Periode offenbarer Ungewißheit über das eigentliche Gebiet seines großen Talentes an. Da sind zunächst verschiedene Versuche historischer Poesie, die sich an die historischen Lieder anschließen. So die „Scenen aus athenischen Festgelagen": eine Verknüpfung eines der bekannten Aristophanischen Szene offenbar nachgebildeten Dialogs zwischen einem Vater und Sohn mit einer Nachahmung der aus dem Altertume mehrfach erhaltenen Symposien, in der die zusammengefügten Anspielungen an alle möglichen Stellen griechischer Dichter und Prosaiker die heitere Anmut der antiken Symposien nicht ersetzen können. Nicht so völlig verunglückt ist eine im selben Stile gehaltene Erzählung von einer „Unterhaltung über den großen Bürgerkrieg zwischen Herrn Abraham Cowley und Herrn John Milton, niedergeschrieben von einem Advokaten des Mitteltemples". Einige Züge des berühmten Dichters, für welchen Macaulay in jener früheren Zeit eine schwärmerische Vorliebe hatte und dem er gleich im folgenden Jahre jenes herrliche Denkmal in seinem Essay setzte, treten in anschaulicher Zeichnung hervor; doch erhebt sich das Ganze nicht über lange und stattliche Reden und Gegenreden ohne charakteristische Züge und besondere oratorische Schönheit. In diese Reihe gehören offenbar auch die Bruchstücke einer römischen Erzählung, welche von dem Herausgeber ohne Datum mitgeteilt werden. Wie jene griechischen Szenen die Gelage der „Junggriechen" — wenn dieser Ausdruck erlaubt ist — darstellt, so diese die jener jungen Generation der Römer, an deren Spitze Catilina, Clodius und Julius Cäsar standen. Die Aufgabe ist offenbar unglücklich. Dieser jugendliche Julius Cäsar, der Ligarius erklärt: „ich verstehe zugleich zu kokettieren und zu spielen" und in nächtlicher Meuterei um ein griechisches Mädchen beinahe von Clodius erdolcht wird, sieht dem wirklichen nicht ähnlicher als eben ein geistreicher Wüstling dem anderen, ausgenommen, daß er dem erstaunten Flaminius, auf dem Marktplatze umhersdilendernd, erklärt: „Ich mödite hoffen, daß ein Mann erstände, dessen Genius im Siegen, Versöhnen und Regieren ein unterdrücktes und geteiltes Volk in einer Sache vereinigen könnte; daß er alles tun möge, was Sulla getan haben sollte, und das prächtige Schauspiel eines großen Volkes, von einem
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großen Geiste geleitet, zeige." Auf die verwunderte Frage des Flaminius: „Und wo kann man einen solchen Mann finden?" antwortet er mit einem Selbstbewußtsein, ähnlich dem jener Kotzebueschen Minister, die unter einem schlechten Überrock ihren Stern tragen: „Vielleicht da, wo Du ihn am wenigsten erwarten würdest. Vielleicht gibt es einen Mann, dessen Kräfte bisher in häuslicher oder literarischer Zurückgezogenheit verborgen gewesen sind. Vielleicht gibt es einen Mann, der in der Erwartung einer gehörigen Aufregung, einer würdigen Gelegenheit, auf Kleinigkeiten einen Genius verschleudert, vor dem noch das Schwert des Pompejus und die Toga des Cicero sich beugen mögen. Vielleicht mag er jetzt sich mit einem Sophisten streiten; vielleicht mit einer Geliebten kosen, vielleicht — und während er so sprach, wandte er sich um und fing seinen Spaziergang wieder an — auf dem Forum umherschlendern" [I, 9]. Es finden sich da ferner Satyren in der allegorisch-travestierenden Manier des Märchens von der Tonne. Eins von ihnen erhebt sich kaum an irgendeiner Stelle über den frostigen Witz, der die Gefahr dieser Kunstform ist. Es ist der „Bericht über den großen Prozeß zwischen den Kirchspielen St. Denis und St. Georg-im-Wasser", eine Satyre auf die französische Revolution und den napoleonischen Krieg, Dinge, die ohnehin für solche Nippform zu großartig sind. Trefflich dagegen in seiner Art ist das andere, eine Satyre auf die königliche Literaturgesellschaft, einen Verein, der durch Preisausteilungen die englische Poesie zu heben versuchte. Der König Gomer Heyhorard von Babylon, ein guter Herr, beschließt, zur Vermehrung des guten Weins eine Weingesellschaft zu gründen, setzt Preise aus und bestellt eine Kommission. Mit allem Pflichteifer prüft diese die eingegangenen Proben. Am nächsten Morgen versammelten sie sich alle am Tore des Königs, mit blassen Gesichtern und schmerzenden Köpfen. Sie gestanden ein, daß sie keinen einzigen Bewerber als der Belohnung würdig empfehlen könnten. Sie schworen, daß der Wein nicht besser als Gift sei, und baten um die Erlaubnis, ihr Amt, zwischen so entsetzlichen Getränken zu entscheiden, niederlegen zu dürfen. „Beim Namen des Belus, wie kann dies gekommen sein?" fragte der König. „An meine Richter wird der einzige Wein geschickt, welcher schlecht ist." Und ein Enthusiast für Preise, wie er offenbar ist, befiehlt er, ausrufen zu lassen, daß ein Purpurgewand und eine goldene Kette dem Manne gegeben werden sollten, der dies Rätsel löse. Ein alter Philosoph, der bei diesem neuen Befehl gegenwärtig ist, tritt herzu und löst ihm die Frage, indem er ihm nationalökonomisch darlegt, wie wenig Nutzen sein Preis denen gewähren könne, welche wirklidi Weinberge in reichem Boden hätten. „Wer sind denn", so fragt einer der noch immer sehr angegriffenen Richter mit starkem Unwillen, „wer sind die Elenden, welche mir dies Gift geschickt haben?" „Tadle sie nicht", antwortet besänftigend der lehrhafte Weise, „da Ihr selbst der Urheber des Übels gewesen seid. Es sind Leute, deren Ländereien arm sind und ihnen niemals den gleichen Ertrag eingebracht haben, wie die Preise, welche der König ausgesetzt hat. Wißt deshalb, daß ohne Zweifel Eure Preise die Menge des schlechten, aber nicht die des guten Weins vermehrt haben." Ein langes Schweigen erfolgte. Endlich sprach der König: „Gebt ihm das Purpurgewand und die goldene Kette! Gießt den
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Wein in den Euphrat und laßt ausrufen, daß die königliche Weingesellschaft aufgelöst ist." — Sehr wenig Witz dagegen ist in dem prophetischen Bericht über die „Wellingtonade" zu finden. Diese literarischen Versuche Macaulays haben offenbar insgesamt nur sehr wenig Wert; von desto größerem Interesse sind sie für die Bildungsgeschichte des großen Historikers. Sie zeigen, wie in der historischen Poesie sein Ausgangspunkt lag. Lange ehe er einen historischen Stoff mit wissenschaftlicher Strenge durchzuarbeiten versucht hatte, war er an eine freie anschauliche Reproduktion vergangener historischer Zustände gewöhnt. Lange ehe sich der Trieb umfassender Forschung in ihm regte, war der zu dichterischer Nachgestaltung in ihm rege. Er war zuerst Künstler, erst an zweiter Stelle Forscher. Dem an diese dichterischen Formen Gewöhnten rückten aber die Begebenheiten und Menschen vergangener Tage in die vertraulichste Nähe. Die Stutzer, die auf dem Forum umherschlendern, mochte auch ein Julius Cäsar unter ihnen sein, sieht er nicht anders an als die, welche in den gastfreien Sälen von Whitehall Karl II. aufwarteten oder die heute ihre Wagen und Pferde im Hydepark zeigen. Mit vertraulicher Sicherheit stellt er alle Zeitalter vor uns hin, und die Familienähnlichkeit zwischen allen ist augenscheinlich. Man kann seine englische Geschichte nicht lesen, ohne von dieser Eigentümlichkeit abwechselnd angezogen und abgestoßen zu werden. Angezogen: denn wie ein historischer Roman berührt uns diese Nähe und allgemeine Menschlichkeit aller Gestalten, dieses Interesse an der Eigentümlichkeit und dem Geschick so vieler Hunderte von Menschen, deren Bilder in den Verlauf der Begebenheiten verflochten werden, dieser Sinn für Farbe und männliche Lebendigkeit der Ereignisse, diese kühne, fast dichterische Durchführung der Charakteristik und Schilderung, die hier und da nur durch eine dunkle Anspielung aus einem Pamphlet, durch einen vergessenen Vers eines vergessenen historischen Liedes sich leiten läßt. Ganz befriedigt wird man doch dadurch nicht werden. Auf einem Gebiet der Geschichte, dessen Quellen dem Leser fast sämtlich unzugänglich sind, wird er hier auf der schmalen Grenzlinie zwischen Dichtung und Geschichte geführt, ungewiß, wie oft er aus dieser in jene gerät. Doch möchte das sein! Der Historiker denkt hierin wesentlich anders als der Laie. Er weiß, daß man Geschichte nicht aus den Quellen abschreibt. Er weiß, daß die wichtigsten Züge der geschichtlichen Anschauung erst durch seine Kombination nachgeschaffen werden. Er mag mißtrauisch gegen diese Kombinationen bei einem Historiker sein, bei dem die Phantasie eine so unverkennbare Herrschaft über den Forschungsgeist übt; aber die lebendige Vergegenwärtigung selbst, ja die fast poetische Durchführung der Charakterzüge durch alle gegebenen Data der Handlungen werden ihn nicht stören, wofern nur die Charakterzüge richtig gefaßt, die Begebenheiten richtig verknüpft sind, kurz, wofern nur seine wesentlichen Kombinationen, das Knochengerüst, der Wahrheit gemäß sind. Er weiß, wieviel Phantasie eingewoben ist in unser Bild der Vergangenheit von der Schilderung des ersten Augenzeugen ab. Nur wer dieser Kritik ermangelt, wird audi jene kühnere Veranschaulichung verwerfen. Und es ist bezeichnend genug, daß auch unter uns gerade die neuere kritische Schule, Ranke und Mommsen an der
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Spitze, in der Kühnheit der Veranschaulichung am weitesten gegangen ist. Nur selten wagt es Schlosser, über die Quelle, deren er sich bedient, in der Auffassung hinauszugehen; auch die Anschaulichkeit des Johannes von Müller macht nicht in freiem Urteil die Absichten, die innere Lage, das Gegeneinanderwirken der Personen und Parteien klar, sondern den äußeren Verlauf der Begebenheiten durch kunstvollste Zusammenstellung aller konkreten Züge aus der Masse der Quellen. Die Engländer freilich haben nicht die lange Schule der kritischen und gelehrten Historie durchgemacht, und Hume bereits gestattet sich sehr viel in vermutender Kombination über die Absichten der Personen und Parteien, Gibbon sogar in der Behandlung der Tatsachen. Indeß, es ist kein Grund, von Macaulay ähnliches zu sagen. In der „Englischen Geschichte" wenigstens sind mit Ausnahme solcher Versehen, die dem vorsichtigen Historiker einmal begegnen können — wie jener Identifizierung der zwei William James — bis jetzt audi von den englischen Gegnern des Historikers keine wesentlichen Irrtümer in seinem großen Geschichtswerk gefunden worden. Aber einen übleren Einfluß bat sein poetischer Realismus auf die Gesamtauffassung der Zeiten gehabt. Derselbe wirkt freilich in dem Punkt, von dem hier die Rede ist, mit anderen Eigentümlichkeiten des Historikers zusammen, auf die uns andere Werke desselben hinweisen werden. Wir berühren daher hier den Gegenstand nur flüchtig. Indem die ganze Energie des Historikers auf Sittenschilderung und politische Handlung gerichtet ist, treten die entscheidendsten Veränderungen im geistigen Gesichtskreis der Menschen dagegen zurück. Schon die Einleitung der „Englischen Geschichte" hält diesen Gesichtspunkt streng inne. Sie betrachtet Christentum, Katholizismus, Reformation, nur in bezug auf die politische Verfassung Englands und seine Zivilisation; sie hat kaum ein Wort für den wissenschaftlichen Gedankenkreis des Mittelalters, in den England so eigentümlich eingegriffen hat; sie versucht nicht, die neuen Gedankenelemente, die seit dem 14. Jahrhundert eindrangen, darzustellen; die stereotypen Fortschritte der Naturwissenschaft, die bei den Bacos, die Chemiker unter Karl II., Newton: über diese Bruchstücke kommt die Auffassung nicht hinaus. Die Hauptsache ist, es gab Whigs und Tories damals, wie jetzt, und die Zivilisation schreitet vorwärts. Dieser Mangel wird doppelt fühlbar, wo er dem großen Vorzug dieses herrlichen Geschichtswerkes begegnet; liest man die geniale Schilderung der Zustände Englands 1785, so fühlt man doppelt, wie viel hier noch neben Einkünften, Postwesen, Straßenbeleuchtung, all jenen Elementen des öffentlichen und Privatlebens, die sich von außen sichtbar darstellen und deren Auffassung hier zuerst mit einer einzigen Meisterschaft auftritt, in einer Geschichte Englands der Behandlung wert gewesen wäre. — Dieser Einseitigkeit entspricht auf dem Gebiet der politischen Begebenheiten eine ähnliche. Die Kämpfe zwischen Whigs und Tories, die Parlamentsdebatten, die Verschwörungen, die Ministerwechsel — diese ganze glänzende Erscheinung des englischen Staatslebens tritt zu sehr hervor gegenüber der Darstellung von Ausbildung und Umgestaltung der Grundelemente der Verfassung und Verwaltung, in deren unscheinbaren Zügen doch die wahre Basis der politischen Größe Englands liegt.
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Zur Charakteristik Macaulays (1860)
II. Die englische Demokratie
— Macaulays früheste politische
Ansichten
Man hat öfters von dem Wechsel in den politischen Ansichten Macaulays geredet. N u r in sehr beschränktem Maße hat man doch dazu ein Recht. Die Ansichten eines Staatsmannes erfahren notwendige Veränderungen mit der Reife der Jahre, wenn sich in das Netz der Begriffe, die er aus dem theoretischen Leben mitbringt, die schwere Fülle der Tatsachen drängt. Glücklich noch, wenn dies Netz der Gedanken standhält, wenn ihm nicht der Zusammenhang zwischen Theorie und Leben zerreißt und dem tatsachenarmen Idealismus ideenlose Praxis folgt! Und zumal bei einem Manne wie Macaulay, der aus poetischen Beschäftigungen, klassischen Studien und politischem Dilettantismus zu Geschäften und geschichtlicher Forschung fortschritt, ist eine solche Fortentwicklung geradezu Zeichen von Gesundheit der Natur. Es war natürlich, daß Cromwells und Miltons puritanische Energie in jener ersten Zeit sein Ideal war, daß dasselbe späterhin vor der staatsmännischen Besonnenheit Wilhelms III., die das neue England gründete, zurücktrat; es war natürlich, daß die Revolution zurücktrat hinter jenem Kompromiß der Parteien, welches die Neugestaltung des zerrütteten Staates ermöglichte. Aber dieser Wechsel war beinahe mehr ein Wechsel des politischen Temperaments, als der politischen Ansichten: er bewegte sich innerhalb sehr bestimmter Schranken. Von Anfang an — das zeigen diese neu veröffentlichten Erstlingsschriften — ging Macaulay mit einer Verständigung zwischen dem alten Whigismus und der neu gebildeten, eben damals durch die Mängel der Verfassung und die Bedürfnisse der Nation zu einer unwiderstehlichen Macht angewachsenen demokratischen Partei um. Und nur der Punkt des Kompromisses wechselte im Laufe der Zeit. Er hat nie, auch nicht im Beginn seiner politischen Laufbahn, die demokratische Richtung geteilt, sie schien ihm nur, etwa wie vielen Konstitutionellen unter uns, z.B. Gervinus, ein notwendiges Element für die Umgestaltung des Whigismus. Er hat •ebenso nie auch gegen das Ende seines Lebens die demokratische Richtung völlig verworfen. Wie er in dem Kompromiß der Parteien unter Wilhelm III. die heilsamste Tatsache in der Geschichte der Parteien erblickte, so hoffte er, in der Ansicht, daß der Gegensatz zwischen der öffentlichen Meinung und dem Parlament, zwischen der alten Verfassung und den aus den veränderten Zuständen der Gesellschaft und des Erwerbs hervorgegangenen Wünschen des niedern Volks jenen älteren zu verdrängen im Begriff sei — auf eine ähnliche Verständigung zwischen diesen neuen Gegensätzen, in der ihm die einzige Möglichkeit eines gesicherten Bestandes der historischen Verhältnisse zu liegen schien. So kann man ihn keiner der gegenwärtigen drei Parteien ohne weiteres einordnen; er war im Parlament wie in der Literatur der bedeutendste Repräsentant einer Neugestaltung der Partei der Whigs. Wenn Disraeli durch Liebäugeln mit der Demokratie die Tories zu verstärken versucht, so ist das nur das leere Spiel politischen Ehrgeizes. Etwas ganz anderes war es mit dem Bestreben Macaulays. Seitdem zum ersten Male Junius von radikalen Gedanken aus mit seinen scharfen und unruhigen Lichtern das alte Versuchungsgebäude England durchleuchtete, seitdem Wilkes, der junge Burke und vor allen Fox, der Mirabeau der englischen Demo-
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kratie, diese Partei im Unterhause zu Wort brachten, seitdem diese Lehren der Demokratie in Amerika zu Gesetzen formuliert und Grundlagen eines neuen Staates wurden, hat die Macht der Verhältnisse selbst viele bedeutende englische Staatsmänner auf diesen Weg gedrängt: eine Reihe wichtiger Reformen ist aus den Zugeständnissen der alten whigistischen Partei an diese neue Partei hervorgegangen: noch in unseren Tagen wird ja um die wichtigsten gekämpft. Es liegt im Wesen der parlamentarischen Regierung, daß die Gestaltung zweier lebenskräftiger Parteien, die alle wertvollen politischen Elemente des Landes in sich schließen, eine Lebensfrage für sie ist. Und welcher Engländer hätte je ausschließlicher das Parlament als den Herd der englischen Verfassung betrachtet? Die Geschichte des englischen Staatswesens wird daher ganz konsequent unter seinen Händen zur Geschichte der beiden großen politischen Parteien, auf deren Gegeneinanderwirken die gleichmäßige, doch unhemmbare Fortbildung der englischen Verfassung beruht; die gegenwärtige Politik dieses Staatswesens konzentriert sich ihm in der Frage nach der Neubildung dieser Parteien, deren Zersplitterung und innerer Zerfall in der Tat die verhängnisvollste Tatsache ist, welche seit langem die inneren Staatsverhältnisse Englands bedroht hat. Da ist es nun merkwürdig, wie die eine der beiden ersten größeren politischen Schriften Macaulays gegen die sich auf Grundlage der Nationalökonomie organisierende demokratische Partei gerichtet ist. Es sind die drei Streitschriften „Über militärische Logik und Politik", die wir meinen, und der Gegner, gegen die sie gerichtet ist, ist die Schule Benthams, die radikale Nationalökonomie, vornehmlich Mill. Nicht minder merkwürdig aber ist die nahe Verwandtschaft des Standpunkts, von dem aus Macaulay sie bekämpft. Man begreift die Erbitterung des Streits nur, wenn man sich erinnert, daß es nicht zwei Theorien vom Staat, sondern zwei politische Parteien sind, die im „ Westminster-Review", der von Bentham gegründeten Zeitschrift, und im „Edinburgh-Review" einander bekämpfen; so nahe streift Macaulay an die Grundlagen der Theorie seiner Gegner. Der Kritiker des „Westminster-Review" weiß dieses Schwankende, das jedem Versuch zwischen zwei Parteien zu treten eigen ist, auch wohl zu benutzen. Er bemerkt, wie unsicher Macaulay seinen Satz festhalte, daß die Regierung auf der besitzenden Klasse beruhen müsse, nicht auf der Masse des gesamten Volkes. Die Kritiker von „Edinburgh-Review" — sagt er — „geben sich allerdings viele Mühe, dies zu sagen und nicht zu sagen. Sie schwanken und kriechen umher, um sich ein Loch zu sichern, durch welches sie entwischen können, wenn das, was sie behaupten, irgendwie unangenehm werden sollte. Man könnte sein Leben an dem Versuche verschwenden, ausfindig zu machen, ob die Fräulein von der „Edinburgh-Review" in ihrer politischen Koketterie Ja oder Nein sagen wollen" (III, 62). In der Tat: Macaulays Theorie vom Zweck des Staates ist nur um ein wenig anders und um nichts besser als die seiner Gegner; sein wissenschaftliches Verfahren steht an barocken Vergleichungen und Ausführungen, Verszitaten und dergleichen dem ihrigen sehr nahe. Wie begreiflidi, daß ihnen seine Abweichungen zweifelhaft vorkommen! Man muß einmal alle deutsche Philosophie und geschichtliche Anschauung völlig vergessen und sich in das Land der Industrie und der Philosophie Bacos, am besten
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in jene ehrenwerte Partei handeltreibender Gentlemans, deren Orakel Herr Bright ist, versetzen, um den Ausgangspunkt für die Politik der nationalökonomischen Schule zu begreifen. Die Frage ist, welcher der Zweck des Staats sei. Uns Deutschen ist der Staat eine wesentliche Form für die Verwirklichung der menschlichen Sittlichkeit: alle unsere politischen Parteien stimmen darin überein, ja was bei uns noch mehr sagen will, im wesentlichen auch unsere wissenschaftlichen, halten doch unsere am meisten skeptischen Philosophen, wie Feuerbach, daran fest; das Verhältnis von Unterricht, Wissenschaft und Kunst, der Religion zu geschweigen, zu unserem Staat läßt uns von selbst in dieser Anschauung aufwachsen. Erst hinter dieser Begrenzung beginnen bei uns die Gegensätze der Politik. Die englische demokratische Schule bezeichnet mit dürren Worten die „größtmöglichste Glückseligkeit" als den Zweck des Staats, die „möglichste Erhöhung der Freuden und Verringerung der Leiden". Erreicht wird dieselbe dadurch, „daß man jedem Menschen die größtmöglichste Menge von dem Produkt seiner Arbeit zusichert". Wir sehen, wir befinden uns hier im Kreis jener Theorie, die ja in England ihre Heimat hatte, daß der Zweck des Menschen die Lust sei, und diese radikalen Nationalökonomen sind der Meinung, daß alle wesentliche Lust ausschließlich auf Erwerb und Eigentum beruhe. Wie wird sich der große Geschichtsschreiber des englischen Volks, seiner Nationalehre und seiner Größe, die jedem Engländer das Herz stärker schlagen macht, wenn er an sein Vaterland denkt, zu dieser Theorie des verkommenen Industrialismus verhalten? Dem ersteil Satz stimmt er völlig bei. Auch für ihn liegt der Zweck des Staats in der „Glückseligkeit" der einzelnen; audi für ihn ist die Nationalehre wohl nur eine zufällige Folge aus den auf das Wohl des einzelnen zielenden Prämissen des Staats; auch für ihn besteht entweder nur ein negativer Zusammenhang zwischen dem sittlichen Zweck des Menschen und dem Staat, dessen Geschäft nur Wegräumung der Störungen dieses Zweckes ist — oder ihm müßte eben auch die Lust der Zweck des Menschen sein. Erst bei dem zweiten Satze weicht er von der nationalökonomischen Schule ab. „Es ist bemerkenswert" — so sagt er — „daß Herr Mill, mit aller seiner zur Schau getragenen Präzision, hier eine Definition von den Zwecken der Regierung gegeben hat, welche weit weniger genau ist, als die, welche sich im Munde des Volkes findet. Der erste beste, der mit dem Herrn Mill in einem Postwagen fahren mag, wird ihm sagen, daß die Regierung zum Schutze der Personen und des Eigentums der Menschen da ist. Aber Herr Mill scheint zu glauben, daß die Bewahrung des Eigentums der erste und einzige Zweck ist" [111,7], Es ist freilich bezeichnend für die englische Demokratie, daß sie nur in dem Prinzip des Eigentums wurzelt, während die unsere stets vom Begriff der Person und der Humanität ausgegangen ist. Aber nicht weniger bezeichnend ist für Macaulay dieser Dualismus des Staatszweckes, von dem man glauben sollte, er hätte ihn, wie die Philosophen den von Geist und Materie, notwendig zu einer besseren Fassung treiben müssen, der aber in den Bau seiner „Englischen Geschichte" selber hineinreicht, welche in eine Geschichte der Zivilisation und in eine der Verfassung zerfällt, ohne daß diese Bestandteile irgendwie durch das Band einer tieferen Ansicht zusammengehalten würden.
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Welche Grundsätze der Politik ergeben sich nun aber aus diesem demokratischen Begriff des Staats, eineVersicherungs-Gesellschaft für Erwerb und Eigentum zu sein? Wie stellt sich Macaulay zu denselben? Die Benthamisten konstruieren aus ihrem Staatszweck sofort die beste Staatsverfassung. Mill läßt zunächst die einfachen Staatsformen die Revue passieren, um sie zu verwerfen. Die absolute Monarchie widerspricht dem Zweck des Staats. „Wenn die Regierung auf dies als Gesetz der menschlichen Natur gegründet ist, daß ein Mann, wenn er es vermag, andern alles fortnehmen kann, was sie haben und was er begehrt, so ist es ganz klar, daß, wenn ein Mensch König genannt wird, er damit seine Natur nicht ändert; so daß er, wenn er einmal die Macht bekommen hat, jedem Menschen das fortzunehmen, was ihm gefällt, audi alles nehmen wird, was ihm gefällt. Zu vermuten, daß er dies nicht tun wird, heißt zu behaupten, daß die Regierung unnötig ist und daß menschliche Wesen einander nicht aus eigenem Antriebe Schaden zufügen werden" [111,9; Zitat von Mill bei Macaulay]. Mit denselben Förmlichkeiten der englischen Logik, die sorglos in den Voraussetzungen, aber, um das abzugleichen, dann um so weitläufiger und vorsichtiger in den Schlüssen aus denselben ist, wird dann die aristokratische Verfassungsform beseitigt. Es bleibt allein die Demokratie von den einfachen Verfassungsformen. Im Prinzip ist dieselbe die vollkommene Verfassung. „Das Gemeinwesen kann kein Interesse haben, das seinem Interesse zuwiderläuft. Dies zu behaupten würde ein Widerspruch in adjecto sein. Ein Gemeinwesen kann auf Übel gegen ein anderes sinnen; niemals auf sein eigenes. Das ist ein unbestreitbarer Satz und von der größten Wichtigkeit" [III, 8; Zitat von Mill bei Macaulay]. N u r die Unmöglichkeit, daß das Volk sich in Masse versammle und die Regierung führe, macht das demokratische Repräsentativsystem notwendig, die einzige vollkommene, ja die einzige gute Verfassung. Gegen diese Schlußfolgerungen erhebt nun Macaulay doch einen zusammenhängenden und durchdachten Einspruch. Er verwirft die apriorische Methode; er verwirft die Fragestellung nach der vollkommensten Verfassung; er verlangt, daß die politische Wissenschaft auf die historische Erfahrung basiert werde. Er weist zu diesem Zwecke die Lückenhaftigkeit und Willkürlichkeit dieser anscheinend so vorsichtig gezogenen Schlüsse nach, indem er die bereits von Mill aufgeworfene Frage revidiert: „Ist es denn nicht möglich, daß ein König oder eine Aristokratie bald mit den Gegenständen ihrer Wünsche gesättigt sein könnten und dann das Gemeinwesen in dem Genüsse der Übrigbleibenden beschützen mögen" [111,9]? „Es ist klar, daß ein König oder eine Aristokratie, mit bloß körperlichen Vergnügungen bis zur Sättigung für eine Summe versorgt werden kann, welche der roheste und ärmste Staat kaum in Betracht ziehen würde" [III, 12]. Im Wesen der Neigungen aber, die uns als vernünftigen Wesen zukommen, liegt eine Grenze der Bedrückung: die mächtigste unter ihnen, das Streben nach der guten Meinung und dem Beifall anderer, kompensiert nämlich nach Macaulays Ansicht die anderen. Über diesen Punkt erhebt sich zwischen den beiden eudämonistischen Staatslehrern eine sehr weit ausgesponnene Debatte, mit der wir unsere Leser nicht langweilen wollen. Eine Hauptinstanz der nationalökonomischen Schule ist die drastische Frage: „warum nicht versuchen die Aneigner von Schnupftüchern zu sättigen" usw.
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Diese Konsequenz einer Pension für Diebe wird nun novellistisch ausgemalt; Macaulay antwortet dann mit einer ähnlichen Reihe von Schnurren, deren kurzer Sinn ist, daß die Zahl der Spitzbuben unbeschränkt, die der Aristokratie aber begrenzt sei. Man muß für diese Art humoristischer Analogien und Konsequenzen, mit denen die gegenwärtigen Engländer Romane und Geschichte, Philosophie und Leitartikel in gleicher Weise appretieren, ein besonderes Organ haben, um dergleichen Bestandteile von Schriften über Staatsverfassung verdauen zu können, die sich hier durch ein halbes hundert Seiten hindurchziehen. Denn Macaulay wendet nun die Sache und fragt: ob wohl die Bäckerläden sicher sein würden, wenn die Massen herrschten; audi hierüber erhalten wir ebenso scharfsinnige als witzige Untersuchungen. Kann nun dergleichen nur als für die moderne englische Literatur charakteristisch interessieren, so sind die daraus folgenden Streitfragen von großem sachlichen Interesse. Mill hat von den einfachen Verfassungen die aristokratische und monarchische verworfen, die demokratische für die vollkommene erklärt. Es fragt sich, wie er sich zu den gemischten Verfassungsformen verhält. Unsere moderne Staatswissenschaft operiert wesentlich mit ihnen: die englische ist uns das erste Muster einer solchen gewesen: da ist höchst merkwürdig, daß die englische demokratische Schule schlechtweg leugnet, daß die englische Verfassung eine gemischte sei. Sie erklärt sie für rein aristokratisch und tritt so in einen prinzipiellen und unversöhnlichen Gegensatz zu derselben. Gemischte Verfassungen erklärt die Schule überhaupt für eine Illusion. Da das Gleichgewicht der Kräfte, auf dem sie basiert seien, nie vollkommen genau vorhanden sei, so verzehre ein Faktor den andern — nach dem erwähnten utilitarischen Grundsatz unbeschränkter Machtbegierde. Konstruiere man sie gar aus drei Faktoren, so müßten, der Natur der Sache nach, der aristokratische und monarchische Faktor den demokratischen aufzehren. — Macaulay verwahrt sich natürlich gegen eine so wunderliche Anwendung des mathematischen Gleichgewichts auf die Kraftverhältnisse der Staatselemente. Er weist nach, wie das Machtübergewicht in solchen Verfassungen relativ, in bezug auf bestimmte Verhältnisse erwachsen und nur für ganz bestimmte Anwendungen der Madit brauchbar, dazu durch Gesetz und Interesse umschränkt sei. Aber er geht weiter, er behauptet, daß alle Verfassungen der Welt gemischt seien und hebt damit seine Unterscheidung selbst wieder auf. „Uberall, wo eine numerische Minderheit durch größeren Reichtum oder Verstand, politische Einigkeit oder Kriegszucht, einen größeren Einfluß auf die Gesellschaft ausübt, als irgendeine andere gleiche Anzahl von Personen, da existiert in der Wirklichkeit eine Beimischung von der Aristokratie . . . Überall, wo ein König oder eine Oligarchie sich der allerärgsten Raubsucht und Tyrannei aus Furcht vor dem Widerstande des Volkes enthält, da ist die Verfassung, wie man sie auch immerhin nennen mag, einigermaßen demokratisch" [III, 106]. „Dies" — so schließt er — „ist die philosophische Klassifikation der Regierungen, und wenn wir diese Klassifikation benutzen, so werden wir finden, nicht nur, daß es gemischte Regierungen gibt, sondern daß alle Regierungen gemischt sind und immer sein müssen" [III, 107].
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Wenn Macaulay hier die Grenze zwischen einem in die Regierung selbst durch das Gesetz mitaufgenommenen Gegengewicht gegen die Regierung und demjenigen, welches Naturkraft und Bildung des Volkes in allen Verhältnissen ausüben, höchst willkürlich verwischt, so liegt dem Leser dieser Abhandlungen sein Grund am Tage. Sie sind in den Aufregungen der Reformvorlage geschrieben. Und sei es durch diese Aufregung, sei es, weil damals Macaulay überhaupt der demokratischen Partei näher stand: er will nicht leugnen, daß das Parlament ausschließlicher Repräsentant der Aristokratie sei. Nur von einem reformierten Unterhause hofft er, daß seine Abstimmungen die Meinungen des englischen Mittelstandes getreu darstellen. Aber aus denselben Gründen will er nicht zugeben, daß die Aristokratie in England außerhalb des Parlaments im Alleinbesitz der Macht sei. Denn das Parlament soll nur die in der Lage begründeten Machtverhältnisse repräsentieren. Verfassungen sind nicht die Macht, sondern nur Symbole der Macht und werden in einem gegebenen Falle sich durchaus unnütz erweisen, wenn nicht die Macht, welche sie darstellen, hervortritt. Die wirkliche Macht gleicht einem zirkulierenden Medium, dessen Natur man an den Erscheinungen eines Handelsstaats am besten beobachtet; wer erkennen will, wie sie ohne äußere Repräsentation wirksam sein kann, den verweist er auf die Analogie der Herrschaft, welche das europäische Gleichgewicht zum Schutze der kleineren Staaten übte. Und wozu ist nun die Repräsentation? In der Gemeinschaft der Nationen richtet sich die erste Appellation an die physische Gewalt. In den Gemeinschaften der Menschen dienen Regierungsformen dazu, diese Appellation aufzuschieben und machen sie oft ganz unnötig. Aber sie bleibt den Unterdrückten oder Ehrgeizigen doch noch offenstehen. Es ist offenbar die Drohung mit der Revolution, welche er hier den Gegnern der Revolution gegenüberstellt, — in demselben Augenblick, in dem er die Bundesgenossenschaft der Demokratie im Namen seiner Partei abzuweisen unternommen hat. Diese Drohung mit einer Revolution und der Haß gegen die torystische Aristokratie tritt aber mit einer unglaublichen Heftigkeit in der anderen Reihe von Streitschriften hervor, die aus der ersten Zeit seiner Beteiligung an der Politik stammen. Wir meinen die über „Die antijakobinische Zeitschrift" und den „Parteigeist" (1827). War jene frühere Reihe gegen Grundsätze gerichtet, so ist es diese gegen Personen. Vor allen gegen Wellington, den damaligen Führer der Tories. Die bitteren Worte, die er gegen ihn am Schluß der ersten Streitschrift schleudert, zeigen die ganze Heftigkeit seines Hasses. Nachdem er das Schicksal der französischen aristokratischen Emigrierten den Tories zur Warnung geschildert hat, endet er: „Gott gebe, daß sie sich niemals mit nutzloser Selbstanklage daran erinnern mögen, wenn die Verwüstung reichere Städte und schönere Gärten heimgesucht haben wird, wenn Manchester wie Lyon und Stowe wie Chantilly sein wird, wenn er, der jetzt im Stolz auf seinen Rang und Reichtum das verhöhnt, was wir in der bittern Aufrichtigkeit unseres Herzens geschrieben haben, für einen Teller Suppe an der Tür eines spanischen Klosters dankbar sein, oder einen italienischen Wucherer anflehen wird, ihm noch eine Pistole auf sein St. Georgskreuz vorzustrecken" [1,246]. In der Tat, die Heftigkeit der Drohungen, die rücksichtslosen Invektiven, mit denen die Führer der Tories verfolgt werden, erinnern an jene Briefe, welche zuerst die
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demokratische Beredsamkeit in die englische Presse brachten. Aber audi in ihnen tritt doch zugleich seine andere Parteistellung darum nicht weniger scharf hervor. Die ohnmächtigen Versuche der Tories, die Reform aufzuhalten, erscheinen ihm nur dadurch furchtbar, daß sie die Demokratie, den gewaltigen Feind der bestehenden Verfassung, verstärken. Die Opposition in despotischen und ungebildeten Staaten — so sagt er trefflich — wirft sich auf den einzelnen Mißbrauch; „sie verlangen die Abschaffung einer bestimmten Steuer oder reißen ein verhaßtes Individuum in Stücke". Die Opposition in freien und mit politischer Untersuchung vertrauten Staaten wendet sich, den Ursachen des einzelnen Mißbrauchs nachgehend, gegen das ganze System der Regierung. Auf den Bedürfnissen der niedrigen Klassen beruhend, stellt sie notwendig die bisherige Verteilung des Eigentums in Frage und drängt zur Revolution. Und indem er nun die Führer dieser Opposition schildert, sehen wir uns sogleich wieder in den Kreis der oben dargestellten demokratischen Schule versetzt. Hier ist er geneigt, ein gerechteres Urteil über sie zu fällen. „Sie sind Männer, deren Geister sich für gewaltige Anstrengungen erzogen haben. Alles, was bloß zum Schmücke dient, alles, was Abrundung, Weichheit und Glanz gibt, ist fortgetan. Nichts ist übriggeblieben, als Nerv, Muskel und Knochen. Ihre Freiheitsliebe ist keine knabenhafte Phantasterei. Sie ist nicht durch Rhetorik genährt und verdunstet nicht in Rhetorik. Ihnen liegt nichts an Leonidas, Epaminondas, Brutus und Codes. Sie behaupten, daß sie ihre Meinungen bloß von Demonstrationen ableiten und sind nie so wenig mit sich zufrieden, als wenn sie sie in einer romantischen Form dargestellt sehen. Die Logik und Staatswissenschaften beschäftigen ihre ganze Aufmerksamkeit" [ 1 , 2 3 7 ] . Man sieht, mit wie ganz anderer Achtung Macaulay hier von den einzigen Gegnern spricht, welche in neueren Zeiten in England die Verfassung ernsthaft bedroht haben.
III. Entstehung
und Charakter
seiner „Englischen
Geschichte"
Wir haben die poetischen Versuche Macaulays und ihren merkwürdigen Einfluß auf anschaulichen Realismus der Darstellung in der Kürze zu charakterisieren versucht; wir haben seine Ansichten vom Staat, seine Stellung zu den englischen Parteien überblickt; wie erwuchs nun aber aus solchen Elementen seine Geschichtsschreibung, in der doch seine wesentliche Bedeutung liegt? Denn auch seine politische Tätigkeit war vorwiegend eine Vorbereitung für diese. Seine Reden waren mehr bewundert, als wirksam. Was unter anderem seine ostindische Verwaltung angeht, so pflegten die Engländer, indem sie seine dortigen Einkünfte überschlugen, zu bemerken, so kostbar auch die Essays über Lord Clive und Warren Hastings seien, so seien sie doch nicht zu teuer bezahlt. Denn allerdings seien die beiden Essays außer einem unbrauchbaren Gesetzentwurf der einzige Ertrag seiner dortigen Tätigkeit. Und wenn die Wähler von Edinburgh 1847 über seine Abstimmungen in der schottischen Kirchenfrage erbittert, als er die Tribüne zur Wahlrede bestieg, die Puppe eines wohlgenährten englischen Bischofs vor ihm aufzogen, ihm zum Trotz einen unbedeutenden Fabrikanten wählten und ihn dadurch sehr gegen seinen Willen der Muße des Privatlebens zurückgaben, aus der dann zwei Jahre darauf
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die ersten Bände seiner „Englischen Geschichte" hervorgingen: so wollen wir dies Mißgeschick so wenig beklagen, als den Unfall, der die kriegerische Laufbahn des Cervantes unterbrach oder andere ähnliche, welche aus mittelmäßigen Staatsmännern und Soldaten große Schriftsteller gemacht haben. Wenn wir aber nun unsere Frage über die Anfänge seiner historischen Anschauungen und Pläne wieder aufnehmen, so kommen uns zwei Schriften zu Hilfe, welche in demselben Jahre verfaßt (1828), den Plan seiner „Englischen Geschichte" in den beiden Bestandteilen, die man leicht an derselben unterscheidet, deutlich aufzeigen. H a t doch dieser Mann überhaupt seine Studien fast vor den Augen des Publikums gemacht. Seine ersten historischen Essays über Mitfords „Geschichte Griechenlands" und über die athenischen Redner, beide 1824, hatten sich noch ganz im Gebiet der Universitätsstudien gehalten. Der Essay über Milton, die erste Arbeit von ihm, welche durchschlug, berührte das Gebiet der politischen Geschichte nur mit Ausführungen voll schrankenloser Begeisterung für die Männer der Revolution, aber ohne Vor- und Rückblick auf die Geschichte Englands. Dann aber kamen seine politischen Schriften. Und aus den so zusammenwirkenden Elementen ergab sich ihm ein Plan einer englischen Geschichte, den er 1828 nach seinen zwei Seiten hin in der berühmten Abhandlung „Zur englischen Verfassungsgeschichte" und in einem jetzt erst veröffentlichten, sehr merkwürdigen Versuch „Über Geschichtsschreibung" darlegte. Von da ab hat er das Gebiet der englischen Geschichte nur noch selten verlassen, und an keinem Punkte sehr zu seinem Ruhme, bis er die in Essays vielfach durchgearbeiteten Stoffe und Gedanken 1847 in einem großen historischen Werke darzustellen unternahm. Das eine Element seiner historischen Manier knüpft ohne Frage an die Darstellungsweise Walter Scotts an. Man hat öfter diese seine Verwandtschaft mit dem Schöpfer des historischen Romans bemerkt, zugleich aber wie er die Erwähnung seines großen schottischen Landsmanns wie absichtlich vermeidet, ja für die Personen, welche dessen unnachahmliche Schilderungen verherrlicht haben, am liebsten andere Namen wählt: was bekanntlich bei den historischen Personen Englands meist leicht ist. Die Spuren der Anknüpfung, welche er späterhin zu verwischen liebte, liegen in diesen ersten Schriften offen zutage. Schon in dem Aufsatz über Mitfords „Geschichte Englands" klagt er darüber, wie die Geschichtsschreiber sich auf die öffentlichen Vorgänge beschränkt und ein anderes Gebiet, ebenso groß und wertvoll, der Verwendung der Romanschriftsteller überlassen hätten. „Ich möchte hoffen" — sagt er —, „daß ein Schriftsteller aufträte, welcher die gegenwärtigen engen Grenzen überschritte und die Rechte der Geschichte über jeden Teil ihres natürlichen Gebiets behauptete. Sollte ein solcher Schriftsteller die Unternehmung beginnen, worin Herr Mitford, meiner Ansicht nach gescheitert ist, so wird er allerdings alles, was in militärischen und politischen Vorgängen interessant und wichtig ist, berichten; aber er wird nichts für zu unbedeutend für die Würde der Geschichte halten, was nicht zu unbedeutend ist, das Glück der Menschen zu befördern oder zu verringern. Er wird mit lebhaften Farben die häusliche Gesellschaft, die Sitten, die Lustbarkeiten, die Unterhaltung der Griechen schildern. Er wird es nicht verschmähen, den Zustand des Ackerbaus, der mechanischen Künste
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und der Bequemlichkeiten des Lebens in Betracht zu ziehen" [1,182]. Was hier nur angedeutet ist, wie Walter Scotts Behandlung historischer Zustände für eine Seite der Geschichte ihm zuerst Licht gegeben hat, tritt in der Abhandlung „Über Geschichtsschreibung" auf so merkwürdige Weise hervor, daß wir uns die Mitteilung auch dieser Stelle nicht versagen können. Handelt es sich doch um einen Einfluß des historischen Romans auf die Geschichtsschreibung, der durch Macaulays Nachwirkung in England, Deutschland und Frankreich eine große Bedeutung gewonnen hat. „In der Kathedrale zu Lincoln gibt es ein sehr schönes gemaltes Fenster, welches von einem Lehrling aus den Glasstücken gemacht worden ist, die sein Meister weggeworfen hatte. Es ist jedem andern in der Kirche so bedeutend überlegen, daß nach der Sage der überwundene Künstler sich umbrachte. Sir Walter Scott hat in derselben Weise jene Bruchstücke der Wahrheit benutzt, welche Geschichtsschreiber verächtlich fortgeworfen haben, und zwar in einer Weise, welche wohl ihren Neid erregen kann. Er hat aus ihren Stoppeln Werke aufgebaut, welche selbst als Geschichtswerke betrachtet fast ebenso wertvoll sind, als die ihrigen. Aber ein wahrhaft großer Historiker würde diese Materialien für sich in Anspruch nehmen, welche der Romanschreiber sich angeeignet hat. Dann" — meint er sehr charakteristisch, indem er damit die beiden Elemente seiner Geschichtsschreibung gegenüberstellt — „würde man nicht die eine Hälfte des Königs Jakob in Hume, die andere in den ,Schicksalen Nigels' (bei Walter Scott) zu suchen nötig haben." Sehr bezeichnend ist, daß er sich an mehreren Stellen seiner früheren Schriften mit offenbarer Vorliebe über das Gesetz der Darstellung ganz in diesem künstlerischen Sinne ausspricht. Er geht davon aus: vollständig und absolut wahr kann die Geschichtsschreibung nicht sein; sie kann nicht alle Dinge, die geschehen, alle Worte, die gesprochen sind, registrieren. Durch welche Mittel nun wird dieser notwendige Mangel ersetzt? An diesem Punkte offenbar gehen die verschiedenen Richtungen der Geschichtsschreibung auseinander. Der kritische Sammler wird alle gesicherten Züge nach freiem Ermessen ihrer Wichtigkeit für den Leser zusammenstellen; der Pragmatiker wird aus dem Stoff des Geschehens überall lediglich das Ursächliche, Weiterwirkende herausheben; der Praktiker, was zur Erläuterung politischer und sittlicher Grundsätze dienen kann; der philosophische Historiker endlich wird aus einem Gesamtbegriff der Geschichte heraus Wesen und Erscheinung der Begebenheiten scheiden und letztere gleichgültig als die leere Hülse des Wesens liegen lassen. Macaulay verfährt anders als diese alle, nämlich wie ein Künstler. „Die besten Gemälde" — sagt er — „und die besten Geschichtswerke sind die, welche uns solche Teile der Wahrheit vorführen, die am nächsten die Wirkung des Ganzen hervorbringen." Das ist in der Tat jene Kunst, die er, wie kein Neuerer außer Johannes von Müller, geübt hat, uns wie durch Zauber mitten in eine vergangene Welt zurückzuversetzen, mit allen Farben lebensvoller Erscheinung vergangene Zeiten und Menschen vor uns vorübergehen zu lassen, von Moment zu Moment uns ihre Interessen, ihre Ansicht der Dinge, ihre Hoffnungen und Befürchtungen mit durchleben zu lassen — uns zu Zeitgenossen zu machen, die durch die Wirkung der Kunst ein Bild wie von gegenwärtig Geschehendem empfangen. In seiner Seele ist kein Zug jenes Geistes, der über dem inneren Zusammenhang der
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großen Gruppen von Ereignissen brütet, welche die Geschichte bilden, der diese auseinanderfallende Masse von Begebenheiten zu einem Wissen zu verknüpfen trachtet, sondern da ist alles klare künstlerische Vergegenwärtigung. Wie er aber in dieser keine Konsequenz scheut, geht aus seiner Erklärung hervor, daß Auswahl, Zurückhalten von Zügen, deren Linienverknüpfung man nicht kennt, ein wesentliches Element der Geschichtsschreibung sei. „Es kommt beständig vor, daß ein Schriftsteller weniger Wahrheit gibt als der andere, bloß weil er mehr Wahrheit erzählt. Es gibt Linien im menschlichen Gesicht und Gegenstände in der Landschaft, welche in solchen Beziehungen zueinander stehen, daß sie entweder alle zusammen in ein Gemälde gebracht oder alle zusammen ausgelassen werden müssen." Es leuchtet ein, wie gefährlich eine Methode ist, welche nicht davon ausgeht, jedes Glied der Geschichte nach dem Zusammenhang zu schätzen, in dem es mit dem Ganzen steht, wie dieselbe eben nur so viel Schritte sicher geht, als eine gesunde allgemeine Meinung sie richtig führt, sobald sie dieselbe verläßt, dem bloßen subjektiven Belieben hingegeben ist. Das zeigen auch historische Auffassungen wie die Wilhelms III. und Friedrichs II. auf das deutlichste. Von beiden wird ein künstlerisches Bild mit bewußter Auslassung einzelner Züge, mit frei individualisierender Durchführung anderer gegeben. Indem er sich aber bei Wilhelm III. an die gesicherte historische Auffassung anschloß, diente jene Freiheit nur zur lebendigsten Individualisierung des großen Mannes. Indem er bei Friedrich II. sich dieser Meinung entgegenstemmte, ohne einen inneren Halt an einem Verständnis des großen historischen Zusammenhangs, in dem derselbe lebte, zu haben, entstand jene Karikatur des großen Königs, die kein Deutscher ohne ein Erröten des Unwillens lesen kann. Für Wilhelms Politik in den englischen Verhältnissen fand er den Schlüssel in dem Verhältnis desselben zu Frankreich, indem er sich der gewöhnlichen Auffassung anschloß; als er die Friedrichs nur aus Böswilligkeit und Ehrgeiz zu erklären wußte, hätte er sich fragen sollen, ob nicht die Vermutung näher liege, daß er sie gar nicht verstanden habe. Die beiden großen Könige hatten nicht den besten Geschmack. Unser literarischer Feinschmecker schenkt ihnen das nicht. Wir hören verhältnismäßig viel von Wilhelms Neigung für Tulpen und holländischen Bau- und Gartenstil, aber diese Züge verrücken doch nicht das ganze Verhältnis des Bildes: bei Friedrich dem Großen unterbricht er sich mitten in der Geschichte der Schlachten, die auf Kolin folgen, um über die Verse des kämpfenden Helden herzufallen; durch den ganzen Essay hindurch bleibt zweifelhaft, ob Friedrich II. ein König war, der auch gelegentlich Verse machte, oder ein Dichter aus der Schule Voltaires, der zuweilen den König spielte. Es kann nicht fehlen, daß auch die Tatsachen gelegentlich unter dieser künstlerischen Freiheit der Behandlung leiden. Doch bildet audi hier die gelehrte Besonnenheit, mit der er dieselben in der englischen Geschichte behandelt, einen scharfen Kontrast zu der — man ist versucht zu sagen, Unwissenheit, die sich in bezug auf die übrige Geschichte kundgibt. Man lese nur die wenigen Seiten in der Abhandlung „Über Geschichtsschreibung", welche den alten Historikern gelten. Da hören wir von Herodot, „er erfindet vom ersten bis zum letzten Kapitel" [11,3]. Von der Form der griechischen Philosophie wird gesagt, die „Philosophen nahmen die Form des Dialogs als die natürliche Art und
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Weise, Kenntnisse mitzuteilen, an" [11,9], da doch diese Form nur nach der Herrschaft der dichterischen und rhetorischen vorübergehend in der sokratischen Schule auftrat. Wir hören von den „kühnen Spekulationen des Sokrates über die physischen Wissenschaften!" Es wird uns versichert: „Alle metaphysischen Entdeckungen aller Philosophen von der Zeit des Sokrates bis zum Einfalle der Nordländer sind nicht an Wichtigkeit mit denen zu vergleichen, welche in England alle fünfzig Jahre seit der Zeit Elisabeths gemacht worden sind" [11,35]. Ja, von dem Volke, das bereits die wesentlichen Prinzipien der Ethik der Mehrzahl nach entdeckt, das für die Politik die komparative Methode gefunden und trotz des geringen Umfangs seiner Erfahrungen so angewandt hat, daß es die Grundformen der Staatsverfassung und tiefgehende Gesetze ihrer Aufeinanderfolge fand — von diesem Volke muß man hören: „in den moralischen Wissenschaften machten sie [die Griechen] kaum irgendwelchen Fortschritt" [11,35]. Man sieht die ruhige Selbstgewißheit des Urteils ist der totalen Unkenntnis völlig ebenbürtig. Nicht weniger aber als durch solche Unrichtigkeiten werden wir zuweilen durch einen belletristisdien Ton der geschichtlichen Darstellung verletzt, der ein gehaltloses Spiel mit dem Gegenstande treibt. So erhalten wir im zweiten Band dieser neuen Schriften einen Aufsatz über Mirabeau von 1832. Nach einer breiten Übersicht über die Reihe der Regierungen seit Ludwig XIV. kommt er zur Revolution, über deren Charakter er in unendlichen Variationen die große aber sehr alte Wahrheit wiederholt, daß die Engländer eine Revolution auf Grund alter Gesetze, die Franzosen eine auf Grund neuer Theorien gemacht hätten, endlich kommt er zu Mirabeau. Zeigt er dessen Charakter nun in seinem Zusammenhange mit den Zuständen des alten Frankreichs, mit dem Charakter der Revolution selber? Nichts weniger als das. Er beginnt mit der Bemerkung, „Herr Dumont erzählt uns, daß Mirabeau gern zusammengesetzte sonderbare Spitznamen erfand. So nannte er Herrn von Lafayette GrandisonCromwell; den König von Preußen Alarich-Cottin; d'Esprin^nil Krispin-Katilina. Wir glauben, daß man Mirabeau selbst nach seiner eigenen Sitte, als Wilkes-Chatham beschreiben könnte" [II, 239f.]. Und nun wird an dies Spiel, das kaum die Schwere eines gelegentlichen Scher?es hat, zu unserem Erstaunen die Charakteristik Mirabeaus angeknüpft. Die Punkte, in denen er Wilkes ähnlich war, die, in denen er Chatham ähnlich war, werden aufgezählt — und diese Karikatur, welche weder in sich selber noch mit irgendeiner anderen Erscheinung der vorher dargestellten Geschichte irgendeinen Zusammenhang hat, wird nun als Mittelpunkt einer sonst mit rhetorischem Ernst behandelten Erzählung hingestellt. Das sind die notwendigen Schattenseiten einer Manier, weldie sich vorherrschend in der poetischen Anschauung anstatt in der wissenschaftlichen Verknüpfung der wesentlichen Erscheinungen bewegt — Schattenseiten, welche, so oft sein künstlerischer Verstand auf dem vertrauten und geliebten Boden Englands sich bewegt, keine sichtbaren sind, welche überhaupt vor seinem wunderbaren Talent malerischer Geschichtsdarstellung fast überall zurücktreten. Es ist schwer zu sagen, worin die Eigentümlichkeiten dieses Talentes liegen. Man hat seine Manier der Erzählung dramatisch genannt; darin liegt wenigstens das am meisten hervortretende Moment des Eindrucks derselben: die Gewalt, mit der wir von Szene zu Szene fortgerissen 2
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werden mit einer immer mehr beschleunigten Geschwindigkeit und erhöhten Bewegung. Sieht man nun die Technik näher an, durch welche dieser eigentümliche Eindruck bewirkt wird, so zeigt sich allerdings eine große Regelmäßigkeit des Verfahrens, die denn auch in den späteren Bänden nicht selten als Eintönigkeit empfunden wird. Der große fortlaufende Zusammenhang der Erzählung wird ausschließlich durch die politischen Kämpfe gebildet; aller übrige Stoff ist entweder in die politischen Kämpfe völlig verwebt oder nur episodisch eingefügt. Die künstlerischen Vorteile dieses Verfahrens fallen in die Augen. Es ist nun eine bestimmte örtlichkeit, es sind bestimmte Parteien, Familien, Stände, welche die Bühne und die agierenden Personen in diesem Drama bilden; es ist der Knoten einer bestimmten Frage, in dem dasselbe verläuft. Der Charakter der englischen Geschichte kommt hierbei dem Historiker überall zustatten. Noch heute bekämpfen sich dieselben Parteien; noch heute hat der Klerus zu ihnen die alte Stellung, haben Adel und Geistlichkeit dieselben hervortretenden Charakterzüge. Viele von den Familien bestehen noch, die in jener Zeit eine hervorragende Rolle spielten. Diese Schlösser, dies Parlamentshaus, der Tower, die City — jedem Engländer schlägt das Herz von so unendlich vielen Erinnerungen aus Vergangenheit und Gegenwart, wenn solche örtlichkeiten nur genannt werden! Was man sonst dem historischen Drama in freier Behandlung der Wirklichkeit gestattet, um die Gemüter der Hörenden mit besonderer Gewalt zu ergreifen, das ist hier im historischen Stoffe selber gegeben: eine außerordentlich nahe Beziehung aller Interessen und Personen, in denen sich die Handlung bewegt, zur Gegenwart. Was aber dem Gegenstand an sich zum dramatischen Charakter fehlt, die Einheit des Verlaufs, das wird durch die Gruppierung des Stoffes erreicht, welche alles sich Zwischendrängende episodisch ausscheidet, leider auch — man muß es gestehen — durch eine verflachende Beschränkung des Stoffs. Der Zusammenhang, der nun so hergestellt ist, hat trotzdem etwas Eintöniges, von der Gestalt Wilhelms III. abgesehen, Armes: was für ein Stoff sind denn diese Verschwörungen, Intrigen, Debatten, Aufstände, diese charakterlosen Staatsmänner, wenn man sie mit den Kämpfen des dreißigjährigen Krieges, mit den Versammlungen der Reformationszeit, dem Gepränge Karls V., Charakteren wie Luther oder Gustav Adolf vergleicht? Da ist nun die Kunst der Behandlung nicht genug zu bewundern, welche mit Hilfe der erwähnten glücklichen Eigenschaften des Stoffes diese Mängel desselben vergessen macht. Zwei Kunstmittel sind es besonders, welche hier sichtbar werden. Einmal, wie er mit einer Art logischer Kraft, welche am meisten an die Art der Engländer zu debattieren erinnert, den Stoff auseinanderlegt. An jedem Punkte sehen wir die Situation aus einer Synthese ihrer verschiedenen Elemente entstehen; es wird nun auseinandergelegt, welche Möglichkeiten diese Elemente bieten; aus passivem Zuschauen werden wir zu spannenden Erwartungen angeregt; die Gründe der verschiedenen Parteien zu jedem wichtigeren Schritt, ihre Ansichten von jedem entscheidenden Ereignisse werden — dies ist ein besonders interessanter Zug — in rednerischer Form gegenübergestellt, so daß wir an die Reden der alten Geschichtsschreiber oft lebhaft erinnert werden. So sind in der Tat die Darstellungen der Stimmung der Hochkirche nach der Thronbesteigung Wilhelms III., oder die An-
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sichten des Whigs über das Recht der Bischöfe, den Eid Wilhelm III. zu verweigern, Meisterstücke solcher historischen Reden, nur in indirekter Redeweise und daher schmuckloser und treuer gehalten. Durch diese längeren und kürzeren Erörterungen wird der Leser zugleich zum Urteil herausgefordert. Durch solche Mittel, Erwartungen herauszufordern, Urteile anzuregen wird nun aber das vorandrängende spannende Element, das überhaupt jeder so streng ineinandergreifenden Erzählung eignet, noch erhöht. Es kann einen leicht, wenn man der Technik, mit der diese Elemente der auseinandergelegten Situationen ineinandergreifen, sich völlig bemächtigt hat, das Gefühl einer unerträglichen Eintönigkeit überkommen, aber den, der die Wirkung einfach hinnimmt, trifft sie unwiderstehlich. Uber das einzelne Element, welches in dem Triebwerk der Handlung ein Glied bilden soll, wird ein das Wesentliche zusammendrängender Satz mitgeteilt. Sofort wird sein Inhalt in einer Reihe von Sätzen ausgebreitet. Aber dieselben laufen nidit undiszipliniert nebeneinander her, sondern sie drängen in gleichförmigen Kolonnen unaufhaltsam vorwärts. Sei es, daß sie sich in parallelen Antithesen ausbreiten oder in einer sehr methodisch voranschreitenden Schlußfolgerung zuspitzen oder in noch verwickeiteren Gruppen sich bewegen; stets drängen sie sich aus dem Hauptsatz mit unwiderstehlicher Gewalt hervor. Dieser Hauptsatz selbst aber bietet nun wiederum das Mittel weiterer Gliederung. Denn aus diesen an der Spitze der einzelnen Absätze stehenden Sätzen, welche sehr scharf und genau in Verhältnis zueinander gesetzt werden, bilden sich dann größere Ganze, und so ist dies Ganze der historischen Erzählung in einer unaufhörlich vorandringenden Bewegung, die den Leser mit sich fortreißt. Das zweite Kunstmittel aber liegt in der beständigen methodischen Hervorhebung der anschaulichen Elemente, welche dieses so scharf durchgebildete Skelett beleben. Hier verdient den ersten Rang die unglaubliche Menge von eingefügten Charakteristiken, welche alle nach einem sehr ähnlichen Schema, doch auch alle mit ähnlicher Kraft und Anschaulichkeit gearbeitet sind. Wo er sich in der Charakteristik weiter ausbreitet, erreicht die Art derselben die äußerste Grenze der Veranschaulichung, welche dem Historiker erlaubt ist. Es ist doch ein Mittel der Charakteristik, welches förmlich an das Lustspiel erinnert, wenn Jakob nie vor uns redend erscheint, ohne daß wir ihn seine kurz herausgestoßenen Antworten mehrmals wiederholen hören, wie er, sehr charakteristisch für seine beschränkte Hartnäckigkeit, zumal wenn er Widerspruch fand, zu tun pflegte. Mit derselben dichterischen Freiheit werden die Entschließungen und Handlungen aller wichtigeren Personen aus ihren gleichförmigen, scharf festgehaltenen Charaktereigentümlichkeiten ins einzelste erklärt. Sehr bezeichnend für diese drastische Manier ist die Art, wie er aus einer Anekdote, die uns Dortmuth und Burnet selber von dem ersten Gespräch gaben, das Wilhelm mit Burnet hatte, als er den Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, eine höchst ergötzliche und charakteristische, freilich doch sehr problematische Szene rekonstruiert. „Sobald Burnet auf der Reise war, eilte er zu dem Prinzen. Ein ergötzliches Zwiegespräch fand zwischen ihnen statt. Burnet ergoß seine Glückwünsche mit wahrer Freude und fragte dann eifrig, was Se. Hoheit für Pläne habe. Militärs sind selten geneigt, über militärische Angelegenheiten mit 2'
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Geistlichen Rats zu pflegen, und Wilhelm betrachtete die Einmischung nicht berufsmäßiger Ratgeber in auf den Krieg bezüglichen Fragen selbst mit noch mehr Widerwillen, als -Soldaten bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich empfinden. Doch er war in diesem Augenblicke bei vortrefflicher Laune, und statt sein Mißfallen durch einen kurzen und schneidenden Beweis zu bezeigen, streckte er gnädig seine Hand aus und beantwortete die Frage seines Kaplans durch eine andre Frage: ,Gut, Doktor, was denken Sie nun von der Vorherbestimmung?' Die Zurückweisung war so zart, daß Burnet, der nicht sehr fein war, sie nicht fühlte. E r antwortete mit großer Wärme, daß niemals die merkwürdige Weise vergessen werde, in welcher die Vorsehung ihre Unternehmungen begünstigt habe." An solchen Stellen glaubt man allerdings, es mit einer Fortsetzung von Walter Scotts historischen Romanen zu tun zu haben. Zu diesen gehört auch die anschauliche Erklärung des Gesprächs, das der tiefkluge Halifax mit Burnet über die vermutliche Flucht Jakobs hatte, um ihm die Gedanken des Prätendenten über diesen Gegenstand zu entlocken. Man weiß, daß es in Poesie und Geschichte ein ähnliches Interesse hat, wie wir es im Leben empfinden, bei jedem Auftreten einer Person ihre eigentümlichen Charakterzüge in neuem Beweis vor Augen zu haben. Macaulay versäumt nie, solche Züge in jedes Auftreten einer Hauptperson zu legen. Es geschieht nie, daß Halifax auftritt, ohne daß wir in diesen feinen planmachenden, ränkevollen Geist hineinsähen; nie erscheint Burnet, ohne daß zugleich das eigentümliche Gemisch plumper und prahlerischer Geschwätzigkeit mit dem scharfsichtigen, tiefgelehrten und beredten Wesen, das ihm eigen war, uns vor Augen stände: und nun gar erst Wilhelm I I I . , Jakob und Anna! Keine Handlung wird von ihnen schlichtweg erzählt, sondern alle werden mit stehenden, scharf und lebensvoll gefaßten Haupteigentümlichkeiten stets von neuem durchdrungen und wie gesättigt. Daher dieser volle, lebenswarme Ton, diese Breite der Pinselführung, wenn der Vergleich erlaubt ist, die uns an die lebendige Farbentiefe Tizians und Veroneses erinnern. Es ist interessant, diese Art der Charakteristik mit der Rankes zu vergleichen. Es kann kein Zweifel sein, daß diesen bis jetzt kein anderer deutscher Geschichtsschreiber — von Biographien reden wir nicht — an Kunst der Charakteristik erreicht hat; aber wie völlig anders ist seine Methode, im Leser ein Bild seiner Helden hervorzubringen! E r liebt es, durch scharf hervortretende Einzelzüge zu charakterisieren. Anekdotenhafte Züge, eigentümliche Äußerungen erscheinen an Stellen, in denen sie eine tiefe Perspektive eröffnen; mitten in einer abstrakt gehaltenen Erzählung üben sie auf die gestaltende Phantasie des Lesers einen besonderen Reiz; und so bleiben die Gestalten in historischer Entfernung; nur einzelne scharfe Umrisse bezeichnen die wesentlichen Züge derselben. Eine Manier, wie dazu gebildet, die Charaktere Karls V., Leos X . zu zeichnen. Die diskrete Zeichnung teilt den Gestalten etwas Vornehmes, Feines, Unergründliches mit. In breiteren epischen Strichen zeichnet Macaulay: und so erhalten seine Menschen lebendige sinnliche Kraft. Es gibt in Wilhelm I I I . gewisse Züge, welche Rankes feiner Geist besser zur Anschauung bringen würde: aber das niederländische Element in diesem Charakter, die schlichte Derbheit, welche die Literatur nicht liebt, nur widerwillig H o f hält, allein im Lager und im engsten Kreise der Seinen, aber da rückhaltlos, mitteilsam und fröhlich ist, seine holländi-
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sehen Bauten und sein holländischer Geschmack, die holländische Zähigkeit seines Charakters — diese Seite seiner N a t u r zeichnet Macaulay unübertrefflich. Überhaupt liegt es in seiner Manier, daß ihm das Derbe am besten gelingt; keinen Charakter beherrscht und vergegenwärtigt seine Zeichnung so als den Burnets. Indem er seine Charakteristik nicht an einzelnen Stellen hervortreten läßt, sondern durch alle Begebenheiten, in denen eine Person auftritt, gleichmäßig auf das anschaulichste durchführt; sogar mit jener Hinneigung zu stehenden Zügen, die dem epischen Dichter eigentümlich ist, treten seine Gestalten von selber in die vertraulichste Nähe. Wie er damit begann, Cäsar auf dem Forum umherschlendernd und Alcibiades in etwas zweifelhafter Abendgesellschaft darzustellen, so hat er diese private Seite seiner Helden mit besonderer Virtuosität dargestellt. Es ist dies ein Punkt, in dem er sich mit einem englischen Zeitgenossen, dessen historische Grundansicht der seinigen ebensosehr entgegengesetzt ist, als seine künstlerische Manier zuweilen Verwandtschaft zeigt, nahe berührt — mitCarlyle. Von selbst muß sich bei solcher Behandlung der Charakteristik überhaupt das ganze Verhältnis des Historikers zu seinen Helden ändern. Man lebt mit ihnen; man steht mit ihnen auf vertrautem Fuße, auf du und du sozusagen; man kennt ihre gelegentlichen Schwachheiten, ihre Abenteuer, ihre Haushaltung und ihre Einnahmen: was nicht alles sonst noch! Man verkehrt mit ihnen als Gleicher mit Gleichen, ja man steht gelegentlich über ihnen. So berechtigt dies Element ist, die Gefahr, die in seinem allzustarken Hervortreten liegt, ist augenscheinlich. Der Kammerdiener glaubt seinen Helden zu durchschauen, während er nur die Garderobe desselben kennt. Oberall ist die Erklärung jeder Handlungsweise bei der H a n d : kein Geheimnis behält sich die Größe vor, der Historiker liest in ihrer Seele, wie in der dieses oder jenes guten Menschen, der von einem halben Dutzend einfacher Motive bewegt wird. U m diese historische Anschauungsweise auf eine Formel zu bringen: es ist ein historischer Rationalismus, der alle Charaktere, wofern die Daten zureichend sind, als völlig durchsichtig für sich ansieht und behandelt. Wir werden die Grundlagen desselben noch näher berühren: hier nur das Wesentliche, er beruht auf einer Übertreibung des Satzes von der wesentlichen Gleichheit der Menschen zu allen Zeiten und dann auf einem verhängnisvollen Mangel an Sinn für die Mysterien der menschlichen Natur, dafür, wie weit das innerste Wesen des Menschen hinausragt über seine politische Rolle, den Gegensatz der Parteien, seine Kleider, seinen Stil und seine Häuslichkeit. Carlyles tiefes Gefühl für die Individualität und den über die geschichtliche Situation hinausgreifenden Zusammenhang des Menschen mit dem Innern der Weltgeschichte als einer Offenbarung Gottes, dieser deutsche Zug in seiner N a t u r , der durch das Studium der deutschen individualistischen Dichter und Philosophen genährt ist, hat ihn vor diesen Anschauungen der genrehaften realistischen Manier bewahrt, der auch er weit mehr als billig huldigt. Macaulay dagegen — das kann nicht geleugnet werden — ist diesen Konsequenzen seiner Manier verfallen. Wir glauben in der Tat, daß er in Lord Clives, in Sunderlands, in J a k o b s Seele gelesen hat, daß er alle ihre Impulse übersieht. Aber mag er immerhin alle Farben des Rokoko mischen, wie kein Historiker vor ihm, mit jenem ganzen glänzenden Sinn für Kostüm und Farbe, der ihm eigen ist, mag er uns
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Friedrichs Heldengestalt in seinem einen abgetragenen Rock, seine Windspiele, seine Dose und seinen Krückenstock, die Wachtsäle von Sanssouci und seine schmutzige Wäsche wie kein deutscher Geschichtsschreiber zu tun Lust hatte, zeigen; von der welthistorischen Bedeutung desselben, der gegenüber auch seine Verse nur Kostüm der Zeit sind, hat er keine Anschauung. So befindet sich audi in den neu veröffentlichten Essays eine sehr zierliche und durchgearbeitete Skizze über Dante, den er ja bekanntlich oft und gern berührt hat. Sie ist voll der interessantesten Bemerkungen über die künstlerische Form der göttlichen Komödie, aber von der eigentümlichen Weltanschauung derselben, welche sie zum Höhepunkt der romanischen Poesie des Mittelalters macht, streift er nur die Oberfläche. Und verhält es sich mit dem neu mitgeteilten Essay über Mirabeau irgend anders? Man kann Macaulays Manier der Charakteristik nicht berühren, ohne seines Verdienstes um die Durchbildung der Kunstform des Essays zu gedenken. Es gibt Kritiker, welche seine Essays für seine bedeutendste Leistung halten. Das hieße in der Tat, ihn unter das bekannte Witzwort bringen: „Er ist in seiner Gattung groß, nur daß seine Gattung klein ist." Man sollte doch solche Essays mit durchgebildeter Geschichtsschreibung gar nicht vergleichen. Alles, was die Tiefe des Geschichtsschreibers ausmacht, der freie Blick in den großen Zusammenhang der Ereignisse, der nüchterne und doch der Tiefe der Dinge überall gewachsene Einblick in die innere Verzweigung der entscheidenden Begebenheiten — alles das berührt der Essayist nicht. Er schreibt weder für den Politiker noch für den Philosophen, er schreibt überhaupt nicht für jene höchste Art der Belehrung, die aus der strengen, umfassenden Einsicht in ein größeres System zusammenhängender Ereignisse stammt. Indem er an irgendeinem Punkte unserer Kenntnisse einsetzt und Personen und Zustände in auschaulichem lebhaft beleuchteten Gemälde darstellt, befriedigt er das Bedürfnis unserer Phantasie nach lebendigen Bildern vergangener Zeiten, ein Bedürfnis, das zwischen poetischem und historischem steht. Was nun aus dieser französischen Gattung gemacht werden könne, hat Macaulay gezeigt in Essays, wie über Warren Hastings, Lord Clive, Hampden — wer könnte alle die kleinen Meisterstücke aufzeichnen? Er hat in ihnen eine Gattung der charakterisierenden Biographie geschaffen, in der er lange unerreicht bleiben wird. Seine erste durchschlagende Arbeit war ein solches Essay, das über Milton (1825). Ähnliche Charakteristiken aus der englischen Literaturgeschichte hat er dann in den folgenden Jahren, besonders 1830 und 1831, eine ganze Reihe gegeben. So über Dryden, über John Bunyan, über Samuel Johnson, Lord Byron, noch später über Addison und über die Lustspiel-Dichter der Restaurationszeit. Eine andere Reihe behandelt politische Männer; wem wären jene Schilderungen des parlamentarischen Lebens unbekannt? Jene Kenntnis der Technik, die er sich durch vieljährige Tätigkeit erwarb, jener Enthusiasmus für parlamentarische Form, mit dem er bereits als Student eifriger Teilnehmer eines parlamentarisch debattierenden Klubs war, seine politischen Anschauungen, wie seine stilistischen und logischen Neigungen vereinigen sich, solche vollendeten parlamentarischen Charakteristiken hervorzubringen, wie die des Grafen von Chatham ist. Auch die in dieser neuen Folge mitgeteilte Charakteristik seines Sohnes enthält wieder die anschaulichsten und hinreißendsten Schilde-
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rungen aus dem Innern des Parlaments. Trotzdem darf man kaum zweifeln, daß die langjährige Bewegung in der einen engen Kunstform des Essays die Einseitigkeit seiner historischen Richtung verstärkt hatte. Ihre Stärken wurden die seinen; aber leider ebenso ihre Schwächen. Dem wahren Historiker ist diese Form, wie die der Biographie für jede kräftigere Bewegung seiner Gedanken zu eng: der historische Zusammenhang verschwindet, denn in solche Formen läßt er sich nicht fassen. Aber kehren wir wieder zu unserer Analyse der künstlerischen Form der „Englischen Geschichte" zurück. Wir sahen, das erste Element, durch welches er jene einzige historische Anschaulichkeit erreicht, liegt in der Einflechtung einer großen Zahl von Charakteristiken und in der Art, wie er die Charaktere der Hauptpersonen behandelt. Die Eigentümlichkeit dieser Art spricht er schon in der Abhandlung über Geschichtsschreibung treffend aus. „Unter Charakterzeichnung" — sagt er, indem er die historische Kunst schildert :— „verstehen wir nicht den Gebrauch, epigrammatische Kataloge guter und schlechter Eigenschaften aufzuzählen und sie an die Namen hervorragender Männer anzuhängen. In der Tat hat dies kein Schriftsteller mit größerem Geschicke getan als Tacitus; aber dies ist nicht sein ihm eigentümlicher Ruhm. Alle Personen, welche einen großen Raum in seinen Werken einnehmen, haben eine Individualität des Charakters, welche alle ihre Handlungen und Worte zu durchdringen scheint. Wir kennen sie, als ob wir mit ihnen gelebt hätten." Ein anderes Element seiner Anschaulichkeit liegt in der Art, wie er interessante Szenen in den Vordergrund schiebt; mögen Parlamentsdebatten, glänzende Aufzüge, Schlachten oder Verschwörungen ihm auf seinem Wege begegnen: er behandelt alles mit derselben Ausführlichkeit. Nicht selten geschieht es, daß Begebenheiten fast ohne historische Bedeutung, wie einige der Verschwörungen, ihn viele Seiten hindurch fesseln, während er wichtige Veränderungen des inneren Staatslebens mit flüchtigen Worten abfertigt. Aber glänzendere Bilder können auch nicht gedacht werden, als die der Schlacht an der Boyne oder der Krönung Wilhelms und Marias. Bei solchen Gelegenheiten kommt ihm zugute, was auch den venetianischen Malern oder Walter Scott eigen ist, daß ihm die Kleider und das Kostüm nicht das Letzte am Menschen sind. Wie dem auch sei, solche Schilderungen werden mit ihren vollklingenden Satzreihen so lange dauern, als die englische Sprache dauert. Am treuesten waltet nun aber diese Anschaulichkeit in jenen einzigen Episoden der „Englischen Geschichte", die den Verlauf der zuweilen einförmigen englischen Parteikämpfe auf das angenehmste unterbrechen. Dahin gehört seine Schilderung der Konferenzen im Haag, der Feldzüge in den Niederlanden, dahin gehören besonders jene Darstellungen der Bürgerkriege in Schottland. In den letzteren zumal sind wir ganz im Gebiete des großen englischen Romandichters; wir erkennen in Macaulays Darstellungsart überall die Spuren seiner genialen Technik. So versetzt uns auch Macaulay gern dadurch in den scharfen Gegensatz der Zeiten, daß er die Schönheit der wildromantischen Hügel Schottlands, die Scharen fröhlicher Reisenden, die sie durchwandern, mit dem Chaos von Dickicht und Sümpfen vergleicht, das sie damals bedeckte und mit der Mischung von Grausen und Gleichgültigkeit, in der die wenigen Engländer jener Zeit von diesen Felsen reden, die sie zu betreten
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wagten. Vor allem aber sind nun aus diesen Episoden jene Schilderungen der englischen Zustände hervorzuheben, dergleichen keine andere Literatur aufzuweisen hat. Am Ende der vielerwähnten Abhandlung „Über Geschichtsschreibung" gibt Macaulay eine Skizze englischer Geschichte in seinem Sinne. Er beschreibt, wie da die mittelalterliche Zeit durch Romanzen, Balladen und Chroniken eine reiche Kolorierung erhalten würde. Man würde die Gesellschaft vom Höchsten bis zum Niedrigsten sehen — von dem königlichen Gewände bis zur Höhle des Verbrechers; vom Thron des Legaten bis zu den armseligen Ergötzungen des Bettelmönchs. Wallfahrer, Barden, Kreuzfahrer, das stattliche Kloster mit den guten Herzstärkungen im Speisesaale und der hohen Messe in der Kapelle, das Gutsherrnhaus mit seinem Jagdvergnügen und Falkenziehen, das Turnier mit den Herolden und Damen, den Trompeten und dem goldenen Gewände würde der Darstellung Wahrheit und Leben verleihen. Er schildert dann weiter, wie das Wiederaufleben der Wissenschaften überall in seinen einzelnen Erscheinungen sittengeschichtlich aufgefaßt werden müsse, ebenso die Reformation als ein sittlicher Krieg, der in jeder Familie wütete. Dann wieder zu Elisabeths Zeiten würden wir sehen, wie die Künste gepflegt, Reichtum aufgehäuft, die Bequemlichkeiten des Lebens erhöht wurden. Wir würden die Burgen, wo Edle, selbst unsicher, Unsicherheit um sich verbreiten, allmählich den Hallen friedlichen Reichtums, den Galerien von Longleat und den stattlichen Zinnen von Burleigh weichen sehen. Wir würden sehen, wie Städte sich ausdehnten, Wüsten angebaut, Fischerdörfer in reiche Häfen verwandelt, das Mahl des Bauern verbessert und seine Hütte bequemer eingerichtet wurde. Endlich dann kämen Schilderungen der sittengeschichtlichen Erscheinung der verschiedenen Parteien. Die Strenge des presbyterianischen Sabbats in der Altstadt, die Ausschweifungen der Independentenprediger im Lager, das nämliche Gewand, der strenge Ausdruck, die armseligen Bedenklichkeiten, der gerührte Akzent, die albernen Namen und Redensarten, welche die Puritaner auszeichneten, die Kraft, die Politik, der öffentliche Geist, welcher unter diesen häßlichen Verkleidungen hervorsah, die Träume des rasenden Verkündigers des fünften Reichs, die fast ebenso wilden Träume des philosophischen Republikaners. Ein so großartiger Plan kam später nicht zur Ausführung. Aber in dem engeren Rahmen seiner englischen Geschichte hat Macaulay dieselbe Grundansicht der Geschichte wirklich ausgeführt. Es ist bezeichnend, daß die Engländer zuerst darauf gedrungen haben, die Geschichte aus einer Fürstenhistorie zu einer Darstellung des fortschreitenden Volkslebens zu machen. Aus diesem Streben nun sind jene episodischen Schilderungen der englischen Zustände und Sitten hervorgegangen. Es sind Bruchstücke einer Geschichte der Zivilisation, welche in dieselbe verwebt sind. Der Scharfsinn, durch welchen hier aus spärlichen und zufälligen Notizen für eine so weit zurückliegende Zeit wie 1685 eine mit Zahlen belegte Übersicht über die Lage der Arbeiter in den verschiedensten Zweigen gewonnen wird, die Anschaulichkeit, mit der wir die Hilfsquellen des Landes, seine anwachsenden Städte, seinen eben damals sich unter dem Einfluß rationeller Behandlung hebenden Landbau — jedes von den vielverzweigten Systemen des Verkehrs, deren Ineinandergreifen unser tägliches Leben bestimmt, Buchhändler- und Zeitungswesen, Reisemittel, Polizeiwesen usw. über-
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blicken: das alles kann nicht zuviel bewundert werden. Man darf nicht leugnen, daß sich mit so großen Vorzügen einige Mängel verbinden. Weder in das Verwaltungswesen oder den Zustand der Gesetzgebung, noch in die wissenschaftliche Atmosphäre der Gebildeten oder die Anschauungen des Volkes erhalten wir durch diese farbenvollen Schilderungen einen tieferen Einblick. Es ist der Fortschritt der materiellen Interessen, der Zivilisation, um den es sich für den enthusiastischen Verehrer Bacons wesentlich handelt bei der Frage nach dem Fortschritt der Kultur. Diese etwa erscheinen uns als die wesentlichen Züge der historischen Form, welche sich Macaulay gebildet hat. Sehen wir recht, so bildet die Verfassungsgeschichte den durchgehenden Faden, in den alles übrige episodisch verwebt ist. Es fragt sich demgemäß, welches die wesentlichen Ideen sind, die seiner Behandlung der Verfassungsgeschichte zugrunde liegen. Man wird nicht erwarten, sie anderswoher als aus der Betrachtung der englischen Verfassungsgeschichte entnommen zu sehen. Denn weder im Guten noch im Bösen hat der Engländer eine Ahnung von der Objektivität des universalhistorischen Standpunktes, welche zugleich der Ruhm und die Schwäche unserer deutschen Geschichtsschreibung ist, wenigstens war. Der Ruhm: denn wo der Blick, der höchsten historischen Forderung zufolge, auf die Universalgeschichte gerichtet ist, erhält auch alles Einheimische und Liebste seinen Ort inmitten eines ganzen Systems von Verfassungsformen und Lebensweisen, eines großartigen Zusammenhangs, nach welchem die Ausbildung dieser verschiedenen Formen verläuft. Die Schwäche: denn auch mitten in diesem Ozean, in dem die Völker wie Wogen auf- und abzurollen scheinen, sollte der Historiker nicht parteilos, ganz Auge und ganz Bewunderung des Schauspiels, dastehen; nach einem Ziele muß sein Blick unaufhörlich gerichtet sein, wie das Auge des Seefahrers nach der Küste; und dies Ziel ergibt sich ihm aus dem gesunden und kraftvollen Leben in und mit seinem Volke, den Endzielen und Gedankenkreisen, die den Charakter desselben ausmachen. Man sieht, diese patriotische Richtung und jene universalhistorische schließen sich nicht schlechterdings aus. Besser als alle Theorie zeigt die Möglichkeit solcher Vereinigung der bedeutendste universalhistorische Versuch, der seit Johannes von Müllers „Allgemeiner Geschichte" hervorgetreten ist, die „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" von Gervinus. Dennoch beschränken sich diese beiden Züge in aller Geschichtsschreibung ohne Frage jedesmal gegenseitig. So trägt Gervinus' Konstruktion sehr deutlich die Farbe seines Volkes, ja des politischen Moments, in dem sie entstand. Diese einseitige Verehrung aller dezentralisierenden Elemente, welcher die amerikanische Verfassung der vorläufige Höhepunkt des germanischen Wesens ist, möchte schon jetzt nicht mehr, wie damals, den ganzen politischen Sinn unserer Nation ausfüllen. So trägt auf der anderen Seite die „Universalgeschichte" von Johannes von Müller mit ihrer Verehrung aller Kraft und alles Genies, welche je die Welt beherrscht haben, zu wenig nationale Bestimmtheit des historischen Ideals in sich. Auf welchem Punkte dieser Linie zwischen nationaler und Universalhistorie nun auch jeder einzelne Historiker stehe: diese Einmischung des universalhistorischen Standpunktes macht den eigentümlichen Charakter unserer deutschen Geschichtsschreibung aus. Und dieser Charakter hängt
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genau zusammen, ja ist eins mit dem beschaulichen, auf die Gesetze des geschichtlichen Verlaufs gerichteten Zuge unserer historischen Auffassung, der freilich jetzt auch unter den beiden andern Kulturvölkern wirksam zu werden beginnt. Daß wir so sind, lag in den Geschicken unseres Volkes. Alle Brücken, welche die anderen Völker aus der Gegenwart in die Vergangenheit führen, sind abgebrochen: was ist uns unsere Kaisergeschichte, was sind uns unsere Verfassungsformen des Mittelalters? So trat die Aufgabe, sich in die Vergangenheit zu versetzen mit einer ganz anderen Tiefe an uns heran, als an die Völker, welche in der Vergangenheit überall noch die Gegenwart schauen. Daß wir so sind in unserer historischen Anschauung, lag zugleich daran, daß wir bisher kein allgemeines politisches Leben hatten, daß demzufolge die Geschichte bei uns ausschließlich in den Händen der Fachgelehrsamkeit war. Völlig andere Verhältnisse schufen in England eine völlig andere Geschichtsschreibung. Politische Übung und Geschichtsschreibung gehen dort H a n d in H a n d : eine stetige Reihe von Verfassungsentwicklungen verknüpft die Zeiten der Normannen-Eroberungen und des Johann ohne Land mit der gegenwärtigen: und infolge dieser Tätigkeit führt die rechtliche Erörterung überall zu den Präzedenzfällen von alten Zeiten ab, die Geschidite enthält das Rüstzeug für den Kampf der Parteien. Die hervortretende Tugend dieser Geschichtsschreibung ist Gesundheit, Männlichkeit. Diese Männer sind in den Geschäften und dem Parlament so gut zu Hause, als in Bibliotheken und Archiven. So haben Gibbon, Hume, Mackintosh, Hallam geschrieben. Und die Geschichte ihres Vaterlandes war für sie alle Mittelpunkt ihrer Studien, den einzigen, Gibbon, ausgenommen, den der Einfluß der französischen Geschichtsschreiber in andere Fragen hineinwarf. Keiner hat ausschließlicher, glücklicher dieses rein englische Interesse, diese englische Manier der Historie repräsentiert, als Macaulay. Das einzige mag man sagen: seine Manier ist nicht so völlig frei von Koketterie und Künstelei, als der männliche und ungekünstelte Stil von Hallam oder Mackintosh; die langjährige, frühbegonnene literarische Beschäftigung hat ihn an Reizmittel in der guten Prosa gewöhnt, die ihre schlichte Kraft zuweilen beeinträchtigen. Aber ausschließlicher wurzeln bei keinem alle politischen Ideen und Erfahrungen im Boden seiner Heimat; mehr zur Gegenwart hat keiner vergangene Zeiten gemacht. Seine politischen Anschauungen, seine praktischen Tendenzen begegnen sich hierin mit dem oben geschilderten realistischen Zuge der Darstellung. Seine unglaubliche Popularität beruht auf diesem rein nationalen Charakter seiner Geschichtsschreibung. Es ist ganz diesem Charakter gemäß, daß er Englands Geschichte isoliert, von den allgemeinen Bezügen, welche die europäischen Staaten verbinden, ablöst. Kein anderer historischer Stoff erlaubt das so sehr als die Geschichte dieses Inselstaates, und er hat von dieser Erlaubnis den umfassendsten Gebrauch gemacht. Auch hier ist die Vergleichung mit Ranke interessant. Gleich an die Spitze auch dieser Geschichte, wie in absichtlichem Gegensatz, stellt der Deutsche den umfassenden Gedanken, welcher seine Geschichtsschreibung beherrscht: die Entstehung einer Kulturwelt in ganz neuen Sitzen aus der Verschmelzung der romanisch-christlichen Bildung mit der germanischen Welt. Und diese europäische Staatengruppe bleibt
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sein Gesichtspunkt. Wie das Gleichgewicht dieser so vielartigen Staaten der Lieblingsgedanke der deutschen Politik nach dem französischen Kriege war, so ist er auch der herrschende Gedanke für diese Geschichtsschreibung, welche in so vieler Beziehung die deutsche Bildung aus jener Zeit charakterisiert. Es ergibt sich aus diesem Unterschiede, daß der englische Historiker überall isolierte von innen geschehende Entwicklung sieht, der Deutsche überall den Fäden des Zusammenhangs, die auch über das Meer sich hinziehen, nachgeht. Hätten wir eine Darstellung Wilhelms III. von Ranke, so würde dieser Gegensatz in seiner größten Schärfe hervortreten; es würde dargestellt werden, wie die Engländer in einer Periode innerer Haltungslosigkeit ihrer Politiker diesem Manne ihre Freiheit wesentlich verdanken; es würde ein ganz anderes Verhältnis zwischen der Bedeutung des damaligen Parlaments und Wilhelms, als Macaulay uns gibt, sich herausstellen. Es ist natürlich, daß dieser Unterschied des Gesichtspunktes in der Beurteilung des Zeitalters, in welchem England mit dem Kontinent in staatlicher Einheit war, ebenfalls sehr schlagend hervortritt. Schon vorher verfolgt Ranke alle Spuren einer Gemeinsamkeit der Kultur und der Einflüsse des Kontinents: die mit der altklassischen Bildung zusammenhängende irisch-schotische Schule, jene fränkische Fürstentochter, welche die Bekehrung der Angelsachsen anregte, Egbert, wie er vom H o f e Karls Einflüsse von dessen fortgeschrittener Regierungs- und Kriegsweise mitbrachte und so imstande war, den geeinigten Franken eine einige Anglia gegenüberzustellen, wie die Deutschen jene lange und entscheidende Ruhe vor den Dänen verursachten. Die Verbindung mit Frankreich erscheint ihm dann höchst wichtig. Wie Deutschland ohne seine Verbindung mit Italien, so würde England ohne die Verbindung mit Frankreich nicht geworden sein, was es geworden ist; vor allem würde das große Völkersystem des Kontinents, dessen Leben die Geschichte jedes einzelnen Volkes durchzieht und bestimmt, sich nicht gebildet haben. Erst auf diesem Grunde sollte unter stetem Kampf die Fortbildung der Nationalitäten nach und nach erfolgen! Diese Seite der Sache tritt bei Macaulay zurück; die Aufhebung dieser Verbindung ist es, die er nicht genug zu preisen weiß als die Grundlage der Freiheit Englands, weil sie das Motiv dazu gewesen ist, daß in England kein stehendes Heer entstand. Das führt auf einen weiteren Punkt, auf die Betrachtung der inneren Verfassungsverhältnisse. Entschädigt denn vielleicht hier Macaulay durch Tiefe der Behandlung, was ihm an jener Weite des Blidces abgeht? Nichts weniger als das. Und der Grund ist wieder wesentlich derselbe. Schon Aristoteles hat gezeigt, wie alle allgemeinen Gedanken über Formen und Verlauf der Verfassungen nur aus der Vergleidiung entspringen. Und mehr noch: es bedarf einer solchen Vergleichung schon, um nur die Grenze und damit die Individualität einer einzigen Verfassungsform zu erkennen. Seit Montesquieu haben daher stets die Ausländer diese Verfassung tiefer gefaßt, als die Engländer selbst, und das Buch von Gneist liefert auch für unsere Tage einen neuen Beleg dazu. Es sind zwei sehr nahe zusammenhängende politische Gedanken, welche die Eigentümlichkeit der englischen Verfassung bei Macaulay erfassen sollen. Beide sind
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rasche Antithesen gegen die Verfassungsgeschichte Frankreichs. England hatte eine erhaltende Revolution — mit diesem Gedanken schließt auch die Darstellung der Revolution in der „Englischen Geschichte" — und bedurfte so keiner zerstörenden. Denn — derselbe Gedanke anders angewandt — der vollkommenste Gesetzgeber ist eine richtige Vermittlung zwischen dem bloßen Manne der Theorie, der nichts zu sehen vermag als allgemeine Prinzipien, und dem bloßen Geschäftsmann, der nichts zu sehen vermag als individuelle Umstände. Die Welt sei an Leuten letzterer Art nur zu fruchtbar in den letzten achtzig Jahren gewesen; dagegen charakterisiere das Uberwiegen des anderen Elementes die englische Verfassung. „Nichts von Symmetrie und viel von Dienlichkeit zu halten, niemals eine Anomalie bloß deshalb zu beseitigen, weil sie Anomalie ist, niemals zu neuern, als nur um irgendeine Beschwerde los zu werden, niemals einen Satz aufzustellen, der sich weiter erstreckte, als auf den besonderen Fall, für welchen Vorkehrungen zu treffen nötig ist — das sind die Regeln, welche von dem Zeitalter Johanns bis zu dem Zeitalter Viktorias durchgängig die Beratungen unserer Parlamente geleitet haben." Man sieht, das heißt genau dieselbe Methode in der Gesetzgebung anempfehlen, die er in der Philosophie so eifrig zu verteidigen pflegt. Aber ein Staatswesen ist mit dergleichen Allgemeinheiten nicht erfaßt. Um tiefer zu dringen, daran hindert ihn auch sein Kultus des Parlaments. Allen Grund der Freiheiten Englands sieht er in diesem, während es selber doch nur der Erfolg freier Sitte und Institution ist. Aber er gelangt nirgends zu jenen ersten Elementen des englischen Staatslebens, welche noch neuerlich Gneist so scharfsichtig offengelegt hat; er verfolgt nirgends ihre langsamen aber entscheidenden Veränderungen; er ist der Epiker der Verfassungsgeschichte, nicht ihr Historiker. Seine Freude ist die Erscheinung der Kämpfe um die Freiheit, nicht das neue, aber unaufhaltsame Hervorwachsen derselben aus Sitte und Institution. Verfassungsgeschichte heißt ihm daher in vieler Beziehung Geschichte der Parteien. Auf diesen Punkt hat er seit seiner Schrift über Verfassungsgeschichte ein besonderes Augenmerk gerichtet. Uns würde diese Betrachtung zu tief in seine Auffassung der verschiedenen Parteien nach ihrer politischen Bedeutung hinein, — von den Schriften, an die wir unsere Erörterungen knüpften, ganz abführen. Unsere Aufgabe war nur, an Hand seiner älteren Schriften nachzuweisen, aus welchen Elementen der eigentümliche Charakter seiner Geschichtsschreibung erwuchs, wie ihn die „Englische Geschichte" zeigt.
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Zur Geschichte der deutschen Kaiserzeit Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit. 1. Band: Gründung des Kaisertums, 2. Band: Blüte des Kaisertums. 2. Auflage, Braunschweig 1859/60. I. Das Verhältnis dieser Kaisergeschichte zu den bisherigen Forschungen auf diesem Gebiete. Es ist der umfassende Plan dieses Werkes, eine Geschichte des deutschen Reichs während der Zeit seines europäischen Übergewichts, also von der Gründung des deutschen Königtums und des römischen Kaisertums deutscher Nation ab bis zum Zwischenreiche und der Wiederaufrichtung einer neuen Form des deutschen Imperiums in ausführlicher Erzählung für die deutsche Nation darzustellen. Und ehe noch dieser Plan bis zur Hälfte ausgeführt ist — die Erzählung geht bis zum Jahre 1056 — erscheinen die beiden vollendeten Bände des Werks bereits zum zweiten Male: der beste Beweis, daß es den umfassenden Leserkreis, für den jede Nationalgeschichte bestimmt ist, gefunden hat. Wie lange vermißte man nicht auch eine deutsche Kaisergeschichte! Und doch konnte, wer mit dem Gang dieser Studien vertraut ist, kaum früher eine solche erwarten. Sie ist der endlich eingeerntete Ertrag lange und sorgfältig nicht bloß vom Verfasser, sondern fast kann man sagen, von einer ganzen Epoche unserer Geschichtsforschung mit Vorliebe gepflegter Studien. Überall ist es interessant zu verfolgen, aus wie viel Fäden wissenschaftlicher und politischer Entwicklungen das, was man historische Anschauung nennt, erwächst. Nirgends so sehr, als wenn es sich um das Bild so verwickelter fremdartiger Verhältnisse handelt, wie sie das frühere Mittelalter zeigt. Die Vergegenwärtigung der römischen Geschichte war weit einfacher und seit langem durch Historiker, Juristen und Philologen vorbereitet. Die Natur des modernen Staates brachte es mit sich, daß uns das römische Imperium verständlicher war als das deutsche; die Weise unserer Bildung war Ursache, daß wir uns den Anschauungen und Verhältnissen der Römerzeit verwandter fühlten, als denen unserer eigenen Vorzeit. Der Zusammenhang mit unserer Vergangenheit schien uns verloren. Das elende Schattenbild des deutschen Reichs verdeckte die Zeit, in der es eine Wahrheit war; die ohnmächtigen und dem modernen Staate feindlichen Ansprüche des alternden Papsttums machten die Kirche in den Zeiten Ottos I. und Heinrichs II. verhaßt, in denen sie doch die wichtigste Stütze der kaiserlichen Macht gewesen ist. In der Kunst herrschte das moderne Hellenentum, in der Theologie geschichtsloser Rationalismus. Was sind aber ohne die Analogien und Zusammenhänge mit der Gegenwart alle Erzählungen der Vergangenheit anderes als beziehungslose Bilder, mit gelehrter Genauigkeit oder im besten Falle mit poetischer Anschaulichkeit, wie sie Johannes von Müller zu Gebote stand, zusammengestellt? Die allgemeine wissenschaftliche und politische Bewegung mußte hier erst der Historie den Boden bereiten. Die romantische Schule — wenn man anders Schule nennen kann, was die junge Literatur und Wissenschaft von Jahrzehnten fast völlig beherrschte — machte hiermit den Anfang.
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Als den ältesten Historiker dieser Schule darf man wohl Woltmann betrachten, als das erste Organ dieser geschichtlichen Richtung die „Zeitschrift für Politik und Geschichte", die im Anfang dieses Jahrhunderts hier in Berlin erschien. Es ist jetzt noch von großem Interesse, die verschiedenen Versuche einer geschichtlichen Konstruktion des Mittelalters, die in dieser Zeitschrift in immer neuen Formen wieder auftauchen, zu überblicken. Bekannter sind die geschichtlichen Vorlesungen Friedrich Schlegels, dessen beweglicher Geist einmal auch dazu die Bestimmung in sich fühlte, unserer Nation eine wahre Geschichtsschreibung zu schenken. Nur eine Leistung ging aus dieser romantischen Bewegung hervor, die sich über den willkürlichen Dilettantismus Woltmanns, Schlegels und ihrer Freunde erhob: Friedrich von Raumers „Hohenstaufengeschichte", ein Werk, das mit dem umfassendsten Sinne für die Farben und Formen des geistigen Lebens, mit einem Verständnis, welches die Systeme der Epoche so lebendig erfaßt als ihre Kaiserbilder und Verfassungsgestaltungen eine Zeit behandelt, in der alle Gegensätze der mittelalterlichen Welt in Bewegung, Gährung, in Verschmelzung und Kampf sind, so daß in Fülle der Gestalten und des inneren Lebens keine andere damit zu vergleichen ist als die, welche Ranke zum besonderen Gegenstande seiner Darstellungen gemacht hat, die Zeit des Übergewichts der spanischen Habsburger, der Reformation und Restauration. Und diese mannigfachen Elemente umfaßt sein künstlerisches Auge mit gleicher Liebe für Gestalt und Farbe, für Individualtät und Handlung. Zu der literarischen kam die politische Bewegung. Und in dieser Zeit kann man ein doppeltes Element unterscheiden. Aus den Freiheitsstürmen erhob sich ein Ideal der Macht und Einheit deutscher Nation, das seine historische Vergangenheit in den Kaiserzeiten liebte, aus der Restaurationsepoche dagegen das Gelüste nach einer feudalen Staatsordnung und einem neuen Siegeslauf des Katholizismus. Man darf über dem unsäglichen politischen Unglück, welches die österreichischen feudalistischen und katholischen Bestrebungen dieser letzteren Partei über Deutschland gebracht haben, ihre Verdienste für die Historie nicht verkennen und mißdeuten, wie verschwindend klein sie audi jedem patriotisch Gesinnten neben jenen unheilvollen Tendenzen erscheinen müssen, an deren Nachwirkungen wir noch leiden. Keinen edleren Repräsentanten hat diese Richtung als den Frankfurter Historiker Johann Friedrich Böhmer. In seinen „Regesten" des Kaisertums, einem Werke, das neben den Papstregesten Jaffas zu den edelsten Denkmalen aufopfernden deutschen Fleißes gehört, und das mit jenen zusammen die feste Grundlage der mittelalterlichen Geschichtsdarstellung bildet, durchdringt sich die freieste und sicherste Methode mit dem Enthusiasmus der Restauration für Österreich und den Katholizismus. Von dieser Seite, der unter anderem auch Leo und Hurter angehören, ging aber auch der erste Versuch aus, mit der bisherigen Tradition der Kaisergeschichte zu brechen, auf Grund der Quellen, Staats- und Kirchengeschichte zusammenfassend, die Politik der Kaiser mit realistischem Verstände zu erfassen und so den naiven Enthusiasmus des romantischen Standpunktes zu überwinden. Diesen Versuch verdanken wir der „Kirchengeschichte'' Gfrörers. „Ich kann nicht bergen", sagt er in dieser Beziehung (Bd. VI, 1, S. VII), „daß die Kaisergeschiditen, die man uns bietet, auf mich den Eindruck machen, wie ein ,Schattenspiel an der Wand', wie Gestalten ohne Mark,
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Sehnen und Knochen. Man begreift nie, warum die Kaiser oder ihre Gegner so und nicht anders handelten, und unwillkürlich beschleicht den Leser das Gefühl, daß entweder die Darstellung falsch sein müsse, oder daß unsere Vorfahren sehr einfältige Leute waren, die nicht wußten, was sie wollten. Diese Mängel deutscher Geschichtsschreibung, welche bekanntlich weltkundige Männer vom Lesen solcher Bücher zurückschrecken, rühren, abgesehen von persönlicher Befähigung der Verfasser, hauptsächlich daher, weil letztere von der Kirchengeschichte entweder gar nichts verstehen, oder eine falsche Ansicht von der Wirksamkeit des Klerus hegen." Es wird bei dem eigentümlichen Verhältnis dieses Werkes zu dem Giesebrechts, als gewissermaßen dem Absdiluß der geschichtlichen Auffassung der anderen Richtung, später noch näher von der konsequenten Technik die Rede sein müssen, mit welcher Gfrörer die einzelnen Taten einzelner, wie sie die mittelalterliche Geschichtsschreibung zu überliefern pflegt, Stück für Stück zu zusammenhängender Politik, zu sich bekämpfenden Parteien und großen politischen Bündnissen kombiniert: eine bewundernswerte Belesenh'eit und die scharfsinnigste Phantasie, welche unablässig mit den verschiedensten Schematen tiefer Pläne und systematischen Zusammenhangs spielt, haben hier ein sehr willkürliches, aber für das tiefere historische Verständnis bereits sehr wirksames Bild der Kaiserzeit geschaffen. Von dem Ideal eines einheitlichen und mächtigen deutschen Reichs gingen zunächst die Studien des edlen, unvergeßlichen Stenzel aus, weldie bereits auf eine Kaisergeschidite gerichtet waren. Zweimal überhaupt, so viel wir wissen, ist vor Giesebrecht in neuerer Zeit dieser umfassende nationale Plan gehegt und wenigstens teilweise verwirklicht worden. Mascov hat mit ungenügenden Hilfsmitteln, wie sie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren, und mit noch weniger ausreichenden historischen Anschauungen, aber mit der ihm eigenen scharfsinnigen Gründlichkeit lateinische Kommentarien über die Kaisergeschichte geschrieben, die aber nur bis zum ersten hohenstaufischen König gediehen sind. Bis in unser Jahrhundert hinein haben diese Kommentarien die Tradition der Kaisergeschichte bestimmt; noch jetzt ist ihre Vergleichung nützlich. In unserem Jahrhundert hat dann eben Stenzel in der vaterländischen Begeisterung des deutschen Freiheitskrieges diesen großen Plan ergriffen. Damals wollte er — so erklärt er selber — dem unterjochten Volke sagen, wie tapfer und frei die Väter waren, wie sie ihre Unabhängigkeit behaupteten. Plötzlich fuhr der Sturm des Freiheitskrieges über das Vaterland hin, das Wort verwandelte sich in Tat, und nun blieb von den früheren Bestrebungen als Zweck nur die Wissenschaft zurück. Noch vermochte freilich ein einzelner kaum dieses Materials Herr zu werden: Stenzel hat nur die fränkischen Kaiser vollendet. Raumers farbenvollen Bildern und Gfrörers umfassenden Kombinationen der Begebenheiten gegenüber ruht seine Kraft in einer Forschung, die methodisch, aber ihrer Grenzen streng eingedenk von der Voraussetzung der wesentlichen Richtigkeit des Gesamtbildes aus, welches die mittelalterliche Geschichtsschreibung entwirft, mit kritischem Verstände und politischem Sinne nach einer gesicherten und deutlichen Darstellung der Taten der Kaiser trachtet: ihm liegt nicht wie Raumer in den Gestalten, nicht wie Gfrörer in den Plänen, sondern in den politischen Taten der Kaiser das wesentlichste Interesse der Forschung. „Ein Buch" — so hat sich einer unserer
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bedeutendsten Historiker noch vor kurzem darüber ausgesprochen — „welches auch heute noch als ein Muster solider, zugleich breiter und scharfer Forschung, als ein Spiegel patriotischer und doch unbefangener Gesinnung bezeichnet werden, muß, obgleich es in Hinsicht der künstlerischen Anschaulichkeit und der Höhe des geistigen Standpunktes noch manches zu wünschen übrig läßt." Mußte nun auch eine so ausdauernde Anstrengung — siebzehn Jahre hat sich Stenzel mit der Kaisergeschichte getragen — endlich ermüden an den Schwierigkeiten, welche die damalige Lage der Quellen für die Kaisergeschichte dem Forscher entgegenstellte, so hatte der nationale Aufschwung des Freiheitskrieges, indem er sich aus der Politik in die Wissenschaft flüchtete, ein Unternehmen hervorgebracht, welches uns das ungeheure Material dieser Quellen in vollendeter historisch-kritischer Durcharbeitung darbietet, ein Riesenwerk, gegen welches auch die ungeheuren Sammelarbeiten der Benediktiner und das Werk Muratoris und seiner Freunde zurücktreten werden müssen. Den Plan desselben hatte schon Leibniz, der größte universalwissenschaftliche Kopf, den Deutschland hervorgebracht hat, der auch hierin mit den gewaltigen Arbeiten seiner Zeitgenossen, zumal Muratoris gewetteifert hat, nicht nur gefaßt, sondern auszuführen begonnen; aber seine Sammlungen blieben unvollendet, ja die größte, die „Annalen des abendländischen Reiches", ungedruckt: erst Pertz hat sie — man kann fast sagen — wiederentdeckt und seit 1843, soweit sie ausgearbeitet waren, herausgegeben. Wir dürfen hier nicht weiter berichten, wie man die Aufgabe verfolgte, aus allen erreichbaren Handschriften die wahren Texte herzustellen, spätere historische Zusätze auszuscheiden, jede Schrift so nach ihren Bestandteilen zu analysieren, daß die Teile, in welchen sie auf eine vorhandene ältere, also echtere Tradition einfach zurückzuführen sind, von denen gesondert werden, welche nicht weiter hinauf zu bewährende Nachrichten enthalten und diese Nachrichten selber auf ihren Ursprung, die Wege ihrer Tradition, die Tendenz des Autors angesehen werden. Hier begegnete sich dies historisch-kritische Unternehmen mit der Einwirkung der kritischen Genialität Rankes, um in Berlin eine Schule vollendeter historisch-kritischer Technik zu gründen, wie sie zum ersten Male in die Geschichtswissenschaft eintrat — durch welche denn auch die meisten bedeutenden gegenwärtigen Historiker hindurchgegangen sind. Diesem Kreise der historischen Forschung nun gehört auch Giesebrecht an. Denn auch die nationale Begeisterung, welche sein Werk erfüllt, das Ideal eines machtvollen einheitlichen deutschen Reiches, sehen wir in innigem Zusammenhang mit dem Unternehmen der „Monumenta". Wir bezeichneten schon in dieser Hinsicht die Stelle, an welcher die „Monumenta Germaniae" im Gegensatz der historischen Richtungen stehen: sie sind nicht das Werk gelehrten Interesses an alter Vergangenheit allein, sondern der Enthusiasmus für die Größe, Macht und Einheit deutscher Nation, welche jenes Ideal in der Vergangenheit aufsuchte, als die Hoffnung schwand, ihm in der Gegenwart Wirklichkeit zu geben: der Verwirklicher der ungeheuren Unternehmung, Georg Pertz, hat in seinem „Leben Steins" diese Entstehung desselben in der großen Seele des Führers des Befreiungskrieges ausführlich dargestellt. Hier also schlösse sich — wenn wir nicht ganz irren — das vorliegende Werk an den Gang der Bestrebungen um die mittelalterliche Geschichte Deutschlands an: in der Methode auf
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der Technik, welche das Resultat der Arbeiten an den Monumenten und der Schule Rankes ist, beruhend, erfüllt von dem seit dem Freiheitskriege in idealem Schwung unser Volk bewegenden Bilde deutscher Volkseinheit und Macht, das uns als ein Ideal aus der Vergangenheit herüberleuchtet, sucht dies Werk durch streng quellenmäßige und patriotisch begeisterte Darstellung der Kaiserzeit auf die Gegenwart zu wirken. II. Giesebrechts Auffassung der kaiserlichen Politik und die Kritik derselben von Heinrich von Sybel. Wir haben versucht, die Stellung des Giesebrechtschen Werkes innerhalb der historischen Schulen, wie sie von den politisch-religiösen Parteigegensätzen aus sich gebildet haben und zugleich in dem ineinandergreifenden Ganzen ihrer Arbeiten kurz anzudeuten. N u n ist aber neuerlich innerhalb der Schule und des politischen Kreises selber, welchem Giesebrecht angehört, von einem unserer bedeutendsten Historiker ein zusammenhängender Einspruch gegen die Gesamtauffassung der kaiserlichen Politik in dessen Werke erhoben worden. Heinrich von Sybel hat in einer Rede in der Münchener Akademie der Wissenschaften „Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit" sehr erwägenswerte, aus tiefer Kenntnis des Mittelalters stammende Einwendungen gegen Giesebrecht gemacht. Diese Einwendungen beruhen auf dem Begriff des Staats, wie wir Neueren ihn erkannt haben. Die Grundlage des Staats ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Also nur soweit eine Verschmelzung des Fremden zu diesem Gefühl der Zusammengehörigkeit möglich ist, ist Eroberung politisch zu rechtfertigen; fruchtlos aber ist alle bloße Unterdrückung von Nationalitäten, die nidit zu assimilieren vermag. Es mag dem rohen Nationalsinn schmeicheln, als H e r r nach Belieben im Hause seines Nachbarn zu walten; der Staatsmann weiß, daß dieses Streben nur dann den Herrschenden Vorteil bringt, wenn es den Beherrschten Wohltat ist. Es heißt gegen die N a t u r der Dinge kämpfen, wenn man diese Grenze aller Machterweiterung mißachtet. Es ist dagegen der Instinkt aller wahren Politik, nur innerhalb dieser Grenzen, welche ganz allein die Einheit und innere Haltbarkeit eines Staatsganzen ermöglichen, seine Macht ausdehnen zu wollen. Wir wollen diese Sätze als ethische Postulate nicht bestreiten. Sie haben als solche dieselbe Notwendigkeit und keines Beweises bedürftige Gewißheit, wie etwa das Postulat der Freiheit der Person, der Gleichheit aller vor dem Gesetz: aus der Würde und dem Zweck der Staaten und der Einzelnen folgen sie ohne alle Argumentation. Wir wollen auch vorläufig nur hindeuten auf den weiten Spielraum, welchen diese Theorie in dem Begriff der Aneignung, Assimilation für die Anwendung darbietet — einen Spielraum, der ihre Anwendbarkeit f ü r die politische Aktion nahezu illusorisch macht. Wer kann sagen, wieviel ein so grausames System der Ausrottung, als die Kaiserzeit im Osten an den heidnischen Slaven durchgeführt hat, im christlichen Süden gewirkt hätte, in welchem nur Friedrich I. Ansätze machte, es anzuwenden? Wer kann sagen, wieviel dann die freundliche Einwirkung deutscher Kultur in dem österreichischen Länderbesitz, der sich doch an Erwerbungen und Traditionen der Kaiserzeit anlehnt, vermocht hätte? Der naturwüchsigen 3
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und geschichtslosen Theorie der Nationalitäten gegenüber leidet Sybels politische Maxime an einer Unbestimmtheit, welche das Verfahren von einem Erfolg im Laufe der Jahrhunderte abhängig macht, der sich leicht nachträglich aufzeigen, aber kaum vorausberechnen läßt. Aber möchte doch auch diese Theorie richtig sein als Regel gegenwärtiger Politik: ist sie darum audi richtig als Regel für die Beurteilung der historischen Vergangenheit? Etwas anderes ist die Theorie des wahren Staats; etwas anderes die Entstehung dieser wahren Staaten im Verlauf der Jahrtausende. Denn so lange hat in der Tat die Weltgeschichte experimentiert, um diese wahren, dem Begriff des Staates entsprechenden Staaten hervorzubringen. Nicht vor den wahren Staatenbildungen selber geht ihr Begriff voraus: sie entstehen aus der Macht der Dinge selber und mit ihnen bildet sich dann die Theorie. Selbst in diesem Augenblick ist der Begriff des Staates noch ein doppelter, je nachdem ein Staatsmann an die Haltbarkeit des einzigen auf nationale Einheit für alle Zeiten verzichtenden Staates in Europa glaubt oder nicht. Und diese eine politische Maxime, die in diesem Augenblicke noch im Werden, noch vielfach angefochten ist, soll für die ungeheure Gärung im Begriff und Gestaltung der Staaten, wie sie im Mittelalter vorliegt, Norm der Beurteilung sein? Es ist das nicht anders, als wollte man aus der entsprechenden Erkenntnis der inneren Verhältnisse des Staats Perikles verurteilen, daß er nicht die Sklaven von Athen befreit, oder Otto den Großen, daß er nicht die Lehnsordnung aufgehoben. Das Postulat der persönlichen Freiheit oder das der inneren Zusammengehörigkeit der Teile eines Staates gehen uns jetzt freilich leicht über die Zunge. Aber die Einfachheit solcher Sätze, in welche wir jetzt das Resultat der Staatenentwickelung von Jahrtausenden unscheinbar zusammendrängen, darf nicht über die Schwierigkeiten täuschen, welche ihrer langsamen Erkenntnis in der Geschichte entgegenstanden. Es handelt sich also für die Beurteilung der kaiserlichen Politik um keine anderen Möglichkeiten des Handelns, als welche im politischen Gedankenkreis der damaligen Zeit lagen. Es wäre eine Aufgabe vom höchsten Interesse, den Umkreis dieser Möglichkeiten, den politischen Gedankenkreis, wie er sich in der ottonischen und fränkischen Zeit ausbildete, aus den Andeutungen der Quellen über die Motive der einzelnen Begebenheiten, aus den politischen Einsichten der Geschichtsschreiber selber zu erforschen. Wir können uns hier in einem engeren Kreise genügen lassen. Mit Recht hebt Sybel den Übergang von dem Regiment Heinrichs I. zu dem Ottos I. als den Wendepunkt der kaiserlichen Politik hervor: in Otto erneuerte sich die Politik Karls des Großen, aller Widerstand gegen dieselbe von einer nationalen Tendenz aus drängt sich nach Sybel in den Empörungen zusammen, an deren Spitze Liudolf tritt: indem Otto siegt, erhält auf Jahrhunderte hin ein kirchlich-politischer Universalismus das Ubergewicht, welcher die nationale Gestaltung des deutschen Reiches verhindert hat. Man sieht, an diesem Punkte entscheidet sich das historische Urteil über die gesamte seit Otto I. traditionelle Politik unserer Kaiser: müßten wir den geistvollen Andeutungen Heinrich von Sybels recht geben, so beruhte das Werk Giesebrechts in seiner ganzen Grundanschauung auf einem einzigen jede Seite desselben durdidringenden Irrtume. An die Stelle des von der Geschichte
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überlieferten Urteils, in dessen Spuren bis jetzt unsere Historiker geblieben sind, träte eine Kritik, die aus dem von den Quellen überlieferten Stoff die Anschauung derselben in allen wesentlichen Punkten widerlegte. Ein Versuch von höchstem Interesse, um so merkwürdiger, da derselbe zugleich mit Giesebrecht, Stenzel usw. auf derselben Basis religiös-politischer Ansichten steht, Männern, welche sich den Quellen gegenüber wesentlich konservativ verhalten haben. Noch ein andrer Gesichtspunkt ist interessant. So wie wir gesehen haben, daß Männer derselben Partei in bezug auf das gegenwärtige Verhältnis Deutschlands zu Italien im schroffsten Gegensatze sich befinden, so ist auch von derselben Grundanschauung aus über das ehemalige Verhältnis eine doppelte Ansicht möglich. Das Urteil über die historische und das über die politische Frage stehen kaum in einem zwingenden Zusammenhang. Dennoch wird kaum jemand, dessen Herz noch an der italienischen Herrschaft hängt, die von Otto eingeschlagene Politik tadeln. Und so gewinnt diese historische Streitfrage durch die politische Analogie ein doppeltes Interesse. Zunächst soll die Lage der Dinge selber auf diese nationale Politik hingewiesen haben. In den romanischen Staaten — so wird die Lage geschildert — hatte sich eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität entwickelt. Stolz auf die Uberlieferungen einer feineren Bildung haßte dieselbe die Roheit der Deutschen. Und schon erhoben sich aus der Anarchie der klerikalen und Adelsfaktionen, in welcher nach dem Tode Ludwigs des Frommen mit der monarchischen Gewalt zugleich das nationale Bewußtsein untergehen zu wollen schien, aufs neue einheimische, festere Gewalten, welche in raschem Wachstum für die einzelnen Reiche die Knotenpunkte einer bleibenden Gestalt zu bilden schienen; in Frankreich das herzogliche Haus Capet, in Burgund Konrad, in Italien Hugo. „So weit der Blick der Forschung reicht, wäre eine gedeihliche Entwicklung mit dieser Grundlage möglich gewesen. In Frankreich hat es die folgende Zeit praktisch bewiesen; für das damalige Italien war Hugo ohne Zweifel der völlig befähigte Herrscher und hätte der Gründer eines dauernden nationalen Reichs werden können. Was Burgund betraf, so folgte es in seinem weitaus größten Teile naturgemäß der Entwicklung der gleichartigen romanischen Völker. Für Deutschland war höchstens das Interesse vorhanden, die alemannisch bevölkerten Grenzprovinzen desselben und damit eine Anzahl wichtiger Alpenpässe seiner Herrschaft zu unterwerfen." Diese allmähliche Ausgestaltung von drei selbständigen romanischen Monarchien hindert Otto, indem er sich in allen drei Ländern mit den schwächeren Faktionen verbündet. Ja, in Frankreich und Italien wechselt er sogar die Partei, er wendet sich dort gegen Herzog Hugo, hier gegen den Markgrafen Berengar, welche er vorher unterstützt hatte, als sie in Begriff sind, das Übergewicht zu erlangen. So suchte er in den romanischen Ländern die Faktionen künstlich zu vereinigen, um sie zu beherrschen. Nicht aus einem inneren Bedürfnis dieser Länder — diese Konsequenz ist wohl im Sinne Sybels — ging die deutsche Einmischung hervor, sondern aus einer dem kirchlichen Universalismus entsprungenen Idee. Was Gfrörer der „sylvestrischen Verbrüderung" zuschreibt, rechnet Sybel überhaupt dem inneren Zuge der Kirche jener Zeit an: den abstrakten Trieb einer Universalgewalt. Und diesen Trieb sieht er nicht nur in der Regierung der späteren Ottonen, sondern 3*
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bereits in Otto dem Großen selber wirksam: auf diesem idealistischen Zuge beruhte seine Einmisdiung in die inneren Verhältnisse der romanischen Staaten, welche bereits auf dem besten Wege eigener innerer Gestaltung waren. — In der Tat, wäre diese die Lage der Verhältnisse gewesen, so hätten sich auch dem in den kirchlichuniversalistischen Ideen der Zeit Befangensten die Möglichkeit einer rein nationalen Politik wenigstens klar zeigen müssen. Aber die einmütige Aussage aller Quellen, die über Ottos Zeit auf uns gekommen sind, entscheidet gegen die Richtigkeit dieser Bilder. Wir wollen nicht leugnen, daß diese Quellen sehr dürftigen, beschränkten Gesichtskreises sind, wir kommen hierauf noch einmal zurück, weil es für die politische Höhe der damaligen Zeit ein wesentlicher Gradmesser ist. Wir müssen — was noch mehr ist — zugestehen, daß die meisten und wichtigsten von ihnen aus den kaiserlichen Kreisen hervorgegangen sind. Was so oft die Gerechtigkeit der Geschichte getrübt hat, liegt auch hier vielfach unleugbar vor; die siegreiche Partei hat auch die Geschichtsschreibung gegen die Besiegten gewandt und hat ihre Auffassung derselben der Nachwelt überliefert. Richers, des Schülers von Gerbert, „Chronik" und etwa die Darstellung der römischen Herrschaft des Alberich in der „Chronik" des Benedikt vom Sorakte, bilden hier die einzigen Ausnahmen von Belang. Wir dürfen dennoch annehmen, daß die wesentlichen Züge der politischen Lage sich noch erkennen lassen. Richers verlogene Nationaleitelkeit hat doch die wirkliche Lage seines Vaterlandes nicht verbergen können; Liutprands Pamphlet gegen Berengar, die Streitschriften des Rather, mögen noch so ottonisch gesinnt sein, hinter der übertreibenden Rhetorik erkennen wir doch die tatsächliche Lage Italiens. Und wenn wir nicht völlig irren, so ist das Bild der romanischen Länder, wie es sich auch aus dem vorsichtigsten Quellengebraudi ergibt, doch immer noch ein durchaus anderes, als Sybels Kritik der Auffassung Giesebrechts voraussetzt und für ihre Annahme, daß diese Länder in einer zu glücklicher Gestaltung führenden Entwickelung von den deutschen Kaisern zugunsten einer bloßen Idee, ohne wirkliches Bedürfnis derselben, unterbrochen worden seien, behaupten muß. Es war nicht ein die Lage der damaligen Staaten verkennender Idealismus, in welchem Otto jene Politik ergriff, die dann fast zwei Jahrhunderte die Kaiser vornehmlich beherrscht hat; es waren vielmehr sehr reale Interessen Deutschlands wie der romanischen Nationen, welche seine Politik bestimmten, es war die Lage jener Länder selbst und die Gefahren derselben für Deutschland, was ihn immer wieder in die inneren Verhältnisse derselben hineinzog. In Frankreich kann um diese Zeit — in der Mitte des zehnten Jahrhunderts — von einer nationalen Einheit kaum die Rede sein. Was für ein Völkergemisch findet sich noch dort! Westgoten, Briten, Römer, Franken, Burgunder, Normannen; nicht weniger als vier Sprachen sprach man in dem Lande. Was die gewalttätigen Vasallen, die alle nach einer Art Tyrannei streben, zusammenhielt, war allein die legitime Gewalt der Karolinger. Wie lächerlich audi Richers pomphafte Behandlung des armen Königs Ludwig ist, dessen Stellung Otto gegenüber er überall auf das sorgsamste wahrt, dessen Armut und Hilfsbedürftigkeit er mit seinen Lügen bedeckt: in ihm lag doch die Einheit des Reichs. Wenn nun Hugo Ludwigs königliche Gewalt bedrohte, so sehen wir Otto zunächst durchaus nicht geneigt, dort Ursachen zu
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Einmischungen zu suchen: er versöhnt die beiden Schwäger. Aber konnte er dulden, daß neben ihm eine gewaltsame, auf Krieg gestellte, jedes Sinnes f ü r die Heiligkeit der königlichen Gewalt, der Verträge und des Rechts ledige Tyrannis, wie sie der Graf zu erstreben fortfuhr, sich erhob? Schon daß ein legitimer König, ihm verschwägert, durch eine Verbindung der Vasallen hinterlistig entfernt wurde, mußte ihm, der eben erst lange K ä m p f e mit Vasallen hinter sich, der den höchsten Begriff von der königlichen Würde hatte, unerträglich scheinen. Aber diese Tyrannis, mit der kein festes Rechtsverhältnis möglich war, die aus Gewalt entstanden, auf Gewalt und Krieg gestellt blieb, durfte er audi unmöglich neben seinen unruhigen Großen, neben Lothringen, neben Burgund — lauter offenen Fragen — aufkommen lassen. Es lag so im wohlverstandenen Interesse des Reichs, den legitimen, einem Kriege nicht gewachsenen befreundeten Karolinger im Westen zu erhalten. Mehr aber hat O t t o nicht getan. Wäre er, wie Sybel es auffaßt, in seiner ganzen Politik gegenüber den romanischen Ländern von der Kaiseridee beherrscht gewesen: es wäre ihm möglich gewesen, von Ludwig eine Lehnshuldigung zu erlangen. Weil es ihm aber nicht um die Idee, sondern um die Macht zu tun war, hat er das nicht gewollt. Genügt nun schon diese Überlegung, um in bezug auf die französische Politik Ottos zu zeigen, daß nichts weniger als Kaiserideen dabei ihn geleitet haben, sondern die Rücksicht auf Deutschland, so können wir auch das nicht einmal zugeben, daß diese Rücksicht auf Deutschland die Konsolidierung der französischen Verhältnisse gehindert habe. Auf einem Bündnis mit dem Herzog von der N o r mandie beruhte der Plan gegen den König: es wäre im besten Falle zu einem auf diesem Bündnisse beruhenden Übergewicht Hugos in Frankreich, zu einer gegen die Partei des legitimen Königtums sich glücklich behauptenden Tyrannis gekommen, vielleicht aber — denn freilich ist man bei solchen Fragen dem Vielleicht überliefert — hätte sich auf längere Zeit in diesen Kämpfen die königliche Macht aufgelöst. Wie weit günstiger f ü r Frankreichs innere Zustände war die Übertragung der königlichen Macht an Capet nach dem Tode Ludwigs! Ebensowenig können wir der Idee -des Kaisertums einen solchen Einfluß auf die Politik Ottos in bezug auf Burgund einräumen. Dieser P u n k t ist von großem Interesse. Denn wenn irgendwo, so haben die Kaiser in bezug auf Burgund eine gleichmäßige und feste Eroberungspolitik verfolgt, deren Früchte denn auch Konrad II. geerntet hat. Von zwei Nationen bewohnt, ohne ein starkes Königtum, mußte dies Land zu Ottos Zeiten entweder unter Hugos oder unter Ottos Gewalt geraten, auch in späteren kann man kaum sagen, daß sein Zustand dazu angetan war, einem kräftigen Gegner Widerstand zu leisten. Für Deutschland aber war es von der größten Wichtigkeit als Übergangsland nach Italien. Uber seine späteren Geschicke hat Giesebrecht sich trefflich — ich weiß nicht, ob nicht im Gegensatz zu der Auffassung Sybels, da mir die erste Ausgabe nicht zur H a n d ist — ausgesprochen. „Niemand" — sagt e r — „wird sich verwundern, daß sich unter solchen Bedingungen die Einheit des burgundischen Reiches endlich völlig auflöste und sich namentlich die romanischen Teile desselben von den alemannischen immer bestimmter trennten. Auch ist es nicht auffallend, daß sich jene — die Länder an der Rhone, Saöne und Isere — wie sie zuletzt von Konrad unterworfen waren, so auch zuerst wieder
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von der deutschen Herrschaft befreiten und dem französischen Westreiche anschlössen. Aber auch als so ein beträchtlicher Teil der Erwerbung Konrads in späterer Zeit dem Reiche verlorenging, wirkte sie nichtsdestoweniger noch lange in den alemannischen Teilen Burgunds nach, die im wesentlichen jetzt die deutsche Schweiz bilden. Nicht allein daß diese Landschaften noch geraume Zeit mit dem deutschen Reiche in unmittelbarer Verbindung blieben, sie wurden auch für alle Folge so mit dem innersten Leben des deutschen Volkes in Berührung gebracht, daß wohl das äußere Band zeitweise zerrissen, aber die geistigen Beziehungen mit Deutschland niemals gelöst werden können. Man erwäge, was in den beiden letzten Jahrhunderten in dem Elsaß geschehen ist, und urteile dann, ob die Schweiz noch jetzt in ihrem innersten Kerne ein deutsches Land sein würde, wenn sie vor mehr als achthundert Jahren mit dem burgundischen Reiche nicht an den deutschen Kaiser, sondern unter die Herrschaft eines französischen Magnaten gefallen wäre" [II, 276]. Das verwickeltste aber von allen Verhältnissen Deutschlands zu den romanischen Staaten und das für Deutschlands Zukunft verhängnisvollste war das zu Italien. Wenn irgendwo, so gab hier die Kaiseridee der kaiserlichen Politik nicht bloß ihre Färbung und ihren Schwung, sondern auch ihr bestimmendes Motiv. Um so genauer muß man hier die in den politischen Verhältnissen liegenden Beweggründe ins Auge fassen, um beide Seiten der Sache zu sehen. Sybel findet, daß Hugo der für Italien vollkommen befähigte Herrscher gewesen sei, er schreibt ihm den umfassenden Plan zu, durch eine Doppelheirat mit dem burgundischen Geschlechte alle diese Gegenden in einem festen politischen Systeme zu einigen, seine Herrschaft hätte Grundlage einer gedeihlichen Entwickelung Italiens werden können (Seite 17). Dagegen hat Giesebrecht den Beweis angetreten, daß Italiens sittliche, staatliche, kirchliche Verhältnisse in einer solchen Zerrüttung gewesen seien, daß ein haltbares wahres Königtum nicht daraus hervorgehen konnte, sondern nur eine Tyrannis, daß von außen die königliche Gewalt diesem zerstückelten Lande kommen mußte (Seite 346 ff.). Und will man sich nicht den Quellen gegenüber sehr negativ verhalten, so scheint man ihm beistimmen zu müssen. Kaum beweisen die Streitschriften Rathers — das Heftigste, was wir über das damalige Italien besitzen — in ihrem priesterlichen Zorne so viel als die naturalistische Darstellung Liutprands oder die rohe und fast unverständliche Erzählung Benedikts, in der der römische Tyrann Alberich verherrlicht wird. In keinem Lande hatte das Vasallentum sich gewaltsamer und unbeschränkter erhoben. Ein Verhältnis von den größten Mißständen bildete sich so aus. Indem in allen größeren Städten sich die Bürgerschaft unter den Schutz der bischöflichen Immunität begab, um den Plünderungen des Adels zu entgehen, regierten die Bischöfe in den Weichbildern der größeren Städte, auf dem sie umgebenden Lande die Vasallen. Ihre großen Anhaltspunkte aber hatten die letzteren an den Markgrafschaften, in denen sich Vasallengewalt am schärfsten durchgebildet hatte: die Markgrafen von Tuscien und Irvea, von Friaul und Spoleto schalteten als souveraine Herren in ihren weiten Territorien, und einem von ihnen mußte, sollte sie ein Einheimischer erhalten, wohl die Krone Italiens zufallen; bald liegen sie mit Bischöfen und Städten im Kampf, bald streiten sie miteinander um die Beute. Und
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nun denke man, daß die Araber von Afrika und Spanien aus in das Land eindrangen. Hugo vermag nicht ihrer Herr zu werden, er muß einen Vertrag mit ihnen schließen. Man denke, daß die Ungarn das Land überschwemmten; noch um die Mitte des Jahrhunderts sah man sie vor den Toren Roms. Und in diesen Wirrnissen heben nun die Familienverbindungen schmachvoller Weiber einzelne auf einen Moment empor, nur durch rücksichtslose Gewaltsamkeit halten sie sich, um dann doch wieder mit der Kombination, die sie emporbrachte, zu sinken. Es liegt eine naturalistische und fast heidnische Wildheit in der Literatur und den öffentlichen Charakteren der damaligen Italiener, die überall schon an den Charakter des späteren Italiens erinnert. Die Grundsätze, welche Machiavelli an der Politik des Cesare Borgia studierte, lebten schon damals in diesem Lande. Es scheint in der Tat höchst wahrscheinlich, daß nur eine wechselnde und nie Italien ganz und fest umfassende Tyrannis aus diesen Verhältnissen hervorgehen konnte. Und dem entspricht auch die Lage Hugos. Alberichs und Roms vermochte er nicht Herr zu werden; sein Regiment beruhte auf keinem gemeinsamen Bedürfnis des Volkes, sondern nur auf wandelbaren und schmachvollen Familienverbindungen, auf Überlistung und momentaner Gewalt. Das einzige gemeinsame Bedürfnis des Landes, Schutz vor den arabischen Zügen, vermochte er nicht zu befriedigen; denn ihm fehlte, wie nicht selten den in solchen Verhältnissen Emporgekommnen, der kriegerische Mut. War das nun eine Lage Italiens, dazu angetan, ein festes Königtum entstehen zu lassen? Und sieht man nun auch noch von der Kaiseridee völlig ab, so mußte es den König von Deutschland auch aus anderen Gründen, als denen der äußeren Politik, drängen, dem Spiel nichtswürdiger Parteien mit der Tiara ein Ende zu machen. Es ist nicht das Band einer bloßen Idee, was die Kirche Deutschlands mit dem Papste verknüpfte, sondern sehr reelle auf ihrer Verfassung beruhende Beziehungen waren es. Man kann das Deutschland jener Zeit nicht verstehen, ohne zu erkennen, wie aller Gehalt seines geistigen Lebens in der Kirche beschlossen war und aus ihrem Schöße sich herausbilden sollte. Und wenn wir in der Lage des Augenblicks geneigt sind, das Kultursystem, welches alle Nationen verbindet, geringer zu achten gegenüber dem Gefühl und Gehalt der Nationalität, so bereitete sich ja eben damals in der Kirche jener geistige Gehalt unseres Daseins vor, der bis jetzt das festeste Band unserer Nationalität gewesen ist. Aber es gab für die kaiserliche Politik noch eine direktere Beziehung zu Rom: das deutsche Bischof tum war nach seiner eigentümlichen Doppelgestaltung zugleich Basis der kaiserlichen Macht und in kirchlicher Abhängigkeit von Rom: eine kirchliche Reform, welche vom Kaisertum aus das Papsttum erneuerte, war für die deutschen Angelegenheiten der Kaiser von einer ebenso entscheidenden Bedeutung als für die italienischen. Das historische Geschick selber hatte so die italienischen und deutschen Angelegenheiten untrennbar miteinander verbunden. Verkettet nicht in Ideen und Idealen, sondern durch gemeinsame Grundlagen des staatlichen und kirchlichen Lebens, seit vielen Jahrhunderten unzerstörbar gelegt, welche alle Pläne der Kaiser bedingen und bestimmen mußten. Wir müssen hier auf Gfrörers historische Ansicht noch einmal zurückkommen. Es ist oben hervorgehoben, wie er zuerst mit modernem politischem Verstände in die
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schlichten Berichte von den Taten frommer und tapferer Kaiser hineingeleuchtet hat, in ihren tapferen Kriegszügen, welche nach unseren Chronisten meist zur Unterstützung Hilfeflehender, die sich ans deutsche Imperium wenden, geschehen sind oder zur Überwindung unbegreiflich aufrührerischer Vasallen, einen Zusammenhang politischer Pläne und Parteien, in ihren frommen Schenkungen ein politisches Verhältnis zur Kirche nachzuweisen den zusammenhängenden Versuch gemacht hat. Den Mittelpunkt seiner geschichtlichen Konstruktion bildet nun aber — und das ist es, was uns an diesem Punkte interessiert — seine Ansicht vom Verhältnis des deutschen Bischoftums zum Kaisertum. — „Daß im 10. Jahrhundert" — so spricht er sich hierüber aus ( I I I , 1198) — „ein deutsches Reich entstand, ist größtenteils das Werk der Geistlichkeit. Mit unglaublicher Beharrlichkeit arbeitete sie mehr als ein Menschenalter auf ein und dasselbe Ziel hin, und zuletzt wurden ihre Anstrengungen vom Erfolg gekrönt. In der Schule des großen Karl herangezogen, erprobten die fränkischen Bischöfe und ihre Nachfolger eine hohe politische Bildung" usw. So einseitig diese Ansicht war, so hat sie wohl unter allen ähnlichen Versuchen der Geschichtsschreibung im zweiten Viertel unseres Jahrhunderts am meisten dazu beigetragen, den Einfluß der theologischen Doktrin von der Verweltlichung der Kirche, welche ja in ihren Grenzen volle Berechtigung hat, auf die Behandlung der politischen Geschichte des Mittelalters zu beseitigen und eine unbefangene Würdigung jener großen Reihe deutscher Bischöfe, welche die Geschäfte des Reichs geleitet und zu seinen größten Staatsmännern gehört haben — wir nennen nur Bruno, Willigis, Adalbert von Bremen, Rainald von Köln, Siegfried von Regensburg — vorzubereiten. Die neueste deutsche Geschichtsschreibung hat denn auch mit einer besonderen Vorliebe die politische Stellung und die Einwirkungen dieser deutschen Bischöfe verfolgt. Inmitten der sich immer selbständiger stellenden erblichen großen Lehensträger, welche ihre Stellung notwendig auf die Ausbildung ihrer Hausmacht hindrängen mußte, gehört ihr Interesse der Einheit des Reichs; durch die formalen Geistesübungen der Dialektik und einige Anschauung des Altertums hindurchgegangen, bringen sie den Geschäften des Reichs einen erweiterten politischen Blick entgegen. Vor allem: sie sind durch die Schule des in den Formen des römischen Beamtenstaats gegliederten römischen Kirchentums hindurchgegangen und stellen daher der individualistisch auseinanderfallenden Gliederung des Reichs eine stetige Tendenz nach fester Organisation, Gleichmäßigkeit und Form in den Reichsgeschäften entgegen. So trieben die Verhältnisse selber die Sachsen und später die Salier dahin, auf dies Bischofstum die Reichsgewalt zu basieren. Die Darstellung dieser Versuche gehört zu den trefflichsten Partien der Giesebrechtschen „Kaisergeschichte". Indem er der willkürlichen Hypothese Gfrörers gegenübertritt, ist er doch vollkommen bereit, das Wahre, was ihr zugrunde liegt, anzuerkennen. „Es ist neuerdings" — so erklärt er sich trefflich, augenscheinlich in Beziehung auf Gfrörers geschichtliche Ansicht — „behauptet worden, das deutsche Reich sei aus dem Organismus der römisch-katholischen Kirche erwachsen und die Idee eines einigen deutschen Volkes selbst gleichsam im Schöße der römischen Kirche ausgebildet und von ihr in das Leben gerufen. Nur ein Schein der Wahrheit spielt um so phan-
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tastische Paradoxen. Das siegreiche Schwert, das die Zukunft der deutschen Stämme vor den Barbaren des Ostens schirmte, hat das deutsche Reich begründet, in dem und an dem die nationale Idee erwuchs und erstarkte; nicht der Krummstab war es, der die Einheit des deutschen Volkes schuf. . . Erst als sich zeigte, daß dieses Band zu locker sei, um die Einheit des Reichs zu erhalten, und daß bei der N a t u r jener Zeiten alle Anstrengungen, es straffer anzuziehen, vergeblich seien, erst als alle Versuche Ottos, die großen Vasallen wieder lediglich auf den Standpunkt von Reichsbeamten zurückzudrängen, gescheitert waren: da erst wurde die Kirche von neuem, wie schon einst für Pippin und Karl den Großen, auch f ü r die deutschen Könige ein wirksames Mittel, um ihr Regiment zu befestigen" (1,439 f.). Schließen wir nun weiter. Diese Verflechtung der Kirche und des Kaisertums in Deutschland durch rein politisches, rein reales Interesse mußte die Beziehungen der Kaiser audi nach außen beeinflussen: die Basis des kaiserlichen Regiments mußte ihre Äußerungen bestimmen, das Interesse an der kirchlichen Organisation des Reichs, in seinen Wurzeln zusammenlaufend mit der an der politischen, machte die Verbindung mit Rom zur wesentlichsten Beziehung der Kaiser nach außen. Dazu kam, daß auch die Eroberungen im Osten des Reichs, welche Sybel gewiß mit vollem Rechte mit besonderem Interesse verfolgt, indem sie überall mit der slawischen Mission H a n d in H a n d gehen, überall in Verbindung mit Rom vor sich gehen; für die Begründung der Bistümer und Erzbistümer in jenen Gegenden bedarf man stets des guten Einvernehmens mit Rom; von dem kirchlichen Interesse hängt die Lebendigkeit dieser Mission ab. Gibt nun jemand dies zu, so bedarf es nur eines unbefangenen Blickes auf die damalige Abhängigkeit des römischen Pontifikats von den italienischen Gewalthabern, um einzusehen, daß die Neubegründung eines mit Deutschland in tätiger und freundschaftlicher Beziehung stehenden, reformierten Pontifikats gleichbedeutend damit war, daß der Kaiser Herr der Lage in Italien wurde. Alles zusammenzufassen, die inneren Verbältnisse Deutschlands selber trieben Otto in eine italienische Eroberungspolitik. Dieselbe erwuchs, ob sie gleich im Verlauf der Zeit, da sie auf lange hin politische Tradition der Kaiser ward, Deutschland zu nicht abzuleugnendem Unglück gereicht hat, doch ebenso gewiß damals aus der Notwendigkeit der Verhältnisse selber. Sollte nicht der untrüglichste Maßstab des damaligen politischen Ideenkreises, wie er aus der Lage entsprang, in der Summe der Pläne und Handlungen selbst liegen, welche eben in jener Zeit auftauchen? Unmöglich könnten die Verhältnisse in eine Politik hingedrängt haben, ohne daß irgendwelche Pläne, irgendwelche Partei, irgendwelche politische Handlungen auf diesen Weg eingegangen wären, der vor Augen lag. Es müßte eine starke Opposition gegen die Politik Ottos in bezug auf die romanischen Völker sich in Deutschland erhoben haben; Spuren, wenn auch nur vereinzelte, von jener Opposition müßten sich audi in den so mangelhaften Nachrichten über die inneren Verhältnisse Deutschlands darbieten. In der Tat hat der Kritiker Giesebrechts Andeutungen über eine nationale, der italienischen Politik entgegenkämpfende Partei im Reiche gegeben; er erklärt den Aufstand Liudolfs, indem er darin Gfrörer folgt, aus dem Motiv dieser nationalen Opposition. Aber wir sind nicht imstande, in den Quellen einen irgend genügenden Beleg für diese
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Auffassung zu finden. Widukind berichtet sehr einfach von der Verheiratung Ottos mit Adelheid und dann weiter: „ D a dies Liudolf sah, verließ er traurig den König." Und nachher an einer andern Stelle, er habe mit Konrad darin übereingestimmt, daß eine Intrige Heinrichs gegen jenen an der kalten Aufnahme Berengars bei Otto schuld gewesen sei. Thietmar folgt ihm hierin. Es ist auch einleuchtend genug, daß Liudolf von dem Einfluß dieser glänzenden, geistvollen, in politischen Verhältnissen gewandten Fürstin, welche Heinrichs intriganter Geist unterstützte, eine Abänderung der Thronfolge sehr befürchten mußte. Mag es immerhin sein, daß auch das Übergewicht der italienischen Fragen und Beziehungen, welches seit der Vermählung mit der Kaiserin sichtbar wird, seinem deutschen Gemüt widerstrebte: sicherlich ist kein Grund zu glauben, daß dies ihn zum Kriege bewogen habe, und so sind wir nicht imstande, in Liudolf mit Heinrich von Sybel „ein tragisches Opfer in dem Konflikte kaiserlicher und nationaler Politik" zu sehen, ehe nicht aus den Quellen selber zwingende Belege dafür gegeben werden. Denn daß derselbe Mann, welcher den italienischen Zügen so abgeneigt gewesen, ohne Befehl in Oberitalien eingefallen sei und später zum König von Italien bestimmt gewesen sei: dies kann nur Gfrörersche Manier der Beweisführung so ohne weiteres vereinigen, welche alle möglichen besonderen Absichten je nach Bedürfnis einschiebt. So können wir in keinem politischen Plane jener Zeit eine Bestätigung davon erkennen, daß die Kaiser die italienische Politik den Verhältnissen selber entgegen verfolgt hätten. Audi darauf möchten wir Gewicht legen, daß wir bei keinem Schriftsteller jener Zeit eine Äußerung in dieser Richtung finden. Wir deuteten schon an, wie merkwürdig es wäre, wenn kein Chronist oder keine politische Streitschrift jener Zeit uns die Möglichkeit einer solchen Politik zeigt, hätte sie wirklich den Zeitgenossen vor den Füßen gelegen. Uberall werden diese italienischen Züge als politische Notwendigkeit angesehen; offenbar fehlen dem Zeitalter die Gedanken, welche gegen diesen Zug der inneren und äußeren Verhältnisse reagieren könnten. Vereinzelte Klagen der Heerfolgenden über die weiten italienischen Züge können hier unmöglich ein Beweis sein. Und so scheint uns denn Otto der Große nicht von einer geistlich-mystischen Auffassung seines Amtes aus, wie Sybel gegen Giesebrecht behauptet, sondern bestimmt durch die inneren Verhältnisse der kaiserlichen Gewalt in Deutschland und durch die Lage der romanischen Staaten seine Eroberungspolitik ergriffen zu haben. Wieviel Schwung und geistlich-universalistische Färbung diese Politik auch durch die kaiserliche Idee erhielt: ihre Motive finden wir in der damaligen Lage Europas. Zur Zeit des französischen Ubergewichts entstand konsolidierten Staaten gegenüber die Politik der Reunionen. Damals, noch im Werden begriffenen Staaten und Nationalitäten gegenüber, konnte man hoffen, über ganze Länder ein beherrschendes Übergewicht zu behaupten. Und von diesen Motiven der Machterweiterung, nicht von dem Schatten einer Kaiseridee ist die Politik unserer Vorfahren bestimmt gewesen, wie die unsrige. Es gab später eine Zeit, in der man von einem Schatten der Kaiseridee, später dann auch von ihrer juristischen Theorie lebte: aber diese Ideen bildeten sidi gerade erst in ihrer vollen Konsequenz aus durch die Fortschritte der
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kaiserlichen Macht. Sie waren die Folgen, nicht die Motive der Politik Ottos des Ersten. Wir können also dodi, wie genau wir auch die geistvollen Grundlinien verfolgen mögen, welche Sybel der Auffassung Giesebrechts gegenübergestellt hat, uns nur darüber freuen, daß Giesebrecht von den sozusagen unserer Nation natürlichen Anschauungen aus, an welche sich auch Stenzel und Ranke angeschlossen haben, seine „Kaisergeschichte" geschrieben hat. Es wäre höchst interessant, Untersuchungen über die Politik der Kaiser im Sinne Sybels vor sich zu haben: aber schwerlich wird die Historie sich je zu diesem negativen Standpunkt einer großen, glänzenden und fruchtbaren Epoche gegenüber entschließen. Man braucht kein Freund der Dialektik in der Geschichte zu sein, um doch das Bedürfnis zu haben, in Entwicklungen, von welcher der Charakter und die geistige Physiognomie unserer Nation unabtrennbar ist, eine innere Notwendigkeit, nicht den Erfolg falscher Politik zu erblicken. Und wie wollte unser Kritiker diesem Resultat entgehen? Einige Bemerkungen seien uns, nachdem wir so die Grundansicht des Werkes zu erläutern versucht haben, noch über die Ausführung des Ganzen verstattet. Bei der Geschichte der sächsischen Kaiser handelte es sich fast ausschließlich um die zusammenfassende und gliedernde Darstellung des bereits Erforschten. Doch hat auch hier die abermalige Durchforchung an verschiedenen Punkten neue Resultate gegeben, so in bezug auf den Einfluß des Willigis zur Vorbereitung der Kaiserwahl, auch z . B . in bezug auf den bayerischen Krieg von 954 und 955. Ebenso enthält der Anhang über die städtischen Verhältnisse Roms im zehnten Jahrhundert neue Resultate. Bei Heinrich II. und den beiden bisher behandelten Saliern verließ den Verfasser die Hilfe der „Jahrbücher". Es ist bekannt, daß der vor kurzem inmitten dieser Forschungen zu Paris verstorbene Berliner Historiker Siegfried Hirsch seit vielen Jahren mit unermüdlichem Fleiße Jahrbücher vom Regierungsantritt Heinrichs I I . ab vorbereitete, welche sich jenen der Ottonen anschließen sollten. Wir haben noch nicht vernommen, ob wir wenigstens aus seinem Nachlaß eine Veröffentlichung des etwa Vollendeten und eine Vollendung des Begonnenen erwarten dürfen. Und gerade die sichere Erfassung der Politik dieses Kaisers bietet eigentümliche Schwierigkeiten. Zwar das Legendenbild des heiligen Heinrich, wie es sich in seiner Stiftung Bamberg ausgebildet, und wie es in der Darstellung Adalberts, des Diakons der Bamberger Kirche, auf lange hin die Geschichtsschreibung beherrschte, hatte Gfrörers scharfer historischer Blick bereits zerstört. Aber seiner desultorischen Art gegenüber galt es, durch genaue Abwägung und Vergleidiung besonders der sächsischen Quellen ein kritisch sicheres Bild zu gewinnen. O b es möglich war, kritische Sicherheit und inneren Zusammenhang in der Geschichte dieses Kaisers zugleich jetzt schon zu erreichen? Die entgegengesetzten Urteile über Giesebrechts Darstellung scheinen dagegen zu sprechen. Man will zugleich in seiner Auffassung Willkür finden, und vermißt den Zusammenhang, welchen Gfrörers größere Kühnheit durch Hypothesen dem Leben dieses Kaisers gegeben hatte. Dieser hatte allerdings das merkwürdige Überspringen vom slawischen zum italienischen Feldzug, ebenso die Gründung Bambergs zusammengewebt mit den übrigen Tatsachen. Aber der Einschlag der Hypothesen von der sylvestri-
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sehen Partei, von der Absicht des Kaisers von Tuszien aus auf den Papst einen Druck auszuüben, dann in bezug auf Bamberg das Aufstreben seiner Verwandten zu mäßigen, indem er ihnen seine Bamberger Allodialgüter entzöge — dieser ganze Einschlag ist völlig problematisch. Es liegt etwas in dem Charakter dieses Kaisers, was den Einblick in seine Politik erschwert. Im Kampf der Gewalten nicht ohne List, ja wie es scheint nicht ohne schwere Schuld emporgekommen, scheint er audi gegen seine Umgebung verschlossen: mit sich selbst berät er alles; lange trägt er Pläne mit sich herum, bis das Moment ihnen günstig entgegenkommt; eine tiefkluge, zähe, listige Natur, die sich keiner Partei zu vertrauen wagt; die größte Gunst schenkt er gedemütigten Feinden. Auch wenn die Quellen weit reichlicher und was das Wichtigste ist, mit weit größerem politischen Verstände von seinen Plänen und Taten Kunde gäben, wäre es schwer, in sein Inneres zu dringen. Nun ist aber offenbar gerade für seine Zeit ein großes Mißverhältnis zwischen der tätigen Politik und der Geschichtsschreibung, welche mit den Geschäften unbekannt, von ihren Bischofssitzen und Klosterzellen aus die Weltangelegenheiten auf zeichet; auch wo Bischof Thietmar am Hofe war, war er offenbar nicht der Mann, in die verschlossenen Pläne dieses Kaisers zu dringen. Weit günstiger steht es hier mit unserer Kenntnis Konrads II. Wie manches Wipo als Hofmann verschweigt, so ist er doch über die politischen Verhältnisse trefflich unterrichtet und vollkommen fähig, sie zu erfassen. Die Politik Konrads ist offen. Er macht kein Hehl aus seiner weltlichen Behandlung der Kirche, den sich erhebenden Kluniazenser Tendenzen gegenüber verhält er sich offen abwehrend, das geheime Widerstreben des straff beherrschten deutschen Bischofstums, den offenen Widerstand Ariberts von Mailand braucht er nicht zu fürchten, so lange ein Johannes XIX. auf dem römischen Stuhle sitzt. Der Familienintrigen, welche er bei einigen seiner Vorgänger so schädlich wirken sah, entledigte er sich offen, indem er die Verwandten zu Geistlichen machte. Die Herzogtümer suchte er selber in die Hand zu bekommen. Giesebrecht hat die offenen Züge seiner Politik zur klaren Anschauung gebracht; das Charakterbild, das er von ihm entwirft, ist sprechend, man begleitet diese tätige, energische, offene Natur überall mit Freude, wenn man die verschlungenen Wege der Politik Heinrichs II. durchlaufen hat. Wie ganz anders ist dann die Lage der Geschichtsschreibung Heinrich III. gegenüber! Sein Charakter und seine Lage sind nicht weniger verwickelt als Heinrichs II. Kirchen- und Staatengeschichte sind hier gar nicht zu trennen. Denn der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in den Beziehungen zur Kirche; in diesen fühlt sich sein gewandter, verschlagener, zugleich von dem großen Streben des Jahrhunderts nach kirchlicher Reform durchdrungener Geist am meisten zu Hause. Das Verständnis und tiefe Studium der kirchlichen Bestrebungen des Jahrhunderts, welches überhaupt als das ist aber offenbar gerade für seine Zeit ein großes Mißverhältnis zwischen der Auffassung dieser Verhältnisse seine vollste Frucht. Wir stehen nicht an, Darstellungen, wie die der Kluniazenser Bestrebungen Leos IX. für das Höchste zu erklären, was bisher Giesebrechts Geschichtsschreibung gelungen ist. Gfrörer hat Heinrich III. zu einem Heuchler gemacht. Giesebrecht hat es verstanden, die feinen Linien, in welchen in diesem herrschsüchtigen und doch der Verhandlung und
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mittelbaren Einwirkungen mehr als dem Krieg und energischer Handlung geneigten Geiste die fromme Begeisterung für die große Reformtendenz des Jahrhunderts und die kluge hinterhältige Benutzung derselben sich kreuzen, mit objektivem feinfühligen Sinne auseinanderzuhalten. Aber ebenso haben uns die vorwiegend politischen Partien mehr als irgendwelche in der früheren Kaisergeschichte angezogen. Wie vortrefflich ist die Geschichte der normannischen Eroberungen in Italien behandelt! Hier freilich stand ihm eine höchst bedeutende Quelle zu Gebote, die Stenzel noch nicht zugänglich war: die „Geschichte der normannischen Eroberung" von Amatus aus Salerno, eines der besten geschichtlichen Werke des Mittelalters. Welchen Einblick in die eigentümliche Art der politischen Kombination Heinrichs III. gibt Giesebrechts Nachweis, wie Heinrich durch die Kongregation von Cluny eine friedliche Eroberung des von Parteien zerrissenen Frankreichs versuchte! Wenn man am Schlüsse dieses Bandes steht, sieht man alle Fäden in den Händen des Historikers, aus deren Verwebung durch Gregor das unglückselige Schicksal Heinridis IV. sich entwickeln sollte, dessen Darstellung von Giesebrechts Hand wir mit der größten Spannung erwarten. Nur ein Bedenken sei uns auszusprechen erlaubt. Der Verfasser dieser „Kaisergeschichte" hat sich durch eigene frühere glückliche Tätigkeit in die Bedürfnisse der Schule eingelebt, und voll von dem Wunsche, zur Vorbereitung für die Geschichtsbetrachtung auf der Universität eine tiefer einführende Darstellung in Händen der Jugend zu sehen, hat er auch auf diese die Wirkung seiner Geschichte ausdehnen eigentümlichste Verdienst Giesebrechts in diesem Bande erscheint, trägt in der zugehen. Sollte es auch in der Tat möglich sein, diesen Nebenzweck mit jenem größeren einer nationalen Kaisergeschichte zu vereinigen? Jünglinge bedürfen einer die Dinge im großen und im reinsten Lichte anschauenden Begeisterung; ungern trübt man ihnen die Freude an den Heldengestalten der Vergangenheit durch zersetzende politische Analyse. Solcher Behandlung widerspricht aber das männliche Bedürfnis, Leidenschaft, Ehrgeiz, politische Berechnung zu sehen wie sie sind, die Notwendigkeiten der Politik, die Schatten, welche alles Große wirft, zu erblicken, einer nüchternen mit dem Lauf der Welt vertrauten Kritik politische Handlungen zu unterwerfen. Gfrörer schon hat mit Recht bemerkt, daß man Geschichte schreiben müsse für weltkundige Männner, und ohne Frage liegt der Zug dahin in unserer neuesten Geschichtsschreibung, so daß kaum jemand daran denken möchte, Mommsens „Römische Geschichte", deren Stoff doch unserer Jugend so viel näher liegt, ihr in die Hände geben zu wollen. Und so will es uns scheinen, daß audi Giesebrecht wohl daran täte, auf diesen Nebenzweck zu verzichten und in den kommenden Bänden, deren Stoff rein männliche Gesichtspunkte verlangt, eine Fessel vollkommen abzuwerfen, die ihm immer beschwerlicher werden muß.
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Goethe als Staatsmann Ein Vortrag von Adolf
Schöll
Nach einer längeren Pause las den 14. März [1861] Adolf Schöll aus Weimar über „Goethe als Staatsmann". Es ist bekannt, daß dieser auch auf dem Gebiete des Altertums wohlbewanderte Gelehrte zu den unermüdlichen Bearbeitern des Goetheschen Lebens gehört, welchen wir es verdanken, wenn dieses Leben so klar vor uns aufgeschlossen liegt als kein anderes des letzten Jahrhunderts. Vollkommen vertraut mit Goethes täglichem Leben, mit seinen geheimsten Gedanken in diesen Jahren, wie er es als Herausgeber der Korrespondenz Goethes mit Frau von Stein und des Tagebuchs desselben ist, dazu durch ein reiches ungedrucktes Material, das ihm die Liberalität des weimarischen Hofes zugänglich machte, seit langem über Goethes geschäftliche Stellung, ja über seine intimen Bezüge zum Herzog genau unterrichtet: war er ganz der Mann, die geschäftliche Seite der Goetheschen Tätigkeit im Kreise dieser Vorträge würdig zur Geltung zu bringen; es gelang ihm, ein einfaches und klares Bild dieser Tätigkeit und ihrer Erfolge zur sichtlichen Freude der Zuhörer zu entwerfen. Ob nun auch das Resultat so genauer Untersuchungen, als er sie an der Quelle selber anstellen durfte, diese Zuhörer alle überzeugt hat? Wir fürchten doch, der Redner hat zuviel zu beweisen unternommen, und so sind seine Beweise weniger überzeugend, als sie sonst hätten sein können. Die bekannten Angriffe bedeutender Literarhistoriker gegen diese Wendung in Goethes Leben, welche ihn in Geschäfte und Hofleben eines kleinen Staates verwickelt, haben ihn verleitet, einen Gegenbeweis gegen die von diesen hingestellte Meinung anzutreten, welcher der Natur der Sache nach nicht geliefert werden kann. Den Entwicklungsgang einer großen Individualität der Kritik zu unterwerfen, überschreitet überall die Grenzen unseres historischen Wissens. Teils verlangt eine solche Kritik das Abwägen abstrakter Möglichkeiten; teils setzt sie eine bestimmte Ansicht über das Verhältnis der ursprünglichen Organisation zu den Möglichkeiten des Schicksals voraus, die durchaus jenseits unserer Wissenschaft liegt. Bedauert man die Wendung in Goethes Leben, so setzt man voraus, daß ein größerer, nationalerer Gang seines Geistes in seiner Organisation angelegt gewesen sei, wogegen sich vieles einwenden läßt; man setzt ferner voraus, daß im damaligen Deutschland ein Ort gewesen sei, diese Organisation frei zu entwickeln, was sich nicht beweisen läßt; man zerstört die schöne Erscheinung einer notwendigen Entwicklung, von welchem jedes geniale Leben umgeben ist, und man setzt die Schatten unbestimmter Möglichkeiten an deren Stelle. Nicht besser geht es denen, welche sie verteidigen. Denn sie beweisen eben kaum etwas anderes, als daß das Resultat genialer Bildung eben nur durch seine wirklichen Ursachen zustande kommen konnte: sie spinnen die Reihe von Ursachen und Wirkungen nach rückwärts ab. Konnte Goethe nur in Weimar der Dichter der Wahrheit, des Gemüts und der Natur werden, als den wir ihn lieben, so ist damit noch nicht gesagt, ob nicht der große Gang einer nationalen, alle Elemente des voranschreitenden Geistes in sich sammelnden Literatur, wie ihn Lessings einsamer, gewaltiger Geist begann, von unendlich größerem Werte für unser Volk gewesen
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wäre, ob nicht der feurige junge Goethe der M a n n gewesen wäre, ihn fortzusetzen. N a c h beiden Seiten, finden wir, verläuft doch das Urteil in das Gebiet bloßer Meinungen. Selbst die eigenen Urteile des Dichters, widersprächen sie auch einander nicht, wie sie doch offenbar tun, w ä r e n f ü r uns keineswegs v o n überzeugender K r a f t . Wie notwendig täuscht sich auch der Begabteste über seinen Entwicklungsgang, indem er im stillen voraussetzt, d a ß er eben h ä t t e werden sollen, was er geworden ist; w i e k ö n n t e m a n sonst wagen, d r a u f l o s zu leben! U n d so sind w i r denn dem R e d n e r am meisten f ü r den Nachweis zu D a n k verpflichtet, in welchem er über die Ausdehnung u n d die W a n d l u n g e n von Goethes geschäftlicher Stellung rein sachlichen Bericht gab. Seinem Urteile dagegen stellen wir doch das des kühlen u n d scharfsichtigen Merck gegenüber, dem das weimarische Treiben des Dichters nicht behagen wollte, u n d das Niebuhrs, der bekanntlich gesagt hat, das weimarische H o f l e b e n sei die Delila gewesen, welche unserem deutschen Simson seine Locken (will sagen, das Zeichen seiner Freiheit) u n d d a m i t das Geheimnis seines hohen Berufs geraubt habe. Nicht damit sie ihrerseits überzeugen, stellen wir sie gegenüber, sondern damit m a n sich die problematische N a t u r von dergleichen Urteilen gegenwärtig halte. Wenn m a n von Goethe als S t a a t s m a n n spricht, so k a n n eigentlich nur von dem Zeitraum von zehn J a h r e n (1776—1786) die Rede sein, in welchem er v o m Legationsrat aufsteigend — er w a r damals siebenundzwanzig J a h r e alt — in der weimarischen Administration selber tätig w a r . E r hat z w a r nach seiner Rückkehr aus Italien die Leitung der Bildungsanstalten beibehalten, auch im geheimen R a t e Sitz u n d Stimme behalten, aber er h a t w ä h r e n d der v i e r u n d z w a n z i g J a h r e seinen Stuhl im geheimen R a t e nicht mehr eingenommen; sein Einfluß w a r ein rein persönlicher. Die Geschäfte dieser zehn J a h r e h a t m a n nun mit seiner poetischen Bestimmung unvereinbar gefunden; m a n h a t gemeint, seine Poesie oder die Geschäfte, eins von beiden h ä t t e d a r u n t e r leiden müssen. U n d diese A l t e r n a t i v e untersucht der Redner. Die F r a n k f u r t e r Praxis des jungen D o k t o r s der Rechte scheint allerdings keine große Ausdehnung gehabt zu haben, obwohl der Alte sich mit vielem Behagen erinnerte, wie die A d v o k a t u r , die er unter Anleitung des Vaters mit H i l f e eines geschickten Konzipienten betrieben, ein leidlich einträgliches Geschäft gewesen sei, ihm sogar gelegentlich ein Belobungsschreiben des Reichshofrats eingetragen habe. Aber die Poesie erscheint hier durchaus im Übergewicht. G a n z anders in Weimar. Vergleicht man, was Goethe in jenen vier ersten J a h r e n p l a n t e u n d vollendete, mit dem E r t r a g e der elf folgenden, so liegt der Unterschied am Tage. Von Tragödien fällt nur „Iphigenie" in diese Periode; die kleinen Spiele sind weniger lebendig als die der brausenden Jünglingszeit; am „ E g m o n t " w u r d e wenig gefördert; v o m „Wilhelm Meister" entstanden sechs Bücher. Wie m a n hiernach behauptet, d a ß die Poesie unter der Praxis gelitten habe, so soll auch diese jener schädlich gewesen sein. M a n beruft sich dabei auf Äußerungen anderer, welche das rasche Steigen des jungen Mannes verwunderlich fanden, auf seine eigenen Äußerungen, wie sie teils in einzelnen verstimmten Momenten hervorbrechen, teils von Italien aus herbe genug erklingen. Er habe sich selbst erst d o r t wiedergefunden, erklärt er.
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Der Redner erwähnt heiter, wie er selber ehedem in Schriften an solchen Anklagen Teil genommen habe; er unterzieht die Hauptpunkte derselben einer Kritik. Muß in der Tat notwendig Goethes Dichtung durch die Praxis verloren haben, weil die erste Raschheit in den Produktionen stockt in diesem Dezennium? Zweierlei ist doch zu bedenken. Einmal fällt die ganze Umbildung seines Stils in diese Periode. Vergleicht man nur die neue Auflage des „Werther" mit der ersten: wie ist da aller reine Naturalismus zur Poesie geklärt, wie sind die Motive vervollständigt, in idealer Konsequenz durchgebildet! Das andere ist: Goethe hat nur aus der Hand der Wahrheit den Schleier der Dichtung empfangen; in den Studien und in der Weltkenntnis dieser Jahre wurzelt daher durchaus diese Poesie. Und ebensowenig sollte man die Schlüsse aus der verschlossenen Schweigsamkeit jener Jahre, welche Zeitgenossen zogen, ohne weiteres hinnehmen; wen hätte er teilnehmen lassen können an der inneren Bildungsgährung seines Gemüts, welche jene Jahre erfüllte? Selbst Schwankungen der eigenen Stimmung bleiben keinem Strebenden erspart. Das durchschlagende Gefühl jener Jahre war doch das der Befriedigung. Er versichert die Freunde im Anfange der neuen Amtstätigkeit, durchaus glücklich zu sein und dem Schicksal dankbar; sogar der Druck der Geschäfte habe sein Gutes: entladen spiele man dann nur um so freier und heiterer. Er lebe gegen die Welt in der tiefsten Stille, und wachse und gewinne, was sie ihm durch Feuer und Schwert nicht mehr abnehmen könne. Fehler — sagt er dann später — habe er gemacht, sei durch manche Unruhe gegangen; aber keinen von diesen habe er für sein inneres Werden entbehren können. Und so könne er sich keine andere Lage denken in Deutschland, in welcher überzugehen er irgend vorziehen könnte. Treffend ist, wenn er im folgenden Jahre ganz in derselben Stimmung sagt: „Ich danke Gott, daß er mich mit meiner Natur in eine so engweite Situation gesetzt hat." Zeigen nun so Dichtungen, Tagebücher und Briefe, wie seine Selbstbildung geräuschlos doch mächtig voransdiritt, so liegt die Wendung nur um so näher, ob nicht dann vielleicht die Geschäfte verloren durch seine Poesie. Hier ist sehr notwendig, seine persönlichen und amtlichen Verhältnisse zum Herzog zu unterscheiden. Die Grundlage lag in jenem persönlichen Verhältnisse, in welchem beide sich in dem Gelübde begegneten, auf dem Boden, welcher dem Fürsten gehörte, ein menschenwürdiges Dasein zu gestalten. Wie mitten in dem munteren Leben der ersten Jahre, in dem gastfreien Treiben, den poetischen Spielen, der Umschau auf Reisen Goethes tätiger Sinn den Fürsten förderte, ist bekannt genug. Freilich ist schwer zu unterscheiden, wieviel von den Anregungen des jungen Fürsten dessen eignem Sinne, welcher durchaus auf lebendige und bewegte Existenz gestellt war, wieviel dem des siebenundzwanzigjährigen Mentors zukam. Aber über dies alles hinaus liegen — noch ungedruckt — Zeugnisse vor, mit wie edlem freiem Geist er das Verhältnis zum Freunde nahm; andere gedruckte sind allbekannt. Am wichtigsten ist uns doch für unseren Zweck die Betrachtung von Goethes amtlicher Wirksamkeit. Das Ilmenauer Bergwerk, dann wirtschaftliche Verbesserungen, die man in Aussicht nahm, beschäftigen ihn zunächst; auf mancherlei Dienstreisen lernt er Land und Leute kennen; mitten im poetischen Spiel und Hofleben werden die Geschäfte ernst betrieben. Dann, von der Reise in die Schweiz zurückkehrend, beginnt er die
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Domänenverwaltung ins Auge zu fassen. Vertrauliche Mitteilungen verschiedener Personen, Besprechungen mit Herrn von Kalb selbst ließen ihn um diese Zeit durchschauen, wie wenig dieser Kammerpräsident seinen amtlichen Verpflichtungen genüge. Wenn nun um diese Zeit der Kammerpräsident von Kalb entlassen wird — der Redner, welcher die Akten vor Augen hatte, findet, daß die Entlassung noch eine sehr milde Form des Verfahrens für die Lage der Sachen gewesen sei — und Goethe dessen Geschäfte zu seinen übrigen übernahm, so ist klar, wie er diese Entlassung bewirkt hat und dann sich verpflichtet fühlte, auch die damit erwachsende neue Arbeit, die Verhältnisse in besseren Stand zu setzen, zu übernehmen. „Ich sehe weder rechts noch links und dabei bin ich vergnügter als jemals — was nun geschieht, muß ich mir selbst zuschreiben." So bezeichnet er einem Freunde seine Lage bei Übernahme der neuen Geschäftslast. „Du kannst denken, daß ich über diese Dinge mit niemand spreche, die Menschen müssen verschieden über solche Vorfälle urteilen, und man muß tun, was man muß." Man bemerkte um diese Zeit, wie er schweigsamer und verschlossener wurde und schrieb es einer Überhäufung von Geschäften zu. Aber es blieben doch dem Dichter neben der Zeit am Hofe und für die dortigen Festspiele Stunden genug, um die ersten Bücher des „Wilhelm Meister" heranwachsen zu lassen; draußen mitten in den amtlichen Geschäften schlossen sich zuerst seine geologischen Studien zu einer klaren Übersicht zusammen; osteologische Gedanken regten sich; mit Entzücken lernte der Dichter die Natur in ihrem inneren Zusammenhange erfassen. Noch vor Ablauf des zweiten Jahres hören wir ihn dann rühmen, die ökonomika ständen auf einem guten Grunde. Und daß er wirklich — wie er es sich versprochen hatte — in diesen zwei Jahren der Kammerverwaltung alle Fäden der Ordnung in seine Hand bekommen hatte, geht daraus hervor, daß er schon im Verlauf des dritten den Vorsatz zur italienischen Reise — nur seinem Fürsten bekannt — hegen konnte, wie er denn italienisch zu treiben und sonst das Nötigste vorzubereiten begann. Ein Zweifel bleibt. Warum arbeitete er von Italien aus so eifrig, ja heftig an seiner Loslösung von den Geschäftenf Wie leidenschaftlich schreibt er an Herder, der diese Sache dem Herzog vortragen soll! „Erhalte mir ein Leben, das sonst ohne jemandem zu nutzen zugrunde geht." Allerdings — und für die Auseinandersetzung dieser Verhältnisse sind wir nun dem Redner zu besonderem Danke verpflichtet — allerdings hatte Goethe Erfahrungen gemacht, welche seiner Stellung nicht mehr die ehemalige Wirksamkeit versprachen. Zwei Hauptabsichten, die er bei seinem ursprünglichen Eintritt in den Dienst gehegt, hatte er aufgeben müssen. Die erste: die Hoffnung, geistig bedeutende und produktive Männer in das Weimarische zu ziehen, die, an Hof und Staat geknüpft, ins Allgemeine wirkten. Wäre überhaupt, einen solchen Verein von Auserwählten zu schaffen, Sache menschlichen Planes, so war doch jene Zeit wenig geeignet, dergleichen zu verwirklichen, in der man sich zwar suchte, aber dennoch einander innerlich fern war. Goethe selbst hat diesen Zustand als „aristokratische Anarchie" bezeichnet und mit dem Verhältnisse der aufstrebenden Gewalten im Mittelalter verglichen. War doch jene Zeit in der Tat eine Art Mittelalter der modernen Bildung. Die andere Hauptabsicht war: die Landesverwaltung und Landeskultur des jungen Fürsten zu gedeihlicher Ent4
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wicklung zu bringen. U n d diese hat er zunächst fest im Auge behalten. D i e feudalen Verhältnisse machten die größten Schwierigkeiten; drei Landschaften mit gesonderter Verwaltung und Steuerbewilligung standen nebeneinander; ebenso waren unendliche partikuläre Rechte und Pflichten einer einheitlichen rationellen Landesökonomie hinderlich. Es ist ferner nicht zu verschweigen, wie das Naturell des jungen Fürsten die Absichten seines Kammerpräsidenten kreuzte. Besonnene, vorbedenkende Weise und Konsequenz waren Goethes innerstes Wesen; K a r l August war ein heroischer Charakter, in welchem der unmittelbare Impuls alles tat. Sich ein für allemal durch bestimmte Linien zu binden, dazu war er nicht geschaffen. Nichtsdestoweniger sehen wir Goethes Forderung einer besonnenen Beschränkung und einer Regelmäßigkeit in Ausgabe und Einnahme für die erste Zeit durchdringen. „Haben S i e " — so schließt gegen Ende des ersten Jahres ein Schreiben über die Auszahlungen für den H o f an den betreffenden Beamten — „die Güte und machen Ihre Einrichtungen danach, denn ich muß entweder Johanni in Ordnung kommen oder abdanken." D a er im ersten wie im zweiten Monate des nächsten Jahres den Zustand der ö k o n o m i k a lobt, so ist ersichtlich, daß der Herzog doch seine Konsequenz gewähren ließ. Aber schon im Herbst sehen wir, wie sich die Sache ändert. D e r Herzog läßt sich auf diplomatische Reisen ein, in denen er sich für andere kompromittierte; bereits w a r er zum Übertritt in preußische Kriegsdienste entschlossen, was Goethe mit der Forderung einer Pflege des eigenen Herdes mit Recht für unvereinbar erachtete. Damals nun trat jener schweigende und in sich gekehrte Zustand Goethes edn, von dem er dann zu R o m sagte, er möchte ihn seinem Feinde nicht wünschen. E r gibt im April und Mai 1785 Knebel seine Absicht zu erkennen, seine Finanzstellung aufzugeben. Noch arbeitete er in derselben, aber wie er gestand, nicht mehr nach seinem Plane: er suchte nur abzugleichen, so viel sich tun ließ. Somit war auch seine zweite Hauptabsicht vereitelt. Was konnten ihm finanzielle Angelegenheiten sein, wenn es nicht mehr seine Grundsätze von Landeskultur und gleichmäßiger Ökonomie galt? Daher dieser Umschlag, der sich in R o m in so leidenschaftlichen Ausdrücken Luft macht. Derselbe heroische Sinn seines Fürsten, welcher denselben über die Finanzpläne Goethes hinweggetrieben hatte, zeigte sich jetzt in der edlen Weise, in der er dessen Abschiedsverlangen verstand und entgegennahm. Gelangten nun so auch diese Pläne für eine rationellere Landesökonomie nicht zur Durchführung, so war es doch Goethes Verdienst, sie in Gang gebracht, den Herzog in jene Verhältnisse hineingewiesen zu haben, zu denen derselbe später mit dem lebendigsten Eifer zurückgekehrt ist. U n d versammelte Goethe keine Akademie in dem Herzogtume, so ist er selber dort ein unvergleichlicher Lehrer der N a t i o n geworden, mehr als irgendeine Akademie es bis jetzt gewesen. Für diese Darlegungen der verschiedenen Phasen der geschäftlichen Wirksamkeit Goethes, seiner Maximen in demselben, welche die Grundzüge seines Charakters so schön von einer neuen Seite zeigen, und seiner wechselnden Erfolge, sagen wir dem Redner unsern besten D a n k . Nicht minder für die männliche und fachliche A r t der Auffassung und des Vortrags.
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Englische Geschichte Henry Thomas Buckle, Geschichte der Civilisation in England. Übersetzt Arnold Rüge. 1. Band, 1. Abteilung, Heidelberg!Leipzig 1860.
von
Der erste Band dieses weitschichtigen Werkes stellt sich zur Aufgabe, der ausführlichen Erzählung von der Entwicklung der Zivilisation in England eine Geschichte derselben bei den verschiedenen europäischen Völkern überhaupt in neueren Zeiten, philosophisch zusammengefaßt, vorausgehen zu lassen. Einen Teil dieser Aufgabe behandelt nun auch der vorliegende Band; er beschäftigt sich mit einer Untersuchung der Zivilisation Frankreichs, wie sich dieselbe seit dem Aufkommen der modernen Ideen von Staat und 'Wissenschaft, also seit Richelieu und Descartes, gestaltet hat. Dieselbe Untersuchung soll dann noch für Deutschland, Amerika, Schottland und Spanien nachfolgen. So soll der Typus der intellektuellen Entwicklung für alle Hauptvölker Europas festgestellt, das Übereinstimmende in demselben, sowie die Ursachen seiner Verschiedenheit aufgezeigt werden. Und so dringt dann die Untersuchung zu den Grundzügen dieses Typus, wie Buckle sich ausdrückt, zu den Gesetzen des europäischen Denkens vor, in denen man den Schlüssel für die Erkenntnis sowohl des großen Zusammenhanges der neueren Ideen, als auch seiner wichtigsten Modifikationen besäße. Was kann alle Geschichtsforschung Größeres wollen als dieses? Zu dieser Größe der Aufgabe kommt, daß der Verfasser auf diesem umfassenden Gebiete nicht etwa mit aus anderen Historikern kompiliertem Material arbeitet: er hat an den Hauptpunkten seines ausgedehnten Gebiets die Quellen, obwohl in seiner eigentümlichen Manier, welche bestimmte Gesichtspunkte ohne Sinn für das Komplizierte und Individuelle in den historischen Erscheinungen verfolgt, dennoch in großer Fülle und mit Sinn für das Entlegenste, wenn es sich diesem Gesichtspunkt unterordnen läßt, gelesen: es kann nicht fehlen, daß er vieles zum ersten Male sieht, obwohl diese Art des Studiums immer in der Gefahr ist, durch Einseitigkeit neu zu sein. Das Buch hat trotz solcher Vorzüge, wenigstens in Deutschland, schon in seinem ersten Bande die entschiedenste, ich glaube fast ausnahmslose Ungunst der Kritik erfahren: einer Kritik, welche doch sonst nicht gerade die höchsten Anforderungen an die Geschichtsschreibung zu machen pflegt. Es lag dazu eine Ursache in der allgemeinen Abneigung gegen die demokratisch-industrielle Partei Englands, welche nur durch ihre Ohnmacht gehindert wird, Englands Größe zu zerstören, und der auch Buckle angehört. Es liegen aber auch in der wissenschaftlichen Beschaffenheit des Buchs dazu Ursachen genug. In den Grundsätzen läuft alles Neue auf eine maßlose Anwendung der Analogie der Naturwissenschaft auf die Geschichtsforschung hinaus. In der Durchführung derselben herrscht eine den Tatsachen abgezwungene Regelmäßigkeit, die einförmig, eine Klarheit, die dürftig wird. Es wird ein Begriff der Geschichte aufgestellt mit dem Anspruch, damit zuerst das Wesen derselben und ihre Würde hinzustellen, welchem doch die folgende Geschichtserzählung so wenig als irgendeine andere Welt entspricht. Der Ruhm der großen Entdecker von Naturgesetzen läßt den Historiker nicht schlafen — auch 4''
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die Historie soll ein Wissen von Gesetzen sein. Buckle ist nicht der erste, den der Geist der Naturwissenschaft in diese Gedankenreihe hineintreibt. Aber was sind das für Gesetze, die er findet? In diesem Bande tauchen nur zuweilen welche auf: aber man sieht sie nie ohne Lächeln zum Vorschein kommen. Da ist zum Beispiel gleich vorn von dem Gesetz des fortschreitenden Skeptizismus die Rede (Seite 14) — eine einfache Plattheit, von der kaum zu reden verlohnt, geschweige denn, daß sie Entdeckung eines historischen Gesetzes wäre. Es wäre eine lohnende Untersuchung, über die Anwendbarkeit dieses Begriffs des Gesetzes auf die letzten Sätze, zu denen die Geschichte fortschreitet, über den Wert der vergleichenden Methode, deren Resultate eben Gesetze sind, für eine Wissenschaft, die es mit einer kontinuierlichen Entwicklung zu tun hat, zu reden. Aber unsere deutsche Philosophie der Geschichte, wie sie die „Zeitschrift für Völkerpsychologie" im Auge hat und der dritte Teil des „Mikrokosmos" von Lotze verspricht, bieten wahrlich würdigere Gelegenheit davon zu reden, als diese Schrift, deren totale philosophische Unkenntnis zutage tritt. Von dieser Seite des vorliegenden Bandes also reden wir lieber nicht: sie steht unter dem Standpunkt der gegenwärtigen deutschen Wissenschaft: wozu sie bekämpfen, da sich kaum jemand für sie interessieren kann? Der Band hat eine andere, bessere Seite. Sieht man von allen Versprechungen ab und nimmt ihn schlichtweg für das, was er ist: so haben wir in ihm eine Geschichte der geistigen Entwicklung Frankreichs von Richelieu und Descartes bis auf die Revolution, welche voll von einseitigen, aber höchst eigentümlichen und geistvollen Ansichten und Bemerkungen ist, ganz gemacht, bisherige Darstellungen zu ergänzen, einen vollständigeren und tieferen Einblick in diese Entwicklung anzuregen. Von zwei Grundgedanken ist diese ganze Entwicklung beherrscht; der erste ist längst tiefer eindringend durchgeführt, besonders von Tocqueville und nach ihm von Gervinus: Frankreichs innere Geschichte als eine Geschichte fortschreitender Zentralisation oder, wie es Buckle nennnt, fortschreitender Bevormundung des Geistes. Den andern Gedanken hat er zuerst durchgeführt, und derselbe entsprang aus seiner eigentümlichen religiösen und wissenschaftlichen Denkart; die Fortschritte der Kultur sind ihm identisch mit denen der Skepsis und der exakten Wissenschaft. So verläuft die neuere Geschichte des französischen Geistes in dem wechselnden Verhältnis zwischen den Mächten des bevormundenden Geistes und der skeptischen und exakt wissenschaftlichen Denkart. Unser Historiker ist ohne Sinn für jede positive Gestalt, mag sie der Phantasie oder dem Denken des Menschen entspringen. Sein jungenglisches Ideal ist die Herrschaft des Interesses über Individuen und Staaten. E r beurteilt die ganze Vergangenheit schlechtweg nach den Grundsätzen der Handelsfreiheit, der Freiheit der Sekten und des Denkens, nach dem Ideal des selfgovernments. Von solchen Grundsätzen geht nun zunächst seine Anschauung der Periode aus, in welcher das französische Staatsprinzip sich im Kampf gegen die Protestanten feststellte. Indem er weltlich skeptischen Sinn bei den Katholiken, religiösen Eifer bei den Protestanten vorherrschend findet, schließt er, daß die Protestanten von Heinrich I V . ab bis zur Wendung der Politik Ludwigs X I V . die Vertreter der Un-
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duldsamkeit gewesen seien; er schließt daraus weiter, daß audi ihre politische Stellung derselben Unduldsamkeit, ja Anmaßung entsprungen sei. „Sie, die an Zahl und Geist eine klägliche Minderheit der französischen Nation ausmachten, nahmen eine Macht in Anspruch, welche die Mehrheit aufgegeben hatte und wollten denen die Duldung nicht zugestehen, die sie selbst genossen." „Sie bildeten nur einen kleinen Teil des Volkes, aber sie versuchten es, die Regierung des Königs zu kontrollieren und alle ihre Handlungen durch Drohungen zugunsten ihrer Partei zu wenden." Es ist merkwürdig, wie hier der Engländer von seiner einseitigen Konstruktion, nach welcher christlicher Glaube und Freiheit nie zusammenfallen, eingenommen, die merkwürdige Stellung, die der Protestantismus auch in Frankreich als Vertreter des Gegensatzes gegen jede Zentralisation eingenommen hat, vollkommen übersieht. Gervinus hat bereits auf die stete Solidarität aufmerksam gemacht, die zwischen dem Protestantismus und allen staatsverkleinernden partikularistischen Bestrebungen und zwischen dem Katholizismus und allen staatsvergrößernden zentralistischen Richtungen besteht. „Damals, als die Legaten Roms um 1562—1565 Frankreich so nahe dem Protestantismus wie Norddeutschland sahen, war auch das Land einer deutschen Zerteilung eben so nahe." Der protestantisch gesinnte Heinrich I V . sann auf Vernichtung aller universalmonarchischen Pläne Spaniens und Österreichs; Ludwig X I V . vernichtete sogleich den Protestantismus und trat in die Fußtapfen der spanischen Politik; Napoleons Universalreich vermochte wiederum den Katholizismus nicht zu entbehren. Man sollte denken, die Erwägung solcher Tatsachen müßte der historischen Anschauung jener provinzialen Kämpfe der Protestanten eine andere Wendung geben. Aus denselben Voraussetzungen entspringt nun die höchst eigentümliche Beurteilung der Politik Richelieus und Mazarins. In ihr begrüßt Buckle mit unverhohlener Freude den Anfang eines politischen Handelns nach reiner Kombination der Interessen ohne Berücksichtigung der inneren Verhältnisse und Beziehungen, die Staaten wie Individuen beherrschen. Es liegt im Wesen der protestantischen Staaten, daß sie einen Charakter haben, Abneigung und Liebe in ihrem Verhältnis zu den verschieden gearteten Staaten, bestimmte Normen des politischen Handelns, die sie nie ungestraft verletzt haben. Frankreich hat jene gesinnungslose Schaukelpolitik, welche zuerst von den verderbten italienischen Staaten aufgestellt worden ist, im größten Maßstab durchgeführt. Durch dies System ist es gekommen, daß sich kein stetiger politisch-religiöser Charakter dieses Landes durchgebildet hat. Und so verfiel das Land allmählich in jene Verwirrung der Tendenzen, welche es in der äußeren Politik so unruhig, in der inneren so unglücklich macht. Wenn nun Buckle die vollendete Durchführung dieser Politik durch Richelieu den Fortschritten des skeptischen Geistes in Frankreich zuschreibt, so übersieht er doch offenbar die nicht geringer anzuschlagende Ursache, welche in der Ausbildung des Despotismus liegt. Denn eine solche Politik ist ausschließlich möglich in despotisch regierten Ländern, in welchen der gesamte Staat einer ungeheuren Maschine gleicht, nach wechselndem Gutdünken gelenkt von der Hand eines einzelnen oder, wie es ehedem in Venedig der Fall war, in den Händen einer geschlossenen Aristokratie. Es ist daher höchst einseitig, in dem Aufkommen dieser
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Politik des bloßen Interesses einen reinen Fortschritt der Kultur zu erblicken. Genau wie die rein skeptische Geistesrichtung ist sie Ursache und zugleich wieder Erfolg eines nicht von innen naturgemäß beschränkten, sondern rein despotisch gelenkten Willens bei Einzelnen und Gesamtheiten. Es ist nun höchst interessant, mit Buckle die verschiedenen Formen zu verfolgen, welche die Bevormundung des Geistes durchläuft. Auf die Vorherrschaft des Klerus, welche in Frankreich in der Tat stärker als in irgendeinem der nördlichen Länder war, folgte die Übermacht der Aristokratie. Es ist geistvoll, wie Buckle aus der ursprünglichen Form der Lehensverfassung in England und Frankreich das Schicksal der Freiheiten des Volkes erklärt, wenn auch dabei andre Ursachen übersehen werden. Der normannische Adel, der als Armee des Königs nach England kam, war in einer völlig andern Lage als der erbangesessene Adel Frankreichs. Jener besaß seine Macht als Verleihung der Krone, der Adel in Frankreich durch Verjährung — wie gleichzeitig mit der Krone selber. Zu schwach infolge hiervon, sich selber zu verteidigen, verband sich in England der Adel mit dem Volke, die Zugeständnisse der Krone galten beiden. In Frankreich zerfiel die gesamte Bevölkerung in Beschützer und Beschützte. Der Adel verband sich mit der Krone. Als nun überall in Europa die absolute Monarchie das Feudalsystem und die alten Freiheiten des Volkes zu verdrängen versuchte und als dieser Kampf in den verschiedenen Ländern durch Gewalt und Revolutionen ausgefochten wurde, gelang die englische Revolution, da das Volk mächtig genug war, unter eigenen Anführern zu kämpfen; in Frankreich dagegen war es in den Aufständen des Landes genötigt, sich auf den Adel zu stützen, der es verließ. Und so bildete sich die absolute Monarchie in Frankreich aus. Von dem Bewußtsein dieser seiner Stellung wie kaum je ein zweiter Fürst durchdrungen, versuchte Ludwig XIV. der Bevormundung des Staates auch die Literatur zu unterwerfen. Es macht Buckle ein besonderes Vergnügen, den Nachweis zu liefern, wie geistige Produkte denselben Gesetzen unterworfen seien wie alle anderen; wie auch hier das Schutzsystem die Produktion verschlechtere, die Handelsfreiheit ihr allein förderlich sei, doch ist auch hier seine Art von Beweisführung vielen Einwänden ausgesetzt. Indem er davon ausgeht, daß Ludwig X I V . dieses System eingeführt habe und infolge davon unter ihm plötzlich die Wissenschaften den Druck des Staats zu empfinden begonnen hätten, übersieht er, wie bereits die letzten Jahre des Scaliger und Casaubonus von Sorge über den Zustand der klassischen Studien durch den wachsenden Einfluß der Jesuiten verdüstert waren, wie Saumaise, ihr Nachfolger, in Holland eine Stellung und Freiheit der Forschung fand, wie auch Descartes Amsterdam seiner Heimat vorzog, er übersieht wie auch was die schöne Literatur betrifft, das System Ludwigs X I V . bereits völlig vorbereitet war. Hatte man doch schon an eine Akademie zur Normierung der Sprache und des Geschmacks gedacht! So waren die Verhältnisse, unter denen sich die französische Literatur erhob, denen sehr ähnlich, unter denen sie, wie das in dem Charakter jeder großen Literaturepoche liegt, bald wieder sank. Freilich ist die Ansicht Buckles von dieser großen französischen Literaturepoche zugleich durch seine Anschauung vom Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bedingt. E r
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ist wohl der erste» der aus der neueren Theorie vom Supremat der Naturwissenschaften die vollständige Konsequenz für die Geschichte gezogen hat, dem die naturwissenschaftliche Entdeckung in allen Stücken höher steht als die poetische Erfindung. So kann er denn freilich vom Zeitalter Ludwigs XIV. sagen, daß in ihm „der Geist der Nation verkrüppelt durch die Protektion des Hofes den edelsten Wissenszweigen so entfremdet wurde, daß er in keinem derselben etwas hervorbrachte, was der Rede wert wäre. In natürlicher Folge davon flüchteten sich die Gemüter der Menschen, aus den höheren Wissenszweigen vertrieben, in die niedrigen Gegenstände, wo die Entdeckung der Wahrheit nicht die Hauptabsicht ist, sondern wo Schönheit der Form und des Ausdrucks die vorzüglichsten Gegenstände des Strebens sind." Nimmt man seine Darstellung innerhalb der Einschränkung solcher Ansichten, so ist in der Tat sehr lehrreich zu verfolgen, wie die mathematischen und astronomischen Wissenschaften, ebenso Naturwissenschaft und Geschichte vor dem System Ludwigs XIV. aus Frankreich nach England wichen und wie erst nach dem Tode desselben wieder größere Fortschritte in ihnen hervortreten. Denn in der Tat brach nun mit dem Tode des Königs eine Opposition der Literatur gegen das Bestehende los, welche um so gewaltiger war, je länger sie zurückgedrängt gewesen. Wie das bevormundete System selber, durchlief sie verschiedene Phasen und endigte erst in der vollkommenen Auflösung der bestehenden Zustände durch die Revolution. In der ersten Phase herrschte die Polemik gegen die bestehenden religiösen, metaphysischen und sittlichen Gedankenkreise weitaus vor. Die einzige Eigentümlichkeit Buckles in der Darstellung dieser Opposition liegt in genauem Nachweis des englischen Einflusses auf die einzelnen Schriftsteller. Wenn er freilich Seiten hindurch die französischen Schriftsteller aufzählt, welche der englischen Sprache mächtig gewesen, so ist das eine seiner wunderlichen Übertragungen einer ganz fruchtlosen Genauigkeit aus den exakten Wissenschaften in die historischen. An diesem Punkte wirft er nun aber auch einen Blick auf den Verlauf der historischen Wissenschaften in Frankreich, deren oppositionelle Stellung das Mittelglied zwischen der kirchlichen und der politischen Opposition bildet. Er bemerkt, wie seit den Mezeray und De Thou die Geschichte unter dem Einflüsse des großen Königs sank und wie erst der Geist der Opposition ihr neues Leben gab. In dieser Beziehung ist merkwürdig, daß die erste historische Schrift Voltaires, in der er den neuen Standpunkt auf die Geschichte anwandte, gegen das Zeitalter Ludwigs XIV. gerichtet war. Sie enthält bereits den entscheidenden Gesichtspunkt in prägnanter Fassung: „Ich wünsche", sagt er, „eine Geschichte zu schreiben, nidit über die Kriege, sondern über die Gesellschaft, um zu erkennen, wie die Menschen im Schöße ihrer Familien lebten, welches die Künste waren, die sie gewöhnlich betrieben. Denn", setzte er hinzu, „mein Zweck ist die Geschichte des menschlichen Geistes und nicht bloß ein Detail von kleinlichen Tatsachen; ich habe nichts zu tun mit der Gesdiichte großer Herren, die die französischen Könige bekriegten, aber ich wünsche die Schritte kennenzulernen, wodurch das Menschengeschlecht von der Barbarei zur Zivilisation überging." Man sieht, es ist das Prinzip der Geschichts-
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Schreibung Buckles, was in diesen Worten ausgesprochen und dann in der „Abhandlung über die Sitten und Gebräuche der Nationen" von Voltaire im einzelnen durchgeführt wurde, und so mag man die Überschätzung dieser Seite in der vielartigen Tätigkeit Voltaires bei dem Verfasser begreiflich finden. Indem Buckle dann ein Bild der historischen Tätigkeit Montesquieus entwirft, hebt er treffend hervor, wie im Werk „Über den Geist der Gesetze" zuerst der Zusammenhang des Klimas und Bodens mit den Sitten und Gesetzen der Menschen erkannt worden sei. E r zeigt dann, wie Turgot alle tieferen Gesichtspunkte seiner Vorgänger in seinen Vorlesungen in dem Gedanken des regelmäßigen und gesetzlichen Verlaufs der gesamten Geschichte zusammengefaßt habe. „Alle Zeitalter sind durch eine Folge von Ursachen und Wirkungen verknüpft, die den gegenwärtigen Zustand der Welt mit allen vorhergegangenen verbinden." In dem Gedanken der Selbstvervollkommnung des Menschengeschlechts eröffnet sich zugleich eine unbegrenzte Aussicht. Diese neuen historischen Ideen bilden den Übergang zu der zweiten Epoche der Opposition gegen die Bevormundung des Geistes, welche um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt. Bis dahin hat kein Schriftsteller von Bedeutung einen Angriff gegen die Regierungsform Frankreichs unternommen. Nach dieser Zeit wandten sich alle Schriftsteller von Bedeutung dieser Frage zu; nur diejenigen, welche noch aus der früheren Generation übrig waren, setzten den Kampf gegen die Geistlichkeit fort. Dagegen begann im Staate selbst die Opposition gegen die geistliche Richtung: Toleranz, Besteuerung der geistigen Güter, Jansenismus, Auflösung der Jesuiten gingen Hand in Hand. Mit dieser Richtung der Literatur gegen den Staat hängt — und dies nachgewiesen zu haben, ist wohl das größte Verdienst dieser Darstellung — die naturwissenschaftliche Zeitrichtung genau zusammen. Von dem Inneren und den religiösen Fragen wandten sich die Menschen auf die materiellen Dinge, die National-Ökonomie und den Staat: das Bild der Welt wurde durch die Erkenntnis der Gesetze der Natur, wie sie in rascher Folge entdeckt wurden, vollkommen geändert, nicht weniger die Richtung der Geister. Es ist nicht möglich, auf diese Partie des vorliegenden Bandes näher einzugehen, aber die Darstellungen zumal der Methode Cuviers und Bichats, der Entstehung einer Klassifikation der Organismen sind im höchsten Grade lesenswert. Aus allem ergibt sich, wie das Studium der Außenwelt zugleich mit der Untersuchung des Staates den wissenschaftlichen Charakter der Periode, welche die Revolution hervorrief, bestimmt. Mit dieser Darstellung endet der vorliegende Band. So wenig wir der Ansicht Ruges sind, daß dies Buch eine Revolution der historischen Anschauung in Deutschland hervorrufen werde, so geht doch offenbar durch alle Einseitigkeiten desselben der Geist wissenschaftlicher Untersuchung hindurch, an vielen Stellen von einer umfassenden, wenn auch nicht tiefgehenden Gelehrsamkeit getragen. Und so wird es denn gerade durch seine scharfe Einseitigkeit zu neuer Durchforschung des so unendlich interessanten Gegenstandes das Seinige beitragen.
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Geschichte Spaniens Hermann Baumgarten, lution. Berlin 1861.
Geschichte Spaniens zur Zeit der französischen
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Die Entwicklung Spaniens im achtzehnten Jahrhundert hat in diesem Buch eine Bearbeitung gefunden, durch welche sie nun endlich audi hier ihren vollen Platz in dem Gemälde dieses für unser politisches und geistiges Leben grundlegenden Jahrhunderts erhält, wie dasselbe nach Schlossers erstem kühnem Entwurf sich unter den Händen trefflicher Historiker allmählich vollendet. Es ist keine Frage, daß die Stellung des modernen Spanien bisher zumeist unterschätzt worden ist. Das vorliegende Buch, das in seiner Fortsetzung die Geschichte der spanischen Revolution (1808—1814) umfassen wird, und die Darstellung von Gervinus in seiner „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts" ergänzen sich nun auf das glücklichste in dem Unternehmen, Spaniens letzte Entwicklungsperiode und die Bedeutung derselben für die Zukunft dieser Nation und für die allgemeine europäische Bewegung zur Anschauung zu bringen. Wir schlagen diesen Vorteil auch für das politische Verständnis der Gegenwart nicht gering an. Man hatte sich gewöhnt, die beiden südlichen romanischen Länder wie Pensionäre im europäischen Staatshaushalt anzusehen, die von einer großen Vergangenheit mit Ehren ausruhten. Der großartige Versuch einer Neugestaltung Italiens wird jetzt vielleicht audi die vorgefaßte Meinung von der Unheilbarkeit der spanischen Zustände in Frage stellen; man wird die Ansicht von Gervinus über die Bedeutung der spanischen Bewegung jetzt weniger paradox finden, als damals, da sie zuerst ausgesprochen wurde. „Dieser Kampf", so sagt der berühmte Historiker von der Parteibewegung in Spanien, „ist in der Geschichte des 19. Jahrhunderts, wie wir sie begreifen, wichtiger und bedeutender, als bis dahin die gleichzeitige Geschichte fast jedes anderen Landes gewesen ist." Durch den Kolonialbesitz von seiner natürlichen Entwicklung abgelenkt, sei dies Volk erst durch den Verlust desselben sich gleichsam zurückgegeben worden. „Es raffte sich zusammen, die Versäumnis von Jahrhunderten nachzuholen. Seitdem ist hier der Verlauf einer Volkserneuerung in den wunderbarsten Wechselfällen zu verfolgen." Der entscheidende Punkt für diese Bewegung ist die Versammlung der Cortes von 1812. Durch die aus dieser Versammlung hervorgegangene Verfassung erhielt Spanien einen präzisen und rechtsgültigen, wenn auch der mäßigenden Umgestaltung bedürftigen Ausdruck seiner modernen Bedürfnisse und Ideen; seit derselben haben sidi audi in Spanien die beiden politischen Parteien gebildet, welche überall das moderne Staatsleben vorbereiten. Die echt altspanische Form freilich, in welcher seit jener Zeit die beiden Parteien um die Herrschaft kämpften, erscheint wenig geeignet, diesen Kampf bald zu einem glücklichen Resultat zu führen. Haltbare Staatsverfassungen kommen nach der Natur der Sache nur durch Ausgleichung der Parteien zustande; aber in Spanien kannte man lange Worte wie Fusion und Amnestie nicht; jede Partei denkt dauernd herrschen zu können, indem sie die andere mit äußerster Gewalt unterdrückt; und so ist der Wechsel der Herrschaft endlos.
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Dazu kommt, daß — unglücklich genug! — der Despotismus seine Aufgabe in Spanien weniger als in irgendeinem andern Land Europas erfüllt hat. Die Überwindung der mittelalterlichen Zustände, die sich überall sonst in zwei gewaltsamen historischen Ansätzen vollzogen hat, sollte sich hier auf einmal vollziehen. Aufhebung der Provinzialfreiheiten in der Staatseinheit, Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land, Brechung der Opposition von Adel und Geistlichkeit gegen den Staat, Beginn der nationalökonomischen Fortschritte durch Beschränkung des Besitzes der toten Hand, Ausgleichung und Vereinfachung der Steuern und Anregung des Handels, religiöse Denkfreiheit — alle diese Voraussetzungen des modernen Staats verdankt das übrige Festland dem Absolutismus; Spanien mußte sie zugleich mit denen des modernen Staats aus der Hand seiner Liberalen empfangen. Aus diesen Zuständen wird der scheinbar endlose Wechsel und die leidenschaftliche Gewalt von Revolutionen und Konterrevolutionen in diesem Lande verständlich sein. Man wird aber zugleich begreifen, von welchem Einfluß ein solches Land auf das revolutionäre Jahrhundert sein mußte. Diesen Einfluß mußte wohl ein Werk wie das von Gervinus nach seiner Art und Ausdehnung klarmachen, das es unternahm, die Wanderung der revolutionären und antirevolutionären Bewegungen durch Europa und über dasselbe hinaus in ihrem inneren Zusammenhang darzustellen. Es sei erlaubt bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß die Größe dieses historischen Unternehmens und der es durchdringenden Grundanschauung noch nicht die gebührende Anerkennung von Seiten unseres sonst doch für historische Darstellungen so empfänglichen Publikums gefunden hat. Es sind besonders die großen Dimensionen des Werks, welche dies verhindern, indem sie die Übersicht über seine Gliederung erschweren. Und in dieser Gliederung gerade, in der Bewältigung ungeheurer Stoffe durch den Gedanken, liegt überall das Verdienst der Arbeiten von Gervinus. Von seinem ersten literarischen Auftreten ab w a r es der leitende Gesichtspunkt seiner Arbeiten, gleich weit entfernt von bloßer empirischer Stoffsammlung oder ästhetischer Auffassung und von apriorischer Konstruktion, durch massenhafte Quellenstudien der Gesetzmäßigkeit des historischen Geschehens sich zu nähern, herrschende Grundzüge rein historischer Art statt der beliebten philosophischen zu entdecken. So trug er sich schon im Beginn der dreißiger Jahre mit dem Plan einer „Politik", die eine Philosophie des politischen Teils der Geschichte, gewissermaßen eine Physiologie des Staates sein sollte; die „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts" hat dann in ihrer Weise diesen Jugendplan wieder aufgenommen. Es ist begreiflich, daß ihn dieser Zug seiner Organisation auf den ideellsten Teil der Geschichte, die Geschichte der Literatur hinwies, daß seine Arbeiten hier Epoche machten. Es ist nicht minder klar, wie er ihn zu einer Epoche hinziehen mußte, in der die organische Gesetzmäßigkeit innerer Volksbewegungen auf ein halbes Jahrhundert hinaus den willkürlichen Einfluß der einzelnen weit überwiegt, die von selber dazu auffordert, mit dem Auge des Naturforschers — viele werden sagen, des Pathologen — angesehen zu werden. Wie die weitverbreiteten Lagerungslinien von Gebirgsketten, deren Regelmäßigkeit in ihrer scheinbaren Irregularität der Geograph bald durchschaut, liegen die Linien dieser Bewegungen und Gegenbewegungen vor dem Historiker. Vorn, dem gewaltigen Gebirgsstock
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der Alpen vergleichbar, jene zentrale Masse, die mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskampf und der französischen Revolution beginnt und in den Nationalitätsbewegungen von Spanien und Deutschland endet. Den Übergang aber von dieser gewaltigen Kette von Bewegungen zu allen folgenden bildet Spanien. Denn in diesem Lande allein traf 1812 die nationale Bewegung mit der revolutionären zusammen; von ihm aus verlief sie nach Portugal und Neapel, ja nach Südamerika; zu allen revolutionären Erschütterungen von 1815 bis 1830 gab es das Signal. So ist das Interesse sehr deutlich, mit welchem die Geschichte dieser Periode Spaniens Zustände betrachtet. Die Frage ist nun: wie hängt diese letzte Periode der Geschichte Spaniens, das gegenwärtige Spanien mit dem alten zusammen? Welche Dinge waren es, die das loyalste Land Europas zu einem Herd revolutionärer Bewegungen, ein Volk, das beim Ausbruch der französischen Revolution in seiner allgemeinen Abneigung gegen diese Bewegung einzig dastand, zu dem ersten Nachahmer dieser Revolution machte? Denn die Cortes von 1812 sind in der Tat aus dem Vorbild der französischen gesetzgebenden Versammlungen hervorgegangen. Diesen Umschlag der öffentlichen Stimmung, man kann fast sagen, des Gemüts dieses Volkes, zu erklären, zu zeigen, wie aus dem Spanien von 1789, das die Revolution haßte, das werden konnte, das 1812 die Gelegenheit ergriff, ihr erster Erbe und Nachfolger zu werden, ist die Aufgabe, welche das vorliegende Buch von Baumgarten zu lösen unternommen hat. Hiermit erst wird die neueste Geschichte Spaniens vollkommen verständlich. Es umfaßt diesem Zweck gemäß die Zeit, welche für diese Veränderung der Stimmungen entscheidend gewesen ist, die Zeit der Regierung oder des Sichregierenlassens Karls IV. von seinem Regierungsantritt ab (Dezember 1788) bis zum Baseler Frieden (Juli 1795). Man kann sagen, daß vom Frieden von Ildefonso, der ein Jahr später geschlossen wurde, der Ruin des Handels, der Marine und der Kolonien Spaniens und jene französische Dienstbarkeit, aus der dann die Erschütterungen seit 1807 stammten, datiert. Aber der Verfasser zeigt schlagend, wie dieser Friede nur die unglückselige Konsequenz des unglückseligen Baseler Friedensschlusses gewesen ist. Und so wird man ihm beistimmen, wenn er erklärt: „Die Regierung Karls IV. ist für die ganze Zukunft Spaniens entscheidend gewesen, denn diese Regierung hat Spanien zur Beute der Revolution gemacht. Aber dieses Werk einer neunzehnjährigen Regierung wurde in allen Hauptpunkten in den ersten sieben Jahren derselben vollbracht; die übrigen zwölf Jahre bieten ein trauriges Einerlei von immer tiefer fressender Korruption im Innern, immer trostloserem Verfall der europäischen Geltung, dessen detaillierte Darstellung durchaus der Spezialgeschichte zugewiesen werden muß. Die eingehende Schilderung jener ersten sieben Jahre, welche ich hier biete, genügt, meine ich, dem allgemeinen historischen Interesse, zu wissen, wodurch Spanien von dem hoffnungsreichen Aufschwünge unter Karl III. zu der Misere von Bayonne herabsank." Aber der Verfasser gibt uns mehr als er hier verspricht. Der Darstellung selbst geht eine Einleitung über die innere Entwicklung Spaniens im achtzehnten Jahrhundert voraus, welche, was die Bogenzahl betrifft, etwa ein Drittel des Werks aus-
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macht, was aber die darin niedergelegten Studien angeht, uns fast als der Hauptteil desselben erscheinen will. Wenn wir oben von der Aufgabe des Absolutismus sprachen, die Voraussetzungen des modernen Staats für die spätere Entwicklung, die dann über ihn selbst hinwegging, zu schaffen, so zeigt diese Einleitung, daß er auch in Spanien diese Aufgabe keineswegs stets verkannt hat; audi hier sehen wir ihn, obwohl zögernd und vorsichtig, den Kampf mit den hindernden Elementen des mittelalterlichen Volkstums aufnehmen, wir sehen ihn, obwohl anfangs ohne großen Erfolg und später abtrünnig, den Bund mit der Aufklärung, die hier in einer höchst gemäßigten und eigentümlich edlen Form auftritt, eingehn. Den Verlauf dieser der Reform des Staats zugewandten Aufklärung, ihrer Literatur und ihrer politischen Erfolge hat Baumgarten zum ersten Male dargestellt. Macanaz und Fepoc, die beiden Grundleger der spanischen Reform, waren bisher bei uns selbst dem Namen nach unbekannt; über die wichtigen ökonomischen Untersuchungen des Uztariz, Ulloa und Zabala finden sich kaum die flüchtigsten Andeutungen; auch von Campomanes, welcher den Höhepunkt dieser Bewegung bezeichnet, ist wenig mehr als der Name in unserer bisherigen deutschen Literatur über diesen Gegenstand zu finden. Robert Mohl, wo er von Roschers Arbeiten zur Geschichte der frühesten englischen Volkswirtschaftslehre spricht, sagt: „Es ist möglich, daß sich ein ähnliches Ergebnis herausstellt hinsichtlich der früheren Geschichte der spanischen Volkswirtschaftslehre, wenn diese einmal einen gleich tüchtigen Geschichtsschreiber finden sollte." Für das achtzehnte Jahrhundert ist nun durch die vorliegende Einleitung diese Vermutung in der T a t zur Wahrheit geworden, obwohl natürlich die rein theoretische Seite der nationalökonomischen Systeme und der Zusammenhang dieser mit den gleichzeitig in Frankreich herrschenden Theorien durch die Grenzen der Aufgabe ausgeschlossen wurden. Aber das Mitgeteilte ist völlig ausreichend, die merkwürdige Stellung zu überblicken, welche diese Untersuchungen in Spanien zwischen der Literatur und der absolutistischen Staatskunst einnahmen. In keinem anderen Lande nämlich haben dieselben einen so breiten Raum in der Literatur inne, sind so wenig durch eine allgemeine literarische und wissenschaftliche Bewegung unterstützt, so überwiegend aus der drangvollen finanziellen Lage entsprungen, auf ihre Verbesserung gerichtet. Der Grund dieser Erscheinung liegt in einer Anspannung der kirchlichen Gewalt, wie sie sonst in der europäischen Geschichte unerhört ist, nur aus ihr ist die Vernichtung jeder Entwicklung des Gedankens bei diesem edlen Volke erklärlich. Schon in der höchsten Blüte der spanischen Literatur im vorhergehenden Jahrhundert nagt dieser Wurm. In jedem andern der damaligen Kulturländer ist der Aufschwung der Poesie von einem Aufschwünge des Gedankens begleitet. Ariostos Zeitgenosse war Machiavelli, Baco der Shakespeares, Descartes der Molieres und Corneilles, endlich Kant der Goethes. Dagegen gehören alle ideellen Elemente der spanischen Poesie dem Enthusiasmus für die Kirche und das Königtum an. Was in Frankreich Ludwig X I V . nicht gelang, die Literatur zu einem Spiel des Geschmacks und einer willkürlichen Phantasie zu verflüchtigen, geschah somit hier im Nachbarlande. Spanien schien den gewaltigsten Hebel der Entwicklung, eine polemische und wissenschaftliche Literatur, völlig entbehren zu sollen. Dennoch gab es einen Punkt, an dem auch in Spanien das König-
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tum sterblich und bedürftig war — es bedurfte auch hier Geld. Es mußte somit auch hier auf die Ratschläge derer zu hören beginnen, welche bewiesen, wie nur durch Reformen der Ruin der Finanzen aufzuhalten sei. Es mußte den Zusammenhang, der zwischen der Aufklärung und dem Reichtum einer Nation besteht, einsehen lernen. Und so setzt die Aufklärung in Spanien ausschließlich an diesem Punkte ein. Aus diesem Ausgangspunkte erklärt sich uns nun der Charakter dieser nationalökonomischen Literatur. In ihr gären alle andern ungelösten Fragen des Staatslebens; zumal die entscheidende von der Herrschaft des geistlichen Standes. Und indem sie ohne die Analogie einer andern Wissenschaft, von der N o t des wirklichen Lebens bewegt, einen Ausweg für den Staat sucht, kann sie nirgends zu jener freien Höhe theoretischer Betrachtung gelangen, aus der große Fortschritte der Wissenschaften entspringen. Gerade auf dem Höhepunkt dieser spanischen Aufklärungsliteratur, bei Campomanes, erkennt man diesen Charakter derselben am deutlichsten, zumal wenn man, wie der Verfasser in geistreicher Parallele getan hat, den spanischen Nationalökonomen mit seinem schottischen Zeitgenossen, Adam Smith, vergleicht. So ist es gekommen, daß diese wissenschaftlichen Bestrebungen Spaniens auf das übrige Europa keinen Einfluß zu üben vermocht haben, ja auch in Spanien selber durch die Mißgunst der Regierung vollständig erstickt werden konnten. Die Schrift, welche man als das Pogramm der Reformpartei bezeichnen kann (Macanaz, Mittel zur guten Regierung einer katholischen Monarchie, oder von der Erfahrung eingegebene und von der Vernunft gebilligte Rathschläge, wie der Monarch den Namen des Großen verdienen könne), hat dieser ehemalige Ratgeber des ersten Bourbonen, durch die damals unfehlbaren Mittel der Kurie, Beichtväter und Weiber verdrängt, als Flüchtling von Paris aus 1722 seinem Fürsten übersandt. In diesem ersten Beispiel liegt das Geschick so vieler edlen Spanier vorgezeichnet, die ihr Leben vergebens an die Erneuerung ihres Vaterlandes gesetzt haben. Von der Kirche aus ihrer Wirksamkeit verdrängt oder von vornherein abgeschnitten, greifen sie zur Feder; ihre statistischen Berechnungen, ihre staatswirtschaftlichen Darlegungen sind an das Königtum gerichtet, das allein diese Erneuerung durchsetzen kann: aber dieses umgeht stets den Zusammenhang ihrer Gedanken; es sucht nur nach finanziellen Maßregeln in ihren Schriften; daß diese nur im Zusammenhange mit der Aufklärung, der Brechung der geistlichen Herrschaft, der Verminderung der ungeheuren geistlichen Besitztümer wirken konnten, hat erst Karl III. klar ins Auge gefaßt. Und gerade hiervon ging schon Macanaz aus. Er traf auch in der Finanzpolitik Spaniens den wunden Fleck, wenn er anstatt der ausschließlichen Hinwendung der Arbeitskräfte auf die Gold- und Silberbergwerke Produktion und Handel befördert, anstatt der Alcabala und Milones eine auf Statistik des Einkommens basierte Steuer eingeführt wissen wollte. Aber der Hauptpunkt ist ihm immer die Verringerung des ungeheuren Besitzes der toten Hand, der die wachsende Entvölkerung befördernden Mönchsorden, die Entfernung der Jesuiten, die bekanntlich den Bourbonen überall gefolgt sind, wie einigen Tierklassen bestimmtes Ungeziefer, die Reform der Justiz durch vereinfachende Systematisierung der Gesetzesmassen — kurz, die Befreiung der Volkskraft von den Banden der mittelalterlichen Zustände.
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Steuerausgleichung und Beförderung des Handels ward von Philipp V. durchgesetzt; er, der den Cortes und den alten Provinzialgegensätzen gegenüber den Absolutismus nach französischem Muster so rücksichtslos verwirklichte, blieb vor der verbündeten Macht von Kirche und Bureaukratie stehn. Das Programm des Macanaz aber führte schon zwei Jahre darauf (1724) Uztariz in einem bedeutenden Werk „Uber Theorie und Praxis des Handels und der Marine" aus. Sein Werk steht in sichtbarem Zusammenhange mit dem damals herrschenden Merkantilsystem. Er hatte Frankreich, England, Flandern, Holland, Italien, das westliche Deutschland auf vieljährigen Reisen kennengelernt und in allen diesen Ländern die auf diese Materien bezüglichen Gesetze, die Verwaltungs- und Handelspraxis sorgfältig studiert. Das Resultat dieses Studiums war der Satz des Merkantilsystems, daß Manufakturen und Handel die Länder reich madien, daß auf ihrer Hebung audi die wirtschaftliche Zukunft Spaniens beruhe. Indem er die Methode schildert, durch welche in jenen Ländern die Hebung von Handel und Gewerben gelungen sei, stellt er das Verfahren Spaniens daneben, welches fremden Manufakturen in den Häfen einen Zoll von zwei, höchstens drei Prozent entgegenstellte, die eigenen mit einer Ausfuhr von zehn bis vierzehn belastete, welches durch die unerschwingliche Alcabala den Verkehr im Lande fesselte, den Weg nach Amerika inländischen Waren durch enorme Eingangszölle nach Andalusien verlegte. Es klingt wie satyrische Dichtung, wenn er die Bolla in Katalonien beschreibt. Will der Weber ein Stück anfangen, so muß er den Steuerbeamten rufen, damit er ein Bleisiegel anbringt; hat derselbe das Stück vollendet, so erfolgt dieselbe Prozedur; will er eine Elle verkaufen, so muß auch da der Beamte zugegen sein, um sein Blei aufzudrücken und fünfzehn Prozent vom Verkaufspreis zu erheben. Und diese Bolla ist noch sechzig Jahre nach der Schrift von Uztariz forterhoben worden! „Wir sehen," — sagt Baumgarten — „es war eine harte mühselige Arbeit, in diesem Lande für Fortschritt zu schreiben." So fand denn Ulloa, als der zunehmende Ruin seines Vaterlandes ihn antrieb, die vergebliche Arbeit von Uztariz in einer Schrift „Uber Herstellung der Fabriken und des Handels" (1740) wieder aufzunehmen, wenig gebessert, ja hier und da das Steuersystem verschlimmert. Auch er muß noch gegen den lächerlichen Handelsgrundsatz kämpfen, auswärtigen Waren geringe Zölle, eignen hohe Steuern aufzulegen, um die Waren für die Einwohner billig zu machen! Die Alcabala, jene verderbliche Steuer, die bei jedem Umsatz von den Waren erhoben wurde, war von zehn auf vierzehn Prozent erhöht und statt früher Ablösungen im ganzen, trieben sie jetzt die Pächter schonungslos im einzelnen ein. Er berechnet, daß auf diese Weise den Seidenwebern auf 1200 Ellen Seidenzeug die Abgaben 324 Realen mehr kosten als — Rohstoff und Weberei zusammengenommen! Er berichtet, wie in den andalusischen Städten der unglücklichste Fabrikant in derselben Stunde von seinen Waren zweimal Zölle bezahlt, den einen am Landtor, wenn er von seiner Fabrik kommt, den andern am Seetor, wenn er die Waren zu Schiff bringt. Über die Reform der geistlichen Macht mußte schon sein Vorgänger schweigen: bedurfte doch jedes Buch drei oder vier Lizenzen von Jesuiten, Räten und Junten. Zahlen sprachen freilich um so schärfer. So die Berechnung, daß in Sevilla auf den Klerus fast die
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Hälfte, in Valencia mehr als die Hälfte des gesamten Fleischkonsums kam, daß somit in diesen beiden Städten auf einen Kleriker so viel Fleisch kam als auf neunundzwanzig Laien. Indes bewegten sich diese beiden Nationalökonomen durchweg in den Schranken des Merkantilsystems. Der unleugbare Zusammenhang desselben mit dem absolutistischen Bestreben fiskalischer Ausnutzung des Volks zur Bestreitung der Kriege und der Hofverschwendung tritt zuweilen in ihnen nackt genug hervor. Von einem weiteren Gesichtskreis und von edleren Gesinnungen geht Zabala aus. Er will nicht nur Fabriken und Handel, er will das ganze Dasein des Volkes heben. Ihn bewegt mehr das Leiden der armen Masse, als die Ausfuhr des baren Geldes und die Not der Staatskasse. So ist er denn auch in der Angabe der notwendigen Mittel offener, durchgreifender. Er nimmt den Gedanken des Macanaz von einer Einkommensteuer wieder auf: alle übrigen Steuern sollen aufgehoben werden in eine Steuer von fünf Prozent auf den Reingewinn. „Damit" — sagt Baumgarten — „war die Losung ausgesprochen, auf welche wir fast alle Reformen des achtzehnten Jahrhunderts werden zurückkommen sehen: die unica contribucion beschäftigte seit den vierziger Jahren alle weitersehenden Köpfe und alle tüchtigen Minister. Zabala sollte schon unter Ferdinand VI. die Genugtuung haben, daß der Minister Ensenada an die Durchführung seiner Idee ging: unter Karl III. wurde die neue Steuer wirklich ausgeschrieben — um noch für die Cortes von 1820 ein pium desiderium zu sein! Er läßt aber auch zugleich neben dem Handel dem Ackerbau sein volles Recht angedeihen. Und hier greift er weit über die Bildung seiner Zeit und seines Landes hinaus, wenn er die Notwendigkeit des freien Getreidehandels demonstriert." Und zu dieser Zeit wurde nun auch durch den Benediktiner Geronimo Fepoc ein merkwürdiger Ansatz gemacht, Spanien in jene allgemeine philosophische und untersuchende Bewegungsliteratur mit hineinzuziehen, welche damals überall die Macht des geistlichen Standes und den absoluten Staat zu untergraben begann. Von 1726 bis 1760 erschienen sein „Kritisches Universaltheater" und seine „Gelehrten Briefe"; sie riefen einen wahren Sturm der Polemik hervor. In ihrer emphatischen Weise haben die Spanier diesen einsamen gelehrten Mönch ihren Lessing genannt. Die Wahrheit ist, daß diese scheinbare Ausnahme den oben aufgestellten Satz nur bestätigt, daß die Macht des geistlichen Standes die Entwicklung einer nüchternen aufklärenden Literatur verhindert und damit die Wurzeln der Volkswohlfahrt abgeschnitten hat. Auch in diesem klarsten Kopfe des damaligen Spaniens brach sich jeder konsequente wissenschaftliche Gedanke englischer und französischer Schriftsteller an der kirchlichen Betrachtung des Lebens. Was half es, Newton, Kopernikus und die induktive Methode zu preisen, wenn er von den Naturwissenschaften Resultate über die Taufe von Frühgeburten und über das Ausspeien nach dem Abendmahl erwartete? Was half es, wenn er Bayle und die historische Kritik verehrte, aber das Läuten der wundertätigen Glocke von Yelilla, das vor jedem Nationalunglück vernommen worden sein sollte, doch für zu gut beglaubigt hielt, um es in Abrede stellen zu können? Die Literatur der Ausländer zu empfehlen, wenn er daran festhielt, daß jede ihrer Ketzereien aus einer spezifischen Schlechtigkeit des Charakters stamme? Diese sanften inkonsequenten Charaktere, die Ρέηε-
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Ions, so liebenswürdig sie uns erscheinen, sind nirgends die Befreier von der Gewalt der geistlichen Weltansicht geworden. Wie die Aufgabe des Absolutismus, die äußere Macht der bevorzugten Stände zu brechen, so bedurfte audi diese der Aufklärung, der geistigen Übermacht dieser Stände gegenüber dem Gedanken seine Geltung wieder zu erobern, Männer von spröderem Stoff, von unerbittlicher Schärfe der Konsequenz. So ist denn auch Fepocs Bedeutung, daß er gegen viele einzelne Mißbräuche, besonders der Universitäten mit Glück gewirkt hat, aber nicht, daß er einen unzerstörbaren Geist furchtloser Untersuchung geweckt hätte, somit daß er auf die Staatsmänner Karls I I I . und auf diesen selbst von großem Einfluß gewesen ist, aber nicht daß er wie unser Lessing eine lebensfähige literarische Bewegung begründet hätte. Es genügt nicht, mit Baumgarten zu gestehen, daß ihm in der allgemeinen Wissenschaft keine Stellung gebühre, sein von den Schranken der kirchlichen Weltansicht eingeengter Geist vermochte auch nicht eine geistige Bewegung anzuregen, welche seiner Nation eine solche Stellung in der allgemeinen Wissenschaft verschafft hätte. So geschah es, daß diese Literatur innerhalb der Kreise der Politiker wirksam war, daß sie aber nicht — was doch die Grundlage sicheren Fortschrittes ist — eine beharrliche Macht der Aufklärung im Volke schuf, welche die Veränderlichkeit der Regierenden ausgeglichen hätte. Es war ihre schönste Frucht, daß eine Regierung wie die Karls I I I . aus ihr hervorging, ihre bitterste, daß gegenüber der darauf folgenden systematischen Vernichtung aller Früchte dieser Regierung durch ein bigottes und sittenloses Weib kein Halt und kein männliches Wort in dieser Nation zu finden war. Man ertrug den rasdien Ruin aller Reste der spanischen Macht ohne irgendwelchen literarischen Widerstand von Belang; um keine von jener Reihe verderblicher Maßregeln, die der feile und kopflose Günstling einer sittenlosen Frau durchführte, erhob sich eine literarische Debatte, ein wissenschaftlicher Einspruch, welcher der Rede wert wäre; erst in der Krisis der Vernichtung entstand jener entscheidende Entschluß der Cortes. Und hier ist nur sehr merkwürdig, daß der vortreffliche Karl I I I . durch Campomanes geleitet, den Versuch machte, von oben herab eine solche liberale öffentliche Meinung zu schaffen. Baumgarten hebt diesen Punkt mit Recht hervor. „Nichts" — sagt er — „zeichnet die Regierung Karls I I I . mehr aus, als diese Heranziehung der öffentlichen Meinung zur Reform eingewurzelter Mißbräuche. Wir finden namentlich seit der Mitte der siebenziger Jahre so zahlreiche Beispiele eines solchen Verfahrens, daß wir wohl sagen dürfen, es sei Regierungssystem geworden, jeder wichtigeren Maßregel eine ausgedehnte literarische Erörterung voraus und die Unterstützung von Vereinen und Korporationen zur Seite gehen zu lassen." Aber hier zeigte sich nun, daß sich die lebendige Beteiligung einer geschlossenen öffentlidien Meinung an dem wahren Staatsinteresse nicht künstlich hervorbringen läßt, sie bedarf eines bestimmten Bodens, bestimmter Vorbedingungen. Unter diesen ist die erste und notwendigste ein gewisser Grad von Freiheit des Denkens, von selbständiger Bewegung des einzelnen. Nirgends ist diese auf einmal und ganz den Nationen zuteil geworden. Und man muß audi zugestehen, daß Karl I I I . und seine Minister einen Ansatz zu diesem gründlicheren und selbstloseren Weg des Fort-
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schritts neben ihren Versuchen, alles selbst zu leiten, gemacht haben. Das Verfahren gegen den Jesuitenorden und gegen die päpstliche Nuntiatur, die Beschränkung der Inquisition waren hier das wesentlichste. Aber der König war ein rechtgläubiger Katholik; mit der Trennung der kirchlichen und staatlichen Interessen schien ihm das Interesse des Staates befriedigt; die Macht der Geistlichkeit über die Ideen und ihre Äußerungen blieb so stark genug, jede freie Bewegung des spanischen Geistes zu unterdrücken, durfte doch die Inquisition Olavide, einen Vertrauten Arandas, verurteilen, weil er gesagt hatte, was außerhalb Spaniens überall gesagt ward, der Himmel sei nicht nur für die Katholiken, und nicht alle Wunder seien glaubwürdig. Dies sind die Ursachen gewesen, warum auch die literarische Tätigkeit eines so genialen Staatsökonomen wie Campomanes jene öffentliche Meinung nicht zu schaffen vermochte, die die Reform für ihre Dauer bedurfte. Seine Schriften, auf die näher einzugehen wir uns versagen müssen, bilden den Höhepunkt der spanischen nationalökonomischen Literatur. Rein praktisch in ihrem Zweck, sind sie besonders dadurch ein großer Fortschritt gegen die früheren Theorien, daß sie die Bedeutung des niederen Gewerbes, der Verknüpfung von Landbau und gewerblicher Handarbeit einsehen und für die einzelnen Provinzen Vorschläge zur Beförderung dieser einfachsten und am leichtesten herzustellenden Industrie tun. Mit dem Tode Karls III. endigt die Reformbewegung in Spanien. Ohne merklichen Widerstand beginnt jene Regierung, die Spanien in wenig Jahren zu vollkommnem finanziellen Ruin, vollkommner Machtlosigkeit nach außen und Erstarrung im Innern geführt hat, die die Krisis von 1808—1812 verschuldet hat. Das Detail dieser Regierung wird hier zum ersten Male geboten; zum ersten Male erkennt man, in welchem Grade die nichtswürdigsten und törichtsten Motive und die armseligsten Hofintrigen Spanien isoliert und es dann in den verderblichen französischen Krieg ungerüstet hineingeworfen haben. Auch unter der besten Regierung hätte die Machtverschiebung, welche die französische Revolution herbeiführte, Spaniens Seemacht und Handel bedroht. Nur das Gleichgewicht von Frankreidi und England hatte den Bundesgenossen Frankreichs geschützt. Die Ohnmacht Frankreichs in der ersten Zeit der Revolution gab Spanien in die Hände Englands; die nachherige Übermacht bedrohte es von Frankreidi aus. Aber Spanien hatte das Unglück, daß eine seiner größten Krisen mit einer seiner schlechtesten Regierungen zusammentraf — und diesem Unglück unterlag es. Mit großer Anschaulichkeit und scharfem geübtem politischem Blick ist der Gang, den die spanische Politik unter diesen Verhältnissen nahm, in dem vorliegenden Buche dargestellt. Zur Grundlage dienen die preußischen
Gesandtscbafisberichte
des Herrn
von Sandoz-Rollin,
der
in jenen Jahren am spanischen Hofe war. Er war — so urteilt Baumgarten über ihn — zur fraglichen Zeit unbedingt der scharfsichtigste, sorgfältigste und unterrichtetste Diplomat am spanischen Hofe, ein Mann von hervorragender politischer Begabung, eine Zierde der Schule Friedrichs des Großen; seine Berichte aus Spanien traten so sehr hervor, daß ihm die preußische Regierung gegen Ende des Jahres 1795 ihren damals wichtigsten diplomatischen Posten, die Gesandtschaft in Paris übertrug. Bei der Unzugänglichkeit der spanischen Archive werden die Berichte 5
Dilthey, Schriften X V I
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dieses Staatsmanns wohl noch lange Grundlage unserer Kenntnis von dieser Periode der spanischen Geschichte bleiben. Das komplizierte Spiel der politischen Faktoren, das dann immer wieder durch die Intrigen am Hof der Königin modifiziert wird, entzieht sich zusammenfassender Darstellung. Man wird mit Spannung der ausführlichen Darstellung in dem Buche selber folgen. Und das Resultat derselben wird niemand anfechten können, wie es der treffliche Verfasser in diese Sätze zusammendrängt: „Das Zusammentreffen des spanischen Günstlingsregiments mit der französischen Revolution bildet den Kern der historischen Bedeutung der Regierung Karls IV. Man könnte sagen, die Greueltaten der französischen Revolution erscheinen in einem andern Lichte, wenn neben die Ausschweifungen der Freiheitsmänner die Sünden des spanischen Hofes gehalten werden und neben das Ergebnis der Revolution für Frankreich die Wirkungen des Absolutismus in Spanien. Man könnte meinen, da doch in der Geschichte nicht der Zufall waltet, deute die Gleichzeitigkeit der bourbonischen Mißregierung in Spanien und Neapel mit dem gewaltsamen Ende des französischen Bourbon auf eine tiefe Motivierung der Revolution, die mit der Macht eines großen Verhängnisses nicht die persönliche Schuld, sondern die gemeinsamen Sünden des Geschlechts und des Systems treffe." — „Spanien ist in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts die hauptsächliche Quelle der revolutionären Erschütterungen Europas und Amerikas gewesen: die unwürdige Schwäche Karls IV., das Sündenleben der Königin Marie Luise und die frevelhafte Leichtfertigkeit Godoys haben es dazu gemacht. Darin liegt die allgemeine Bedeutung der sieben Jahre spanischer Geschichte, mit deren Darstellung wir uns hier beschäftigt haben." Man kann diese Zeilen nicht lesen, ohne an die Stürme in Italien zu denken, welche abermals einen Zweig des bourbonischen Stammes zerbrochen haben; es ist das ein neues Strafgericht, das die Geschichte an dieser entsittlichten Familie vollzieht, die wie keine zweite die Trägerin des Absolutismus in Europa gewesen ist.
Die „Preußischen Jahrbücher" Preußische
Jahrbücher,
Jahrgang
1862, 1. Quartal.
Es ist erfreulich, von Zeit zu Zeit ein Organ, wie die „Preußischen Jahrbücher", einmal im Zusammenhang mehrerer Monate zu überblicken. Man erkennt dann recht, wie das Bedürfnis der historischen und politischen Wissenschaften, auch die Fragen der Gegenwart in frischen Angriff zu nehmen und über den Kreis der Universitätsgelehrsamkeit hinaus sich an die große Zahl der politisch Bildsamein zu wenden, in stetem Wachstum begriffen ist. Denn nicht zum kleinsten Teil sind es anerkannte Gelehrte, Männer wie Häusser, Aegidi, Strauß, Löbell, Treitschke, Baumgarten, so viele andere, die hier das Wort nehmen. Es würde dies viel frappanter hervortreten, wenn der treffliche Herausgeber sich entschlösse, von dem
Die „Preußischen J a h r b ü c h e r "
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Beschluß der Gründer der Zeitschrift, keine Namen zu nennen, um dieselbe so völlig als geschlossene Einheit hinzustellen, wenigstens überall da abzugehen, wo es sich nicht um politische, sondern vorherrschend wissenschaftliche Aufsätze handelt. Unter diesen vorherrschend wissenschaftlichen Aufsätzen des ablaufenden Vierteljahrs tritt besonders die „Charakteristik Savignys" von Professor Stintzing hervor. In vortrefflicher Verbindung wissenschaftlicher Gründlichkeit und populärer Klarheit und Lebendigkeit, wie sie eben nur aus der völligen Beherrschung des Gegenstandes entspringt, verfolgt er die verschiedenen Epochen in dem langen Leben des großen Juristen: die Vorbereitung seines historischen Standpunkts durch Hugo, sein Verhältnis zur romantischen Bewegung, zu Niebuhr und Eichhorn, dann seinen Kampf mit der auf rationelle Kodifikation gerichteten juristischen Schule des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie Thibaut so bedeutend vertrat, die Gefahren, welche in der einseitigen Ausbildung der Doktrin für die naturwüchsige historische Entfaltung des Rechts lagen, den Gegensatz gegen die Hegeische Methode begrifflicher Deduktion des römischen Rechts, endlich die merkwürdige Wendung, mit welcher der Sechzigjährige in seinem „System des heutigen römischen Rechts" gewissermaßen die Periode der historischen Schule für abgelaufen erklärt und dem Drängen der Zeit auf eine mehr praktische Jurisprudenz Recht gibt. — Ein schöner Aufsatz über George Sand schließt die Studien zur französischen Literatur- und Kulturgeschichte ab, welche die „Preußischen Jahrbücher" dem bekannten trefflichen Shakespeare-Kommentator verdanken. An Hand ihrer Selbstbiographie und der „Lettres d'un Voyageur" unternimmt derselbe, den inneren Gang ihres Geistes, der so viel Rätselhaftes bietet, aufzuklären. — „Eine Probe politischer Publizistik aus den Zeiten des dreißigjährigen Kriegs" behandelt die Streitschriften über den Prager Frieden. Jede neue Untersuchung über irgendeinen Punkt des großen deutschen Kriegs bestätigt den einer neuen Seite, daß die Verkommenheit der politischen Zustände Deutschlands, der unglaubliche Egoismus fast aller seiner Fürsten in jener Periode die wesentliche Schuld jenes endlosen Krieges trägt, die man immer noch den religiösen Gegensätzen zuschieben möchte. So ist auch dieser Friede, der den Keim einer viel heftigeren Fortsetzung des Krieges in sich Schloß, von keiner Seite aus sonderlich löblichen Motiven hervorgegangen — aus Kursachsens politischer Unsicherheit und Haltlosigkeit und persönlicher Erbitterung gegen Oxenstierna, aus Ferdinands absolutistischer österreichischer Politik. Nun ist höchst interessant, daß das Urteil, welches die Geschichte über diese Friedensverhandlungen fällen muß, bereits von den zeitgenössischen Publizisten ausgesprochen wird, und daß die schwächlichen kursächsischen Verteidigungen schon damals dasselbe bei Einsichtigen nur bestätigen konnten. — Ein geistvoller Aufsatz über „Das Klosterleben und die Heiligen" scheint uns in vielen Zügen auf die Schule oder die Anregungen Hases zu deuten. — Dem Herausgeber selbst verdanken wir wohl die sorgfältige, mit einleitenden Worten und erläuternden Anmerkungen versehene Veröffentlichung einer Reihe von Briefen der Brüder Schlegel an Schiller 1795—1801, welche die von Böcking herausgegebenen Briefe Schillers und Goethes an August Wilhelm Schlegel sehr willkommen ergänzen und die Akten über den Hergang des Bruchs der romantischen Schule mit Schiller wohl abschließen. Die tieferen Ursachen eröffnen die 5*
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Briefe aus dem Innern der romantischen Schule selbst; hier aber erkennt man, wie tief August Wilhelm Schlegel vor dem Zusammenschluß der romantischen Schule in die Richtung Schillers eingegangen war, wie schwer ihm die Trennung wurde; man erkennt, wie er für sich schwerlich je in bewußten Gegensatz gegen Schiller getreten wäre. Möchte uns doch Böcking bald aus der Fülle der August Wilhelm Schlegelschen Korrespondenz, die in seinen Händen liegt, das Wertvolle mitteilen, damit die Entwicklung eines so bedeutenden Mannes, als August Wilhelm Schlegel war, in volles Licht trete. Unter den politischen Aufsätzen und Berichten scheint uns in den letzten Monaten die „Berliner politische Correspondenz" von einigen anderen Aufsätzen entschieden überflügelt zu sein. Freilich, die meisterhaften Korrespondenzen aus Süddeutschland haben wir im letzten Vierteljahr vergebens in jedem neu ankommenden Hefte eifrig gesucht; sie gehören doch wahrlich nicht zu den Gästen, die sich selten machen müssen, um willkommen zu sein. Dafür haben wir zunächst „Militärische Briefe aus Süddeutschland" erhalten, welche offenbar von einem hochgebildeten Offizier herrühren und die ernsteste Beachtung zu verdienen scheinen, da sie durchdachte, zusammenhängende positive Vorschläge eines Kundigen enthalten. Sie versuchen den Nachweis, daß eben wer den aristokratischen Geist des preußischen Offizierskorps — im besten und gegenwärtig einzig berechtigten Sinne dieses Wort genommen — erhalten will, die Kadettenschulen möglichst beschränken, die Vorbildung auf Gymnasien zu der üblichen machen, die Zahl der Offiziere bedeutend reduzieren, Bürgerliche und Adlige völlig gleichsetzen, Stellung und Anzahl der Unteroffiziere in demselben Maßstab erhöhen und denselben den Weg zum Offiziersstand eröffnen, endlich das Militärkabinett, das bisher eine selbständige Macht außerhalb des Ministeriums ist, in das Kriegsministerium hineinschieben müsse. Erst mit solchen Maßregeln zusammen werde die Reorganisation des Heeres ihre Früchte bringen. — Trefflich ist der Bericht über „Die Zustände des Königreichs Sachsen unter dem Beustschen Regiment". Man muß diese Schilderung des Herrn von Beust lesen, um die jüngsten Berichte von den gemeinsamen Diners und der herzlichen Eintracht mit dem Grafen Bernstorff in ihrem Humor zu genießen. — Der Aufsatz über „Die Stimmungen und Bestrebungen der Katholiken in Rheinpreußen" soll von einem namhaften Mitglied der rheinischen Universität herrühren. Er zeigt, wie die falsche Politik der Regierung, die lange in dem extremen Katholizismus einen Verbündeten sah, den Ultramontanismus großgezogen — ein warnendes Beispiel für das gegenwärtige Ministerium, das sich abermals auf die katholische Partei mitstützt — durch welche Mittel dann diese Partei in der Rheinprovinz seitdem in beständigem Fortschreiten begriffen ist und wie der innerste Zug derselben sie stets und notwendig auf die Seite Österreichs führt. Möchte man sich durch so geachtete und besonnene Stimmen belehren lassen! Den meisten Einwendungen möchte wohl der Aufsatz „Zur Reform der Unterrichtsanstalten" ausgesetzt sein, wie das schon die Redaktion in einer Anmerkung angedeutet hat. Doch werden diese mehr die Voraussetzungen desselben treffen, als den Zielpunkt, welcher uns doch der Erwägung wert scheint. Derselbe geht nämlich auf Vereinigung der polytechnischen Schulen mit den Universitäten, wozu dann
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eine Vervollständigung und bequemere Gliederung der philosophischen Fakultät erforderlich wäre. Die kurzen Notizen, die meist die feine und eindringende Feder des Herausgebers erraten lassen, sind bekannt genug. Ohnehin kann es uns nicht auf vollständige Aufzählungen ankommen. Unsere Absicht war nur, diese Zeitschrift, die sich immer würdiger neben die ähnlichen englischen und französischen Unternehmungen stellt, unsern Lesern auf das wärmste zu empfehlen.
Volkszählungen Ein Vortrag von Regierungsrat
Engel.
Am 15. Februar [1862] las Regierungsrat Engel über „Volkszählungen". — Die Statistik bedarf bei den Volkszählungen Verständnis und Entgegenkommen des Publikums, und so war es im Interesse dieser Wissenschaft selbst, wenn der Vortragende die Bedeutung der Statistik nach ihrem wissenschaftlichen Begriff einem weiteren Kreise zur Anschauung brachte. Der Redner ging von der eigentümlichen N a t u r des Erfahrungskreises aus, den die Statistik zum Gegenstande hat. Das Leben der N a t u r verläuft in einem ewigen gleichartigen Kreislauf, das der Menschheit in fortschreitender Entwicklung. Die materielle N a t u r hat die ganze Summe ihrer Kräfte in Tätigkeit gesetzt; ihre Erscheinungen sind Wiederholungen. Das Licht teilt sich in denselben Farben des Regenbogens seit Noahs Zeiten; Ebbe und Flut lösen auf dieselbe Weise sich ab. Ganz anders in der geistigen Welt. Hier überraschen immer neue Erscheinungen den Betrachtenden. Aber auch hier zeigt sich etwas Gleichmäßiges f ü r den aufmerksamen Beobachter. Offenbar sind die Unterschiede der menschlichen N a t u r und ihre Begabung in enge Grenzen eingeschlossen. Wenn es dennoch einen Fortschritt und eine unaufhörliche Entwicklung der Menschheit gibt: wie ist dieselbe erklärbar? Etwas ist unbegrenzt: das Erkenntnisvermögen. Wir zeichnen nicht mehr bloß mit Griffel und Stein; wir fangen das Licht, wir nötigen den Blitz über Land und Meere zu wandern; wir besiegen Raum und Zeit. Und wir besiegen sie allein durch die wachsende Erkenntnis. Das Studium dieser natürlichen Welt, die Isolierung ihrer Kräfte, die Beherrschung ihrer Bewegungen ist unendlich. Aber nicht weniger ist es das Studium der Gesellschaft, die Benutzung ihrer Elemente, die Steigerung ihrer Kräfte durch die beste Anordnung. Aber noch hält das Maß der Erkenntnis dieser Gesellschaft nicht den entferntesten Vergleich aus mit dem unserer Naturkenntnis. Während dort die Gesetzmäßigkeit und die aus ihr folgende Fähigkeit des Kundigen, Künftiges vorauszusagen, sich von selbst versteht, wird hier sogar die Existenz dieser Gesetzmäßigkeit zuweilen geradezu abgeleugnet.
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Diese Erscheinung ist begreiflich. Das mächtigste Werkzeug der Naturwissenschaft ist das Experiment. Dies Mittel, willkürlich die Umstände zu verändern, die E r scheinungen zu isolieren, ist der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft nicht gegeben; die Tatsachen dazu sind hier von einer unendlichen Feinheit, Verschiedenheit, Wandelbarkeit. Mit diesen Tatsachen, die sich auf die menschliche Gesellschaft beziehen, hat es audi die Statistik zu tun. Sie ist die Voraussetzung aller Staatswissenschaften, wie die Mathematik die der Naturwissenschaften. Diese Überzeugung ist jetzt überall durchgedrungen; kaum hat ihr jemand einen beredteren Ausdruck verliehen, als der Prinz-Gemahl von England bei der Eröffnung des statistischen Kongresses von 1860. E r sprach trefflich aus, wie die Statistik nichts sein will als diese Hilfswissenschaft, wie sie sich mit vollstem Bewußtsein der Schritte enthält, die sie ins Gebiet der Staatswissenschaften selbst führen würden. Absichtlich überläßt sie den moralischen und politischen Wissenschaften den Schritt, die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens selbst aufzustellen. E r wandte sich dann gegen die Ansicht, als ob in dieser Wissenschaft ein Fatalismus als Voraussetzung läge. So wenig die Festigkeit der Naturgesetze den göttlichen Willen beschränkt, so wenig beschränkt es den Willen des Menschen, wenn die jährliche Prozentzahl der Verbrechen oder die der verlorenen Briefe sich gleichbleibt. Die Statistik geht audi hier nicht über das hinaus, was ist, was die Erfahrung aufzeigt: sie erklärt nicht. Ihre Gesetze sind daher zumeist Wahrscheinlichkeitsgesetze. In der Gleichheit der Erscheinungen spricht sich offenbar das Dasein einer gleichbleibenden Ursache aus. Aber da sich dieser bestimmende Grund in der Regel der Statistik entzieht, kommt sie dann nur zu Wahrscheinlichkeitsgesetzen. Wieviel auch dafür spricht, daß das Ganze des menschlichen Lebens von Gesetzen beherrscht sei: die Statistik wird ihrer nicht habhaft. Geburt, Tod, Eheschließungen geschehen in einer Gleichmäßigkeit von nie geahnter Präzision; obgleich nun bei dem Sterben der freie Wille nicht sehr tätig ist, bei der Eheschließung dagegen durchaus, so ist doch die Regelmäßigkeit bei beiden dieselbe, der Erklärungsgrund dieser Regelmäßigkeit bei beiden gleich unbekannt. Indessen hat die Statistik Schritte getan, sich einer Physik und Physiologie der Gesellschaft zu nähern, sie hat begonnen, analytisch und pragmatisch zu werden. Jeder Schritt, den diese neueste Wissenschaft getan hat, hat allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Es wäre in der T a t Frevel, zu glauben, mitten in der gesetzlichen Natur sei das menschliche Geschlecht allein jedem Zufall preisgegeben, ohne ein inneres Prinzip der Erhaltung. Die Anfänge der Statistik liegen im Bedürfnis des Staats, die Verhältnisse seiner Angehörigen genau kennenzulernen. Indem der Staat in seinem Territorium und dessen Bewohnern verkörpert ist, pflegt er mit einer Rechnung über die Verteilung der Bevölkerung auf seinem Territorium seine Statistik zu beginnen. Uber 4000 Jahre ist die Statistik alt. 2042 Jahre vor Christus ließ der Kaiser von China sein Reich in Provinzen einteilen und die Bewohner zählen. Als Darius eine Kriegssteuer in Kleinasien erhob, ließ er auch dort die Bevölkerung zählen; ja zu seiner Zeit ward eine Katastrierung von ganz Persien durchgeführt. Die Ägypter haben nicht nur einen Kataster des Grund und Bodens gekannt, sondern auch schon steuerfreie
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Güter, die der Soldatenkaste. König Sethos ließ die mit seinem Sohne in einem Jahre Geborenen zählen: als Napoleon ein Gleiches beabsichtigte, mußte er es als undurchführbar fallenlassen, und noch gegenwärtig kennt man in Irland nicht die Zahl der in einem Jahre zugleich Geborenen. Die Juden zeigen sich ebenfalls in Zählungen der Bevölkerung geübt. Moses veranlaßte nach dem Auszug eine Zählung; nach den vierzig Jahren der Wüste läßt er dann abermals zählen, und man bemerkt eine Verringerung der Zahl durdi diese Wander- und Kriegsjahre. Davids Volkszählung ergibt 3170000 Seelen. Es ist selbstverständlich, daß diese Zählungen nicht die einzigen waren, weil gerade sie uns aufbehalten worden sind. Es scheint vielmehr, daß statistische Aufzeichnungen zu den regelmäßigen Beschäftigungen der Juden gehörten. Das zeigt audi neben den Büchern Mose das Buch Josua. Überall wird die Zahl der streitfähigen Mannschaft genau angegeben, und die vorhandenen Aushebungsverordnungen zeigen eine große Sicherheit in dergleichen Geschäften. Auch die stammverwandten Chaldäer mußten schon der Mittel der Statistik mächtig sein, weil sie in der Astronomie ausgezeichnet waren, welche doch überall die Rechenkunst voraussetzt. Ihre Beobachtungen und Rechnungen reichen bis 4000 vor Christus zurück. Daß audi die Griechen eine Statistik besaßen, ist durch Böckhs klassische Untersuchungen im „Staatshaushalt der Athener" außer Zweifel gesetzt. Zwar haben nicht alle griechischen Staaten Angaben hinterlassen. Aber außer in Kreta und Sparta scheint der Haushalt der griechischen Staaten überall dem athenischen ähnlich gewesen zu sein. In diesem aber werden die Steuern nicht ohne Kataster erhoben. Kein Staat des Altertums hat der Statistik eine solche Aufmerksamkeit zugewandt als der römische. Schon von Servius Tullius finden wir hierüber gesetzliche Bestimmungen, und unter seine Regierung fallen auch die ersten Bevölkerungsaufnahmen. Die Methode war, Frauen und Kinder auszulassen, und so lassen sich keine ganz sicheren Gesamtheiten gewinnen. Im Jahre 185 der römischen Zeitrechnung geschah die erste, im Jahre 74 nach Christi die letzte Bevölkerungsaufnahme. Wir ziehen die von 48 vor, weil ihre Daten genauer erhalten sind. Unter Servius Tullius umfaßte der Staat etwa 420 000 Menschen; unter Claudius 34 720 000 Einwohner. Die Kaiser verfolgten diese Zählungen mit sichtlichem Interesse. So wird erzählt, daß Augustus die Resultate einer allgemeinen Volkszählung, die er habe vornehmen lassen, mit eigener Hand abschrieb. Claudius verfolgte einen außerordentlichen Fall hohen Alters. Dieser Fall indes kann sich mit den Berichten der Juden, Ägypter oder Inder über hohes Alter, welche die Gelehrten oft beschäftigt haben, nicht messen. Diese Ubertreibungen hingen mit religiösen Gedanken zusammen. Die Hindus gehen hierbei in ihrer abenteuerlichen Weise viel weiter als die Juden. Für gewöhnliche Menschen der Urzeit nehmen sie 80 000 Jahre an, für Heilige 100 000. Ein besonders brillanter Charakter unter ihren Königen soll im Alter von zwei Millionen Jahren zu regieren begonnen haben; nachdem er dann über sechs Millionen Jahre die Regierungssorgen getragen, dankte er ab und lebte noch ein gutes Stück in freier Muße.
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Aber alle diese angeführten Volkszählungen waren Verwaltungsmaßregeln. Die wissenschaftliche Betrachtung der Volkszahl hält gleichen Schritt mit der Erkenntnis der Menschenwürde, die erst mit dem Christentum auftrat. Die Würde der Arbeit, die Freiheit des Bodens, das Ende von Sklaverei und Leibeigenschaft und die freie Konkurrenz gaben erst dem Individuum seinen vollen Wert. Den Komplex aller Beziehungen, in welchem das Individuum steht, mit einem Blicke zu umfassen, ist freilich unmöglich: man kann dies ausgebreitete viel verzweigte Leben in kein photographisches Bild einfangen; man muß vielmehr die Züge einzeln zusammenbringen, indem man auf die einzelne Person zurückgeht. Die Statistik begleitet den einzelnen durch sein ganzes Leben hindurch: seine Geburt, seine Taufe, seinen Schulunterricht und Fleiß, seine Waffenfähigkeit und seinen Beruf, seine Hauseinrichtung und die Verwaltung seines Besitzes — sie bekümmert sich um sein Wohl- und Schlechtgehen. Erst beim Tode entläßt sie ihn, nachdem sie vorher genau und sorgfältig konstatiert, wann und woran er gestorben. Und aus der Summe aller dieser Verhältnisse erwächst ihr dann der klarste Einblick in jede Stufe des nationalen Lebens. Indem die Volkszählungen dies hohe Ziel verfolgen, wächst ihre Bedeutung mit jedem Tage. Leider nicht das Bewußtsein derselben im großen Publikum in gleichem Maße. Nur in den entwickeltsten Staaten, in Belgien, England, Amerika, wird auf sie ein großes Gewicht gelegt. In Amerika läßt man sich alle zehn Jahre eine Zählung ein bis zwei Millionen kosten. In Deutschland ist man in bezug auf die Volkszählungen noch außerordentlich zurück. Viele glauben, die Zahl der Einwohner eines Landes enthalte alles, was man zu wissen brauche. Es ist die Sadie der geschichtlichen Wissenschaften, einen größeren richtigeren Begriff von der Statistik zu verbreiten, wie ihnen ja auch die Resultate derselben zugute kommen Je mehr sich die Geschichte dazu anschickt, auf den Kausalnexus der Ereignisse einzugehen, neben den dynastischen und kriegerischen Ereignissen das Leben des Volks zu erforschen: desto mehr wird die Notwendigkeit von Volkszählungen und Beschreibungen erkannt werden. Aus der fortlaufenden Statistik des Alters der Bewohner ist das Wohlbefinden eines Staates besser als aus allen Doktrinen zu erschließen. Denn Arbeit ist Zeit, Zeit die Materie unseres Daseins; je mehr Tod, desto mehr Armut. Die Bevölkerung eines Staates ist und bleibt sein größter Reichtum, indem sie sich vermehrt, nimmt sein Reichtum zu. Die preußische Monarchie ist in den letzten Jahren, weil an Bewohnern, auch an Reichtum gewachsen; direkte Berechnung des Wachstums des Reichtums ist erst möglich, wenn die Resultate der neuesten Zählungen sich überblicken lassen. Was für eine Zukunft verspricht nicht diese Wissenschaft für die Theorie der Gesellschaft! Das Ziel ist lang und der Weg weit. Aber trügt nicht alles, so liegen hier Resultate, welche die Wissenschaft von der Gesellschaft der von der Natur ebenbürtig machen werden, indem sie dieselbe auf ein System von Gesetzen gründen.
Vorlesungen zum Besten des Germanischen Museums (1862)
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Vorlesungen zum Besten des Germanischen Museums A m 12. M ä r z [1862] begann ein Zyklus von sechs wissenschaftlichen Vorträgen, welche z u m Besten des Germanischen National-Museums zu N ü r n b e r g a n sechs aufeinanderfolgenden Mittwochen von 5 bis 6 im H o t e l de Russie stattfinden. W e r je das weite altertümliche Gebäude zu N ü r n b e r g , das diesen Sammlungen gewidmet ist, mit einem der kundigen Sekretäre durchwandert, die treffliche übersichtliche Einrichtung der Kunstsammlung wie des Archivs überblickt hat, w i r d gewiß f ü r ein U n t e r n e h m e n vollen Anteil haben, dessen E r t r a g diesem Museum gewidmet ist. Die Rede der Vortragenden eröffnete der b e k a n n t e Sprachforscher u n d Reisende, H e r r Brugsch. Sein Thema w a r e n die Germanen und Perser. So interessante Einzelheiten sein V o r t r a g enthielt, so hätten wir doch f ü r denselben einen einheitlicheren Z u g gewünscht. E r zerfiel zu sehr in unter Abteilungen geordnete N o t i z e n . In einem V o r t r a g e dieser A r t d ü n k t uns ü b e r h a u p t die Bescheidenheit nicht am Platze, welche ganz hinter den Sachen und dem Material zurücktritt. So hätten wir gern gewünscht, d a ß der R e d n e r öfter, als er tat, auf seine eigenen Anschauungen der O r t e und Menschen, seine eigenen Erlebnisse zurückgekommen wäre. Er begann mit einer Stelle der geistvollen Einleitung des H e r r n v o n Schack in seiner Übersetzung des iranischen Epos. Dieser spricht d o r t aus, wie Firdusi nicht bloß der größte Dichter des Orients, wie er auch der klarste, einfachste, besonnenste sei, der a m meisten die Verwandtschaft des persischen Geistes mit dem deutschen zeige, der am ersten ein Recht habe, in Deutschland als ein V e r w a n d t e r unseres Geistes begrüßt zu werden. Diese Verwandtschaft des Geistes beider N a t i o n e n wollte der Redner darstellen aus den Resten ältester Sprache u n d Sage, wie sie sich hier u n d d o r t erhalten, u n d aus der eigenen Anschauung, die ihm auf seiner Reise vergönnt w a r . Die weitverbreitete Völkergruppe der indogermanischen Völker u m f a ß t e einst eine gemeinsame Kindheit. Was ehedem niemand zu ahnen h ä t t e wagen dürfen, h a t jetzt die Wissenschaft zweifellos erwiesen. W o die Geschichte sich in d ä m m e r n d e Sage verliert, beginnt das Licht der sprachvergleichenden Forschung. Sie zeigt, wie die Inder u n d die Iranier, die Slawen, Griechen und Römer, die rätselhaften Kelten u n d endlich die Deutschen K i n d e r einer einzigen U r m u t t e r sind; in den w a l d - u n d wiesenreichen Ebenen Hochasiens ihre H e i m a t ; in einem staatlichen V e r b ä n d e lebend, der bereits weit über das patriarchalische Leben hinausging. A n ihrer Spitze standen Herrscher, deren N a m e n vom Hirtenleben oder von dem äußeren G l a n z u n d der K r a f t hergenommen sind. D i e N a m e n der verschiedenen Herdentiere, die N a m e n der notwendigen Werkzeuge des Ackerbaues zeigen, d a ß Hirtenleben und Getreidebau schon zu dieser Zeit der Einheit der ganzen Völkerfamilie ausgebildet waren. D ö r f e r w a r e n v o r h a n d e n ; der H u n d erscheint schon als der treue Begleiter des Menschen. Selbst die Gottheit ist bei Persern u n d Germanen durch eine gemeinsame Wurzel bezeichnet. Schreiben freilich w a r nicht f r ü h eine Sache dieser Völker-
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familie; ihre Schriftzüge weichen weit voneinander ab; noch lag die Uberlieferung im Gedächtnis allein. Die große Auswanderung aus dieser Heimat zerstört mit einem Schlage dies friedliche Bild. Am nächsten an den Ursitzen ließen sich Perser und Inder nieder, am fernsten Kelten und Deutsdie. Das einzige, was die Wanderer nach dem fernen Nordwesten mitnahmen, waren Sprache, uralte Sage und Sitte. Erst im vielgegliederten Festlande Europas erreichten dann diese Nationen ihren Höhepunkt. Jetzt, von diesem aus, nachdem Jahrtausende vergangen sind, gewährt es einen eigenen Reiz,, sorgsam den Spuren zu folgen, welche beide Nationen noch heute in Sage und Sitte als einst so nahe verbunden zeigen. Dies ist es, was sich der Vortragende zur Aufgabe gestellt hatte! Firdusi hat sich das unsterbliche Verdienst erworben, die Sagen der Perser in einem anmutigen Kranze gesammelt zu vereinen und so zu erhalten. Die Lokalität seines Gedichtes ist der Hindukusch. Auf die älteste Religion seiner Väter durfte er nicht mehr zurückgreifen; aber was er von Sagen hat, weist doch auf diese hin. Noch bis heute ist das größte Fest des Persers das Sonnenfest im Frühjahr. Umgeben von den Großen seines Reichs zeigt sich dann der Schah von Persien seinem Volke; auf allen Bazaren glänzen Lampen und Lichter; es ist auffallend ähnlich den altdeutschen Feuern, die zu Ostern und Johanni auf den Höhen brannten. Ebenso teilen beide Nationen die Anschauung von einem Sonnenschilde, das Gottesurteil der Feuerprobe. So befiehlt ein persischer König seinem Sohne, auf schwarzem Roß durch die Glut hindurchzureiten, und er kommt durch Gottes Güte unversehrt wieder zum Vorschein. Nirgends aber wird die Einheit der Nationen offenbarer als an der verschiedenen Gestaltung des Heldentums, obwohl die deutschen Helden ungeheurer, unförmlicher gedacht sind als die persischen. Es ist ein gemeinsamer Zug, daß die größten Helden vor der Zeit das Licht der Welt erblicken, dann wunderbar rasch Heldenkräfte erlangen. Schon acht Tage nach seiner Geburt verlangt ein persischer Held Helm und Schwert und tötet einen Elephanten. Es ist ebenso ein gemeinsamer Zug, daß sie entweder früh, in der Blüte des Lebens hingerafft werden oder übermenschliches Alter erreichen. So zählte der König des goldenen Zeitalters 700 Jahre. Audi die germanische Frauenverehrung findet sich bei den Persern jener älteren Zeit, und noch bis auf diesen Tag nimmt in Persien, trotz Schleier und Harem, die Frau eine ganz andere Stellung ein als bei den übrigen Mohamedanern. Und ebenso treu als dort die alte Verehrung der Frauen von den Persern in ganz anderen Verhältnissen, ist bei uns Deutschen die alte Welt der Riesen und Zwerge in allem Wechsel der religiösen Anschauung in der Erinnerung bewahrt worden. Persien ist recht die Heimat dieser Wesen. Ein ganzes Geschlecht von Dienern des Ahriman liegt dort in den Bergen; Felsen und Ströme, von Geisterhänden bewacht, hemmen den Weg zu ihnen; sie verwandeln sich in Tiere und Steine, sie verschwinden vor den Augen des Wanderers. Zug um Zug entspricht das alles dem deutschen Glauben an Riesen und Geister, der jetzt in unsere Märdienwelt zurückgedrängt ist, dort aber noch überall gegenwärtig lebt. Seltsame Bilder, die diese Vorstellungen veranschaulichen, blicken überall in Bazaren und Bädern den Reisenden an.
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Wie das Feuer, so genießt audi das Wasser bei beiden Nationen eine uralte Verehrung. Lange vor dem Christentum war es deutsche Sitte, die neugeborenen Kinder durch Besprengung mit Wasser zu heiligen. Es war deutsche Sitte, an den Quellen zu beten, wie noch heute der Perser tut. Hinter dem Abreisenden wird dort Wasser gesprengt und bei Regenmangel geht der Schah, barfuß, mit Erde auf dem Kopf, zum Berge Elrus, ähnlich den mittelalterlichen Wallfahrten beim Wassermangel. In den Bäumen schaute man ein verwandeltes Leben. Schlägt man eine Erle um, so blutet und weint sie; einzelne Kräuter haben wunderbare Kraft, Heilung und Reichtum zu schaffen. Vor allem werden die Zypressen dort verehrt, wie bei uns die Eichen. Aus dem Blute eines Getöteten sprießt eine Blume auf, die sein Bild trägt, wie bei uns aus dem unschuldig Gerichteten eine weiße Blume. Es ist eine Erinnerung an die uralte Vorstellung der Seelenwanderung, die in solchen Bildern tätig ist. Ganz besonders sind bei den Persern die Pferde den Göttern heilig, und was sich bei uns von solchen Vorstellungen erhalten hat, ruht gewiß auf jener ältesten gemeinsamen Zeit. Noch heute muß in Persien jeder, der einen Pferdestall erreicht, als heilig gehaltener Gast betrachtet werden. Das Pferdehaupt schützt bei Germanen und Persern vor bösen Einflüssen. Umgekehrt galt der Hund bei den Germanen und gilt noch heute bei den Persern für unrein. Daher wird mit ihrem Namen gescholten und sie werden mit bösen Geistern in Beziehung gesetzt. Den geflügelten Tieren ward bei beiden Nationen etwas Geheimnisvolles zugeschrieben. Die Vögel reden in ihrer eigenen Sprache. Die Ankunft der Schwalbe und der erste Gesang der Nachtigall sind auf bestimmte Tage ausdrücklich im persischen Kalender angezeigt. Wenn wir von den Vorstellungen der belebten Natur auf die leblose noch einen Blidc werfen, so finden wir audi hier Übereinstimmung. Audi die persischen Diven können sich in Steine verwandeln und verzaubert werden, und noch heute zeigt man auf der iranischen Hochfläche überall solche Zaubersteine, ganz wie bei uns in Deutschland. Selbst in der Wüste zeigt man die Spuren von Rustems Kamelen. In Deutschland hat sich das Volk fast überall aus dem Aberglauben, dem drückenden Gefühl überlegener unguter Mächte, herausgearbeitet. Die Perser stehen hier noch vollständig auf dem Glauben des abergläubischen Mittelalters. Der Schah ist von Hofastronomen umgeben und kein fremder Gesandter wird zur Audienz empfangen, wenn nicht die Stunde in den Sternen günstig ist. Der Kalender enthält die glücklidien und unglücklichen Stunden für alle möglidien Dinge. Im Bazar sitzen verschleierte Frauen und graubärtige Alte, Schicksale zu prophezeien. Ist ein Perser über eine vorzunehmende Handlung im Zweifel, z.B. ob er eine verschriebene Arznei einnehmen soll, so zählt er an seinem Rosenkranze ab. Jemand, der von einer großen Reise heimkehrt und, wie dem Erzähler geschah, totgesagt wurde, muß schlechterdings über das Dadi in sein Haus klettern. Man behängt sich mit Talismanen, um sich vor dem bösen Blick zu schützen. Aber nicht nur die Ahnungen der Urzeit haben sich in merkwürdiger Übereinstimmung bei beiden Nationen erhalten. Audi der gegenwärtigen Erscheinung nach treten sich beide nahe. In der Gestalt möchte man, ohne den Unterschied der
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Kleider, einen Perser und Germanen schwer unterscheiden. Ebenso ähnlich sind sie sich in der geistigen Natur. Der Perser ist heiter, von ungewöhnlicher Verstandesschärfe. Nur ein Unterschied darf nicht verschwiegen werden — die seltsame Abneigung der Perser gegen die Wahrheit. Dem Vortragenden schwor gelegentlich ein Perser bei den Gebeinen seiner Eltern, daß bei der Musik irgendeines berühmten Musikmeisters die Felsen weich und dehnbar geworden seien, wie er selbst mitangesehen. In diesem ungeheueren Talent für die Lüge liegt vor allem ein Hindernis baldiger Ebenbürtigkeit beider Nationen. Die jüngst dorthin gesandte Gesandtschaft erwies bald eine Kluft zwischen denselben, die schwerlich sobald ausgefüllt werden wird.
Friedrich II., Kurfürst von Brandenburg Ein Vortrag
von Professor
Riedel.
Am 29. März [1862] sprach Professor Riedel über den Kurfürsten Friedrich II. von Brandenburg. Droysens „Geschichte der preußischen Politik" hat vor der glänzenden Gestalt Albrecht Achills die schlichtere dieses Kurfürsten mehr zurücktreten lassen; indem er zum ersten Male aus vielen unbenutzten Quellen dessen weitreichende Pläne in ihrer ganzen Ausdehnung überblickte, trat ihm dagegen der „beschränktere Gesichtskreis" Friedrichs II. in Schatten. Dieser Auffassung gegenüber — wie es schien — stellte der vortragende gelehrte Geschichtsschreiber dar, wie sich die notwendige Wendung der preußischen Politik durch Friedrich II. vollzog, während seinem Bruder die Notwendigkeit dieses veränderten Systems nie klar zum Bewußtsein kam, er stellte dar, mit welchen Mitteln eines nüchternen, nachhaltigen, ernst religiös gestimmten Geistes er nun seine von der kaiserlichen Politik gesonderten Zwecke am Ostseestrand verfolgte, welche Bedeutung für die Begründung des preußischen Staates sein Regiment gehabt hat, eine Bedeutung, die ihn geradezu den beiden größten seiner Nachfolger anreiht. Von dem anschaulichen Gemälde, das der Vortragende vom Charakter und der Politik dieses Kurfürsten entwarf, können wir hier nur einen Schattenriß geben. Das Publikum folgte ihm mit großem Interesse. Schon in einem früheren Vortrag hatte der Redner das bewegte Jugendleben des jungen Prinzen und die Einwirkung dargelegt, welche die tragischen Schicksale des Jünglings auf Gemüt und Charakter des Mannes äußerten. In der Mark, zu Tangermünde, fern vom fränkischen Hof der Eltern, wurden die beiden Knaben in kriegerischem Geiste erzogen. Während aber Albrecht Achill dort blieb, bis er dem Vater auf seinen Feldzügen folgte und daher in seinen Neigungen vom kriegerischen Geiste dieser Erziehung vorherrschend bestimmt wurde, führte den älteren Prinzen seine Verlobung mit der polnischen Königstochter schon im neunten
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Jahre an den dortigen Hof, wo ihn sorgfältiger Unterricht und der Verkehr mit der trefflichen Verlobten für die Beschäftigungen und Interessen des Friedens empfänglicher machten. Albrecht, von kräftiger, ritterlich-schöner Gestalt, von einem Vertrauen auf sein Kriegsglück erfüllt, wie es Erfolge und damals auch noch persönliches Kraftgefühl gaben, hat wie auf einem einzigen Kriegszuge gelebt. Ein Zeitgenosse durfte von ihm sagen: in seinen vielen Schlachten sei er der erste, der den Kampf begann, der letzte, der von ihm abließ, gewesen; bei der Einnahme fester Plätze habe er nicht selten zuerst die Mauern erstiegen, er habe keinen Zweikampf ausgeschlagen und in jedem den Gegner besiegt. Die Mißverhältnisse, in die ihn seine Fehdelust stürzte, glich seine kalte und schlaue Politik immer wieder aus. So konnten ihn die Feinde den deutschen Fuchs, die Bewunderer den deutschen Achill nennen. Über seinem Wesen liegt etwas von Zauber frischen Lebenssinnes, der uns an den Helden des Altertums so heiter anmutet. Seine Reden und Schriften atmen einen leichten und heiteren Geist; er liebte den Witz und übte ihn oft schonungslos, am liebsten an der Geistlichkeit; der Schönheit der Frauen huldigte er mit chevaleresker Hingebung, doch auch ihre Nähe hielt die soldatische Derbheit seines Scherzes nicht in Schranken. Wie treu auch beide Brüder aneinanderhielten: sie waren durchaus verschieden geartet; Friedrich erscheint in jedem dieser Züge als das Gegenstück Albrecht Achills. Von hagerer Statur, körperlich gebrechlich, nicht ungeschickt in Jagd und ritterlichen Künsten, aber ihnen wenig zugetan; Kriege, welche das Interesse seines Hauses forderte, vermied er nicht und führte sie selbst, aber er durfte in Wahrheit von sich sagen, es sei dem allwissenden Gott bekannt, wie er all sein Lebtage nach Frieden gestrebt und am Kriegen keinen Gefallen gefunden habe; in seiner Politik leiteten ihn Rechtschaffenheit und Treue, selbst dem Kaiser gegenüber, von dem er nur Unbilden erfuhr; lieber — so erklärte er zum Äußersten gebracht — wolle er untergehen, als seinen dem Kaiser geleisteten Eid brechen. So verweigerte er trotz aller Versprechungen und Drohungen Polens Georg Podiebrad seine Stimme, und auch sein Rücktritt von der Regierung entsprang wahrscheinlich aus dieser Gewissenhaftigkeit. Als er mit den Pommernherzögen den Krieg um Pommern-Stettin begann, schienen die Sukzessionsansprüche schwebend; 1769 aber trat die pommerische Partei mit einer Darlegung aus den Archiven auf, welche seine Überzeugung erschüttert zu haben scheint, und so überließ er den Krieg wohl lieber dem Bruder, dessen Rechtsgefühl weniger skrupulös war. Ein tiefer Ernst ließ sein Leben in strenger Pflichterfüllung verfließen und erschöpfte früh seine Lebenskraft; er verbreitete sich auch über seinen Hof, an dem die Sitte streng gehandhabt, würdige Geistliche gern gesehen wurden. Religiosität war ein Grundzug seines Charakters. Seine Wallfahrt zum Heiligen Grabe ist bekannt. In wiederholten öffentlichen Beichten gab er seinen Untertanen ein damals seltenes Beispiel aufrichtiger Demut vor Gott. Es war ihm Herzensbedürfnis, in seinem schweren Berufe — wie er selbst sagt — seine schwache Kraft durch beständige Zuflucht zu Gott zu stärken und dadurch zugleich sein und der Seinigen Leben zu bessern. So begann der Tag regelmäßig mit einer Messe, zu der sich in der Kapelle des von ihm gegründeten Schlosses
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das ganze Hofgesinde versammelte; beim Mittagsmahl war der Hofkaplan beständiger Gast, und es ward durch Gesang und Gebet gesegnet; er führte bei diesem feierlichen Gottesdienst deutsche Gesänge ein, was in der Mark noch nicht üblich war. Wunderbar durch die fromme Sitte des Kurfürsten überrascht, fanden sich sächsische Gäste, die an einem Ostertage einmal zur Tafel gezogen wurden, als Friedrich, nachdem die Tischgesellschaft zu den Stühlen getreten war, das deutsche Osterlied zu singen anhub: „Christ ist auferstanden Von des Todes Banden. Deß sollen wir alle froh sein, Gott will unser Trost sein." In dem innigen täglichen Gebete des Schwanenordens an die Jungfrau Maria besitzen wir wahrscheinlich den poetischen Erguß der eigenen tief religiösen Gefühle des Kurfürsten. Aber diese Religiosität machte ihn doch weder nachsichtig gegen die Eingriffe der Kirche in seine Rechte, noch blind gegen die Mißbräuche derselben. Den Magdeburger Domherrn Heinrich Tode, der gegen das Wilsnacker Wunderblut mit heftigem Eifer aufgetreten war, ließ er bei seiner Anwesenheit in Magdeburg vor sich bescheiden, hörte den eifrigen Priester stundenlang gelassen an und suchte Veranstaltungen zu treffen, den dortigen Kultus vor dem Vorwurf der Abgötterei zu schützen; aber freilich fürchtete er doch die skeptischen und der Kirche feindlichen Stimmungen, die durch solche Angriffe genährt wurden, und er meinte, der fromme Eiferer werde einen Brand anzünden, den er nicht zu löschen vermöge, nachdem er einmal um sich gegriffen habe. Und wie ihn seine Religiosität durchaus nicht blind gegen die Kirche machte, so machte sie ihn auch nicht zum asketischen Verächter maßvollen Lebensgenusses. Riesen und Zwerge, Possenreißer und H o f narren, wie sie damals an den Fürstenhöfen zur Kurzweil dienten, fand man freilich bei ihm nicht; aber gern war er des Abends mit seinen Räten und Hofleuten in heiterer Unterhaltung oder beim Spiel der Laute beisammen. Man pflegte damals auch an den norddeutschen Höfen noch Bier zu trinken; Friedrich hielt darauf, daß es nur aus seinem eigenen Lande bezogen wurde. Das übermäßige Trinken, wie es zum Beispiel am benachbarten pommerschen H o f e herrschte, war ihm verhaßt. Als er den Herzog Otto von Stettin, seinen Neffen, den er wie einen eigenen Sohn an seinem H o f e erzogen hatte, den Landständen feierlich übergab, durfte er behaupten: „An seinem H o f e sei der junge Fürst in ehrbarer Zucht zu allen fürstlichen Tugenden angeleitet; sie möchten ihn vor dem Saufen, unmäßigen Fressen, übertriebener J a g d ferner bewahren, ihn dagegen lehren, Friede und Gerechtigkeit zu handhaben und niemand Unrecht zu tun: dann würden sie einen guten Fürsten an ihm haben." Diese Mäßigkeit aber entsprang durchaus nicht aus übertriebener Sparsamkeit; er war freigebig, ja er liebte den Glanz. Seine Affekte waren schwer und stark. Er, den man den Eisernen nannte, ward öfters von seinen Empfindungen bis zu lautem Weinen bewegt; so eben bei jener Einsetzung seines Neffen von Stettin in das väterliche Herzogtum. Wie er nach dem Maßstab jener Zeit auch im Strafen nicht hart war, zeigt die Art wie er den Berliner Aufruhr von 1448 behandelte. Wie
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hatte zwanzig Jahre vorher Markgraf Johann die Bürgerschaft Stendals einen Aufruhr mit Hinrichtungen büßen lassen. Und mit welcher ausgesuchten Grausamkeit strafte eben damals Herzog Albrecht von Österreich die empörerischen Wiener. Friedrich hat, nachdem er Berlins Herr geworden war, keinen Tropfen Blut vergossen. Ein hübscher Zug, wie er audi Persönliches zu vergessen wußte, ist uns erhalten. Der treffliche sächsische Propst Johann Busch hatte in der Empörung über die Verwüstung Sachsens durch das kurfürstliche Heer dem Kurfürsten statt eines Grußes den Wunsch gesandt, „daß ihn alle Teufel bald in die Hölle befördern möchten". Nicht allein, daß ihm trotzdem der Kurfürst seine alte Zuneigung bewahrte, er sprach auch den Wunsch aus, ihn vor seinem Tode noch einmal persönlich zu sehen und nötigte nach einer langen Unterredung dem Propste die höchste Bewunderung ab. Von der größten Tragweite war aber der Gegensatz der politischen Bahnen, welche die beiden Brüder einschlugen. Es ist bekannt, daß die alten Burggrafen von Nürnberg ihre politische Bedeutung in dem Dienste des Reichsoberhauptes gesucht und gefunden haben. Diese Richtung kulminierte in Friedrich I I . , dessen ganzes Leben der weltlichen und kirchlichen Einigung Deutschlands angehört hatte. E r hatte aber die Reichsoberhauptswahlen von 1438 und 1440 noch erleben müssen, in denen die gänzliche Niederlage dieser Reichspartei, der vollständige Sieg der dynastischen Interessen entschieden wurde. Die Fürsten wollten von Österreich ein ihre Selbstherrschaft nicht beeinträchtigendes Reichsregiment, Österreich suchte in diesem nun eine Stütze seiner selbstsüchtigen Hauspolitik. Zugleich war die Folge dieser Wahltage, daß der Schwerpunkt der Reichsverwaltung von Nürnberg nach Wien überging. So mußten die Söhne Friedrichs I I . von der für sie wie für die Gesamtinteressen des Reiches gleich unfruchtbar gewordenen Hingebung an die kaiserliche Politik sich lossagen; ihre Zukunft lag in der Mark Brandenburg; mit dieser mußten sie zu machen versuchen, was Deutschland unter ihrer Hand zu werden verschmäht hatte — ein einheitliches mächtiges Reich. Albrecht, der dem Vater einst bei Kaiser Sigismunds Tode gelobt hatte, „bei einem künftigen Reichsoberhaupte sich zu Tode zu dienen", blieb der kaiserlichen Politik anhänglich, wie wenig es ihm auch gedankt wurde, und ihm kam eigentlich die Notwendigkeit dieses veränderten politischen Systems nie klar zum Bewußtsein. Friedrichs I I . nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst ist es, den neuen Weg ohne Schwanken eingeschlagen zu haben. Vom Anfang seiner Herrschaft an war er auf Gründung eines großen norddeutschen, den Ostseestrand beherrschenden Staates gerichtet. Das erste war, auf sittlich religiöser Grundlage den verwilderten Zustand der Mark neu zu ordnen, ein einheitliches Regiment gegenüber den Unabhängigkeitsgelüsten der Stände herzustellen. Auf dieser Grundlage galt es dann die Vergrößerung des Kurfürstentums. E r vergrößerte den Gebietsumfang desselben um mehr als die Hälfte. Der neueren und besten Übersicht seiner Erwerbungen in Voigts „Geschichte des preußischen Staats" darf man noch das Land Lydien, die östliche Hälfte der Uckermark, die Standesherrschaft Lübbenau und die Lehnsherrlichkeit über die Herrschaften Putlitz und Möckern hinzufügen. Er ersdiloß seinem Hause umfassende Sukzessionsaussichten in die Nachbarlande.
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Zu den bereits historisch bekannten Erbverträgen mit Mecklenburg, Hessen und dem Kurfürstentum Sachsen kann noch ein bis jetzt unbekannter Erbvertrag vom Jahre 1452 hinzugefügt werden, der den dereinstigen Anfall von Lauenburg in Aussicht stellte. Die gegen den Ordensstaat empörten Preußen neigten sich dem Kurstaate zu; auch Holstein hoffte Friedrich an sein Haus zu bringen. So umfassend waren die Pläne dieses hochstrebenden Fürsten: die Gestade der Ostsee entlang sollten Holstein, Lauenburg, Mecklenburg, Pommern und Preußen mit Brandenburg zu einem zusammenhängenden Territorium vereinigt werden, und diesem Ostseereiche sollten dann Kursachsen, Thüringen und Hessen allmählich zufallen. Freilich vertraute Friedrich mehr, als sich erfüllt hat, seinem guten Glück. Aber als er 1470 seinem Bruder sein Land übergab, durfte er sich doch rühmen, er hinterlasse ihm einen Staat, der schon einem Königreiche gleiche. Was schwerer wog, er vererbte in seinem Hause die richtige Idee, die freilich erst nach Jahrhunderten zur klaren Einsicht wurde, daß nimmer in einem Anschluß an die österreichische Politik, sondern nur in der Begründung eines lebenskräftigen, freisinniger als die übrigen deutschen Staaten konstruierten und regierten Staates und in einer auf das Gemeinwohl Deutschlands uneigennützig gerichteten Politik die fortschreitende Größe des Hauses Zollern und die Lösung seiner welthistorischen Aufgabe zu finden ist.
Zur Geschichte des Parlamentarismus Friedrich Julius Stahl, Siebzehn parlamentarische Berlin 1862.
Reden und drei
Vortrage.
Die neuere Geschichte der parlamentarischen Beredsamkeit in Deutschland darf uns mit gerechter Befriedigung erfüllen. Wenn diese für den Stand der politischen Bildung neben der Presse der genaueste Gradmesser ist, so haben wir einen großen Schritt von doktrinären Abstraktionen und persönlicher Selbstbespiegelung in Witz und Pathos zu sachlicher Erörterung getan. Es ist wahr, daß seit dem vereinigten Landtag und den Kammern von 1849 wenig neue Talente emporgekommen sind und sicher keins, das Vincke oder Stahl an rednerischer Begabung überträfe. Aber mit der Lage selber hat die Beredsamkeit derselben Männer einen wesentlich sachlicheren Charakter erhalten; sie ist den klassischen Beispielen sachlicher E r örterung, die wir in der englischen Parlamentsgeschichte bewundern, ungesucht nähergetreten. Einer blieb unheilbarer Doktrinär; kaum je hörte man ihn über eine innere Frage sprechen, ohne daß der ganze Apparat von wahrem Konstitutionalismus, Parlamentarismus, Nationalismus, Revolution und dergleichen in Bewegung gesetzt worden wäre; kaum je über eine äußere Frage, ohne daß er allgemeine Rechtsfragen diskutiert, alle Tendenzen der Revolutionierung oder Entdiristlidiung Europas gewittert hätte. E r allein sorgte dafür, daß die Kunst,
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weitaussehende Antithesen an die Stelle sachlicher Erörterung, allgemeine Prinzipien an die Stelle der Zweckmäßigkeit der Sache zu setzen, daß das ganze feine und scharfsinnige Spiel mit antithetischen Geschiditsprinzipien uns nicht unter dem Einstürmen so vieler derben Realitäten abhanden käme. Selbst in seiner Partei, die sonst stärker als irgendeine andere seit Hallers und Adam Müllers Tagen mit philosophischen Spekulationen versetzt ist, stand er hierin bei uns zuletzt isoliert. Um so wertvoller war ihr seine Weise. Während die naiven Ausbrüdie von ritterlichem Selbstgefühl und Adelsinteresse, die zuweilen aus dem Herrenhause in die Nation drangen, nur Kopfsdiütteln und Erstaunen erregten, besaß Stahl die unbezahlbare Virtuosität, aus dem Begriff des „wahren konstitutionellen Staats" in seinem Gegensatz zum Parlamentarismus jeden reellen Vorteil seiner Partei in den Formen der höchsten wissenschaftlichen Bildung zu deduzieren. Lediglich aus der doktrinären Konsequenz, daß jeder andere Schritt zu einem revolutionierten Europa oder einem parlamentarischen Preußen führe, deduzierte er die Notwendigkeit eines von Rußland und Österreich abhängigen, in Deutschland machtlosen, im Inneren von König, Adel und Kirche geleiteten Preußen. Vielleicht nie besaß Preußen einen Staatsmann, in dem das patriotische Gefühl für Preußens Macht und Größe so wenig Macht über abstrakte Theorien gehabt hätte. Seit Adam Müller gab es vielleicht keinen Bürgerlichen von großem Talent, der den Interessen des Adels gegenüber die Größe und die Zukunft des deutschen Bürgertums mit so wenig nachhaltiger Kraft empfunden hätte. Denn empfunden hat er sie doch audi, wie manche Stelle seiner Reden beweist. Hatte doch keineswegs in der Macht dieses Standes, sondern in der Macht des Königtums das Interesse seiner Parteistellung gelegen, und manchmal genug mag er es schwer und wie das tragische Geschick seines Lebens empfunden haben, daß dies Interesse ihn in eine Partei trieb, der Mittel war, was ihm Zweck war. Manchmal mag es auch der drückenden Lasten eine gewesen sein, einer Partei anzugehören, deren Instinkte aus ihrer Sonderstellung erwuchsen, ihm selber oft unverständlich und fremdartig, deren Führer er nicht einmal werden konnte bei aller persönlichen Überlegenheit, sondern nur ihr Sprecher, nur der Mann, der ihre Instinkte und Wünsche formulierte und so gut es ging mit dem modernen Staatsbewußtsein vermittelte. Wenn er je Züge von Eigenartigkeit und Selbständigkeit besaß, so gingen sie in dieser Stellung in seiner logisdien, vermittelnden Tätigkeit unter. Wenn er je das Gefühl besaß — und sein Auftreten in der bayerischen Kammer spricht dafür —, daß einem wissenschaftlichen Menschen die völlige Unterordnung aller seiner Gedanken unter einen Parteizweck nicht zieme, so zwang diese Stellung ihm eine solche Unterordnung auf. Es war sein Schicksal wie das seiner Vorgänger: Adam Müller, Gentz, Friedrich Schlegel, daß sein Geist immer formaler, manierierter wurde mit den Jahren, anstatt mit der Fülle der Belehrungen zu wachsen, das verdiente Schicksal aller, die für die ihnen fremden Standesinteressen des Adels arbeiten. Der Bürgerliche mag über die politische Bedeutung des großen und langjährigen Grundbesitzes denken wie er will, im Lager der feudalen Partei hört er täglich Worte und Doktrinen, die ihm im Gedächtnis seiner Vorfahren und des deutschen Bürgerstandes die Zornröte in die Wangen treiben müssen; mit denen, die anderen und besseren Blutes zu 6
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sein glauben, gibt es für einen kräftig und selbstbewußt gearteten Menschten keine Gemeinschaft der Partei. Wir denken gerechter gegen Stahl zu sein als seine eigene Partei, wenn wir dies Sckicksal seines außerordentlichen Talentes beklagen. Nicht bloß der Politiker, sondern auch der Redner hat darüber gelitten. Er ist ein Jahrzehnt hindurch weit über sein Verdienst gepriesen worden, um einige Jahre nach seinem Tode bereits völlig veraltet zu sein. Diese abstrakten Antithesen, diese allgemeinen Prinzipien, in die sich alle Wirklichkeit der politschen Welt auflöst, muten uns schon heute, inmitten unserer gegenwärtigen politischen Debatten kaum wie Schatten an, die am hellen Tage umgehen. Da eben kaum die nach seiner letztwilligen Anordnung veranstaltete Auswahl seiner Reden die Presse verlassen hat, gleicht sie bereits halb einer Rarität aus vergangener Zeit. Nur, wenn wir an das MißVerständnis denken, durch welches die ministeriellen Erlasse sich in der offiziösen Zeitung und amtlichen Kommentaren in den Ruf verwandelten, ob Königtum, ob Parlamentarismus: erkennen wir, daß Stahls summarische und höchst prinzipielle Methode noch ab und zu Nachfolger hat. Bei diesem wesentlich historischen Interesse der Stahlschen Parlamentsreden hätten wir einen chronologischen Gang der sachlichen Anordnung entschieden vorgezogen. Ein einigermaßen in sich zusammenhängendes Ganze bilden die einzelnen Abschnitte ohnehin doch nicht. Was jetzt in diesem Kompendium von Stahls parlamentarischer Tätigkeit geboten wird, ist nicht die Geschichte seiner politischen Überzeugung und Rede, sondern eine urkundliche Charakteristik derselben. Das Interessanteste wäre aber unstreitig gewesen, den Einfluß zu verfolgen, den er auf die preußische Gesamtpolitik seit 1849 geübt hat. Für eine geschichtliche Erkenntnis jener Periode ist es vielleicht noch zu früh. Aber auf alle Fälle könnte unserem politischen Selbstgefühl ein demütiger Rückblick darauf nichts schaden, was für Gründe und welche Behandlungsweise politischer Fragen gelegentliche Majoritäten unserer beiden Häuser besaßen. Es ist gut daran zu denken, daß dieser Sprecher der Feudalen schon in Erfurt die Losung aussprach: „Der Kern der deutschen Frage in seinem Innersten ist kein anderer als der Streit, den wir einst auf der Arena der preußischen Kammern bei Gelegenheit des Steuerverweigerungsrechts geführt haben. Die letzte Entscheidung ist nicht deutsch oder preußisch, nicht Staatenbund oder Bundesstaat, sondern sie ist königlich oder parlamentarisch." Daß derselbe die Pazifikation von Holstein mit dem verwandten Satze motivierte: „Ich halte nicht Gericht über die Herzogtümer, sie waren zwischen zwei Revolutionen gestellt, der dänischen, welche sie zu verschlingen drohte, und der deutschen, welche jene Erfüllung aller ihrer Wünsche bot. Es war dies eine Versuchung, die vielleicht alles menschliche Maß übersteigt. Doch gleichviel, ob durch Schuld oder durch Verhängnis, sie sind Vertreter von Prinzipien geworden, welche Europa nimmermehr zugibt und in der Tat nimmermehr zugeben darf." Daß er die Stellung Preußens im orientalischen Krieg nach dem Grundsatz bemaß: „Österreich, Preußen und Rußland seien die drei Zweige einer großen Familie und ihr Bündnis sei ein Bündnis wider den Machiavellismus." Man muß es von Zeit zu Zeit wieder gedruckt lesen, um es zu glauben, daß eine Partei auf die
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preußische Politik Einfluß haben konnte, welche den Don Quichotte der „friedlichen Völkerfamilie" von Österreich und Rußland, den machiavellistischsten Staaten, welche die Geschichte kennt, gegenüber der Revolutionierung und Entchristlichung Europas machte, und in der, was das Schlimmste war, niemals das patriotische Gefühl rebellierte gegen Sonderinteressen und sinnliche Theorien. In diesem Sinn und zu diesem Zweck heißen wir die gegenwärtige Sammlung der Reden von Stahl aufs beste willkommen.
Aus der englischen Gesellschaft von 1840 Frangois Guizot, Leipzig 1862.
Memoires pour servir ä l'histoire de mon temps. 5. Band,
[Von Guizots Memoiren] ist der fünfte Band erschienen. Er behandelt nicht ganz ein Jahr — die kurze Gesandtschaftsstellung Guizots in London während der damaligen orientalischen Krise, die mit seinem Eintritt in das Oktober-Kabinett von 1840 endete. Es ist bekannt, daß Thiers als auswärtiger Minister ganz in den napoleonischen Traditionen sich zum Beschützer Mehemed Alis und seines Sohnes aufgeworfen hatte. Wenn ihm die Vermittlung der Pforte gegenüber gelungen und die Anerkennung eines Syrien und Ägypten unter der Oberhoheit der Pforte umfassenden erblichen Reiches durch ihn erzwungen worden wäre, so wäre damit in der Tat, worauf Napoleon gerichtet gewesen war, Ägypten in ein dauerndes Schützlingsverhältnis zu Frankreich getreten. Die Schwierigkeit war, die widerstrebenden Mächte, besonders England, von einem Eingreifen in dies Spiel der französischen Politik abzuhalten. Diese Aufgabe war Guizot übertragen, der im Frühjahr 1840 als Gesandter nach London geschickt wurde. Es war das erste Mal, daß er England betrat, das erste Mal, daß er eine diplomatische Mission übernahm. Seine Aufgabe, einem soldien Gegner wie Palmerston gegenüber, und in einer so ungünstigen Stellung würde wohl auch der gewandteste Staatsmann nicht zu lösen vermocht haben. Daß sie ihm aber mit solchem Eklat mißlang, daß Palmerston unter seinen Augen in London die Quadrupelallianz zustande brachte, welche nur noch zwischen einem Krieg mit den europäischen Großmächten und der totalen Niederlage in dieser Frage die Wahl ließ: dies hat man schon damals auch in Frankreich allgemein dem Ungeschick Guizots zugeschrieben. Seine Darstellung ist daher notwendig eine fortlaufende Apologie. Aber auch diese gibt doch überall den Eindruck, als ob Palmerstons anscheinende Treuherzigkeit, seine vollendete Form der Bonhommie den im Grunde zu einem Diplomaten sowohl zu ehrlichen als zu eitlen Guizot düpiert habe. Er selbst schiebt die ganze Schuld auf die Gesamtstimmung. Die Irrtümer, welche diese Situation herbeigeführt hatten, waren nicht die irgendeiner einzelnen Person oder Partei, es waren allgemeine, nationale Irrtümer, überall verbreitet und 6-'
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unterhalten, in den Kammern wie im Lande, in der Opposition wie in der Regierung, im Innern der verschiedenen Parteien. Alle hatten die ägyptische Frage höher angeschlagen als es das französische Interesse forderte; alle hatten die dargebotenen Transaktionen zurückgewiesen; alle hatten Mehemed Ali für stärker und die Absicht der vier Mächte für schwieriger gehalten als sie es in der Tat waren. Aber diese falsche Schätzung der Kräfte war er doch am ersten in der Lage gewesen zu berichtigen, und jene von ihm mißbilligte hohe Veranschlagung der orientalischen Frage zählt jetzt kaum weniger Anhänger als damals. Jedenfalls handelte Louis Philippe damals ganz in Obereinstimmung mit diesem Urteil Guizots, wenn er Thiers, der für eine Kriegspolitik war, entließ und Guizot ins Ministerium berief, um durch eine friedliche Politik die orientalische Sache zu beenden und dieses Ende derselben vor den Kammern zu verteidigen. Und jedenfalls wurde diese Niederlage Louis Philippes und die durch sie hervorgerufene Verachtung im Lande nicht der letzte Grund seines späteren Falles. Jeder Verteidigung im einzelnen tritt dieses Gesamtergebnis vernichtend entgegen. Aber während der Diplomat Guizot auf diese Weise in den Verhandlungen besiegt wurde, feierte der Geschichtsschreiber der englischen Revolution, der Bewunderer der englischen Verfassung in der Gesellschaft glänzende Triumphe. Wenige Ausländer mögen die englische Aristokratie und ihre Berühmtheiten so genau kennengelernt haben als es ihm vergönnt war. Dieser Teil seiner Darstellung, die Charakteristik der englischen Gesellschaft jenes Jahres, ist daher unstreitig der wertvollste. Wir können es uns nicht versagen, die interessantesten von den Charakteristiken, wie er sie mit leichter Hand hingeworfen hat, in verkürzender Ubertragung mitzuteilen. „Nirgends ist die Verbindung des gesellschaftlichen und des politischen Lebens und die Kunst, das eine für das andere zu benutzen, wichtiger als in England; denn nirgends gibt es neben der Regierung eine so große, unabhängige, die öffentlichen Angelegenheiten verfolgende Gesellschaft — eine Gesellschaft, deren billigende oder tadelnde Meinung so viel Gewicht und Wirkung hätte. Das gesellschaftliche Leben ist dort ein um so wichtigeres Mittel der Beobachtung und Information, als es das einzige ist. Die Öffentlichkeit und die gesellschaftliche Unterhaltung, die Journale und die Salons — auf diesen beiden Wegen allein kann ein ausländischer Gesandter in London Tatsachen und Anzeichen sammeln, die Absichten und Beschlüsse der Regierung erraten. Jeder andere Versuch der Nachforschung wäre zu gleicher Zeit kompromittierend und unnütz; die Politik der englischen Regierung ist wesentlich öffentlich; was man nicht in den Journalen oder geselligen Zusammenkünften erfährt oder durchschaut, verlohnt nicht der Mühe des Nachsuchens, und jeder Versuch von Anstrengung oder Intrige im Nachforschen würde unendlich mehr schaden, als das nützen, was man etwa entdecken könnte" [V, 131—133]. „Als ich nach London kam, war die Herrschaft der Whigs in der Regierung, am Hofe und in der öffentlichen Meinung noch völlig befestigt" [V, 133], „Lord Holland war nicht mehr ihr Führer, aber Holland-House war immer noch ihr Mittelpunkt und ihr Lieblingsort. Dort fanden sie ihre Traditionen, ihre ruhmreichsten Erinnerungen, eine fürstliche Gastfreundschaft, eine völlige Freiheit des
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Geistes und der Konversation. Lord und Lady Holland ließen sidi erst zu Ankunft des Frühlings in Kensington nieder, und am 12. April abends besuchte ich sie dort zum ersten Male. Ich wußte gar nicht genug zu sagen, wie sehr dies Haus midi in Erstaunen setzte und mir gefiel. Mich erschreckt die Vergessenheit, die rasche Vergänglichkeit; nichts gefällt mir so sehr als was das Ansehen der Dauer und des langen Gedächtnisses an sich trägt. Diese altertümliche, fast gotische Wohnung, diese Büchersammlung in allen Sprachen und aus allen Teilen der Welt, diese lange Reihe von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Porträts Lebender und Verstorbener, so viel Bedeutung seit so langer Zeit, so viel treue Anhänglichkeit an den Geist, an den Ruhm, an die Freundschaftserinnerungen vergangener Zeiten — alles das interessierte und rührte mich auf das stärkste, und bis auf diesen Tag habe ich mir die ganze Macht dieses Eindrucks bewahrt" [V, 134 f.]. „Nach Holland-House war Landsdowne-House der wichtigste whigistische gesellschaftliche Mittelpunkt, und ohne einen vorwiegenden Einfluß zu üben, hatte doch der Marquis von Landsdowne im Kabinett weit mehr Einfluß, als Lord Holland; er leitete nicht, aber die Leiter glaubten seiner Zustimmung in keiner Sache entraten zu können. Ich habe unter den Whigs keinen großen Herrn gekannt, der würdevoller, aufgeklärter, mit mehr Edelsinn und Urteil liberal gewesen wäre, als der Lord Landsdowne; seine Geburt, sein Vermögen, seine vollendete Erziehung, seine Einsicht, ein Charakter voll Zuverlässigkeit und Ehre, nichts fehlte ihm; aber er erschien stets mehr geneigt, die Vorteile seiner Lage zu genießen, als begierig sie im Kampfe des Ehrgeizes und der Macht geltend zu machen. Er hatte das Bedürfnis, geehrt und geachtet zu werden, nicht das, zu handeln und zu herrschen. Ich möchte sagen, es bestand eine große Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Hause in London: groß, schön, vortrefflich eingerichtet, aber ein wenig kalt: der Eßsaal und die Galerie waren mit antiken Statuen geschmückt, die sein Vater, Lord Shelburne, in Italien gekauft hatte. Ich befand mich einige Male auf den großen Reunionen in Landsdowne-House, unter anderem auf einem Ball, den er am 2. April der Königin gab; es war eine wunderbare Wirkung, diese acht- oder neunhundert Personen voll Leben und Glanz, umringt von sechzig oder achtzig unbeweglichen und kalten Marmorgestalten inmitten dieser Bewegung, dieser Tänze, dieses Meeres von Musik und Licht . . [V, 140 f.] „Die Haltung des Lord Grey und meine Beziehungen zu ihm waren von ganz anderer Art. Dieser große Führer der Whigs, der nach einer vierzigjährigen musterhaft festen Verfolgung seiner Prinzipien das seltene Glück gehabt hatte, das Werk, dem er sich gewidmet hatte, die Parlamentsreform, zu vollenden, Lord Grey konnte sich, als ich ihn 1840 sah, nicht darüber trösten alt zu sein und lebte beinahe außerhalb der Gesellschaft, in Melancholie und Einförmigkeit, so oft er wieder erschien, stets mit höchster Ehrerbietung begrüßt und sie mit einer einzigen Mischung von Würde und Humor aufnehmend. Eines Tages speiste er bei mir mit den Führern der Whigs, Palmerston, Russell, Clarendon . . . Er war einer der ersten gewesen und hatte sich in der Nähe des Kamins niedergelassen, und die anderen Gäste, wie sie kamen, gingen alle ihn zu begrüßen. Ich sehe noch die edle hohe Gestalt des Greises vor mir, wie er sich mühsam vom Sessel erhob und nur durch ein stolzes und trau-
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riges Neigen des Hauptes auf die Huldigungen antwortete, die man ihm darbrachte" [V, 142]. „Ich war erstaunt, in dieser whigistischen Gesellsdiaft niemals einem Manne zu begegnen, mit dem die Whigs lange in Beziehung standen und dessen Beistand ihnen stets unschätzbar war, dem berühmten Irländer Daniel O'Connell. Ich drückte eines Tages bei Lady Stanley mein Erstaunen darüber a u s . . . ,Haben Sie Lust, Mr. O'Connell kennenzulernen?' Und da ich es bejahte: ,Wohl, ich werde es arrangieren.' In der T a t gab sie mir mit ihm und nur fünf oder sechs anderen Personen, darunter Lord John Russell und Lord Duncannon, ein Diner. Ich fand Mr. O'Connell völlig so, wie ich ihn erwartet hatte. Groß, wohlbeleibt, stark gebaut, lebhaft, und der Kopf saß etwas in den Schultern; sein Ausdruck zeigte Kraft und Feinheit zugleich; die Kraft sprach sich überall aus, die Feinheit in dem scharfen und ein wenig abgewandten Blicke, obwohl ohne Falschheit; nichts von Eleganz und doch auch nichts Gewöhnliches; etwas verlegene und doch sehr selbstbewußte Manieren, sogar ein gewisser Hochmut, obwohl unterdrückt. Den bedeutenden Engländern gegenüber, die zugegen waren, zeigte er eine Höflichkeit, in der zugleich Demut und Gewohnheit zu herrschen lag; man fühlte, daß sie seine Herren gewesen waren und daß er ihrer mächtig geworden war. Es hatte ihm offenbar geschmeichelt, daß er mit mir zusammen gebeten worden war. Als man ihn mir vorstellte, sagte ich: ,Wir beide sind zwei gewaltige Heroen des Fortschritts, der Gerechtigkeit und Vernunft; Sie als Katholik und Mitglied des englischen Parlaments, ich als Protestant und Gesandter von Frankreich.' Dieser Eingang behagte ihm und wir plauderten während des Diners wie alte Bekannte. Den Nachmittag kamen Lord und Lady Palmerston, Russell etc. Als wir von Tisch aufstanden, hatte Mr. O'Connell ein Gefühl gesellschaftlicher Bescheidenheit; er wollte sich empfehlen. ,Sie haben Gesellschaft bei sich', sagte er zu Mr. Stanley. ,Ja, aber bleiben Sie, wir rechnen darauf, ja ich bitte Sie darum!' Er blieb mit sichtlicher innerer Genugtuung, die doch nicht ohne Stolz war. ,Der ist also Mr. O'Connell?' fragte mich Lady William Russell, die ihn offenbar noch nie gesehen hatte. — ,Wohl', antwortete ich ihr, ,und ich bin aus Paris gekommen, um Sie mit ihm bekannt zu machen.' — ,Sie glaubten wohl, daß wir stets mit ihm zusammen seien?' — ,Ich sehe wohl, daß das nicht der Fall ist.' — Offenbar waren alle sehr vergnügt, diese Gelegenheit zu haben, ihm liebenswürdig zu sein und er, die Gelegenheit zu nutzen. Er sprach viel; er erzählte von den Fortschritten der Mäßigkeitsbestrebungen in Irland. Ich fragte ihn, ob das eine Volksmode sei oder eine dauerhafte Reform. Er antwortete mit Nachdruck: ,Es wird Dauer haben; wir sind eine hartnäckige Rasse, wie man es ist, wenn man viel gelitten hat.' Als ich mich gegen Mitternacht zurückzog, ließ ich ihn in der Mitte von vier englischen Männern und von fünf oder sechs großen Damen, welche ihm mit einer komischen Mischung von Neugier und Erhabenheit, von Herablassung und Hochmut zuhörten" [V, 143—146]. Wir wüßten nicht kürzer die gesellschaftliche Geschlossenheit der englischen Aristokratie in ihrem schroffen Gegensatz zu den kontinentalen Gewohnheiten in diesem Punkte darzustellen als in dieser hübschen Erzählung geschieht, wie ein Franzose nach London kommen muß, damit der große irische Reformer, der damals
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mit seinem Ruhm den Kontinent erfüllte, einmal durch die hohe englische Gesellschaft hindurchgehe. „Am intimsten war ich mit M. Hallam verbunden. Von Anbeginn unserer Bekanntschaft und immer wachsend fesselten mich auf gleiche Weise sein Charakter und sein Geist. Vor 1813 regten seine schönen historischen Arbeiten, besonders seine ,Verfassungsgeschichte Englands', wohlwollende Beziehungen zwischen uns an. Nach 1830 sah ich ihn in Paris. Ich habe nie jemanden gekannt, der aufrichtiger und gründlicher liberal und doch zugleich freier von allem nationalen Vorurteil und allem Parteigeist gewesen wäre, nie jemanden, der ausschließlicher darum bemüht gewesen wäre, die Wahrheit zu suchen und allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ohne jede Sorge darum, ob er Gefallen oder Anstoß bei seinen Gegnern oder seinen Freunden erregte. Die natürliche Geradheit seines Urteils, sein ungeheures und genaues Wissen, die edle Erhabenheit seiner Seele und seine völlige Freiheit von persönlichem Interesse gaben ihm einen unerschütterlichen Gleichmut und eine völlige Freiheit von Fanatismus, selbst in der ihn am tiefsten bewegenden Sache der religiösen und politischen Freiheit. Als ich nun 1840 nach London kam, empfing er mich mit freundschaftlicher Herzlichkeit; er liebte die Gesellschaft, die Unterhaltung, die vertrauliche Erörterung von Erinnerungen und Ideen, und oft vereinte er an seinem Tisch die bedeutendsten Landsleute, die durch Beruf oder Neigung sich mit den Wissenschaften beschäftigt hatten, Mr. Macaulay, Lord Landsdowne, Lord Mahon, Sir Francis Palgrave, Mr. Milman, die alle entzückt waren, sich zusammen und an seinem Tische zu finden. Ich habe sagen hören, daß er in der ersten Hälfte seines Lebens etwas herb und herrisch gewesen sei. Aber er hatte großes häusliches Unglück durchgemacht; er hatte seine Frau und mehrere seiner Kinder verloren, unter anderen seinen älteren Sohn Arthur, einen jungen Mann von seltenem Geist, zu dessen Andenken sein Freund, der Dichter Tennyson, eine seiner schönsten moralischen Poesien gedichtet hat, das ,In Memoriam'. Anstatt daß dies Unglück Hallam finster und bitter gemacht hätte, machte es mit dem Alter zusammen ihn nur milder. Er schien das Leben wie ein Mann zu genießen, der es noch schön findet und andern verschönern möchte, aber seine tiefen Schmerzen kennengelernt hat und im Grunde seiner Seele und für sich selbst ohne Leidenschaft mehr ist. Noch 1853 lähmte ihn ein Schlaganfall, und als ich ihn 1858 auf dem Lande in Penshurst bei London, wo er bei seiner Tochter lebte, besuchte, fand ich ihn in einem Sessel zusammengebeugt, neben sich einen Tisch, der immer noch von Büchern bedeckt war, einige geöffnet, die ,Times' des Tages in der Hand, die er zur Erde fallen ließ, als ich eintrat; er konnte kaum gehen, sprach nur stockend und heftete langsame und traurige Blicke auf mich, aus denen eine Erinnerung seiner Neigung und die Freude, die er empfand, aber nicht mehr aussprechen konnte, mich wiederzusehen, sprachen. Ich verkürzte meinen Besuch, der ihn eben so sehr angriff als er mich schmerzlich bewegte. Einige Monate darauf starb er. Ein seltener Mensch, dem nichts fehlte, als mehr Glänzendes in seinem Talent und ein leidenschaftlicher Durst nach Erfolg, um über das große Publikum so viel Macht zu erlangen, als er Achtung und Freundschaft von Seiten derer besaß, die ihn genau gekannt haben" [V, 148—150].
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Nicht wenige Züge dieser Charakteristik sind bereits in bestimmter Beziehung auf die interessanteste des Buches, welche dicht auf sie folgt, gesagt — die Macaulays.
Von Macaulay, der bedeutendsten der damaligen whigistischen Kapazitäten, entwirft sein Rivale in der Geschichtsschreibung folgendes interessante Bild. „Mit Lord Macaulay, damals M. Macaulay, habe ich nicht auf demselben vertrauten Fuße gelebt als mit M. Hallam. Und selbst nachdem ich ihn oft gesehen hatte, kannte ich ihn doch weniger als Menschen denn als Schriftsteller. Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, bewunderte ich seine gelehrte und glänzende Art, Tatsachen zu sammeln, zu gruppieren, zu beleben, die Erzählung in ein Drama zu verwandeln und mitten zwischen den Szenen und Personen des Dramas Beobachtungen und Urteile des Zuschauers einzuflechten; er war außerordentlich in der Kunst, über die Vergangenheit einen Strom von Licht und Farbe zu verbreiten, indem er sie beständig den Ideen und Sitten der gegenwärtigen Zeit gegenüberstellte. Als ich nun seine persönliche Bekanntschaft machte, genoß ich das Vergnügen ihn zu bewundern noch lebhafter; die Harmonie zwischen dem Menschen und dem Künstler, zwischen dem Unterhalter und dem Schriftsteller war vollkommen; nichts glich sich mehr als die Schriften Macaulays und seine Unterhaltung; derselbe Reichtum und dieselbe Schlagfertigkeit seines Gedächtnisses, dasselbe leichte Vorwärtsdrängen des Gedankens, dieselbe Lebendigkeit der Einbildungskraft, dieselbe Klarheit der Sprache, derselbe zugleich natürliche und überraschende Gang in den Reflexionen. Ihm zuzuhören gewährte denselben Genuß und fast dieselbe Belehrung als ihn zu lesen. Und als er später nach so vielen interessanten und anmutigen Essays sein großes Werk veröffentlichte, entfalteten sich in diesem dieselben Eigenschaften mit noch größerer Fülle und Wirkung. Ich kenne keine Geschichte, in der die Vergangenheit und der Historiker, der sie erzählt, auf vertrauterem Fuße miteinander ständen; Lord Macaulay malt Tatsachen und Menschen des siebzehnten Jahrhunderts mit so viel Einzelzügen und mit so lebhaften Farben als wären sie Zeitgenossen. Es ist das eine im höchsten Grade anziehende und mitfortreißende Methode, aber sie enthält doch eine Gefahr, der Macaulay nicht stets entgangen ist. Ich bedauere oft, indem ich ihn lese, dem politischen Parteigeist in seiner Geschichte zu begegnen. Nicht als dächte ich übel von den Parteien; sie sind die notwendigen Elemente einer freien Regierungsform. Ich habe mich lange Jahre in dieser Arena bewegt, und ich weiß sehr wohl, wie unerläßlich es sowohl für eine wirksame Regierung als für eine wirksame Opposition ist, von einer festen, disziplinierten, zuverlässigen Partei umgeben zu sein. In den Whigs und Tories liegt seit zwei Jahrhunderten in England die Stärke der öffentlichen Macht und der Freiheit. Aber Parteien und Parteigeist sind nur in der gegenwärtigen Politik am Platze; begibt man sich in die Vergangenheit zurück, schließt man die Gräber wieder auf: dann ist man den Toten, die man aus ihnen hervorruft, vollkommene und gewissenhafte Gerechtigkeit schuldig; indem man sie auf die Szene des Lebens zurückführt, muß man die Ideen und Gefühle, die sie damals bewegten, ans Licht setzen; man muß, an ihrer Statt, ihre Interessen und Rechte verteidigen und mit ihrer Asche nicht die brennenden Kohlen unseres eigenen Herdes mischen.
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Lord Macaulay hat dies Gesetz der Wahrheit und der historischen Gerechtigkeit nicht immer befolgt; zuweilen hat er in die Erzählung und besonders in die Beurteilung von Handlungen und Menschen die Leidenschaften und Vorurteile der in alte und neue Kämpfe verwickelten Whigs hineingetragen. Und ich habe Veranlassung zu glauben, daß er selbst dies bemerkt hat. Indem er nämlich in seiner Arbeit fortschritt, hat er sich stets besser von seinen ersten Eindrücken frei gemacht; die Gerechtigkeit des Historikers hat das Übergewicht über die Gewohnheit des Politikers erlangt; er war weit unparteiischer in seiner Geschichte Wilhelms als in der Jakobs II. und besonders als in der Übersicht der Regierungszeiten Karls I. und Karls II. Er beurteilt die Whigs von 1772 strenger als die Republikaner von 1648; und wenn ich recht unterrichtet bin, so hat ihm seine neue Unparteilichkeit von Seiten einiger leidenschaftlicher Whigs ziemlich lebhafte Vorwürfe eingetragen. Ich hatte 1840, in den Mußestunden meiner gesandtschaftlichen Stellung, einen schlagenden Beweis der Ausdehnung und der anziehenden Lebendigkeit seines Wissens: er bot sich mir zum Cicerone an für einen Besuch in der Westminsterabtei und ihrer berühmten Kirche, welche von Toten, die durch alle Teile des Gebäudes zerstreut liegen, bevölkert ist, Königen und Königinnen, Soldaten, Staatsmännern, Magistraten, Rednern, Schriftstellern, einfachen Privatleuten — die einen berühmt, dort begraben nach öffentlicher Bewunderung und Anerkennung, die anderen unbekannt, aus persönlicher Zuneigung oder audi Familieneitelkeit. Elisabeth und Maria Stuart, Buckingham und Monk, Lord Chatham und Lord Mansfield, Pitt und Fox, Shakespeare, Milton, Newton, Gray, Addison, Watts, die verschiedensten Schicksale und Naturen Seite an Seite, wie Friede des Himmels nach dem H a ß und der Eifersucht der Erde. Ich nahm nicht, wie sich viele den Anschein geben wollten, an der großen Zahl unbekannter Namen Anstoß; was kümmert das die berühmten Toten? Sie treten darum nicht weniger hervor, noch sind sie weniger einsam. Es gibt da kein Gedränge; die Gräber beengen oder verdunkeln sich nicht gegenseitig; man bleibt nur vor denen stehen, die einen wahrhaft Unsterblichen einschließen. Häßlich und barbarisch finde ich nur die Wachsfiguren in den Schränken, die Königin Elisabeth, die Königin Anna, Wilhelm und Marie, Nelson, Chatham, wie sie dastehen, die Augen geöffnet, in ihrer eigenen Kleidung. Diesen Anspruch auf Realität, diese Verbindung von augenscheinlichem Leben und Tod sind von der widrigsten Wirkung inmitten dieser Gräber, dieser Statuen, dieser reinen Symbole, welche den Tod verkünden und zugleich das Gedächtnis bewahren, welche den Namen der Ehrfurcht der Nachwelt übergeben, ohne doch die Person der Neugier ihrer Blicke auszusetzen. Drei oder vier Stunden lang wandelte ich mit Macaulay in dieser Galerie von Monumenten der englischen Nation und ihrer Familien umher; bei jedem Schritt stand ich still oder er hielt mich an; und indem er bald meine Fragen beantwortete, bald ihnen zuvorkam, erklärte er mir hier ein allegorisches Denkmal, dort rief er mir eine vergessene Tatsache zurück oder er erzählte mir eine wenig bekannte Anekdote, rezitierte mir irgendeine schöne Stelle der Schriftsteller oder Redner, deren Namen wir begegneten. Wir verweilten vor dem Monument des Lord Chatham, wie er aufrecht steht, den Kopf erhoben, die Arme ausstreckend wie in rednerischer Bewegung; vor ihm, zu seinen Füßen, auf einem einfachen Stein,
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war der N a m e seines Sohnes William Pitt eingegraben, der dort untergebracht war, bis das Monument, das für ihn bestimmt war, aufgerichtet wäre. Sollte man nicht sagen, meinte Macaulay, daß der Vater sich erhebt und nun hier, vor diesem Publikum die Leichenrede seines Sohnes hält?' Und bei diesem Anlaß kamen nun einige der schönsten Reden von Chatham und Pitt ihm ins Gedächtnis zurück, und er wiederholte mir einige Bruchstücke derselben. Die Monumente der großen Schriftsteller, Prosaiker wie Poeten, riefen in ihm dieselbe Fülle, dasselbe Feuer der Erinnerung auf; besondere Lieblinge von ihm waren Milton und Addison, und er hielt mich einige Minuten vor ihren Namen an, indem er fast mit demselben Vergnügen einige Züge ihres Lebens mir zurückrief oder einige Stellen ihrer Werke mir zitierte, mit dem ich ihm zuhörte. Ein Basrelief, das einen Vorfall aus dem großen Krieg zwischen England und den für ihre Unabhängigkeit kämpfenden amerikanischen Kolonien behandelte, fand sich auf unsermWeg: ,Betrachten Sie diese Figur, welcher der Kopf fehlt', sagte mir Macaulay, ,es ist Washington; ein heftiger englischer Patriot, der noch gegen das H a u p t der Rebellen erbittert ist, hatte sich hier offenbar eines Abends verborgen und verschaffte sich die Genugtuung, ihm den Kopf abzuschlagen; man stellte ihn wieder her; einige Zeit darauf fand man ihn abermals abgeschlagen; man hat darauf verzichtet, ihn abermals zu erneuern. Das ist die Art, wie die Patrioten eines Landes die eines rivalisierenden verstehen und behandeln.' Dieser ganze Besuch war für midi voll von Interesse und Reiz; wie die großen Toten Italiens auf der Wanderung Dantes, so stiegen vor mir die berühmtesten Persönlichkeiten der Geschichte und Literatur Englands aus ihrem Grabe, auf den Ruf eines Repräsentanten, der ihrer würdig war." Nun ruht auch Macaulay dort in der Westminsterabtei unter so vielen Männern, denen sein darstellendes Wort eine bessere und dauerhaftere Unsterblichkeit gegeben hat als jene Gräber und ihre Momente zu gewähren vermögen. H a t er selbst doch in einem feinen unvergleichlich schönen Bilde in diesem Sinne geredet. Wenn einst das stolze Inselreich untergehen sollte, wenn vielleicht ein einsamer nackter Fischer dort am Themseufer seine Netze ausbessert, wo jetzt das Leben einer halben Welt pulsiert: dann werden doch die Dichter und Geschichtsschreiber und Redner Englands jenseits des Meeres oder wo es auch sei, eine Heimat finden; das Wort allein ist unzerstörbar.
Β. Dilthey zuzuschreibende Abhandlungen Zur Biographie des Freiherrn vom Stein Wilhelm Baur, Das Leben des Freiherrn vom Stein. Nach Pertz erzählt.
Gotha
1860. Die Erkenntnis des äußeren und inneren Zusammenhanges von Begebenheiten und der Ideen, die eine Periode beherrschen und ihr einen bestimmten Stempel aufdrücken, ist der nächste Zweck des Geschichtsstudiums. Aber audi ethisch soll die Geschichte wirken, indem sie Begeisterung für die Ideen erweckt, die das Individuum aus seiner Vereinzelung zu tätigen Gliedern größerer Organisationen erheben und ungeordnete Massen zu Nationen bilden und in Staaten vereinigen. Zum Gemüte des Menschen aber spricht am eindringlichsten der Mensch. Also audi die großen Ideen, die in der Geschichte sich offenbaren, werden ihre unmittelbar sittlich läuternde und erhebende Kraft besonders dann bewähren, wenn wir sie in großen Persönlichkeiten erschauen, in denen sie ihre Träger gefunden haben. Aus den Taten einzelner großer Männer schöpft das Kind die reine und frisdie Begeisterung, die der geweihte Boden für die Erkenntnis des Mannes ist; und auch den Mann treibt das Verlangen nach geistiger Erfrischung, sich von Zeit zu Zeit in die Betrachtung bedeutender Charaktere zu vertiefen, die mit großen inneren Mitteln für einen hohen Zweck gekämpft und gelitten haben. Dies geistige Bedürfnis weist der historischen Biographie ihre eigentümliche und selbständige Bedeutung an. Zu diesen Betrachtungen veranlaßt uns das „Leben des Freiherrn vom Stein" (nadi Pertz bearbeitet von Baur, evangelischem Pfarrer zu Ebbinghausen). Warm begeistert für seinen Helden, gibt der Verfasser uns ein sehr anziehendes und lebendiges Bild von dem Charakter und der Tätigkeit des großen Staatsmannes, in dem mehr als in irgendeinem anderen die Bestrebungen lebendig und tatkräftig wirkend geworden sind, denen unser Vaterland die Rettung aus schwerem Falle verdankt. Wir haben einen Mann von geschichtlicher Bedeutung von zwei Gesichtspunkten aus zu betraditen. Das erste, wonach wir fragen, ist seine Stellung zu den Bestrebungen und Interessen, deren Konflikt seiner Periode ihren eigentümlichen Charakter aufgedrückt hat. Unser Urteil über den geschichtlichen Charakter eines Mannes muß ein verwerfendes sein, wenn wir ihn als Vertreter einer Partei finden, deren Ziele uns als verwerflich und unsittlich erscheinen. Eine Parteilosigkeit, die bei der Beurteilung eines Mannes von der Sadie, die derselbe vertritt, ganz und gar abzusehen imstande ist, ist nicht weit entfernt von Gesinnungslosigkeit. Das dramatische
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Interesse von Charakteren und Begebenheiten darf nie maßgebend sein für das sittliche Urteil. Allerdings aber kann das Urteil über die Person nicht ausschließlich von dem Urteil über die Sache abhängig sein; es kommt uns darauf an, mit welchen Gesinnungen, mit welcher Kraft das Individuum seine Sache vertreten hat; ja mit Freuden werden wir den edlen Sinn, den ein großer Mann im öffentlichen Leben bewahrt hat, am häuslichen Herde wiederfinden. Nicht also die Sache allein, der ein Mann dient, hebt ihn zum Range einer geschichtlichen Persönlichkeit, sondern vor allem die Kraft, die Hingebung, die Gesinnung, mit der er sein Ziel verfolgt hat. In beiden Beziehungen erscheint uns Stein als Held, und zwar als ein nationaler, echt deutscher Held. Ihm und seinen Mitkämpfern war die große Aufgabe geworden, nicht nur äußerlich Zerfallenes neu zu begründen, sondern auch sittlich Verkommenem einen neuen Geist einzuhauchen. Ein Deutschland gab es nicht mehr. Nicht ein gewaltiger Stoß hatte das alte Reich gebrochen; was schlimmer war, in langem Siechtum war es hingeschwunden, so schmachvoll, daß fast nur noch die Lächerlichkeiten, die an dem Reichswesen hafteten, sich gleichsam sprichwörtlich dem Gedächtnis der Nachkommen eingeprägt haben. Wer für Deutschland hoffte, war gewohnt, auf Preußen zu blicken, in dem sidi ein neuer Kristallisationspunkt gebildet hatte, da Österreich die ihm gebührende deutsche Aufgabe seinen dynastischen Interessen opferte, und auch im Inneren keine der Forderungen erfüllte, die schon das 18. Jahrhundert an den Staat stellte. Es war der Stagnation verfallen. Dagegen waren in Preußen durch eine kräftige, weise und ausschließlich auf das Gemeinwohl gerichtete Verwaltung, durch Unterdrückung aller partikularen Hoheitsrechte, soweit dieselben der freien Bewegung der höchsten Souveränität im Wege standen, die unzerstörbaren Grundlagen des modernen Staates aufgebaut worden; durch die Taten des großen Königs war das Selbstgefühl des Volkes mächtig gehoben worden, so daß sich in einer Zeit, wo Deutschland ein Spott war, ein preußischer Patriotismus bilden konnte. Ebenso schnell waren aber unter einer minder straffen und energischen Regierung die gespannten Kräfte erschlafft; es wurde offenbar, daß das System, welches den Staat gegründet hatte, einer Ergänzung bedurfte, um die neue Gründung in ihrer Kraft zu erhalten. Schon aber war die Katastrophe über Europa hereingebrochen, die endlich durch einen kräftigen Stoß auch den stolzen Bau des preußischen Staates aus seinen Fugen hob; das letzte Bollwerk des deutschen Namens schien rettungslos gebrochen zu sein. Aber der Tag des Falles war zugleich der Tag der beginnenden Erhebung. Gerade da, als alles verloren schien, hob sich der gesunkene Mut, stärkte sich das wankende Vertrauen. Unter den großen Vorkämpfern, die damals den Thron der Hohenzollern umgaben, nahm aber ohne Frage Stein die erste Stelle ein, obschon sein Name am wenigsten in die Volkstradition übergegangen ist. Steins unvergängliches Verdienst war, mit sicherem Blick sofort die Mittel zu erfassen, die allein zum Ziele führen konnten. Er erkannte es klar wie kein anderer, daß dem von einem gewaltigen, unbeschränkten Willen geleiteten revolutionären Geiste nur der Geist eines auf wahre Freiheit und Selbstbestimmung gegründeten Patriotismus gewachsen sein könne. War die
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konzentrierte Staatsform, die von einer beispiellos glorreichen Geschichte geschaffen worden war, fähig, die freie Selbsttätigkeit der Staatsangehörigen in sich aufzunehmen, durch sie neu belebt zu werden, vermochte die Monarchie Friedrichs des Großen neben dem Gehorsam auf die Begeisterung, den tatkräftigen Freiheitssinn des Volkes sich zu stützen? Stein hat den Versuch gewagt, und die Jahre von 1813 bis 1815 sind die Antwort auf die Frage, die er an das preußische Volk gerichtet hat. Es galt vor allem, den Bürger der individuellen Vereinzelung zu entreißen, in der er sich behaglich gefühlt hatte. D a ß von einem solchen Versuche überhaupt die Rede sein konnte, das war das Verdienst der strengen Zucht, in die der Staat seit länger als hundert Jahren seine Untertanen genommen hatte. Das Unglück des Königs, der Fall des Staates hatte doch die Gemüter unserer Väter bis in ihren Kern erschüttert. Man fühlte es, es gab doch noch andere geistige Interessen, als die der Literatur und Bildung, der jetzt nicht ganz gerecht oft ihr damaliger kosmopolitischer Charakter, ihre Gleichgültigkeit gegen die vaterländischen Interessen vorgeworfen wird. Für das römische Reich konnte unsere Literatur sich doch nicht wohl begeistern. Kosmopolitisch aber w a r sie so wenig, daß sie einst der N a t i o n einen tiefen geistigen Gehalt gegeben hat, der ihr zugleich ein fester H a l t war in den Zeiten des Verfalles, eine Bürgschaft f ü r die Unzerstörbarkeit deutschen Geistes, deutschen Gemütes und deutschen Fleißes. U n d so sehen wir denn auch, daß, sobald die Leichtfertigkeit, die stolz die Begleiterin einer von Leben und Gewissen des Volkes abgelösten Bildung ist, sich im Unglück zu sittlichem und religiösem Ernste vertieft hatte, gerade aus dem Kreise der Hochgebildeten dem Vaterlande eine Fülle von Begeisterung zuströmte. Schwerer w a r es, den von der Bildung nicht berührten Kreisen des Volkes ein tätiges Interesse f ü r den Staat einzuflößen. N i e ist eine größere Aufgabe in größerem Sinne und mit größerem Erfolg gelöst worden. Es würde zu weit führen, wenn wir hier auch nur im allgemeinen auf die große gesetzgeberische Tätigkeit nach dem Tilsiter Frieden eingehen wollten. In welchem Sinne Stein jene großen Maßregeln auffaßte, d a f ü r haben wir sein eigenes Zeugnis. Er selbst spricht es aus, daß die Teilnahme der N a t i o n an den öffentlichen Angelegenheiten die wohltätigsten Äußerungen des Patriotismus hervorrufen müsse, daß ein Verweigern aller Mitwirkung die unteren Klassen durch die ausschließliche Richtung auf Gewinn verunedle, die oberen durch Genußsucht und Müßiggang verderbe, und (was eine Stein charakterisierende Äußerung ist) den spekulativen Wissenschaften einen usurpierten Wert gebe. So hat sich unter Gefahr und Drude unser Volk zu dem höchsten Aufschwung vorbereitet, den die Geschichte kennt. Natürlich ist es, daß mit dem begeisterten Patriotismus der H a ß gegen den Unterdrücker H a n d in H a n d ging. Wir sagen aber nicht zu viel, wenn wir behaupten, daß auch in diesem Hasse Stein der mächtigste Führer w a r ; er haßte den Feind des Vaterlandes mit einer Glut, der wir nur Hannibals Römerhaß an die Seite stellen können, nur daß der H a ß des deutschen Mannes stets den Stempel eines tiefen sittlichen Zornes trägt. Auch Stein ist, wie der große Held des um seine Existenz kämpfenden semitischen Stammes, von seinen
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Todfeinden geächtet, aus dem Vaterlande flüchtig von Land zu Land gezogen, um Völker und Fürsten gegen den Feind aller zu stacheln. Ihm und Blüchers zufahrendem Mute verdanken wir es vor allem, daß nicht der geschlagene Feind noch über die Uneinigkeit und Unentschlossenheit der Verbündeten triumphierte. Dieser H a ß gegen Frankreich und französisches Wesen, der eng mit seinem tiefen Gefühl für Sittlichkeit und Recht verbunden ist, überlebte den Fall des Gegners und machte, besonders in späteren Zeiten, sein Urteil über manche Personen und Zustände befangen, was der Biograph vielleicht nicht genug hat hervortreten lassen. Oberhaupt war die Gewalt seiner Neigungen und Abneigungen so stark, daß er, der abgesagte Feind aller unklaren und unpraktischen Ideen, nicht selten selbst leidenschaftlichem Handeln und unpraktischen Vorurteilen verfiel. Wir erinnern an sein rücksichtsloses Auftreten in Königsberg und an seine zum Teil doch allen realen Verhältnissen widersprechenden Pläne über die Neugestaltung Deutschlands. Ein solcher Charakter, dessen mächtiges Streben kein Widerstand ermüden, dessen Glut kein Mißlingen dämpfen konnte, der bis zur Vernichtung den Feind mit einer eisernen Konsequenz verfolgte, die weicheren Naturen leicht als schonungslose Härte erscheinen könnte, ein solcher Charakter, möchten auch die Ziele seines Strebens die erhabensten sein, würde den Stempel des Dämonischen tragen, wenn nicht das harte Metall seines Wesens durch einen Zusatz gemildert wäre. Dieser Zusatz aber war vorhanden. Die Gesetze des Rechtes und der Sitte waren die festen Schranken seines mächtigen Willens. Der Mann, dem Menschenfurcht fremd war, wie wenigen, beugte sich demütig und ergeben unter das Gesetz Gottes, ein Zug, der überall hervortritt, sowohl in seinem öffentlichen Wirken, wie auch in seinem schönen und einfach würdigen, von Baur mit eingehender Ausführlichkeit geschilderten Familienleben. Auf dem Boden einer einfachen und aufrichtigen Gottesfurcht war eine Sittlichkeit emporgewachsen, die sein ganzes Wesen durchdrang und Ehrfurcht heischte von jedem, der ihm nahe trat. In seiner Gottesfurcht fand er die Richtschnur seines Handelns, in seinem Gottvertrauen, das er mit besonderer Vorliebe aus den einfachen Liedern Gleims stärkte, fand er Trost in allen Prüfungen. Heftig loderte sein Zorn auf gegen die geistlosen und unverständigen Bestrebungen der Metternichschen Reaktionspolitik, die Gewährung einer reichsständischen Verfassung in Preußen war ihm ebenso ein Gebot der Pflicht, wie der politischen Weisheit; ebenso kräftig aber erhob er sich gegen alle unreifen, gewaltsamen, von den gegebenen Verhältnissen abstrahierenden Versuche, die Regierungen in andere Bahnen zu lenken. Die Schranken des Gesetzes waren ihm heilig. Stein, um noch einmal den Kern seines Wesens ins Auge zu fassen, war der Mann der Tat. Nichts findet sich in ihm von der tiefsinnigen und dabei so lichtklaren Reflexion, wie sie seinem zart organisierten Mitstreiter Wilhelm von Humboldt eigen war. Wie ganz verschieden ist aber auch seine Ergebung im Unglück von der oft schwermütigen, zuweilen antiken Resignation, die uns in Humboldts Briefen oft so tief angreift! Am größten ist Stein, wo sein mächtiger Verstand das ohne Rücksicht ins Werk setzen kann, was seine Feuerseele unmittelbar wie durch Eingebung als das Richtige erfaßt hat. Es ist merkwürdig, wie man, ihn betrachtend,
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immer und immer wieder auf seinen Heldenkampf gegen Napoleon, auf seine Wiedererweckung Preußens, als auf den Mittelpunkt seines Wirkens, zurückgeführt wird. Hier hemmt ihn kein Bedenken; keine diplomatische Berechnung, ihm ebenso verhaßt wie die unlebendige, medianische Schreibmaschine, nötigte ihn innezuhalten, ehe er die Grenzen des Möglichen erreicht hatte. Die Möglichkeiten waren aber für ihn nicht erschöpft, solange es noch einen Fußbreit Boden auf dem Kontinent gab, der nicht von den Legionen des Imperators beherrscht war. Impavidum ferient ruinae! Wußte er doch, daß alle, die seine Bundesgenossen waren, die Freiheit der Knechtschaft vorzogen. Und das haben seine Zeitgenossen anerkannt. Der flüchtige Reichsfreiherr w a r der Mittelpunkt, auf den alle blickten, die, wie er, nicht an dem Vaterlande verzweifelten. Sein treuer Arndt hat uns ja sein Verhältnis zu den Besten der Nation so ergreifend geschildert wie es nur die Feder des liebenswürdigen verehrten Greises vermochte. Zeiten politischer Erschlaffung haben die Erinnerung, unter denen unsere Väter herangewachsen sind, verblassen lassen. Die Lieder Arndts und Schenckendorffs waren halb verklungen, und was wie eine nationale Heldensage in den Gemütern leben und wirken sollte, mußte die Schule dem Gedäditnis der Jugend einprägen. Eine Zeit des reflektierenden Radikalismus brach ein, in der selbst die Freiheitsbestrebungen sich von dem Boden der Nationalität loszulösen drohten. Mächtige Erschütterungen haben die Wogen freiheitlicher Strömungen in das Bett eines geordneten Staatslebens gelenkt. Die große Erkenntnis, daß auch der Privatmann ein politisches Wesen ist, daß auch er für das Wohl des Vaterlandes tätig und verantwortlich sein soll, ist eine der Grundlagen audi unseres Staatslebens geworden. Und wieder blicken wir mit Liebe und Treue zurück auf die Zeiten, in denen unsere Väter für uns gelitten und gekämpft und gesiegt haben. Ihre Taten und Leiden sollen uns Weisheit und Opfermut, sie sollen uns aber auch Dankbarkeit lehren. Sie mahnen uns, mit deutscher Innigkeit das Andenken der Erretter zu pflegen, sie mahnen die Nation, den großen Toten die Ehren zu erweisen, die ihnen gebühren. Hierzu mitzuwirken, ist der Zweck des besprochenen Buches, dessen Ertrag für das Steindenkmal bestimmt ist. Möge denn auch in der Tat das Volk zu dem Zweck mitwirken, daß, wenn das Erzbild des ehernen Mannes sich unter den Helden der Freiheitskriege erhebt, es zugleich ein Zeugnis sei, daß die Nation nicht vergessen hat, was sie dem Erretter schuldig ist.
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Die Memoiren Guizots Franqois Guizot, Memoires pour servir α l'histoire de mon temps. 3. Band, Leipzig 1860. Der eigentümliche Charakter des Guizotschen Memoirenwerkes tritt in dem neusten Teil noch deutlicher zutage als in dessen Vorgängern. Wer den ernsten Sinn und den Geist puritanischer Einfachheit kennt, die sich in den Reden des Staatsmannes und in den Arbeiten des Geschichtsschreibers ausprägen, der dürfte von vornherein aus der Feder Guizots kein mit dem Strome der neueren französischen Memoirenfabrikation schwimmendes Erzeugnis erwarten, und man muß sogar an die weiten Grenzen und die gestaltenreiche Entwicklung dieses Literaturgebiets denken, um sich zu überzeugen, daß der Verfasser nicht aus den Traditionen der Gattung und aus dem Geiste der Nation herausfällt. Dabei wollen wir von den modernsten Abarten des Genres ganz absehen, welche in objektiver Verkehrtheit gleichzeitig gegen historische Genauigkeit, psychologische Wahrheit und künstlerische Idealität sündigen, indem sie den inneren Zusammenhang individuellen Wirkens und weltgeschichtlicher Ereignisse, sei es durch ein Mosaik pikanter Anekdoten, sei es durch ein Gewebe romanhafter Motive zu versinnlichen streben, oder welche gar in subjektiver Aufblähung die Vorgänge des Privatlebens durch einzelne gewagte Anknüpfungen an hervorragende Personen der Tagesgeschichte zu „Denkwürdigkeiten" illustrieren und (wir erinnern hier nur an die sogenannten „Memoiren" von Alexandre Dumas und George Sand) ein schönes Talent im Dienste des Romanfeuilletons für Zwecke der Eitelkeit und der Industrie ausnutzen. Ebensowenig finden sich natürlich Vergleichspunkte mit jenem leicht graziösen Genre, wo der französische Esprit in spielender Konversation doch den Lebensfragen der Gesellschaft nahetritt, und Zustände wie Personen charakteristisch schildert, einem Genre, in welchem weibliche Federn — Margarethe von Valois und Frau von S£vigne — die reizendsten Vorbilder schufen. Fern steht Guizot auch jener etwas gallsüchtigen Manier, welcher abgedankte Hof- und Staatsmänner so leicht verfallen, und deren Verlockungen sich selbst die ausgezeichnetsten Geister kaum entziehen. N u r durch einzelne epigrammatische Pointen bei der Charakteristik hervortretender Persönlichkeiten erinnert er an die satirische Ader Saint Simons, und mit Chateaubriand hat er kaum etwas anderes gemein als das Streben nach tieferem Eingehen in die politischen und sozialen Fragen, welche das moderne Frankreich bewegen; denn sonst ist in den Wegen wie in den Zielen schwerlich irgendeine Begegnung nachweisbar zwischen dem nüchternen, methodischen, konsequenten Geschichtsforscher und Staatsmann der Juli-Monarchie, und dem überschwenglichen, planlosen, abspringenden Dichter und Staatsmann der Restaurationsperiode, der die Begeisterung eines tiefen, poetischen Gemütes vergebens daransetzt, um feudale Reminiszenzen, ultramontane Instinkte und liberale Neigungen zur Versöhnung zu bringen, und keinen anderen Abschluß seines Wirkens und Denkens erzielt als ein Gemisch von frommer Zerknirschung und profaner Verbitterung. Sollen wir irgendeine Ähnlichkeit mit dem Gesamtcharakter
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der Guizotschen Darstellung aufsuchen, so müssen wir auf die in edler Einfachheit schreibenden Memoiren-Verfasser des 16. und 17. Jahrhunderts zurückgehen, unter denen gleichfalls ein protestantischer Staatsmann, Sully, der vertraute Ratgeber Heinrichs IV., uns offenbar mit verwandtschaftlicher Physiognomie entgegenschaut. Guizot hat die Absicht, durch den Rückblick auf seine politische Laufbahn einen Beitrag zur Zeitgeschichte zu liefern und gibt, im Bewußtsein dieser Aufgabe und nach dem Beispiele berühmter Vorgänger, seinem Werke den Titel „Memoires pour servir a l'histoire de mon temps"; aber er unternimmt es nicht, die Geschichte jener Periode zu schreiben, in deren Kämpfen er selbst eine hervorragende Rolle gespielt hat. Er begreift, daß er nicht berufen ist, über eine große politische Bewegung, an welcher er als ein Hauptfaktor teilnahm, das historische Urteil zu formulieren; er ist nur eifrig darauf bedacht, seinerseits das Material für den Spruch des zukünftigen Richters vollständig zusammenzutragen, und dasselbe von seinem Standpunkte aus eingehend zu erörtern. Man kann daher in gewissem Sinne sagen, daß Guizots Buch eine Selbstapologie liefert. Doch darf darin kein Vorwurf gegen den Verfasser liegen, denn im Grunde steuern alle Memoiren, insofern sie eine Selbstschau enthalten, auf das gleiche Ziel hin. Auch Rousseau mit den vielfachen Beweisen einer bis zum Zynismus getriebenen Offenheit in seinen „Bekenntnissen" — möge man darin Naivität oder Raffinement finden — macht von der Regel keine Ausnahme. Man verlange nur nicht, daß der Memoirenschreiber, weil er ein öffentlicher Charakter, dessen Sein und Wirken vielfach angefochten worden, sich mit den Augen seiner Gegner sehe. N u r die Forderung ist berechtigt, daß der Autor in seinen Mitteilungen den Stoff der Geschichte achte, daß er die Tatsachen weder durch berechnete Auslassungen noch durch unrichtige Zusätze verunstalte, daß er die Wahrheit des Gesamtbildes weder durch Verschleierung noch durch ungleiche Beleuchtung fälsche. Guizot hat den Mut gehabt, mit seinen Denkwürdigkeiten aus einer kaum entronnenen Vergangenheit als Lebender vor die Lebenden zu treten und somit jeder Kontroverse über die Genauigkeit seiner Darstellungen den vollsten Spielraum zu sichern. Seinem Buche ist viel Lob und noch mehr Tadel zuteil geworden, denn die Menge seiner Widersacher hat von jeher die Zahl seiner Freunde und Gesinnungsgenossen überwogen; aber gegen die Richtigkeit seiner Angaben ist von keiner Seite Widerspruch erhoben worden, und so darf man wohl behaupten, daß er die Feuerprobe der Wahrhaftigkeit bestanden hat. Es ist eben ein Zug konsequenter Wahrhaftigkeit, daß Guizot sich gar nicht den Anschein eines über den Parteien stehenden Beurteilers gibt, sondern überall offen für die Grundsätze und Handlungen der Partei eintritt, als deren Führer er auf den Gipfel der Macht stieg, und dann mit dem ganzen System der Juli-Regierung einem Revolutionssturm unterlag. Er lehnt nicht einmal die Beziehungen ab, welche die Tagespolemik gegen seine Partei in der Regel als Spitznamen zu verwenden pflegte. „Widerstands-Partei", „juste milieu", „Doktrinäre": er läßt die Namen alle als vollkommen berechtigt gelten; doch bemüht er sich, den Beweis zu führen, daß der Widerstand nur gegen das Andrängen anarchischer Bestrebungen gerichtet war, — daß die „richtige Mitte" nicht indifferente Verneinung und apathischer Stillstand sein, sondern die Bedingungen einer volkstümlichen Entwicklung und 7
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einer kräftigen Regierung gleichzeitig wahren, die nationale Freiheit auf den Grundlagen gesetzlicher Ordnung befestigen sollte, — daß die Doktrin einen praktischen Zweck verfolgte, indem sie die öffentliche Meinung darüber aufzuklären suchte, daß die verfassungsmäßige Regierung des Hauses O r g a n s keine zufällige Tatsache, kein improvisierter Notbehelf sei, sondern der Abschluß einer politischen und sozialen Bewegung, welcher den höchsten Interessen der französischen Nation entspreche. Man kann daher mit Recht Guizot den Systematiker der Juli-Monarchie nennen, aber nicht in dem Sinne, wie Sieyes der Systematiker der großen Revolution hieß. Der berühmte Abbe, welcher das Herrscherrecht des „dritten Standes" proklamierte und über Ludwig X V I . das Todesurteil „sans phrase" sprach, war vor allem ein abstrakter Denker, dessen politische Wandlungen sich aus der dialektischen Unstetigkeit seines Geistes erklären, und der für jedes Regierungssystem, das ihn als Staatsweisen gelten ließ, die nötigen theoretischen Formeln kunstgerecht zusammenstellte. Guizot hat nichts von solcher Vielseitigkeit und solcher Schmiegsamkeit; in seinem Denken wie in seinem Handeln offenbart sich ein konsequenter Charakter. Sein politisches Programm steht fest wie ein Glaubensbekenntnis, und in allen Wechselfällen des Glücks verharrt er bei der Fahne, für die er immer in erster Linie gestritten hat, wenn er sie nicht selbst als Vorkämpfer vorantrug. Mag man daher seine Grundsätze billigen oder bestreiten, mag man das Gesamturteil über seine politische Laufbahn mit Lob oder Tadel abschließen : man darf ihm nicht die Anerkennung versagen, welche überall der überzeugungstreue und Gesinnungsfestigkeit gebührt. Der vorliegende dritte Band umfaßt die Periode von 1832 bis 1836 und schildert die Wirksamkeit eines Ministeriums, welches mehrere Male sein nominelles Haupt wechselte, seinem Wesen nach aber immer das Organ der in den Zentren der Deputiertenkammer vertretenen gemäßigten Parteielemente blieb. Die Aufgabe der neuen Regierung war noch immer eine überaus schwierige, obgleich der Juli-Thron, namentlich durch die kräftige Verwaltung Casimir ΡέπεΓβ seine Grundlagen nach innen wie nach außen bis zu einem gewissen Grade befestigt hatte. Als der einsichtige und entschlossene Staatsmann, der die Umtriebe der extremen Parteien mit fester Hand niedergehalten und dem Einfluß des neu konstituierten Frankreichs auf die Regelung der europäischen Angelegenheiten einen ehrenvollen Anteil gesichert hatte, in der Fülle seiner Kraft plötzlich der Choleraseuche erlegen war, da machte der König Louis Philippe den Versuch, mit dem seines Führers beraubten Kabinett weiterzuregieren und die unmittelbare Leitung der öffentlichen Angelegenheiten wieder mehr in die Hand zu nehmen als ein seiner Fähigkeiten und seiner Pflichten bewußter Premierminister es verstattet hatte. Die Erklärung, welche die Regierung beim Tode Periers durch die ihr ergebenen Journale verbreiten ließ, daß Frankreich einen großen Bürger und ausgezeichneten Staatsmann verliere, daß aber das von ihm ruhmvoll verteidigte System des konstitutionellen Königtums im Innern und des Friedens nach außen unerschüttert fortlebe, wurde auch sofort von der Opposition dahin gedeutet, daß der König sich selbst als die Verpersönlichung dieses Systems hinstelle, und von da ab wurde es Sitte der leidenschaftlichen Polemik, auf das „unverantwortliche System" alle Schmähungen zu häufen, gegen welche die
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Strafgesetze das Staatsoberhaupt schützen sollten. Indessen der Versuch mit dem Ministerrate ohne Präsidenten mißlang. Die legitimistischen Schilderhebungen in den westlichen Departements und die republikanischen Aufstände in Paris nach dem Leichenbegängnisse des Generals Lamarque mußten dem König die Uberzeugung nahelegen, daß die Regierung imponierende Personen an die Spitze ihrer Organe stellen und sich der Mitwirkung der tüchtigsten K r ä f t e versichern müsse. So entstand das Kabinett vom 11. Oktober 1832, in welchem der Marschall Soult den Vorsitz und der Herzog von Broglie das Portefeuille der auswärtigen Angelegenheiten übernahm, während die zum ersten Mal in amtlicher Genossenschaft verbundenen N a m e n Guizot und Thiers die Allianz der gemäßigtkonservativen und liberalen Fraktionen und den Verein der ersten parlamentarischen Fähigkeiten darstellten. Natürlich war ein solches Ministerium keineswegs gleichartig, wie aus einem Gusse. Guizot deutet ausdrücklich darauf hin, daß Thiers, „etwas unruhig über die Gemeinschaft mit den Doktrinären, wenn auch von der Notwendigkeit ihrer Mitwirkung überzeugt", sich in einer abgesonderten Stellung zu erhalten suchte; doch habe dieses Kabinett seine Einheit darin gefunden, daß es bestrebt war, im steten Einvernehmen mit den Kammern f ü r die gute Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten und f ü r die Befestigung der freien Institutionen zu wirken. Bei dieser Gelegenheit macht Guizot einige Bemerkungen über das Wesen der „parlamentarischen Regierung", welche selbstredend auf die heutigen Zustände Frankreichs Bezug haben, wenn er auch erklärt, daß er Vergleichungen und Anspielungen auf die Streitfragen der Gegenwart gern vermeide. „Dem Kabinett vom 11. Oktober 1832", sagt der Verfasser, „schreibt man gewöhnlich den ersten bewußten Versuch dessen zu, was man seitdem parlamentarische Regierung' genannt h a t . . . Einsichtige Männer werden eines Tages lächeln bei der Erinnerung an das Gezänk, welches sich um diese Worte parlamentarische Regierung' dreht und um die anderen, welche man als Gegensatz aufstellte. Man weist die parlamentarische Regierung ab, doch man läßt das Repräsentativsystem zu. Man will nicht das konstitutionelle Königtum, wie wir es von 1814 bis 1848 gesehen haben; aber neben dem Throne behält man eine Verfassung bei. Man unterscheidet und erläutert, um die parlamentarische Regierung und das nationale und liberale Regiment, welches ihr folgen soll, recht gesondert zu halten. Ich lasse das zu und übergebe das parlamentarische Regiment den politischen Anatomen, die es f ü r tot halten und die Sektion machen; aber ich frage, wie sein Nachfolger beschaffen sein wird? Was bedeuten diese Verfassung und diese National-Vertretung, die auf der Schaubühne bleiben? Wird die Nation einen wirksamen Einfluß auf ihre Angelegenheiten ausüben? Wird sie f ü r ihre Rechte, f ü r ihre Ruhe wie f ü r ihre Ehre, f ü r alle moralischen und materiellen Interessen, welche das Leben der Völker ausmachen, wirkliche und kräftige Bürgschaften haben? Man entzieht ihr die parlamentarische Regierung; es sei; aber wird man ihr in anderen Formen eine freie Regierung geben? Oder wird man ihr unumwunden in das Angesicht sagen, d a ß sie eine solche entbehren soll und das alles, was man davon beibehält, nur eitler Schein, unwürdige Lüge und kindische Täuschung ist?" [ I I I , 2 f . ] .
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Geschichte und Wissenschaft Henry Thomas Buckle, Geschichte der Civilisation Arnold Rüge. 2 Bände, Leipzig!Heidelberg 1860/61.
in England. Übersetzt
von
Die Taten der Menschen zu erzählen und erzählen zu hören, ist ein eigentümliches Bedürfnis des menschlichen Geistes, dessen Befriedigung weder durch die Kunst noch durch die Wissenschaft herbeigeführt wird, da beide sich nicht daran genügen lassen, die Tatsachen einfach, wie sie sich zugetragen haben, darzustellen. Die Kunst wirft über die nackte Wirklichkeit einen Schleier, der sie verschönen und verklären soll; die Wissenschaft sucht in dem Wechsel der Erscheinungen ein bleibendes Gesetz. Jener epische Trieb im Menschen aber forscht weder nach dem Schönen noch nach dem Gesetzmäßigen; er fragt nur nach dem, was sich wirklich zugetragen hat, und fühlt sich dadurch häufig um so mehr angeregt, je ungewöhnlicher das Erzählte ist, je weniger es sich also mit dem Scheine des Gestzmäßigen umkleidet. Noch ehe in dem Kinde der Geist der Forschung erwacht, der es bei jedem Ereignisse nach dem Warum und weiter nach dem Warum des Warum fragen läßt, bildet sich in ihm eine andere Art der Wißbegierde aus, die nur durch Erzählung von Geschiditen und durch die Versicherung, daß alle diese Geschichten wahr seien, zu stillen ist. Und wie mit dem einzelnen geht es auch mit ganzen Völkern. Die älteste Poesie ist überall die epische und die älteste Prosa die historische. Bevor in Griechenland eine wissenschaftliche oder philosophische Literatur entstehen konnte, hatte nicht allein Herodot die Erinnerungen der Vorzeit, die Taten und Sitten fremder Nationen, sondern auch Thukydides den Krieg, an dem er selbst, wie seine Leser, tätigen Anteil genommen hatte, dargestellt. Dasselbe Verhältnis findet sich in jeder naturwüchsigen Literatur wieder. J e älter der einzelne Mensch wird, je mehr ein Volk in seiner Bildung vorrückt, desto mächtiger wird das wissenschaftliche Interesse neben dem historischen, desto eifriger werden Mathematik, Naturwissenschaften, Politik, Ökonomie neben der Geschichte angebaut; aber das historische Interesse wird nie ganz unterdrückt, die Geschichte entbehrt nie der pflegenden und fördernden Hand, die den anderen Zweigen des Wissens zugute kommt. Die Geschichten aller Länder und aller Zeiten sind immer wieder von neuem durchforscht, stets neue Quellen und Denkmäler aufgefunden, und aus dem neu gewonnenen Material sind stets neue Bilder der einzelnen Völker und ihrer hervorragenden Helden entworfen und stets mit neuem und verstärktem Interesse gelesen worden. Und dieses Interesse knüpft sich noch jetzt wie in der Kindheit der Nationen zumeist an die hervorragendsten Männer, an die ungewöhnlichsten Begebenheiten. In dem Leben eines Helden erscheint uns jeder Zug von Wichtigkeit; über die Frage, welchen Alpenpaß Hannibal bei seinem Marsche nach Italien überschritten hat, ist wohl mehr geschrieben worden als über das ganze erste Jahrhundert der englischen Geschichte seit der Eroberung durch die Angelsachsen, obwohl sich in keiner Weise wissenschaftliche Folgerungen daran knüpfen lassen. Uber alle diese Bestrebungen, diese Interessen spricht nun Buckle ein Verdammungsurteil aus, sie erscheinen ihm töricht und kindisch, nur einer zurückgebliebenen
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Nation würdig. Er hält es für „einen sonderbaren Gedanken der Historiker, ihr Geschäft sei lediglich, Begebenheiten zu erzählen, und diese allenfalls mit passenden politischen Betrachtungen zu beleben". Er will die Geschichte in eine exakte Wissenschaft verwandeln, gleich der Naturgeschichte; er will in den geschichtlichen Begebenheiten die Gesetzmäßigkeit nachweisen und sich somit in den Stand setzen, dieselben vorherzusagen. Er spricht die Überzeugung aus, daß in dem Reiche der geschichtlichen wie in dem der natürlichen Begebenheiten überall das Gesetz der Notwendigkeit herrscht, das Verhältnis von Ursache und Wirkung; daß jede einzelne Handlung aufgefaßt werden muß als die unausbleibliche Wirkung gewisser Ursachen, welche ihrerseits wiederum die Wirkungen anderer Begebenheiten sind, daß somit der Zufall wie die Vorsehung oder das unmittelbare göttliche Eingreifen aus dem Gebiete der Geschichte völlig auszuschließen sind. Auf diesem Grundgedanken ruht das ganze Werk; nur durch die Bezugnahme auf ihn erhalten die einzelnen, zum Teil ziemlich bunt zusammengefügten Teile desselben Zusammenhang und Wert. Von der Stellung, die der Leser zu diesem Grundgedanken einnimmt, wird dessen Urteil über das Werk abhängen. Das unsrige sprechen wir kurz dahin aus, daß wir diesen Grundgedanken in abstracto zwar für richtig halten, daß sich derselbe aber für die Geschichtsschreibung bei der Eigentümlichkeit ihres Stoffes nur in geringem Maße fruchtbar machen läßt, und daß Buckle bei dem Versuche, umfassende Folgerungen daraus herzuleiten, völlig fehlgegangen ist. In dem Gebiete der Natur wie in dem des Geistes geschieht alles nach feststehenden Gesetzen; damit ist auf der einen Seite ein unmittelbares Eingreifen der göttlichen Allmacht ausgeschlossen. In früheren Zeitaltern betrachtete man fruchtbare Jahre als Zeichen der göttlichen Gnade, Seuchen und Landplagen als Zeichen des göttlichen Zornes, Kometen und ähnliche ungewöhnliche Erscheinungen als göttliche Warnungen und Drohungen; heute weiß man, daß alle diese Erscheinungen nach unabänderlichen Gesetzen vor sich gehen. Früher betrachtete man Siege als Zeichen der göttlichen Gnade und Niederlagen als Zeichen des göttlichen Zornes; einem persönlichen Eingreifen der göttlichen Weisheit schrieb man die gelungene Flucht durch das Rote Meer und die Erlösung aus der babylonischen Gefangenschaft zu; die Schicksale der Völker leitete man davon ab, daß Jehovah Israel gesegnet und Ismael verflucht habe. Heute wendet man den Ausspruch des Marquis Posa: Den Künstler wird man nicht gewahr, bescheiden Verhüllt er sich in ewige Gesetze; Die sieht der Freigeist, doch nicht ihn. Wozu Ein Gott? sagt er; die Welt ist sich genug. Und keines Christen Andacht hat ihn mehr Als dieses Freigeists Lästerung gepriesen. auch auf die Gesetze an, die die Geschichte beherrschen. Die Beeinträchtigung des wissenschaftlichen Strebens durch die Theologie wird durch diese Auffassung völlig ausgeschlossen.
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In dem Gebiete der Natur wie in dem des Geistes geschieht alles nach feststehenden Gesetzen, dadurch wird auf der andern Seite der Zufall ausgeschlossen. Dem alttestamentlichen Ausspruche zum Trotze wissen wir, woher der Wind kommt und wohin er geht. Wir kennen die Gesetze des Regens und des Windes, und wo irgendein Regentropfen zur Erde fällt, wissen wir, daß dies die Folge des Eintretens einer wärmeren Luftschicht in eine kältere ist, daß die Bewegung jener Luftschichten wiederum die Folge anderer Zustände war und daß es somit durch eine unendliche Reihe von Ursachen seit Ewigkeit feststand, wo und wann jener Tropfen zur Erde fallen mußte. So ist auch innerhalb des Gebietes menschlicher Handlungen jedes einzelne Ereignis die Wirkung einer unendlichen Reihe von Wirkungen. Die Beeinträchtigung des wissenschaftlichen Strebens durch einen rohen Empirismus und Atomismus wird durch diese Auffassung ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger sind wir berechtigt, relativ von einem Zufall zu reden, sowohl in der Naturwissenschaft wie in der Geschichte. Wenn wir an einem schönen Tage unerwartet von einem Regenschauer überrascht werden, so nennen wir das einen bösen Zufall, obwohl wir wissen, daß für eine umfassendere Kenntnis die Notwendigkeit dieses Regenschauers seit Jahrtausenden feststand. Wir nennen es einen Zufall, weil wir es nicht in Verbindung bringen können mit einer uns bekannten, für uns erheblichen Ursache, weil wir das Zusammentreffen zweier Strömungen in einer oberen Luftschicht nicht hatten beobachten können. In derselben Weise werden wir den Tod Alexanders des Großen und Friedrich Barbarossas einen Zufall nennen müssen, weil wir niemals werden ermitteln können, welche Motive beide Männer hatten, gerade zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, wo eine ihnen unbekannte Gefahr drohte, zu baden. Das Gebiet des Zufalls in diesem Sinne ist nun aber auf geschichtlichem Gebiet ein weit größeres und wichtigeres als auf dem der Naturwissenschaften. Auf letzterem sind wir auf die Dauer nur gehindert, einzelne gleichgültige Vorgänge, Anwendungen eines uns bereits bekannten Gesetzes bis auf ihre letzten Quellen zu verfolgen; auf dem Gebiete der Geschichte ist es uns geradezu unmöglich, die wichtigsten Vorgänge, die sich nie wiederholt haben und auf denen unser gegenwärtiger Zustand beruht, zum Beispiel das erste Zusammentreten zu staatlichen Verbänden, in seinen Einzelheiten zu ermitteln, weil wir sie nie beobachten können. Nicht minder sind der Beobachtung die Vorgänge entzogen, die im Innern des menschlichen Geistes vorgehen, die Gedanken, Absichten und Entschließungen des Menschen, die mit zu den Ursachen derjenigen Begebenheiten gehören, die demnächst als menschliche Handlungen in den Kreis der Wahrnehmungen fallen. Das Verhältnis der menschlichen Handlungen zu den dieselben vorbereitenden Gedanken beschäftigt denn auch den Verfasser gleich in dem ersten Kapitel seines Werkes. Es taucht hier das bei jeder philosophischen Untersuchung unvermeidliche Problem der Willensfreiheit auf. Er stellt zwei Ansichten einander gegenüber, die metaphysische Lehre von der absoluten Freiheit des Willens und die theologische Lehre von der Vorherbestimmung. Beide Ansichten verwirft er als unerweislich und verlangt von seinen Lesern nur das Zugeständnis, „daß, wenn wir eine Handlung vollbringen, dies aus einem Beweggrunde oder aus Beweg-
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gründen geschieht", und daß alle diese Beweggründe innere oder äußere Vorgänge sein müssen. Dieses Zugeständnis wird ohne weiteres zu machen sein; die eifrigsten Verfechter der Willensfreiheit werden immer zugeben, daß der Mensch nur zwischen mehreren an ihn herantretenden Motiven, mehreren Begierden etwa oder einer Begierde und der lebhaften Vorstellung der Pflicht wählen kann, daß aber der freie Wille nie zu einer völlig unmotivierten Handlung führen kann. Ebenso werden die Anhänger der Prädestinationslehre zugeben, daß Gott einen jeden zu dem ihm gesiedeten Ziele dadurch führt, daß er gewisse Ereignisse als maßgebende Motive an ihn herantreten läßt. Mit dieser Wahrheit, daß jeder Mensch nach Motiven handelt, ist aber noch wenig gewonnen. Mehrere Menschen, in augenblicklich völlig gleicher Lage, handeln dennoch verschieden, und wie Buckle selbst zugibt, ist es unmöglich, eine erschöpfende Kenntnis davon zu gewinnen, in welcher Weise bestimmend dieser oder jener Vorgang auf verschiedene Menschen einwirken muß. Das Leben keines einzigen Menschen, sei er noch so hervorragend, sei auf die Erforschung desselben der äußerste Fleiß verwandt worden, kann so genau dargestellt werden, daß die einzelnen Vorgänge desselben zueinander in das Verhältnis von Ursache und Wirkung treten, daß man darlegen könnte, wie aus einem erhaltenen Eindrucke eine Handlung und aus dieser wieder ein Eindruck hervorgerufen wird. Um unter diesen Umständen die wissenschaftliche Strenge der Geschichte dennoch zu retten, entschließt sich Buckle zu der verzweifeltsten Hypothese, die je ein Gelehrter aufgestellt, trägt er die paradoxeste Behauptung vor, die man je von einem Historiker gehört. Er schließt die Handlungen der einzelnen, der Gewaltigen dieser Erde von der Betrachtung aus, und macht die Zustände der Gesellschaft, die sich in den Handlungen der Massen äußern, zum einzigen Gegenstand der Geschichtsforschung. „Bei weitem die meisten Historiker füllen ihre Werke mit den unbedeutendsten und erbärmlichsten Einzelheiten, mit persönlichen Anekdoten von Königen und Höfen, mit endlosen Nachrichten darüber, was ein Minister gesagt und ein anderer gedacht hat, und, das Schlimmste von allem, mit langen Berichten von Feldzügen, Schlachten und Belagerungen, die sehr interessant sind für die, welche dabei waren, aber völlig unnütz für uns, denn sie geben uns weder neue Wahrheiten noch die Mittel an die Hand, wodurch wir neue Wahrheiten entdecken könnten." Blicken wir hingegen nicht auf die Handlungen der einzelnen, sondern auf die Handlungen einer großen Menschenmenge, etwa eines ganzen Volkes, und zwar auf die durch einen beträchtlichen Zeitraum begangenen Handlungen, so finden wir überall neue Wahrheiten. Die Zufälligkeiten, die uns hinderten, die individuellen Gefühle und Launen zu untersuchen, sind hier absorbiert und neutralisiert, und wir stoßen auf regelmäßig wiederkehrende Erscheinungen, auf Gesetze. Solche Gesetze, die bisher schon festgestellt sind, zum Beispiel folgende: die Anzahl der begangenen Verbrechen steht in einem konstanten Verhältnisse zu der Zahl der Bewohner des Landes, in welchem sie begangen werden; beispielsweise werden in Frankreich ebenso viele Menschen wegen Verbrechen angeklagt, als in demselben Zeiträume männliche Personen in Paris sterben. Eine ähnliche Regelmäßigkeit findet sich bei den einzelnen Orten der Verbrechen; ferner beim Selbstmorde. Die Zahl der jährlich in London begangenen
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Selbstmorde beläuft sich durchschnittlich auf 240 und weicht nur unbedeutend von dieser Durchschnittszahl ab. Ein weiteres Gesetz ist, daß die Anzahl der jährlich geschlossenen Ehen in einem gewissen konstanten Verhältnis zu den Kornpreisen steht. Buckle leitet hieraus die Folge ab, daß bei einem bestimmten Zustande der Gesellschaft eine gewisse Anzahl von Verbrechen begangen werden, eine bestimmte Anzahl von Menschen ihrem Leben ein Ende machen, eine bestimmte Anzahl von Ehen zum Abschlüsse kommen muß. Soweit sei die Gesetzmäßigkeit der Ereignisse uns bekannt; die weitere Frage, an welche einzelne Personen die aus dem allgemeinen Zustande der Gesellschaft hergeleiteten Folgen als Motive für ihr Handeln derart herantreten, daß sie sich veranlaßt sehen, durch eine anscheinend und vermeintlich freie Tat das soziale Gesetz zur Erfüllung zu bringen, das sei uns einstweilen noch unbekannt. Buckle geht noch weiter; die Anzahl der zur Post gegebenen Briefe, welche die Schreiber derselben zu adressieren vergessen haben, ist alljährlich gleich. Auch hierin spricht sich also ein Gesetz aus. Diese letztere Tatsache ermutigt uns, mit einer Mitteilung vor die Öffentlichkeit zu treten, deren Wert für die Wissenschaft wir jahrelang nicht geahnt haben, bis wir durch die Lektüre des Buckleschen Werkes darauf aufmerksam gemacht wurden. Wenn bei einem Diner, an welchem hundert Personen Anteil nehmen, in demselben Gange grüne Schoten und Teltower Rüben aufgetragen werden, werden — die gleich gute Zubereitung beider Schüsseln vorausgesetzt — siebzig Personen Schoten und nur 30 Rüben sich vorlegen. Wir können uns nicht rühmen, die Entdecker dieses Gesetzes zu sein; wir haben es nur aus dem Munde eines Kochs, dessen Erfahrung und Sachkenntnis uns über jeden Zweifel erhaben ist. Derselbe teilte uns gleichzeitig mit, daß ein ähnliches konstantes Verhältnis zwischen Fasanenbraten und Kapaun und überhaupt zwischen allen Speisen, die gleichzeitig aufgetragen zu werden pflegen, obwalte, wenngleich sich a priori nicht ermitteln lasse, wer Schoten, wer Rüben vorziehe. Es bleibt also nichts anderes übrig, als zu der Erklärung zu greifen, der Zustand der Menschheit sei zur Zeit ein derartiger, daß siebzig unter hundert Menschen die Schoten den Rüben vorziehen, während dreißig einen entgegengesetzten Geschmack haben. Der Gegenstand scheint genau ebenso wichtig, wie die ohne Adresse zur Post gegebenen Briefe. Will man derartige Erscheinungen nur um der Regelmäßigkeit ihrer Wiederkehr willen mit dem Namen Gesetze bezeichnen, so folgt daraus doch nur, daß im Gebiete des Geistes nur die verhältnismäßig gleichgültigen Handlungen sich unter Gesetze subsumieren lassen. Je erheblicher, je folgenschwerer, je staunenswerter eine Handlung ist, desto höher erhebt sie sich über das Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Man mag vorausberechnen können, wieviel Diebstähle und Selbstmorde im nächsten Jahre werden begangen werden, wieviel Ehen geschlossen, wieviel Briefe geschrieben, aber man wird es nicht dahin bringen, vorauszusagen, wieviel Jahre noch vergehen werden, bis wieder ein Welteroberer gleich Alexander, Dschingiskhan oder Napoleon auftritt. Und doch wirken auf den Zustand der Gesellschaft die Taten dieser Männer, die Buckle allerdings audi nur als Verbrecher bezeichnet, in weit höherem Grade bestimmend ein als all die Tausende von Mordtaten, die jahraus, jahrein von namenlosen Menschen begangen werden. Ganz verkehrt ist es zu behaupten, daß die Schick-
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sale der Gesamtheit uns neue Wahrheiten an die Hand geben, die kriegerischen Unternehmungen hervorragender Geister aber nicht. Daß Napoleon 1813 bei Leipzig geschlagen wurde, ist gewiß eine Wahrheit, eine nie zu vergessende, tiefe Wahrheit, und war für die, die den Feldzug von 1806 mitgemacht hatten, seinerzeit auch eine neue Wahrheit. Daß aber, wie Buckle erzählt, in London die Zahl der Selbstmorde im Sommer größer ist als im Winter, ist trotz der Regelmäßigkeit, mit der es sich wiederholen mag, keine Wahrheit, weil wir es mit keiner anderen erheblichen Tatsache in eine Kausalverbindung zu setzen wissen. Buckle identifiziert hier offenbar die Begriffe von regelmäßiger Wiederkehr und von Gesetzmäßigkeit miteinander. Das ist aber selbst in der Naturwissenschaft nicht zulässig. Die Entstehung des Sonnensystems und der Erde, die Bildung der Erdoberfläche, das Entstehen der Vegetation und der Fauna, das alles bildet ein großes Ereignis, welches sich nie wiederholt hat und nicht wiederholen wird. Sollen wir darum die Kenntnisse, die uns durch den Scharfsinn der berühmtesten Gelehrten hierüber erworben sind, über Bord werfen, weil dieselben keinen allgemein gültigen Satz, also keine Wahrheit enthalten? Der Fehler wäre nicht größer, als wenn wir die Geschichte der von Cäsar unternommenen gallischen Feldzüge vernachlässigten. Die Forderung, daß die Geschichte eine Wissenschaft der sittlichen Gesetze werden solle, schränkt aber das Gebiet derselben nicht allein in unzulässiger Weise ein; sie führt innerhalb des Gebietes, welches ihr bleibt, auch zu falschen Resultaten. Die Methode der empirischen Wissenschaften, wie sie seit zwei Jahrhunderten mit so großem Erfolge betrieben werden, stammt von Baco. Dieser aber schrieb eine große Menge von Regeln vor, ohne deren Beobachtung man zu sicheren und ergiebigen Resultaten nicht gelangen kann. Die Autopsie soll an die Stelle überlieferter Versicherungen treten; die Analogien der Natur sollen gegen menschliche Überzeugungen geltend gemacht werden; die Beobachtung durch Instrumente soll an die Stelle der bloßen Sinneswahrnehmung treten, das Experiment uns gegen Sinnestäuschung schützen; durch Vergleichung möglichst vieler Fälle soll die Regel ermittelt, durch Benutzung der negativen und der prärogativen Instanzen der Irrtum ausgeschlossen werden. Alle diese Vorschriften sind auf die Geschichte unanwendbar. Wir können die Zustände der Vergangenheit nicht durch Autopsie kennenlernen, wir können durch keine Experimente ermitteln, unter welchen Umständen ein historisches Ereignis ausgeblieben sein würde. Die geschichtliche Empirie bedarf anderer Vorschriften und Ratschläge als die naturwissenschaftliche. Ein neuer Baco wird für das Gebiet der Geschichte festzustellen haben, welche Maßregeln der Historiker zu nehmen hat, um auf seinem Gebiete in derselben Weise zu positiven Resultaten zu gelangen und sich vor Irrtum zu schützen, wie es der Naturforscher auf dem seinigen tut. Droysen hat vor zwei Jahren an der hiesigen Universität eine Reihe von Vorlesungen über geschichtliche Methodologie gehalten, deren Veröffentlichung zeigen wird, wie weit verschieden die Bedingungen einer gedeihlichen Wirksamkeit für den Historiker von denen des Physikers sind. Eine Empirie ohne die richtige Methode hört auf, Wissenschaft zu sein. Die Phrenologie ist eine Sammlung von Behauptungen und Lehren, deren jede einzelne auf eine Reihe von Erfahrungen sich stützt. Daß man bei mehreren Menschen mit starkem
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Ortssinn eine bedeutende Erhebung des Stirnknochens oberhalb der Augenbrauen und bei mehreren bedeutenden Musikern hervortretende Schläfenbeine gefunden hat, wird nicht zu bestreiten sein. Gleichwohl ist die Phrenologie keine Wissenschaft, weil die Erfahrungen nicht der richtigen Methode gemäß gesammelt sind, weil die Analogien der Natur dagegen sprechen, daß die Gehirnfunktionen durch die Beobachtung des Kranions ermittelt werden können. Buckle ist unter den Historikern, was der Phrenologe unter den Physiologen ist. Anstatt den Versuch zu machen, in das Innere der Tätigkeit des historischen Geistes einzudringen, tastet er an der Oberfläche herum. Anstatt aus einer unendlichen Reihe von Beobachtungen das Wesen und die Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwickelung abzuleiten, sieht er jede einzelne Tatsache darauf an, ob sich derselben nicht ein allgemeines Gesetz abgewinnen läßt, und beruhigt sich bei dem gefundenen, so dürftig, so unbefriedigend es sein mag. Die Gesetze, die er als die Frucht seiner historischen Studien aufstellt, sind sehr positiv; ihre Richtigkeit aber bleibt erheblichen Zweifeln ausgesetzt. Das wichtigste dieser Gesetze lautet: nicht die moralischen, sondern die intellektuellen Wahrheiten begründen den Fortschritt des menschlichen Geschlechts. Der Beweis wird dadurch geführt, daß zwei naturwissenschaftliche Entdeckungen, die des Schießpulvers und die der Dampfkraft, und eine nationalökonomische, die in Adam Smiths Werk niedergelegt [ist], die religiöse Verfolgungssucht und den kriegerischen Geist der Menschheit gemildert haben. Eine Gegenfrage: Welche wissenschaftliche Wahrheiten haben zur Abschaffung der Leibeigenschaft in Rußland geführt? Oder ist dieselbe nur auf einen moralischen Fortschritt zurückzuführen? Ein zweites Gesetz lautet: Völker, in denen, wie in den Schotten, der theologische Geist ein mächtig vorwiegender ist, können auf dem Gebiete der deduktiven, aber nicht auf dem der induktiven Wissenschaften Bedeutendes leisten. Der Beweis wird dadurch geführt, daß alle berühmten schottischen Naturforscher sich der deduktiven Methode bedient haben, während bei den englischen die induktive Methode die allein herrschende ist. Auch hier nur eine Frage: Wenn man die Entdeckung der latenten Wärme durch den Schotten Black der Deduktion zuweist, welches Recht hat man, die Entdeckung des Gesetzes der Schwere durch den Engländer Newton dem Gebiete des induktiven Wissens zuzuteilen? Newton hatte doch auch keine Experimente darüber anstellen können, unter welchen Umständen der Mond auf die Erde zu fallen pflegt. Umfassende Kenntnisse und Schärfe des Geistes besitzt Buckle, aber auf dem Gebiete der Geschichtserzählung liegen seine Verdienste nicht. Sieht man, daß Männer wie Buckle, Roscher, Riehl sehr verschieden in ihrem Ausgangspunkte, ihrer Richtung und ihrem wissenschaftlichen Werte sich in ihren Bestrebungen vielfach berühren, so darf man hoffen, daß das Reich unserer Kenntnisse um ein neues Gebiet, die Wissenschaft der Gesellschaft bereichert werden wird, aber diese Wissenschaft wird neben der Geschichtserzählung bestehen, nicht sie verdrängen. Und wer von dem Gechichtsschreiber verlangt, daß er ihn über die Erscheinung hinaus zum Grunde der Erscheinung führe, wird etwa bei Polybius oder Machiavelli reichere Ausbeute finden als bei Buckle.
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Der preußische Staat Job. Friedr. Gottfr. Eiselen, Der preußische Staat. Darstellung seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner gegenwärtigen natürlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Berlin 1862. Dietericis „Handbuch der Statistik des preußischen Staates", vor dem Tode des hochverdienten Verfassers nur bruchstückweise erschienen, gelangte als abgerundetes Ganzes nur mit einer gewissen Beschränkung des ursprünglichen Planes zum Abschlüsse und zur Veröffentlichung. Die Kapitel über die Bevölkerung, den materiellen Besitz in Rohproduktion, Gewerbe und Fabrikation in bezug auf Handel und Verkehr wurden von dem Sohn des Verstorbenen, C. Dieterici, mit Hilfe des wissenschaftlichen Nachlasses des Vaters zu einem abgerundeten Werk gestaltet — Verfassung und Verwaltung des Landes blieben unbehandelt; nur das im technischen Sinne volkswirtschaftliche Material gedieh zur Bearbeitung; das weitere staatswissenschaftliche Gebiet, wenn auch allein vom statistischen Gesichtspunkte aus, von der anerkannten Meisterhand erörtert zu sehen, war uns nicht beschieden. Der neuernannte Vertreter der Universität Halle im Herrenhause, J . F. Eiselen, dessen Lebensdauer bereits unter fünf Könige von Preußen fällt, hat es nun unternommen, auch den letzten Teil der Darstellung unserer Staatsverhältnisse einer eingehenden Behandlung zu unterziehen, die, wie der Verfasser selbst sagt, nicht nur für Verwaltungsbeamte, Richter und Diplomaten, sondern, dem konstitutionellen Prinzip gemäß, für jeden Gebildeten bestimmt und geschrieben ist. Denn jeder Gebildete hat, wie es in der Vorrede treffend heißt, selbst wenn er nicht berufen wäre, an dem öffentlichen Leben durch seine Tätigkeit teilzunehmen, das größte Interesse daran, sich das Wesen des Staats, in dem er einmal Bürger ist, klarzumachen, weil das öffentliche Leben ihm überall auf seinen Bahnen begegnet, ihn immerfort in seinen Zauberkreis ruft. Der Einführung in den preußischen Staatsorganismus im Sinne der Lebendigkeit und Fruchtbarkeit desselben, im Sinne einer zukünftigen gedeihlichen Entfaltung Preußens, ist dieses Buch ernstlich und gründlichst zugewandt; wir haben die gesammelten Studien und Erfahrungen eines gereiften, leidenschaftslos in das Zeitgetriebe schauenden Mannes vor uns, der das Interesse des Lesers für einen in heutiger Zeit besonders seltenen und notwendigen Gesichtspunkt wachruft, für das Organische im Staatsleben und für die geschichtliche Vermittlung seiner Entwicklung. Der erste Teil des Buches enthält eine Darstellung des Entwicklungsganges des brandenburgisch-preußischen Staats; nach Behandlung der Geschichte der Mark Brandenburg unter den askanischen Markgrafen und der schlimmen Tage unter den bairischen und luxemburgischen Herrschaften, verweilt der Verfasser längere Zeit bei der Darstellung der territorialen und politischen Gestaltung unseres Staats unter den Hohenzollern. Eigene geschichtliche Forschungen sind in diesem Teile seines Werkes nicht niedergelegt, aber der Verfasser kennt und verwertet darin das vorhandene stoffliche Material mit großer Geschicklichkeit und objektiver Treue. Es galt, den providentiellen Beruf Preußens in seiner geschichtlichen Ent-
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Wicklung, ohne alle gemachte Begeisterung, und eben darum um so wirksamer darzulegen und mit der Zeichnung des gegenwärtigen Bildes unserer staatlichen Einrichtungen und unserer politischen Situation, sowohl Preußens Stellung Deutschland und dem Auslande gegenüber, als die Grundlinien seiner künftigen Politik an Hand der Erfahrung und unter Veranschlagung unserer positiven Mittel vom rein tatsächlichen Standpunkte aus zu entwickeln. — „Wenn wir behaupten," — so heißt es Seite 606 — „daß Preußen und die deutschen Staaten, vornehmlich die ihm benachbarten, einander wechselweise bedürfen, so sind wir nicht der Meinung, daß von beiden Seiten das Bedürfen als ein gleich starkes anzusehen sei. Handelt es sich von der Verteidigung gegen einen auswärtigen Feind, so bedarf dies keines Beweises; aber es gilt dasselbe auch, wenn wir andre Umstände ins Auge fassen, wie z . B . das Geldwesen, die Grenzzölle, die militärischen Einrichtungen. Im schlimmsten Falle würde Preußen wohl der Freundschaft der kleineren deutschen Staaten entbehren können, diese aber nicht der seinigen." Dies zur allgemeinen Charakteristik der Resultate der hier vorliegenden ebenso mühevollen als verdienstlichen Arbeit, deren höchst sachgemäße Erörterungen über das Bundesverhältnis der deutschen Staaten, über die Stellung Österreichs und Dänemarks, über die Zollvereins- und die handelspolitischen Angelegenheiten Preußens im allgemeinen sowie über die Bedeutung Frankreichs für unsere auswärtige Politik hier nur erwähnt, aber nicht ausführlich wiedergegeben werden können. Der zweite Teil des Eiselenschen Buches handelt in seiner ersten Abteilung von Land und Leuten, den geographischen, politischen, ökonomischen und klimatischen Beschaffenheiten des Staatsgebietes einerseits und den Bevölkerungsverhältnissen mit Bezug auf Nationalität, Religion und natürliche Verschiedenheiten andererseits — in der zweiten Abteilung dagegen vom Staate selbst und der unter seiner Obhut sich bewegenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Rechtsboden ist es zunächst, worauf es dem Verfasser in letzterer Hinsicht ankommt, und diesen Hauptgesichtspunkt führt er durch alle sozialen Schichten und Kreise durch: „Dem preußischen Adel fehlt es an einem eine Sonderstellung begünstigenden Mittelpunkte; außer den eigentlichen durch völkerrechtliche und staatsrechtliche Festsetzungen eximierten Standesherren gibt es bei uns verfassungsmäßig keine irgendwie bedeutsamen Standesunterschiede mehr"; und ferner: „Bei den räumlichen Absonderungen der Staatsbewohner nach Stadt- und Landgemeinden, Kreisen usw. sind bis jetzt noch nicht Gliederungen, welche durch das Bedürfnis des sich entwickelnden Volkslebens entstanden sind, als vielmehr Einrichtungen, welche man im Interesse der bequemeren Landesverwaltung beibehalten oder gemacht hat, zur Erscheinung getreten; dies aber muß man wissen, um auf dem Gegebenen weiterbauen zu können." Das Kapitel vom Staate im engeren Sinne, d.h. der Staatsverfassung und Staatsverwaltung zeichnet sich durch prägnante Kürze und zugleich durch Klarheit aus; zur Veranschaulichung des Geistes, in dem sie gehalten ist, wollen wir hier nur eine Stelle folgen lassen: „Wenn die Verfassung, d.h. die Organisation der Landesvertretung, als eine Institution zu betrachten ist, die das Königtum sich als Werkzeug der Regierung des Landes geschaffen hat, von welchem in gewissen Schranken
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Gebrauch zu machen es sich verpflichtete; so können wir nicht sagen, daß es in ihr untergegangen sei." Mit dem heutigen Stichwort der neuen Regierungskunst, daß der Schwerpunkt der Regierung nicht ins Abgeordnetenhaus verlegt werden dürfe, steht demnach der Verfasser keineswegs auf solidarischer Basis. Die Militärverwaltung, die Polizei, das Justizwesen und die preußischen Finanzen sind in diesem Abschnitt mit eingehendster Genauigkeit behandelt. Gleich interessant ist der dritte Abschnitt des zweiten Teils über das preußische Volk in seiner Entwicklung unter dem Einflüsse der Gesetzgebung und Verwaltung. Hier ist die Aufgabe für den eigentlichen Statistiker, der seine Wissenschaft nicht als bloßen Querschnitt durch die Geschichte eines Staats, sondern — wie der Autor in der Vorrede es ausdrücklich betont — als eine Erfassung der Lebenskeime desselben in ihrem geschichtlichen Gewordensein und ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung und wechselseitigen Bedingtheit betrachtet. Herr Professor Eiselen scheidet hierbei sorgfältig die materielle von der geistigen Entwicklung, die bloße Betriebsamkeit von der eigentlichen Volksbildung, und namentlich in ersterer Beziehung ist sein Buch darin sehr vollständig, daß es die verschiedenen Betriebszweige der einzelnen Provinzen jeden für sich feststellt und einer vergleichenden Beurteilung unterwirft. Das Buch berechtigt zu der Erwartung, daß wir in dem jetzigen Vertreter der Universität Halle im Herrenhause eine ebenso treffliche politische Kraft gewonnen haben wie sein hier von uns besprochenes Buch eine dankenswerte staatswissenschaftliche Leistung darbietet, die wie kaum ein anderes Buch geeignet ist, die positiven und realen Verhältnisse unseres Staatslebens zur Anschauung zu bringen.
Ein System der Politik Georg Waitz, Grundzüge der Politik nebst einzelnen Ausführungen.
Kiel 1862.
Ausbreitung der Kenntnisse und Vertiefung der Begriffe sind nicht die einzigen Ziele, nach welchen die Wissenschaft strebt. Es macht sich beständig auch die Notwendigkeit geltend, den erworbenen Schatz des Wissens in eine präzise Form zu gießen, in welcher er geeignet ist, auch außerhalb des engeren Kreises der Wissenden verwertet zu werden und als geprägte Münze von Hand zu Hand zu gehen. Die Wissenschaft vom Staat hat innerhalb der letzten Jahrzehnte bedeutende Fortschritte gemacht; eingehende Forschungen haben die Verfassungsgeschichte der wichtigsten Länder Europas in helleres Licht gestellt, und auf den philosophischen Grundlehren von Schelling, Hegel, Krause, Günther sind umfassende Systeme der Staatswissenschaften auferbaut worden. Audi die selbsterlebten Ereignisse sind nicht spurlos an uns vorübergegangen, und namentlich in Deutschland gibt es wohl keine Partei, der sich mit Grund der Vorwurf machen ließe, daß sie für die wissen-
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schaftliche Grundlegung ihrer Parteiansichten nichts gelernt und nichts vergessen habe. Die staatswissenschaftlichen Werke von Stahl, Mohl, Gneist, um aus einer großen Anzahl verdienter Schriftsteller Vertreter der drei Hauptparteien herauszuheben, sind unendlich reicher an Anschauungen, fruchtbarer an Begriffen als etwa Dahlmanns vor zwei Dezennien begonnener Versuch, „die Politik auf das Maß der gegenwärtigen Zustände zurückzuführen", — ein Werk, welches bei aller Pietät vor dem heimgegangenen Meister als gegenwärtig veraltet bezeichnet werden muß. Waitz übernimmt es gegenwärtig, die Summe unseres Wissens vom Staate auf ihren kürzesten Ausdruck in scharfen gedrängten Formeln zurückzuführen und erschöpft die Grundzüge der Politik in kaum hundert splendid gedruckten Seiten. Vor vielen anderen ist er zu einem solchen Werke, bei dem es nicht auf das Gewinnen neuer Wahrheiten, sondern auf das Formulieren der gewonnenen ankommt, berufen. Ihm ist vorzugsweise die Eigenschaft des Stils eigen, die der Lateiner mit elegantia bezeichnet, die durch scharfsinnige Sonderung der Begriffe erreichte Klarheit des Gedankens, die zur vollendeten Klarheit des Ausdrucks wird; daneben die Geschicklichkeit, mit einem einzigen Fingerzeig den denkenden Leser auf eine ganze Reihe von Folgerungen hinzuweisen, deren breitere Darlegung „weise verschwiegen wird", wie Schiller es vom Meister des Stils verlangt. Ein Werk, wie es hier vorliegt, gewährt zwei wesentliche Vorteile; dadurch, daß die einzelnen Teile des Gebäudes der Politik auf einen möglichst engen Raum zusammengedrängt werden, wird uns die Aufgabe erleichtert, gleichsam mit einem Blick die Konsequenz des Ganzen, die Harmonie der einzelnen Teile zu prüfen; ferner ist für viele Gedanken, die oft jedem auf der Zunge liegen, der mustergültige Ausdruck ein für allemal gegeben. Eine eingehende Beurteilung aller Sätze des Verfassers überstiege natürlich den Raum dieses Aufsatzes; sie würde vielleicht auch den Raum eines Bandes übersteigen. Wir können daher nur Einzelheiten hervorheben. Leider sind wir nicht imstande, die angeborene Unart der Kritiker abzulegen, und gehen deshalb an vielem vorüber, dem wir lauten Beifall schenken müßten, während wir nur solche Punkte hervorheben, die uns zum Widerspruch veranlassen. „Der Staat erwächst organisch, als ein Organismus; aber nicht nach den Gesetzen und für die Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren, sittlichen Anlagen der Menschen, in ihm walten sittliche Ideen: er ist kein natürlicher, ein ethischer Organismus." Von Waitz hatten wir erwartet, daß er die Phrase, der Staat sei ein Organismus, einer eingehenderen Kritik unterwerfen werde. Organismus ist die höchste, uns bekannnte Form physischer Gebilde; auf dem Gebiete des Ethischen hat dieser Begriff keinen Platz. Jeder Organismus ist beherrscht durch das teleologische Prinzip; im Kreise des Ethischen, im Staate ist jeder Teil Selbstzweck. Daß die Definition: der Staat sei ein Organismus, nichts erklärt, geht schon daraus hervor, daß auch umgekehrt die Physiologen begonnen haben, das Wesen des Organismus dadurch zu erläutern, daß sie ihn als einen Staat bezeichnen. Die Worte: „Der Staat ist ein Organismus" hellen die Sache durchaus nicht auf; sie sagen nur, daß die Sprache bisher noch nicht reich genug ist, um die objektiven
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Gebilde, die im Gebiete des Ethischen hervortreten, mit einem besonderen Namen zu bezeichnen. „Die sogenannte Gesellschaft bildet keinen bestimmten Gegensatz gegen den Staat. Eher kann dieser selbst als eine Art von Gesellschaft neben der Religionsgesellschaft und anderen lokalen und ähnlichen Gesellschaften aufgeführt werden. Oder man kann in einem andern Sinne die auf Beruf, Besitz, Stand usw. beruhenden Verhältnisse, die eine Bedeutung audi noch unabhängig vom Staat haben, gesellschaftlich nennen. Zu einer eigenen Gesellschaftswissenschaft im Unterschied von der Staatslehre ist weder in der einen noch in der anderen Weise ein Anlaß und rechter Gegenstand gegeben." So sehr wir auch die Oberschwenglichkeit mißbilligen, mit welcher Riehl, der vermeintliche Entdecker der Gesellschaftswissenschaft, und eine Gruppe von „Sozialpolitikern" von der Gesellschaft, diesem wunderbaren, seltsamerweise durch Jahrhunderte übersehenen und verkannten Wesen sprechen, so ist doch der Begriff selbst für uns ein sehr realer und zu einer wissenschaftlichen Behandlung wohl geeigneter. Der Staat beruht auf dem Staatsbürgerrecht, d.h. der wesentlichen Gleichheit aller Menschen und der mit dieser Gleichheit innig verknüpften Freiheit. Neben der Gleichheit besteht aber eine Ungleichheit, neben der Freiheit eine in der Ungleichheit wurzelnde Abhängigkeit der Menschen voneinander. Die Ungleichheit der Menschen in Geschlecht, Alter, Vermögen, geistigen und körperlichen Anlagen, Neigungen und Bedürfnissen erzeugt unter den Menschen ein künstlich zusammengesetztes System gegenseitiger Abhängigkeit; sie erzeugt eine Interessengemeinschaft, die wir Gesellschaft nennen. Dieser Gesichtspunkt allein ist, meinen wir, imstande, die Volkswirtschaftslehre, die Schöpfung Adam Smiths, des atomistischen, formalen Charakters zu entkleiden, den sie lange Zeit besessen, sie in eine Wissenschaft, die uns wesentliche Seiten des Menschen kennen lehrt, d. h. in eine humane Wissenschaft zu verwandeln. Die also bereicherte Volkswirtschaftslehre wird zweckmäßig den Namen der Gesellschaftswissenschaft tragen. Es wäre wohl zu wünschen, daß ein Mann von der Schärfe und Klarheit, die Waitz besitzt, die gegenseitigen Beziehungen von Staat und Gesellschaft eingehend untersuchte und so zwei Gefahren einen Damm entgegenstellte. Die eine Gefahr ist die, den Begriff des Staates seiner Entwicklungsfähigkeit, seiner Furchtbarkeit zu berauben, indem man ihm die sozialen Grundlagen entzieht, die andere umgekehrt die, den Staat mit sozialen Theorien zu überfluten und dadurch den innersten, unveränderlichen Kern desselben anzutasten. Der wesentlichste Vorwurf aber, den wir der vorliegenden Arbeit zu machen haben, ist der, daß der Verfasser es nicht verstanden hat, die Lehre von den Grundrechten „organisch" mit seinen übrigen Ausführungen zu verbinden. Die Sicherung der persönlichen Freiheit, die Rede-, Presse- und Lehrfreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht erscheinen ihm nicht als Grundlage verfassungsmäßiger Freiheit, weswegen auch die Bezeichnung der Grundrechte sorgfältig vermieden wird, sie treten vielmehr in einem Schlußabschnitte nur als Vorbedingungen für die glückliche Wirkung einer Verfassung, als wünschenswerte Erfordernisse für ein gedeihliches Staatsleben auf. Dem Leser, der mit dem Referenten darin übereinstimmt, daß eine solche Behandlung ungenügend sei, der auch mit den beiden oben
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erhobenen Einwendungen übereinstimmt, hat sich vielleicht bereits von selbst der Gedanke aufgedrängt, daß ein Grundmangel die drei gerügten Fehler hervorgerufen hat. Waitz unterläßt es, die unverrückbare Grenze zu ziehen, über weldie die Wirksamkeit des Staates nicht in die unantastbare Selbständigkeit des einzelnen hinübergreifen darf. Darum erscheint der einzelne nur als ein Glied des Organismus, darum wird eine außerhalb des Staates stehende Verkettung der einzelnen zu einer großen Interessengemeinschaft geleugnet, darum erscheint die Anerkennung der Grundrechte, der Sicherung der Einzelsouveränität gegen Übergriffe des Staatsabsolutismus nicht als unerläßliche Vorbedingung jeder verfassungsmäßigen Ordnung. Den Grundzügen sind einzelne Ausführungen beigefügt, bei denen wir in den Augen derer, denen wir vielleicht zu viel getadelt, diesen Fehler wiedergutmachen wollen. Die erste derselben, „Über die Unterscheidung der Staatsformen", beschäftigt sich mehr mit einer scharfsinnigen Spaltung der Begriffe als mit dem realen Inhalt der Staatsformen, allein sie befriedigt in hohem Grade durch die Feinheit der Behandlung und die dialektische Auflösung der gegnerischen Behauptungen. Auf eine Kernfrage des Staatslebens dagegen geht die zweite Abhandlung „Das Königtum und die verfassungsmäßige Ordnung" ein. Sie war zuerst gegen Ende des Jahres 1858 in den „Preußischen Jahrbüchern" erschienen, und sie hat uns bereits damals wie jetzt bei erneutem Studium den Eindruck gemacht, als dürfe sie kein Anhänger der konstitutionellen Partei ungelesen und unbeherzigt lassen. Das tiefste Wesen des Königtums (welches mit Monarchie keineswegs identisch ist) wird hier zum Gegenstande einer eindringenden Untersuchung gemacht und gefunden, daß dasselbe weder auf der theologischen Grundlage einer Verleihung von Gott noch auf der rationalistischen der Volkssouveränität liegt. Wer da meint, das Glaubensbekenntnis der konstitutionellen Partei beruhe lediglich auf einem juste-milieu zwischen Demokratie und Reaktion, Volkssouveränität und Patrimonialismus, kann sich hier überzeugen, welcher Reichtum an selbständigen, positiven, weil wahrhaft historischen und in das Wesen des Staates eindringenden Gedanken in den Grundlehren der Bannerträger unserer Partei enthalten ist. Diese Partei, und sie allein, hält die ursprünglich germanischen Anschauungen von Staat und Königtum aufrecht, während die Lehren der extremen Parteien willkürlich ersonnene Theorien sind. Ist diese Abhandlung für alle konstitutionelle Staaten von Interesse, so behandelt die folgende, „Das Wesen des Bundesstaates", eine ganz besonders deutsdie Frage oder wenigstens ein deutsches Verlangen. Sie wurde geschrieben, nachdem im Jahre 1850 die letzten Einigungsversuche gescheitert waren und 1853 in der „Allgemeinen Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur" gedruckt. Der Verfasser fühlte damals, als der Kampf der Parteien verstummt war, das Bedürfnis, sich eingehender mit der Form des Bundesstaats zu beschäftigen und an den Lehren der Geschichte wie der politischen Wissenschaft dasjenige zu prüfen, was in den Tagen der Bewegung gedacht und geäußert worden war. Seine sorgfältigen Untersuchungen führten ihn zu dem Geständnis, daß mandies, was damals das Frankfurter Par-
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lament beschlossen, was er selbst vertreten, nicht mehr zu verteidigen sei — ein Geständnis, welches freilich die süddeutsche Demokratie nicht von dem Feldgeschrei abbringen wird, noch gegenwärtig die Durchführung der Reichsverfassung zum Gegenstande ihres nächsten Strebens zu machen. Den Begriff des Bundesstaats stellt er gegen eine irrige Erklärung von Stahl und eine unklare von Radowitz dahin fest, daß es diejenige Form des Staatslebens sei, bei welcher ein Teil der allgemeinen Aufgaben des Staatslebens gemeinsam von der ganzen Nation durch den Gesamtstaat, die Zentralgewalt, ein anderer Teil getrennt von den einzelnen Stämmen des Volkes durch die Einzelstaaten und deren Gewalten zu erfüllen sind. Die Geschichte gestattet das Studium der Bundesstaatsverfassung bisher nur an Republiken; der Verfasser weist indessen die Möglichkeit des monarchischen Bundesstaats und die Details der Einrichtung desselben mit so überzeugender Klarheit nach, daß wir uns hier mit Vergnügen der Hoffnung hingeben, eine Vorarbeit zur künftigen deutschen Reichsverfassung gelesen zu haben. Während diese beiden Ausführungen gewissermaßen Standardwerke der gothaischen Partei sind, berührt die vierte, „Die Wahlen zur Volksvertretung", ein Feld, auf welchem innerhalb der Partei, politisch gesprochen, offene Fragen, wissenschaftlich gesprochen, Kontroversen an der Tagesordnung sind. Der Verfasser erklärt sich gegen eine Interessenvertretung in der zweiten Kammer, für eine Beschränkung des Wahlrechts durch möglichste Ausdehnung des Begriffes der Selbständigkeit, für direkte Wahlen und für öffentliche Stimmabgabe. So weit tritt der Referent ihm bei; über die Punkte, inbetreff deren er abweichender Ansicht ist, schweigt er, um nicht einen Leitartikel unter dem Strich zu liefern. Schließlich sei nur noch bemerkt, daß wohl selten in so engem Raum so viel zur Diskussion und Betrachtung Anregendes zusammengefaßt worden ist als in diesem Buche.
Deutsche Geschichte um 1800 Clemens Theodor Perthes, Politische Zustände und Personen in Deutschland zur Zeit der französischen Herrschaft. Das südliche und westliche Deutschland. 2. Auflage, Gotha 1862. I. Wir erhalten in dem vorliegenden Buche ein Bruchstück von einem umfassenden Plan. Seit zwanzig Jahren ist der Verfasser mit einer politischen Geschichte der Parteien, wie sie sich jetzt in Deutschland gegenüberstehen, beschäftigt. Wie seine Schrift über das deutsche Staatsleben vor der Revolution und die Lebensbeschreibung seines Vaters, so ist auch diese Darstellung südwestdeutscher Zustände, wie sie auf diese Revolution folgten, aus diesen Studien erwachsen. Es ist ein vortrefflicher Gedanke, die politischen Parteien und Männer im Zusammenhang mit dem Boden 8
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und den Verhältnissen zu betrachten, aus denen sie erwuchsen. Schon Schlosser hat in einzelnen kräftigen Zügen diesen Zusammenhang angedeutet; Gervinus hat ihn sogar in die Entwicklung der Poesie — zuweilen mit konstruktiver Härte, aber in den großen Zügen scharf zutreffend — verfolgt. In der Tat ist es Zeit, mit den abstrakten Gegensätzen in der Geschichte, welche uns noch von den Hegelianern her anhaften, gründlich aufzuräumen. Und zugleich ist jetzt noch möglich, für jene Periode, die kaum zwei Geschlechter hinter uns liegt, die Verbindung, wie sie zwischen den Verhältnissen und den Personen bestand, authentisch nachzuweisen. Von seines Vaters Zeiten her standen dem Verfasser noch Briefschaften und Verbindungen mannigfacher Art zu Gebote; er selbst ist dort am Rhein der süddeutschen Art und Sitte und den Hauptorten, in denen die Ereignisse seines Buches spielen, nahe genug, um sie ohne Vogelperspektive in ihrer leibhaftigen Wirklichkeit zur Anschauung zu bringen. Wenn er diesen Zusammenhang zwischen Verhältnissen und Personen, zwischen der konkreten Lage deutscher Länder und den politischen Parteien schärfer anspannt als wir billigen können, so erhält dadurch vielleicht für viele Ähnlichdenkende sein Buch nur ein erhöhtes Interesse. Es ist ganz im Sinne unserer Zeitgenossen gedacht, die Gegensätze der politischen Parteien nirgends aus dem Gang der politischen Ideen, sie vielmehr überall aus der Verschiedenheit der realen Verhältnisse zu erklären. Perthes geht davon aus, wie vor 1789 in Deutschland alle Unruhen und Verwicklungen von den Regierungen ausgingen, nach dieser Zeit aber von einem Gewirre gärender Parteien. Das Mittelalter hindurch und in der Reformation hatte es in Deutschland Parteien gegeben; mit dem Aufkommen der absoluten Staaten waren sie mit dem neuen Untertanenbegriff verschwunden. Der Staat sah im Menschen nur den Untertan und Untertan war ihm gleichbedeutend mit einem zu regierenden Objekt. An die Stelle der Parteien waren politische Schulen getreten. Man würde irren, Parteien in diesen zu sehen: sie waren über ganz Europa verbreitet, und sie waren im Zusammenhang damit auf einen abstrakten Staat an sich gerichtet, während politische Parteien allezeit von der Lage bestimmter Staaten ausgehen. Die Entstehung der Parteien ist nach ihm vielmehr aus den besonderen deutschen Zuständen, Personen und Ereignissen zu erklären, deren Zusammenwirken begann, sobald die Nation durch den von Frankreich aus empfangenen Stoß in Bewegung gebracht wurde. Zunächst zwar konzentrierte der Kampf gegen Napoleon alle selbständige politische Bewegung, die zu Parteibildung hätte führen können; militärische Zeitalter sind politischen Parteibildungen sehr ungünstig. Aber aus den Zuständen jener Zeit erhoben sich bereits allgemeine Züge der politischen Anschauungen und bedeutende Repräsentanten derselben. So kam es, daß in den damaligen Staatengruppen Deutschlands bereits die drei politischen Hauptriditungen sich unterscheiden lassen, von denen jede in einer dieser Gruppen sich sichtlich hervorhob. Im deutschen Südwesten hatte die revolutionäre Richtung Übergewicht. Im katholischen Österreich und in den protestantischen mittleren und kleineren Staaten
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des deutschen Nordens war eine stabile Richtung herrschend. Preußen versuchte, seine notwendige Umgestaltung mit seiner überlieferten politischen Ordnung zu vermitteln. Aus dem Gegensatz dieser Richtungen entsprangen die großen Parteigruppen: die historische, die stabile und die revolutionäre, wie sie gegenwärtig noch unser politisches Leben erfüllen. Die revolutionäre Richtung des Südwestens war es, welche zuerst Bedeutung für das Leben gewann. D a s vorliegende Buch unternimmt nun im einzelnen den Nachweis, daß diese Richtung nicht die Wirkung französischer Theorien, sondern deutscher Verhältnisse gewesen sei. Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität, im Gegensatz gegen das gewaltige französische Königtum gebildet, hatte in Gegenden keinen Sinn, in welchen eine so schroffe Erhabenheit des Fürstentums undenkbar war. Spukten diese Theorien auch ab und zu in den allgemeinen Teilen unserer politischen Lehrbücher: der besondere [ . . . ] , welcher ihnen auf dem Fuße folgte, baute sich so ruhig auf den Grund des Westfälischen Friedens, der Wahlkapitulationen und der anderen Reichsgesetze auf, als ob niemals naturrechtliche Gesetze aufgestellt worden wären. Aber das Zusammenwirken historisch überlieferter Zustände und bestimmter einzelner Ereignisse und Personen erzeugte im südwestlichen Deutschland die revolutionäre Richtung und brachte sie in Gesetzgebung und Verwaltung zur Herrschaft. Wie gesagt, diese Theorien werden leicht den Beifall derer finden, welche den Wechsel der menschlichen Dinge lieber aus Tatsachen als aus Ideen ableiten. Indes der Verfasser selbst stumpft ihnen bereits die Spitze ab, wenn er sagt, daß seit 1833 auch in Deutschland die von den Sozialtheorien vielfach durchkreuzten Sätze Rousseaus fast ausschließlich als wahr gegolten hätten, ja zum Volksvorurteil geworden wären. Die scharfe Teilung in drei Parteien wird der Fülle deutschen Parteilebens in unserem Jahrhundert nicht gerecht; ganz abgesehen von der Frage, ob nicht schon in der Bezeichnung der Partei der sozialen Ausgleichung als der revolutionären dem Verfasser die Unbefangenheit des historischen Blickes schwindet. Endlich, wenn auch der örtlichen Gruppierung der Parteien eine schöne und feine historische Beobachtung zugrunde liegt, so ist doch auch diese auf eine unwahre Spitze getrieben, ihre rechte Durchbildung haben die revolutionären Theorien recht eigentlich bei den unterdrückten Völkern des vielsprachigen Kaiserstaats gefunden, welcher hier nur die stabile Partei hervorgerufen haben soll. Aber mag man es nun dem Buche zum Tadel anrechnen oder sich darüber freuen: die Theorie, welche es eröffnet, steht mit den nachfolgenden Sthilderungen deutscher Zustände nur in losem Zusammenhang. Unter diesen ist unstreitig die der politischen Zustände und Personen auf dem linken Rheinufer zur Zeit der Fremdherrschaft, insbesondere der Mainzer Verhältnisse, am sorgfältigsten und eingehendsten bearbeitet. Gerade sie hat freilich von Seiten eines sorgfältigen Lokalforschers, des Professors Klein, vielfache Berichtigung erfahren, und wir bedauern, daß dieselbe nicht dem zweiten Abdruck zugute gekommen ist. Während Perthes unmittelbar aus den Mainzer Zuständen vor der Okkupation die Einverleibung der Stadt ableitet, als habe er es auf einen recht scharfen Gegensatz der damaligen süddeutschen gegen die preußischen Stimmungen abgesehen, zeigt Klein aus ein8*
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gehendem Studium ungedruckter Aktenstücke, daß weit mehr das Treiben der fremden Gelehrten in der Stadt als die Teilnahme von Bürgern derselben diese Stimmungen verschuldete und daß die Abneigung gegen dies Unwesen dort ganz anders herrschend war als Perthes annimmt. Von zehntausend stimmfähigen Bürgern in Mainz haben nach ihm nur 345 der Republik den Eid geleistet. Es kam damals zu zahlreichen Auswanderungen nicht aus Furcht, sondern um sich dem französischen Regiment nicht unterwerfen zu müssen. J a , es gab Dörfer, deren ganze Gemeinden ihre Wohnungen und ihr Vermögen im Stich ließen, weil sie ihren patriotischen Stolz nicht vergessen mochten. In Worms bequemten sich nur 25C Bürger zum Eid. Das sind Stimmungen, welche sich mit denen Berlins während der Zeit der Okkupation sehr wohl messen können. Indes, wenn wir von dieser immerhin schwer zu entscheidenden Frage absehen, so hat Perthes eine vortreffliche Charakteristik der damaligen Mainzer Zustände entworfen. Es war die Zeit des Kurfürsten Carl Joseph von Erthal. Es ist bekannt, daß unter demselben der erzbischöfliche Hof sich mit jedem andern süddeutschen an weltlicher Üppigkeit messen durfte: Hoffeste, Schlittenfahrten, Jagden, daneben audi der edlere Luxus von Gelehrtenberufungen an H o f und Universität, welche, wie in solchen katholischen Ländern üblich, auf die wirkliche geistige Kultur des Landes völlig ohne Einfluß blieben. Sömmering, Nicolaus Vogt, Johannes von Müller, Heinse, Forster, aber neben ihnen auch leere und frivole Illuminaten wie Metternich und Hoffmann, fanden sich in der kleinen Residenz zusammen. Natürlich daß hier, wo nichts regelmäßig und fest in die Landeskultur eingriff, alles an der Gunst des Fürsten hing, Neid und Eifersucht diese wunderlich gemischte Welt zersetzte und aufs bitterste verfeindete. In nichts war diese vornehme Mainzer Welt einig als in der Hast sinnlichen Genusses. Dies war die Bühne, auf welcher die Tragödie Forsters sich abspielte, des einzigen Mannes von Bedeutung, welcher in Deutschland ein Opfer der Revolution wurde. Die Geschichte der damaligen Mainzer Verhältnisse, der damaligen süddeutschen Zustände erklärt in der Tat viel in dem harten Schicksal dieses Mannes, wenn man sein bisheriges Leben dazu nimmt. Der schnellste Wechsel außerordentlicher Eindrücke hatte seine Jugend erfüllt. Elf Jahre alt, bevor noch Heimatsgefühl und Schulzucht dem begabten Knaben eine geistige Grundlage gegeben hatten, bestürmten ihn die gewaltigsten Eindrücke: die unwirtlichen Steppen der Kalmücken, der Glanz eines Petersburger Winters, die gewaltigen Eindrücke Londons, das Weltmeer, die märchenhaften Eindrücke der Weltumseglung, das alles war an ihm bereits vorübergegangen, als er, kaum einundzwanzig Jahre alt, wieder in England landete. Er hatte nicht Zeit gehabt, Knabe und Jüngling zu sein, und es ist, als ob die Stimmung des Jünglings, die er nie abgetan hatte, sich später immer wieder in seine Mannesjahre hineingedrängt hätte. Und dazu im Hause der unruhige, von störrischem Eigensinn, der immer wieder üble Lagen herbeiführte, und starkem Selbstgefühl, das jede üble Lage zur Verzweiflung brachte, verzehrte Vater, der nur in dem einen beharrlich blieb: in der Härte, mit welcher er die Seinen unterdrückt hielt. Förster selbst hat nachmals schmerzlich über die Falten geklagt, welche eine unvollkommene Erziehung, eine zu früh angefangene Brotarbeit und eine
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Verwicklung in das Schicksal leidender und durch sich selbst unglücklich gewordener Menschen in sein Gemüt geschlagen hätten. Das Wichtigste sah er dodi nie: daß diese Erziehungsweise ihn für alle Zeit der männlichen Selbständigkeit und Nüchternheit beraubte. Einen andern vielleicht hätte dieser Lebensgang zu einem schroffen und einsamen, aber desto männlicherem Manne gemacht; seine weiche Natur wurde durch ihn nur desto stärker getrieben, in der warmen Hingabe an die Dinge und die Menschen den eigenen nüchternen Willen zu vergessen. Wie schwärmerisch hatte er Sömmering geliebt! Wenn man liest, wie er am Abend des ersten Tages, nachdem er Kassel verlassen hatte, um nach Wilna zu gehen, über den Schmerz der Trennung, über die Welt voller Erinnerungen aus der Zeit ihrer Gemeinschaft an ihn schreibt: so ist das fast der exaltierte Ton aus dem Freundeskreise Klopstocks. Aber bei diesem Naturforscher ist Wahrheit, was dort bei den Poeten eine Art von dichterischer Ubereinkunft war. Ein solches Naturell und dazu eine außerordentliche Gabe, sich bedeutenden Menschen verständlich und liebenswert zu machen, mußten freilich die Schwierigkeiten seiner Entwicklung unendlich erhöhen: die entgegengesetztesten Naturen wurden von ihm angezogen und bewegten ihn bis zur völligen Unselbständigkeit. Eine angenehme Erscheinung von regelmäßiger Gesichtsbildung, welche Blattern und Skorbut nicht zu entstellen vermocht hatten, und von gewinnenden Manieren: wenn er sprach, wurde sein Gesicht überaus angenehm; seine außerordentliche Gabe der Beobachtung und seine erregbare Phantasie gaben ihm stets den lebhaftesten glänzendsten Ausdruck; ein Mann, der sich wie Friedrich Schlegel auf Geselligkeit und Konversation verstand, bezeichnete sein Gespräch als ein Kunstwerk. Einer dem Anscheine nach so auf das Glück angelegten Erscheinung sollte doch auch das mittlere Glück gewöhnlicher Naturen in Ehe und Beruf versagt sein. Damals freilich in Wilna weiß der bisher einsame, von rauhen Geschicken hin und her geworfene Mann nicht genug von seinem jungen Glück mit der Tochter Heynes zu schreiben. Und es schien auch, als ob er dort eine Laufbahn begänne, die für seine wissenschaftliche Natur völlig die rechte sei. Aber bald kam das alles ins Schwanken, und Mainz war der Ort, wo dies Schwanken in völlige Zerrüttung übergehen sollte. Dort waren indes die ruhigen glänzenden Zeiten zu Ende gegangen. Im Juni 1791 war dort der Graf von Artois erschienen, und seine altfranzösische Artigkeit und Gewandtheit hatte den Reichserzkanzler von Deutschland gewonnen. Die Stadt füllte sich mit Flüchtlingen; alle Gegner der Emigration unterlagen den schärfsten polizeilichen Maßregeln; Mainz erschien fast wie eine altfranzösische Provinzialstadt. Und besonders die Franzosen schienen es so anzusehen. Als hilflose Flüchtlinge waren sie gekommen, jetzt schwelgten sie Tag für Tag aus der Hofküche des Papas, wie sie den Kurfürsten vertraulich nannten. So erwuchs in Mainz, wo der Hof selbst das Intrigieren und Opponieren großgezogen, eine Stimmung, welche dem Kurfürsten nichts weniger als günstig war. Schon sammelten sich Mißvergnügte um die Metternich, Hoffmann, Böhmer. (Wir merken bei dieser Gelegenheit an, daß Waitz in einer Besprechung des vorliegenden Buchs den verbreiteten Irrtum berichtigt hat, als ob der bekannte Demokrat Böhmer der erste Mann von Caroline Schlegel gewesen sei: er war vielmehr ihr Schwager, und daß
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derselbe aus der reichen Korrespondenz von Caroline Schlegel auch über die politischen Verhältnisse von Mainz weitere Aufklärung verspricht.) Man begann gegen die Rechte und den politischen Einfluß des Klerus und des Adels zu sprechen und die neue französische Verfassung zu preisen. Als im Mai 1792 der Gesandte des konstitutionellen Frankreich, Villars, in Mainz erschien, wurde er sofort der geheime Mittelpunkt der Unzufriedenheit, lsiun kamen im Juli 1792 die Tage der Legitimisten-Zusammenkunft, an denen der alte Herr den neuen deutschen Kaiser, die Könige von Preußen und Sizilien, unzählige Fürsten und Gesandte in seinem Palast vereinigt sah. Von Mainz aus erschien das Manifest des Herzogs von Braunschweig und auf prächtig geschmückten kurfürstlichen Jachten fuhr von hier der König von Preußen hinab nach Koblenz zu seiner Armee. Es schien einen schnellen Siegeszug nach Paris zu gelten, und der Kurfürst wollte auch seinen Anteil daran haben. Er sandte seine Truppen zu der alliierten Armee, obwohl bereits in den Wirtshäusern und im Kasino die Rede ging, ein Priester müsse dem Kitzel widerstehen, mit ein paar Soldaten Krieg zu spielen, und man werde die von Truppen entblößte Stadt nur der Rache des Feindes preisgeben. In der Tat näherte sich Custine bereits im Herbst. Auf die erste Nachricht hiervon verschwand alle Kriegslust des Kurfürsten. Er ließ sofort seine Kostbarkeiten packen und fuhr am 5. Oktober 1792 in dunkler Nacht nach Würzburg ab, nachdem er an seinem Reisewagen sein Wappen hatte abkratzen lassen. Der ganze Rhein bis Koblenz hinab war erfüllt von Frachtschiffen und Wagen der vornehmen Mainzer Welt und der Emigrierten. Der Kurfürst hatte seinen Domdechanten von Fechenbach als Kommandanten zurückgelassen; derselbe erklärte, mit der Stadt zu stehen und zu fallen; in derselben Stunde aber wurden seine Stüdefässer [in der] Domdechantei vor aller Welt Augen in Sicherheit gebracht. Die Bürger meinten, der Kurfürst möge seine Händel selbst ausfechten, ja hier und da zeigte sich schon die Trikolore auf den Straßen. Am 21. Oktober 1792 endlich übergab der Kommandant ohne jeden Versuch der Verteidigung Mainz an Custine. Die erste Regung der Bürger war, auf die Wiederkehr ihrer Regierung zu warten. „Sie wissen gar nicht, wie ihnen geschehen ist", schrieb damals Forster, „sie vermissen ihren gnädigen Herrn." Aber Regierung, Kirche und Adel blieben verschwunden. Der Kurfürst hatte unter anderem die Witwen- und Pupillenkasse mitgenommen und versorgte sich damit. Zugleich ließ das fortwährende Vorrücken der Franzosen den Sieg der Republik als einen definitiven erscheinen. Die Bürger mußten sich in die Lage schicken. Und es gab in der Stadt Männer, wie Wedekind, Blau und andere, welche nunmehr sich laut zu den Jakobinern bekannten. Unter dem Schutz von Custine tagten sie als eine Volksgesellschaft im Konzertsaal des Kurfürsten, wo vor kurzem der Adel und der Klerus, die sie im Stiche gelassen hatten, geschwelgt hatten. Es waren triviale Redensarten, die sich dort hören ließen. Aber dem Volke leuchtete das Argument ein, „nachdem Erthal durch sein schändliches Fortlaufen den Kontrakt mit dem Mainzer Volke gebrochen habe, verletze man nun niemandes Rechte, wenn man die Menschenrechte einführe". Forster hatte sich entschieden gegen die Gründung des Clubs ausgesprochen; ihm war, wie er schrieb, der Schuster- und Schneider-Enthusiasmus zuwider, den gewisse
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arme Sünder hätten. Aber seine äußere Lage w a r durch die Auflösung der Universität völlig ungewiß und ganz in den H ä n d e n Frankreichs; dazu war das Verhältnis zu seiner Frau so geworden, daß jede Aufregung, jede gewaltsame AbT ziehung ihm Bedürfnis war. So ließ er sich denn von dem wüsten Lärmen übertäuben, in welchen ihn der Club hinabzog. Vor sich selbst und andern rechtfertigte er sich damit, daß jetzt nur die Erhaltung des Privateigentums gesichert werden könne, wenn die Leitung in redliche H ä n d e käme. Aber die Sache war, daß diese Bewegung künstlich gemacht war, daß im Volk Boden genug war, sie zu bekämpfen, und darum durchaus kein G r u n d ihr zu folgen, um auf diesem Wege Besserungsversuche mit ihr anzustellen. Dies ist in der T a t stets nur die Doktrin schwacher, aber ehrgeiziger Naturen gewesen, damals bei Forster und heute noch. Als Custine am Tage nach seinem Einzüge auf dem Rathause zu den Mainzern reden wollte, erschienen nicht hundert, und von diesen stimmten kaum zehn oder zwölf in den Ruf ein: Es lebe die Republik! U n d weder die Reden im Club noch die fliegenden Blätter und Lieder, welche der große Fürstenfeind Pape, Metternich und seinesgleichen verbreiteten, wollten bei den Bürgern gefallen. Mit Entsetzen hörten die Clubisten, wie die Bauern in Sarnsheim die neue Freiheit a u f f a ß t e n : sieben Jahre hätten sie die Messe deutsch singen müssen, nun sie frei seien, gedächten sie sie wieder wie ehedem lateinisch zu singen. Forster schrieb: „Am Ende werden wir es ihnen doch wieder gnädigst befehlen müssen, daß sie frei werden sollen, dann geht's." Genauso dachte Custine. Am 19. November 1792 beseitigte er die alten Regierungsbehörden und setzte ein aus neun Mitgliedern gebildetes Administrations-Conseil ein, dessen hervorragendstes Mitglied Forster war. Mit dieser Maßregel w a r die Losreißung von Deutschland entschieden, und kein deutsches Nationalgefühl erschwerte dieselbe einem Manne, der in Polen geboren war, dann als Gelehrter in England gelebt hatte, eine Reise um die Welt gemacht, dann noch einmal nach Wilna verschlagen worden war. Wie überall, trieb es auch in Mainz die demokratische Bewegung zu extremen Maßregeln, daß das legitimistische Heer im Dezember die Stadt bedrohte. — „Die Clubisten haben Angst", schrieb damals Forster, „die Pfaffen heben die Köpfe in die H ö h ' , krähen Unglück und drohen Tod und Mord. Das hiesige laue Volk hängt die Köpfe." In dieser Lage scheute sich Forster, seit Beginn 1793 Präsident des Clubs, nicht länger, Gewaltmaßregeln zu gebrauchen, um die Stimmen f ü r Annahme der republikanischen Verfassung zu erhalten. N u n erklärte er bereits, daß die Einverleibung des Landes auch wider den Willen des Mainzer Volkes im Interesse der französischen Republik erwirkt werden müsse. U n d mitten in diesen schmutzigen Verhältnissen, von politischer Hitze fieberhaft ergriffen, weiß sich seine edle N a t u r doch von jeder niedrigen H a n d l u n g rein zu halten; nur um so unbequemer wird sie dadurch freilich den französischen Machthabern, um so isolierter in dieser Umgebung. Die Sehnsucht nach der alten wissenschaftlichen Tätigkeit erhebt sich in ihm: „Ich fürchte, daß ich kein Lärmmacher bin, also hinter diesen zurückstehen werde." Er möchte die Rhone hinab in das südliche Frankreich wandern und mit der Feder in der H a n d auf einem Maultier die Provence oder Languedoc durchreisen und schreiben, was er sehe; umsonst, die wilde Bewegung zog ihn mit sich fort, an die er sich hin-
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gegeben hatte. A m 17. M ä r z 1793 trat der rheinische National-Konvent zusammen, neben H o f f m a n n übernahm auch Forster den Vorsitz; er, L u x und Potocki erhielten den Auftrag, die Bitte um Vereinigung mit Frankreich vor den Konvent nach Paris zu bringen. Während dieser dann weiter T o d und Vermögenskonfiskation über die rheinischen Fürsten verhängte, verließ die Deputation Mainz. K a u m drei Monate darauf fiel die Stadt in die H ä n d e der Verbündeten. Nunmehr war Forster heimatlos. A m 30. M ä r z verlas er im National-Konvent ein von ihm selbst verfaßtes Schreiben, in welchem die Vereinigung mit Frankreich nachgesucht war. „Nicht den Sturz eines einzelnen Despoten verkündigen wir euch heute; das rheinisch-deutsche Volk hat die sogenannten Throne zwanzig kleiner Tyrannen, die alle nach Mensdienblut dürsteten, alle vom Schweiße der Armen und Elenden sich mästeten, auf einmal niedergeworfen. Auf den Trümmern ihrer Macht sitzt das souveräne V o l k . " So gut verstand er den Stil des Konvents. Aber sofort, wie er nun selber als Zuschauer dem großen D r a m a gegenübertritt, macht sich die große G a b e des Naturforschers mit der ganzen alten K r a f t geltend. Der WohlfahrtsAusschuß war eben eingesetzt, die Schreckensregierung begann. „Alles", schreibt er, „ist blinde leidenschaftliche Wut, rasender Parteigeist und schnelles Aufbrausen, das nie zu ruhigen Resultaten gelangt. Auf der einen Seite finde ich Einsicht und Talente ohne Mut und Kraft, auf der andern eine physische Energie, die nur da Gutes leistet, wo der Knoten wirklich zerhauen werden muß. Der ruhigen K ö p f e hier sind wenige, oder sie verstecken sich; die N a t i o n ist, was sie immer war, leichtsinnig und unbeständig, ohne Festigkeit, ohne Wärme, ohne Liebe, ohne Wahrheit, lauter K o p f und Phantasie, kein H e r z und keine Empfindung. Mit dem allen richtet sie große Dinge aus, denn gerade dieses kalte Fieber gibt den Franzosen ewige Unruhe und den Schein von allen edlen Anregungen." „Bei den meisten Franzosen ist das H e r z Eis, der K o p f glüht." „Immer nur Eigennutz und Leidenschaft zu finden, w o man Größe erwartet und verlangt; immer nur Worte statt Gefühl, immer nur Prahlerei statt wirklichen Seins und Wirkens, wer kann das aushalten! — Alle gesetzmäßige Gewalt hat ein Ende. Es steht nur eine große Macht noch d a : Le pouvoir ^volutionnaire." Dann wieder: „ D a s Mißtrauen wird bald dahin führen, daß alle öffentlichen Beamte, wie Baugefangene, an einen K l o t z geschmiedet arbeiten müssen, damit man zu jeder Minute ihrer Person sicher sei." U n d zugleich versucht er doch sich über die Bewegung des Moments zu erheben; um die Sache, welche er zu der seinigen gemacht hatte, vor sich und anderen zu rechtfertigen, schrieb er in den letzten Monaten 1793 die Parisischen Umrisse. Hier erschien ihm die Revolution nur wie das blutbespritzte Tor, aus welchem die Menschheit aus der finsteren Vergangenheit in die Helle fröhlicher Zukunft gelange, in welcher die republikanische Staatsverfassung einen neuen Aufschwung, allen Talenten eine große Schule der Erfahrung, dem Handel mächtige Blüte gewähren werde. Er mußte die Dinge so sehen, wenn er leben wollte. „ E s fehlte noch", schrieb er damals, „bei allem, was ich die letzte Zeit gelitten habe, daß mir die Überzeugung in die H ä n d e käme, einem Unding meine letzten K r ä f t e geopfert und mit redlichem Eifer für eine Sache gearbeitet zu haben, mit der es sonst niemand redlich meint, und die ein Deckmantel der rasendsten Leidenschaften ist." Dann
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muß er sich wieder in anderen Momenten gestehen: „Ich schreibe, was ich nicht mehr glaube. Hätte ich vor zehn Monaten gewußt, was ich jetzt weiß, ich wäre nach Hamburg gegangen, nicht in diesen Club." Noch einmal treten ihm in solchen Stimmungen sein Weib und sein Beruf gleich lange vergessenen Freunden wieder nahe. Es ist rührend, wie er des Tages gedenkt, an dem er vor - einundzwanzig Jahren mit Cook zu Schiffe gegangen war. Dann macht er neue Pläne: er hofft auf eine Sendung nach Domingo; Indien lockt ihn; dort möchte er in der ihm vertrauten wissenschaftlichen Arbeit seine politische Vergangenheit vergessen. — Heimlich überschreitet er die Schweizer Grenze, obwohl er weiß, daß jeder Verdacht der Emigration ihn unter die Guillotine bringen mußte, um in dem Juraorte Travers die Seinigen zu treffen. Es ist die Resignation eines dem Tode Nahen, mit welcher er nach seiner Rückkunft schreibt: „Nach allem, was schon geschehen ist, meine besten Freunde, wäre es Verkennung meiner, mich noch in Anschlag bringen zu wollen." Die Tragödie seines Lebens ging zu Ende. Eine gänzliche Erschlaffung hatte ihn ergriffen. „Wenn ich täglich frühstücke, zu Mittag esse, Tee trinke und auf allerlei Weise meine Abhängigkeit von der Natur anerkennen muß, so erschrecke ich vor mir selbst, wenn ich das Wort Tugend oder Sittlichkeit ausspreche." Die Nächte vergingen ihm schlaflos. Er erfuhr nun, daß es unter Umständen größer sei zu leben als zu sterben: Jeder elende Hund kann sterben. In sein Krankenzimmer drang die Nachricht vom Glück der französischen Waffen und bewegte ihn doch nicht gewaltig. „Die Revolution ist ein Orkan, wer kann sie hemmen! Ist der Sturm vorbei, so mögen die Überbleibenden sich erheben, sich in der Stille freuen über den Erfolg." Ihm war das nicht beschieden. Langsam vernichtete die Krankheit die Kräfte des Einsamen. Die letzten Worte, die er mit zitternder Hand aufzeichnete, waren: „Küßt meine Kinder!" und ebenso das letzte, was er im Angesicht des Todes sprach: „Meine Kinder!" Er starb am 12. Januar 1794 nachmittags vier Uhr. So endet ein Mann, der die Kräfte in sich trug, in beschreibender Darstellung der Erde und des Verhältnisses der Menschen zu ihr ein Vorgänger Alexander von Humboldts zu werden, in wissenschaftlicher Tiefe nicht mit ihm zu vergleichen, aber in der Feinheit der Beobachtung und in künstlerischer Natur ihm gewachsen, im Verständnis des geschichtlichen Lebens aus dem Boden und der Lage der Völker ihm vielleicht überlegen. Die ganze unglückselige Schiefheit der Lage der rheinischen Kleinstaaten gehörte dazu, die ernste Begeisterung eines solchen Mannes für unser politisches Leben unfruchtbar, ja unheilvoll zu machen. II. Eine ähnliche Stellung, wie sie Forster zu den Zuständen und Stimmungen von Kurmainz einnahm, zeigt Görres zu denen Kölns. So verschieden die niederrheinischen Gegenden waren, so geteilt unter verschiedene Rechte und fürstliche Gewalten, so unterwarf doch auch diese das revo-
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lutionäre Frankreich demselben zentralisierenden System, durch welches es in allen besiegten Ländern die alten historischen Sondertraditionen vernichtete. Von Bonn aus beherrschte zuerst eine Mittelkommission, dann ein Gouvernements-Kommissar das ganze Land in sechs Bezirken. Der Zwangskurs der Assignaten, jener Münze der Republik, deren Unterpfand, die Rechtlichkeit des Franzosenvolkes, ihnen nach französischen Proklamationen einen unendlichen Vorzug vor den verächtlichen Metallen gab, die dem sträflichen Wucher der Habsucht unterliegen, zog in wenigen Monaten fast alles zirkulierende Bargeld aus dem Lande. Die Zivilverwaltung, welche den Ländern das neue Glück des freien Frankreichs bringen sollte, war den Anordnungen der Militärbefehlshaber gegenüber völlig machtlos. So manche Befreiung von örtlichem Druck hier und da die Bevölkerungen ersehnten: sie hatten doch die Franzosen mit wenigen Hoffnungen empfangen und audi diese wenigen bald aufgegeben. Aber zerstreut durch alle diese geistlichen und weltlichen Gebiete gab es eine Anzahl jüngerer und älterer Männer, welche die besondere Heimat mißachteten, in kosmopolitischen Freiheitsideen schwärmten und das linke Rheinufer zu einem einzigen demokratischen Staat vereinigt wissen wollten. Sie waren es, von denen im Jahre 1797 der Versuch zur Gründung der Cisrhenanischen Republik gemacht wurde. Ihre Lage und ihr Verhältnis zur Bevölkerung war aber in den verschiedenen Territorien sehr verschieden. In der alten Krönungsstadt Aachen hatten die Parteien im kleinen und großen R a t seit langem bei den Wahlen Tumulte erregt. Die Verhandlungen über den letzten vom Jahre 1786 waren vor all den Einwendungen und Verklausulierungen der Stadtbehörde gegenüber dem Reichskammergericht noch immer nicht zu Ende gediehen, als im Winter 1792 die Revolutionstiuppen, die Österreicher vor sich herjagend, von Belgien aus sich näherten. Am 15. Dezember meldete der Turmund Nachtwächter auf dem Marschiertor mit seinem Horn, daß sich der erste H a u f e französischer Reiter dem Reiche von Aachen näherte. Das geistliche Gut wurde unter Siegel gelegt, dem alten Standbild Karls des Großen und hier und da den Kruzifixen die rote Jakobinermütze aufgesetzt und ein Freiheitsbaum von angemessener Größe errichtet. Unter diesem wurde dann die ganze Bevölkerung zusammengerufen; als der französische General sie fragte, ob sie mit ihrer Verfassung zufrieden seien, riefen alle einstimmig: J a ; als er sie fragte, ob sie keine Änderung wünschten, verneinten sie es. Als dieses Nein ausgesprochen war, rannten sie nach Hause, wie Jacobi an Goethe schrieb: als ob es hinter ihnen brenne. Die Franzosen mußten durch militärische Gewalt Wähler zusammenbringen, die dann doch franzosenfeindliche Männer wählten. Dem neuen Maire wurden dreißig Mann Einquartierung angedroht, falls er die Stelle nicht annähme. „Ihr seid noch", meinte Dampierre ihnen gegenüber, „zu weit zurück, um zu wissen, was Freiheit ist. Wohlmeinende Freunde müssen euch wie Kranke zu einer heilsamen Operation zwingen." Nach allen schriftlichen und mündlichen Überlieferungen fand sich von einer Zuneigung zu dem französischen Republikanismus weder bei der ersten noch bei der zweiten Besetzung der Stadt durch die Franzosen nur eine Spur. Auch die freie Reichsstadt Köln hatte, als die Franzosen ankamen, die Lehrjahre revolutionärer Bewegungen längst hinter sich. Wie lange war nun schon die euro-
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päische Handelsstellung der Stadt, die große wissenschaftliche Bedeutung, welche ihr die Universität und Männer wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Tauler verliehen hatten, vorüber! Von dem alten großen Leben der Stadt war im 18. Jahrundert nur die Form geblieben, in welcher es sich einst bewegt hatte, und in diesen Formen, welche die alten Briefe feststellten, schleppte die Stadt ein verkommenes politisches Dasein fort. „Unter allen Städten am Rhein liegt", schrieb Forster, „keine so üppig hingegossen, mit unzähligen Türmen da; aber wie wenig stimmt das Innere dieser weitläufigen aber halbentvölkerten Stadt mit dem vielversprechenden Anblick von der Flußseite überein." „Die Häuser eingefallen", schrieb Lang, „ganze Straßen leer, der Dom von Haus aus unvollendet, hungernde, flehende Jammergestalten in abgenutzten Mänteln an den Türen und lauernde schmutzige weibliche Gestalten. Dazu ein ewiges Schellen und Klingeln in den 365 Kirchen und ein Rennen zu den 11000 Jungfrauen und den Heiligen Drei Königen." Da war denn in der Hefe dieser Bevölkerung ein Terrain für die Soldaten der Revolution. Und indem der Rat in törichter Angst Untersuchungen und Haussuchungen begann und die Österreicher den Inhalt des Arsenals und der Magazine und die kölnischen Stadtsoldaten selber mit sich nehmen ließ, Kriegs-, Gewinn- und Gewerbesteuern auflegte, brachte er alle diese Elemente in gärende Bewegung. Seit die französischen Waffen im Frühsommer 1797 in den Niederlanden siegreich waren, wurde schon hier und da eine Jakobinermütze aufgesetzt oder ein schnell herbei- und wieder fortgeschaffter kleiner Freiheitsbaum umtanzt. Dann begannen zu Ende des Sommers, die Domkapitulare, Stiftsherren und Äbte sich zur Flucht zu rüsten und ihr Geld aus den Toren zu bringen. Endlich am Mittag des 6. Oktober 1797 zogen die Franzosen in die Stadt ein. Sie erregten doch große Bestürzung, wie sie, Fleisch, Brot und Kohl auf den Bajonetten, oft Holzschuhe an den Füßen und Tapeten und Teppiche als Mäntel umgehängt, in sansculottischer Unordnung durch die Stadt zogen; Freiheit, Gleichheit, keine Abgaben, keine Herren mehr, war auch in Köln ihr Ruf. Nun kamen unter ihrem Schutz die revolutionären Elemente schnell zur Herrschaft und gaben vor allem den Clubs eine festere Gestalt. Umhertreiber aller Art strömten zusammen, die vielen Klöster spieen ihre verworfensten Elemente aus; wilde Reden, verrückte Vorschläge, giftige Angriffe auf Rat und Geistlichkeit erhitzten die Massen; an der Spitze standen der ausgetretene Franziskaner Geich, der Schwarzenbroicher Mönch Biergans, der Advokat Sommer. Der Rat wurde durch eine aus sieben Mitgliedern bestehende Munizipalität ersetzt, deren Beratungen eine tobende Masse beizuwohnen pflegte: später wurde auch hier ein Kommissar eingesetzt — Rethel, der sich vom Tage seiner Einführung ab tatsächlich der Gewalt über die Stadt allein zu bemächtigen suchte. Ganz anders waren die Zustände in dem kurfürstlichen Köln und der kurfürstlichen Residenz Bonn gewesen. Wie denn überhaupt im 18. Jahrhundert das durchgreifende Regiment der Fürsten der veralteten und pedantischen Verfassung der freien Städte doch noch vorzuziehen war. Der Erzherzog Max Franz, der seit 1784 den Kurstuhl inne hatte, gehörte zu den entschlossensten Führern im Kampf der deutschen Erzbischöfe gegen Rom. Die Universität und der Hof arbeiteten ohne
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Scheu für die Aufklärung im Sinne des 18. Jahrhunderts. Die Geldwirtschaft war verhältnismäßig geordnet und der Kurfürst besetzte die einflußreichsten Stellen gern mit Bürgerlichen. So rief denn die französische Revolution kaum große Teilnahme, geschweige Aufregung hervor. Das privilegierte Blatt der Regierung verfolgte die fortschreitende Bewegung derselben mit zustimmender Teilnahme; in der Lesegesellschaft, die auch der Kurfürst zuweilen zu besuchen pflegte, lagen die revolutionären Zeitschriften und Flugblätter des Tages ungehindert auf. Aber mit dem Ende des Jahres 1789 änderte doch der Kurfürst, der Bruder der Königin von Frankreich, seine Politik: es erfolgten Untersuchungen gegen einige Professoren, Verbote einiger revolutionärer Schriften; er ließ einen Winkelredakteur Roth, der sich in der Eifel mit politischen Reden umhertrieb, ins Zuchthaus setzen. Auch das änderte die Stimmung der Bürgerschaft nicht, und als Hof und Kurfürst — umsonst — auf einige Wochen nach Münster geflüchtet waren und nun zurückkehrten, wurden sie mit aufrichtiger freudiger Bewegung empfangen. Als dann im Oktober 1794 General Moreau in Bonn einrückte, machten die gewöhnlichen Requisitionen und die gewaltsame Einführung der Zentralverwaltung und Assignaten die Bürger natürlich nicht gerade franzosenfreundlicher. Noch weiter als der Kölner Kurfürst war Clemens Wenzel von Kur-Trier, der in Koblenz residierte, in der Verbreitung der Aufklärung gegangen. Ein Sohn des Kurfürsten Friedrich August II. von Sachsen, war in einem durchaus protestantischen Lande aufgewachsen, welches durch seine Schulen, durch Leipzig mit Ernesti, Heyne, Reiske, durch Männer wie Gottsched, Liscow, Geliert in der Mitte des deutschen geistigen Lebens damaliger Zeit stand. Indem er seine Schwester, die Äbtissin von Essen, an den Hof zog, hatte er sich eine Art von Familienleben geschaffen. Fehlte es ihm auch an Festigkeit und entschlossener Kraft, so begann er doch Reformen nach allen Seiten; besonders mußte ihm nach seinen sächsischen Erinnerungen die Fortbildung des Schulwesens am Herzen liegen. Unter entscheidendem Einfluß des Berliner Schulseminars und der Berliner Realschule hatte 1762 der Abt Felbiger die Trivialschule in Sagan völlig umgebildet und dadurch den Anstoß zu einer pädagogischen Bewegung in den meisten katholischen Territorien gegeben. Künftig sollte das Hauptgewicht nicht auf Stärkung des Gedächtnisses, sondern auf feste Bildung von Verstand und Willen gelegt werden. Auch in Kur-Trier ließ der Kurfürst die Reform durchführen und verbesserte auch die Lage der Lehrer. Auf solche Weise brachte Clemens Wenzel Bewegung und Unruhe in die überlieferten Zustände. Er hatte La Roche, den Verfasser der „Mönchsbriefe", zu seinem Kanzler, Hontheim zu seinem Weihbischof. Unter dem Einfluß dieser Männer Schloß er sich der gegen die römische Kurie feindlichen Politik der beiden anderen geistlichen Kurfürsten an. Es war natürlich, daß man auch hier wie in Bonn sich im ganzen unter dem geistlichen Regimente behaglich fühlte. Der Kurfürst verkehrte freundlich mit dem Volke; so schoß er unter dem Jubel der Menge im Jahre 1787 und 1790 auf dem Schützenfeste zu Ehrenbreitstein den Vogel von der Stange und steckte den ihm dargebotenen Blumenstrauß auf den Hut. Aber auch auf ihn übten der rasche Gang der Revolution und das Hereinströmen der Emigrierten, welche seit dem Spätsommer 1789 mit großen Gefolgen, mit Hunden und Pferden in Koblenz wie
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in Trier und den nahe gelegenen Ortschaften Aufenthalt nahmen, einen immer wachsenden Einfluß aus. Die Bürger sahen ihnen Ubermut und Sittenlosigkeit wohl nach, so lange sie mit klingender Münze bezahlten; als sie aber die Einheimischen um ihr Geld zu bringen begannen, brach eine allgemeine Erbitterung gegen die schamlosen Gäste aus. Nun langten auch im Herbst 1792 die Franzosen an. Und als auch hier, wie überall sonst, das Flüchten der Vornehmen begann, fürchteten die Bürger nicht mit Unrecht, daß so auf die Zurückbleibenden alle Lasten fallen würden. Damals haben sie denn den Wagen des Klerus und des Adels die Tore der Stadt gesperrt und hielten sogar unter vermessenen Reden die kurfürstlichen Wagen in der Nacht an. Aber wie diese Revolution den gemütlichen Zweck hatte, den Kurfürsten und sein Geld im Lande zu behalten, so haben sich audi hier später keine Elemente für eine französische oder revolutionäre Bewegung gefunden. Dies alles muß man bedenken, um den Wert und die Bedeutung der Bewegung nicht zu überschätzen, welche sich im Herbst 1797 für die Gründung einer Cisrhenanischen Republik erhob. Unter dem Einfluß der zersprengten Mainzer Clubisten war hier und da die Meinung aufgetaucht, man müsse vor allen Dingen eine durch den Frieden mögliche Rückkehr zu dem alten Regiment verhindern, daher sich jetzt sofort zu einer cisrhenanischen Konföderation verbinden und unter den Schutz Frankreichs stellen. Von einem Koblenzer Club von Krämern, Schulmeistern und einigen entlassenen Beamten ging die Bewegung aus; unter Förderung des Generals Hoche richtete derselbe überall Volksgesellschaften ein; man machte den Gemeinden den Zutritt angenehm, indem man alle, welche einen Freiheitsbaum errichtet und ihren Zutritt erklärt hatten, Zehnten und Feudallasten erließ. Eine bedeutendere Kraft gewann der Koblenzer Club erst an Görres, einem jungen, 1776 geborenen, kaum vom Gymnasium entlassenen Menschen, der mit zwanzig Jahren eine revolutionäre Schrift „Über den allgemeinen Frieden" geschrieben hatte, deren Manuskript — ein Verleger für das weltumgestaltende Werk hatte sich nicht finden wollen — die Aufmerksamkeit des Pariser Direktoriums auf ihn gezogen hatte. Am Morgen des großen 14. September 1797, an welchem die „Konföderierten" auf dem Koblenzer Paradeplatz einen ungeheuren Freiheitsbaum pflanzten, trat Görres zum ersten Male auf, indem er von einem Stuhl herab zu der Masse redete, welche Beifall rief. Freilich waren am andern Tage Zünfte und Stadtrat anderer Meinung als jene Stimmen aus der Masse; sie protestierten gegen die Republik und der französische General mußte die neue Freiheit mit einer oktroyierten Munizipalität anfangen. Von diesen Tagen ab war Görres die erste politische Autorität in Koblenz. Indes machte trotz des gewaltigen Freiheitstraums der Sinn der Rheinprovinzen für die Konföderation schlechte Fortschritte. Auf dem ganzen linken Rheinufer waren nur etwa fünfzig Ortschaften — durch Einschüchterung, Versprechungen, politische Handgriffe aller Art — für die Republik zu gewinnen. Und wie vergeblich alle Anstrengungen der kecken, wild aufgeregten jüngeren und der schlau rechnenden älteren Männer gewesen waren, wurde offenbar, als die französische Republik im November 1797 verständlich zeigte, daß das linke Rheinufer nicht
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selbständige Republik, sondern Bestandteil Frankreichs werden sollte. Der Widerwille und die Proteste waren ganz allgemein. Freilich sdiraken die Konföderierten vor dieser Konsequenz ihres bisherigen Treibens keineswegs zurück; Görres verteidigte sie mit der Theorie der natürlichen Grenzen und dem Gedanken, daß nur so die Freiheit gesichert sei. Mit der Übergabe von Mainz sah er die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs vollendet und die Leichenrede, welche er demselben hielt, war voll von den revolutionärsten Sarkasmen. „Am 30. Dezember 1797, am Tage des Überganges von Mainz, nachmittags um drei Uhr, starb zu Regensburg in dem blühenden Alter von 955 Jahren, 5 Monaten, 28 Tagen sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenem Schlagfluß, bei völligem Bewußtsein und mit allen heiligen Sakramenten versehen das Heilige Römische Reich. Ach Gott, warum mußtest Du denn zuerst Deinen Zorn über dieses gutmütige Geschöpf ausgießen; es graste ja so harmlos und so genügsam auf den Weiden seiner Väter, ließ sich zehnmal die Wolle abscheren" usw. — »Der Verblichene war geboren zu Verdun im Juni des Jahres 842 — er wurde nun am Hofe Karls des Einfältigen, Ludwigs des Kindes und ihrer Nachfolger erzogen." — „Die Päpste kanonisieren ihn bei lebendigem Leibe. Aber sein Hang zum sitzenden Leben, verbunden mit seinem leidenschaftlichen Eifer für Religion, schwächte immer mehr seine ohnehin wankende Gesundheit; sein Kopf wurde zusehends schwächer, bis er endlich im Alter von etwa dritthalb hundert Jahren zur Zeit der Kreuzzüge wahnsinnig wurde" usw. — Seit dem 19. Februar 1798 verschaffte dann Görres seinem H a ß gegen die deutschen Ordnungen ein Organ in seinem „Roten Blatte". Es strotzt von grotesken Invektiven gegen Kirche und Monarchie; aber zugleich erhob sich hier auch mit kühnem Mut die bitterste Anklage gegen die Beamten der Republik, welche im Namen der Freiheit Gewalt übten. Und mit demselben in diesen Zeiten beinahe tollkühnen Mute wandte er sich gegen das System der französischen Regierung überhaupt in den deutschen Provinzen. „Man hat uns Prokonsuln geschickt, schwache, herzlose und kopflose Menschen, speichelleckende Kreaturen derjenigen, die sie schickten; wir erhielten die Lotterie, die Douane, die Abgaben, aber keine Repräsentanten, keinen eigenen Willen." Im Juni 1798 legte er einer Versammlung eine Anklage gegen die französische Zentralverwaltung am Rhein wegen Bestechung vor; am 21. November 1799 wurde er endlich mit Vitzthum nach Paris gesandt. Es war zu spät; ein paar Tage vorher war die Konsularregierung gegründet, und von Bonaparte war am wenigsten in dieser Sache etwas zu hoffen. Es war eine Enttäuschung anderer Art, als sie Forster erlebt hatte, aber von gleich schneidender Wirkung, welche Görres empfand, als er nun Paris sah. Darin waren sich beide gleich, daß sie die Freiheit nicht aufgaben, aber Frankreich. „Der Welt" — sagte Görres damals — „erwächst eine Tyrannei, wie sie seit der Römerzeit nicht mehr gesehen; die gegenwärtige Generation ist für die Freiheit verloren." „Der westrheinische Nationalkonvent handelte recht, als er die Reunion mit Frankreich dekretierte; in dem Augenblick aber, in welchem die französisdie Nation sidi eine eigene, auf sie allein berechnete Freiheit schuf und einem eigenen Nationalgott huldigte, hat sich das weltbürgerliche Band, welches es mit andern Völkern ver-
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band, gelöst. Nicht mehr Mensdi gegen Mensch, sondern Staat gegen Staat tritt ins Verhältnis." Diese Enttäuschung, sagte er damals, schlage ihm Wunden, welche nicht zu heilen seien, sie reiße eine Lücke, welche sich nicht ausfüllen lasse. Aber anders als Forster faßte der junge energische Mann den Mut, sein Leben von neuem zu beginnen, sich selber umzuformen. Er warf sich in die in der Jugend so flüchtig durcheilte Wissenschaft, er wurde Gymnasiallehrer mit 1400 Franken Gehalt, führte das glücklichste Familienleben und schrieb diemische Tabellen, Aphorismen über die Kunst, als habe nie der Sturm der Zeit seine ruhigen Zirkel berührt. Und so reifte in ihm in der Stille jene Gesinnung, welche seinem stürmischen, gewaltigen Naturell, das in seiner frühen Jugend nur zerstörend gewirkt hatte, noch einmal eine gewaltig einschneidende Wirkung für das Vaterland verleihen sollte. Immer tiefer spann er sich in die Anschauungen alter Vorzeit, in die romantische und naturphilosophische Bewegung ein. 1806 ging er mit Frau und Kindern nach Heidelberg, wo Creuzer, Arnim, Clemens Brentano ihn gewaltig ergriffen und in ihr phantastisches Treiben hineinzogen. Seine aktive, im Grunde unwissenschaftliche Natur fand aber auch hierin nur eine Basis, von welcher aus er seine erstaunlichen Wirkungen in den Jahren der Freiheitskriege zu üben vermochte. Es ist bekannt, daß er dann in eine Art von demokratischem Katholizismus verfiel. Er durchlief eben nur alle drei Stadien von Bewegungen, welche die Rheinprovinz damals durchmachte.
Die Memoiren Kaiser Karl V. Aufzeichnungen des Kaiser Karls des Fünften. Zum ersten Male herausgegeben von Baron Kervyn van Lettenhove. Ins Deutsche übertragen von L. A. Warnkönig. Leipzig 1862. Als vor einigen Monaten gemeldet wurde, daß man in Paris die eigenen Aufzeichnungen des Kaisers Karl V. über sein Leben entdeckt hatte, so erregte die Kunde von diesem wissenschaftlichen Funde audi in weiteren Kreisen lebhaftes Interesse. Das lebendige geschichtliche Bewußtsein unserer Nation reicht, man darf es trotz aller Barbarossa-Sagen behaupten, nicht über die drei letzten Jahrhunderte, nicht über die Reformation zurück; was davor liegt, können wir der Teilnahme und der Wißbegierde unseres Volkes wohl zum Teil wieder ein- und anlernen, aber für das, was dann gefolgt ist, steht uns ein natürliches und unmittelbares historisches Empfinden zur Seite, welches für die älteren Jahrhunderte ihrer Geschichte unserer Nation verlorengegangen ist. Es ist das Reformationszeitalter, welches diese beiden Perioden voneinander scheidet; die herrschende Gestalt in ihm ist neben Luther Karl V. — Was konnte anziehender zu sein versprechen als eine von ihm selbst verzeichnete Darstellung seines Lebens, die nach dreihundertjähriger Vergessenheit nun an das Licht des Tages kam?
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Ein belgischer Gelehrter, Baron Kervyn van Lettenhove, fand in der kaiserlichen Bibliothek zu Paris eine portugiesische Übersetzung des ursprünglich französisch geschriebenen Werkes; jetzt liegt es uns bereits in einer deutschen, von Warnkönig besorgten Übersetzung vor. Man würde mit Unrecht hochwichtige Aufklärungen und Enthüllungen über das Leben des Kaisers und über die innere Geschichte des Reformationszeitalters in diesen Memoiren erwartet haben; von nicht sehr bedeutendem Umfang umfassen sie doch den größten Teil des Lebens Karls V., und es war schon sonst bekannt, daß sie in äußerst kurzer Zeit aus dem Gedächtnis diktiert worden sind; auch ist, wie man wohl sagen darf, die Geschichte dieses Zeitraums durchaus nicht so wenig aufgehellt, daß man hätte erwarten können, durch eine kurze Reihe persönlicher Aufzeichnungen des Kaisers erhebliche Dunkelheiten beseitigt zu sehen. Das Interesse dieser neuen Autobiographie liegt vielmehr in einem anderen Punkte; weniger das Dargestellte, als die Persönlichkeit des Darstellers bildet den Hauptreiz: der Gründer der europäischen Größe des Hauses Habsburg, Karl V. als sein eigener Geschichtsschreiber; dieser literarische oder richtiger psychologische Gesichtspunkt stellt sich voran. Diese Memoiren schrieb Karl V. in einem bezeichnenden Zeitpunkt seines Lebens. Im Jahre 1547 hatte er die Erhebung des Schmalkaldischen Bundes niedergeworfen. Jahrs darauf hatte er den Ränken des Papstes zum Trotz dem Reich das sogenannte Augsburger Interim als einstweilige Glaubensnorm verkündigen lassen; das Reich lag bezwungen zu seinen Füßen, seine neue kirchliche Gestaltung ebenso wie seine politische schien es willenlos aus der Hand des Kaisers erwarten zu müssen; seit Jahrhunderten hatte kein Kaiser die Idee des Kaisertums in solcher Fülle kirchlicher und politischer Macht dargestellt, das Ziel seines Lebens, die Verwirklichung seines monarchischen Gedankens, schien der Erfüllung nahe; eben jetzt sann er darauf, seinem Sohn Don Philipp die Nachfolge im Reich zu verschaffen. Im Juni 1550 reiste er, von Brüssel kommend, hinauf ins Reich, auf einem Reichstag in Augsburg sein Werk zu vollenden. In Köln stieg er zu Schiff; die Reise stromaufwärts nach Mainz hin ging langsam vonstatten; wie er nun so, zwischen den grünen Rheinufern dahinfahrend, seinen vertrauten Geheimschreiber van Male neben sich, reichliche Muße hatte, hat er diesem in den fünf Tagen, welche die Reise währte, seine Lebenserinnerungen in die Feder diktiert; zu Augsburg dann, in den anmutigen Gärten des reichen Fugger, der den Kaiser beherbergte, wurde in den Mußestunden des Reichstages das Werk vollendet. Eine Art von Widmung an seinen Sohn Philipp, dem er die Schrift später sandte, geht voraus: „Sie ist nicht so", schreibt er, „wie ich wünschte, aber Gott weiß, daß ich sie nicht aus Eitelkeit verfaßte, und wenn er sich durch dieselbe beleidigt finden sollte, so ist meine Beleidigung eher meiner Unwissenheit, als meinem bösen Willen zuzuschreiben. Ich war auf dem Punkte, alles ins Feuer zu werfen, allein da ich hoffe, so Gott mir das Leben erhalten wird, diese Geschichte so auszuarbeiten, daß ihm durch sie kein böser Dienst gezeigt werde, und damit sie hier nicht der Gefahr ausgesetzt werde, verlorenzugehen, so übersende ich sie dir, damit du sie dort aufbewahren mögest, und daß sie nicht eher geöffnet werden möge, als bis Ich der König."
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Trotz aller Verbrämungen von bigotter Demut darf man doch wohl mit Recht vermuten, daß gerade das Hochgefühl seiner Erfolge und seiner jetzigen imponierenden Weltstellung es Karl V. nahelegte, sich den ganzen Verlauf seines politischen Lebens bis zu diesem Moment einmal an der Seele vorüberziehen zu lassen und dieses Bild selbst zu fixieren. Er v e r f u h r dabei ganz, wie es die N a t u r einer solchen raschen Konzeption mit sich brachte; das Entferntere hat das Gedächtnis nur in den großen Hauptzügen gegenwärtig; je näher der Gegenwart, um so ausführlicher gestalten sich die Erinnerungen, am ausführlichsten bei dem letzten großen Ereignis, dem er recht eigentlich seine jetzige H ö h e verdankte, bei dem Schmalkaldischen Kriege; hier trat aus frischem Andenken alles einzeln Erlebte wieder vor die Seele des Erzählers; er vergegenwärtigt sich lebhaft den ganzen strategischen Verlauf der beiden Feldzüge an der Donau und an der Elbe, alle einzelnen Chancen werden ihm wieder lebendig, das Lokale ist ihm bis ins kleinste in der Erinnerung. So erhalten wir in der Tat eine Darstellung dieses Krieges von seiner militärischen Seite, die auch sachlich nicht ohne Interesse ist und die unsere Kenntnis wohl um einige bemerkenswerte Züge bereichert. Im übrigen enthalten, wie bemerkt, diese Memoiren nicht eben neue Dinge; in der Tat ist es doch nur der äußerlichste Verlauf dieses Lebens von 1515 bis 1548, der hier zur Darstellung kommt; die inneren Zusammenhänge des Geschehenen werden kaum berührt; Reisen und Feldzüge, von den diplomatischen Verhandlungen nur das Dürftigste, daneben die wichtigsten Ereignisse in der kaiserlichen Familie; wie geflissentlich unterläßt er es, auch ganz naheliegende Aufklärungen zu geben; über die Motive der endlosen Intrigen, die ihm Papst Paul III. spann, geht er mit einem, sei es diskreten oder indifferenten „Gott weiß, in welcher Absicht" hinweg. Noch weniger, daß wir etwa persönliche Bekenntnisse, Enthüllungen geheimer Gedanken und Pläne nach Art eines politischen Testaments hier fänden. Das Charakteristische ist allein, wie die bekannten Tatsachen des Reformationszeitalters sich in dem Munde dessen gestalten, der, einem entgegengesetzten Zuge folgend, so wesentlich dazu beitrug, der Nation die Resultate ihrer Erhebung zu verkümmern. Hier ist wovon er nicht spricht fast ebenso wichtig wie das was er sagt. Eine Bewegung ohnegleichen ging durch die Nation, auf allen Schritten trat sie diesem Kaiser entgegen — wir lesen seine Memoiren, ohne die geringste Empfindung davon zu bekommen; der Verfasser derselben hatte sie selbst nicht. Er schreibt zum Jahre 1520: „In dieser Zeit fingen in Deutschland Luthers Ketzereien und in Spanien die Communitades-Auflehnungen sich zu verbreiten an." Eine Zusammenstellung, die völlig bezeichnend ist; vor dem religiösen Gehalt der deutschen Bewegung hat Karl V. keine Ahnung, oder richtiger, er läßt diesen Gesichtspunkt als völlig indifferent zur Seite; ihm gilt nur der eine, der der Auflehnung gegen die monarchische Autorität, und mit diesem fallen dann die deutsche Reformation wie der Krieg der spanischen Communitades wie jeder A u f r u h r in einer italienischen Provinz in eine Kategorie. Und hier tritt nun jene kühle, superieure, blutlose Weise recht deutlich hervor, die wir an Karl V. kennen; keine Erregung, fast keine Aufwallung des Zorns oder irgendeines moralischen Affekts gegen seine Feinde; der Vertragsbruch Franz' I. nach seiner Gefangenschaft in Madrid wird stolz ignoriert. 9
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Das Leben, die Politik erscheint hier wie ein Schachspiel, ohne jede Mitwirkung sittlicher Mächte: Berechnung ist alles und wehe dem, der falsch rechnet. Nicht daß sie Rebellen wären gegen die kaiserliche Autorität wird gegen die protestantischen Feinde des Kaisers im Reich betont, sondern daß sie ungeschickte Rebellen waren und falsch rechneten; mit völlig kalter objektiver Beobachtung zählt er, sorgsam numerierend, einen nach dem andern von den politischen und militärischen Fehlern auf, welche seine Gegner im schmalkaldischen Kriege begingen; er verhehlt es nicht, daß er diesen Fehlern viel verdankt, t r verschweigt auch eigene Versäumnisse nicht; er ist oder scheint völlig ohne Affekte, höchstens einmal, wo im Beginn des Feldzugs in Süddeutschland der Kaiser in bedenklicher Lage war, treffen wir auf ein erregteres Wort: „Tot oder lebend", erklärt er, „wolle er Kaiser von Deutschland bleiben." Es liegt nahe, daß diese vornehme selbstgewisse Art es tief unter ihrer Würde hält, zu irgendwelchen bewußten. Beschönigungen oder Verherrlichungen der erzählten Taten zu greifen; die Erzählung ist in der Tat in dem was sie gibt der Wahrheit gemäß; Ehrgeiz im einzelnen und kleinen berührt diesen Mann nicht, dies ist eine Sphäre des Ruhms, die er tief unter sich setzt; wenn alle Späteren von den 20 000 Christensklaven erzählen, die Karl V. auf seinem Zug nach Tunis befreite, so berichtet er selbst wohl auch davon, aber er unterläßt es, irgendwelche ruhmredige Zahl hinzuzufügen. Die Gefangennahme des Landgrafen Philipp von Hessen nach der Niederlage des Schmalkaldener Bundes ist vom Standpunkt des Kaisers aus durchaus sachgemäß und richtig erzählt; er hatte in der Tat nach Maß der Sicherheiten, die er dem Landgrafen verheißen, formell das Recht auf seiner Seite, und darauf allein stützt er sich, ohne im übrigen den geringsten Anspruch darauf zu erheben, daß er wie klug auch edel gehandelt habe. „Der Kaiser", erzählt er, „befahl seinem General, den Landgrafen in Haft zu nehmen, was dem genannten Schriftstück (welches dem Landgrafen ,eine ewige Haft' verhieß) gemäß geschehen konnte und mußte, und obwohl damals und seitdem der Landgraf und die Kurfürsten behaupteten, der Kaiser handle anders, indem er der Urkunde eine seinen Wünschen gemäße Auslegung gebe, so kann man doch nicht in Abrede stellen, daß er, was er tat, zu tun befugt war und daß dies der Obereinkunft gemäß war." Allerdings, in der Darstellung der friedlichen Verhältnisse zu seinen Gegnern im Reich nimmt wohl der Kaiser bisweilen den Dingen etwas von der Schärfe, die sie in der Tat hatten, stellt sie in ein Licht, welches einseitig seine Erfolge hervortreten läßt; Konzessionen an die Reichsstände, wie notwendig, wie offenbar sie audi waren, werden nicht gern zugegeben. Im Jahr 1532 war Karl genötigt, mit den Protestanten jene Nürnberger Vereinbarungen zu treffen, worin er sie und ihren Bund einstweilen als zu Recht bestehend anerkannte; er mußte dies, um die unentbehrliche Hilfe der Evangelischen gegen das drohend heranziehende Türkenheer zu erlangen; in den Memoiren wird der Sache ein ganz anderes Licht gegeben: „Der Kaiser", heißt es, „in Verbindung mit dem römischen Könige, seinem Bruder, wandte sich an die Reichsstände, welche sich voll Eifer zeigten in der Erfüllung ihrer Verpflichtungen. Man setzte daher die Religionsangelegenheiten aus wegen Zeitmangels und ließ sie in dem Stande, worin sie sich befanden." Man sieht, es ist nur eine Umkehrung des Kausalnexus, aber darin liegt eben alles; nur vollziehen
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sich allerdings Verhandlungen dieser Art, wo Konzessionen der einen Partei durch Konzessionen der andern erkauft werden, nicht selten in einem solchen Nebeneinander, daß dann unschwer jeder der beiden Teile dem anderen den ersten entgegenkommenden Schritt zuschreiben kann; die spätere geschichtliche Betrachtung vermag leicht den objektiven Zusammenhang zu erkennen, aber es ist nicht bestimmt zu sagen, daß Karl V. bei seiner Erzählung sich geradezu einer bewußten Verdrehung des richtigen Sachverhalts schuldig machte. Es gehört, um noch ein Wort über das Formelle dieser Memoiren hinzuzufügen, in der Tat der Enthusiasmus des ergebenen van Male oder die Freude des jetzigen glücklichen Wiederauffinders und seine belgische Vorliebe für Karl V. dazu, um darin auch ein bedeutendes literarisches Denkmal zu finden und um die „Commentarien" Cäsars in Verbindung mit ihnen zu nennen. Schwerlich kann der Durchgang des Werkes durch eine zweimalige Übersetzung demselben so viel von seinen ursprünglichen Eigenschaften entzogen haben, daß „der Geist und die Anmut" der „wunderbar gelungenen Arbeit", welche van Male bewunderte, so gänzlich dabei abhanden gekommen wären. Wirklich geht doch das stilistische Verdienst nur wenig über das einer sehr trockenen Chronik hinaus; es ist eine dürre Aneinanderreihung von Tatsachen, nur an dem Faden der chronologischen Folge; nirgends eine Wendung zu wärmerem Gestalten und Durchdringen. Man erkennt auch hierin den geistigen Stempel des Verfassers wieder; jener von Anfang bis zu Ende treu innegehaltene Ton trockener teilnahmsloser Kälte, womit das Wichtigste und das Gleichgültigste erzählt wird, höchstens hin und wieder von einem Ausbruch starrer Bigotterie gewürzt, charakterisiert ihn ganz; dieser Ton ist das stilistische Pendant zu dem äußeren persönlichen Auftreten des spezifischen Spaniertums, zu jenem bekannten spanischen „sossiego", welches freilich erst Philipp II. zu vollkommener Virtuosität ausbildete. Jedenfalls dürfen wir es nicht bedauern, daß wir die Originaldarstellung des Kaisers selbst besitzen und nicht die von van Male beabsichtigte Überarbeitung, bei der er, wie gesagt, „eine neue Schreibart" wählen wollte, „in der ich mich bemühen werde, das Eigentümliche von Livius, Sueton und Tacitus zu mischen und zu verschmelzen". Eine Fortsetzung dieser Memoiren für seine letzten Lebensjahre hat Karl V., soviel man sehen kann, nicht geschrieben. Bald wandelten sich die Verhältnisse, und die hohe Befriedigung, womit der Kaiser im Jahre 1548 auf sein scheinbar gelungenes Lebenswerk blicken konnte, machte bald anderen Empfindungen Platz. In derselben Zeit, wo er diese Aufzeichnungen seinem Sohne Philipp nach Spanien schickte, stand bereits der sächsische Herzog Moritz im stillen gerüstet, um raschen Schlags und mit den spanischen Künsten, die er ihm abgelernt, dem Kaiser seine Erfolge doch noch aus der Hand zu winden. In der Einsamkeit von San Yuste dachte Karl V. wohl bisweilen noch daran, seine Memoiren zu Ende zu bringen und auszuarbeiten; es wurde nicht ausgeführt. Dieser Teil derselben, der nun wieder ans Tageslicht gekommen ist, ist an sich, wie man wohl sagen darf, nicht eben von der größten wissenschaftlichen Bedeutsamkeit; indes ist die Person Karls V. selbst doch zu bedeutungsvoll, als daß nicht audi jeder kleine Beitrag zu ihrer Kenntnis von Interesse wäre. 9"'
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Preußische Landtagsmänner Ed. Schmidt-Weißenfels, Preußische Landtagsmänner. Beiträge parlamentarischen Geschichte in Preußen. Breslau 1862.
zur Partei-
und
Die Verhandlungen über die Militärorganisation scheinen einen mächtigen Eindruck auf den Verfasser gemacht zu haben, denn er bewegt sich durchweg in kriegerischen Bildern. Kirchmann tritt in der letzten Session „wieder in die Reihe der Kämpfer; in der Fortschrittspartei sah er manchen Kameraden früherer Tage wieder und in unerschütterlicher Treue noch immer den Degen auf den Feind zückend, und rückte seine Partei in den Kampf, so konnte sie sehen, daß auch er noch einer ihrer bravsten und tüchtigsten Offiziere war". Virchow gehört dagegen anscheinend keinem Truppenteile an; „er gleicht einem Meister der französischen Fechtkunst mit dem Florett in der Hand, sicher im Ausfall und elegant dabei, kaltblütig und meist mit Unfehlbarkeit den Gegner bei jeder Blöße, die er sich gibt, verwundend". Während diese beiden teils im Waffen- teils im Einzelgefecht sich Ruhm erwerben, ist Schulze-Delitzsch zu der Beschäftigung degradiert, „den Schild seiner Partei spiegelblank zu putzen". Nach diesen kleinen Vorstudien in der Waffenlehre werden wir in die Kriegsgeschichte eingeführt und hören von „dem kleinen, fast spielend geführten Krieg der Simsonschen Armee", „deren einstiger Chef die Rechte mit einer kleinen Schar innehält, während sein Korps sich bis nach der Linken hin erstreckt, wo Hoverbeck ziemlich der vorgerückteste Posten ist". Da größere Aufgaben nicht zu lösen sind, beschäftigt sich die Armee einstweilen mit Schießübungen, denn „Hagen hat ins Schwarze getroffen". Aber sind es wirklich auch nur Schießübungen? Gleich hinterher folgt ja: „Die Gegner wichen und wankten nicht." Wo man ins Schwarze trifft, pflegt der einzige Gegner die Scheibe zu sein. Ehe wir diese wichtige Frage zu Ende gedacht haben, werden wir durch Schlagen des Generalmarsches aus unseren Träumen aufgestört, denn die Grabowsche Armee macht „eine Frontveränderung und erwartet mit Spannung vorläufig prüfend die Manöver ihrer Bundesgenossin, der Fortschrittspartei". Chamade! „Grabow legt sein Kommando nieder, die Armee der Liberalen zerfällt vollständig, vergeblich sucht Vincke die alten Reihen wieder herzustellen. Die meisten gingen zur Bockum-Dolffsschen Armee über, Vincke bildet ein eigenes Freikorps und Grabow tritt aus Reih' und Gied." Kaum haben wir uns aber mit Mühe und Not in die Feinheiten der modernen Kriegskunst hineingearbeitet, als wir uns plötzlich um Jahrhunderte zurückgeführt finden, denn Vincke „als heiliger Georg" ist auf seiner Ritterburg: „Das alte Schlachtschwert, kaum in Ruhe gekommen, wurde wieder umgeschnallt, der Koller angelegt, Harnisch und Sporen dazu, und die Stute wieder gesattelt." Aber er ist „keine Natur, welche eine Armee führen kann. Er führt seine Armee planlos kreuz und quer, organisiert Schlachten gegen Vorposten und löst das ganze Heer in Plänkeleien auf. Handelt es sich wirklich um eine Entscheidungsschlacht, so bricht er plötzlich das Gefecht ab und geht in das Lager zurück. Resultate seiner Kriegsleitung, Zeichen einer Generalstabstätigkeit existieren wenig."
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Diese Blütensammlung könnten wir mit Leichtigkeit auf das Dreifache vermehren. Da Preußen nun einmal ein Militärstaat ist und die kleinsten Kinder schon das Soldatspielen jedem anderen Vergnügen vorziehen, so möchte man dieselbe Vorliebe einem vorzugsweise auf den kindlichen Verstand berechneten Werke verzeihen. Aber unverzeihlich ist es, daß man, wie Wallenstein von Questenberg, sagen muß: „Über der Beschreibung vergaß ich den ganzen Krieg." Denn ein Geschreibsel von gleicher Ungenauigkeit und Leichtfertigkeit hat selten die Buchdruckerpresse verlassen, und wenn ein Rezensionsexemplar davon dem seligen Gutenberg im Himmel zugestellt werden sollte, so würde er voll Entrüstung ausrufen: H ä t t e ich vorausgewußt, d a ß meine Erfindung dazu mißbraucht werden würde, die „Preußischen Landtagsmänner" von Schmidt-Weißenfels zu verbreiten — ich hätte die Buchdruckerkunst nicht erfunden. Der Wert eines solchen Werkes kann selbstredend nur in der Genauigkeit der Beobachtung und Darstellung bestehen; in dieser Beziehung ist Rudolph H a y m ein Musterschriftsteller geworden. Walter Rogge hat Skizzen geliefert, die sich zwar im Karikieren gefallen, die aber das besitzen, was jeder Karikatur vorausgehen muß, das schlagende Erfassen der Persönlichkeit. Bei Schmidt finden wir anstatt dessen einige aus dem Konversationslexikon gezogene biographische Notizen und einige allgemeine Phrasen, die man von einer Individualität auf die andere beliebig übertragen kann, ohne daß der Tausch merklich wird. Es muß jemand schon Heinrich Behrends „männlichen Vollbart" besitzen, um ein besonderes Kennzeichen in sein Signalement zu erhalten. Wir geben einige Beispiele der aufgestellten tatsächlich falschen Behauptungen, mit dem Anerbieten, dieselben beträchtlich zu vermehren. — Die Einführung des mündlich-öffentlichen Gerichtsverfahrens in Bagatellsachen in Preußen wird in das Jahr 1833 verlegt, während die Verordnung vom 1. Juni 1833 nicht auf Bagatellsachen beschränkt war, andererseits aber nicht entfernt daran dachte, Öffentlichkeit einzuführen. Das nächste Motiv für Kirchmann, einen fünfjährigen Urlaub zu fordern, soll gewesen sein, daß ihm bei Besetzung der Präsidentenstelle ein untergeordneter R a t vorgezogen wurde, während der Präsident Wentzel erst starb, als Kirchmann bereits mehrere Jahre beurlaubt war. Sybel soll seiner Professur in München enthoben worden sein und infolgedessen „aus Dankbarkeit" eine Anstellung in Bonn gefunden haben, während seine Berufung nach Bonn ihm erst Veranlassung gab, in München seinen Abschied zu fordern. Die Twesten zuerkannte dreimonatige Festungshaft wird von H e r r n Schmidt in eine sechsmonatige verlängert, dagegen schlägt der Justizminister auf Twestens großmütige Veranlassung eine gegen Twesten eingeleitete Disziplinaruntersuchung nieder, wozu er ohne Herrn Schmidts Erlaubnis nicht das Recht gehabt hätte. Was aber sagt der aufmerksame Zeitungsleser zu der folgenden, alle historische Wahrheit auf den Kopf stellenden Behauptung? Bei Beginn der Neuen Aera Schloß Vincke sich der Simsonschen Partei an, trat aber bald, der stummen Zustimmungsrolle müde, aus derselben aus, um ihr als selbständiger Parteigänger zur Seite zu bleiben. „Von Tag zu Tag strömten die Truppen Simsons, überdrüssig der Ruhe, zu welcher sie dieser
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verurteilte, zu der Fahne des energischen Freiherrn und bald war die ganze Armee unter seinem Kommando. In der Session von 1860 folgten ihm 150 Mann blindlings." Die Wahrheit ist bekanntlich, daß Vincke und Simson, bis letzterer zum Präsidenten erwählt wurde, nicht aufhörten, derselben Partei anzugehören. Wo Unrichtigkeiten und Ungenauigkeiten nicht ausreichen, um einem verständigen Leser Verdruß zu bereiten, greift der Verfasser ohne Bedenken zum vollendeten Gallimathias. Man höre die Schilderung Waldecks: „Die schlenkernde Figur richtet sich elastisch empor, stolz, getragen von einem imponierenden Etwas, welches auch das faltenreiche Gesicht mit dem Ausdruck des Fuchsartigen wunderbar überglänzt", oder von Virchows Reden: „Nur selten, daß die leichten Wellen sich kräuseln oder durch einen Strom seelischer Empfindungen einen Strudel bilden, dessen Spitze bis in die Tiefe der Gefühle dringt", oder man denke, daß SauckenJulienfelde „einer unsrer Whigs von reinem Grunde" ist. Bei Besprechung der wissenschaftlichen Tätigkeit Virchows wird die Zelle als die längst geahnte Grundform der Krankheiten entdeckt und „der erstaunten medizinischen Republik" verkündet, während die Zelle die Grundform des organischen Lebens ist; und das System sozialer Selbsthilfe, welches Schulze-Delitzsch in das Leben gerufen, wird als eine Abart des französischen Sozialismus bezeichnet, zu welchem es den direktesten Gegensatz bildet. Wie konnte eine tüchtige preußische Zeitung, bei der sicherlich jeder Druckerjunge über preußische Verhältnisse besser unterrichtet ist als der Verfasser dieser Schrift, sie in ihr Feuilleton aufnehmen? Wie konnte eine geachtete Verlagsfirma sie mit ihrem Namen decken?
Der Mensch und die Zahlen Georg Friedrich Kolb, Handbuch der vergleichenden Statistik der Völkerzustands- und Staatenkunde. Dritte umgearbeitete Auflage, Leipzig 1862; Grundriß der Statistik der Völkerzustands- und Staatenkunde. Leipzig 1862. Als Mephisto dem Schüler über jede der vier Fakultäten ein kräftig Wörtchen gesagt hatte, war ihre Unterhaltung zu Ende. Ein wissenschaftliches Leben außerhalb der Universitäten, die man, wie ein regelmäßig und wirtschaftlich bearbeitetes Feld, in vier Schläge eingeteilt hatte, gab es zu jener Zeit in Deutschland noch nicht. Seitdem sind die Wissenschaften sozusagen wild gewachsen; viele Disziplinen sind neu entstanden, andere, die damals als untergeordnete Hilfswissenschaften ein kümmerliches Dasein fristeten, haben sich zu ungeahnter Wichtigkeit erhoben. Wir übergehen hier das Gebiet der Naturwissenschaften, auf welchem die Chemie, die vergleichende Physiologie usw. uns willkommene Beweise für unsere Behauptung
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liefern würden und weisen darauf hin, daß in dem Wissenskreise, welcher das geistige Leben des Menschen umfaßt, genau dieselbe Erscheinung stattgefunden hat. Die Geschichte als Wissenschaft, als ein Gegenstand, den um seiner selbst willen der menschliche Geist forschend zu verstehen sich bemüht, ist, wenige glänzende aber vereinzelte Erscheinungen abgerechnet, in Deutschland etwa auf die Wirksamkeit Spittlers zurückzuführen. Die Erdkunde, früher eine geistlose Zusammenstellung trockener Daten, wurde durch Ritter zu einem System tiefer und anregender Einsichten erhoben; die Altertumswissenschaft, als eine lebensvolle und durchgeistigte Disziplin, hat vor Winckelmann und Heyne nicht bestanden, da ihre genialsten Vorgänger niemals durch das Wort zur Sache hindurchgedrungen sind; die Volkswirtschaft, erst in der zweiten H ä l f t e des vorigen Jahrhunderts auf englischem Boden entstanden, als Adam Smith die Aufmerksamkeit auf viele Vorgänge lenkte, die man bis dahin vornehm und gleichgültig übersehen hatte, fand auch in Deutschland sorgfältige Pflege. U n d auf allen unangebauten Gebieten wurde eine Fülle wichtiger Tatsachen an das Licht geschafft; wie jungfräuliches Feld an Reichtum der Ernten das durch lange Kultur erschöpfte bei weitem überbietet, so schienen alle die neubegründeten Disziplinen an Zahl und Wert der gewonnenen Resultate die ehrwürdigen, altbegründeten Fakultätswissenschaften in den Sdiatten stellen zu wollen. Faßt man die Summe der positiven Kenntnisse zusammen, um welche während der letzten achtzig Jahre das Menschengeschlecht bereichert worden ist, so wiegt dieser Zeitraum viele Jahrhunderte aus früheren Epochen auf; er beschämt das Zeitalter der wissenschaftlichen Blüte Griechenlands wie das der Entdeckungen und der Reformation. Zu den neubegründeten Wissenschaften und zwar zu denen, welche einen gewaltigen Aufschwung genommen haben, gehört die Statistik. U n d welche Wissenschaft! Schlagt eins ihrer Bücher auf, und ihr findet anstatt der Worte, der trüglichen Ausdrucksmittel f ü r zweifelhafte Gedanken, nichts als Zahlen, den unzweideutigen Ausdruck unbestreitbarer Tatsachen. Mit derselben Sicherheit, mit denselben Mitteln verfährt sie, wie die Mathematik, die zuverlässigste aller Wissenschaften, aber sie beschäftigt sich nicht, wie die Mathematik, mit einem dem Menschen gleichgültigen χ und y, sondern mit dem, was ihm am wichtigsten und heilsamsten ist, mit seinem Vermögen, seinen Bedürfnissen und den Mitteln zu ihrer Befriedigung, seiner intellektuellen und seiner moralischen Entwicklung. Die Zahlen schmeicheln sich nicht zutraulich an den Menschen an, wie Verse oder theologische Spekulationen, aber wer sie bezwungen, sich zu eigen gemacht hat, dem dienen sie treu und machen ihn unbezwingbar. In jeder Disputation wird der glückliche Gebrauch statistischer Zahlen den Sieg entscheiden. Zahlen beweisen! Es ist in der Tat schade, daß es noch kein Lehrbuch, kein System der Statistik gab, als Mephistopheles seine Unterredung mit denn Schüler hatte. Während er ihm jetzt den ironischen R a t gibt: Im Ganzen haltet Euch an Worte, So geht ihr durch die sichre Pforte Zum Tempel der Gewißheit ein.
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so hätte sein ernstlich gemeinter Rat sonst vielleicht gelautet: Im Ganzen haltet Euch an Zahlen, So geht ihr durch des Zweifels Qualen Zur Ruhe der Gewißheit ein. Das Interesse für statistische Aufnahmen und Daten ist jetzt ein allgemeines; kein politischer Akt, keine bedeutende Privatunternehmung tritt in das Leben, ohne durch die Statistik vorbereitet zu sein, und man betrachtet eine solche Vorbereitung als etwas selbstverständlich Notwendiges. Dem war nicht immer so, dem war vor allem im vorigen Jahrhundert nicht so. Die Gesetzgeber und Politiker des vorigen Jahrhunderts glichen, um von einem berühmten Philosophen dies Bild zu entlehnen, den Spinnen, die aus sich heraus ihre Werke schufen, während die heutigen, Ameisen gleich, unendliches Material zusammentragen. Welcher Gegensatz in den wissenschaftlichen Interessen der beiden Zeiträume! Damals war das interessanteste Problem die Unsterblichkeit und ihre Beweise; heute fragt man mehr nach der Sterblichkeit, ihren Tabellen und Wahrscheinlichkeitsziffern. Damals war es das einzelne Ich, mit der Überschwenglichkeit seiner Gefühle, seiner Selbstvergötterung, um welches die Welt sich drehte; heute ist der einzelne zu einem gleichgültigen Exemplar der Gattung hinabgesunken, das in einer Reihe ungeheurer Zahlen überall nur eine Eins bildet. Über einen Selbstmord aus unglücklicher Liebe wurden damals die eingehendsten psychologischen Untersuchungen angestellt, um die Ursachen dieses Ereignisses zu ermitteln; heute berechnet man, unter wie vielen tausend Menschen sich immer einer findet, der aus unglücklicher Liebe seinem Leben ein Ende macht, nennt das gewonnene Fazit ein Gesetz, und glaubt, so die Tatsache erledigt zu haben. So bestimmen zwei Charakterzüge die moderne Wissenschaft: ein unendlicher Reichtum an Tatsachen und das Bestreben, die kreatürliche Seite des Menschen der sittlichen, die Notwendigkeit der Freiheit überzuordnen. Eine ungeheure Perspektive eröffnet sich hier; alle die gewonnenen Tatsachen müssen geordnet, zu Gesetzen erhoben werden, und über allen Gesetzen ist dennoch die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen unangetastet zu erhalten. Eine Aufgabe, die durch ihre Größe erheben, aber auch niederdrücken kann. Kein Wunder, wenn schwache und wahngläubige Gemüter, an der Lösung der Aufgabe verzweifelnd, den Angstruf ausstoßen, die Wissenschaft müsse umkehren, wenn sie die ganze politische Wissenschaft, die man in eine Naturgeschichte des Menschen zu verwandeln sich anschickt, von diesem Zwange befreien, und sie lieber wiederum unter die Vormundschaft der Theologie und der scholastischen Philosophie, von der sie sich erst seit kurzem befreit hat, stellen wollen. Die Statistik vor allem ist eine Wissenschaft, die in ihrem jetzigen Zustande leicht dazu verleitet, die Willensfreiheit, genauer ausgedrückt: die sittliche Selbstbestimmung zu leugnen, und sie vor allem wird daher von jenem theologischen Bannstrahl getroffen. So gewiß es nun ist, daß die Statistik eine in den Anfängen der Entwicklung begriffene Wissenschaft ist und daß jedes halbe Wissen zu Irrtümern
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verleitet, so gewiß ist es, daß aus den Ergebnissen der heutigen Statistik manche irrige Folgen, manche Irrlehren abgeleitet werden. Aber der Weg zur Wahrheit und Klarheit liegt hier, wie überall, nicht in der Umkehr, sondern im Vorwärtsstreben. Die einseitig volkswirtschaftliche und einseitig statistische Betrachtung sozialer und politischer Institutionen hat zweifellos ihre Mängel und verführt zu schweren Irrtümern, wie umgekehrt die der statistischen und national-ökonomischen Erkenntnis baren Theorien früherer Jahrhunderte gleichfalls zu schweren Irrtümern verführt haben. Allein je weiter jede einzelne Wissenschaft f ü r sich vordringt, je näher kommt sie dem gemeinsamen Ziele aller Wissenschaften, der Wahrheit. Werke, durch welche statistische Kenntnisse erweitert und ausgebreitet werden, verdienen darum ehrende Anerkennung. Zu ihnen zählen wir die beiden oben aufgeführten Schriften von Kolb. Das Handbuch, welches „ f ü r den allgemeinen praktischen Gebrauch" bestimmt ist, hat sich als hierzu geeignet dadurch bewährt, d a ß es wenige Jahre nach seinem ersten Erscheinen bereits in dritter Auflage vorliegt. Die Schwierigkeiten f ü r ein solches Werk liegen, wie der Verfasser in der Vorrede richtig bemerkt, in der Überfülle des Materials. Es verursacht weit mehr Mühe, dasselbe zu beschränken, als mit ihm eine vier- oder sechsfache Bogenzahl zu füllen. Die Auswahl des Stoffes ist nun im ganzen vortrefflich gelungen. Die Militär-, Finanzund Handelsverhältnisse der Staaten sind vorzugsweise ins Auge gefaßt und nicht auf solche Angaben beschränkt, welche sich leicht in Ziffern fassen lassen, sondern auch mit Übersichten über die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen versehen. Zeitungsleser, die sich über den Zustand der Länder, welche sie interessieren, näher unterrichten wollen, werden das Buch immer mit Nutzen nachschlagen. Die große Korrektheit ist sehr rühmlich; kleine Irrtümer, wenn zum Beispiel die durch die preußische Novelle von 1862 vorgeschlagenen Änderungen in der Reserveund Landwehrpflicht als geltendes Recht betrachtet werden, sind wohl bei derartigen Werken kaum zu vermeiden. Ein schwerwiegender Fehler scheint es uns, daß der Verfasser seine bekannte Polemik f ü r Aufhebung unserer Heereseinrichtungen zugunsten schweizerischer Volkswehren auch in dieses Werk übertragen hat. Wir wollen an dieser Stelle mit dem Verfasser über den Inhalt seiner Ansicht nicht rechten, aber man kann nicht zwei Zwecke nebeneinander verfolgen, die Verbreitung statistischer Kenntnisse und die Verteidigung einer paradoxen Idee. Der „Grundriß" ist ein kurzer Auszug aus dem Handbuche, wie letzteres übersichtlich und gut geordnet und durch seinen wohlfeilen Preis allen denen empfehlenswert, denen das Handbuch wegen seines Umfanges nicht zugänglich sein sollte. Eins von beiden Werken sollte aber in der Tat im Besitz eines jeden sein, der an staatlichen und wirtschaftlichen Dingen Anteil nimmt.
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Eine Politik der Zukunft Constantin
Frantz, Eine Politik der Zukunft. Kritik aller Parteien.
Berlin
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Worte und Namen nennt Baco von Verulam Idole, leere Trugbilder, weil sie nur wesenlose Vorstellungen bezeichnen, weil sie uns nicht sagen, was die Dinge sind, sondern wie sie im gewöhnlichen Verkehr vorgestellt werden. Über die Wortweisheit hinaus, forderte Baco, sollten wir zur wirklichen Erkenntnis der Dinge vorschreiten. So sehr der Verfasser des vorliegenden Werkes gegen alle Ideologie ankämpft, so wenig folgt er dennoch selbst den Vorschriften der baconischen Erfahrungsphilosophie, denn selten ist wohl ein Buch erschienen, in welchem gegen die obige Regel in so weitem Umfange und mit so bewußter Absicht verstoßen ist als in dem vorliegenden. Nicht eine Kritik der Parteien ist es, sondern eine Kritik der Parteibezeichnungen. Mit den Namen der verschiedenen Parteien werden die Betrachtungen begonnen und von dort auf das Wesen und die Bestrebungen derselben eingegangen. Konservieren heißt erhalten; die Erhaltung des status quo muß daher das Α und Ο für die konservative Partei sein, denn sonst — würde sie ihrem Namen untreu. Der Liberalismus leitet seinen Namen von der Freiheit her; in Ermangelung eines positiven Inhalts der Freiheit ist sein Prinzip also nur die Ungebundenheit und da Religion Gebundenheit bezeichnet, muß der Liberalismus ohne Religion sein. Der Name des Konstitutionalismus ist zurückzuführen auf „Konstitution", also auf eine bestimmte Form der Regierung, daher ist sein Prinzip ein nur formelles und sein Wesen der Formalismus. Die Demokratie kann auch heute noch nichts anderes wollen als zur Zeit der athenischen Republik, nämlich die Macht des Demos, der Volksmenge, denn ihr Name zeigt ihr Wesen an. Das System der Freihändler resümiert sich im Begriffe des freien Handels, d.h. Warenverkehrs (obwohl freilich Freihandel nur eine mangelhafte Übersetzung von free trade ist, welches Wort einen viel weiteren Sinn hat), und endlich muß sich audi das Wesen der Kirche aus den Worten Ekklesia und Kommunion herleiten lassen. Daß es auf diesem Wege der Wortweisheit nicht gelingen kann, das Wesen historisch gewordener und entwickelter Parteien zu erkennen, darf nicht wundernehmen; was eine geschichtliche Existenz gewonnen hat, läßt sich nur auf dem Wege geschichtlicher Betrachtung und nicht durch mehr oder weniger geistreiche Wortspiele erforschen. Die Kritik der wirklich vorhandenen Parteien ist daher dem Verfasser, trotz vieler feinen Bemerkungen im einzelnen, im ganzen völlig mißlungen. Dagegen ist ihm etwas gelungen, was freilich nur auf dem von ihm betretenen Wege bewerkstelligt werden konnte: er hat die Kritik einer Partei geschrieben, welche gar nicht vorhanden ist, nichtsdestoweniger aber den Vorzug vor allen vorhandenen Parteien verdient. Diese Partei ist die des Föderalismus; den Namen und das Prinzip für sie konnte der Verfasser entdecken; einen Anhänger derselben, einen Föderalisten, wird er nur entdecken können, wenn er sich vor den Spiegel stellt. Denn wohin er audi seine Blicke wende, ob hier in Preußen auf die Herren Rodbertus, Bucher, Fischel, ob
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in Süddeutschland auf die Herren Moritz Mohl und von Lerchenfeld, er würde überall bald die Überzeugung gewinnen, daß er für einzelne praktische Resultate, zum Beispiel für seine Ansichten in betreif der Bundesreform, aber nicht für die zugrundeliegenden tieferen Prinzipien Anhänger gewinnen kann. „Föderalismus!" Dieser schöne Name ist alles, was von der neu zu bildenden Partei einstweilen vorhanden ist; aus dem Namen soll das Prinzip und die Partei selbst erwachsen. Das Wort Föderalismus leitet der Verfasser nämlich nicht her von dem Zeitwort foedari, sich blamieren, sondern von dem Hauptworte foedus, Bund, Bündnis. Dieses Wort ist ihm an sich etwas besonders heiliges und teures, gleichviel in welcher Zusammensetzung es gebraucht werde, ob es Deutscher Bund, ob Treubund, ob Turnerbund heiße; ja er nimmt sogar eine Solidarität aller bündlerischen Interessen an und versichert nicht nur mit vollem Ernste, sondern auch mit einem gewissen elegischen Klang des Ausdrucks, wenn erst der Deutsche Bund ein Ende genommen, so werde es auch mit allen Turner- und Schützenbünden bald zu Ende sein, denn nur in jenem und durch ihn sei die Existenz dieser möglich. Das Prinzip des Bundes, der Verbündung beherrscht nach dem Verfasser die gesamte Ethik. Derselbe stamme aus dem Völkerrechte, und wie überall das Niedere aus dem Höheren begriffen werden müsse, so sei jenes Prinzip aus dem Völkerrechte, als dem höchsten Gebiete der Rechtswissenschaft, auf das Bundesrecht, das innere Staatsrecht, das Kirchenrecht, die Wirtschaftslehre und auf das Privatrecht zu übertragen. Wenn wir bei unserem Bestreben, die logischen Deduktionen des Verfassers auf einen anschaulicheren Ausdruck zurückzuführen, nicht ganz unglücklich gewesen sind, so ist der Ideengang desselben folgender: Die Menschheit bildet nicht ein zentralisiertes Ganzes; sie besteht aus einer Anzahl von Staaten, von Völkern, welche selbständig voneinander sind, aber doch an demselben großen Ziele gemeinschaftlich arbeiten. Dasjenige Volk, derjenige Staat wird der vollkommenste sein, dem es gelungen ist, der Mensdiheit ähnlich zu werden. Ein zentralisierter Staat ist daher etwas Unvollkommenes im Vergleich mit einem solchen, der aus Verbänden besteht, welche gleichfalls unabhängig voneinander an demselben Ziele arbeiten. Die Unfähigkeit der Deutschen, sich zu einem Einheitsstaat zusammenzuschließen, ist daher kein Mangel, sondern ein Vorzug; sie zwingt sie, bei der vollendetsten Verfassungsform, der föderativen, stehen zu bleiben. Daß dem französischen Staate (von England ist in eingehender Weise nicht die Rede) die Einheitsform, die Zentralisation das Natürliche ist, zeigt gerade eine Unvollkommenheit des französischen Stammes an. Aber nicht allein der Föderalismus steht der Zentralisation feindlich gegenüber, sondern auch der Individualismus. Wie der Zug der Zeit auf dem Gebiete der Politik auf Einheit geht, so geht er auf dem Gebiete der Wirtschaft auf Individualisierung. Er bestrebt sich, die Arbeitskraft jedes einzelnen isoliert zu entwickeln. Diejenige Wirtschaft aber wird die vollendetste sein, welche die Arbeitskräfte aller zu einem großen Ziel vereinigt. Nicht minder dürfen Politik, Wirtschaft und Kirche nicht voneinander getrennt werden, sondern sind zwar voneinander zu unterscheiden, aber doch als konföderierte Gebiete zu betrachten.
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So haben wir den Grundgedanken des Verfassers verstanden. Wir haben uns nicht seiner eigenen Worte bedient, weil wir uns durch eine Umarbeitung seiner Darstellung die Gewißheit verschaffen wollten, daß wir mit seinen Abstraktionen die richtige Vorstellung verbunden haben. Sollten wir in einzelnen Punkten geirrt haben — unseren guten Willen, richtig zu verstehen, können wir versichern. Wir kritisieren das Dogma des Verfassers nicht, wir können es nicht kritisieren. Denn obwohl wir der konstitutionellen Partei angehören und nach der Versicherung des Verfassers jeder Konstitutionelle ein unverbesserlicher Doktrinär ist, so haben wir, mit Vergunst des Herrn Constantin Frantz, einen unüberwindlichen Abscheu gegen alle politischen Doktrinen. Wir verhalten uns skeptisch gegen alle transzendentalen Voraussetzungen, und ohne solche läßt sich ein politisches Dogma weder aufstellen noch kritisieren. Wir sind stets bemüht, das Wesen und die Bedürfnisse des Staates historisch aus den gegebenen Tatsachen zu verstehen. Wir müssen darauf verzichten, die Doktrin des Verfassers zu beurteilen, aber wir können die Resultate prüfen, zu denen er gelangt. Durchdringt das Prinzip des Föderalismus alle Gebiete des Rechts, so muß es auch ein föderalistisches Strafrecht, einen föderalistischen Prozeß geben. Dieses Postulat verschweigt Frantz; er ist also auch nicht bemüht, es zu erfüllen. Ein föderalistisches Privatrecht postuliert er allerdings, aber er belehrt uns nicht darüber, wie dasselbe beschaffen sein soll. In Beziehung auf das Kirchenrecht, das Verhältnis der Kirche zum Staat, stellt er einige Sätze auf, allein dieselben sind nicht neu und wir könnten uns mit denselben gar leicht befreunden. Wir können daher dieselben nicht als Ausfluß seines föderalistischen Grundprinzips betrachten. Einen weiteren Anlauf nimmt der Verfasser auf dem Gebiete der Wirtschaftslehre. Er bekennt sich zwar hier als den Gegner einer feudalen Agrarverfassung, des Zunftzwanges, des Schutzzolles, aber er greift nicht weniger die Theorie der Handels- und Verkehrsfreiheit an. Er stellt den großen Satz auf, daß nicht die Teilung der Arbeit das produktive, das belebende Element des wirtschaftlichen Verkehrs sei, sondern die Verbindung der Arbeit. Jene sei nur die negative Voraussetzung, diese die positive Aufgabe. Diesen Satz verkennen die Freihändler. Allerdings wird diese Behauptung die Nationalökonomen in Erstaunen setzen. Aber dieses Erstaunen wird sich daran knüpfen, nicht daß der Satz für wahr, sondern daß er für neu ausgegeben wird. Die Teilung der Arbeit an sich ist freilich etwas Unproduktives; das Belebende besteht darin, daß die einzelnen produktiven Kräfte sich vereinigen zu der großen wirtschaftlichen Gesamtarbeit der Menschheit. Die Nationalökonomie behauptet nun aber, daß allein die ungehemmte Freiheit des Verkehrs nicht nur die zweckmäßigste Teilung, sondern auch die zweckmäßigste Verbindung der arbeitenden Kräfte hervorruft, und sie stützt sich dabei nicht auf abstrakte Theorien, sondern auf historische und statistische Erfahrungen. Sie be^ hauptet, daß jedes positive Eingreifen in diese Freiheit eine unvollkommene und darum unzweckmäßige Verbindung hervorruft. Eine Widerlegung dieser Erfahrungen hat der Verfasser nicht einmal versucht. In betreff des inneren Staatsrechts stützt sich Frantz auf die Autorität des verkannten großen Propheten Vollgraff und verlangt in Ubereinstimmung mit dem-
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selben, daß das allgemeine Staatsbürgertum und die Einheit des Staates aufgehen in das Zusammenwirken der kooperativen Gestaltungen. Wir setzen Autorität gegen Autorität und meinen, daß die Arbeiten Gneists Vollgraff widerlegt haben, ohne ihn zu nennen. Gneist hat bewiesen, daß die Staatseinheit auseinandergerissen wird, wenn man soziale Gruppen in politische Körperschaften verwandelt. Versteht aber Frantz unter seinen Korporationen nicht die sozialen Gruppen, die Stände, Berufszweige usw., sondern die kommunalen Gestaltungen, so treffen wir mit ihm wiederum zusammen in dem Verlangen nach Selfgovernment der Gemeinden und Kreise Auf dem Gebiete des Bundesrechts aber erweist sich der Föderalismus allerdings als fruchtbar. Er verlangt die Aufrechterhaltung des zu reformierenden Deutschen Bundes. Tantae molis erat Romanam condere urbem! Um die Bundesverfassung zu retten, müssen alle bestehenden Staatstheorien umgeworfen, alle bestehenden Parteien kritisch vernichtet, und überdies der Großmachtstellung von Preußen und Österreich ein Ende gemacht werden. Weitere Resultate hat der Föderalismus nicht. Wir sind sehr gern bereit, uns zur föderalistischen Partei zu bekehren, oder aber sie zu bekämpfen, sobald sie sich gebildet und bestimmte erkennbare und zusammenhängende Ziele aufgestellt hat. Bis dahin aber geht es uns mit der Politik der Zukunft wie mit der Musik der Zukunft! Wir gönnen ihr ihre Entwicklung — aber wir wollen einstweilen nichts davon hören.
Deutsche Geschichte Ludwig Gründung
Häusser, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur des Deutschen Bundes. 1. Band, 3. Auflage, Berlin 1863. I.
Unter den Meisterwerken, durch welche die großen Bewegungen der neueren Zeit und insbesondere unserer nationalen Geschicke uns erst nach ihrem tieferen Zusammenhang ins Bewußtsein gebracht sind, nimmt Häussers „Deutsche Geschichte" einen so anerkannten Platz ein, daß wir auf die Zustimmung unserer Leser rechnen, wenn wir sie auf die bedeutenden Bereicherungen aufmerksam machen, welche das Werk in der jetzt erscheinenden dritten Auflage erfahren hat. Häusser hat in derselben seine bisherigen Forschungen durch die Einsicht in das preußische geheime Staatsarchiv ergänzt. Zwar hat er keine Veranlassung gehabt, seine frühere Darstellung in ihren wesentlichen Grundzügen zu verändern, aber das neu hinzutretende Material war doch erheblich genug, um die meisten Abschnitte des Werkes zu ergänzen, einzelne fast umzugestalten und an den wichtigsten Punkten ein ausgeführteres Bild von dem Verlauf der Dinge zu geben.
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Gleich im ersten Band, auf den wir uns für dieses Mal beschränken, ist die preußische Politik bald nach dem Reichenbacher Vertrag vollständiger dargelegt als bisher. Es war dies bekanntlich die Zeit, wo das Friederizianische System des Grafen Hertzberg mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurde und die Allianz mit Österreich zur Bekämpfung der französischen Revolution allmählich heranreifte. Der erste Schritt auf diesem Wege war eben durch jenen Vertrag geschehen. Preußen verzichtete in demselben auf den Plan, durch bewaffnete Vermittlung zwischen der Türkei und den Kaiserhöfen sich Thorn und Danzig zu verschaffen und begnügte sich mit dem Versprechen Österreichs, in den Friedensverhandlungen zu Szistowa den Status quo vor dem Krieg wiederherzustellen. Die mächtige Stellung, die es an der Spitze der Seemächte sowie Schwedens und Polens und gestützt auf das Einverständnis mit den Verfassungsbewegungen der Belgier und Ungarn Österreich gegenüber eingenommen hatte, war nun verlorengegangen. Aber obwohl es bald die bitteren Früchte seiner Nachgiebigkeit erntete, indem Kaiser Leopold weder in Belgien noch zu Szistowa die übernommenen Verpflichtungen erfüllte, so trieben doch die Ereignisse in Frankreich allmählich bis zu dem Stadium der Gemeinschaft gegen die Revolution, welches endlich in dem Allianzvertrag vom 7. Februar 1792 seinen Ausdruck fand. Durch Häusser besitzen wir nunmehr eine detailliertere Darlegung dieser Periode des Übergangs. Wir können als das wesentliche Ergebnis derselben betrachten, daß die preußische Politik doch keineswegs so unvermittelt und kopfüber in den Kreuzzug gegen Frankreich stürzte, als es nach anderen Darstellungen den Anschein gewonnen hat; daß auch hier verschiedene Strömungen sich längere Zeit bekämpften, bis endlich unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse die Theorie der konservativen Interessen über den realistischen Geist der nachwirkenden Friederizianischen Traditionen den Sieg gewann. Wir verfolgen diese Verhältnisse noch etwas näher. Kaiser Leopold hatte teils durch das Vordringen der russischen Politik in der Türkei wohl im Ernst besorgt gemacht, teils durch die französischen Verhältnisse bestimmt, im Frühjahr 1791 in Berlin zu erkennen gegeben, daß er eine innigere Verbindung mit Preußen wünsche. Hierauf war Bischoffwerder zu ihm gesandt, um die Verständigung zu fördern, welche durch die verzögerte Ausführung des Reichenbacher Vertrags unterbrochen war. Eine der Folgen dieser Reise war der völlige Sturz Hertzbergs. Auf Leopolds erneuten Wunsch nach einer Allianz wurde Bischoffwerder zum zweitenmal zum Kaiser geschickt; er sollte unter der Voraussetzung, daß der Abschluß in Szistowa erfolge, ein Defensivbündnis ihm antragen. In betreff dieser Bedingung vertröstete nun Leopold den Unterhändler mit leeren Versicherungen. Es war klar, daß er im Einklang mit den Russen danach strebte, der Türkei noch weitere Zugeständnisse abzupressen. Dagegen fand er den Vorschlag Bischoffwerders, in Pillnitz mit dem König sich zusammenzufinden, vortrefflich. Dort könne man auch die französischen Angelegenheiten besprechen, die ein gemeinsames Einverständnis in allen Fällen verlangten. Die Franzosen, meinte der Kaiser, breiteten den Aufruhr in andere Länder aus, darum wünsche er eine Zusammenkunft mit dem Könige, damit man das Übel mit der Wurzel ausrotte. In anderen Unterredungen mit Bischoffwerder
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äußerte er dann wieder vorsichtiger: man müsse die französischen Dinge reifen lassen, bis die N a t i o n selbst das Bedürfnis einer Verfassungsänderung fühle. Sollte wegen der königlichen Familie eine Einmischung nötig werden, so sei es erforderlich, daß zu dem Ende sich alle Mächte verständigten. Man kann nicht behaupten, sagt Häusser, daß die preußischen Staatsmänner die Sache leicht nahmen, als so zum erstenmal die Frage einer Einmischung in Frankreich näher an sie herantrat. Durch die sanguinischen Berichte Bischoffwerders war ihr Mißtrauen gegen Österreich keineswegs beschwichtigt. Auch der König meinte mit Rücksicht auf die Verzögerung des türkischen Friedens: die Worte wären wohl gut, aber man müsse Taten sehen. Ich bin überzeugt, äußerte der Minister Alvensleben, daß der Kaiser sein Spiel mit uns treiben will, und daß es stets sein Plan war, uns in die französischen Händel zu verwickeln. Diese Überzeugung, daß Leopold nichts mehr scheue, als sich in jene Angelegenheiten einzumischen, war in dem preußischen Ministerium und bei den Gesandtschaften ebenso verbreitet wie die Abneigung gegen eine Einmischung ihres Landes. Graf Goltz in Paris erhielt den Auftrag zu erklären, daß auch nicht ein Schatten eines Einverständnisses f ü r eine Konterrevolution bestehe. Graf Artois hatte sich nach einer Konferenz mit Leopold von Mantua aus an den König gewandt und, die Versprechungen des Kaisers übertreibend, die Mitwirkung Preußens nachgesucht. Auf den einstimmigen R a t seines Ministeriums antwortete Friedrich Wilhelm ausweichend. Er könne nichts tun, solange sein unsicheres Verhältnis zu Österreich und Rußland nicht geordnet sei. Die Meinung des Ministeriums war, daß man zunächst den Abschluß in Szistowa erwarten, aber auch dann sich zweimal besinnen müsse, ehe man sidi in ein Unternehmen werfe, welches Preußen nur große Lasten eintrage und Österreich allein Nutzen bringe. Freilich hatten die Minister wohl Ursache, wegen der Stimmung ihres Königs sich zu beunruhigen. Sie besorgten, daß der Verlauf der Revolution, die Flucht und die Gefangennahme Ludwigs X V I . auf sein weiches Naturell und sein monarchisches Selbstgefühl bestimmend einwirken möchten. Es sei dringend zu wünschen, meinten sie, daß der König fest bleibe und dem Kaiser alle tätigen Maßregeln überlasse. „Man wird uns zwar Ruhm vorspiegeln, das wird uns aber unser gutes Geld kosten, und durch Sparen halten wir uns die französische Krankheit sicher vom Leibe, weil wir dann das Volk nicht mit neuen Auflagen belasten müssen." Durch die persönliche Gefährdung Ludwigs war Kaiser Leopold genötigt worden, einen öffentlichen Schritt zu tun. Er erließ am 6. Juli von Padua aus an die Souveräne Europas die Aufforderung, Frankreich kund zu geben, d a ß sie die Sache Ludwigs als die ihrige betrachteten. Dieser Schritt, der ihn nichts kostete, war aber auch alles; die kriegerischen Vorbereitungen, die er traf, hatten nicht viel zu bedeuten. Dem preußischen Ministerium entging es nicht, daß Leopold die anderen f ü r sich vorschieben wolle. Der Wunsch des Kaisers, schrieb er an den Gesandten Jacobi in Wien, scheint dahin gerichtet, daß wir in der französischen Sache vorgehen und er soviel Vorteil als möglich aus unserer Intervention zieht. Man werde sich aber in keinem Falle in einer Angelegenheit voranstellen, die den Kaiser viel unmittelbarer berühre als Preußen. Dem G r a f e n Goltz wurde am 11. Juli von neuem
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nach Paris geschrieben, er solle alle Gerüchte über eine angebliche Verabredung zum Zwecke einer Konterrevolution entschieden in Abrede stellen, denn eine solche existiere nicht. Selbst der unheilvolle Vertreter des Prinzips der konservativen Interessen, Bischoffwerder, ließ sich zwar mit Überschreitung seiner Instruktionen in der Verhandlung mit dem Kaiser zur Unterzeichnung eines vorläufigen Defensivvertrages verleiten, indessen hielt er in betreff der französischen Dinge doch noch die Linie seines Ministeriums inne. Leopold ließ damals durch den österreichischen Gesandten, Prinzen Reuß, seine Ansichten über die Schritte gegen die Revolution in Berlin vortragen. Danach sollte zunächst eine Abmahnung an die Nationalversammlung ergehen, wenn diese fruchtlos bliebe, Handel und Verkehr mit Frankreich abgebrochen und weitere Maßregeln auf einem Kongreß beraten werden. Alle diese Schritte müßten indes in Gemeinschaft mit allen übrigen Mächten geschehen. Mit dieser letzteren Bedingung war denn die Einmischung überhaupt weit genug in die Ferne geschoben; die Antwort aber, welche Preußen auf diese Vorschläge am 28. Juli erteilte, war derart, daß sie in Wien einer Ablehnung gleich erachtet wurde. Es verweigerte zunächst seine Teilnahme an den gemeinsamen Maßregeln der Mächte, bis von Österreich und Rußland der Friede mit den Türken geschlossen sei. Den Abbruch des Handelsverkehrs erklärte es für ein zweischneidiges Mittel und den Kongreß für bedenklich, weil eine solche Versammlung ein gefährliches Aufsehen errege. Darin habe der Wiener Hof ganz recht, daß kein Staat die Sache allein auf sich nehmen könne. Vor allem sei England dringend nötig — von England aber wußte man damals ganz genau, daß es allen Interventionsgedanken widerstrebte. In einer vertraulichen Mitteilung an Jacobi in Wien war dann für den Fall eines Krieges gegen Frankreich noch die Eventualität erwogen, daß Elsaß und Lothringen von den Verbündeten besetzt werde und Österreich diese Provinzen wieder in Besitz nehmen wolle; derartiges könne natürlich Preußen nicht gleichgültig sein und bedinge eine vorherige Verständigung. Es wurde dann noch bestimmter wiederholt, daß Preußen für sich nichts weniger als geneigt sei, in die Bresche einzutreten. Häusser hebt hervor, daß demnach ein Kreuzzug gegen die Revolution zu keiner Zeit weniger in den Gedanken beider Mächte gelegen habe als in dem Augenblick, da Friedrich Wilhelm und Leopold am 25. August in Pillnitz zusammentraten. Allerdings war der Friede zu Szistowa (5. August) seitdem abgeschlossen, dafür waren die preußischen Bedenken wieder dadurch bestärkt, daß England jede Mitwirkung an einer Intervention abgelehnt hatte. Im Unterschied von der Auffassung, nach welcher Friedrich Wilhelm mit feurigem Kriegseifer nach Pillnitz zog und Leopold denselben zu dämpfen bemüht war, bemerkt Häusser, es liege nach seinen Quellen kein Anzeichen vor, daß die beiden Monarchen das sächsische Lustschloß mit anderen Gesinnungen betreten hätten als sie unmittelbar vorher einander ausgesprochen hatten. Beide wiesen unumwunden das EmigrantenProgramm zurück. Die Erklärung, über welche sie sich am 27. August verständigten, blieb dann auch bei der Voraussetzung eines Einverständnisses aller Souveräne stehen. Nur dann und in diesem Falle wollten sie für die Wiederherstellung der Ordnung in Frankreich wirken.
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Von Häusser wie von Sybel ist bereits früher der Irrtum widerlegt, als habe die Zusammenkunft von Pillnitz die Bedeutung eines konterrevolutionären Bündnisses gegen Frankreich gehabt. Sie gab der revolutionären Partei nur den Vorwand, um das Nationalgefühl gegen die angebliche Intervention des Auslandes aufzureizen. Allerdings war auch das preußische Ministerium von dem Pillnitzer Tage wenig erbaut. Wenn auch unmittelbar nichts Verfängliches verabredet war, so fürchtete es doch für die Zukunft ernstere Folgen. Die Emigranten scheinen auf den König mehr Einfluß gewonnen zu haben. Der Gedanke an einen Kreuzzug für das Königtum mischte sich bei ihm mit dem Wunsch, die früheren Mißerfolge seiner auswärtigen Politik durch neuen Ruhm vergessen zu machen. Dazu kam auswärtiger Einfluß; Katharina II. bot alles auf, um Preußen am Rhein zu verwickeln, damit sie die Hände für ihre Pläne in Polen frei bekomme. Das preußische Ministerium durchschaute nun zwar ihre Absicht und war für sich selbst entfernt davon, ihr diesen Dienst zu leisten, aber leider hatte es allen Grund, den wachsenden Neigungen des Königs zu mißtrauen. Das eben war der Unterschied zwischen Berlin und Wien, daß dort die realistischen Prinzipien der Minister von der Persönlichkeit des Königs und seiner Günstlinge bedroht wurden, während hier die Interessenpolitik gerade in Kaiser Leopold ihren gewandtesten und kältesten Vertreter fand. Er dachte nicht daran, die Vorteile, welche er durch die Schwäche Preußens in Belgien und an der Donau errungen hatte, durch einen Zug gegen die Revolution wieder zu gefährden. Selbst als am Ende des Jahres die kriegsschnaubende Gironde das Ubergewicht gewann, und als Ludwig dringend bat, ihm durch einen Kongreß, der sich auf eine bewaffnete Madit stützte, Luft zu verschaffen, hielt Leopold seine Prinzipien aufrecht. Auch in Berlin wollte man selbst im alleräußersten Falle doch erst die Eröffnungen des französischen Monarchen abwarten und sträubte sich dagegen, daß der Umsturz des französischen Throns unter die Fälle aufgenommen werde, welche eine Intervention nach sich zögen, da Preußen ein unmittelbares Interesse nur für das persönliche Interesse Ludwigs habe. Gleichwohl gewann unter dem Eindruck der letzten Ereignisse die Kriegslust in Berlin die Oberhand, und der Stimmung des Königs scheinen denn auch die Minister zu folgen. Als die französische Nationalversammlung, durch die Gironde zur Agression gehetzt, am 25. Januar 1792 den Beschluß faßte, dem Kaiser eine entschiedene Erklärung abzufordern, und wenn dieselbe bis zum 1. März nicht erfolgt sei, ihm den Krieg anzukündigen, schreibt das preußische Ministerium nach Wien: wir sind ungeduldig zu erfahren, wie man in Wien das wilde Dekret der Nationalversammlung aufnehmen und ob die entschiedene Neigung des kaiserlichen Hofs für gemäßigte Entschlüsse noch standhalten wird gegen eine so insolente Sprache. Jetzt wichen die Bedenken, welche das Berliner Kabinett bisher zurückgehalten hatten. Am 7. Februar 1792 wurde der Bundesvertrag unterzeichnet, in welchem die beiden Mächte sich gegenseitig ein Hilfskorps von 20 000 Mann gegen jeden Angriff versprachen. Für den Kaiser war dieses Bündnis eine erwünschte Deckung; indessen war er nach wie vor entschlossen, den Krieg, wenn irgend möglich, zu vermeiden: ich bin begierig, schrieb man aus 10
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Berlin, ob der Abschluß der Allianz dem Wiener Hof nicht mehr Zuversicht und Kraft geben wird! Da — am 1. März — starb Kaiser Leopold und mit der Thronbesteigung Franz II. entschied sich dann auch in Wien der Entsdiluß zum Kriege. II. Durch die gleichzeitigen Forschungen Sybels und Häussers ist die Wechselwirkung, in welcher die Rheinkampagne und die östlichen Verwicklungen miteinander standen, klar ans Licht gezogen worden. Es ist nachgewiesen, daß die polnische Angelegenheit in die kaum geschlossene Allianz zwischen Preußen und Österreich sofort wieder den Samen der Zwietracht warf, daß die Kraft der Koalition durch sie selbst und keineswegs durch die französischen Waffen gelähmt wurde, und daß endlich die entschieden feindselige Stellung, welche das Wiener Kabinett seit dem Eintritt des Ministers Thugut gegen Preußens Interessen im Osten einnahm, diesen Staat fast in die Notwendigkeit versetzte, sich aus dem Kampf am Rhein ganz loszuwickeln. Durch das Material, welches Häusser aus dem preußischen Archiv hinzugewonnen hat, sind wir in den Stand gesetzt, manche einzelne Momente dieser Entwicklung genauer zu verfolgen als es bisher der Fall war. Es konnte gleich im Anfang als ein Vorspiel der nun beginnenden unglücklichen Durchkreuzung der östlichen und westlichen Verhältnisse gelten, daß fast zu derselben Zeit, wo Preußen sich durch den Februar-Vertrag an Österreich gebunden hatte, aus Petersburg überraschende Berichte des preußischen Gesandten eintrafen. Seit dem im Januar geschlossenen Frieden mit der Pforte hatte Rußland seine Streitkräfte verfügbar; jetzt deutete Katharina II. an, daß sie eine Armee in Polen einrücken lassen wolle und mit einer zweiten Teilung umgehe. Unter diesen Eindrücken veränderte sich die freundlichere Stellung, welche Preußen gegen die polnische Republik in den letzten Jahren eingenommen hatte. Wenn man sich erinnert, daß Polen noch mehr als das Doppelte der damaligen Einwohnerzahl Preußens hatte, daß seine Besitzungen an der Weichsel, Danzig und Thorn diesen Staat auseinanderrissen, so ist es erklärlich genug, daß die Regeneration Polens, seine Umwandlung in eine geordnete Erbmonarchie, wie sie durch die Verfassung von 1791 versucht worden, Staatsmännern wie Hertzberg als eine drohende Existenzfrage der preußischen Monarchie erscheinen mußte. Ein Kampf gegen Rußland und für Polen in diesem Sinne war allen preußischen Traditionen zuwider; es war aber audi kaum durchführbar, Rußlands Projekten in Polen in einem Augenblick entgegenzutreten, wo man sich zum Kriege mit Frankreich engagiert hatte. Das einzige, was übrigblieb, schien also, sich an der Beute zu beteiligen, das linke Weichselufer zu erwerben. Indessen wollte Preußen sein gutes Verhältnis mit Österreich nicht stören, und da man den Traditionen Leopolds in bezug auf die Erhaltung Polens in Wien noch treu blieb, die Zustimmung zu einer neuen Teilung also nicht zu erwarten war, so suchte das Berliner Kabinett vorläufig noch die Entscheidung hinauszuschieben und eine Übereinkunft mit Rußland zustande zu bringen, wonach dasselbe nur mit Zustimmung
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Österreichs und Preußens dauernde Anordnungen in Polen sollte treffen können. Indessen R u ß l a n d wollte nicht länger zögern; es wies den Beitritt zu dem preußisch-österreichischen Vertrag vom 7. Februar, der die Integrität Polens verbürgte, zurück und verhehlte nicht, daß es am liebsten ein besonderes Bündnis mit Preußen schließen möchte. Zugleich trat durch die Targowitzer Konföderation sehr bald zutage, wie sehr die Intrigen der Zarin dem Zusammensturz des polnischen Reichs vorgearbeitet hatten. Russische Truppen drangen in Polen ein, um den Verschwörern gegen die Verfassung von 1791 zu helfen. Dieses energische Vorgehen Katharinas bewies, d a ß es sich nur noch um die Alternative handelte, ob Rußland allein oder mit anderen zusammen sich der polnischen Beute bemächtigen sollte. Jetzt verhehlte Preußen nicht mehr, daß es geneigt sei, auf die russischen Vorschläge einzugehen, auch Österreich schien auf seine bisherige Politik der Erhaltung der polnischen Integrität zu verzichten und dem preußischen Plan einer Abrundung in Polen unter der Bedingung zuzustimmen, daß es an einer andern Stelle Ersatz fände. — Man warf in Wien die Augen auf das französische Flandern und Hennegau als einem Stützpunkt f ü r die belgischen Besitzungen. D a n n weckte der russische Gesandte wieder das alte Gelüste nach dem Austausch Bayerns; natürlich lag es im russischen Interesse, daß Österreich lieber auf deutsche als auf französische Kosten entschädigt werde. In Berlin traf das Projekt jetzt nicht mehr auf den Widerstand, den Friedrich der Große ihm früher entgegengesetzt hatte. Man war bereit, dem Tausch zuzustimmen, wenn Preußen die gewünschten Erwerbungen in Polen erhalte. Nach diesen allgemeinen Verhandlungen, die der Eröffnung des französischen Feldzuges vorangingen, sollte dann auf Konferenzen zu F r a n k f u r t und Mainz über die Entschädigungsfrage zwischen Cobenzl und Schulenburg Näheres verabredet werden. Hier traten dann sofort Erörterungen ein, die auf das gute Verhältnis der beiden Mächte nicht günstig wirken konnten. Österreich stellte neue Anforderungen; es wollte nicht bloß Preußens Zustimmung, sondern seine aktive Unterstützung zum bairischen Tausch und mutete ihm zu, daß er selbst die betreffenden Eröffnungen den Zweibrücker Fürsten machen solle. Ferner aber erschien ihm die Partie gegenüber der preußischen Forderung in Polen noch nicht gleich; es verlangte daher, daß ihm noch die Fürstentümer Ansbach und Bayreuth von Preußen abgetreten würden. Diese neuen Ansprüche erregten große Verstimmung; der Minister Alvensleben fand, d a ß der letztere Vorschlag erschreckend, um nicht zu sagen, insolent sei. Der klägliche Verlauf, den der Feldzug in der Champagne jetzt nahm, war dann sehr geeignet, diese Keime der Zwietracht zum Wachstum zu bringen. Die preußische Kriegsführung, die allerdings wesentlich das Resultat der politischen Abneigung war, welche der Herzog von Braunschweig gegen den Kreuzzug überhaupt hegte, ferner die Scheinverhandlungen, die zur Deckung des Rückzugs mit den Franzosen geführt waren, hatten auf der österreichischen Seite das alte Mißtrauen geweckt, während die Preußen ihrerseits ihrem Alliierten den gerechten Vorwurf machen konnten, daß er die versprochene und zum Erfolg des Unternehmens erforderliche Truppenzahl nicht gestellt und die Allianz nur dazu ausgebeutet habe, um die größere Last von sich hinweg auf Preußen zu wälzen. Inio:!
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zwischen verharrte Österreich in seiner mißgünstigen Stellung zur preußischen Entschädigungsfrage. Preußen hatte am 7. August mit Rußland einen Vertrag geschlossen, dessen Absicht nicht zu verkennen war, da er sich gegen die Neuerungen von 1791 und die polnische Erbmonarchie richtete. In Wien wich man aber fortgesetzt aus oder wiederholte zum großen Unmut Preußens die Anforderung auf eine Zession von Ansbach und Bayreuth. Der König war denn entschlossen, sich nicht länger hinhalten zu lassen. Er schrieb am 17. Oktober der Zarin, daß er es sich selbst und seinem Volke schuldig sei, die Entschädigung näher zu fixieren, die er für den Verlust an Menschen und Geld in dem Kriege gegen Frankreich zu beanspruchen habe. Der österreichischen Diplomatie gab er aus dem Feldlager die Erklärung, daß er über die Verpflichtung zu einem Hilfskorps von 20 000 Mann, welche der Vertrag vom 7. Februar auferlegte, im nächsten Feldzug nur dann hinausgehen werde, wenn ihm unter Österreichs Mitwirkung seine polnische Forderung sofort gewährt würde. Eine Note von Haugwitz, aus dem Hauptquartier Merle vom 25. Oktober datiert, präzisierte die Bedingung dahin, daß das Arrondissement in Polen von dem österreichischen und russischen H o f e Preußen zugesichert und von demselben wirklich in Besitz genommen werde. Vorläufig aber erhielt der König von keinem der beiden H ö f e den erwünschten Bescheid. In Wien war man einer Vergrößerung Preußens teils im allgemeinen entgegen, teils wollte man nicht, daß es seine Beute erhalte, während das österreichische Äquivalent noch in ganz unbestimmter Ferne liege. Man gab also auf die kategorische Erklärung der Note von Merle keine bestimmte Antwort, sondern machte neue Versuche, den eigenen Vorteil zu sichern. Erst wurde der Vorschlag wiederholt, den Kurfürsten von Pfalz-Bayern zur Zession zu zwingen, dann, als die belgischen Besitzungen und damit das Tauschobjekt an die Franzosen verlorengingen, verlangte man, daß Österreich ebenfalls in Polen entschädigt werde. Der König hatte für sich selbst dagegen nichts einzuwenden, aber die Zarin war für dieses Hinzuziehen Österreichs bei der neuen Teilung nicht zu gewinnen. So fand sich kein Ausweg, um mit dem Wiener Kabinett ins reine zu kommen. Aber audi Rußland, welches früher auf eine Entscheidung in der polnischen Sache gedrängt hatte, zögerte jetzt, den Teilungsvertrag mit Preußen zu verabreden und damit die Ansprüche desselben in bestimmten Grenzen anzuerkennen. Nachdem es gelungen war, Preußen in den französischen Krieg hineinzutreiben, hatte die Zarin keine Eile mehr. J e länger sie die Entscheidung jetzt hinausschob, desto sicherer konnte sie auf eine Erschöpfung der preußischen Kräfte rechnen oder doch wenigstens hoffen, den König so mürbe zu machen, daß er ihr ohne Widerspruch den Löwenanteil gewähre. Endlich am Schlüsse des Jahres trat sie mit ihren enormen Forderungen heraus, und in der Tat überwog denn auch in Berlin die Freude darüber, daß die Sache zu Ende komme, die so sehr gerechtfertigten Sorgen wegen Rußlands Vergrößerung. Der Teilungsvertrag wird im geheimen verhandelt und am 23. Januar unterzeichnet; schon am 14. Januar waren die längst bereitgestellten preußischen Truppen über die Grenzen Polens gerückt. Katharina hatte im Groll gegen Österreich sich ausbedungen, daß dasselbe erst zwei Monate nach dem Abschluß des Vertrags über ihn Kenntnis bekomme. Man
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sah nun zwar in Wien aus dem Vorgehen der beiden Staaten, daß eine Verabredung zwischen ihnen vorhanden sein müsse, die authentische Mitteilung aber über den Inhalt derselben erhielt man erst gegen Ende des März. Das Wiener Kabinett und der Kaiser persönlich hatten nun zwar im Dezember bei der Unterhandlung mit Haugwitz ihre mündliche Einwilligung zu der preußischen Erwerbung endlich gegeben; dies hinderte aber Franz II. keineswegs, seinem Verdruß über das fait accompli einen sehr ungewöhnlichen Ausdruck zu geben. Seine Räte sollten ihm für ihren Mangel an Voraussicht und Wachsamkeit büßen. Es trat eine Ministerkrise ein, und der Baron Franz Thugut erhielt die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten. Mit dieser Wendung der Dinge in Wien war die völlige Lähmung des Kriegs gegen Frankreich und die Auflösung der Koalition im voraus entschieden. Teils hinderte die Persönlichkeit Thuguts überhaupt jedes verläßliche Zusammengehen, teils war der Sinn des Ministerwechsels direkt gegen die Ansprüche Preußens gerichtet. Thugut weigerte den Beitritt zu dem Petersburger Vertrag. Die mündliche Zustimmung, die man Preußen im Dezember gegeben, wurde jetzt dreist hinweggedeutet. Vergebens berief sich Haugwitz auf die Worte, die der Kaiser ihm noch bei der Abschiedsaudienz gesagt: „Ich habe der preußischen Erwerbung zugestimmt, fürchte aber, die Zarin wird es nicht tun." Oder auf ein späteres Schreiben von Cobenzl: „Ihr könnt mit uns zufrieden sein, da wir alles zugestanden haben, was ihr verlangt habt." Natürlich unterließ nun audi Preußen die guten Dienste, die es Österreich bei den Zweibrücker Prinzen versprochen hatte; es riet denselben nicht ab, sich nach England um Unterstützung zu wenden und begnügte sich nur die Miene anzunehmen, als ob es dem Tauschprojekt nicht ungünstig sei. Ganz verhängnisvoll wirkte aber die feindselige Wendung in Wien auf die Führung des Koalitionskrieges. Im preußischen Lager war man täglich weniger geneigt, sidi zu Operationen oder gar zu Eroberungsplänen gebrauchen zu lassen, weldie einem Staate zugute kämen, der sidi als Gegner der preußischen Interessen erweise. Schon seit dem Mai 1793 findet Häusser in den ministeriellen Korrespondenzen den entscheidenden Ausspruch, daß Preußen an einen weiteren Feldzug nicht denken könne. Die Erfahrungen, die man nun hierauf noch machte, die Treulosigkeit Rußlands, das von der Reichsversammlung in Grodno nur das Jawort für seinen eigenen Beuteanteil erpreßte und den Widerstand gegen Preußen im stillen schürte, ferner die Thugutschen Intrigen in Polen, die fortgesetzte Zumutung, daß Preußen einem Zwang gegen die Wittelsbacher beistimmen solle — alles dies verstärkte die Unlust an dem französischen Krieg. Die Friedenspartei war im Wachsen, und Männer wie Lucdiesini und Mannstein hätten der Koalition am liebsten sofort den Dienst gekündigt. Es gelang ihnen wenigstens, die Person des Königs im September vom Rheine hinwegzuziehen. Durch seine Abreise nach Polen sollte der Welt gezeigt werden, daß der Schwerpunkt der preußischen Interessen nicht im Westen liege. In der Tat war mit der Abreise Friedrich Wilhelms die Koalition faktisch aufgelöst. Auch der jetzt erfolgende vorläufige Abschluß der polnischen Sadie brachte keine Wendung mehr hervor. Die Ressourcen Preußens waren erschöpft; den Krieg fortzusetzen war nur möglich, wenn die Alliierten sich zur Zahlung von Subsidien bereit erklärten. Häusser hat in der neuen Ausgabe die Verhandlungen geschildert,
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die deshalb seit dem Oktober 1793 mit Wien angeknüpft wurden. Sie scheiterten an dem Eigensinn Thuguts. Selbst die äußerst günstigen Vorschläge, zu denen England im Februar des folgenden Jahres sich erbot, hatten keinen besseren Erfolg. Lord Malmesbury bot für die Aufstellung einer preußischen Armee von 100000 Mann eine Subsidie von zwei Millionen Pfund Sterling, von der England zwei Fünftel, Preußen, Holland und Österreich je eins übernehmen sollten. Preußen erklärte sich bereit, aber der Plan scheiterte an Thuguts Weigerung. Während dieser Minister nach allen Seiten hin an Eroberungen dachte, bald durch Bayern, bald im Elsaß oder in Polen, und jetzt wieder in Serbien nach Erwerbungen trachtete, stieß er in blindem H a ß die einzige Hilfe zurück, durch die er imstande war, sich am Rhein den Rücken zu decken. Bekanntlich gelang es England doch noch einmal, Preußen bei der Koalition festzuhalten. Haugwitz unterzeichnete im H a a g einen Subsidienvertrag mit den Seemächten, der freilich einer Vermietung der preußischen Truppen ziemlich gleichkam. Die Zweideutigkeiten, die sich Haugwitz bei seiner Information des preußischen Oberbefehlshabers Feldmarschalls Möllendorf auf der einen und bei seinen Versprechungen an die Seemächte auf der andern Seite zuschulden kommen ließ, hat Häusser diesmal umständlich dargestellt. Der charakterlose Intrigant trug die Schuld, daß es zwischen Möllendorf und Malmesbury zu den peinlichsten Erörterungen kam, indem dieser, gestützt auf den Vertrag und die Haugwitzschen Versicherungen, den Abmarsch der preußischen Truppen nach den Niederlanden forderte und jener das Verlangen rund ablehnte. Das Haager Abkommen wurde denn tatsächlich aufgelöst, und dieser Ausgang war der preußischen Diplomatie freilich sehr willkommen, da sich abermals die Verhältnisse und Interessen im Westen und Osten für Preußen verhängnisvoll durchkreuzt hatten. Als man kaum im H a a g abgeschlossen hatte, wuchs in Polen ein Aufstand zu gewaltigen Dimensionen heran. Scharfblickende Köpfe, wie Lucchesini, sahen sofort, daß diese Krise die gänzliche Auflösung des polnischen Reiches, eine dritte Teilung zur Folge haben werde. Dahin werde Rußland diesmal im Verein mit Österreich arbeiten, und für Preußen lag die Gefahr vor, daß es von der Mitwirkung und von jedem entsprechenden Anteil ausgeschlossen würde, wenn es sich nicht des Krieges am Rhein entledigte und die volle Verfügung über seine Kräfte wiedergewann. So wirkte der polnische Aufstand als eine gewaltige Diversion zugunsten Frankreichs und in diesem Sinne war er von Paris aus audi angeregt und mit Geld unterstützt. Preußen warf nun zwar sofort 50 000 Mann nach Polen, aber seine anfänglich glücklichen Fortschritte stockten bei der Belagerung von Warschau und durch den Aufstand im Rücken des Heeres in Südpreußen. Den Preis und die Vorteile des Sieges gewann Rußland durch Suworoffs Energie. Immer klarer wurde es, daß die Zarin Preußen zurückweisen, daß sie im Bunde mit dem Wiener Kabinett über die Geschicke Polens entscheiden wolle. So wurde denn die persönliche Antipathie Friedrich Wilhelms II. gegen einen Separatfrieden mit der französischen Republik endlich gebrochen, Graf Goltz ging zur Unterhandlung nach Basel, wenige Wochen früher als das Schutz- und Trutzbündnis der beiden Kaiserstaaten gegen Preußen auch formell (3. Januar 1795) abgeschlossen wurde.
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Häusser hat die einzelnen Stadien der Baseler Verhandlungen diesmal nach den Akten des preußischen Archivs genauer verfolgt. Im ganzen neigt er sich, wie Sybel, zu der Ansicht, daß das Friedensbedürfnis für die französische Republik mindestens nicht geringer war als für Preußen und daß dieses bei festem Auftreten seinen ursprünglichen Gedanken, einen Frieden für sich und das Reich ohne eventuelle Abtretungen zu erzielen, vielleicht hätte durchführen können. Wenigstens war dies die persönliche Meinung Hardenbergs, der nach Goltz' Tode das Friedensgeschäft fortführte. Indes seine Ansicht stimmte nicht mit der Lage, in welcher er die Verhandlungen bereits antraf und auch nicht mit der Ängstlichkeit, die in Berlin überwog. — So kam am 5. April jener Friede zustande, über welchen zwar weder Österreich, das seit anderthalb Jahren Preußen feindselig gehemmt, noch das Reich, das zu seiner Verteidigung auch nicht das Notdürftigste getan, sich beklagen konnten, mit welchem aber Preußens bisherige Weltstellung erschüttert war. Denn drei Feldzüge waren in einer Weise verlaufen, wie sie in der ganzen militärischen Geschichte Preußens bisher unerhört war, und sie hatten damit abgeschlossen, daß man Verzicht darauf leistete, auch nur die eigenen linksrheinischen Gebiete zu schützen! III. (2. Band, 3. Auflage, Berlin
1863).
Der zweite Band des Häusserschen Werkes hat, soviel wir bisher übersehen können, die meisten Ergänzungen erfahren. Insbesondere ist das doppelte Verhältnis, in welches Preußen durch seine Neutralität zu Österreich und Frankreich geriet, nach den hinzugetretenen Quellen sehr eingehend dargestellt. Wir können jetzt im einzelnen verfolgen, welche Behandlung dieser neutralen Politik von jedem der kämpfenden Teile widerfuhr, welche Velleitäten zum Widerstand, welche Neigungen zur Verständigung sie hatte, und aus welchen Gründen die einen wie die andern ohne Resultate blieben. Nach dem Vertrag von Basel schmeichelte man sich in Preußen noch mit der Hoffnung, die Rolle eines Friedensvermittlers zwischen Frankreich und dem deutschen Reich zu gewinnen. Diese Hoffnung scheiterte teils an dem Ingrimm des Wiener Kabinetts, welches die heftigste Agitation gegen den preußischen Vertrag erregte und es verhinderte, daß der Reichstag die alleinige preußische Vermittlung anrief; teils an den Machthabern in Paris, denen man nach der Nachgiebigkeit in Basel freilich die Rheingrenze nicht mehr nachträglich ausreden konnte. Allerdings kämpfte in Paris noch eine Zeitlang die gemäßigtere Ansicht mit der Theorie der natürlichen Grenzen, indessen siegte mehr und mehr der revolutionäre Eroberungsdrang und trug sich bereits mit Projekten, die bis zur Wiederherstellung Polens reichten. Häusser hebt hervor, wie die preußisdien Beziehungen zu Frankreich im ganzen Verlauf des Jahres 1795 ungleich weniger freundlich waren, als es damals und später geglaubt wurde. „Die wachsende Sprödigkeit der Franzosen in der Rheingrenzfrage hatte in Berlin eine ernstliche Verstimmung hervorgerufen; die jüngsten Lebenszeichen der äußeren Politik Frankreichs, namentlich die Einverleibung Belgiens, waren ebensowenig geeignet zu beruhigen als die Bedrückungen
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auf dem linken Rheinufer, die Kontributionen und Plünderungen audi im Bergischen Gebiet, die Verletzungen der Demarkationslinie. Hatten doch die Franzosen die Stirn, nachdem sie selber das erste Beispiel dazu gegeben, sich bitter bei Preußen zu beschweren, als der österreichische Feldherr Clerfayt das gleiche tat." „Es ist klar," schrieb sdion im Oktober Hardenberg, „daß Frankreich, nachdem es Preußen von der Koalition abgelöst hat, glaubte, dasselbe für seine revolutionären Zwecke gebraudien zu können; seit man sah, daß dies nicht gelang, ist das System geändert worden, und Preußen hat seitdem in Paris nichts mehr erreichen können." Schon damals erwachte in den tüchtigeren preußischen Staatsmännern die Einsicht, daß die passive Rolle, welche Preußen gewählt, mit seiner Ehre und seinen Interessen auf die Dauer nicht verträglich sei. Häusser teilt im Auszug einen Bericht mit, welchen Hardenberg im Januar 1796 offenbar in der Absicht verfaßte, der preußischen Politik eine andere Wendung zu geben. „Ich verhehle es nicht", schrieb dieser Staatsmann, „daß es nach meiner Überzeugung besser gewesen wäre, den Krieg nie anzufangen; die Folgen der Revolution wären dann schwerlich so ernst und drohend geworden wie sie es sind. Aber einmal beschlossen, mußte dieser Krieg mit Eintracht und Nachdruck geführt und nur einmütig beendet werden. Doch ich höre den beruhigenden Einwand aus dem Munde vieler: wir haben ja Frieden mit Frankreich, wir können dem Streite ruhig zusehen, und es ist nur Vorteil für uns, wenn Österreich fortfährt, sich zu schwächen. Während andere sich bekämpfen und erschöpfen, können wir das Heer und die Finanzen reorganisieren, die Ereignisse abwarten und je nach Umständen dauernd Nutzen ziehen, vielleicht selbst Gebietserwerbungen madien." Hardenberg widerlegt nun die Ansicht, als ob sich solche Erfolge bei einer ganz passiven Rolle erzielen ließen. Er zählt die Verletzungen und Rücksichtslosigkeiten auf, welche die französische Republik sich habe zuschulden kommen lassen. Er schlägt vor, man solle vor allem dem weiteren Übergreifen der Franzosen kräftig begegnen, die norddeutsche Neutralität bestimmt zur Anerkennung bringen, die niederrheinischen Provinzen weiter besetzen, Holland nicht in Abhängigkeit geraten lassen, sich bei dem Friedensgeschäft einen bestimmten Einfluß sichern. Der König könne nicht länger gleichgültig sein bei dem Sdiicksal Europas, dem Verfahren gegen Holland, dem Vorschreiten gegen seine eigenen Angehörigen. Also entweder Gehör für billige Friedensvorschläge oder Krieg. „Aber" — so schließt Hardenberg — „die Franzosen sind noch in Düsseldorf und am Rhein, es ist also kein Augenblick zu verlieren." Die militärischen Ereignisse des Jahres 1796 trieben indessen die preußische Politik in eine Richtung, die von den Ratschlägen Hardenbergs ziemlich weit entfernt war. Häusser hat nach den Berichten der preußischen Gesandtschaften und den Depeschen des Ministeriums die diplomatische Tätigkeit dargestellt, die in diesem Jahre zum Zweck einer neuen Demarkationslinie und zur nachträglichen Errettung der linksrheinischen Gebiete geübt wurde. Sie endete damit, daß Preußen in dem geheimen Vertrag vom 5. August 1796 — dem Werke Haugwitzs — der Abtretung der Rheingrenze ohne Klausel zustimmte, den Grundsatz der Säkularisation der geistlichen Gebiete anerkannte und sich von der Republik bestimmte Entschädigungen für seine linksrheinischen Besitzungen zusichern ließ. In demselben
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Monat August trat dann auf dem Kriegsschauplatz ein Wechsel zugunsten der deutschen Waffen ein; es gelang dem Erzherzog Karl, die beiden bis Bayern vorgedrungenen französischen Heere vereinzelt zu fassen und über den Rhein zurückzuwerfen. Aber in Italien blieben die Österreicher unglücklich; Bonaparte entschied, von hier aus bis Steiermark vordringend, im Frühjahr 1797 den Feldzug. In den Präliminarien von Leoben bewilligte Bonaparte, um Österreich von England zu trennen, das venetianische Gebiet bis zum Oglio, Istrien und Dalmatien; dafür trat es Belgien und die Rheingrenze ab, nur wurde zur vorläufigen Düpierung der Nichteingeweihten die Phrase hinzufügt, daß mit dem Deutschen Reiche der Friede, auf der Grundlage seiner „Integrität", verhandelt werden solle. Es läßt sich nun nach Häussers Ergänzungen vollständig übersehen, wie Preußen während der Schwankungen dieses Feldzuges und später von beiden Parteien hintergangen als Mittel benutzt und dann wieder beiseite geworfen wurde. Mit dem Beginn des Jahres 1797 riefen die Franzosen Preußens Friedensvermittlung an, wieder mit der stereotypen Erklärung, daß sie sonst genötigt sein würden, dem Kaiser Bayern zu bewilligen. Preußen machte dann abermals Versuche, die Integrität des Reichsgebiets als Grundlage des Friedens den Franzosen abzuhandeln. Es tat ferner in Wien unfruchtbare Schritte. Darauf drängte man denn von Paris aus, es müsse, da seine Vorschläge in Wien zurückgewiesen seien, sich mit Frankreich verbünden; aber in dem nämlichen Augenblick wurden die Friedenspräliminarien zu Leoben abgeschlossen. Auf der andern Seite scheute sich auch Österreich nicht, das Berliner Kabinett auf das gröblichste zu täuschen. Der Kaiser ließ durch seinen Gesandten versichern, es sei ihm gelungen, die Integrität des Reichs ausdrücklich als Friedensbasis zu Leoben durchzusetzen. So schlau sich die Berliner Diplomaten dünkten, sagt Häusser, gegen diese mit der Miene des Biedermanns auftretende Verschlagenheit waren sie doch nur Stümper. Die diplomatischen Erklärungen des Wiener Hofes wie die von dort inspirierte Presse rühmten jetzt mit solcher Salbung die gerettete Integrität Deutschlands, daß man in Berlin irre wurde und sich einen Augenblick düpieren ließ. Es ging damals im Mai eine Note nach Paris, welche den Wunsch aussprach, es möchten die preußischen Gebiete links vom Rhein sofort geräumt und dem rechtmäßigen Besitzer zurückgestellt werden! Die Täuschung dauerte freilich nur kurze Zeit. D a die Begehrlichkeit Thuguts in bezug auf Italien schwer zu befriedigen war, so verzögerte sich der definitive Friede noch längere Monate. In dem Vertrag von Campo Formio war dann außer den italienischen Erwerbungen in den geheimen Artikeln Österreich noch die französische Unterstützung zur Aquisition von Salzburg und des Teiles von Bayern bis zum Inn zugesagt. Dagegen wurde Belgien und das linke Rheinufer abgetreten — mit Ausnahme der preußischen Gebiete, die nur deshalb unberührt bleiben sollten, damit nach dem österreichischen Lieblingswunsch Preußen keinen Anspruch auf Entschädigungen gewinne. Beide Mächte verbürgten sich ausdrücklich, daß Preußen keine neuen Erwerbungen machen solle, während sie im übrigen das deutsche Gebiet sich gegenseitig als ein Terrain zur Vergrößerung freiließen, denn sie stellten fest, daß wenn der eine Teil darin eine Erwerbung mache, der andere ein entsprechendes Äquivalent erhalten solle. Während nun dieser Friedensschluß sich
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vorbereitete, dränge Frankreich in Berlin wieder auf eine Allianz ganz ebenso wie vor dem Vertrag von Leoben. Da war es denn begreiflich, daß das preußische Kabinett mit sichtlichem Verdruß erfüllt wurde. „Es scheint," schrieb es in einer Depesche an Sandoz in Paris, „daß man Preußen wie ein Mittel betrachtet, dessen man sich nach Belieben bedienen kann, um den Wiener Hof nachgiebiger zu machen." Als dann in Rastatt der Friedenskongreß zusammentrat, war es französische Taktik, Preußen durch die Aussicht auf Vergrößerungen an der Nordseeküste usw. von Österreich fernzuhalten. Bonaparte schlug in Paris den gleichen Ton an. „Die Verständigung Preußens mit Frankreich", sagte er in seinen Gesprächen mit dem preußischen Gesandten, „ist das einzige Mittel, den Kongreß abzukürzen; denn mit Österreich kann man niemals zum Abschluß kommen, wenn man nicht die Miene annimmt abzubrechen. Euer großer Friedrich kannte vollkommen die Art, wie man mit Österreich verhandelt; er kann auch bei diesem Anlaß als Muster dienen. Überhaupt wird Preußen seine politische Existenz nie fest begründet sehen als bis es Österreich bekämpft und niedergeworfen hat." In gleicher Weise trieb dann die Thugutsche Politik ihr unwürdiges Spiel. Man war in Preußen seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms III. zu einer Ausgleichung mit Österreich geneigt. In diesem Sinne waren die Gesandten in Wien und Rastatt instruiert. Dem Wiener Kabinett wurde die geheime Übereinkunft vom 5. August offiziell mitgeteilt, damit es in betreff seiner geheimen Verabredungen von Campo Formio die gleiche Offenheit zeige. Dies sollte gleichsam das erste Probestück der werdenden Freundschaft sein. Von der Tragweite der Stipulationen und ihrer Feindseligkeit gegen Preußen hatte man in der Tat noch keine Ahnung. Da halfen sich denn Thugut und der Kaiser selbst mit florentinischen Mitteln. Es wurde simuliert, den Franzosen habe das Versprechen gegeben werden müssen, die Verabredungen von Campo Formio geheimzuhalten, ihre Mitteilung fordern, heiße also einen Wortbruch verlangen. Franz II. schämte sich nicht, im Februar 1798 an Friedrich Wilhelm III. zu schreiben: „Man werde doch ihn, den deutschen Kaiser, in so schweren Zeiten nicht veranlassen wollen, daß er den Franzosen das Beispiel eines Wortbruchs gebe." Trotz solcher Vorgänge hielt man es in Berlin für den besseren Weg, unter russischer Beihilfe eine Ausgleichung der Differenzen mit Österreich zu suchen. Die zu diesem Zweck verabredeten Konferenzen sollten in Berlin gehalten werden, um sie dem Einflüsse Thuguts zu entziehen. Häusser hat den Verlauf dieser Unterhandlungen, die Gegenwirkungen aus Paris, die Ursachen des Scheiterns auf Grund des aktenmäßigen Materials dargestellt. Das Haupthindernis war, daß Österreich nicht auf Bayern und daß Preußen nicht auf eine Entschädigung für seine Verluste durch Säkularisationen verzichten wollte. Indessen war die Stimmung am preußischen Hofe der Art, daß eine redlichere Politik wie die Thuguts wohl zu günstigeren Resultaten hätte kommen können. „Das einzige Mittel, weiterem Unheil vorzubeugen", schrieb schon damals ein preußischer Diplomat, „besteht darin, daß die großen Mächte ihrem Raubsystem entsagen, sich zuallererst uninteressiert zeigen, sich verständigen und mit dem Schicksal des Vaterlandes beschäftigen; daran hängt ihr eigenes Interesse, ihre Sicherheit und ihre Erhaltung. Dieses Thema habe ich unaufhörlich gepredigt, und ich habe das
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Glück und den Trost gehabt, midi zu überzeugen, daß die persönliche Ansicht des Königs damit übereinstimmte." Häusser bestätigt nach dem Inhalt der vertraulichen Korrespondenzen dieser Zeit, daß die respektabelsten preußischen Staatsmänner sich in dieser Richtung bewegten. Das Wiener Kabinett benutzte aber Preußen nach derselben Methode wie die Franzosen. Es brachte die Berliner Konferenzen erst in dem Augenblick wieder etwas mehr in Gang, wo es in Selz den Versuch machte, die volle Erfüllung der Zusagen von Campo Formio bei Frankreich durchzusetzen. Je nachdem dann dieser Versuch gelänge oder mißlänge, sollte Preußen entweder weggestoßen oder näher herangezogen werden. Es ist bekannt, wie auch die glänzenden Waffentaten des österreichisch-russischen Feldzuges von 1799 durch die Kabalen Thuguts vereiteilt wurden, dessen Habgier in dem Augenblick Suworoffs Erfolge durchkreuzte und den Zaren Paul aus einem großmütigen Verbündeten in einen unversöhnlichen Gegner umwandelte, als die alliierten Mächte eben in die Lage gekommen waren, den Krieg nach Frankreich hineinzutragen. An Thugut zersetzte sich die Koalition von 1799 ebenso wie die von 1792. Bis es hierzu kam, verstand es dann der erste Konsul, aus der Neutralität Preußens Vorteil zu ziehen. Es war im Sommer 1799 in Berlin die Neigung erwacht, gegen Frankreich eine bestimmte Stellung zu nehmen. Man verlangte von den Franzosen die Räumung des linksrheinischen preußischen Gebiets und Hollands. Das Direktorium in Paris zögerte mit der Antwort und lehnte endlich ab; der König entschloß sich dann wenigstens, die Truppen marschfertig zu machen, aber freilich auch die Unterhandlungen fortzusetzen. Die Franzosen suchten nun Zeit zu gewinnen, bis die eben vorbereitete Expedition der Engländer und Russen auf Holland gescheitert war. Als dann Bonaparte, aus Ägypten zurückgekehrt, sich durch den Staatsstreich vom November zum ersten Konsul erhoben hatte, war zwar auch er nicht gesonnen, das preußische Begehren zu erfüllen, aber er bot alles auf, um die günstige Meinung zu verstärken, die man in Berlin von ihm als dem Wiederhersteller der Ordnung hatte. In seinen Gesprächen mit dem preußischen Gesandten drückte er wiederholt seine Sehnsucht nach Frieden aus. „Mit Österreich", meinte er, „können wir gleich Frieden haben, wenn wir ihm Vergrößerungen gewähren; allein wir wollen unsere Interessen sowie die Preußens und Europas wahren. Warum sammelt ihr eure Truppen bei Wesel? Wozu diese Schritte des Mißtrauens gegen uns, wozu diese Nachgiebigkeiten gegen Rußland? Ich verlange nicht, den König von Preußen in den gegenwärtigen Krieg hereinzuziehen, aber ich bin überzeugt, daß er mehr Vorteil dabei finden wird, mit der französischen Republik verbunden zu bleiben und der Schiedsrichter des allgemeinen Friedens zu werden, als zwei unbequeme und ehrgeizige Nachbarn zu schonen." Bonaparte berechnete seine Äußerungen und Schritte, feiner und geschickter als das Direktorium, nach der Individualität des Berliner Hofes. Er ließ davon ab, denselben durch das Drängen auf eine Allianz zu beunruhigen, vielmehr suchte er die Illusionen zu verstärken, die man sich in Berlin über die Vorteile und das Gewicht einer neutralen Stellung machte. In seinen Gesprächen mit Sandoz erklärte er wiederholt, daß die französische Nation nach Frieden verlange und daß er verpflichtet sei, ihr denselben zu verschaffen. Komme Preußen ihm dabei nicht zu Hilfe, so würde
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ganz Italien dem österreichischen Ehrgeiz geopfert werden müssen. Das könne doch Preußen f ü r seine eigene Macht nicht gleichgültig sein. Es möge deshalb dazu beitragen, Frankreich mit Rußland auszusöhnen; in diesem Falle würde er den Frieden mit Österreich unter den Bedingungen schließen, welche Preußen genehm wären. Um das Ansehen seines Konsulats nicht zu erschüttern, müsse er zwar Belgien und die Rheinlinie festhalten, aber er werde sich dazu verstehen, Preußen seine linksrheinischen Besitzungen zurückzugeben. — In der Tat ging Preußen auf diesen Wunsch ein und tat in Petersburg Schritte zur Aussöhnung mit Frankreich. Als dann die Unglücksfälle der Österreicher im Jahr 1800 sich häuften, Italien f ü r sie durch die Schlacht von Marengo verlorenging, ließ die Friedenssehnsucht des ersten Konsuls erheblich nach. Er hatte die Wege gefunden, um sich direkt mit dem Zaren zu verständigen und schob nunmehr den überflüssig gewordenen Vermittler beiseite. Preußen hatte von neuem die Erfahrung gemacht, daß der Entschluß, dem Verlauf der Weltgeschichte passiv zuzusehen, der schlechteste Weg sei, um der Schiedsrichter Europas zu werden.
Ein preußischer Staatsmann Theodor Gottlieb von Hippel, der Verfasser des Aufrufs „An mein Volk". Gedenkblatt zur fünfzigjährigen Feier der Erhebung Preußens. Herausgegeben Theodor Bach. Breslau 1863.
Ein von
Jeder neue Beitrag, der ein Licht wirft auf die Geschichte Preußens während der Zeit von 1807 bis 1815, läßt uns mit immer neuem Staunen erkennen, wie groß diese Zeit war, wie reich an Gehalt, an Gedanken, an Taten. Wir haben eine Periode genannt, die zwei grundverschiedene Epochen in sich schließt, die Zeit des tiefsten Verfalls und die Zeit der höchsten Erhebung, die in neuerer Zeit ein Kulturvolk durchgemacht; aber dennoch betrachten wir diese Zeit als ein Ganzes. Zu den herrlichen Blüten, welche die drei Jahre der Freiheitskriege getrieben hatten, war der Keim gelegt worden in den traurigen sechs Jahren, die auf den Tag von Jena gefolgt waren, war sorglich, stetig, weise gepflegt worden, und wird audi der laute Ruhm sich immer an die Erfolge von Leipzig und Belle-Alliance heften, dem tiefer dringenden Geschichtsforscher wird es immer die lohnendere Aufgabe sein zu verfolgen, wie in dem Zeiträume von 1807 bis 1812 das Volk unter der leuchtenden Tätigkeit einer Anzahl hervorragender Männer, aber auch unter treuer williger Hingabe jedes einzelnen, seine inneren Zustände so umgestaltet, daß es in unglaublich kurzer Zeit aus einem Verbände von Sklaven, über welche zu herrschen ein großer König müde geworden war, zu einem Volke wird, fähig die Freiheit zu ertragen und würdig sie zu genießen. Unglaublich ist der Umschwung, der sich in jenen wenigen Jahren vollzogen hat, in den politischen und sozialen Zuständen, in den Gedanken und Anschauungen.
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Aber schnell sind wir nach geschlossenem Frieden wiederum von der errungenen Höhe herabgesunken; und wenn es dreiunddreißig Jahre gedauert hat, bevor die Verheißung erfüllt wurde, in welche sich der Inhalt des politischen Ringens und Strebens jener Tage zusammenfaßte: „Es soll eine Vertretung des Volkes stattfinden", so läßt sich sehr wohl die erste Frage aufwerfen, ob wir jetzt das wieder erworben haben, was mehr wert ist als ihre Verheißung und ihre Erfüllung, was beiden erst den wahren Wert gibt, die politische Reife. Das geringere Übel ist es, daß schon in den ersten Friedensjahren viele der Männer, die so viel zur Umgestaltung des Staats beigetragen, enttäuscht und ermattet sich zurückzogen, wie Boyen, Grolmann, Humboldt, daß andere, wie Jahn und Arndt, mit den herrschenden Gewalten in Konflikt gerieten; trauriger ist es, daß es uns nicht gelang, die Institutionen, welche wir jener Zeit verdanken, zu erhalten oder gar fortzubilden. Wenn die Landwehr-Einrichtung, unter allen damaligen Schöpfungen die merkwürdigste, segensreichste, nationalste, jetzt dem Verfall sich nahe befindet, von zwei Seiten her verkannt, von der einen verkümmert und beargwöhnt, von der anderen durch übertriebenes Lob, durch ungehörige Auslegung entstellt, unter dem schönen Namen eines Volksheeres zu einer Miliz herabgewürdigt wird, dann wird es klar, daß wir von der Vertiefung in jene schöpferische Zeit mehr erwarten dürfen als historische Belehrung, als patriotische Erhebung, daß sie uns zu unmittelbarem praktischen politischen Nutzen gereichen kann und soll. Und darum verdient jeder Dank, der dazu beiträgt, jene Zeit aufzuhellen, und Dank verdient auch der Verfasser des vorliegenden Werkes. Eine erschöpfende Forschung zwar oder ein abgeschlossenes Bild hat er uns nicht geben wollen. Wie er versichert, hat er von den in seiner Hand befindlichen Dokumenten des Hippeischen Nachlasses viele, und zwar solche, die auf die Zeit nach 1813 bezüglich sind, und die einen nicht unerheblichen Beitrag zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts liefern würden, zurückbehalten. Er hat ihre Veröffentlichung einer anderen Gelegenheit vorbehalten und nur einen Beitrag zur Geschichte der Erhebung liefern wollen. In Festhaltung des Prinzips, die Person und die Zeit möglichst selbst reden zu lassen, hat er auf die Pflicht und das Recht des Biographen verzichtet, ein künstlerisch abgeschlossenes Charakterbild zu liefern, und hat sich einer Form bedient, die viel Fragmentarisches enthält. So sehr wir dies bedauern, fühlen wir uns doch nicht befugt, mit einem Schriftsteller über die Aufgabe zu rechten, die er sich gestellt hat; ist doch in dem, was er geleistet, des dankenswerten genug vorhanden. Was in der Tat war das für eine Zeit, in welcher ein Staatsmann untergeordneten Ranges, dessen Name nie eigentlich populär geworden ist, eine Fülle von Ideen entwickelte, an denen jetzt ein ganzes Ministerium in allen Departements zehren könnte! Ideen nicht in dem Sinne von genialen Einfallen oder Phantasmen genommen, sondern reiflich durchgearbeitete, praktisch ausführbare Entwürfe, die sich überall auf umfassende Kenntnis des Gegenstandes, auf praktische Anschauungen stützen, mögen sie die Ablösung der Mengeschäferei oder die Umgestaltung der Verhältnisse des Bauernstandes oder eine neue Militärverfassung betreffen.
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Seltsame Gegensätze treten in dem Jugendleben Hippels hervor. Sein Onkel und Erzieher ist vor aller Welt der geschäftstüchtige Bürgermeister von Königsberg, bed dem Kant Hilfe suchte, wenn ihn der Straßenlärm in seinen Meditationen störte; im strengsten Incognito ist er daneben Schriftsteller, bis auf den heutigen Tag ein mit Ehren genannter, wenngleich nur noch wenig gelesener Humorist. Der Neffe, wie fast alle ostpreußischen Staatsmänner jener Zeit, sitzt zu den Füßen Kants und begeistert sich an der strengen und herben Lehre, die ihm vorgetragen wird, und findet gleichzeitig, daß „Quintus Fixleins" „Wehmut, Sehnsucht, Erdenkrankheit und Himmels Heimweh" aus seinem Herzen geschrieben ist. Eine Freundschaft, gleich der des Carlos zum Posa, verbindet ihn mit Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, die bis an das Lebensende des letzteren andauert, obwohl beide Männer von dem Schicksal so verschiedene Wege geführt werden. Es mag hier vorgreifend gestattet sein, die letzten Beziehungen beider zueinander zu erwähnen. Am 7. Mai 1808 schreibt Hoffmann an Hippel, ihn um Unterstützung bittend, seit fünf Tagen habe er nichts als Brot gegessen. Gerade damals hatte er das Engagement an das Theater in Bamberg angenommen, konnte aber nicht dorthin abgehen, weil es ihm an Geldmitteln fehle. Zacharias Werner, den er gleichfalls um Unterstützung gebeten, hatte ihm statt dessen den Rat gegeben, er möge zuweilen ein bißchen an Gott denken. 1813 treffen beide Freunde sich zufällig in Dresden; Hoffmann zieht mit einer wandernden Schauspiel ergesellschaft umher und schreibt am 22. Oktober in sein Tagebuch: „Der Kaiser ist geschlagen und retiriert nach Erfurt. So habe ich gegründete Hoffnung zum besten, fröhlichsten Leben in der Kunst." Während Hippel seine ganze Kraft dem Staat gewidmet hatte, handelte es sich für Hoffmann nur darum, einen Romantiker in seinen künstlerischen Illusionen nicht zu stören. Im Jahre darauf wird letzterer auf seines Freundes Verwendung als Kammergerichtsrat von neuem angestellt, und als endlich am 14. April 1822 Hippel an Hoffmanns Sterbebette von diesem schmerzlichen Abschied nimmt, ruft derselbe unter bitterlichem Weinen aus: „O Theodor, wärst du stets bei mir gewesen, ich wäre ein anderer und besserer Mensch geworden." Während Hoffmann über die subjektive Schwärmerei nie hinauskam, hatte sie bei Hippel mit patriotischer Begeisterung sich zu einem warmen Gefühl verbunden. Im Jahre 1795 trat Hippel in den Staatsdienst ein, wurde 1799 Landrat des Michelauschen Kreises, nahm indessen schon 1804 den Abschied, um sich der Bewirtschaftung seiner durch Vernachlässigung in Verfall geratenen Güter zu widmen. Seine Mußestunden füllte er mit politischen und national-ökonomischen Studien und Arbeiten aus; nach der Katastrophe von Jena erwacht in ihm wieder eine unbezwingliche Neigung, an den öffentlichen Angelegenheiten seines Vaterlandes teilzunehmen. Er nahm an den Beratungen der Kriegs- und Domänen-Kammer zu Marienwerder teil, trat mit den Ministern Altenstein und Humboldt, mit Scharnhorst und Knesebeck in Verbindung, bald mit den untergeordnetsten Verwaltungsangelegenheiten seiner Provinz, bald mit Entwürfen zu einer preußischen Verfassung beschäftigt. Anerbietungen, in den Staatsdienst zurückzutreten, lehnte er lange Zeit hindurch ab, teils aus Liebe zur Unabhängigkeit, teils weil er mit einer gewissen Scheu den Schein einer persönlichen Teilnahme an der Leitung des Staats
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mied. Am 10. Dezember 1811 wurde er als Vortragender Rat bei dem Staatskanzler angestellt; erst nach langem Ringen hatte er angenommen. Mit der Erhebung von 1813 beginnen alsdann die bedeutendsten Akte seines Lebens. An den Organisationen jener Zeit hatte er einen bedeutenden Anteil; die Verordnung vom 22. Februar 1813, betreffend die Stiftung der Nationalkokarde, die Verordnung von demselben Tage, die Strafen gegen diejenigen verhängt, welche sich dem Kriegsdienste entziehen, die am 6. November 1813 publizierte Verordnung über die Organisation der Landwehr, welche indessen schon am 18. März vollzogen war, sind von ihm teils entworfen, teils redigiert. Zu dem Aufrufe „An mein Volk" hatte er den Vorschlag gemacht und den Entwurf geliefert. Dieser Entwurf nebst den Änderungen, die teils Hardenberg, teils der König eigenhändig daran vorgenommen, wird hier mitgeteilt. Er entwarf die Verordnung vom 5. Mai 1813, welche die Verherrlichung der für das Vaterland Gebliebenen durch Votivtafeln in allen Kirchen anbefiehlt; wie er endlich Sorge trug, daß nach dem Tode Scharnhorsts ein würdiger Nachruf veröffentlicht werde, ist am Gedenktage des Todes in diesen Blättern mitgeteilt worden. Nach beendigtem Kriege wurde er Regierungs-Vizepräsident in Marienwerder, später Präsident in Oppeln. Krankheit nötigte ihn 1837 den Abschied zu nehmen; bis zu seinem Todestage, 10. Juni 1843, hörte er nicht auf, an der Entwicklung des Vaterlandes den regesten Anteil zu nehmen. Sein Vermögen hatte er demselben geopfert; seine Güter, durch den langen Krieg ruiniert, konnte er nach dem Frieden nicht wieder sicherstellen, sie gingen ihm und seiner Familie verloren. Den Lohn für seine Verdienste um Preußen hat er in der eigenen Brust getragen.
„Deutsche Geschichte" von Ludwig Häusser Ludwig Häusser, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes. 3. Band, 3. Auflage, Berlin 1863. Die unmittelbaren Folgen der Schlachten von Jena und Auerstädt sind zu bekannt, um besonders erwähnt werden zu müssen. Auch würden diese beiden Niederlagen unter anderen Umständen nicht den gänzlichen Umsturz der preußischen Macht herbeigeführt haben, denn die Preußen hatten im Siebenjährigen Kriege bei Kolin, Hochkirchen und Kunersdorf ebenfalls höchst unglücklich gefochten und waren aus dem Kampfe zuletzt siegreich hervorgegangen. Das preußische Heer hatte damals allerdings nicht mit einem Feldherrn wie Napoleon und seinen seit vierzehn Jahren durch ununterbrochene Kriege gestählten Truppen zu tun gehabt. Dagegen war Preußen in jener Zeit von drei Seiten, im Osten von den Russen, im Süden von den Österreichern, im Westen von den Franzosen angegriffen worden, ganze Provinzen waren verlorengegangen, und die Hauptstadt selbst hatte zweimal
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den Feind in ihren Mauern gesehen. Außerdem war der preußische Staat unter Friedrich I I . an Hilfsquellen bedeutend ärmer als unter Friedrich Wilhelm I I I . Aber damals stand nicht nur ein großer Mann an der Spitze des Landes und Heeres, der in keiner N o t verzagte und immer neue Mittel des Widerstandes zu finden wußte, sondern er war audi von einer Phalanx von Kriegern umgeben, die, bei geringeren Geistesgaben als er, von derselben mutigen Ausdauer und Entschlossenheit erfüllt waren und in denen das Gefühl der Treue und Ehre mit der Kraft eines natürlichen Instinkts wirkte. Audi im Volk waren ähnliche Gesinnungen vorhanden. Der vertrauteste Freund Friedrichs des Großen in jener Zeit, der Marquis d'Argens, schreibt an ihn bei Gelegenheit der Besetzung Berlins durch die Österreicher, es hätten sich unter den Einwohnern Züge von Patriotismus kundgegeben, die, wären sie im Altertum vorgekommen, in den Gesängen der Dichter fortgelebt und einen unsterblichen R u f erlangt haben würden. Aus Ostpreußen, das von den Russen, aus Schlesien, das von den Österreichern eingenommen war, langten bei dem großen König unaufhörlich Freiwillige an, und die Behörden sandten ihm auch aus den okkupierten Provinzen, sobald irgendeine Möglichkeit vorhanden war, selbst unter persönlichen Gefahren alle verfügbaren Gelder. 1806 wurde Preußen nur von einer Seite her angegriffen, die meisten Provinzen waren durch zahlreiche feste Plätze geschützt, die Elbe, die Havel, die Oder und Weichsel boten eine Menge natürlicher und künstlicher Verteidigungspunkte dar, eine Großmacht wie Rußland stand damals nicht wie im Siebenjährigen Kriege gegen Preußen, sondern war mit ihm verbündet, und dennoch schien alles nach einem einzigen unglücklichen Tage verloren, trat eine Mut- und Kopflosigkeit, eine Lähmung und Ohnmacht ein, wie selten in der Geschichte gesehen worden ist. So bekannt auch die Ereignisse jener Zeit sind, man erstaunt immer wieder von neuem, wenn man an die plötzliche Auflösung aller Bande, die lange Reihe von Kapitulationen ganzer Korps und starker Festungen, den Mangel des gewöhnlichsten Pflicht- und Ehrgefühls erinnert wird. Diese traurige Erscheinung verliert jedoch viel von ihrem auffallenden Charakter, wenn man sich die in dem damaligen Preußen herrschenden Zustände vergegenwärtigt. Denn ein so kompliziertes, aus moralischen und materiellen Elementen mannigfach gemischtes, sichtbaren und unsichtbaren Einflüssen ausgesetztes Wesen wie der Staat bleibt nicht lange in derselben Lage, sondern wechselt Farbe und Gestalt je nach der geistigen Atmosphäre, in der er lebt, steigt oder sinkt je nach den Ideen, von denen er erfüllt wird, und der Stärke oder Schwäche derer, die mit seiner Leitung beauftragt sind. Es ist eines der hervorstechendsten Verdienste der „Deutschen Geschichte" von Häusser, auf eine auch dem größeren Publikum zugängliche Weise dargetan zu haben, wie Deutschlands politische Organisation vom Westfälischen Frieden an so veraltet, morsch und gebrechlich geworden war, daß daraus zuletzt eine Katastrophe wie die Auflösung des Deutsfchen Reichs und die Stiftung des Rheinbundes hervorgehen mußte. Was Preußen insbesondere betrifft, so hat unser Verfasser die Ursachen des moralischen Verfalls und der politischen Schwäche schärfer und klarer nachgewiesen als in manchen anderen diesen Gegenstand speziell behandelnden Werken geschehen ist. Der innerste Grund, nicht der Niederlagen von Jena und Auerstädt, denn auch die Franzosen sind unter dem
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Konvent und dem Direktorium mehr als einmal geschlagen worden, sondern des auf jene Schladiten folgenden Umsturzes des Staates und der Auflösung des Heeres lag darin, daß Preußen nach Friedrichs des Großen Tode in seiner staatlichen Entwicklung stehengeblieben war, und sich von den Ideen, welche anfingen, die Zeit in Bewegung zu setzen, abgewandt hatte. Die preußischen Staatsmänner glaubten nach dem Tode des großen Königs genug zu tun, wenn sie das, was er geschaffen, erhielten, ohne daran zu denken, daß durch die französische Revolution die ganze Weltlage sich verändert hatte, daß mit diesem Ereignis neue Kräfte auf dem Schauplatz erschienen waren, und daß unter solchen Umständen ein Stillstand nichts als ein verhüllter Rückschritt war. Man muß über diese Epoche der preußischen Geschichte nachlesen, was Häusser im ersten und zweiten Bande seines Werkes über die leitenden Persönlichkeiten, die inneren Verhältnisse, den öffentlichen Geist, die diplomatischen Verhandlungen, die Kriegsführung so genau und unparteiisch dargestellt hat. Ungeachtet des redlichen Willens und der guten Absichten Friedrich Wilhelms III., ungeachtet einiger partiellen Verbesserungen und der Abstellung der gröbsten unter seinem Vorgänger eingeschlichenen Mißbräudie war der Staat bis zu dem großen Wendepunkt nach dem Tilsiter Frieden in unbemerktem, aber beständigem Sinken begriffen. Jede Epoche im Leben eines Volks ist schwach, die nicht aus sich selbst schöpfen kann, sondern von dem Ertrage einer ihr vorangegangenen Zeit leben will. D a die Regierung Friedrichs des Großen für ein unübertreffliches Muster angesehen wurde, von dem man glaubte, sich nicht ungestraft entfernen zu dürfen, obgleich derselbe unter Verhältnissen gewaltet hatte, die von denen seiner Nachfolger ganz verschieden waren, so mußte diese Kopie, je mehr sie sich der Zeit nach von dem Original entfernte, immer weniger von dessen Geist an sich tragen. Denn es lassen sich wohl die Formen, aber nicht der Charakter eines großen Mannes oder einer großen Epoche künstlich erhalten. Die seltenen und außerordentlichen Erscheinungen im Leben der Völker müssen, im ganzen, als Mittel der Begeisterung und Erhebung angesehen werden, dürfen aber im einzelnen nicht nachgeahmt werden, da ein solches Verhalten, bei der unausbleiblichen Ungleichheit der Zeiten und der Umstände, leicht das Gegenteil von dem hervorbringt, was damit bezweckt wird. Friedrich der Große soll in seinen letzten Jahren, sei es aus Überzeugung oder in einem Anfall von übler Laune, geäußert haben, daß seine Armee demoralisiert sei. Wahrscheinlich hatte er recht, und er würde mit ihr 1780 nicht dasselbe wie zwanzig Jahre vorher ausgerichtet haben. Die Maschine war noch in festem Gange, aber der sie früher belebende Hauch war verflogen. Seitdem war nicht nur nichts geschehen, um den Geist des Heeres zu erhöhen, sondern audi die naheliegenden von der Erfahrung gebotenen materiellen Verbesserungen waren außer acht gelassen worden. Die Zusammensetzung der Armee, auf deren Schultern dieser Staat mehr als irgendein anderer ruhte, das Werbesystem, die dem Verdienst und der Befähigung nicht förderlichen Regeln des Avancements, die Ausrüstung und Verpflegung waren mit allen ihren Mängeln dieselben wie in den Rheinfeldzügen geblieben, nur daß es 1806 noch mehr als früher an Kraft und Einsicht fehlte. Dabei hatte bis zum Ausbruch des Krieges, wo in vielen Gemütern beim Anblick der allgemeinen 11
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Verwirrung und Planlosigkeit die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks aufstieg, in den höhern Sphären der Armee eine unbegreifliche Selbstüberschätzung und Verblendung geherrscht. Der General Rüchel soll einmal in einem militärischen Zirkel in Potsdam die Äußerung getan haben, daß es im preußischen Heer mehr als einen Feldherrn gebe, der es mit Napoleon aufnehmen könnte. Die letzten Monate des Jahres 1806 waren die traurigsten jener drangvollen Zeit, denn es sah damals aus, als ob der preußische Staat sich nicht wieder erheben werde. In Berlin,schien man die fremde Herrschaft am willigsten aufzunehmen und sich an sie am leichtesten gewöhnen zu wollen. Die bestehenden Behörden und Einrichtungen dauerten ohne Unterbrechung fort, nur daß alles nach der Intention und dem Interesse der französischen Befehlshaber und ihrer Militärverwaltung geschehen mußte. Der vaterländische Geist schien eine Zeitlang von dem Druck der so plötzlich eingetretenen Ereignisse wie betäubt und gab kein Lebenszeichen von sich. Erst das tapfere Verhalten des preußischen Korps unter L'Estock bei Eylau, die tüchtige Verteidigung von Danzig, Kolberg, Graudenz, Kosel, Neisse, Glatz, die patriotischen Versuche zum Widerstand gegen den Feind in Pommern und Schlesien, die, obgleich von militärischen Kreisen ausgehend, auch in dem sonst friedlichen Teile der Bevölkerung Anklang und Unterstützung fanden, frischten die ermatteten Hoffnungen wiederum etwas an. Da machte die Niederlage der Russen bei Friedland und der Friede von Tilsit dem Blutvergießen, aber nicht den übrigen Leiden des Krieges ein Ende, indem Preußen noch längere Zeit über von den Franzosen besetzt blieb und von ihnen gedrückt und ausgesogen wurde. Die in Tilsit begonnene und ein Jahr später in Erfurt fortgesetzte Annäherung Napoleons und Alexanders schien den Kontinent der Herrschsucht und Vergrößerungslust der beiden Kaiser preiszugeben und die Unabhängigkeit der Völker zerstören zu wollen. Häusser schließt diesen inhaltsschweren Abschnitt (Seite 119) mit der Bemerkung, daß in keiner anderen Zeit das Dasein der europäischen Welt in ihrer eigentümlichen Art ernster als durch den Bund des östlichen Barbarentums mit dem neuen abendländischen Cäsarismus in Frage gestellt worden ist. Denn wenn es möglich gewesen wäre, diesen Zustand zu einem dauernden zu machen, so würde der freien und darum mannigfaltigen Entwicklung des europäischen Geistes ein einförmiges Gepräge aufgedrückt und der moralische und politische Fortschritt aufgehalten worden sein. Friedrich Wilhelm III. hatte sich nicht gleich nach den erlittenen Unfällen von der Notwendigkeit einer Systemsänderung und einer anderweitigen Besetzung der obersten Staatsstellen überzeugen können. Er glaubte, die traurigen Erfahrungen, die er im Oktober und November gemacht hatte, nur militärischen Gründen zuschreiben zu müssen, obgleich sie tiefer lagen. Er behielt sogar noch eine Zeitlang Haugwitz bei, der durch seinen Leichtsinn und seine Schlaffheit so viel zu dem verzweifelten Stande der Dinge beigetragen hatte, ließ durch Lucchesini und Zastrow mit Napoleon unterhandeln und stieß unter starken Ausdrücken von Mißfallen und Unzufriedenheit Stein von sich, der, da er den Einfluß gewisser persönlichen Umgebungen für verderblich hielt, seine Entlassung verlangt hatte. Aber nachdem der Frieden geschlossen und Friedrich Wilhelm seine Lage klarer übersehen konnte,
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ging er mit Entschiedenheit an eine große Reform des Staates und gewann es über sich, Stein mit deren Ausführung zu beauftragen, obgleich der überlegene Geist und der Unabhängigkeitssinn des wiedereingesetzten Ministers einem Fürsten, der an eine unumschränkte Gewalt gewöhnt war, zuweilen etwas drückend erscheinen mußte. Selten ist der rechte Mann so zur rechten Zeit, wie damals Stein in Preußen, erschienen. Er wurde für dasselbe, was Richelieu, allerdings unter anderen Umständen und zu anderen Zwecken, aber mit ähnlicher folgerechter Notwendigkeit einst für Frankreich, und neuerdings William Pitt für England gewesen, zugleich ein Mann der Tat und des Gedankens, der Theorie und Praxis, und er hat, wenn man die kurze Zeit seines Wirkens und die entgegenstehenden Hindernisse in Betracht zieht, nicht weniger als diese beiden großen Minister geleistet. Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit, die Errichtung der Städteordnung, die Verbesserungen in der Verwaltung, haben Stein zu einem Regenerator Preußens gemacht und ihm unter den deutschen Staatsmännern älterer und neuerer Zeit ohne allen Vergleich die erste Stelle verliehen. An die politischen Schöpfungen Steins reihten sich die militärischen Reformen Scharnhorsts; der von Fichte, Schleiermacher, Ernst Moritz Arndt, dem Tugendbund, der Stiftung der Universität Berlin, der Einführung des Turnens gegebene Umschwung, besonders in den Ideen und Sitten der Jugend der gebildeten Stände, breitete sich im stillen über ganz Deutschland aus und arbeitete der Erhebung des Jahres 1813 vor. Obgleich Häussers „Deutsche Geschichte" überall den Charakter der Gründlichkeit, Klarheit und Reife des Urteils an sich trägt, so sind doch, wie in jedem geschichtlichen Werk, das einen längern Zeitraum umfaßt, die einzelnen Abschnitte nicht alle gleich anziehend, was von der Verschiedenheit des Stoffs abhängt, den der Historiker nicht wie der Dichter frei gestalten kann. Der Abschnitt „Die Reform in Preußen" ist einer der dem Gegenstand nach dankbarsten, aber auch einer von denen, die in der Ausführung am gelungensten sind. Wir haben in bezug auf die beiden ersten Bände dieses Werks die Bemerkung gemacht, daß der Verfasser in seiner Darstellung zuweilen das Persönliche zu sehr dem Sachlichen unterordnet und die Leser über das Wesen der hervorragenden Erscheinungen jener Zeit nicht immer hinreichend aufklärt. Dieses Urteil findet aber keine Anwendung auf den dritten Band dieses Werks, in welchem von Männern wie Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Fichte, Schleiermacher, Ernst Moritz Arndt, Graf Philipp Stadion, Metternich, Wilhelm von Humboldt usw. ein Charakterbild, in längeren oder kürzeren Zügen, aber immer wahr und lebendig, entworfen wird. Wir müssen, da wir nicht auf die Einzelheiten dieses Werks eingehen können, sondern nur den wesentlichen Inhalt desselben in kurzem zusammenfassen und einige Betrachtungen daran anknüpfen, vieles ganz übergehen, was wohl erwähnt zu werden verdiente. Wir wollen aber den Leser auf den Abschnitt „Rheinbündische Zustände" (Seite 220 bis 255) aufmerksam machen, da derselbe Tatsachen enthält, die dem größeren Publikum weniger bekannt als manches andere sind, und doch zur Kenntnis jener Epoche gehören. Die Katastrophe in Bayonne, die erzwungene Abdankung der spanischen Bourbonen, die Gefangenschaft Ferdinands VII. und seiner Brüder hatten die übelste 11*
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Seite in Napoleons Wesen, die Mischung von Gewaltsamkeit und List, vor den Augen der Welt in einer Weise enthüllt, die selbst nach der Hinrichtung des unglücklichen Herzogs von Enghien noch überraschen konnte. Die alten Dynastien fühlten sich von dieser tyrannischen Tat Napoleons, die etwas hatte, was an den Orient erinnerte, und zugleich eine so große Geringschätzung gegen seine legitimen Kollegen auf den Thronen an den Tag legte, auf das äußerste verletzt und bedroht. Auf der anderen Seite machte die unerwartete Erhebung des spanischen Volks einen Eindruck wie kein anderes Ereignis seit dem Ausbruch der französischen Revolution. Es handelte sich jetzt wie damals, wenn auch unter anderen Formen, wieder um ein allgemeines nationales Interesse, das zu dem Herzen aller andern Völker sprach. Frankreich hatte, seitdem es seine eigene Freiheit verloren, auch die Sympathien des Auslandes eingebüßt. Es schien nur noch dazu da zu sein, um seinem großen Zwingherrn die Werkzeuge zur Unterdrückung anderer zu liefern. Der begeisterte, von Erfolg gekrönte Widerstand der Spanier brachte in ganz Europa eine elektrische Wirkung hervor. In diesem Augenblick entschloß sich das sonst so vorsichtige und abwägende Österreich zu einem neuen Kampfe gegen den Eroberer, die, wie uns scheint, kühnste und ruhmvollste Tat seiner neueren Geschichte, durch die es bewies, daß es wahrhaft eine Großmacht war und den Mut und die Kraft zu entscheidenden Unternehmungen besaß. Es stellte in dieser niedergedrückten Zeit ein Beispiel von unschätzbarem Wert auf, welches auch der unmittelbare Erfolg seiner kühnen Schilderhebung sein mochte, es machte den Spaniern durch seine Diversion in einem Augenblick Luft, wo der Dränger in Person gegen sie vorgegangen war, und zwang ihn, einen großen Teil seiner besten Truppen aus dem Lande herauszuziehen, das er nach seiner Art schon mit scharfer Kralle gefaßt hatte, und über die Pyrenäen und den Rhein nach der Donau zu führen. Österreich rechnete bei seinem Unternehmen auf den Doppelkrieg, den Napoleon jetzt zu führen haben würde, auf die sichtbar werdende Erschöpfung Frankreichs, auf eine Landung der Engländer an der Nordseeküste, auf eine Erhebung Norddeutschlands, die sich auch dem Westen und Süden mitteilen konnte. Es hatte große militärische Kräfte in Bewegung gesetzt und war zugleich der Mittelpunkt einer geistigen Propaganda geworden, die überall in Deutschland geheime Verzweigungen hatte; es war mit einem ihm sonst fremden Aufschwünge in den Kampf gegangen, trug nationale statt dynastische Ideen zur Schau und forderte Deutsche, Polen und Italiener zu Unabhängigkeit und Freiheit auf. Aber alle diese großen Anstrengungen waren für den Augenblick vergeblich. Die Stunde des Gewaltigen war noch nicht gekommen, die Völker hatten noch nicht das Wort aus der Höhe vernommen: „Bis hierher und nicht weiter und hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!" Österreich unterlag und mußte den Frieden mit großen Opfern erkaufen. Merkwürdig ist es, daß ein noch nicht achtzehn Jahre alter Handelslehrling, Ferdinand Staps, der Sohn eines Predigers zu Naumburg an der Saale, durch seine kundgegebene Absicht, den Weltgebieter zu ermorden, auf die Beschleunigung der Friedensunterhandlungen nicht ohne Einfluß gewesen ist. Napoleon war in dem Lande der blutigen Rache, in Italien und Spanien, unversehrt, selbst unbedroht geblieben. Es mußte deshalb einen um so tieferen Eindruck auf ihn machen, unter
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dem kontemplativen Volke der Deutschen auf einen so verzweifelten Entschluß und eine so persönliche Gefahr zu stoßen. Diese kurze, aber sehr verwickelte, schwer darzustellende Epoche von Napoleons Erscheinen an der Donau bis zum Wiener Frieden mit dem Trauerspiel in Tirol in ihrer Mitte und an ihrem Schluß die mannigfaltigen Bewegungen der Heere auf so verschiedenen Punkten und die einzelnen politischen Zwisdienfälle sind von Häusser mit großer Klarheit und Genauigkeit dargestellt worden, wie man ihm denn überhaupt nachrühmen muß, in seiner Erzählung nie Dunkelheiten und Lücken gelassen zu haben, was nicht gewöhnlich in Werken ist, die eine große Fülle ineinandergreifender Tatsachen behandeln. Das Unterliegen Österreichs nach so großen Anstrengungen mußte für den Augenblick eine tiefe Niedergeschlagenheit hervorbringen. Aber dieses Gefühl dauerte nicht lange. Deutschland hatte durch den letzten Krieg an Selbstgefühl gewonnen, denn Österreich hatte seine Sache mit der des deutschen Volks verflochten und war zwar besiegt, aber nicht gedemütigt worden. Der Tag von Aspern, die Tapferkeit, mit der die österreichischen Truppen überall gefochten, der Heldenmut des Tiroler Landvolks, die Unternehmungen Dörnbergs, Schills, des Herzogs von Braunschweig hatten zum ersten Mal in den Massen den Gedanken an einen aktiven Widerstand gegen die fremde Herrschaft wachgerufen. Der Funke zu einer nationalen Erhebung war von Spanien aus herübergeflogen, war von dem letzten Kriege genährt worden und bedurfte nur eines günstigen Hauches, um zur Flamme emporzulodern. Auf der pyrenäischen Halbinsel dauerte der Kampf mit derselben Hartnäckigkeit fort, und Wellington, „l'homme fatal", wie ihn Chateaubriand bei einer gewissen Gelegenheit nennt, war erschienen wie der schwarze Punkt am Horizont, der auf der See den kommenden Sturm anzeigt. Vor allem sorgte Napoleon selbst dafür, daß das Gefühl des Druckes, mit dem er auf Europa lastete, sich allmählich selbst unter den niedrigsten Schichten der Bevölkerung, die früher dem öffentlichen Leben ganz ferngestanden, verbreitete. Er ließ Preußen durch Kontributionen, Lieferungen, Durchmärsche methodisch aussaugen. Nachdem er es Stein unmöglich gemacht hatte, im preußischen Dienst zu bleiben, erklärte er denselben in die Acht und zwang ihn zur Flucht, aber ohne dessen patriotischen Eifer und seine unermüdliche Tätigkeit zur Befreiung des Vaterlandes lähmen zu können. Hardenberg übernahm die Leitung der preußischen Angelegenheiten, ein Mann, der sich an Größe des Charakters und Weite des Blicks nicht mit Stein vergleichen ließ, aber doch im ganzen auf dem von diesem gelegten Grunde fortbaute und das Staatsschiff unter den Klippen jener gährenden Zeit, von dem Mißtrauen Napoleons gegen Preußen, dem Widerstande der Anhänger des Alten im eigenen Lande, der Ungeduld der Patrioten, welche die Zeit der Erhebung gegen Frankreich nicht erwarten konnten, gedrängt, bald fest, bald nachgiebig, mit großer Klugheit zu leiten wußte. Napoleon hatte nach dem Wiener Frieden den Gipfel menschlicher Hoheit und äußeren Glücks erreicht, auf dem ihm aber, wie auch bei Alexander dem Großen und Cäsar in ihrer letzten Zeit der Fall gewesen, zu schwindeln anfing. Die Tiefe seines Verstandes, die Klarheit seines Blicks wurde von dem Glauben an seine
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Unwiderstehlichkeit und die unwandelbare Dauer seines Glückssterns verdunkelt. Er kannte fortan keine anderen Rechte und Pflichten an als die, welche sich mit seiner Herrschsucht vereinigen ließen, und legte seinen eigenen durch lange Gewohnheit zur anderen Natur gewordenen Gefühlen Zwang an, indem er sich von seiner ersten Gemahlin trennte und die österreichische Kaisertochter heiratete. E r dachte durch diese Verbindung in den Augen des französischen Volkes noch zu steigen, seinen Ursprung gewissermaßen zu veredeln, und die Zukunft seiner Dynastie zu sichern. Er irrte sich hierin wie in so vielem, was er von dieser Zeit an tat. Die neue Kaiserin wurde in Frankreich nie populär, und er selbst trat damit den alten Regentenhäusern nicht näher, zumal er fortfuhr, dieselben nach wie vor, selbst seinen Schwiegervater nicht ausgenommen, zu verletzen und zu demütigen. Den Rheinbundfürsten, die ihn gegen Preußen und Österreich hatten unterstützen müssen, legte der Kampf gegen Spanien jetzt noch schwerere Opfer auf. Sie waren außerdem bei den häufigen von ihm angeordneten Gebietsveränderungen nicht einmal ihres Daseins recht sicher, indem irgendein kolossaler Plan des angeblichen Protektors zu ihrem völligen Untergang führen konnte. E r vereinigte Holland und den Überrest des Kirchenstaats mit Frankreich und ließ sich mit dem Papsttum in Streitigkeiten ein, bei denen ihn seine gewöhnlichen Gewaltschritte zu keinem Ziel führen konnten. Napoleon drückte und bedrohte aber nicht bloß die Fürsten, sondern lastete nodi schwerer auf den Völkern, indem die Kontinentalsperre gegen England in die täglichen Gewohnheiten des Lebens störend eingriff, den Verkehr hemmte, eine Menge harter Maßregeln zur Folge hatte und die Handelsplätze und Seeküsten der Verarmung entgegenführte. In der übelsten Lage befand sich Preußen, das, scheinbar selbständig, da es nicht in den Rheinbund eingetreten war, unter allen Staaten am meisten das Mißtrauen und die Abneigung des übermütigen Siegers erregte. Es verdiente aber auch diese Auszeichnung, indem es der Mittelpunkt des moralischen Widerstandes gegen die französische Herrschaft und der Herd war, auf dem die Flamme der Hoffnung auf eine baldige Befreiung am hellsten brannte, aber auch mehr als einmal zur Unzeit hervorzubrechen drohte. Die Erbitterung über die erlittenen Drangsale und Demütigungen war so groß geworden, daß manche bedeutende, aber leidenschaftliche Stimmen im offenen Bruch und Kriege gegen Napoleon die einzige Möglichkeit der Rettung sahen und den König in diesem Sinne zu bestimmen suchten. Das von Spanien gegebene Beispiel übte einen zauberischen Einfluß aus und ließ die Unterschiede in der gegenseitigen Situation übersehen, die so groß waren, daß das, was in dem einen Lande heilsam sein konnte, in dem anderen vielleicht zum Untergang geführt hätte. Häusser kommt mehrmals auf dieses ungestüme Drängen der Kriegspartei in Preußen zurück und erwähnt auch des sonderbaren Umstandes, daß einige Heißsporne unter den Gegnern Frankreichs an eine Wiederholung russischer Geschichtsszenen dachten und nicht abgeneigt gewesen wären, den Prinzen Wilhelm statt des regierenden Königs auf den Thron zu setzen. Friedrich Wilhelm I I I . wies jedoch, sei es, daß er die Lage der Dinge besser durchschaute, oder weil er und sein Haus bei einer voreiligen T a t am meisten zu verlieren hatten, jene verlockenden Ratschläge mit löblicher Standhaftigkeit zurück und beharrte dabei, im Innern
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alles, so viel von ihm abhing, zur Benutzung eines günstigen Moments in Bereitschaft zu setzen, demselben aber nicht verwegen vorzugreifen. Er war entschlossen, nicht ohne Widerstand zu fallen, wenn, wie es den Anschein hatte, der Sieger damit umgehen sollte, die preußische Monarchie in Trümmer zu schlagen, wollte aber nicht, bevor niciit ein entscheidender Schlag gefallen, der eine wahrscheinliche Aussicht auf Befreiung von dem fremden Joch gewährte, alles auf einen mehr als zweifelhaften Wurf des Gelingens setzen. Diese Auffassungsweise war die den Umständen angemessenste und ist von der Zukunft bestätigt worden. Napoleon gab durch seine Politik die Veranlassung, daß ein solcher für die Welt glücklicher Moment früher eintreten sollte als vermutet werden konnte. Denn die Meinung war sehr verbreitet, daß er während seines Lebens wohl nicht gestürzt werden könne und daß man seinen Tod abwarten müsse, wo die Kette, die sein gewaltiger Arm um so viele Völker geschlungen hatte, von selbst brechen werde. Aber sowohl das, was er nach Österreichs letztem Unterliegen unterließ, als das, was er tat, war geeignet, seinen Sturz zu beschleunigen. Er war in seinem ungeheuren Stolz dahin gekommen, weder moralische noch natürliche Hindernisse zu berücksichtigen, alles, was er wollte, für möglich zu halten und das Schicksal selbst herauszufordern. Der Krieg in Spanien war, wie Napoleon nach seinem Fall selbst eingestanden hat, der Krebsschaden, der an seiner Macht nagte. Anstatt nach dem Wiener Frieden in Person dahin zu gehen und diesen Kampf, der die Grundlage seiner Macht, die Vorstellung von seiner Unbesiegbarkeit, zu erschüttern drohte, um jeden Preis zu beendigen, zeigte er sich mit seiner jungen Gemahlin den verschiedenen Provinzen seines Reichs, traf zur Unterwerfung der pyrenäischen Halbinsel nur halbe Maßregeln, überredete sich, daß er diesen Krieg aus der Ferne ebensogut zu leiten vermöchte, als wenn er gegenwärtig wäre, und Schloß wie absichtlich die Augen vor der inneren Erregung, die das Beispiel dieses ungebrochenen Widerstandes in Europa hervorbringen mußte. Während in Spanien seine Adler den Ruf der Unüberwindlichkeit verloren und er die dortigen Angelegenheiten mit der ihm sonst gewöhnlichen Entschlossenheit und Rastlosigkeit führte, beging er im Norden einen unerhörten Eingriff in die bestehende Ordnung der Dinge, indem er unter dem Vorwande, die Kontinentalsperre zu vervollständigen und wirksamer zu machen, einen Strich deutschen Landes von 605 Quadratmeilen mit 1 200 000 Einwohnern unmittelbar mit Frankreich vereinigte. Er entthronte bei dieser Gelegenheit den Herzog von Oldenburg, einen nahen Verwandten des russischen Kaiserhauses, und beraubte die Hansestädte ihrer uralten Unabhängigkeit. Häusser hat in diesem Abschnitt seines Werks das Verfahren der Werkzeuge des Napoleonschen Unterdrückungs- und Aussaugungssystems, namentlich Davousts und Bourriennes, ohne Ubertreibung, aber in gebührender Weise gebrandmarkt. Nach dem Wiener Frieden stand auf dem ganzen europäischen Kontinent nur noch eine Macht ungebrochen da. Es war dies Rußland, dessen Regierung zwar seit 1807 von Napoleon beeinflußt wurde, aber doch nicht unter seine Botmäßigkeit gefallen war. Die Folgen der Kontinentalsperre, durch die Rußland zu verarmen anfing, das ungeheure Übergewicht, das Frankreich nach dem Unterliegen öster-
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reichs erlangt hatte, erschütterten den Kaiser Alexander in seiner bisherigen Überzeugung von dem Wert des französischen Bündnisses für ihn, und die Beraubung des Herzogs von Oldenburg löste die persönlichen Bande, welche zwischen den beiden Kaisern einige Jahre lang bestanden hatten. Napoleons Glücksstern war im Süden aufgegangen. Die Siege in Italien und Ägypten hatten seinen Namen mit einem magischen Glanz umgeben. Er hatte später an der Donau und der Weichsel große Erfolge davongetragen, aber es lag schon in dem Feldzug von 1807, auf den Schneefeldern von Pultusk und Eylau ein unnennbares Etwas, das ihn hätte daran erinnern können, daß er sich schon nicht mehr auf seinem natürlichen Boden befand und daß es bedenklich sein würde, über denselben noch hinausgehen zu wollen. Aber gerade die mit dem Wagstück verbundene Gefahr und der Drang, die letzte Schranke niederzureißen, die ihn von seinem Ziel, den ganzen Kontinent zu seinen Füßen zu sehen, noch trennte, trieb ihn zu dem Zuge gegen Rußland an. Er zwang Österreich und Preußen zur Stellung von Hilfstruppen gegen den Monarchen, der mit beiden früher so eng verbündet war. Die Kriegspartei in Preußen dachte selbst in diesem gefährlichen Augenblick, wo das Land von Napoleonschen Truppen ganz umstellt war, an eine Erhebung gegen die französische Herrschaft. Aber der König widerstand diesem Ansinnen, unterwarf sich dem Gebot der Notwendigkeit und ging auf das Bündnis mit Frankreich, so schwer es ihm auch fallen mußte, ein. Häusser hat die welthistorische Katastrophe in Rußland, von der es so viele und ergreifende Schilderungen gibt, nur in ihren Hauptzügen dargestellt, indem er, in Übereinstimmung mit dem Titel und Gegenstand seines Werks, den größten Raum den Ereignissen gewidmet hat, die auf deutschem Boden vorgefallen sind. Nur das wollen wir noch bemerken, daß auch aus Häussers Angaben mit Bestimmtheit hervorgeht, daß der Rückzug der Russen von der Düna bis an die Moskwa kein im voraus bedachter Plan, keine zusammenhängende Berechnung gewesen, sondern vornehmlich auf Scharnhorsts Rat ausgeführt worden ist, so wie Steins Einfluß der folgenschwere Entschluß des Kaisers Alexander zugeschrieben werden muß, die Friedensanträge Napoleons abgewiesen zu haben. Die Russen haben dies aus nationaler Eitelkeit und Mißgunst gegen deutsches Verdienst in Abrede stellen wollen. Der dritte Band von Häussers „Deutscher Geschichte" endigt mit der Erwähnung des neunundzwanzigsten von Molodeczno aus datierten Bulletins (3. Dezember 1812), in welchem Napoleon der erstaunten Welt wenigstens einen Teil der lange verhüllt gebliebenen Wahrheit über das Ergebnis seines Feldzuges in Rußland eingestand, mit dem eine neue Epoche in der Geschichte begonnen hat.
II. Z U R L I T E R A T U R U N D K U N S T Λ.
Von Dilthej
gezeichnete oder anders nachgewiesene Abhandlungen
Osterfest und Osterspiele I. Die
Vigilien
Wer an der reichen und sinnvollen Gestaltung des religiösen Volkslebens in Sitte und Symbol, in Sage und Brauch seine Freude hat, der wird in diesen Tagen der Osterzeit gern aus der ernsten Einfachheit unserer religiösen Volkssitte in die Vergangenheit des Christentums blicken. Der Bilderreichtum jener älteren Zeiten ist zergangen vor der protestantischen Vertiefung des sittlich-religiösen Geistes in sich selber. Man möchte diese Entwicklung mit derjenigen vergleichen, welche unsere Sprache erlitt, als sie ihre erste sinnliche Gewalt und volltönende Form verlor, um das geschmeidige Organ einer vielfach verzweigten, feinen und tiefgehenden Bildung zu werden. Und so überkommt wohl auch den religiösen Menschen bei der Betrachtung der christlichen Bräuche jener älteren Zeiten etwas von der Empfindung, mit der wir die kräftigen und klangvollen Verse des Nibelungenliedes rezitieren. Unter den ersten Christen hat sich lange eine Schüchternheit der religiösen Empfindung erhalten, welche in Bildern und Festdarstellungen nur mit leisen Andeutungen die göttlichen Begebenheiten zu berühren wagte. Man beschränkte sich auf symbolische Darstellung derselben. Gingen doch von Häretikern und Heiden die ersten Christusbilder aus. So sehr war der kirchliche Geist der sinnlichen Welt abgewandt, daß man sich Christus nur in einer alle Schönheit der sinnlichen Welt verschmähenden Gestalt denken konnte. In dieser Periode fand denn audi die Festfreude der Ostertage nur einen einfachen symbolischen Ausdruck. Aus den ersten Zeiten nämlich, in welchen das verfolgte Christentum in den Katakomben seine nächtlichen Gottesdienste hielt, blieben der Kirche die Vigilien, nächtliche Feiern, die den Sonn- oder Festtagen vorhergingen. Die dem ersten Ostertag voraufgehende Nacht wurde aber unter allen am festlichsten begangen. Der Glanz unzähliger Lichter erhellte dann die weiten Grabgewölbe, in deren Seitennischen, wie in übereinander liegenden Schichten, die Märtyrer und Freunde ruhten; er beleuchtete die vielfachen Inschriften und Symbole, welche auf eine freundliche und würdige Weise die Hoffnung der Auferstehung aussprachen, wie es eine Anzahl noch erhaltener Ausschmückungen bezeugen. Den höchsten Glanz erhielten diese Vigilien, als Konstantin durch prächtige Feste die Heiden für die Staatskirche zu
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Literatur und Kunst
gewinnen suchte. Die verherrlichende Biographie dieses allerchristlidisten Kaisers, die der Bischof Eusebius verfaßt hat, hebt seinen Eifer für Gottesdienste und Feste ganz besonders hervor. „Die heilige Nacht der österlichen Feier verwandelte er in strahlenden Tag. Hohe Wachskerzen brannten in der ganzen Stadt; Fackeln erleuchteten jeden Ort; heller als der hellste Tag selbst glänzte diese mystische Feier. Sobald aber der Tag heranbrach, teilte er, die Wohltat des Heilandes nachahmend, reiche Geschenke mit vollen Händen unter die ganze Gemeinde, Einheimische und Fremde, aus." Die Osterreden, welche uns aus derselben Zeit erhalten sind, ganz im Geiste der späteren griechischen Redekunst abgefaßt, beginnen zuweilen mit einer Erinnerung an die festliche Nacht. „Schön war das Schwingen der Fackeln, das Tragen der Lichter" — so drückt sich einer dieser Festredner, Gregor von Nazianz, aus — „wie wir es daheim und öffentlich begangen haben, da alle Stände, Hohe und Niedrige, wetteiferten, durch strahlenden Lichtglanz die Nacht zu erleuchten und das Bild des großen Lichtes darzustellen." Er nennt diese Nacht „die strahlende, welche das Dunkel der Sünde erhellt, in der wir mit reichprangendem Lichte die Erlösung feiern." Während draußen die Menge des Volkes in den erleuchteten Straßen wogte, währte in den Kirchen die ganze Nacht hindurch der Gottesdienst. Die zwölf großen Prophetien auf Christus wurden verlesen; die Haupttauffeier des Jahres fand statt. Indem die religiöse Phantasie Vergangenheit und Zukunft ineinander wob, war die Erwartung entstanden, daß in dieser Nacht die Wiederkunft Christi geschehen würde. Sie knüpfte an eine alte hebräische Sage an, daß der Messias erscheinen würde wie einst am Passah die Rettung aus Ägypten. Schon die eben angeführten Stellen konnten zeigen, wie der Gebrauch der Lichter, der anfänglich der Not entsprungen war, bald eine symbolische Bedeutung erhielt. War doch das Licht diesen Jahrhunderten ohnehin das mystische Symbol des göttlichen Wesens und der von ihm ausgehenden göttlichen Kräfte. „Wie im All", sagt Philo, „die Natur des Lichtes die herrschende ist, so ist die Vernunft Beherrscherin der Dinge." Und Clemens nennt den Sohn Gottes „ganz väterliches Licht, ganz Auge, alles schauend", „des Lichtes uranfängliches Licht". In unendlichen Variationen kehrt dieser Gedanke wieder. Die Menge freilich mochte den mystischen Sinn immer weniger achten, je glänzender die Feier wurde. So regte sich bereits im vierten Jahrhundert eine lebhafte Opposition gegen das nächtliche Fest, weil es in bloße Volksbelustigung auszuarten drohte. Dieser Opposition ist es denn auch endlich erlegen im Abendlande. Völlig freilich haben es nur die protestantischen Kirchen aufgegeben. Anders im Orient. Die Kopten haben überhaupt die Vigilien vor allen Hauptfesten beibehalten. Und die griechische Kirche feiert diese Ostervigilie noch mit der alten Pracht. Die Berichte freilich, welche Reisende besonders von der Feier in der heiligen Grabeskirche zu Jerusalem gegeben haben, zeigen die Ausartung und den Verfall, wie der griechischen Kirche überhaupt, so audi dieser Feier. In der weiten Rotunde der Grabeskirche drängen sich schon früh die Griechen, eifrig und lärmend. Auch die protestantischen und katholischen Konsuln sieht man da, ja den türkischen Pascha, der bei einer Pfeife und Kaifee sich an dem Treiben seiner Untertanen ergötzt. Türkische Soldaten, die ab- und zugehen, halten die wogende Menge nur
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notdürftig in Ordnung. Mit dem Schlage zwölf umzieht die Prozession des Klerus dreimal die heilige Kapelle, die sich in der Mitte der Rotunde über dem angeblichen Grabe Christi erhebt, mit den Gestalten des Auferstandenen, der Marien und des Engels geschmückt. Es ist ein alter Glaube, daß in dieser Nacht durch das Gebet des Metropoliten Feuer auf dem heiligen Grabe erscheine. Wer aber seine Kerze zuerst an diesem Feuer entzündet, schützt sich dadurch vor dem Fegefeuer. Zunächst begibt sich also der Metropolit, nachdem er gezeigt, daß er keinen Feuerstoff bei sich trage, in das Innere des Grabes. Sobald dann das Feuer erscheint, stürmt die Menge herzu, jeder trägt eine Kerze in der Hand, und es entsteht ein Handgemenge, wer die seine zuerst anzünde. Sobald dies geschehen, verbreitet sich das heilige Licht in wenigen Minuten durch die ganze Kirche fast bis oben hinauf zu der gewaltigen goldgeschmückten Kuppel. Man erzählt von solchen, die diese heilige Flamme bis nach Konstantinopel gebracht hätten; ja in Petersburg soll eine ewige Lampe brennen, die an diesem Feuer angezündet ist. Ibrahim Pascha verlangte einst in die Grabeskapelle mit einzutreten, um sich zu überzeugen, ob hier Wunder oder Betrug vorläge. Als es versagt wurde, verbot er die Prozedur. E r entkam aber nur mit N o t dem Fanatismus der rasenden Menge.
IL Die Osterzeit und das nordische Frühlingsfest Alle indogermanischen Religionen, wo nicht alle Religionen überhaupt, waren ursprünglich reine Naturreligionen. Allen scheint auch ein Frühlingsfest gemeinsam. Es ist ein Siegesfest der warmen Frühlingshelle über das kalte winterliche Dunkel. Vielfache Gebräuche desselben haben sich bei Juden und Parsen, Germanen und Slawen erhalten. Aber der sittlich-geschichtliche Gehalt der Religionen drängte überall die erste kindliche Beziehung zur Natur in den Hintergrund. Und so mußte, was von diesen Gebräudien die älteste Naturreligion selber überlebte, eine Umdeutung im Sinne des späteren Volksglaubens erleiden. Bei den Hebräern verschwand sehr früh die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes. Die Inder deuteten den Kampf zwischen Sommer und Winter und den Sieg des Sommers auf den Sieg Gäutamas über die sechs Irrlehrer. Vom „ersten Tage der Monderscheinung des ersten Frühlingsmondes" ab währe dieser K a m p f : so lautet ihre Sage. Auch die germanisch-slawischen Bräuche des Frühlingskampfes, des Todaustragens usw. haben im Volksbewußtsein diese Beziehung großenteils verloren: sie wurden auf den Sieg des christlichen Glaubens über die Heiden-Götter gedeutet. So tief war die ursprüngliche Bedeutung verschüttet, daß erst das durch Jacob Grimm erweckte Studium der deutschen Mythologie dieselbe wieder ans Tageslicht gebracht hat. Viele von diesen Gebräuchen finden sich nun mit dem Osterfest verbunden. Es ist doch einseitig, diese Verknüpfung wie einen Rückschritt in die Naturreligion zu tadeln. Ein tiefer religiöser Sinn hatte mit dem alten, freudigen Frühlingsfeste die Feier der Rettung Israels verbunden und mit dieser dann das Freudenfest der Christenheit. So wurde im germanischen Osterfeste nur die uralte Verknüpfung zwischen der Feier der befreienden, freudespendenden Macht Gottes, die in der
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Tiefe der Natur wirksam ist, mit der Feier derselben, wie sie die Geschichte beherrscht, von einem mit dem tiefsten Naturgefühl beseelten Volke erneuert. Freilich schwand, zumal seit der großen Wiederbelebung des ursprünglichen Christentums, welches alle Gewalt des religiösen Gefühls auf das Verhältnis des Menschen zu Gott ausschließlich, konzentriert, das alte innige Naturgefühl aus diesen Formen. Wenn wir in den Postillen und Erbauungsbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts nicht selten sehr eifrige und gewiß wirksame Ermahnungen lesen, von den die wahre Gottesverehrung störenden Osterbelustigungen und dem gottlosen, damit verbundenen Aberglauben sich endlich loszusagen, so mögen wir uns mit dem Gedanken darüber trösten, daß diese Gebräuche damals schwerlich viel mehr noch gewesen sind. Aber einst war es anders. Unsere ganze Mythologie und Poesie zeugt davon, daß unserem Volke ein Natursinn, eine Naturfreude innewohnt wie keinem anderen, und in bezug auf die fromme Hingebung an die Natur zerriß gewiß das Band zwischen dem Volke und seinem altväterlichen, heimischen Glauben am spätesten und schwersten. Wenn in der Osternacht auf allen Höhen und Bergen, so weit das Auge trug, Freudenfeuer loderten und alles Volk auf die Berge zog, dann verband sich gewiß mit dem Jubel über die Auferstehung des Herrn die alte Freude über die endlich gekommene helle, sonnige Sommerzeit. Wie in unseren Minneliedern zuweilen aus der dichterischen Personifizierung die Gestalt der Göttin auzutauchen scheint, so sind auch die Frühlingsgedichte des Mittelalters voll von Anklängen an die alte Verehrung der die Lande segnend durchziehenden Frühlingsgottheiten. Der Mai ist in den Landen, er hat seine Briefe gesandt, hat sein Gezelt nun aufgerichtet überall, er hat dem Winter obgesiegt; der Sommer hat gesendet seine Wonne, der Mai breitet über die Lande sein Grün. Versetzt man sich in diese Verknüpfung der altgermanischen und der christlichen Gefühlsweise, so wird der Geist der mittelalterlichen Osterfeier deutlich genug, so vieles Einzelne sich auch bis jetzt hartnäckig der Auslegung entzieht. Der eigentümliche Doppelsinn, den so einige Bräuche zeigen, kann dem mit der Art religiösen Volksglaubens Vertrauten nicht auffallen. Ungezügelt von folgerechtem Denken steigert sich das freie Spiel der Verknüpfungen in der Phantasie des Volks häufig genug zu scharfen Widersprüchen; nur das Gefühl eines Zusammenhangs in der Tiefe der Dinge hält den anscheinend widerspruchsvollen Gedankenkreis in sich zusammen. Schon der N a m e der Ostern deutet auf diesen doppelten Ursprung der Osterfeier. Es findet sich über denselben bei Beda folgende Notiz: „Bei dem alten Volke der Angeln, meinem Stamme, hat der April den Namen Esturmonath, was man jetzt Ostermonat erklärt, ehedem von einer Göttin derselben, Eostra genannt, der in diesem Monat Feste gefeiert wurden, empfangen; nach dieser benennt man jetzt die Osterzeit, indem man der Freudenfeier des neuen Festes den wohlbekannten Namen des alten Festherkommens gibt." — Diesem Namen, Ostarä, Eastre zufolge war die Feier einer Göttin des Morgens, des sidi erhebenden Lichtes, deren Fest somit ganz naturgemäß in die Frühlingszeit fiel, gewidmet. Sie erscheint dem in der „ Völuspa" erwähnten Zwerge Austri, der da neben Westri, Nordri und Sudri vorkommt, einer nordischen Personifizierung des
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Ostens oder Frühlings verwandt. Wenn sich der Volksglaube findet, die Sonne hüpfe am Ostermorgen im Momente des Aufgangs dreimal vor Freuden über die Auferstehung und damit übereinstimmend der Gebrauch, in der Osterfrühe die Berge zu besteigen und den Sonnenaufgang zu sehen, so liegt hier die Beziehung auf die im Frühling siegende Sonne zutage. Auch die Osterfeuer müssen, wie die Johannnisfeuer, ursprünglich einen solchen Sinn gehabt haben, obgleich sich keine Erwähnung derselben, die hinter das 16. Jahrhundert zurückginge, vorfindet. Im Norden Deutschlands findet sich nämlich an vielen Orten der Brauch, am Abend des ersten oder dritten Ostertags auf den Höhen Feuer anzuzünden und dann dort jubelnd unter Tanz und Gesang zu verweilen. In Alt-Henneberg errichteten noch vor fünfzig Jahren die Burschen des Orts alljährlich am Karsonnabend einen Holzstoß mit einem in Stroh gewickelten Kreuze darauf. Dann zündeten sie am Vorabend von Ostern Laternen am geweihten Lichte in der Kirche an und rannten nun im Wettlauf nach dem Holzstoß, um ihn anzuzünden. Zwei Burschen wachten die ganze Nacht bei dem Feuer, sammelten bei Sonnenaufgang die Asche und streuten sie in das Wasser. Wer aber den Holzstoß zuerst erreicht hatte, wurde dann am Ostertage vor der Kirchtüre mit gefärbten Eiern beschenkt. Bei Mittenwald in Oberbayern schleudern die Burschen in Pech getauchte angezündete Bolzen an Ruten in die Luft. Im Hildesheimischen brennen sie eichene Kreuze an, die dann wie heilig das Jahr über bewahrt werden. Die Vermutung, daß in diesen Kreuzen der alte Hammer des Donar zu suchen sei, hat auch nodi andere Beziehungen auf diesen, der audi sonst als Frühlingsgott auftritt, für sich. Die Beziehung auf Donar und Ostarä zugleich würde der Gesamtansdiauung der deutschen Mythologie, welche bei segnenden Götterumzügen und Festen zumeist Götter und Göttinnen zugleich erscheinen läßt, sehr wohl entsprechen. Eine eigentümliche Umbildung ins Christliche liegt in der alten Kölner Sitte. Die Jungen verbrannten da in dem Osterfeuer einen angekleideten Strohmann, der den Judas vorstellt. Auch sonst wird dies Feuer oft Judasfeuer genannt. Eine andere Gruppe von Gebräudien ordnet sidi um die Vorstellung eines Kampfes zwischen Sommer und Winter und die mimische Darstellung desselben. So hat sich in Südwest-Deutschland hier und da der Brauch erhalten, daß der Sommer, in Grün gekleidet, mit dem in Stroh vermummten Winter kämpft und ihn besiegt. In Franken und Thüringen wird eine Puppe ins Wasser getragen und dabei gesungen: Nun treiben wir den Tod aus, Den alten Weibern in das Haus. Der Tod ist hier an die Stelle des Winters getreten, wie das slawische Lied zeigt: Nun tragen wir den Tod aus dem Dorf, Den Frühling in das Dorf. Willkommen angenehmer Frühling, Grün hervorkeimendes Getreide. Diese Bräuche, so wie die ihnen verwandten des Mairitts, der feierlichen Einholung des Sommers sind zwar vom Osterfeste getrennt: sie finden im März oder
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im Mai statt. Aber sie bieten eine glückliche Analogie für das Osterspiel dar. Zur Zeit nämlich, als Auen und Werder grünen — so lautet über dieses die Überlieferung — treten Fridebolt und seine Gesellen mit langen Schwertern auf und erbieten sich zum Osterspiel. Nach dem dabei gesungenen Verse war es ein Tanz mit dem Ostersahs, d. h. Osterschwert, an der Seite. Vermutlich also wohl eine jenem Kampf zwischen Sommer und Winter verwandte Sitte. Wie die Oster- und Johannis-Feuer zusammenhängen, so auch diese Spiele. Wenn die Burschen von Gambach und Griedel in Hessen am Ostermontag nach der Kirche sich um den Besitz eines zwischen den Dörfern gelegenen Hügels, der Osternstein genannt, prügelten, so mag in dieser neuerdings leider auch verschwundenen Volksbelustigung ein Rest dieses alten Osterspiels vorliegen. Auch das „Ostermärlein" setzt Jacob Grimm in Zusammenhang mit diesem heidnischen Osterspiel, so daß es ein Nachklang oder ein Ersatz des alten Festjubels wäre. Darf man dies als richtig annehmen, so liegt hier eines der interessantesten Beispiele dafür vor, wie, nachdem die ursprüngliche Beziehung zweier einander fremder, historisch aber nun einmal miteinander verbundener Vorstellungen oder Gebräuche dem Bewußtsein des Volkes entschwunden ist, dasselbe nie verlegen ist um irgendeine andere Verknüpfung, wie wunderlich sie auch sei. Man zog nämlich das Ostermärlein bei Gelegenheit der Worte der Vulgata „et factum est dum fabularentur" (Luk. 24,15) in die Predigt. Mathesius in seiner „Historie von Luther" erklärt sich diese Sitte so. „Etwa pflegt man um diese Zeit Ostermärlein und närrische Gedichte zu predigen, damit man die Leute so in den Fasten durch ihre Buße betrübet und in der Marterwoche mit dem Herrn Christo Mitleiden getragen, durch solch ungereimt und los Geschwätz erfreuet und wieder tröstet, wie ich solche Ostermärlein in meiner Jugend etliche gehört." Wir können dem Leser ein Beispiel, das der ehrliche Mathesius anführt und das den Kanzelton der damaligen Zeit nicht übel charakterisiert, nicht vorenthalten. „Da der Sohn Gottes für die Vorburg der Hölle kam und mit seinem Kreutz anstieß, haben zween Teufel ihre langen Nasen zu Riegeln vorgestreckt. Als aber Christus angeklopft, daß Thür und Angeln mit Gewalt aufgingen, habe er den zweien Teufeln ihre Nasen abgestoßen. Solches nannten — fügt er klagendhinzu — zuderZeitdieGelehrtenrisuspaschales." Auch Erasmus spottet darüber: was Demosthenes einmal getan, als er seinen Zuhörern die Geschichte von des Esels Schatten zum besten gab, das tue man jetzt auf allen Kanzeln. Erst der Kurfürst Max III. hat in Bayern diese „moralischen Nutzanwendungen" verboten. Uber die Bedeutung der Ostereier sind die verschiedensten Erklärungen versucht worden, ohne daß sich eine derselben feste Anerkennung hätte verschaffen können. Man hat an den indisch-parsischen Mythos von der Öffnung des Welteneis, an den persischen Brauch, am Feste Nawruc gefärbte Eier auszuteilen, an die Bedeutung des Eies als Sinnbildes des in der winterlich harten Erde verschlossenen Lebens, das dann im Frühjahr hervorbricht, auch an die den germanischen verwandten slawischen Bräuche erinnert. Wenn in manchen Gegenden Galiziens rotgefärbte Eierschalen in den Fluß geworfen werden, in der Meinung, wann diese Eierschalen ins Land der Rachmanen (Brahmanen?) kämen, so feiere man dort das Frühlingsfest:
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so scheint da die Beziehung auf das uralte Frühlingsfest zutage zu liegen. Viel nüchterner freilich erscheint die Erklärung aus der kirchlichen Weihe der Eier nach Ablauf der Fasten. Schon aus dem 13. Jahrhundert wird der Gebrauch berichtet, einen Kuchen in Form eines Lammes zu Ostern einsegnen zu lassen. Auch Milch und Honig ließ man in der Kirche weihen. Noch heute wird in Bayern das „Osterlämblein", ein Eierkäse in Form eines Lammes, nebst Ostereiern und andern E ß waren geschmückt am Ostersonntag zur Weihe in die Kirchen gebracht. Mit mehr Sicherheit möchte das Osterballspiel auf das alte Frühlingsfest zu beziehen sein. Wenigstens ist kein Zusammenhang mit christlichen Gebräuchen abzusehen. In Landsberg an der Warthe zieht man am dritten Ostertag auf eine Wiese vor der Stadt, w o Ball geschlagen wird. In einem D o r f an der Elbe ziehen zwei Sonntage vor Ostern die jungen Burschen und Mädchen vor die Häuser der im vorigen J a h r e Verheirateten; die einen bekommen Holzkugeln, die anderen Federballen, mit welchen gespielt wird. M a n hat eine Beziehung solcher Gebräuche auf die Sonne, die sich in dieser Zeit zu ihrem sommerlichen Lauf erhebe, vermutet. Noch einer Sitte ist zu erwähnen: des vielfachen abergläubischen Gebrauchs von Wasser, das in der Osternacht geschöpft ist. V o r Sonnenaufgang nämlich, zuweilen schon zwischen elf und zwölf Uhr nachts, holt man Osterwasser aus fließenden Gewässern, schweigend und stromabwärts mit dem G e f ä ß schöpfend. Das damit besprenge Haus ist von Ungeziefer für das ganze J a h r geschützt. I n einzelnen Dörfern, wie in Schlettau und Nassendorf bei Halle, wäscht man sich damit und ist das kommende J a h r von allen Krankheiten bewahrt. Bei den Slawen ist es Brauch, sich gegenseitig mit dem Osterwasser zu besprengen. In der griechischen Kirche begibt sich der Patriarch an einen benachbarten Fluß und weiht feierlich das Wasser; in der römischen wird das zum kirchlichen Gebrauch bestimmte Weih- und Taufwasser zu Ostern eingesegnet. Auch die Frühlingsfeste der Inder und Perser sind mit Besprengungen verknüpft.
III. Der katholische Kultus und das lateinische
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Es mag sein, daß die dargestellten Volksgebräuche, wie sie aus dem heimischen Glauben des deutschen Volkes erwachsen waren, eine Zeitlang mehr als billig den Kern der Osterfeier im Sinne des Volks überwucherten. Seit dem 12. Jahrhundert aber können wir bereits den entgegengesetzten Verlauf verfolgen. D e r Sieg der Kirche im Wettkampf mit den alten volkstümlichen Erinnerungen ist entschieden; der kirchliche Kultus mit seiner immer steigenden Vergegenwärtigung der christlichen Geschichte ergreift stets mächtiger den Sinn des Volks; er nimmt immer entschiedener die Stelle seiner alten Kampfspiele zwischen Sommer und Winter, den alten heiteren Aufzügen seines Frühlingsfestes ein. So sehen wir das nationale Element nach dem Mittelpunkte des Kultus selbst vordringen. Die symbolische Feier der Vigilien tat diesem nicht Genüge. Auch die Predigt nicht, in der einst die Griechen das göttliche und menschliche Wesen mit kunstvoller Rede durchmessen hatten. W a r der Geist der gesamten griechischen
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Kirche auf den allgemeinen und ewigen Begriff Gottes, des Sohnes, des Geistes gerichtet gewesen, so ergriffen die germanischen Völker vielmehr die einzelne Tatsache, das Geschehen, das Wunder mit der beinahe kindlichen Neugier eines Volkes, das am Beginn seiner Geschichte steht. Hatten jene die metaphysischen Voraussetzungen des Osterereignisses in Symbolen abzubilden, in Reden zu ergründen gesucht, so war es diesen um Darstellung, um lebendige Vergegenwärtigung, um frisches Durchleben der zu feiernden Begebenheiten zu tun. Das Geglaubte, Wunderbare wollte man vor Augen sehen, das Entfernte, lange Vergangene gegenwärtig erblicken. Nicht als ob man die Symbole verschmäht hätte. Auf alten christlichen Sarkophagen sieht man zuweilen einen Christus, Lämmer zu seinen Füßen, zwischen zwei Palmbäumen stehen, aus deren einem ein Phönix herausschaut. Beide Sinnbilder der Auferstehung haben sich audi im Mittelalter erhalten. Ein Schriftsteller des sechsten Jahrhunderts erklärt wunderlich genug den Phönix für den sichersten Beweis der Auferstehung. In einem deutschen Physiologus ersdieint er auch in dieser Bedeutung. „Er ist in einem Lande, heißet Judäa. So er hundert Jahre alt wird, so fährt er in einen Wald, heißet Libanus." „Dieser Vogel" — so schließt die abenteuerliche Beschreibung — „bezeichnet den Christ." Audi eine ähnliche Sage vom Absterben und Wiederaufleben des Palmbaums war dem Mittelalter wohl bekannt. Aber das war eben das Unterscheidende, daß sich hier jede Allegorie sogleich zur Erzählung ausspann, jede vergleichende Nebeneinanderstellung zur wirklichen, geschichtlichen Verknüpfung wurde. Die Symbolik, die Allegorie wurden nicht verdrängt, aber auch sie wurden der Schaulust des Volks, seinem Trieb darzustellen, zu vergegenwärtigen, untergeordnet. Indem die Kirche diesem Drange des Volks nachgab, entstand aus der Liturgie das neuere Drama. Es ist vom höchsten Interesse zu sehen, wie unabhängig von antiken Traditionen diese Entwicklung vor sich geht. Auch ohne jede Erinnerung an dasselbe würde hier, wie einst in Griechenland, aus dem religiösen Feste das Drama entsprungen sein. Und so zur selben Zeit entwickelte es sich in Italien, Frankreich, Deutschland, England, daß die Frage, welches dieser Länder das erste ausgebildete Schauspiel hervorgebracht habe, wohl noch lange unentschieden bleiben wird. Daran, daß es in einem dieser Länder überhaupt seine Heimat habe, ist wohl kaum zu denken. Um die Ausgangspunkte desselben im Osterkultus deutlicher zu machen, geben wir eine Schilderung der Festfeier, wie sie ein liturgischer Schriftsteller des 13. Jahrhunderts beschreibt. Der stille Freitag ging voraus. So still wurde er begangen, daß in Spanien Konzilienbeschlüsse die völlige Suspendierung jeder äußeren Feier verbieten mußten. N u r die rührende Melodie der Lamentationen, ein sich an das erste Kapitel des Jeremias anschließender Trauergesang, derselbe, aus dem sich später die zarten Marienklagen entwickelt haben, erklangen in der alles Schmuckes beraubten Kirche. Das Kreuz war verhüllt. Am Nachmittag wurde es in einer Seitenkapelle, welche die Grabeshöhle bezeichnete, niedergelegt. In der Ostervigilie aber begann nun das freudige Fest. Die Osterlichter brannten; das Kruzifix wurde wieder
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aus der Grabeshöhle erhoben und alles Volk drängte sich herzu, das erhobene Kreuz zu schauen. Denn nach dem Glauben des Volkes starb der in dem folgenden Jahre, der nicht unter den ersten das Kreuz gesehen hatte. Ein Konzil zu Worms (1316) mußte verordnen, daß die Kreuzerhebung künftig im stillen vor dem Eintreten des Volkes geschehen solle, weil der Zudrang desselben zu stürmisch war. Man wird hierbei an den ähnlichen Aberglauben der griechischen Kirche in bezug auf das Osterlicht erinnert. Und nun kam der Ostertag selbst. „Da ist die Kirche" — so lautet der erwähnte Bericht — „gereinigt und an den Wänden geschmückt; es werden an denselben Schnüre und Tücher aufgehangen, und im Chor werden Tapeten und Fußteppiche ausgebreitet. Die Decke, welche vor dem Kreuze war, wird in die Höhe gezogen oder weggenommen. Auch der Altar erhält seinen Schmuck: in einigen Kirchen Fahnen, welche den Sieg Jesu Christi bedeuten." Alle Pracht, welche der Kultus in Gewändern, Gefäßen, Umgängen entfalten konnte, war da zu sehen. Im Vorhofe oder Eingang segneten weißgekleidete Priester die herbeigebrachten Osterspeisen. Prozessionen und Umzüge gingen nach den Quellen und Teichen der Umgegend. An diesem Tage sang man auch zu Rom das nur einmal jährlich gebrauchte gewaltige Halleluja. Es liegt am Tage, wie der ganze Geist dieser Feier dramatisch war, zum Drama hindrängte. Aber es gab noch nähere Anknüpfungspunkte. Nach der Verlesung des Oster-Evangeliums wurde die Ostersequenz gesungen. Die Entstehung dieser Gesänge, welche bestimmt waren, in der Geschichte unseres Dramas eine ähnliche Stellung einzunehmen wie die Chorgesänge in der des griechischen, greift in weit frühere Zeiten des Mittelalters zurück. Der der Evangelienverlesung folgende Dank der Gemeinde pflegte nämlich in einem langgezogenen Jubelton zu endigen. Neuma oder Pneuma wurde derselbe wegen des lang angehaltenen Atems, mit dem er gesungen wurde, genannt. Weil nun dieser Schluß vom Texte ungehindert sich in freieren lyrischen Modulationen ergehen konnte, so trat er bald besonders hervor. Ein römischer Sänger, sagte die Tradition, habe diesen Jubeltönen ihre erfreuende und süße Melodie gegeben. Notker der Stammler (t912) hat ihnen dann einen Text untergelegt. Der Papst erteilte diesen Sequenzen Notkers seine Bestätigung, und so begannen diese Dichtungen in kirchlichen Gebrauch zu kommen. Einer der berühmtesten unter den folgenden Sequenzendichtern ist Hermannus Contractus, jener Mönch, von dem es heißt, daß er, lahm und schwachsinnig, durch Marias Gnade der gelehrteste aller Menschen geworden. Sehr bekannt ist eine dieser Ostersequenzen, das stabat mater. Anfangs verteilte man das Ganze unter Chor und Solo. Bald nahm man auch Duette und Terzette auf. Der Inhalt wurde zunächst der Bibel wörtlich entnommen; mit der Anwendung des Reims kam man dann zu freierer Behandlung. Wir teilen die gebräuchlichste Ostersequenz, welche für die lyrischen Teile des ältesten Osterspiels in den meisten Teilen Schema geworden ist, nach einem Freiburger Text in der Ubersetzung mit. Die Einteilung desselben ist mir nicht überliefert, aber man sieht leicht, daß Anfang und Ende dem Chor angehörten, das übrige aber ein Gespräch der Maria mit Johannes und Petrus bildet. Sie stammt aus dem 11. Jahrhundert. 12 Dilthey, Sdiriften XVI
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„Dem Osterlamm opfert Preis und Ehre, ihr Christen. Das Lamm hat die Schafe erlöst: der schuldlose Christ hat dem Vater die Sünder versöhnt." „Tod und Leben stritten in wundersamem Kampfe : der hingestorbene Fürst des Lebens herrscht nun lebendig." „Sag an, Maria, was du schautest auf deinem Wege? Das Grab des lebendigen Christ und die Glorie des Auferstandenen habe ich geschaut, die bezeugenden Engel, die Linnen und das Gewand. Christ, meine Hoffnung ist erstanden: er wird vor euch hergehen nach Galiläa." „Mehr ist der einigen Maria zu glauben, der wahrhaftigen, als der Lügnerrotte der Juden." „Wir wissen, daß der Christ von den Toten erstanden ist wahrhaftig: Du, der für uns siegte, unser König, erbarme dich unser." Zu diesem Wechselgesang und der einfachen Handlung der Kreuzerhebung trat nun noch im 12. Jahrhundert Handlung und Verkleidung. In einer Reichenauer Pergamenthandschrift einer solchen Antiphonie aus diesem Jahrhundert findet sich eine höchst merkwürdige Miniatur. Drei Priester, als Frauen gekleidet, doch an den Rauchfässern, die sie in Händen tragen, kenntlich, stehen vor dem leeren Grabe, an welchem ein geflügelter Engel, die Hand zum Reden erhoben, sitzt. Mit diesem Bilde stimmt ein Bericht aus dem 13. Jahrhundert vollkommen überein. „Zwei Priester kleiden sich in Mäntel und nehmen die Rauchfässer zur Hand. So treten sie in den Chor, und langsam vorschreitend gegen das Grab singen sie: ,Wer wird uns den Stein wegwälzen?' Nun fragt sie der Diakon, der hinter der Grabeshöhle stehen muß, singend: ,Wen suchet ihr?' Darauf diese: ,Jesum von Nazareth.' Nun der Diakon: ,Er ist nicht hier'" usw. Ist dann dieser Wechselgesang beendet, so stimmt der Abt vor dem Altar das Tedeum an und das ganze Volk fällt ein. Hier ist also nichts als die Verkleidung und die einfachste Handlung hinzugetreten. Diesem Fortschritt ins Drama hinein mochte manche Analogie zu Hilfe kommen. Man hat an die Kreuzfahrer erinnert, wie sie in Pilgerkleidung Hymnen singend die Länder durchzogen. Näher lagen wohl die volksmäßigen Verkleidungen, die seit den heidnischen Frühlingsfesten beständige Volksbelustigung geblieben waren. In der karolingischen Zeit mußte es den Fahrenden verboten werden, Priester-, Mönchs- oder Nonnen-Kleidung anzulegen. Besonders an den Festtagen ergötzten sie das Volk. Auch Puppenspiele, welche doch gewiß mit begleitendem Text aufgeführt wurden, finden sich seit etwa 1200. Es lag nahe, diese nationalen Verkleidungen bei den Antiphonien anzuwenden. Von dem größten Einfluß w a r aber eine allgemeinere Bewegung. Seit dem 13. Jahrhundert regte sich überhaupt der Sinn für das Plastische, Malerische mit einer ganz neuen Gewalt. Während die Musik, welche das frühere Mittelalter so anhaltend beschäftigt hatte, sank, begann sich die Malerei zu erheben. Man begann, Aufzüge, Prozessionen, Schaustellungen mit Vorliebe zu pflegen. Wie das Epos die vergangene Periode charakterisiert hatte, so die nun folgenden Jahrhundete bis tief in das der Reformation hinein das Drama. Wie abhängig waren seine Anfänge
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noch von der Musik gewesen! Sehr viele der die Obergangsform zum Drama bezeichnenden Antiphonien sind in den Handschriften mit Notenbegleitung versehen. Leider setzt dieselbe der Entzifferung noch immer ungelöste Schwierigkeiten entgegen. So viel indes erkennt man, daß die lyrischen und die epischen Teile sehr verschiedene musikalische Form hatten. Daß die Musik das Ubergewicht über den Text hatte, zeigt auch die große Gleichmäßigkeit des letzteren in den verschiedenen Bearbeitungen. Jetzt wurde mit dem Verfall der älteren Musik das musikalische Element in den Antiphonien zurückgedrängt und um so deutlicher trat ihr dramatischer Charakter hervor. So kam es denn, daß sich nicht nur in diesen Auferstehungs-Antiphonien, sondern zugleich an verschiedenen Punkten des Kultus das Hindrängen zum Drama sichtbar machte. Es ist erwähnt, wie aus den Lamentationen des stillen Freitags die Marienklage entstand, in welchen die Klagepsalmen des alten Testaments und die Totenklage des deutschen Heldenliedes durcheinander zu klingen schienen. Maria — so ist die Handlung gedacht — klagt, unter dem Kreuze Christi stehend, Johannes aber tröstet sie. In diese Gesänge hat die Kirche den ganzen Schmerz des Karfreitags und die hindurchbrechende Freude der Erlösung gelegt, indem sie die doppelte Empfindung sehr schön an zwei Personen verteilte. Obgleich sie vorwiegend lyrischer Natur sind, so zeigt sich doch auch hier ein Hindurchdringen zur Handlung. Deutlicher tritt diese noch bei der Verlesung der Passions-Evangelien, welche am Psalmsonntag und Karfreitag geschah, zutage. Man wählte die Evangelien des Matthäus und Johannes, die bereits fast eine fertige dramatische Form haben. Daher sie ja auch später fast ausschließlich den Passionsmusiken zugrunde gelegt worden sind. Anfänglich wurden die Worte des Evangelisten in monotonem Rezitativ vorgetragen, Christi Worte aber wurden gesungen. Indem man dann zwei Stimmen für den Vortrag verwandte, war der Wechselgesang vollständig. Audi hier lag ein neuer Anfang zum geistlichen Drama — zu den Passionsspielen. Das älteste bis jetzt gefundene Osterspiel ist wohl ein in Frankreich entstandenes mysterium resurrectionis aus der letzten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Es wird ausdrücklich gemeldet, daß dasselbe von Geistlichen aufgeführt worden sei. Sehr bedeutende Züge enthält bereits ein in Deutschland entstandenes lateinisches Osterspiel vom Aufgange und Untergange des Antichrist. Es war ebenfalls noch ein Singspiel; aber der gewaltige, die halbe Welt und Geschichte mit kühner Allegorie umspannende Sinn, der sich darin kundgibt, die nationale Begeisterung, die es erfüllt, und einige große poetische Züge geben ihm bereits ein gewaltigeres Gepräge. Heidentum und Synagoge treten zuerst als allegorische Personen auf; dann die Kirche an der Spitze eines großen Zugs: sie selbst mit Harnisch und Krone, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu ihren Seiten, in ihrem Gefolge Papst und Kaiser mit ihren Heeren, hinter ihnen die Könige. Sie lassen sich auf ihren Thronen nieder und die folgende Handlung wird nun in sehr naiver Weise durch Boten, welche zwischen denselben hin und hergehen, abgemacht. Der Kaiser verlangt zunächst die Unterwerfung der Könige. Die Geschichten hätten es überliefert, daß einst Rom die ganze Welt zinspflichtig gewesen. „Das hat die Kraft der Vorfahren errungen, 12*
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aber der lässige Sinn der Nachkommen hat es zerstreut." Alle unterwerfen sich; nach verlorener Schlacht auch der König von Frankreich. Der König von Babylon selbst, der sich wider Jerusalem erhoben hat, muß vom Kaiser gezwungen Krone und Szepter im Tempel des Herrn niederlegen. Das Stück hebt nun von neuem an mit einer Versammlung der Heiden zu Jerusalem: in der Mitte der Antichrist, zum Kampf gepanzert, Heuchelei und Ketzerei zu seinen Seiten. Im Tempel des Herrn selbst richtet er seinen Thron auf: sein Beschluß ist: „Ich will ein Ende machen dem Alten, neues Recht will ich geben." Alle Könige der Welt unterwerfen sich ihm; kniend empfangen sie die ersten Buchstaben seines Namens auf ihrer Stirn. Der Kampfesmut der Deutschen allein besteht siegreich das Heer des Antichrist. Aber was die Kraft des Bösen nicht erzwang, erschleicht seine List. Seine trügerischen Wunder bewegen auch die Deutschen, sich ihm zu unterwerfen. Durch ihre Kraft besiegt er nun den König von Babylon. Nun ist seiner Herrschaft keine Grenze auf der Erde. Da rauscht es über seinem Haupt und schlägt ihn zu Boden, seine Freunde fliehen und die Kirche stimmt jubelnd an: „Singet Lob unsrem Gotte." — Hier haben wir in der Tat bereits eine treue und kraftvolle Vergegenwärtigung der Osterstimmung. Ihren Höhepunkt erreichten aber diese Spiele erst, als sie sich der Landessprachen zu bedienen begannen. IV. Deutsche
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Es ist gezeigt, wie die Spiele aus dem Kultus hervorgingen. Aller Kultus ist Darstellung und birgt so die ersten Elemente der Kunst in sich. So erwuchs auch das Drama in der Abhängigkeit von der Kirche; es wollte nichts als durch Wechselrede, Gesang, Handlung den religiösen Inhalt des zugrundeliegenden biblischen Textes versinnlichen. Die lyrische Empfindung machte sich zuerst selbständig Raum, viel später erst die freie Behandlung der Handlungen. Dieser dramatischen Weiterdichtung leistete es nun mächtig Vorschub, daß die Landessprachen in die Spiele einzudringen begannen. Wir können die Fortschritte, welche zum Beispiel die deutsche Sprache machte, stufenweise verfolgen. Im 13. Jahrhundert begann die Teilnahme des Volks an den Spielen, und so traten neben das Lateinische jetzt deutsche Erläuterungen. Im 14. Jahrhundert trat die kirchliche Hilfe bei der Aufführung immer mehr zurück, und so ist das Lateinische nur noch auf gewisse Stellen beschränkt. Endlich im 15. Jahrhundert verschwindet das Latein aus dem Schauspiel selber meist völlig, die Kirche zog sich von den Schauspielen zurück, sie wurden weltlich und deutsch. Die ersten Zusätze deutscher Übertragung finden sich bei den strophischen Liedern, in welchen der Dichter die bekannte Region der altkirchlichen Hymnen und des Bibeltextes verließ. J e mehr Laien man nun zur Teilnahme an der Aufführung heranzog teils wegen der wachsenden Zahl der vorkommenden Personen, teils weil die Kirche sich von der früheren eifrigen Beteiligung mehr zurückzog, desto mehr mußte man ihre Sprache reden. Der liturgische Bestandteil, der allen vertraut war, die Hymnen und Bibelworte, erhielten sich in der alten lateinischen Gestalt am
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längsten; mitten in der fortschreitenden nationalen Besonderung, wie sie sich in dem Eindringen der Landessprachen ausspricht, blieben sie noch eine Zeitlang stehen, als Zeugnisse der verschwindenden Katholizität der Kirche. Im Jahrhundert der nationalen Vorreformatoren fielen dann diese auch; nur die szenischen Anordnungen, welche ja zunächst für den Ordner der Spiele bestimmt waren, von dem sich einige Gelehrsamkeit erwarten ließ, wurden in lateinischer Sprache den Reden vorgesetzt. Man kann diese Entwicklung mit der vergleichen, welche die Predigt durchmachte, als sie aus der lateinischen Sprache in ein Gemisch von Lateinisch und Deutsch überging, bis endlich nur der Vulgatatext und etwa eingestreute Bibelstellen an die ehemalige Herrschaft der katholischen Kirchensprache erinnerten. In beiden zeigt sich der Fortschritt zur nationalen Besonderung aus der universellen Einheit heraus, mit welcher die mütterliche Kirche die Nationen umfaßt hatte. Werfen wir auch auf die Mysterien der anderen Nationen einen flüchtigen Blick. Die Mysterien der französischen gingen ungefähr gleichzeitig mit den deutschen zur Landessprache über. Es scheint, daß sich dort die Schaulust noch weit maßloser geltend machte, als in Deutschland. Die Passionsbrüderschaft in Paris, wohin bereits damals sich alles zusammendrängte, eine zur Aufführung geistlicher Schauspiele von Karl VI. privilegierte Gesellschaft (1402), bildete für das französische Mysterienspiel einen Mittelpunkt. Gegen die Macht ihrer Darstellungen, den Glanz, welchen die Anwesenheit des Hofes den Aufführungen verlieh, sticht doch der einfache Charakter unserer Volksschauspiele gewaltig ab. N u r in diesem Lande, wenn man nicht etwa die autos sacramentales in Spanien, die doch schon entschieden den Charakter der Kunstpoesie haben, hierherrechnen will, brachte es das Mysterienspiel zu einer ständigen Bühne. Diese Bühne im Saale der heiligen Dreifaltigkeit bezeichnet den Anfang des französischen Theaters. Die miracles in England, von denen das „Leben der heiligen Katharina", welches der Normanne Geoffrey, der gelehrte Schulmeister der Abtei von Dunstaple, von seinen Schülern „nach dem Herkommen der Magister und Schulen" aufführen ließ (um 1109), wohl das am frühesten erwähnte ist, haben sich unter lebendiger Teilnahme des Volks bis in das 16. Jahrhundert erhalten. An dem Schauspiel „Von der Erschaffung der Welt" wurde 1409 acht Tage lang aufgeführt. Doch kommen hier Passions- und Auferstehungsspiele viel seltener als in Deutschland und Frankreich vor; mehr als irgendwo überwog hier die dramatisierte Legende. Eine ganz eigene Entwicklung scheint das geistliche Schauspiel in Italien, der Heimat festlicher Aufzüge und heiterer Schaulust, gehabt zu haben. Die Chroniken erwähnen bereits ein Schauspiel, das zu Ostern 1243 dargestellt worden sei; dann von 1298 eine Darstellung der Passion. Aber diese Osterspiele waren schwerlich denen der übrigen Länder gleich; sie scheinen den Pantomimen nähergestanden zu haben als den Schauspielen. Noch 1690 sah Riccoboni zu Genua am Fronleichnamsfeste ein solches stummes Schauspiel. In den Straßen, durch welche die Prozession ging, waren überall Schaubühnen errichtet, auf denen stumme Szenen dargestellt wurden. Doch zeigt ein Bericht von einer älteren Darstellung, daß die Rede dabei nicht ausgeschlossen war. Es war eine Weihnachtsaufführung. Die drei Könige zogen in Prozession durch die Straßen
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nach St. Lorenz. Dort hielten sie an, um den Herodes zu befragen. Dann zogen sie, Myrrhen und Weihrauch in Händen, unter Trompetenschall nach der Kirche des heiligen Eustorchius, vor der Krippe anzubeten. Da legten sie sich dann schlafen, „und ein Engel sagte ihnen — so erzählt der Chronist — sie möchten nicht an der Kirche des heiligen Lorenz vorbei ihren Weg nehmen, sondern durch die porta romana zurückkehren. Und so taten sie." Man sieht, wie hier Klima und Nationalcharakter eine wesentlich von den übrigen verschiedene Form des geistlichen Schauspiels hervorgebracht haben. Kehren wir zum deutschen Schauspiel zurück. Wie verschieden ist doch der Charakter desselben, wie er sich, im wesentlichen dem des französischen und englischen Schauspiels ähnlich, herausgebildet hat, von jeder früheren oder späteren Form des Dramas! Es ist oben bereits darauf hingewiesen, wie die Entwicklung desselben mit der der Malerei Hand in Hand ging. Im 15. Jahrhundert erreichten beide ihren Höhepunkt mit dem Glanz der Städte, mit der schaulustigen Heiterkeit des Volkslebens. Es ist interessant, auch ihre innere Verwandtschaft zu verfolgen. Beide leben — das ist offenbar der Hauptpunkt — in einer Welt von rein künstlerischer Geltung. Wenn das Schauspiel Augustinus zwischen Jesaja und der Sibylle auftreten läßt, so gemahnt das durchaus an die künstlerische Welt des Raffael oder Michelangelo. Die ästhetische Form unseres modernen Dramas ist es, Szenen, die einen vollkommen adäquaten Ausdruck des wirklichen Geschehens enthalten, so aneinanderzureihen, daß nur in ihrer Aufeinanderfolge, in den Fugen gewissermaßen, die Differenz zwischen Dichtung und Wahrheit hervortritt: in diese muß die Phantasie des Zuschauers den Verlauf einer Zeit, auch wohl Zwischenereignisse mitwirkend hineindichten. Ganz anders verhält es sich in diesen Schauspielen. Hier ist die szenische Gliederung durchaus nicht in dieser Weise vollzogen; das der Wirklichkeit Inadäquate, welches bei den Späteren zwischen die Szenen gedrängt ist, kommt hier beliebig an jedem Punkte zum Vorschein. Wenn die Herolde von einem Throne quer über die Bühne nach dem gegenüberstehenden gehen, so soll der Zuschauer sich hierbei eine Reise von Babylon nach Deutschland denken; wenn Augustinus, die Propheten und der Hohepriester miteinander disputieren, so soll der Zuschauer hier noch weit mehr Raum und Zeit vergessen: er soll sich das welthistorische Verhältnis dieser Personen — so würden wir uns darüber ausdrücken — allein vorstellen. Aber diese innere Form hängt wesentlich mit dem Gedankenkreis, der in den Mysterien seinen Ausdruck fand, zusammen. Eine Begebenheit lag vor, mit welcher als mit der Mitte der Zeiten Personen und Geschichten der ganzen übrigen Welt auf das engste verbunden schienen. Sei es als Vorbereitung, oder als Hindeutung, oder als Gegensatz: alles erhielt nur durch die Beziehung auf diese Begebenheit seinen Sinn, seine Stellung. Indem alle Personen und Geschichten scharf und ausschließlich in dieser einen Beziehung erfaßt wurden — die unglaublichste historische Unwissenheit, die indes durch diese Geistesart wieder bedingt war, tat freilich dabei auch das ihrige —: bildete sich ihre Gestalt nach dieser Beziehung um und alle zeitliche Aufeinanderfolge zerging vor diesem ewigen Verhältnis. Es ist nicht bewußtes Allegorisieren, es ist nicht historische Ignoranz, was alle Gestalten, welche eine Beziehung zur Erlösung darboten, in die Geschichte Christi hinein-
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zwingt: es war eine spiritualistische Verachtung der Zeit und des Raumes, der historischen Aufeinanderfolge, wie sie in der Weltgeschichte nicht zum zweiten Male vorgekommen ist. Und hier ist die naive Freiheit, mit der selbst die bekanntesten Fakta in diesem Sinne umgewandelt wurden, höchst merkwürdig. Um die Besiegung des Satans darstellen zu können, wird Christus nach seiner Auferstehung in die Hölle hinabgesandt: erst später dann erscheint er den Frauen. Die Geschichte der Maria Magdalena und die der Ehebrecherin werden zu der des in Weltlust verlorenen, endlich in Buße gereinigten Gemüts verknüpft, wofür freilich Anknüpfungspunkte vorlagen. Maria wird mit der Kirche identifiziert. Der den Frauen erscheinende Gärtner wird von dem Auferstandenen unterschieden. Bis in die wunderlichsten Kombinationen hinein folgt man diesem starken Zuge der Aneignung, der Umgestaltung nach dem eignen Gedankenkreise nicht ohne Freude. Kann es einen stärkeren Gegensatz gegen unsere Geistesart, die alles in seiner Eigenheit aufzufassen strebt, geben? So tritt hier Mohammed vierhundert Jahre vor seiner Geburt als heidnischer Götze auf; das Babel der Apokalypse und die mohammedanischen Könige, welche mit dem Abendlande kämpften, verdichten sich zu einem König von Babylon, welchen der deutsche Kaiser besiegt; Christus erscheint im bischöflichen Gewände, auch wohl im Kleide des Karmeliters; der römische Statthalter von Judäa verkauft als Prototyp aller späteren Simonisten seine Bistümer an die Meistbietenden. So unendlich komisch diese rüstige Umarbeitung der Geschichte ist, welche unter uns einem Sextaner Schrecken erregen würde, so erscheint doch darin die ganze ungebrochene Kraft des nationalen Geistes; man glaubt noch den frischen Atemzug der hohenstaufischen Zeiten darin zu vernehmen. Nicht weniger charakteristisch für den Geist dieser Jahrhunderte ist die Vermischung von Heiligem und Weltlichem, vom tiefsten Ernst und der derbsten Posse, welche sich in diesen Schauspielen findet. Wie sich damals der weltliche Geist im schroffsten Hervorbrechen Luft machte neben der geistlichen Form des Lebens, wie ein tiefer Gegensatz durch die Zeit hindurchging zwischen Volk und Kirche, überkommenem Christentum und weltlichem Leben: das prägt sich audi schroff genug in dieser Poesie aus. Es ist nicht zu verkennen, daß es zuweilen die Absicht des Dichters war, diesen Kontrast, wie er ihm in der wirklichen Welt mit furchtbarer Härte erschien, in die Geschichte Christi selbst zurückzuversetzen, damit sich die Zeit darin spiegele. Aber öfter folgte der Dichter nur dem Zuge der Zeit. Der kecke Scharfsinn, mit dem in der heiligsten Geschichte Stellen zur Anknüpfung des Weltlichen aufgespürt werden, erinnert an die Hochzeiten von Kanaan, auf denen die Speisen und die Festlust der Gäste die Hauptsache ist, oder an jene Darstellungen des jüngsten Gerichts, in denen die ewige Qual zum häßlichen Possenspiel wird. Zunächst bot Maria Magdalena zu einem solchen Intermezzo Gelegenheit. In einem der Schauspiele tritt sie auf mit ihrer Schwester: Ich bin ein ledig junges Weib, Und trage einen stolzen Leib. Ich will mit Freuden fröhlich sein, Nach Tanzen steht das Gemüte mein.
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Die Schwester antwortete ihr: Maria, liebe Schwester mein, Laß ab vom wilden Mute dein, Gedenke, daß uns Gott hat geben, In dieser Welt ein krankes Leben, In dem wir verdienen sollen Gottes Reich, so wir es wollen. Sie erscheint mit ihren Dienerinnen, Schminken und Wohlgerüche zu kaufen, und es entspinnt sich ein Wechselgespräch mit dem Krämer, in dem, wie das sehr beliebt war, Kauf und Verkauf dargestellt wird. Immerhin war das an dieser Stelle noch schicklicher, als wenn in dem Auferstehungsspiel ein Salbenkrämer eingeführt wird, bei dem die Frauen Spezereien kaufen, Christum zu salben. Ein Knecht des Salbenhändlers, der stets den Namen Rubin führt, spielt dabei die Rolle einer lustigen Person. Nach vielen unflätigen Scherzen verschwindet er endlich mit dem Kram und der Frau seines Herrn. Und mitten in die wilde Wirtschaft vor der Bude des Salbenhändlers tönen dann die rührenden Worte der Frauen: Wir Der Der Wir Der
han verloren, uns zu Tröste ward geboren, reinen Jungfrauen Sohn. haben verloren Jesum Christ, aller Welt ein Tröster ist.
Erwähnt ist bereits, wie der Gärtner vom Auferstandenen getrennt wird; er setzt die Heilkräfte der Pflanzen seines Gartens den Frauen auseinander. Auch in die Szene, in welcher die Juden vor dem römischen Statthalter erscheinen, um eine Grabeswache zu erbitten und derselbe ihnen „drei Ritter" sendet, mischen sich einige komische Züge. Besonders bietet nun auch die freie Hinzuziehung des Satans in das Passions- und Orgelspiel zu vielfachen possenhaften Szenen Veranlassung. Wie mochte es das Volk belustigen, wenn er auf der Bühne erschien, noch hinkend und jammernd wegen der Prügel, mit denen der Höllenfürst seine Nachlässigkeit bestraft hat, durch welche ihm Christi Seele entschlüpft sei. Einzelnes gehört allerdings nur in die Geschichte der rohsten Entartung dieser Spiele. So wenn während der Kreuzigung Christi dem Narren das Geschäft überlassen wurde, das Publikum zu unterhalten. So manches nun audi in diesen Schauspielen offenbar auf den Beifall des Pöbels berechnet war: im großen und ganzen haben sie doch dem Geiste der Nation entsprochen und auch auf ernste Gemüter gewaltige Wirkungen hervorgebracht. Als im Jahre 1322 zu Eisenach ein Spiel „Von den klugen und törichten Jungfrauen" vor dem Landgrafen Friedrich mit der gebissenen Wange um die Zeit der Ostern aufgeführt wurde, sah man die törichten Jungfrauen vergebens alle Heiligen um Fürbitte anrufen, ja an die Mutter Maria selber wandten sie sich umsonst mit der Bitte:
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Seit uns Gott selber Trost versagt, So bitten wir Maria, die milde Magd Und die Mutter aller Barmherzigkeit, Daß sie sich erbarm' über unser großes Herzeleid, Und bitte ihr trautes Kind für uns Arme. Daß Er sich über uns erbarme. Aber vergebens bittet nun die Jungfrau den Sohn: „Gedenke an das Ungemach, das mir durch deine Marter geschah, da ein Schwert durch meine Seele ging." Christus antwortet ihr: Recht Gerichte soll geschehn, Die Verfluchten müssen von mir gehn In die tiefe Hölle, Zu werden der Teufel Geselle. Als dieses der Landgraf sah und hörte — so berichtet eine thüringische Chronik —, fiel er in einen Zweifel und wurde sehr zornig und sprach: was ist denn der Christen Glaube, wenn sich Gott nicht über uns erbarmt um der Fürbitte der Maria und aller Heiligen willen? In solchem Unmut blieb er fünf Tage, und die Gelehrten konnten ihn kaum besinnen, daß er das Evangelium verstand. Hernach wurde er vom Schlag gerührt, daß er lahm und stumm wurde und blieb in diesem elenden Zustande zwei Jahre und ungefähr sieben Monate bettlägerig und starb, als er 55 Jahre alt war. Es ist begreiflich, wie das geistliche Schauspiel mit solcher Gewalt die Gemüter ergriff, so kunstlos auch seine Form zumeist gewesen ist. Jede vollendetere Form hätte die Naivität der heiligen Geschichte zerstört. Hier trat die Einfachheit der Verhältnisse, die kräftige Schlichtheit der Personen noch weit deutlicher für das Volk zutage als in dem Texte selbst. Wenn Johannes sich hier an Maria mit einem Zug echt deutschen Familiensinnes als an „seine liebe Muhme" wendet, wenn Maria in mütterlicher Fürbitte dem Sohne vorhält, was sie um seinetwillen gelitten, so erschien das alles dem Volke verwandter, näher. Es war, als ob die Gestalten der stummen, feierlichen Kirchenbilder herausträten aus ihren Rahmen und mit dem Volke seine Sprache redeten. Der alte lateinische Text bekam deutsches Leben. Welche Popularität das deutsche Schauspiel so erhielt, zeigt sich auch in einigen Schriften der damaligen Zeit. So klingt zuweilen die dramatische Form in den Darstellungen der Mystiker „von der Passion jeglicher minnenden Seele, die durchgelangt zu der wahren Gottesminne" und bei verwandten Gegenständen an. Selbst zusammenhängende Bruchstücke haben sich in Volksschriften gefunden. So hat Mone in dem „Spiegel der Sanftmütigkeit", einem Gebetbuche von 1507, Teile eines in Prosa aufgelösten Osterspiels entdeckt. Das bedeutendste dort erhaltene Stüde stellt Christus in der Vorhölle mit den Altvätern redend dar. Das war ein ganz besonders beliebter Teil der Auferstehungsspiele. Es ist von Gehalt und Wirkung der zu Ostern dargestellten Spiele im ganze die Rede gewesen; doch treten die drei Hauptformen derselben so eigentümlich hervor, daß sie kurz charakterisiert werden müssen.
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Zwischen dem geistlichen Lied und dem Drama steht die Marienklage, die bald selbständig, bald als ein Teil des Passionsspiels auftritt, in der Mitte. Manches von dem Tone der älteren Dichtung, der Heldenklage und des Minneliedes hat sich in diese geistliche Form geflüchtet; die Poesie dieser Zeit hat nichts Anmutigeres und Rührenderes als einige Stellen derselben. Eine „Marienklage" des 13. Jahrhunderts ist der älteste Rest des deutschen Schauspiels, den wir besitzen; wenn man anders diesen Dialog zwischen Maria und Johannes dramatisch nennen will. D a klagt Maria: Ich war ohne Schmerzen gar, D a ich Mutter dich gebar . . . Daß ich dich also sehen muß! Ο weh Kind, Deine Wangen sind Dir nun gar verblichen; Deine Macht Und auch deine Kraft Ist dir ganz entwichen. Johannes Sohn! nun höre mich! D a ich niemand hab als dich, So hilf mir heute weinen. In den späteren treten dann immer mehrere Personen aus dem vertrauten Jüngerkreise Christi hinzu. D a klagt Maria Magdalena: Verlassen ist uns'rer Herzens Freud Und ist gewandt in Herzeleid, Seit uns Jesus, der wahre Christ Und uns're Krön, entfallen ist. Vor- und Zurücktreten und ehrerbietige Kniebeugungen sind die einzigen vorkommenden Handlungen auch in diesen späteren belebteren Marienklagen. Ganz dramatisch ist das Passionsspiel. Aber der Natur des Stoffes gemäß schließt es sich an den Text der Erzählung meist enger an als das Auferstehungsspiel. Freilich bildet sich die Episode der Magdalena bisweilen so selbständig heraus, daß wir die innere Form der Dramen Shakespeares, welcher zwei sich kreuzende Handlungen verknüpft, hier beinahe vollendet vorfinden. Schon in einem Passionsspiele aus dem 13. Jahrhundert, das nur in seinen lyrischen Teilen deutlich ist, tritt Magdalena so hervor. Mit dem Preise der Weltlust tritt sie auf; sie ist auf dem Wege zum Krämer mit ihren Mägden, Schminke und Salben zu kaufen. „Krämer gib die Farbe mir, die mein Wänglein röte", so spricht sie ihn an. Nachdem sie eingekauft hat, legt sie sidh schlafen. D a erscheint ihr ein Engel im Traum, der sie an das Heil ihrer Seelen und an Christ, „der Welt Erlöser", mahnt. Sie erwacht, aber die Gedanken der Weltlust nehmen sogleich wieder Besitz von ihrer Seele. Es ist ein trefflicher Zug, daß dies durch die Wiederholung jenes Liedes zum Preise der Weltlust angedeutet wird. Abermals schläft sie ein, und abermals mahnt sie der
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Engel. Da erwacht sie mit tiefer Reue und Leid über ihr vergangenes Leben. Statt der weltlichen Kleider zieht sie schwarzes Gewand an, nicht für sich, sondern für Christus kauft sie nun köstliche Salbe. Sie naht sich ihm: Jesus, Trost der Seele mein, Laß mich dir empfohlen sein Und löse mich von der Missetat, Dazu die Welt mich gebracht hat. Ich komme nicht von den Füßen dein, Du lösest midi denn von den Sünden mein Und von der großen Missetat, Dazu die Welt mich gebracht hat. So bricht mitten aus der zuweilen etwas trockenen Dramatisierung des Stoffes die Gewalt religiöser Empfindung hervor. Für die dichterische Phantasie gewährte aber erst das Fest der Auferstehung weiteren Spielraum. Zwar erscheint auch hier ein einfacherer, an den Text sich anschließender Typus in einigen noch erhaltenen Auferstehungsspielen, welche in der ganzen Gruppierung, ja zuweilen bis in das Wort hinein übereinstimmen. Aber andere nehmen einen durchaus selbständigen Weg. Unter diesen ist ein Spiel, das an der Ostseeküste zu Redentin bei Wismar verfaßt ist, eines der trefflichsten. Original scheint es freilich da nicht zu sein: es ist wohl eine Umarbeitung eines niederrheinischen Stücks, welches vielleicht durch den Hanseverkehr an diese Küste gebracht worden ist. In der Einleitung folgt es dem üblichen Typus. Nach der Aufforderung der Herolde: Schweiget alle gleich Beide, arm und reich usw. erscheinen die Juden vor dem Statthalter und bitten um eine Leichenwache. „Drei Ritter" werden dahin abgesandt, und sie schlafen bei dem Grabe ein. Da erscheinen Engel an dem Grabe. Raphael wendet sich an die Schlafenden: „Schlafet ihr Wächter an dem Grabe" usw., als ob er einen tieferen Schlaf über sie ausbreitete. Uriel aber weckt mit seinem Wort den Heiland: Steh auf Herr, Gottes Kind, Dem wir untertänig sind. Steh auf, göttlicher Trost, Alle Schuld ist nun g e l ö s t . . . Die Erde erbebt und Christus hebt sich aus dem Grabe: Nun sind alle Dinge vollbracht, Die zuvor in der Ewigkeit waren b e d a c h t . . . Nun will ich zur Hölle gehn. Die Hölle selbst scheint von dem Strahle seines Lichtes sich zu erhellen. „Ich frage euch allzumal", spricht Abel zu den anderen, „die da sitzen in dieser Qua!, was mag
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die Klarheit bedeuten?" Sie erweckt in Adam die Erinnerung des Paradieses, die Hoffnung der Rückkehr. Jesaja aber, der Prophet der Propheten, gibt ihren Hoffnungen das rechte Wort: Ich bin Jesaja, einer der Propheten, Ihr sollt fürwahr es wissen, Daß dies sei des göttlichen Vaters Schein, Dafür sprechen die Bücher mein. Und Weissagung auf Weissagung ertönt bis zu Johannes dem Täufer hin; in der Q u a l der Hölle erhebt sich der Freudengesang der gefangenen Seelen: da erscheint Luzifer, „der Höllen-Fürst": Wohl her, wohl her, wohl her Das ganze teuflische Heer! Wohl her aus der Höllen Satans liebe Gesellen! Und der ganze Vordergund der Bühne füllt sich mit den Scharen der Hölle. Der Auferstandene erscheint am Höllentor: Geh, Fürst der Finsternisse, tu auf das Tor, Hie ist der König der Ehren davor. Luzifer fragt mit gewaltigem Zorn, wer also stürme an seiner Feste, und „läßt mich nicht ruh'n in meinem Neste?" „Das ist des lebendigen Gottes Kind, Will befreien die Seelen, die hier innen sind, Will sie bringen in seines Vaters Reich; Dort sollen sie bei ihm sein ewiglich." Und bei dem Rufe Christi: „Springet auf, ihr Höllentore!" öffnet sich die Hölle, und der Erlöser der „gefangenen Seelen" tritt herein. Er ergreift den Fürsten der Tiefe: Luzifer, du böser Gast, Sollst bleiben an diesen Ketten fast. Zu den Seelen der Menschen aber spricht er: Kommet her meine Benedeiten! Ihr sollt nidit länger Qualen leiden, Ich will euch führen in Vaters Reich. Und unter Jubelhymnen ziehen die Befreiten dem Paradiese zu. D a treten ihnen zwei Seelen entgegen. Simeon fragt sie, wer sie seien, daß sie nicht in der Hölle gewesen? Ich bin der alte Henoch Und lebe leiblich noch, So wie ich war auf der Erden.
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Elias ist der andere. D a sieht David auch den Räuber, der „am stillen Freitag" Christi Fürbitte erbeten hatte, „froh in des Paradieses Garten wandeln". Von diesen Szenen in den himmlischen Gefilden kehrt nun das Stück plötzlich zum Grabe zurück. Ein Wächter erwacht; klagend weckt er die übrigen: Wohlauf Ritter und Knappen! Hier ist zu lang geschlafen. Es ist uns jämmerlich gangen: Christus der ist auferstanden. Die Klage des Hohenpriesters und der herbeigeeilten Juden schließt diesen ersten Teil des Stücks. Der zweite, das sogenannte Teufelsspiel, spielt in der Hölle, wo der in Ketten gefangene Satan auf Befreiung sinnt. Die treffliche Einheit, welche sich in diesem Stücke zeigt, ging nur zu bald verloren. Indem die Episoden überhandnahmen, begann der Verfall dieser Spiele. Immer mehr Personen drängten sich herzu, immer unentwirrbarer verschlangen sich Handlungen und Personen aller Art. Vor jeder neutestamentlichen H a n d l u n g erschien eine vorbereitende alttestamentliche. In einem Osterspiele von 1597, an dem zwei Tage lang von morgens sieben bis abends sechs U h r gespielt wurde, treten in der einzigen Szene bei Herodes folgende Personen auf: sie mögen auch zugleich das historische Kauderwelsch, das in diesen Stücken herrscht, anschaulich machen: „Salvator wird vor Herodem geführt. Cyrus. Nero. Herkules. Agrippa. Ahab. H a m a n . N a d a b . Ammon. Herodis. Lamech. Ezias. Centurio. Salathiel. Neoclus. Annulus. Rufus. Naason und Mosse. Limia. Maroch. Achior." Bei der Kreuzigung treten dann unter anderen Gott Vater, Longinus und Dionysius Areopagita auf. So war das tiefsinnige, allegorische Spiel mit historischen und mythischen Gestalten aller Zeiten und Völker, die hier zu Typen ewiger Richtungen wurden, zur gedankenlosesten, abenteuerlichsten Verwilderung geworden. Die Mauern der Kirchen sahen freilich diese Verwilderung nicht mehr. Schon im 13. Jahrhundert begann der Klerus die Spiele, in denen er den wachsenden Zug der Weltlichkeit herausfühlte, aus den Kirchen zu verbannen. Schon damals sagt ein Trierer Konzil: „Und desgleichen sollen die Priester theatralische A u f f ü h r u n g in der Kirche und anderes unziemliches Spiel nicht gestatten." In Spanien scheint man nachsichtiger gewesen zu sein; wenigstens sagt eine interessante Stelle der Gesetzessammlung Alphons' X . : „Doch gibt es Vorstellungen, welche den Priestern erlaubt sind, zum Beispiel die Geburt unseres H e r r n Jesu Christi, in welcher gezeigt wird, wie die Engel zu den Hirten kamen und ihnen sagten, daß der Heiland geboren worden, oder die Erscheinung desselben, als die heiligen drei Könige ihn anzubeten kamen, oder die Auferstehung, worin gezeigt wird, wie er gekreuzigt wurde und am dritten Tage wieder auferstand. Gegenstände wie diese, welche den Menschen ermuntern, Gutes zu tun und Andacht im Glauben zu haben, können sie aufführen, zumal sich die Leute dabei erinnern mögen, daß sich das Dargestellte einst wirklich begeben hat." Hier und da hielten sich auch in Deutschland die Spiele noch eine Zeitlang in den Kirchen. Als sie dann daraus weichen mußten, kam natürlich auch
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die Darstellung vorwiegend in die Hände des Volkes; nur die Leitung behielten die Geistlichen als die einzigen Gelehrten. D a aber doch eine Einheit und ein längeres Zusammenwirken für diese Darstellungen erforderlich war, so traten weltlichgeistliche Brüderschaften auf, welche sich für diese Aufführungen vereinigten. So die bereits erwähnte c o n f ^ r i e de la passion in Frankreich. Eine ähnliche Brüderschaft in R o m (del Gonfalone) stellte im Kolosseum jährlich die Leidensgeschichte Christi dar. In Antwerpen bestand die Brüderschaft des heiligen Lukas. Es entsprach der wachsenden Ausdehnung der Spiele, daß sie im Freien, auf den Märkten abgehalten wurden. Verzäunungen oder angeklebte Zettel deuteten die verschiedenen örtlichkeiten an, so wie ja auch naiv genug die Personen mit der Erklärung, wer sie seien, aufzutreten pflegten. Da diese Schauspiele zumeist Erde, Himmel und Hölle umfaßten, so mußte der Raum irgendwie abgeteilt werden. Es ist erwähnt, wie die Franzosen im Äußerlichen des Schauspiels weiter waren als die Deutschen. Sie erbauten drei Stockwerke übereinander; das oberste Gerüst bedeutete das Paradies, mit Teppichen reichlich geziert; unten aber öffnete sich eine Falltür, die eine Höhle, nicht selten in Gestalt eines Drachenschlundes zeigte: von hier stiegen die Teufel zur Erde empor. In den deutschen Spielen war das Paradies nur um einige Stufen erhöht; sehr beschränkt logierte der Teufel in einem dieser Osterspiele: er saß in einem, großen Faß, aus dem er dann hervorsprang, wenn sein Stichwort kam. Bis über die Reformationszeit hinaus hat sich auf den Märkten der Städte das geistliche Schauspiel erhalten. Doch, scheint das Fastnachtsspiel die gebundeneren Formen überflügelt zu haben. Zu einer Kunstform haben es alle diese geistlichen Spiele nicht gebracht. Nicht das konnte sie hindern, daß ihnen der Stoff gegeben war. Scheint es doch, wenn wir der Analogie der Alten, Shakespeares, der französischen wie unserer klassischen Periode vertrauen wollen, ein Gesetz des Dramas, daß es überhaupt erst aus der Durcharbeitung eines bereits vorliegenden Stoffes entsteht. Es scheint der menschlichen Phantasie zuviel zugemutet, daß diese anschaulichsten und gewaltigsten Erzeugnisse derselben aus einem Kopfe fertig entsprängen. Aber in der besonderen Art des Gegenstandes lag das Hindernis. Derselbe duldete keine freie Behandlung der Begebenheiten, keine Umformung der Charaktere: so fiel das Schwergewicht dichterischer Produktion außerhalb der Handlung. Die Episoden störten die Haupthandlung, diese beschränkte die Episoden. Wie hätte es da je zu einer wahren künstlerischen Form kommen sollen? Zu all den Ostergebräuchen, wie wir sie kurz überblickt haben, hat sich der Protestantismus wesentlich abwehrend verhalten. E r hat die Vigilien der alten Kirche verschmäht. Was von Frühlingsgebräuchen noch vorhanden war, ist ihm meist als ein heidnisches Tun erschienen, und nur die zähe Anhänglichkeit des Volks an alles Ererbte hat einzelne Bräuche bewahrt: ihr Sinn freilich war längst verloren. Das geistliche Schauspiel, obgleich es fast überall die Partei der Reformation ergriff, hat er von den kirchlichen Festen abgesondert, erst in Verbindung mit den Schulen beginnt es sich später wieder zu erheben. E r handelte auch hierin im Geiste der alten Kirche. Wie er den gewaltigen Ernst des menschlichen Lebens und des Christentums
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geltend machte, konnte ihm der heitere Glanz der katholischen Feste nur im Wege sein. Es entspricht diesem Charakter völlig, daß er nur eine Kunst, die innerlichste, geistigste, mit Vorliebe an seinen Festen gepflegt hat — die Musik. In den Chorälen der Reformationszeit, in den Oratorien Händeis, in der Passionsmusik Sebastian Bachs hat der tiefe Geist des Protestantismus seinen einzigen künstlerischen Ausdruck gefunden.
Kingsleys „Hypatia" als historischer Roman Charles Kingsley, Hypatia oder Neue Feinde mit altem Gesicht. Ins Deutsche übertragen von Sophie von Gilsa. Leipzig 1858. 1. Die dichterische Aufgabe In das J a h r 413 nach Christi Geburt versetzt uns der Beginn unserer Erzählung. Während das östliche Reich eines nach der Lage der Dinge bewundernswerten Friedens genoß, erfüllte unaufhörlicher kriegerischer Tumult die Provinzen WestRoms. Kaum hatten die gotischen Barbaren Italien verlassen, als der Graf von Afrika seine Rüstungen begann, und noch in dem Jahre, von dem wir reden, erschien seine gewaltige Flotte in der Mündung des Tiber. Diese Expedition Heraklians bildet den Hintergrund des historischen Gemäldes, welches Kingsley uns vorführt. Vermöge einer kühnen, aber in dem Plane seiner Dichtung wohl begründeten poetischen Lizenz stellt er auch Ägypten als von diesem Aufrufe mit ergriffen dar, und indem er so die Bewegung über alle Kreise seiner Erzählung ausdehnt, gewinnt er eine einheitliche Grundlage für dieselbe in einer einfachen, leicht übersehbaren und rasch verlaufenden politischen Begebenheit. Auf dieser Grundlage erhebt sidi nun die Darstellung der religiös-sittlichen Zustände und Ideen, welche die damalige Welt durchdrangen. Diese Zustände und Ideen sind von hohem Interesse. Denn sie enthalten alle Grundformen der religiösen Anschauung, wie wir sie noch heutzutage um uns sehen. Sie sind ganz dazu angetan, sich unter der Hand des Dichters in eine ganz reine und durchsichtige D a r stellung dieser Grundformen oder Hauptgestalten des religiösen Lebens zu verwandeln. Es waren die letzten Tage des griechisch-römischen Heidentums. Der römische Staatskörper war im Osten wie im Westen, vom Konsul bis zum letzten Munizipalbeamten hinab, christianisiert: kaiserliche Dekrete hatten auch die Masse der unabhängigen Bevölkerung in das Christentum getrieben: ein Paar vergessene Kapellen, in denen das Landvolk seine altgewohnte Andacht verrichtete und die Gebete und deklamatorischen Schriften einiger Philosophen und Rhetoren, das war die Verehrung, welche den siegreichen Göttern der römischen Welt übriggeblieben war.
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Konnte doch schon Chrysostomos das Heidentum mit einer zerstörten Stadt vergleichen. Ihre Tempel, ihre Theater, ihre mächtigen Hallen, wohin waren sie gekommen? N u r ein P a a r Greise und Kinder — so sagt er nicht ohne rednerische Übertreibung — erblickte man noch unter den Trümmern. Aber man würde sehr irren, dächte man, daß das Heidentum so rasch seine tiefen Wurzeln in den Gemütern verloren habe. Ein großer Teil der alten Aristokratie von Rom, Alexandria, Karthago hegte immer noch seinen H a ß gegen die Religion der Masse und des Kaisertums; ihr H e r z war bei der großen Zeit ihrer Geschlechter und des Reichs. Was noch von Philosophie und Wissenschaft übrig war, nährte sich an den alten Denkmälern des heidnischen Geistes. Diese christlichen Zeiten waren so unglücklich, daß nicht wenige die Sache des Heidentums und die des alten römischen Glücks für dieselbe hielten. Es waren eben immer noch die Elemente vorhanden, durch welche ein halbes Jahrzehnt zuvor der Restaurationsversuch Julians möglich gewesen war. Auch das Judentum war noch eine Macht. In allen Handelsplätzen angesiedelt, hatten die Juden einen großen Teil des Handels am Mittelländischen Meere in ihren Händen, wie einst ihre Stammesgenossen, die Phönizier. In Alexandria bildeten sie einen Hauptbestandteil der Bevölkerung und nicht den friedlichsten. Aber eben wurden sie in Alexandria von den ersten jener großen Judenverfolgungen heimgesucht, welche sie im Mittelalter ruhelos und schutzlos im westlichen Europa umhergetrieben haben. Über den Trümmern des Heidentums und des Judentums hatte sich die christliche Kirche erhoben. Wie schien die Gestalt der römischen Welt durch dieselbe verwandelt! In die Regierung dieses Theodosius, welcher zur Zeit unserer Erzählung als K n a b e auf dem oströmischen Throne saß, verlegt die Legende das Erwachen jener sieben Jünglinge von Ephesus, welche da in einer Höhle, eingemauert, seit den Zeiten des Christen verfolgenden Decius schliefen: sie will bezeichnen, daß damals der Sieg des Christentums und die Umwandlung der römischen Welt vollendet gewesen sei. Die jugendkräftige Organisation der Kirche stützte den zerbröckelnden B a u des alten Reichs. Aber indem sie ihn stützte, nahm sie ihm den letzten Schein der Selbstherrlichkeit. Auf Grund des Arbitralrechts erlangte sie die Macht rechtsgültiger richterlicher Entscheidung; in den Reichsangelegenheiten machte sie ihre geistliche Autorität Kaisern, Ministern und Präfekten gegenüber geltend; die öffentliche Meinung und die Volksstimmung leitete sie durch das Heer der Mönche. Die Kirche mußte herrschen: denn sie hatte das Gefühl ihres welthistorischen Berufs, wie es Augustinus in jenem Zeitalter repräsentiert. Was für eine Bahn des Ehrgeizes eröffnete sich hier? Aus Klöstern und Einöden holte man jene hierarchischen Charaktere, welche mit der ganzen Glut weltentfremdeter Naturen, aber zugleich mit der Kunst, in demütiger und gemessener Erscheinung das innere Feuer zu verbergen, ihre bischöfliche Gewalt übten. Indem sie die Herrschaft der Welt mit den Cäsaren teilten, bildete sich schon damals der Dualismus von Staat und Kirche, auf dem die mittelalterlichen Zustände so wesentlich beruhten. Aber die Kirche vermochte wohl jenem Zeitalter die feste Form des älteren Staats bis auf einen gewissen Punkt zu ersetzen: die natürlichen Elemente seines gesunden Daseins zu schaffen vermochte sie nicht. Wir haben an dem römischen Reich jener
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Zeit, an dem östlichen zumal, ein einziges Beispiel, daß kein Glaube, keine persönliche Gesinnung des einzelnen die Gestalt des sozialen Lebens, wie sie auf Ehe, Familie, den natürlichen Gemeinschaften, welche Stamm und örtlichkeit hervorbringen, beruht, und wie sie ausschließliche Grundlage wahren politischen Lebens ist, wieder hervorzubringen vermag. Die Siege, welche die Kirche über die natürlichen Triebe der menschlichen Natur davongetragen hat, sind ohnegleichen in der Geschichte. In Einöden und Höhlen verbargen sich die Menschen vor der Verderbnis der Welt. J a , die Kirche vermochte noch mehr. Unabhängig von den zerrütteten Formen des sozialen Lebens schuf sie eine Gestalt der Gemeinschaft, in welcher Gehorsam gegen das Gesetz und Liebe zu den Genossen des gemeinsamen Lebens, Eigenschaften, welche aus den alten sozialen Ordnungen schwanden, in einer die ganze Breite des Lebens erfüllenden Weise geübt wurden. Was viel leichter scheinen konnte, diese Eigenschaften auf ihrem natürlichen Boden neu zu beleben — das vermochte sie dennoch nicht. Und so ging denn der Osten seiner völligen moralischen Auflösung, der Westen seiner gewaltsamen und blutigen Erneuerung durch die germanischen Barbaren, in denen die Triebe einer reinen sozialen Gestaltung von jeher so mächtig gewesen sind, entgegen. In eben den Jahren, in welchen unsere Geschichte spielt, wurde das erste germanische Reich auf römischem Boden gegründet, das Westgotenreich des Athaulf und der Placidia, und auf Augustins Aufforderung schrieb damals ein spanischer Priester, Orosius, jenen Abriß der Weltgeschichte, durch den die Zeitgenossen auf diese beginnenden germanisch-romanischen Gestaltungen als auf die Neubegründung der Zukunft des Menschengeschlechts verwiesen wurden. Diese flüchtige Schilderung der Zeitlage vermag von der Schwierigkeit einen Begriff zu geben, in greifbaren lebendigen Gestalten diese umfassenden Bewegungen darzustellen und sie in einer einheitlichen spannenden Erzählung zusammenzuordnen. Doch audi so würde der Eindruck dieser geistigen Strebungen und Gedankenkreise nur der einer bunt bewegten chaotischen Welt sein. Die ganze Auffassung der Charaktere, die ganze Gruppierung mußte von vornherein durchdrungen sein von einer ethisch-historischen Grundansicht, welche sich dem Beschauer immer von neuem darstellte, von welcher Seite er audi das Kunstwerk betrachtete. In dieser Aufgabe haben wir einen Maßstab der Beurteilung. Es läßt sich nicht leugnen, daß der Dichter bald die Fülle der historischen Wirklichkeit beschränkt, bald die strengere epische Form durchbrochen hat. Dennoch ist die Verbindung historischer und poetischer Kraft, durch welche es ihm gelang, die unendliche Aufgabe annähernd zu lösen, eine bewundernswürdige und seltene Erscheinung. Von diesem Gesichtspunkte aus möchte auch das enthusiastische Urteil Bunsens, welches sich vor der deutschen Übersetzung des Werkes durch Sophie von Gilsa findet und das so harte Beurteilung erfahren hat, nicht gerade seine Rechtfertigung, aber doch seine Erklärung finden. Man braucht nicht einmal an die Fülle der historischen Beziehungen zu denken, welche durch die Lektüre in dem geistvollen Geschichtsforscher angeregt werden mußten und die dann leicht alle Lücken der Erzählung bedeckten: er faßte eben wesentlich die Tiefe der historischen Grundmacht, die Weite des Gesichtskreises, die Kühnheit der Aufgabe ins Auge, und in dieser Be13
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ziehung ist allerdings dieser historische Roman allen bisherigen entschieden überlegen. Wie wenig vermag sich zum Beispiel Walter Scott hierin mit unserem Dichter zu messen! Aber eben an diesem Punkte mußte wohl dem Verfasser jener Vorrede der Maßstab seines ästhetischen Urteils zweifelhaft werden, wenn er an die einzige künstlerische Wirkung der Romane dieses Dichters dachte. Anstatt dessen ordnet er dieselben unbedingt dem Werke Kingsleys unter. Es scheinen uns aber zwei wesentlich verschiedene Formen des historischen Romans zu sein, welche die beiden Dichter vertreten, jede berechtigt und mit der anderen nicht vergleichbar. Es ist ein ganz eigener Eindruck, durch den uns die Gemälde eines Tizian oder Veronese hinreißen. Weder die Größe eines historischen Moments noch die Gewalt einer Idee ergreift uns darin: aber wir fühlen uns mit hingezogen von dem vielfachen Behagen, mit dem diese Welt den für den bunten Reiz der Gestalten offenen Sinn umfängt. Unsere Einbildungskraft wird von dem Maler nicht angeregt, das Dargestellte mit historischen und ideellen Beziehungen zu umgeben, sondern in der Anschauung dieser sinnlichen Welt selber sanft festgehalten. Mit diesem Eindruck möchte ich. den eines Romans von Walter Scott vergleichen. Das historische Kolorit, das mit dem Enthusiasmus eines kunstsinnigen Antiquars behandelt ist, scheint nur gewählt, die Erzählung in eine kraftvollere, sinnlichere, der Darstellung jeder einfachen geistigen und körperlichen Bewegung günstigere Zeit, als die seinige war, hinabzuführen. Es sind dieselben einfachen und doch so kräftigen und malerischen Gestalten, welche eine gewisse Form der Poesie und der Malerei darzustellen lieben. Scotts Poesie will nichts als nur die ruhige Anschauung der Gestalten selbst: jedes über die Erzählung selbst hinausragende Interesse wird vermieden, alles Spiel der Phantasie leitet der Dichter dahin, die Gestalten in jeder neuen Lage sich möglichst genau, möglichst sinnlich als dieselben zu vergegenwärtigen, selbst am Schlüsse angelangt, ruht das Interesse des Lesers in den Gesamtanschauungen derselben und ihrer Bewegungen gegeneinander. Aus dieser Stetigkeit der Eindrücke entspringt jenes einzige ruhige Behagen, das ein Roman Walter Scotts unfehlbar im Leser hervorbringt. Welch einen ganz anderen Eindruck erregen Dichtungen, in denen sich umfassende Ideen oder die tiefe Bedeutung historischer Begebenheiten ausprägen, bei denen das Gemüt in einer unablässigen Bewegung zwischen einer Gruppe von Ideen oder ideendurchdrungenen Anschauungen und der Erzählung selber sich bewegt! Hier beruht alles darauf, daß diese Gedankenwelt als geschlossene Einheit jeden kleinsten Teil des Werks durchdringe. Nirgends darf sie herausgesagt werden; ja, sie kann es gar nicht, denn was sich sagen läßt, soll nicht dargestellt werden. Der Dichter kann nur das Gemüt des Lesers anregen, daß er sie ebenfalls hervorbringe. Sie enthält keine wissenschaftliche Formel, keinen Zweck für die Gegenwart, sondern eine dem Dichter einlebende Grundanschauung. Wenn Friedrich Schlegel in seiner meisterhaften Würdigung des „Wilhelm Meister" im „Athenäum" die „Tendenz" dieser Dichtung zu erfassen sucht, so ist dies wesentlich derselbe Begriff. Und so paradox es lautet, wenn derselbe dort durchführt, daß man den Aufschluß über diese Tendenz hauptsächlich in den Nebenpersonen suchen müsse, in dem Oheim, dem Abbe, Lothario: so scheint uns doch diese Behauptung für unseren
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Roman, wie für jenen volle Richtigkeit zu haben. Sie wird dieselbe überhaupt für jeden Roman haben, dessen im Vordergrunde befindliche Personen in der Entwicklung dargestellt werden. Denn der bedeutende Dichter wird dann immer, dem Triebe nach Totalität der dargestellten Welt folgend, die Darstellung des dort sidi Entwickelnden in seiner Reife in andere, anscheinend zurücktretende Personen hineinschieben. Es wird leicht sein, nach diesem Grundsatz die Grundanschauung der „Hypatia" herauszufinden. Dann läßt sich erst erkennen, wie kunstvoll und mit welcher dichterischen Konsequenz die oben in kurzen Andeutungen hingestellte damalige Lage der Welt von einem Gesichtspunkte aus beleuchtet ist. Oder ist es ein unmittelbarer dichterischer Instinkt, durch welchen alle historischen Personen zugleich richtig und doch so, daß die Beziehung ihrer Charaktere auf jene Grundanschauung in den Vordergrund tritt, von dem Dichter aufgefaßt sind? Das wäre nur um so günstiger für das dichterische Talent Kingsleys.
II, Die Grundanschauung und ihre Duchführung. Indem wir der Grundansicht, wie sie sich in der Charakteristik ausprägt, nachgehen, müssen wir wohl zunächst den Kreis, in den die poetische Handlung versetzt ist, ins Auge fassen. Es ist die religiöse Bewegung jener Zeit, welche dargestellt werden soll. Mit einem sehr glücklichen Griff verlegt daher der Dichter den Hauptteil der Handlung nach Alexandria, der Weltstadt an der Grenze von Orient und Okzident. Nur hier und in Athen, auf den beiden großen Universitäten der heidnischen Welt, war der alte Glaube und die alte Philosophie immer noch eine, wenn auch nur im stillen fortwirkende Macht. Die Blüte der Wissenschaft in der heidnischen Zeit war noch in aller Gedächtnis. Was war damals in dieser Stadt für Mathematik und Astronomie, für Geographie, Grammatik und für Kenntnis der altgriediischen Literatur geschehen! Nur hier war auch das Judentum, „der älteste Gast im Pharaonenlande", so einflußreich. Die jüdischen Stadtquartiere umfaßten nach unseren Nachrichten mindestens ein Dritteil der Bevölkerung. Sie hatten nicht nur den Handel in Händen; die Schriften des Aristobulus und Philo waren die Quelle einer eigentümlichen und weit wirksamen Philosophie geworden. Alexandria war somit immer noch ein Kampfplatz jener drei Hauptformen der Weltanschauung, welche bereits seit mehreren Jahrhunderten um die Herrschaft rangen. Eine Erzählung aus jener Zeit vergegenwärtigt in einer furchtbaren Weise die Bitterkeit des Parteihasses in der zu Tumulten leicht aufregbaren Stadt. Aus der verlorenen Lebensbeschreibung des heidnischen Philosophen Isidor hat sich uns bei Suidas die kurze Geschichte der letzten heidnischen Philosophin, der schönen und unglücklichen Hypatia, erhalten. Alle Zeugnisse aus jener Zeit bezeugen ihre Unschuld und das Unverdiente ihres schrecklichen Geschicks. Wir haben noch einige Briefe eines christlichen Bischofs jener Tage, die eine innige, fast schwärmerische Verehrung derselben atmen. Selbst der kirchliche Historiker, der diese Periode darstellt, hat kein Wort der Anklage gegen sie. „Da sie aber — so erzählt er von den Beweggründen des Mordes — häufiger mit Orest (dem Stadthalter Alexandrias) 13*
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verkehrte, so erhob sich gegen sie bei der Masse der Christen eine Verleumdung, als ob sie es wäre, die den Orest nicht zur Freundschaft mit dem Bischof (Cyrill) gelangen lasse, und es verschworen sich gegen sie Männer, heißblütig von Charakter, unter Petrus des Vorlesers Leitung." Diese blutige Episode aus einem sonst meist nur durch Schriften und Gesetze geführten Kampfe, herbeigeführt durch den Fanatismus der alexandrinischen Orthodoxie, scheint wenig geeignet, den wirklichen Kampf und das gute Recht des Christentums gegen das Heidentum zu veranschaulichen. Dazu bedurfte es anderer Vertreter des Christentums als des Cyrill. Wir werden daher, indem die Empörung Heraklians den Verbindungspunkt für die verschiedenen Kreise der Erzählung bildet, in den Bereich der größten Erscheinung des damaligen Christentums, des Augustinus, geführt. Höchst merkwürdig ist hier die Art, wie er dargestellt und wie er durch die Darstellung des Synesius von Cyrene ergänzt wird. Während nun diese Personen den historischen Hintergrund ruhender, in sich vollendeter Gestalten bilden, stellt sich die gewaltige Bewegung jener Zeit in zwei Gestalten dar. Der Charakter Philammons scheint nicht ohne künstlerische Berechnung seine Stellung erhalten zu haben. Indem in dem weltunerfahrenen Gemüt dieses jungen Mönchs alle Ausdrücke der großen Bewegung mit hinreißender Frische und dabei doch mit wahrem sittlichem Gefühl empfunden werden, wirken sie gewissermaßen verdoppelt und bereits in einer bestimmten Richtung aufgefaßt auf den Leser. Aber die zweite dieser Gestalten ist offenbar die Hauptfigur des ganzen Romans, ein wahres Meisterstück tiefer und lebendiger Charakteristik — der alexandrinische Jude Raphael Eben-Esra, der den historischen Verlauf jener Zeit, den Ubergang aus den heidnisch-jüdischen Philosophemen zum Christentum, in sich darstellt. In seiner Entwicklung dürfen wir daher den wahren Mittelpunkt der Darstellung der verschiedenen Kreise, in denen der Roman sich bewegt, suchen, so wenig dies auch äußerlich angedeutet ist. Den Kreis des Heidentums stellt Hypatia dar. Sie gehörte dem Neuplatonismus an, jener letzten großen Gestalt der heidnischen Philosophie, welche fast zwei Jahrhunderte hindurch der Herd aller Restaurationsversuche des Heidentums, einer unaufhörlichen und höchst energischen literarischen Bekämpfung des Christentums gewesen ist. Diese Richtung in ihrer Person zu verkörpern, war also die Aufgabe des Dichters. Was wir von ihr selbst wissen, konnte ihm hierzu den Stoff nicht bieten. Ein Epigramm der Anthologie enthält das Lob ihrer astronomischen und philosophischen Weisheit, von der übrigens der ehrliche Suidas ungefähr ebenso poetisch und etwas ausführlicher redet. Ihr hätten — berichtet er — die mathematischen Beschäftigungen ihres Vaters, des berühmten Theon, nicht genügt. So hätte sie sich zur übrigen Philosophie gewandt. Im Philosophenmantel habe man sie durch die Stadt gehen sehen und in ihren Vorträgen hätte sie Piaton und Aristoteles und die Schriften der anderen Philosophen erklärt. Solche dürftige Nachrichten mußte also der Dichter durch unsere anderweitige Kenntnis des Neuplatonismus jener Periode ergänzen. Besonders die Schriften ihres Vorgängers Julian und ihres Schülers Synesius boten hierzu Stoff in Fülle. Es ist doch eine begeisternde Anschauung der Dinge, welche sie enthalten! Aus dem Sdioße des Einen, Unsagbaren fließen
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durch unendliche Welten Ströme des Lebens: Die ganze Welt ist das unwandelbare Leben des Unsichtbaren: überall Stufen seiner still wirksamen Gegenwart: seine ewigen und lebendigen Abbilder die Gestirne, die sichtbaren, deren Vernunft diese Welt ordnet, und die unsichtbaren, die Führer des Alls, bis hinauf zu dem großen Helios, dem Bilde des Vaters: die Gestalten der Götterbilder, deren das Auge des sinnlichen Menschen bedarf, damit es die göttlichen Kräfte zu schauen lerne: die Mythen des Altertums Darstellungen des ewigen Gesetzes der Dinge im beschränkten Bilde des Geschehens: dieser menschliche Geist selber eine göttliche Kraft, im dunklen Stoff und der harten Notwendigkeit gebunden, damit er einst zur sanften Freiheit des göttlichen Lebens gelange. Es ist eine Vergöttlichung der Natur, in deren durchsichtigen Formen überall das unaussprechliche, in viele Kräfte geheimnisvoll geschiedene Eine angeschaut wird. „Glaubet an den großen Helios", so sagt Julian, „an das Bild des Vaters, den seit ewigen Zeiten das Geschlecht der Menschen schaut, statt an Jesus, den weder Eure Väter gesehen haben, noch ihr selbst." Und wie beschreibt Synesius das ewige Fest seines Auf- und Niedergangs! Es schaut ihn staunend der reinen Gestirne himmlischer Reigen. Doch lächelnd stimmte der Aether, Der weise Vater des Wohllauts, Auf siebensaitiger Lyra Ein tönendes Loblied. Es lächelte auch der Morgenstern, Der frühe Bote des Tages, Und der goldn Stern der Cythere, Der Bote des Abends. Und es schritt, das gebogene Horn Mit dem Strom des Feuers gefüllt, Voran der Mond, Der Hirte der nächtlichen Götter. Wer könnte diesen Anschauungen nachgehen, ohne daß ihm die tragisdie Gestalt des großen sdiwäbisdien Dichters, Friedrich Hölderlins, vor die Seele träte, wie er einst in Tübingen und Frankfurt mit dem Freunde Hegel in Piaton und Plotin in dem „Einem, das sich selber zur Vielheit unterscheidet", schwärmte, wie er im „Hyperion" und in seinen Gedichten dieser Anschauung mit einer Wahrheit und Gewalt einen neuen Ausdruck gegeben wie niemand vor oder nach ihm! Der am liebsten von sich bekannte: „Und wie du das Herz der Pflanze erfreuest, wenn sich entgegen dir die zarten Arme strecken, so hast du mein Herz erfreut, Vater Helios! und wie Endymion war ich dein Liebling, heilige Luna!" Es wäre zuviel verlangt, wollte man eine ähnliche Reproduktion des Neuplatonismus von Kingsley fordern! Aber es läßt sich nicht leugnen, daß der Engländer doch gar zu weit hinter der Kraft dieser Weltanschauung zurückgeblieben ist. Wohl sind die wichtigsten Lehren des Neuplatonismus dargestellt; der Dichter hat mit Recht die gewöhnliche Form des Romans überschritten, indem er diese in zwei Reden
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mitteilt: aber jene stille Innerlichkeit des sich reinigenden Gemüts, jenes enthusiastische Zerfließenwollen in alle Kräfte des Alls, wie es das Leben eines Plotinus darstellt, weht nicht in dieser Schilderung. Ja, es ist zuweilen, als kokettiere Hypatia nur mit ihrer Philosophie. Und das lag keiner philosophischen Sekte je ferner als der neuplatonischen. Es ist wahr, die Schriften des Julian sind voll von rhetorischem Prunk; der Neuplatonismus vertrat das Heidentum der Aristokratie und die klassische Bildung der Zeit: aber diese Interessen fielen ihm nur zu, eine ganz andere Tendenz hatte ihm den Ursprung gegeben, eine Tendenz, der Welt entfremdet in stillem Zwiegespräch mit den göttlichen Kräften des Alls allein zu leben. In dieser Schilderung hören wir zu oft von der „affektierten Gleichgültigkeit", der „studierten Strenge", dem „schmachtenden Ton", als daß wir auch nur an die Absicht des Dichters, die neuplatonische Stimmung in ihrer ganzen Kraft darzustellen, glauben könnten. Auch die Hinzudichtung desselben zu ihrer Lebensgeschichte, wonach sie die Wahrhaftigkeit und Reinheit ihrer Person opfert und sich in Intrigen zur Volksaufwiegelung verwickelt, trübt ihr historisches Bild unnötig, und ist selbst überhaupt nicht im Geiste des Neuplatonismus gedacht. Neben der heidnisch-aristokratischen Richtung steht die Denkweise der jüdischen Bevölkerung. In Mirjam erscheint sie von ihrer schlimmen Seite: verachtet und verachtend, ganz von der Begierde des Besitzes beherrscht. Und doch nicht ganz! Es ist schön gedacht, daß einer der edelsten Züge des Judentums, wie er in Raphael in reiner Gewalt wirkt, in ihr fast zu einer krankhaften Leidenschaft wird: die Familienliebe und das Heiligachten der Familienbande. In Raphael tritt dann jener unendlich weiche und feinfühlende und doch in seiner scharfen Dialektik ganz geschlossene Spiritualismus hervor, der den edelsten Erscheinungen des Judentums bis auf diesen Tag eignet. Selbst Volk und Religion des germanischen Nordens ragt in dies Völkertreiben herein. So wünschenswert es zur Abrundung des dichterischen Gemäldes sein mußte, unsere Vorfahren, und zwar in ihrer Eigenschaft als künftige Erben des römischen Reichs, in die Darstellung mitzuverweben, so wünschten wir doch, es wäre auf eine etwas weniger abenteuerliche Art geschehen. Ihrer vierzig sollen den Athaulf verlassen haben, als er nach Norden zog, und sich unter einem Amalerprinzen nach Süden aufgemacht haben, Asgard zu suchen. Das sieht eher nach der ritterlichen Mystik des Mittelalters aus als nach den Zuständen jener Zeit. Und wenn selbst Alarich diese wunderliche Idee bei seinem Einfall in Italien zugeschrieben wird, so ist das in der Tat ein Zug von dem berüchtigten romanhaften Herüberziehen der Geschichte ins pikant Abenteuerliche, wie es leider eben in Deutschland ganz fabrikmäßig mit einer Portion neuerer Geschichte nach der anderen betrieben wird, so daß kein Held mehr vor diesen Homeriden sicher ist. Und was kann romanhafter sein, als daß diese edlen Vierzig mit dem Plan umgehen, Alexandria zu nehmen und die Wachen des Präfekten sich ganz ernshaft vor ihnen fürchten! In der Tat treten sie audi nie auf, ohne daß es zu einer Prügelszene käme, und keine Prügelszene endigt anders als mit ihrem Sieg. Der Amalerprinz selbst wird durch eine Parallele mit einem Elefanten eingeführt, und sein stehendes Prädikat „der Riese" dient nicht gerade dazu, die angeregte Vorstellung von ihm herabzustimmen.
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Und wenn wir von dem weisen Manne in dieser abenteuerlichen Gesellschaft, Wulf, nidit anders glauben können, als daß das Wolfsfell, in dem er aufzutreten pflegt, rings mit den Skalpen seiner Feinde besetzt ist, so ist da der Germane doch ein wenig ins Indianische übersetzt. Natürlich, daß diese Züge die übrigen beeinträchtigen, in denen die sittlichen Grundideen des Germanentums, die Verehrung des edlen Weibes, das Heilighalten der Mannesehre und der Stammesgemeinschaft, zum Ausdruck kommen; dennoch müssen wir zugestehen, so unberechtigt auch diese Übertreibungen sind, ohne tiefere Absicht scheinen sie nicht aufgehäuft. Denn in diesen Darstellungen blickt bereits überall ein Grundgedanke des Dichters durch. Soweit das griechisch-römische Heidentum reicht, sehen wir Auflösung der sozialen Zustände, und die philosophische Restauration wird zwischen einsamer Beschaulichkeit und hastigen politischen Versuchen, die ohne sittliche und populäre Grundlage sind, umhergeworfen. Die Philosophie vermag gar nichts zur Umgestaltung des sozialen Lebens. Germanentum und Judentum bedürfen beide einer festen und allgemeinen Form des Lebens neben dem ohnmächtigen Staat, einer Form, der das erstere seine persönliche Willkür, das zweite seine beschränkte Familien- und Geldliebe unterordnen lerne. Es ist somit etwas ganz Bestimmtes, was diese Kreise des Lebens verlangen und bedürfen! Etwas ganz Bestimmtes, was das Christentum ihnen leisten soll! Mit feinem künstlerischen Instinkt läßt der Dichter die vollendete Form des Christentums nun erst vor den Leser treten, nachdem in demselben eine bestimmte Vorstellung über das, was sie der Welt gewähren solle, erregt ist. Und nun entspricht die Darstellung des Christentums genau jener langerregten Vorstellung seiner Aufgabe. Auch hier werden die Erscheinungen ganz unter dem Gesichtspunkte der Tendenz des Romans erfaßt. Es gibt in der Kirche jener Zeit keine Erscheinung, welche dem vollendeten römischen Katholizismus näherstände als Augustinus, der gewaltige Bischof von Hippo. Sein glühender Haß gegen die Ketzer, der ihm wohl auch die Erklärung ablockte, es sei besser, daß einige wenige hier brennten als daß sie viele ins ewige Feuer brächten; seine Abneigung gegen die Ehe und seine Ermahnungen zum asketischen Leben; die ungelehrte Willkühr, mit der er die Bibel behandelte: alle diese Züge scheinen wenig geeignet, die Gestalt des vollendeten Christentums an ihm darzustellen. Hier kommt nun dem Dichter die bestimmte Erwartung, die er erregt hat, zu Hilfe. Diese kirchliche Organisation ist es — darauf ist alles angelegt, dies zu zeigen —, was jene Lebenskreise bedürfen. Und erwuchs nicht jene Weise des Bibelgebrauchs eben aus diesem Bedürfnis, wie der Dichter sich trefflich ausdrückt, „jede geringste Sache einer hohen und göttlichen Regel zu unterwerfen?" Mußte diese Organisation nicht die Autorität und den Gehorsam von Untertanen verlangen? Doch der Verfasser tut gewiß gut, die hier berührte Seite Augustins und der katholischen Kirche dem Leser gar nicht vor die Augen zu rücken. Anders ist es mit jener Frage über Ehe und Askese. Sie griff zu tief in den Plan seines Romans, als daß er Augustins Denkart über dieselbe hätte in den Hintergrund treten lassen dürfen. Aber wie hat er sie behandelt? Eine Stelle ist sehr charakteristisch. Augustin hat eben noch die Jungfräulichkeit gepriesen. „Aber plötzlich" — so erzählt Eben-
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Esra — „fuhr er mit einer solchen Lobrede auf die Ehe fort, wie ich sie niemals von Juden oder Heiden vernommen." Eine so entschieden protestantische Beleuchtung gibt er ihm. U n d nicht genug! Zur Ergänzung seiner Grundansicht stellt er einen anderen christlichen Bischof neben ihn — Synesius. Eine glückliche Wahl! Derselbe war nicht nur der einzige namhafte verheiratete Bischof jener Zeit, seine Ansicht von Kirche und Welt, von D o g m a und sittlichem Leben wich überhaupt wesentlich von der des damaligen Katholizismus a b : er war von dieser Seite sehr geeignet, die christliche Grundanschauung Augustins zu ergänzen. Er vertritt gewissermaßen den Protestantismus des Christentums, wie er sich zu allen Zeiten in zurückgezogener Stille erhalten hat, während in Augustin die historische Notwendigkeit des Katholizismus, freilich auch diese der dichterischen Tendenz gemäß beleuchtet, dem Leser entgegentritt. Denn in beiden ist die praktische Gewalt des Christentums durchaus in den Vordergrund gestellt. Es ist bezeichnend für diese Anschauung des Christentums, daß Augustin, dieser gewaltige Dialektiker, dessen Disputationsanträgen die häretischen Parteien jener Zeit so gern auswichen, hier dargestellt wird, eine volle Nacht hindurch mit Eben-Esra, dem Schüler der Rabbinen, disputierend, aber erfolglos: der Eindruck einer christlichen Familie, das Schauspiel christlicher Selbstverleugnung taten, was Augustins Gründe nicht vermocht hätten. In der Geschichte Eben-Esras selbst tritt nun der dichterische Grundgedanke in das hellste Licht. Alle Weisheit von Juden und Heiden, allen Kunstsinn, allen Lebensgenuß hat der Dichter über ihn ausgeschüttet, es zu zeigen, wie reine und hingebende Frömmigkeit, echte Religion durch nichts ersetzt werden kann für ein ursprünglich edles Gemüt. Ich weiß nichts, was diese Darstellung seiner U m w a n d lung in der Schilderung eines solchen Lebenslaüfs überträfe, als eben die Wahrheit selbst, wie sie in den gleichzeitigen Konfessionen Augustins vorliegt. Andere Formen der Bekehrung hat der Dichter sehr schön an Phiiammon und dessen verlorener Sdiwester Pelagia dargestellt. In die Geschichte der letzteren sind viele Züge eingewoben, die sich in der alten Geschichte der heiligen Pelagia im „goldenen Legendenbuch" finden. Es ist freilich ein katholisches Lebensideal, das sich in der Wendung ausspricht, welche Philammons und Pelagias Schicksale nehmen. U n d nimmt man hinzu, daß der Dichter audi Eben-Esra früh im K a m p f gegen die Vandalen in Afrika enden läßt, so gemahnen wohl diese wechselnden Szenen und gewaltigen K ä m p f e den einen oder anderen Leser des Romans wie vorüberrauschende Traumbilder, von denen nichts übrigbleibt. Etwas von diesem Eindruck läßt sich nicht leugnen. Vielleicht selbst, daß der rasche und zuweilen etwas gewaltsam mit unserer Phantasie schaltende Wechsel der Szenen, das schroffe Ende beabsichtigte Technik des Dichters sind, etwa wie sich die entgegengesetzten Kunstmittel zur Verstärkung des Eindrucks epischer Ruhe bei Walter Scott finden. Aber dieser Eindruck unseres Romans wird doch f ü r den genaueren Leser durch Andeutungen, die den ganzen R o m a n durchziehen, gemildert; wie durch die, welche im KlosterleDen einen positiven Kern sozialer Gestaltung und in jenen Barbarenstürmen den Beginn der neuen Zeit erkennen lehren. U n d audi das hängt tief mit den Grundideen des Romans zusammen, wenn der Leser in die ideale Sphäre der historischen Weltordnung hinübergeleitet wird, dort den Ruhepunkt seiner Ge-
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danken zu finden, den er nicht, wie bei einem Walter Scottsdien Roman, in der Betrachtung der persönlichen Geschicke der einzelnen Personen findet. Es wäre eine interessante Aufgabe, eine andere Reihe von Andeutungen zu analysieren, auf die schon der zweite Titel des Romans, „Neue Feinde mit altem Gesicht", aufmerksam macht. Mehreren Personen sind Züge zugeteilt, welche über ihr Zeitalter hinausweisen und sie Typen allgemeiner Formen der Weltanschauung annähern. Hierher gehört die Einmischung Fichtescher Sätze in den Skeptizismus Eben-Esras; die protestantische Ansicht, desselben von der Ehe; jene Züge im Charakter des Synesius, welche Bunsen zu seiner geistreichen Vergleichung desselben mit dem des Verfassers selbst, des englischen Landpfarrers, veranlassen und anderes. Aber wir würden in Gefahr geraten, ein Buch über ein Buch zu schreiben. Und zumal über ein Buch, das unsere schneilebende Zeit wohl schon alt nennt, das mindestens vielen Lesern dieser Zeitung längst bekannt ist. Aber wenn wir von uns schließen dürfen, so wird es manchem von diesen eine angenehme Empfindung sein, die Gestalten dieses Romans, von denen einige wenigstens die höchste Probe aller Poesie aushalten, indem sie sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägen, als wahre Bereicherungen unsrer Kenntnis von den Formen und Gestalten des menschlichen Daseins — diese Gestalten einmal wieder vor der Seele vorübergleiten zu lassen, wie man sich wohl gern einmal wieder alter lieber Freunde in einer traulichen Stunde erinnert.
Goethes „Iphigenie" in ihrem Verhältnis zur Bildungsgeschichte des Dichters Ein Vortrag von Hermann
Hettner
Im zweiten dieser [Goethe-]Vorträge vom 14. Februar [1861] besprach Professor Hettner aus Dresden „Goethes ,Iphigenie' in ihrem Verhältnis zur Bildungsgeschichte des Dichters". Der Vortrag erfaßte in der Tat die ganze Bildungsgeschichte des Dichters: er fand das Eigentümliche dieser Dichtung in dem erreichten Ideal der schönen Menschlichkeit des Individuums, und von dieser Formel aus überblickt er dann Goethes dichterische Tätigkeit. Es ist schwer, über einen Gegenstand, der so unendlich oft besprochen, im Grunde von den beiden Schlegel, Wilhelm von Humboldt und Schiller bereits endgültig abgemacht worden ist, Neues zu sagen. Goethes Natur ist so offen, einfach, von ihm selbst in späteren Jahren und von den Zeitgenossen vollauf erörtert, daß dieselbe von keinem folgenden tiefer gefaßt ist als sie etwa Schiller in seinem berühmten Briefe faßte; was die Späteren in der Auffassung voraus haben, ist nur die Entfernung der Zeit und was mehr ist, daß jene Periode abgeschlossen hinter uns liegt; was wiederum der gegenwärtige Literar-
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historiker v o r a u s h a t v o r den D a r s t e l l u n g e n v o n G e r v i n u s , J u l i a n Schmidt u n d anderen ist, d a ß der erste M o m e n t des Ü b e r g a n g s , welcher n o t w e n d i g der einer schroffen A b k e h r ist, v o r ü b e r u n d eine unparteiische Übersicht des Z u s a m m e n h a n g e s jener P e r i o d e möglich g e w o r d e n ist. S o hat, w e r jetzt v o n Goethes dichterischem I d e a l ein B i l d entwirft, die P e r s p e k t i v e u n d den H i n t e r g r u n d jener g a n z e n Zeitb i l d u n g u n d eine k l a r begrenzende, doch m i l d e Beleuchtung v o r früheren D a r stellungen v o r a u s . E i n tieferes E i n d r i n g e n in dies I d e a l w ä r e v o r einem gemischten P u b l i k u m immerhin ein Wagestück^ das nur einer vollendeten K u n s t der plastischen I n d i v i d u a l i s i e r u n g geistiger V o r g ä n g e gelingen möchte. S o begnügte sich denn der R e d n e r wohl mit Recht, ein übersichtliches u n d verständliches G e s a m t b i l d v o n jener F o r m e l der harmonischen Menschlichkeit aus — welche freilich u n b e s t i m m t genug ist — z u entwerfen, die G r e n z e n Goethescher A r t u n d K u n s t nicht verschweigend u n d doch in begeistertem Schwünge, w i e es der Gelegenheit geziemte. E r ging v o n d e m Eindruck aus, welchen „ I p h i g e n i e " auf die deutschen K ü n s t l e r z u R o m machte, als sie G o e t h e d o r t zuerst v o r l a s . I n ihrer Enttäuschung u n d in d e m ratlosen E r s t a u n e n des Weimarischen Kreises über dies W e r k des V e r f a s s e r s v o n „ W e r t h e r " u n d „ G ö t z " spiegelt sich der G e g e n s a t z , in welchen G o e t h e durch dasselbe m i t der eigenen Vergangenheit u n d mit d e m künstlerisdien Streben der F r e u n d e trat. U n t e r dem ersten Geschlechte der Zeitgenossen w a r e n wenige, die es verstanden, die A u t o n o m i e der genialen E m p f i n d u n g z u überwinden, den sprudelnden M o s t z u m reifen Wein a u s g ä r e n z u lassen. G o e t h e vermochte es, g e r a d e weil er jene früheren Z u s t ä n d e m i t so selbstkräftiger O r i g i n a l i t ä t durchlebt hatte. D a m a l s pries er a n H o m e r , d a ß er sich u n d der N a t u r alles v e r d a n k t e . Auch beim S t o f f e des „ G ö t z " w a r es ihm u m die individuelle G r ö ß e dieses C h a r a k t e r s wesentlich z u tun. I n Werthers Leidensgeschichte aber w u r d e die T r a g ö d i e eines ungebändigten H e r z e n s ihm z u m ausschließlichen S t o f f e , d a s den A d e l u n d die Unendlichkeit seiner eigenen T i e f e über alles stellt. D i e ersten Weimarischen J a h r e , die J a h r e ungebundenen genialen Treibens, w a r e n zugleich die ersten stiller E i n k e h r . Sehr bezeichnend ist die S t i m m u n g gesammelter R e s i g n a t i o n , w i e sie in den kleinen L i e d e r n v o n 1777 lebendig ist. D a s E n d e dieser G ä r u n g e n bezeichnet es, wenn er z u E n d e 1792 beim O r d n e n aller alten P a p i e r e u n d B r i e f e v o n zehn vergangenen J a h r e n ausruft, es h a b e doch eines g a r g e w a l t i g e n H a m m e r s bedurft, v o n so viel Schlacken sein H e r z zu reinigen u n d d e r N a t u r d a n k t f ü r die innere H e i l k r a f t , welche sie in d a s Wesen des Menschen selber gelegt hat, wenn er 1793 in d e m Gedichte „ I l m e n a u " auf den S t u r m u n d D r a n g der J u g e n d w i e a u f eine längstv e r g a n g e n e Zeit zurückblickt u n d den fürstlichen F r e u n d mahnte, „ d i e freie Seele einzuschränken". I m Dienste dieser S t i m m u n g e n u n d G e d a n k e n steht nun alles, w a s d e n Dichter bis z u r italienischen R e i s e beschäftigt. Schon Schiller in der A b h a n d l u n g „ Ü b e r n a i v e u n d sentimentale D i c h t u n g " h a t den Z u s a m m e n h a n g der W e r k e aus dieser Zeit m i t „ W e r t h e r " a u f g e z e i g t . „ T a s s o " ist die T r a g ö d i e der E n t s a g u n g . „ W i l h e l m M e i s t e r " drückt die heitere V e r s ö h n u n g mit d e r Wirklichkeit durch freie, bewußte Selbstbeschränkung aus. D i e Natur,
w i e sie R o u s s e a u , H a m a n n , H e r d e r
erstrebten, bleibt sein Ziel, aber nicht die ungebändigte, selbstsüchtige, sondern die sich mit den F o r d e r u n g e n der sittlichen Welt in E i n k l a n g setzt — die
Humanität.
Goethe und die Erzählkunst (1861)
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Von dieser Stufe aus waren die „Geheimnisse" der erste neue poetische Versuch des Dichters. Sie blieben Fragment, weil ihre Aufgabe, die Humanität als die Triebkraft in allen Religionen darzustellen, in die Unendlichkeit und die Symbolik hinauswies. D a s erste vollendete Werk auf derselben war „Iphigenie". An dem Gegensatze zu ihrem Vorbild, der euripideischen, zeichnete der Redner ihre Eigentümlichkeit. Für den antiken Dichter ist die Handlung nur der Brennpunkt, in welchem die höheren dämonischen Gewalten sich treffen und zur Erscheinung kommen. Für den modernen liegt die Versöhnung in der menschlichen Gemütstiefe selber; ihm ist des Menschen Gemüt sein Schicksal. Alle Veränderungen der H a n d lung des euripideisdien Stückes entstandenen aus der Absicht, in Iphigenien die harmonische Menschlichkeit darzustellen und in dieser die Versöhnung. Der Redner wies dann auf den eigentümlichen Zufall hin, daß die erste Entstehung von „Iphigenie" mit der von „ N a t h a n " in ein Jahr fällt. Der Abschluß der Periode lehrhafter religiöser Aufklärung berührt sich so mit der ersten Entfaltung der Idee harmonischer Humanität. Er verfolgt dann durch Goethes fernere Entwicklung hindurch, wie diese Idee das Lebenselement seiner Poesie bildete. Auch jenes vorübergehenden, doch höchst merkwürdigen Versuchs der „Wanderjahre" gedachte er, von der Gestaltung der schönen Individualität mit der Bewegung der Zeit zu der der Gesellschaft und des Staates fortzuschreiten. Die Heimat des Dichters blieb doch das Gemüt mit seinen inneren K ä m p f e n . Davon, daß Goethe nicht populär geworden ist, fand der Redner den Grund darin — ob mit Recht mag dahingestellt bleiben —, daß man selber innere K ä m p f e durchlebt haben müsse, um diese Poesie des mit sich selber ringenden menschlichen Gemüts zu verstehen.
Goethe und die Erzählkunst Ein Vortrag von Berthold
Auerbach
D a s überaus zahlreich versammelte Publikum verfolgte mit dem sichtbarsten Interesse, wie der Dichter der „Dorfgeschichten" sich als vollendeter Interpret Goethescher Poesie zeigte. Durch alle Verbindungen und Formen hindurch wurde in diesem Vortrage, wie in dem Virchows, ein Element der Goetheschen Geistesart mit eindringender Analyse aufgezeigt. Und wenn die Absicht war, daß auch ein geistiges Denkmal des universellen Mannes in diesen Vorträgen aufgerichtet würde, so lieferten diese beiden in der T a t dazu treffliche Bausteine. Wie dort der berühmte Physiologe über den Naturforscher, so sprach hier der bedeutende Novellist über den Erzähler. U n d es war natürlich, daß das Auge des Künstlers vieles sah, was dem des bloßen Kritikers verborgen geblieben wäre. Ist doch unsere poetische Kritik, was sie ist, durch Dichter geworden, von Lessing ab bis auf die beiden
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Schlegel, die letzten Kritiker in großem Stile, die wir gehabt haben. Ist dem von der Historie ausgehenden Literarhistoriker die Poesie ein Kapitel aus der Kulturgeschichte, so ist sie dem von der Poesie ausgehenden Kritiker eins aus der Ästhetik. Die allmähliche innere Formation eines Kunstwerkes, die Mittel, durch welche die poetische Wirkung hervorgebracht wird, sind ihm vertraute Dinge: überall faßt er kongenial, durch welche Mittel die poetischen Wirkungen erzeugt werden, seine geschäftige dichterische Einbildungskraft schafft die poetischen Gebilde nach, indem er versucht, sie zu begreifen. Für solche Art der Kritik hatte Auerbach gerade auf dem Gebiete, welches er ausgewählt hatte, bewundernswürdige Vorbilder: vor allem Schillers ästhetische Betrachtungen über den „Wilhelm Meister", die man ohne viele Zusätze aus den Briefen zu einer Abhandlung verknüpfen könnte, dann Friedrich Schleges Abhandlung über den „Meister" im „Athenäum", seine Rede über den verschiedenen Stil in Goethes früheren und späteren Werken, in dem „Gespräche über die Poesie", August Wilhelm Schlegels Abhandlung über „Hermann und Dorothea" : lauter bedeutende Versuche, der epischen Eigenart Goethes und den Mitteln, deren sie sich in der Erzählung bedient, näherzukommen. Mit ebensoviel Originalität als liebevollem Eingehen hat er sich auf diesem wahren Wege ästhetischer Kritik gehalten; es ist unmöglich, den reichen Gedankenertrag, mit welchem ein so trefflicher Gesichtspunkt ihn belohnte, einen Ertrag, der auch im Vortrage selber zuweilen nur in Andeutungen mitgeteilt wurde, hier zusammenzufassen; indem wir die Hauptideen mitteilen, hoffen wir, daß diese Rede, wie die Virchows — dem veränderten Zwecke entsprechend umgebildet — bald uns im Drucke zu zweiter Lesung vorliegen möge, die ja, wie unser Redner bemerkte, der Prüfstein alles Trefflichen ist. Auf der Höhe des Lebens, als bereits Spinozas Denkweise tiefe Wurzeln in ihm geschlagen hatte, sprach Goethe das schönste und stolze Wort aus: „ich lernte midi als Natur achten". Auch für sein Verhältnis zur Kunst gilt dies Wort. Nach ihren Gesetzen gestaltete er seine Werke: aber sie waren ihm nicht äußerliche Gesetze; sie waren seine Natur. Und so würde er selber nicht billigen, daß ein Codex der Ästhetik aus seinen Werken aufgestellt würde. Aber er würde die Aufgabe gelten lassen, die Gesetzlichkeit seines Schaffens zu begreifen. Das vorliegende Thema hat es nur mit einem Teile dieser umfassenden Aufgabe zu tun; es handelt sich um die künstlerische Konstruktion von Goethes erzählenden Werken. Vom dreiundzwanzigsten bis zum zweiundachtzigsten Jahre kehrte er stets wieder zur Erzählung zurück. Er war ein geborener Epiker, ja sein Leben selbst scheint dem langsamen, stetigen, doch unaufhaltsamen Flusse epischer Darstellung zu gleichen: so wenig dramatische Überraschung ist darin, so stetig und umfassend ist alles darin angelegt, als ob er ein Vorbewußtsein seines langen Lebens gehabt hätte. Wie unvergleichlich unvollendeter und fragmentarischer als das Schillers wäre es gewesen, hätte ihn der Tod so früh als diesen erreicht! I. Am Beginn seiner Erzählerlaufbahn steht der „Werther". Auerbach hob mit Recht als das Wesentliche seiner Komposition die einheitliche, mit großem Kunstverstande von allen verwirrenden Motiven und Bezügen abgesonderte Stimmung
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Werthers heraus. Nicht in der Vielfachheit der Motive, sondern in der triebkräftigen Entfaltung des Einfachen liegt die epische Größe (so wie — wenn wir einen Vergleich hinzusetzen dürfen — die Homerischen Epen am wenigsten mythologischen Stoff verbrauchen; die späteren epischen Dichter, denen das Geheimnis epischer Entfaltung verlorengegangen war, wickelten in kurzen Gedichten lange und zusammengesetzte Reihen sagenhaften Stoffes ab). Entwirft man ein ruhiges Schema des Stoffes im „Werther", wie Goethe dergleichen Schemata liebte — der berauschende Inhalt des „Werther" läßt selten den Leser dazu kommen — und vergleicht man dasselbe mit dem im Kestnerschen Briefwechsel vorliegenden Verlauf oder mit der Geschichte des jungen Jerusalem: so erkennt man als die durchschlagende Grundabsicht aller Veränderungen, die der Dichter vornahm, die Isolierung des Motivs wie des Helden, welche den Leser in dem Banne der einen Stimmung erhalten soll. Wenn zum Beispiel der junge Jerusalem mit dem Gedanken an seine Familie schwer zu kämpfen hat, so wird hier nur vorübergehend und mit leichter Hand ein nicht in die Tiefe reichendes Verhältnis Werthers zur Mutter berührt; von allen Verbindungen der Gesellschaft losgelöst wird er dargestellt; er soll der Träger der ganz allein auf sich gestellten Subjektivität sein. Er ist wie ein Baum, der auf einsamer Höhe steht; ungehindert breitet er die Zweige aus, aber kämpft audi einsam mit dem Sturmwind und kann nicht widerstehen. — So sind nun alle einzelnen Züge, obwohl mit großer Kunst scheinbar abgerissen hingestellt, doch zum Ganzen harmonisiert (der Redner gestattete sich nicht, auf die „Wahlverwandtschaften" vorauszublicken, deren Komposition, wie groß audi auf den ersten Blick wegen jener scheinbaren Zusammenhanglosigkeit in „Werther" der Unterschied erscheint, eine merkwürdige Verwandtschaft mit demselben zeigt). Wenn zum Beispiel jene Erzählung der Flut die Handlung unterbricht, so stellt sidi das Chaos von Werthers zerrüttetem Empfindungsleben wie eine Vision äußerlich in den Wasserfluten dar, die alle seine vertrauten Plätze naturgewaltig vernichten. Wenn in jenes Gespräch Werthers und Lottens, das nach dem Kestnersdien Briefwedisel der Wirklichkeit entnommen ist, die Übersetzung ossianischer Gesänge eingeschoben ist, so beruhigen diese die Handelnden und den Leser wie eine Musik, in welcher aller Empfindung sich in das Elementare auflöst. — Es gab aber für diese absolute Subjektivität nur eine Darstellungsform, die des Briefes, wie sie in einem ähnlichen Falle Rousseau in der „Neuen Heloise" gewählt hat. Der Stimmungsbrief ist halb ein Monolog, halb an den Vertrauten gerichtet, und in diesem Falle ist der Leser der Vertraute. Die monologische Schwüle des Romans wäre unerträglich, wenn der Dichter sie teilte, wenn er nicht still außer seinem Werke stände. Nur zuweilen, in den Verbindungsstücken, die kurz vor der Katastrophe eintreten, blickt er hinein, und in diesen zeigt sich dann die feinste Kunst. Das ist ein behutsames Auftreten, ein gelindes Überleiten wie auf halben Tönen; wir halten den Atem an, wie jemand, der an der Tür eines Sterbezimmers steht. Wenn sich in der Charakteristik die Gestalten Werthers und Lottens klar und scharf gezeichnet herausheben, so läßt sich eine gewisse Unbestimmtheit und Halbheit in der Zeichnung Alberts nicht verkennen. Der Dichter möchte den Freund nicht zeichnen, und doch vermag er natürlich nicht über seine zumal damals noch
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so realistische Einbildungskraft eine andere Gestalt unterzuschieben. Unwillkürlich aber wird diese Physiognomielosigkeit Alberts zu einem eigenen Vorzug der Dichtung. Werther hat kein Auge für Albert; und auch der Leser soll kein Auge für ihn haben, damit nicht irgendwelche Abwägung seines Werthers in Vergleich zu dem Werthers ein die Stimmung störendes Motiv eindränge. Mit der Handlung ist die Naturanschauung überall aufs innigste verwebt. Wie Kestner zuerst Goethe sah in Wetzlar, unter einem Baume im Grase liegend, so schildert uns hier der Dichter Werther in der wunderbaren Periode: „Wenn das liebe Tal um midi dampft" usw. Diese Periode kann zugleich als ein Muster des Stils dieser Erzählung dienen (leider ging der Redner auf die Technik desselben nicht näher ein; schon Karl Philipp Moritz versucht in seiner Stillehre gerade an diesem Satze die stilistische Kunst im „Werther" zu analysieren; in der Tat ist merkwürdig, wie dasselbe Satzschema, das so vollkommen das langsame, aber unaufhaltsame Anschwellen der Empfindungen darstellt, die zuletzt das Gefüge des Satzes plötzlich zerreißen — wie ein Abbild der Komposition im kleinen —, so singular es ist, doch so häufig wiederkehrt (in meiner Ausgabe von 1817 habe ich Seite 8, 14, 75, 81, 127, 131 angemerkt). Zwei Eigentümlichkeiten in diesem Stile hob Auerbach fein hervor. Ist Lessings Stil der bewegte Ausdruck persönlicher Erörterung, so herrscht hier der des eigentlichen Erzählers: man glaubt, die Lippen des Schreibenden sich mitbewegen zu sehen. Und was damit zusammenhängt: in dem Werke lebt eine Rhythmik der Sprache wie in keinem anderen deutschen, wie nur in jenen wunderbaren rhythmisch freien Gedichten Goethes, zum Beispiel: „in allen Wipfeln ist Ruh'", die uns anwehen wie die still bewegte sommerliche Luft. II. Fast volle acht Jahre ruhte nach dem „Werther" die erzählende Diditungsform. Dann entstand der Plan jener epischen Schöpfung, die ihn wie der „Faust" sein ganzes Leben hindurch beschäftigt hat — des „Wilhelm Meister". Das Schema der inneren Handlung ist, die Darstellung des Lebens in seiner ganzen Buntheit an den Bildungsgang eines einzelnen Menschen anzuknüpfen. Wilhelm Meister muß sonach, wie Werther, von Familienbanden losgelöst erscheinen; wenn Vater, Schwester und Freund Werner im Beginn hervortraten, so verschwinden sie bald aus der Handlung. Denn der Dichter bedarf auch hier eines Helden, der rein auf sich gestellt seine Bildung vollendet, indem er die Welt auf sich wirken läßt. Von geschlossener Gruppierung kann keine Rede sein. Jenem Schema der inneren Handlung entspricht notwendig als das des äußeren Vorgangs die Reise, der Wechsel des Orts und der Verhältnisse. Der moderne Odysseus irrt zwar nicht auf den Wogen des Meeres, aber auf denen der modernen Gesellschaft umher. Dem entspricht, daß manche Personen aus der Handlung treten, ohne wieder zu erscheinen; nur mit großer Gewaltsamkeit wird am Schlüsse eine Gruppe aus den wichtigeren gebildet. Scheint die natürliche Form einer solchen Erzählung die Selbstbiographie, so hat der Dichter diese Form wohlweislich abgelehnt; die Figur des Helden würde ohne plastische Anschaulichkeit bleiben; der Leser würde nicht mehr erleben als der sich langsam bildende Held selber; was Serlo von Hamlet sagt, muß sich auch hier klar ausprägen: „Der Held ist planlos, aber der Dichter hat einen festen Plan."
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Die Meisterschaft der Exposition ist oft bemerkt worden. Was in einer geschlossenen Komposition episodisch eingewebt sein müßte, wird hier in gelassener Breite an den Eingang gestellt. Eine Parallele zu dieser Jugendgeschichte Meisters liegt in der Bildungsgeschichte Nataliens, wie sie in den „Bekenntnissen einer schönen Seele" mitgeteilt wird. Der begonnene Gang der Erzählung übergeht dann einige Jahre. Man kann Goethe tadeln, daß er seinen Helden in den folgenden Schilderungen des Theaterlebens aus der Kunst ins Leben fortschreiten läßt; man sagt mit Recht, daß das Umgekehrte das Natürliche sei: aber er reproduziert darin nur das unglückliche Geschick unserer Nation; wir hatten eine Kunst bevor wir ein Leben haben. Die großen Weltbegebenheiten der französischen Revolution, die er berührt, hält er von der Handlung fern; sie wirken etwa wie Theatergeräusch hinter den Kulissen. Mit Behagen führt uns das leichtbewegliche Leben des Helden von einer Lebensbeziehung zur andern. Der Dichter wirkt nicht von Effekt zu Effekt; seine Hauptkunst ist, das rein Zuständliche so darzustellen, daß es uns fesselt. Wodurch wird nun dieser Eindruck hervorgebracht? Vor allem erzeugt die Gelassenheit des Vertrags dieses wohlige Behagen. Wir sind wie Reisende, denen nicht das Ziel Zweck ist, sondern die Reise selber. Der Leser wie der Dichter haben Zeit, auch der Held selber hat deren die Fülle; und alle sind des guten Vertrauens, daß es ihnen zu keiner Stunde an Abenteuern und Betrachtungen, an heiteren Szenen und stiller Empfindung fehlen werde. Alle sind durchdrungen von dem Gefühl, daß kein großes Unglück in der Zukunft verborgen sein könne, sondern nur epische Hemmungen, welche den zu rasdien Verlauf des Lebens und der Dichtung aufhalten. Ein eigentümliches Kunstmittel, das wir in keinem zweiten Buch haben, ist der vertrauliche Fuß, auf den Leser, Dichter und Held für die weite Reise sich miteinander setzen. Der Dichter entschuldigt sich; er verständigt sich mit dem Leser; den Helden nennt er gleich vertraulich gegen diesen wie gegen den Leser „unserr Freund". Und diese behagliche Wärme des Tons! Es ist weder die anschauliche Erregtheit, mit der man gegenwärtige Begebenheiten verfolgt, noch eine alte, verblaßte Erinnerung: der Dichter ist wie ein Mann, der gelassen, doch noch mit Wärme der eben abgeschlossenen Erlebnisse gedenkt. Aber das letzte Geheimnis der Goethesdien Charakteristik liegt in seiner Weltanschauung selber. Wenn man von Goethes Objektivität reden will, so kann damit nur jene höchste Gerechtigkeit gemeint sein, jeden Menschen nach seiner eigentümlichen Natur anzuschauen. Es entspricht ganz seinem Spinozismus, daß er positiv Böses nicht kennt; er gibt als Gegengewicht gegen die guten rein negative Naturen. Aber in dieser Anschauungsweise sozusagen des Naturforschers liegt eben seine Subjektivität. Jede Persönlichkeit hat für ihn gewissermaßen ihre eigene Lebensmelodie, ihre eigene Tonart. Man kann kein Wort der einen Person der anderen in den Mund legen. Mit der Diskretion des behutsamen Forschers drängt er dem Leser keine Meinung über seine Gestalten, keine vorläufige Schilderung derselben auf, wie etwa im Leben jemand zuweilen die alten Freunde gleich den neuen aufzwingen möchte: er läßt sie reden und handeln und jenen urteilen. Nur zuweilen kann er sich nicht enthalten, ein leichtes Beiwort, bald wie gemäßigtes Lob, bald wie sanftes Schelten, einzumischen,
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„das liebe Geschöpf'" nennt er wohl zuweilen Mignon, Philinen „die angenehme Sünderin". Und indem er bei der ersten Begegnung mit irgendeiner Person nie mehr von ihrem Charakter den Leser erblicken läßt als der Held erblickt, entsteht jene fortwährende Selbstbeteiligung, jenes Miterleben und Mitkennenlernen des Lesers, durch welches die Gestalten Goethes so von allen Seiten sichtbar und anschaulich werden als befänden sie sich auf einer Drehscheibe. Bis in das Satzgefüge breitet sich dieser Charakter aus. Weder der zerhackte, sogenannte moderne Stil, in dem sich Punkt an Punkt schließt, noch der latinisierende Stil breitgebauter Perioden, in dem seine großen Nebenbuhler in der Erzählung, Boccaccio und Cervantes, schrieben, findet sich bei ihm: jene behagliche „Schrittmäßigkeit", ein von ihm selber herrührender trefflicher Ausdruck, läßt uns ihm ohne Anspannung, in bequemer Gelassenheit folgen. Interessant ist die Kunst, mit welcher er die Gespräche behandelt. Sie sind wesentlich Ausdrücke der Charaktere; aber er vermeidet auch hier jede scharf realistische Charakteristik, indem er der Form nach alle in dieselbe Sphäre des edlen klaren Stils erhebt. Auch Monologe flicht er ein. Daß die erste Aufführung des monologenreichsten Dramas eine so große Rolle spielt, kann man als nicht zufällig betrachten: Wilhelm Meister gleicht darin Hamlet, daß seine Gedanken seinem Handeln stets weit voraus sind. Diesen ganzen Charakter der Handlung scheint das Geheimnis des Turms zu stören und zu verwirren. Wir gestehen, daß uns auch Auerbach diesen Anstoß nicht weggeräumt hat. E r geht davon aus, daß schon in diesen „Lehrjahren" ein Zug sichtbar werde, der dann in den „Wanderjahren" breit heraustritt; die vorhandene Religion wird ignoriert, ein symbolischer Kultus des Menschentums wird gesucht. Wie die Exequien der Mignon und Ottilie, so sei auch dieses Geheimnis des Turms auf diese Absicht gerichtet und von hier aus erklärlich. I I I . Wir übergehen die Bemerkungen über die „Wanderjahre" und „Hermann und Dorothea" — in bezug auf das letztere Epos hob der Dichter fein das eigentümliche Gleichgewicht hervor, in welchem die Erzählung beide Gestalten erhält — : die letzte Dichtung Goethes in Prosa sind die „Wahlverwandtschaften". Nachdem Goethe seinen Frieden mit der Welt gemacht hat und ein umfassendes Bild des menschlichen Lebens und Bildungsganges hingestellt hat, treten nun die höchsten Fragen fast mit der gelassenen Kälte des Problems an ihn heran: zunächst die höchste von der Freiheit des Willens. Betrachtet Spinozas mathematischer Geist Leidenschaften und Willen wie Linien und Figuren, so nimmt hier Goethe der Naturforscher einen verwandten Standpunkt ein. Wie chemische Stoffe affizieren sich die Naturen in Wahlverwandtschaft: sie lösen sich, sie bilden sich um. Aber bald zeigt sich, daß der Dichter in anderer Lage ist als der Philosoph. H a t es dieser mit dem Menschen an sich zu tun, so jener mit den Menschen; unter seinen Händen gewinnen die Personen ein eigentümliches Leben; sie sind ihm nicht mehr bloße Naturkräfte; und mit der freien Bewegung des Willens gewinnen Schuld und Sühne Bedeutung und Stelle. War „Werther" ein vollendetes Muster der Intuition, „Wilhelm Meister" epischer Expansion, so sind die „Wahlverwandtschaften" das höchste Beispiel der Kom-
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position, das irgendeine Literatur kennt. Es zerfällt von selbst in zwei Hälften, den Aufgang und den Niedergang. Mit einem Schlage stellt die Exposition die ganze Lage vor uns hin: zwei Menschen, welche die Erinnerung ehemaliger Leidenschaft miteinander verknüpft; die spielende Beschäftigung im Garten; beide haben im Leben keine andere Beschäftigung als eben das Leben. Wie Wilhelm Meister abgelöst ist von der Familie, seinem Bildungsgang frei nachzugehen, so sind diese Menschen frei vom Berufsleben, damit ihr Inneres ausschließlich der Schauplatz der Gemütskonflikte sei. Auch sie sind isoliert von der Welt; die Kriegszeit ist auch hier nur der gleichgültige Hintergrund des Gemäldes. Es klingt wie Ironie, wenn Goethe diesen Kreis einmal die vollkommene Gesellschaft nennt. So von allem dem Problem fremden Stoffe isoliert, entwickelt sich die Handlung in straffer Komposition in sich selber. Nach mehreren Seiten hin spiegelt sich das Problem, wie schon im „Werther" dieser Kunstgriff angewandt war, in parallelen Begebenheiten und Charakteren. Scharfe Gegensätze, wie zwischen Luciane und Ottilie, Eduard und dem Hauptmann klären den innersten Sinn der Charaktere auf. Mittlers Grundsätze, wie der antike Chor das Urteil repräsentierend, aber das des gesunden Menschenverstandes, scheinen nur soweit wirksam, um die Wirkung solcher Gedanken im Leser abzustumpfen, nicht sie zu schärfen; auch ihm sind Laster und Sünde gesellsdiaftsunfähige Worte. Es herrscht wie ein Burgfriede des Geistes, soweit die Erzählung reicht; alles bunte Geräusch, jedes scharfe Wort bleibt fern; in tiefer Betrachtung scheinen die Personen über sich selbst sich zu erheben; nur um so erschütternder, und doch wie durch Ironie gemildert, wirkt dann der tragische Kontrast zwischen den ungebändigten und nicht zu bezwingenden Wünschen des Herzens und dem betrachtenden Sich über sidi Selbst und die eigene Leidenschaft Erheben. Nicht minder wunderbar ist die erzählende Kunst, mit der Goethe das eigene Leben zum Kunstwerk verklärt hat. Er war der erste, der die Imponderabilien geistiger Entwicklungen zu fassen versucht hat. Während er in seinen Romanen die Begebenheiten isoliert von der Luft der Zeit, wie auf einem eigentümlichen Goldgrunde malt: hebt sich in seinem Leben jede Begebenheit klar aus dem Horizonte der Zeit ab. Eine Trias der erhabensten Geister hat auf ihn gewirkt: Homer — dessen Geist durch „Werther" hindurchweht —, Shakespeare — der im „Wilhelm Meister" hervortritt —; neben sie tritt, unausgesprochen in den „Wahlverwandtschaften", klar herausgesagt in „Wahrheit und Dichtung", Spinoza. Nun gesellt er selber sich zu ihnen, ihrer würdig.
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Goethe in Italien Ein Vertrag
von Herman
Grimm
Den 21. März [1861] las Herman Grimm über „Goethe in Italien". Die Vorlesung hatte einen eigentümlichen Charakter durch die freiere Form, in der sie sich bewegte. Sie war ein Essay, wie sie etwa Emerson in Amerika, Thackeray in England vorgetragen haben. Wenn es anders das Eigentümliche dieser Form ist, am Faden des Themas eine Fülle von Reflexionen, Beobachtungen, Analogien aufzureihen, welche mit raschen Streiflichtern die dem Thema verwandten Gedankenkreise beleuchten, zuweilen das Thema zu verlassen scheinen und dann plötzlich von den angeregten Gedanken aus ein neues und überraschendes Licht auf dasselbe werfen. Die Vorteile einer solchen Form leuchten ein. In keiner anderen kann das Ineinanderspielen aller geistigen Kräfte mit so anmutiger Feinheit gehandhabt werden; anschauliche Schilderung und scharfe Reflexion, ernste Gedankengänge und spielende Analogien verknüpfen sich in ihr mit Leichtigkeit; in dem völlig subjektiven Gang, den die Darstellung nimmt, werden wir immer ohne Anspannung fortgeführt, nicht selten durch eigentümliche Wendungen überrascht. Solche Vorteile sind freilich mit verwandten Gefahren verknüpft. Indes wir finden, daß Herman Grimm von dem Bizarren und Gesuchten, dem allzu Subjektiven, welches gerade ein so bedeutender Essayist als Waldo Emerson, ohne Frage ist, nicht ganz hat vermeiden können, völlig frei ist: es ist kaum die Gefahr einer deutschen Natur, diese Form ins Bizarre und Spielende zu treiben. Und so halten war denn das Essay, wie es Herman Grimm in unsre Literatur hat einführen wollen, für ein sehr wohltätiges Element in derselben. Auch der heutige Versuch desselben hat uns wieder gezeigt, wie wohl die Freiheit dieser Form mit Zusammenhang und Gründlichkeit verknüpft werden kann. Der Reproduktion freilich entzieht sich eine solche Form mehr als irgendeine andere und so können wir die anmutige Feinheit des Vortrags nur in vereinzelten Zügen wiedergeben. Der Redner ging davon aus, wie jene literarische Bewegung, die Deutschland an die Spitze der geistigen Fortschritte Europas gestellt hat und die sich an die Namen der vier Heroen: Luther, Lessing, Goethe und Schiller knüpft, sehr neuen Datums ist. Zunächst stützte sie sich auf die Literatur Italiens. Aber auch diese ruhte nicht auf eigener Kraft, sondern auf den Einwirkungen des griechischen Geistes. Und diese drei Nationen, Griechen, Italiener und Deutsche, sind unzertrennlich verbunden und die wahren repräsentativen Völker, wenn von einer Geschichte des Menschengeschlechtes im höchsten Sinne die Rede sein soll. Es war eine gewaltige Bewegung, als sich die Italiener am Ende des 15. Jahrhunderts erhoben und die Deutschen folgten. Eine neue Kunst, eine neue Wissenschaft, eine neue Religion schienen zu beginnen. Doch sie schienen nur, auf eänen Moment: denn noch einmal wendete sich alles. Einen Zufall könnte man es nennen — wenn in so großen Dingen etwas Zufall wäre —, als sei bei so vielen Einsätzen von Heirats- und Erbschaftsverträgen Karl eine Krone nach der andern gewann und nun infolge davon durch
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seine und seines Sohnes Politik der protestantische Norden isoliert, die literarische Bewegung im Süden unterdrückt und das politische und geistige Obergewicht in Europa endlich an Frankreich verspielt wurde. Als nach langer Ruhe der deutsche Geist sich abermals verhob, geschah es audi abermals an der H a n d der Griechen. Soll nun die große Arbeit, die er damals begann, mit einem Namen bezeichnet werden, so sagen wir Goethe; soll in dieses Mannes Leben ein Moment gewählt werden, der diese Arbeit in konzentrierter Gewalt versinnlicht, so bezeichnen wir ihn mit Goethes Reise nach Italien. Audi die Franzosen hatten sich freilich auf die Griechen gestützt. In deren Schule übten sie jene logische Klarheit und Akkuratesse ihrer Sprache, die der hervorstechendste Vorzug derselben ist. Die elegante Deutlichkeit ihrer Prosa bewirkte in der Literatur eine Umgestaltung, etwa wie die Einführung der Artillerie in der Kriegführung. Es sdiien, als könne man in keiner andern Sprache mehr sich ausdrücken, seitdem man sich dieses scharfen, glänzenden, beweglichen Instruments der Konversation, der Analyse und der Polemik bemächtigt hatte. In diese Zeit fällt nun Goethes Jugend. Die ersten Schauspiele, die er sah, waren französisch; die „Mitschuldigen" sind ganz im Charakter des französischen bürgerlichen Schauspiels; im „Werther" klingt Rousseau nach; „Clavigo" entspricht Beaumarchais* Stücken; selbst für den „Götz" fanden sich dort verwandtere Tendenzen als in Deutschland. War doch auch das Drängen nach Natürlichkeit ebensogut als die tragische Etikette von Frankreich ausgegangen; knüpfte doch Lessing an Diderot an. So kommt es, daß wir in Goethes wie in Schillers Schriften viel mehr französische Worte finden als jetzt in unserer Prosa üblich sind. Audi in Weimar fehlte es nicht an Berührungen mit diesen Einflüssen. Goethe trat jetzt Wieland nahe, dessen ganze literarische Tätigkeit nach französischen Mustern zugeschnitten war; auch der Herzog schwärmte für die französische Tragödie. Und wir sehen den Dichter durchaus nicht in schroffer Opposition hiergegen, wie sie etwa die Stolberge affektierten, ja wie sie schon vorher Klopstock gezeigt hat; unbefangen bemüht er sich um die Vollendung in der französischen Konversation. Hatte ja auch Lessing — gewiß kein Franzosenfreund — anfangs französisch zu schreiben begonnen. Dazu lag es nicht in seiner Natur, sich gegen irgendeine Richtung scharf zu stellen. Aber ein Gefühl der Lücke und des Bedürfnisses quälte ihn, immer bestimmter sich gestaltend zur Sehnsucht nach Italien. Im Hause der Eltern hatten Kupferstiche an den Wänden gehangen, welche die einstige Größe der römischen Bauwerke, wie sie noch aus den Ruinen spricht, dem Knaben veranschaulichten. Der Vater selbst hatte Italien bereist und las in guten Stunden aus dem Tagebuche vor, das dort entstanden war. Einige von Goethes Gedichten, welche vor der Reise entstanden (der Redner meinte wohl besonders das Lied der Mignon), zeigen eine träumende Vorahnung in einer so hinreißenden Anschaulichkeit, daß man denkt, sie müßten aus der Anschauung jener Orte selbst entstanden sein. Was ihn abhielt, waren seine Verpflichtungen. Es ist bezeichnend für Goethes Naturell, wie derselbe sein Leben lang so eng in den Banden geliebter, ihn aber immer enger umstrickender Verhältnisse gefesselt war, daß sein Weiterschreiten stets einer Flucht glich. Enger war er nie gefesselt gewesen als in Weimar. 14*
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Fortschreitend von Erlebnis zu Erlebnis, in den Kreisen der höchsten Gesellschaft sich als ein Gleicher bewegend — was damals unsäglich viel heißen wollte —, beglückt durch die Liebe zu einer schönen und geistvollen Frau, der erste Mann im Lande nach dem Herzog — so führte er dort ein fürstliches Dasein; kein Verlangen schien zu bleiben. Aber zwölf Jahre veränderten viel. Der Regierungsgeschäfte müde, weil seine Verwaltungsprinzipien nicht zur Durchführung kamen, vielfach auseinandergehend mit dem fürstlichen Freunde, durch die Beziehung zu Frau von Stein schmerzlich beengt und gedrückt — so erschien ihm nun Italien wie eine sonnige Insel, auf der er Ruhe und Freiheit finden sollte. Und so finden wir ihn denn plötzlich von Karlsbad auf dem Wege nach Süden, nach Venedig. Wer heute Venedig besuchen will, erreicht es in zwei bis drei Tagen, wie im Traume. In Goethes Erzählung sehen wir ihn langsam durch Süddeutschland voranschreiten; die ersten Töne der fremden Sprache bewegen ihn; die ersten Denkmäler der alten Kultur werden sorgfältig untersucht; kommt er endlich in Venedig an, so hat er das Gefühl, weit weg zu sein aus Deutschland. Es sind siebzig Jahre her. Damals war Venedig noch die alte Republik und gewaltige Handelsstadt; die Paläste unzerfallen; die Stadt erfüllt von italienischem und orientalischem Leben; es kreiste das Leben dort noch wie in einer eigenen Welt um sich selber. Selbst die Künstler, wenn sie malten, schlossen sich an die Manier der einheimischen venetianischen Schule an. Das war eine andere Stadt als durch die wir jetzt zwischen dunklen verlassenen Palästen fahren. Statt des übermütigen Volkes beleben es jetzt nur Fremde, die der Zufall da zusammenführt. Nur wenn nachts das bleiche Mondlicht die gewaltigen Massen mit einem erlogenen Leben anhaucht, kehrt ein Schein jener Lebenswirklichkeit zurück, in der das alles ehemals dastand. Aber Venedig ist noch nicht Italien. Es ist von außen zusammengeschleppte Beute, was seine Paläste und Plätze ziert vom Leben des Altertums. Und so eilt Goethe nach Rom. Dort erst schöpft er Atem; von dort erst erklärt er sich den Freunden in Deutschland über seine plötzliche Flucht. Selbst unterwegs, schreibt er ihnen, habe er immer noch gefürchtet, er werde nicht hingelangen. Eine Art von Krankheit sei es in den letzten Jahren gewesen. Nun dürfe er es sagen: er habe kein lateinisches Buch mehr ansehen können, keine römische Merkwürdigkeit. Und jetzt, da er sich los fühlt, taucht sofort — ein liebenswürdiger und echt menschlicher Zug — die Heimat wieder auf in seinem Geiste als etwas Unentbehrliches. „Laßt midi Euch nun sagen, daß ich beständig Eurer gedenke." Und er ist sich bewußt, daß er nur sammelt, um den Freunden mitzuteilen. War doch sein ganzes Leben ein beständiges Empfangen und zugleich ein beständiges Rechnungablegen vom Empfangenen. Und nun in Rom nahm er das größte auf, was bis dahin sich ihm dargeboten hatte. Auch das damalige Rom war noch ein anderes als das jetzige. Noch war das Forum nicht der durchwühlte Platz wie jetzt, in welchem die Linien der alten Bauten ausgegraben sind: es war noch ein ebenes grünes Feld; das Kolosseum war noch mit Gras und Gebüsch umwachsen. Und wenn uns jetzt Eisenbahnen und Dampfschiffe bis vor Rom führen, dort Führer in Empfang nehmen und genaue Reisehandbücher begleiten, so wird die ewig« Stadt fast zu einer großen Merkwürdigkeit. Auch jene vielen und großen Paläste, deren Bau in den Zeiten der
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Reformation so eifrig und baulustig betrieben wurde und die heute fast alle leer stehen, hatten noch einen letzten Schimmer von Leben. Vieles jetzt Fortgeschleppte war noch vorhanden, wenn auch einiges neuerdings Gefundene noch fehlte. Und so still war die Luft jener Zeit, daß der päpstliche Hof, der da noch mit allem Glänze fürstlicher Pracht herrschte, audi vom Fremden nur mit naiver Freude an seinem Glänze besdiaut wurde. Wie Venedig war auch die ewige Stadt noch von einer selbständigen rotierenden Kraft bewegt. Der Fremde wurde in diesen Kreis besonderen Lebens und nationaler Geselligkeit hineingezogen, in denen sich das spezifisch römische Wesen noch anmutig geltend machte. Und nun hatte Goethe, als er ankam, lange Zeit ein Land mitregiert, aber noch keine große Stadt gesehen, das seltsame Venedig ausgenommen, in dem er nicht heimisch geworden war. Wie anders mochte ihm zumute sein in der großen Weltstadt, in welcher der einzelne verschwand, als in Weimar, wo, wer das Tor passierte, gemeldet wurde, wo Luft und Wetter von ein paar fürstlichen Personen gemacht wurden. Er hatte sidi in dem Gebiete der Kunst elend behelfen müssen; Gipsabgüsse waren eine schwache Aushilfe gewesen, von den gewaltigen Fresken Raffaels und Michelangelos gab es noch fast keine Kupferstiche. Vier Monate dauerte nun zuerst sein römischer Aufenthalt, zu Ende des Jahres dachte er an seine Rüdekehr. Fühlte er sich doch schon wie von einer ungeheuren Krankheit geheilt, und daß man in den weimarischen Zirkeln seine lange Abwesenheit mit Mißgunst beurteilte, mochte ihm zu Ohren gekommen sein. Erst als der Herzog selbst ihn beruhigte, ihm aufs neue unbestimmten Urlaub gewährte und auf das Liberalste in ihn drang, davon Gebrauch zu machen, richtete er sich zu längerem Bleiben ein. Mit dem Anfang Februar unternahm er einen Ausflug nach Neapel. Vor diesem Eindruck mußte jeder frühere weichen. Rom war die Stille selbst gegen diese Stadt. Und was könnte sich mit dieser Natur vergleichen? Wie in einer unaufhörlichen Berauschung schien ihm alles dort zu leben. Wer dachte damals dort an Politik? Sorglos gingen die Menschen dahin, und so gehen sie jetzt noch. Musik und Unterhaltung, Gesang und Feuerwerk bilden ein ewiges Getöse. Macht ohne Reichtum, Armut ohne Elend, Schmutz und Gold sind da zu finden. Dann dies Gemisdi von Lügen und Wahrheit, von Stehlen und Ehrlichkeit, Dinge, zwischen denen dies Volk kaum anders unterscheidet, als wie zwischen verschiedenen, an ihrem Orte zweckmäßigen Dingen! Und zu dem allen nun der Vesuv, um auf diese wunderbare Stadt wie aus dem Himmel herabzusehen! — Pompeji, wo Jahrtausende wie ausgestrichen erscheinen, Paestum, wo in grandioser Einsamkeit die griechischen Tempel stehen! Aber griechische Tempel sollte er erst recht in Sizilien sehen, wohin er nun ging. Da war er denn wie in einem neuen Erdteile. Als er endlich nach Rom zurückkommt, erscheint ihm die Stadt wie seine altgewohnte Heimat. Wer es erlebt hat, wird das entzückende Gefühl gewiß nicht vergessen haben, mit dem man, wenn auch nur von kurzer Reise, nach Rom zurückkehrt. Da kommt man des Abends durch die bekannten Straßen wie nach Hause; mit unbeschreiblicher Befriedigung fühlt man sich aufs neue als Bürger dieser Stadt. Jetzt erst begann auch Goethe ein umfassendes und systematisch angelegtes Studium der Altertümer. Man muß aus der Stimmung seiner früheren Jahre seine verzehrende Sehnsucht herausgefühlt
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haben, um ihm jetzt nachzufühlen, wenn er sagt „einen Jugendtraum träume ich". Und was seinem idealischen Leben und dichterischen Bilden auch hier einen so beruhigenden, Behagen erregenden Hintergrund gibt, ist das stetige und ruhige Interesse an dem Detailverhältnisse, das Interesse des Naturforschers und des Geschäftsmannes, von welchem jenes Bilden und Dichten stetig begleitet ist. Die Hauptsache war die schöpferische, versöhnende Stimmung, mit welcher ihn das Leben in dieser Stadt erfüllte. Es scheint, wie einige Orte der Erde durch heilende Quellen oder als Fundorte edler Metalle bevorzugt sind, so diese Stadt mit der zauberischen Eigenschaft begabt zu sein, allen Menschen den Wunsch einzuflößen, hier zu wohnen, hier zu sterben. Niemand wird die zartgezogenen Linien des Albaner Gebirges vergessen, der sie einmal vom Kapitol aus sah; wie die Züge einer geliebten H a n d wohnen sie unauslöschlich in der Erinnerung. Und wenn man diese Stadt durchschreitet, ist es als wäre man unaufhörlich umtönt vom Echo aller der großen Worte, die an diesen Stellen geredet worden sind. Mit solcher Beseligung erfüllt diese Stadt das Gemüt, daß Goethe der Erinnerung an sie eine Wirkung zuschrieb, wie man sie sonst nur den höchsten Gedanken der Philosophen und den tiefen Worten der Religion zuschreibt; „wer Rom gesehen hat" — sagt er —, „kann nie wieder ganz unglücklich sein". Und worin besteht nun dieser wunderbare Zauber? Allen, die nicht mehr in den frühesten Anfängen des Lebens befangen sind, erscheint die Kluft unüberschreitbar zwischen der Freiheit und Größe der poetischen Welt und dem, was uns im täglichen Leben ziemt. Jede ursprüngliche Gewalt und Leidenschaft wird abgeschwächt, das stille Sichbilden der Gedanken wird gestört. Und das geschieht jedem so. Denn einmal im Leben muß jeder die Stelle suchen, in der er wirken, die Dinge anfassen kann, sich somit finden in die Welt; dennoch bleibt auch noch im Manne die Sehnsucht rege, ohne Anstoß noch Hemmung von außen allein dem inneren Zuge zu folgen, um von selber zu dem Punkte zu gelangen, auf dem man der Allgemeinheit zu nützen vermöchte. Eine solche Freiheit des Geistes gewährt R o m ; und kein schöneres Beispiel sie zu benutzen gibt es als Goethes Aufenthalt in dieser Stadt. Was er bis dahin geschaffen, waren gleichsam provinziale Erzeugnisse; mit „Tasso" und „Iphigenie" dagegen tritt er in die Weltliteratur. Als er Weimar verließ, bildete die dortige Gesellschaft seinen Horizont, seine Welt; als er zurückkehrte, war sie ihm nur der Ausgangspunkt seiner Wirksamkeit. Ruhiger brannte nun das dichterische Feuer in ihm, aber es flammte reiner und höher. Vielleicht daß es eines deutschen Geistes bedurfte, sollte die ewige Stadt diesen umbildenden Einfluß üben. Alles, was in seiner Natur nicht harmonisch war, fiel nun von ihm ab. Er fühlt, daß seine amtlichen Verhältnisse nicht aus innerem Berufe, sondern aus seiner Neigung zum Fürsten entsprungen waren. „Ich habe mich wiedergefunden." Und als was fand er sich wieder? Als Dichter. Diesen Beruf als den höchsten menschlichen zu erfassen, dazu war Rom der Ort. Gerade auf dieser Bühne der größten politischen Handlung wird man es inne, wie das Höchste der Nationen aus tiefer liegenden Quellen, aus der Arbeit des Geistes kommt, das, was ihnen ihre geschichtliche Stellung schafft; die Kunst — dieser Begriff im weitesten Umfange genommen — stellt sich als das allein belebende Prinzip dar. Und wenn Deutschland und Preußen die halbe Welt
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besiegten: die geistige Welt, die sie hervorgebracht, würde doch einst für die Geschichte der Maßstab sein, an dem ihr Wert gemessen würde. Wie schmerzlich empfindet er es nun, als die Zeit herankommt, die ewige Stadt zu verlassen! Er war der Mittelpunkt eines traulichen Künstlerkreises geworden: Kaiser, der Komponist, der in Goethes Wohnung die „Claudine" komponierte, Tischbein der Maler, Moritz, Angelika Kauffmann begegnen sich in demselben. In dem Buche, das er später aus seinen italienischen Reisebriefen gemacht hat, beschreibt er am Schlüsse seine italienische Wohnung. Der kühle geräumige Saal, in dem die ihm liebsten Abgüsse standen, der Hausgarten, in welchem ein alter Weltgeistlicher die Zitronen pflegte, und dann der Blick von da hinaus auf die Terrassen und die Stadt, dazu die selige Stille des ganzen — das alles muß er nun verlassen. Nicht ohne Rührung gedenkt er der letzten Tage; er beschreibt, wie er in heller Mondscheinnacht einen Rundgang durch alle wertesten Orte der Stadt gemacht, wie er endlich Rom verlassen mit dem unbeschreiblichen Gefühle, daß es auf immer sei. Jene Distichen Ovids verfolgen ihn, in denen derselbe den Erinnerungen an die ewige Stadt Worte leiht, welche ihn bis ans Ende der Welt begleiten. Und aus diesen Worten spinnen sich eigene Bilder des Heimwehs; aber er wagt nicht, sie aufzuschreiben, um nicht den Zustand der süßen Qual zu vernichten. Wie er sich allmählich zu freier Tätigkeit ermannt, trägt er diese Empfindungen in einige Stellen des „Tasso" über, die er in solchen Stimmungen damals in Florenz niederschrieb. So übermächtig war dies Gefühl, daß es den kaum Heimgekommenen antrieb, nach Italien zurüdczukehren. Es blieb nun die große Arbeit zu beginnen, das, was ihn so tief bewegte, in sich durchzuarbeiten. Und so lebte er nun nur allein sich selber, seinen Erinnerungen und seinen still bildenden Arbeiten bis die Verbindung mit Schiller geknüpft wurde. Es scheint, daß niemand diese edle Freundschaft berühren kann, ohne seiner Bewunderung einen wenn audi nur vorübergehenden Ausdruck zu geben. Auch der Redner brachte diesen Tribut der Bewunderung dar. Überall, wo sonst große Menschen sich zeigen, herrscht Einsamkeit um sie her. Fast unmöglich wird es großen Geistern, das Innerste vertraulichen Mitteilungen zu öffnen. Nicht so diese beiden. Daran aber ist bei der Betrachtung dieses Bündnisses zu erinnern, daß Goethe, als er von Italien zurückkehrte, vierzig Jahre alt war, auf der Scheide des Lebens stand, Schiller im Aufgange. Als Goethe nach Italien ging, war er der junge, fast mythologische Goethe, über dem eine poetische Dämmerung zu schweben schien — als er zurückkehrte, war er der moderne Goethe, der, dessen Gedanken uns nodi beherrschen, von dem wir sagen, er lebe noch, nicht nur weil noch einige von denen da sind, welche das Glück hatten, mit ihm zu leben und in seine Augen zu schauen, sondern mehr noch, weil seine Anschauungen uns wie gegenwärtig und durch keine Zeichen einer älteren Zeit von uns getrennt sind. Zwar auch damals war die Nachwirkung des französischen Geistes, obwohl im Untergehen, noch nicht ganz ohne Einfluß. Wenn aber Goethe den „Tankred" übersetzte, Schiller die „Phädra", so schienen sie diese Dramen mehr zu sich hinaufzuheben, als zu übersetzen. Der tiefste Zug ihres Geistes ging zu den Alten. Seit Goethe den klassischen Boden betreten, Winckelmann populär gemacht hatte, wurde Rom die Schule des deutschen Geistes auf eine Zeitlang. Ja das gilt
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heute noch; keine politische Veränderung kann dieser Stadt ihre Größe rauben. Italien hat Cornelius und Schinkel gebildet; dort befestigte Wilhelm von Humboldt jenen hohen Begriff von Wissenschaft und Kunst, mit dem er als Minister den preußischen Staat zu beseelen versucht hat; Niebuhr und Bunsen machten das Kapitol zu einer Pflanzstätte klassischer Bildung. Goethe aber hatte stets ein besonderes Herz für alles, was aus dem Süden kam. Für Manzoni wirkte er mit Eifer und Alfierische Stücke ließ er in Weimar aufführen. Möge das Gefühl der edelsten Verwandtschaft mit Italien — mit diesem Wunsche Schloß der Redner —, das Goethe hegte, immer lebendiger werden, das Gefühl, wie viel wir Deutsche dieser Nation und diesem Boden verdanken!
Goethe und Schiller Ein Vortrag von Heinrich Gustav Hotho Den 4. April [1861] las Professor Hotho über „Schiller und Goethe". Nicht ohne Grund hatte man wohl dies Thema an das Ende der Vorlesungen gestellt; von ihm aus konnte man in der Tat hoffen, durch Vergleichung zum Schlüsse der eigentümlichen Geistesart Goethes so nahe als möglich zu kommen. Denn es ist dieser Geistesart eigen, daß sie, wenn man sich in sie allein versenkt, wie die Shakespeares, grenzenlos und wie eine typische Repräsentation der Poesie überhaupt erscheint, erst indem man sie vergleicht, wird man sich ihrer sehr scharfen Schranken und ihrer entschiedenen Subjektivität bewußt. Und dies Bewußtsein, diese Einsicht in eine scheinbar unendliche Kraft, die doch in sehr bestimmten Verfahrungsweisen wirksam ist, mit sehr bestimmten Charaktergegensätzen und Elementen innerer Entwicklung operiert, konnte in der Tat den letzten Abschluß für eine Reihe von Vorlesungen bilden, von welchen wenigstens die von Schöll und Herman Grimm und zumal von Hettner zu sehr in einen hymnischen Goethekultus verliefen, wie uns wenigstens bedünken möchte. Wir können es nur einem auf die Methode bezüglichen Mißgriff des berühmten Herausgebers der Hegeischen „Ästhetik" zuschreiben, wenn dem verehrten Manne die Aufgabe einer solchen Erzeugung wenig gelang, wenn er nicht dazu kam, das Publikum in das innere Verhältnis dieser beiden so verschiedenen poetischen Organisationen einen tieferen Blick tun zu lassen. Es scheint, daß er glaubte am populärsten zu sein, wenn er erzähle, am interessantesten, wenn er mit einer Fülle einzelner Bemerkungen und Züge überschütte. Indem er der freigebigen Neigung freien Lauf ließ, eine möglichst große Auswahl aus so vielen Gedanken über Goethes Werke, wie sie notwendig sich im Laufe der Jahre bei einem so geistvollen Ästhetiker ansammeln müssen, seinen Zuhörern mitzuteilen, jagte er sie atemlos durch Goethes und Schillers ganzes Leben hindurch;
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nicht nur die Werke bis auf die Singspiele hinab, selbst die Pläne wurden aufgezählt: wir mußten wieder — ich weiß nicht zum wievielten Male in diesen Vorträgen — die verschiedenen Herzensverhältnisse Goethes uns vorrechnen lassen: wir hörten wieder — leider auch nicht zum ersten Male — den Hauptinhalt der bekanntesten Goetheschen Werke: und was die Hauptsache war, jenes innere Verhältnis der beiden Männer zueinander selbst verschwand in diesen biographischen Massen. Oder soll damit etwas für das Verständnis dieses inneren Verhältnisses getan sein, daß wir hörten, der dichterische Gang Schillers sei dramatisdi, in Gegensätzen dialektisch voranschreitend, der Goethes epischen und ruhigen Schrittes und dergleichen mehr? Mit neuer Bewunderung haben wir die wenigen Zeilen wieder zur Hand genommen, in welchen Jacob Grimms Schillerrede in der Akademie der Wissenschaften mit der ganzen genialen ureigenen Anschauungstiefe, wie sie dem großen Germanisten eigen ist, diesen inneren Gegensatz, wie er sich im Stil darstellt, berührt. Da ist wahre Gabe, über unsere Dichter zu reden! Nach diesem Maßstab andere messen zu wollen wäre ungerecht; aber man dürfte doch wenigstens wünschen, daß dieser Weg zu den Zusammenhängen, die durch die verschiedenen Werke wie Gesetze der poetischen Organisation Goethes hindurchgehen, wenigstens eingeschlagen würde. Doch hat in diesen Goethevorlesungen nur Auerbach dies Ziel verfolgt, und sein Vortrag wird daher allein neben dem Virchows, der eine andere Tendenz hatte, eine dauernde Bereicherung der GoetheLiteratur sein. Und dennoch war auch dieser Vortrag Goethes wieder — wie fast alle früheren — so reich an Gedanken, daß man sieht, wie der Redner nur von einem falschen Ideal von Popularität von dem wahren Wege, einen Dichter zum Verständnis zu bringen, abgeleitet wurde. Viel eher hätte er in seiner Diktion populärer sein dürfen, deren überflüssige Bildermasse die Eindringlichkeit, die in verständlicher und rascher Gliederung der Sätze liegt; nicht ersetzen konnte. Der Redner knüpfte an die Schillerfeier an, wie bei derselben in Lied und Rede Schiller und Goethe fest umschlungen nebeneinandergestanden. So nötige denn auch heute diese Gewalt, neben Goethe, dem diese Vorträge gelten, Schiller zu stellen. Nicht leicht hat es bei anderen die Natur sichtlicher auf Trennung angelegt. Durch dichterische Anlage und Charakter geht diese in solchem Grade, daß auch jetzt noch nicht selten die Verehrung für den einen zur Ursache der Abneigung gegen den andern wird. In Schiller das Gewicht des Inhalts, die Feuerseele, mitten im Kampfe die stetige ideale Höhe: von Jugend ab beseelt ihn nur ein Trieb, der nach Freiheit: er kennt nur einen Feind, die blinde Naturgewalt, den zufälligen und trägen Stoff unseres Schicksals und unserer Natur, der die Freiheit hemmt. Aus dieser freien Form des Geistes erbaut sich ihm eine zweite Welt, vom Stoffe frei, nach welcher alle Kunst ringt. Goethe wurde, was August Wilhelm Schlegel von Sophokles rühmt, zuteil: die Schönheit der Seele und des Leibes, ein ununterbrochener Kunstgenuß, heitere Weisheit und am fernsten Ziele ein sanfter Tod. Und doch ist audi dies Leben lauter Arbeit. Denn ihm wird alles Problem; jede Lösung birgt ein neues; keines läßt ihn ruhen. Keine Art, kein Grad von Schmerzen wird ihm erspart. Dafür bewahrt er auch in der Kunst die Wahrheit des Lebens, nur einend, was sonst sich trennt, das Fremde ablösend.
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Wie diese entgegengesetzten Naturen zu jenem denkwürdigen Bunde sich verknüpfen, kann nur aus der Geschichte ihrer Entwicklung verständlich gemacht werden. Wir beginnen mit Goethe in Straßburg. Der italienische und französische Kunstgeschmack waren ohne heftigen Kampf aufgenommen worden. Damals in Deutschland regte sich der Gegensatz von Poesie und Prosa mit dem leidenschaftlichsten Ungestüm. So innerlich nüchtern und altklug, so anmutlos war kaum je irgendwo das Leben gewesen als damals in Deutschland. War aber nicht Klopstock aufgestanden, hatte nicht Lessing Voltaire entthront, hatte nicht Wieland die Gegensätze von Moral und natürlicher Lust spielend ausgeglichen? Wozu noch der Sturm und Drang? Eine der Natur entgegengesetzte Erhabenheit, Kritik, lüsterner Scherz — das sind nicht Dinge, welche der Poesie die Herrschaft über die Prosa verschaffen. Nun dagegen erschien statt der verständigen Reflexionn lebendiges Auge, freies Gemüt; statt der asketischen Erhabenheit die Genialität, die von der Natur allein die Gesetze der Moral empfängt. Und von dieser Bewegung mit ergriffen kehrte nun Goethe aus Straßburg zurück. Schon seine ersten Lieder gaben, vom Volkstone angeregt, der Lyrik Seele und frischen Hauch zurück. Wie einst Tacitus seinem Volke die Deutschen vorhielt, so hielt nun Goethe im „Götz" diesen ihre eigene Vergangenheit vor. Es ist eine Leibhaftigkeit, in der alles wie aus eigener Natur lebt, in diesem Stücke, das noch heute nach fast neunzig Jahren einen wie ein Frühlingshauch daraus anweht. In Wetzlar dann blickt er noch einmal in die deutschen politischen Verwirrungen, er durchlebt noch einmal eine echt deutsche Idylle zu Lottens Füßen — eine Idylle, die sich ihm zu Hause in der Beengung des bürgerlichen Lebens in bittern Ernst verwandelt. Und so ergreift ihn die Krankheit der Zeit, die er in „Werthers Leiden" erzählt. Wie deutlich das alles vor uns steht, die Linden, Werthers Lieblingsort: und dort alles nur hingestellt, immer wieder das eine neu darzustellen: Wer von Menschen nicht gewußt Oder nicht gedacht Durch das Labyrinth der Brust, Wandelt in der Nacht. Weit über die Liebesgeschichte hinaus ist das ein Lied von sonnigem Frieden im Tale, am Herzen der Natur, von ungestümem Drang, dem dann selbst die Natur, da er zerrissen zu ihr zurückkehrt, wie ein ewig wiederkäuendes Ungeheuer erscheint. In „Clavigo" und „Stella" bleibt zunächst das Thema dasselbe. Diese neuen Helden siedeln sich in gutem Glauben an, sie heiraten und übernehmen Berufspflichten, aber sie erfahren dann bald, wie sie ihr heißes Gemüt in Kampf mit der bürgerlichen Welt verwickelt. Damit ist der erste Sturm und Drang vorüber. Der Dichter spielt in „Erwin" und „Claudine", er verspottet in „Götter, Helden und Wieland" die engbrüstige Imagination des weimarischen Poeten. Allmählich erweitert sich sein ruhiger Blick, große Stoffe zu umfassen. „Prometheus", „Der ewige Jude", die Sage vom Doktor Faust, die schon von Straßburg her ihm im Ohre
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summt, beschäftigen ihn. Es ist ein neuer Zug des Geistes, im „Werther" erst kaum angedeutet, die unendliche Welt erkennend, genießend zu umfassen. Und was er damals vom „Faust" hinstellt — es war weniges — ist von einer markigen Kraft, die er später nicht wieder erreicht hat. Nun kommen kleine Arbeiten, übermütig, harmlos-derb in den Manieren des ehrlichen Hans Sachs, dazwischen Lieder, in denen Leid und Freud sich kunstlos herzlich ausspricht, endlich der erste Entwurf zum „Egmont", der ihm zum heiteren Helden eines freien naturalistischen Volkes, nicht durch Weib und Kind gebunden, zum Ideale einer unwiderstehlich liebenswürdigen sanguistischen Natur wird. Nun ergeht an ihn die Berufung nach Weimar. Es war deutlich ersichtlich, daß der Redner in der Auffassung dieser Wendung des Goetheschen Lebens den Vortrag Schölls von anderen, mehr aus dem Innersten der Goetheschen Entwicklung herausgegriffenen Gesichtspunkten aus zu ergänzen versuchte. Er ließ mit Recht dahingestellt, ob diese Wendung seines Lebens für Goethe glücklich gewesen sei. Er wies aber ebenso mit Recht auf zwei Hauptwirkungen hin, welche diese Wendung gehabt hat. „Faust" drängte es ihm als Lebensproblem auf, im Geiste des Ganzen die Gebiete des realen Lebens zu durchleben, die höchste Aufgabe, die Dinge selber mit Dichteraugen zu poetisieren, in Angriff zu nehmen, hinausschreitend über die frühere, den Drang des eigenen Herzens in immer neuen Formen hinzustellen. Diese Aufgabe, ihm selber noch unenthüllt, treibt ihn vorwärts. Wohl war es der enge Kreis eines kleinen Landes, in den er trat; aber dem Dichter ist das Kleine nicht klein; er gleicht der Natur, die mit ihrer wunderbaren Kunst das Kleinste am wunderbarsten ausstattet. Und im Gesdiäftsleben lernt er nun jene vorsichtige Ordnung, jene haushälterische Sparsamkeit (die Romantiker nannten ihn gern den ökonomischen Dichter), statt des Gedränges jenen leichten Fluß, statt der unaussprechlichen Ach und Ohos jene heitere freie Entfaltung, die ihn von da ab charakterisieren. Freilich nach dem, was er damals geschrieben hat (wie dies Schöll doch zu tun versucht hatte), darf man seine Entwicklung nicht messen. Daß „Meister", „Tasso" und „Iphigenie" in ihm möglich wurden und heranreifen konnten — das war der Erfolg dieser Wendung. Für Schiller ist Biographisches von geringerem Belang. Seine Worte sind keine Bekenntnisse. (Wir wünschten, der Redner hätte diesen in die Augen springenden Punkt des Untersdiieds weiter verfolgt: an ihn läßt sich das Tiefste im Gegensatze beider Naturen anknüpfen.) Goethes Entwicklung geht aus freiem Leben hervor; Schillers aus Kampf gegen den Druck. Schiller steht dem Hauptpunkte nach in der vollsten Prosa seiner Zeit; die Weltanschauung seiner Jugend ist moralisch in dem Sinne der das erhabene Sittengesetz der zügellosen Natur entgegenstellenden Moral Kants, wie sie sich einige Jahre darauf formulierte. Lessing und Shakespeare, „Werther" und „Julius von Tarent", Rousseau und der Materialismus gären chaotisch in ihm. Sein scharfer Verstand verfolgt gleich in seinem ersten Werke mit einer beinahe kalten Tiefe die sophistische Dialektik der Leidenschaften, zerlegt die menschliche Natur; seine rhetorische Gewalt ergeht sich zugleich in ungezügeltem
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phantastischem Pomp der Sprache und Reflexion, in wilder Übertreibung der Charakteristik. Im „Fiesko" wird der offene empörerische Sturm zur Intrige abgeschwächt, in „Kabale und Liebe" im engen Kreise des Bürgerhauses wiederholt. Es war natürlich, daß Goethe sich von solchen Werken abwandte. Gerade aus einem poetischen Zuge hatte er von den prosaischen Mißständen sich abgewandt, die hier mit Vorliebe analysiert wurden; analysiert wurden von einem Geiste, der als ein Gemisch von Rhetor, Philosoph und Dichter erschien. Dennoch: von vornherein zeigt sich dieser Geist als dramatisch schöpferisch im Unterschiede von Goethe. Dieser zieht das Ausgleichbare dem Tragischen, Gemütszustände handelndem Pathos vor; ihm widerstrebt die dramatische Dialektik, er möchte auch im Drama das Geheimnis des menschlichen Gemüts in seinen leisen Schwingungen und Übergängen darstellen. Seine bestimmende Neigung trifft den einen Punkt, es der Natur gleichzutun, die auch alles gleichmäßig umfaßt, auch das Kleine darstellt als wäre es groß und es groß macht durch die Behandlung. Mit dem Aufenthalte unter den Dresdener Freunden vollzieht sich die segensreiche Wendung in Schillers Leben. Er hat den „Don Carlos" mitgebracht, aber wie er nun in dieser Umgebung darin fortschreitet, weitet sich sein Blick und wird sein Herz gesunder; statt der krankhaften Liebe des Don Carlos und seinem wilden Schicksal werden ihm Posa und Philipp der Mittelpunkt; statt des abstrakten Kampfes zwischen Tugendstolz und der Schlechtigkeit der Welt gehen ihm dramatische Antithesen schon weit konkreterer Art auf: Katholizismus und despotische Monarchie im historischen Kampfe mit dem Zuge freier Selbstbestimmung. Und indem er sich in die „Geschichte der Niederländer" vertieft — freilich nicht als Forscher, sondern schildernd, den Charakterquellen nachgehend und nicht denen der Begebenheiten —, gewinnt auch diese Antithese bestimmtere maßvollere Gestalt Er verlegt dann im „Geisterseher" dieselbe nur auf ein anderes Gebiet. Aber wenn seine gärende Formlosigkeit zugleich aus dem inneren Kampfe des Denkens und des Dichters in ihm entsprang, so festigten sich erst seine Fortschritte völlig, indem er die beiden Elemente seiner Natur, jedes für sich zu bilden beginnt. Er wird Schüler Kants; aber die Antithesen, in denen dessen moralisches System sich bewegt, zwischen Gesetz und menschlicher Natur, zwischen der Regel und dem Stoffe des Handelns, wie Schiller es bezeichnet, zwischen Formtrieb und Stofftrieb, versöhnt der Dichter in dem spielenden Triebe der freien Kunst, und nun erst ist der Denker nicht mehr der störende Gegner des Dichters, sondern sein Bundesgenosse. Sein Prinzip wird, die lebendige Wahrheit als schöne Form darzustellen, jedes Element der Realität, jeden Stoff der Empfindung aufzulösen in die gleichmäßige Hoheit der vollendeten Kunst, die über jedem anderen Teile des menschlichen Daseins erhaben schwebt. Goethe inzwischen, unter italischem Himmel, hat die Verschmelzung der eigenen Kunstart mit der griechischen begonnen, wenn auch dort noch nicht vollbracht. Das eigenste Werk, das er dort schuf, der „Tasso", ist ohne Schluß; denn sein Schluß ist nur ein Bild, das bedeutet, daß eben im Dichter selber beide Menschen vereint sein sollten. Die Daheimgebliebenen wissen sich nicht in seine Wandlung, er nicht in die
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Gleichgebliebenen sich zu finden. In der Poesie findet er „Ardinghello" und Moor, in der Welt die französische Revolution als alle bewältigende Objekte, und diese Revolution ist nicht durch heitere Schönheit zu bezwingen. Vergeblich, daß er im „Großkophta" sie aus zufälligen Umständen, aus der Verderbnis der Aristokratie zu erklären sich bemüht, daß er in den „Aufgeregten" einen neuen Versuch macht, sich endlich im „Reineke Fuchs" über das Schauspiel der Welt und Herrschaft durch heiteres Lachen hinauszusetzen versucht; er kann diese Tatsache nicht überwinden. Zur alten Kunst in Italien trägt er nun auch die Last dieser großen Tatsache mit sich fort. (Für diese Auffassung des Verhältnisses Goethes zur Revolution sind wir dem Redner besonders dankbar, sie entspringt aus einer genauen Kenntnis der späten Werke Goethes, welche jedem, der sehen will, zeigen, wie nachhaltig Goethe mit den sozialen und politischen Problemen, die ihm durch dies Ereignis aufgingen, gerungen hat, mit welch ganz eigener, um die gewöhnlichen Ansichten unbekümmerten Tiefe er sie aufgefaßt hat.) Sollten nicht jetzt die beiden zum Bündnis reif sein? Nur Goethes Abneigung, auch gegen den „Don Carlos" und die Kantische Philosophie, hielt sie noch einige Zeit auseinander. Aber Schiller setzt in seinen philosophischen Arbeiten gerade an dem Punkte polemisch ein, der eben Goethe mit diesem System entzweite, an dem moralischen Dualismus Kants. So treten sie sich näher, und sofort wirkt Schillers Anziehungskraft. Nun erst kommt der antike Geist in Goethe zur vollen Wirkung, jener Geist, der lehrt, dem Auge und dem Herzen heiter zu trauen, das Schlichte zu lieben und in mäßiger Weite sich zu bewegen, der Menschen bildet und darstellt, die nicht heftigen und engen Stimmungen folgen, sondern für Welt und Handeln aufgetan dem gesunden Zuge ihrer Natur folgen dürfen. Der Meister zeigt beide Dichter in schöner Gemeinschaft. Schon die fortschreitende Arbeit begleitet Schiller mit Liebe; als das Ganze vor ihm steht, zählt er es zum schönsten Glück seines Daseins, es genießen zu dürfen. Die innere Wendung seiner Stimmung deutet sich in den schönen Worten an, daß es dem Vortrefflichen gegenüber keine Freiheit gibt als die Liebe. Zur zweiten Jugend — sagte er dann ebenso schön, als die „Dorothea" vollendet war — sei Goethe zurückgekehrt, der ewigen Jugend der Götter. Für eine Zeit scheinen nun die Freunde die Rollen zu tauschen. Der Dichter beginnt zu forschen, der Denker wieder zu dichten. Das vorhergehende Jahr war das der Balladen gewesen; aber auch in diesen lebt bereits ein dramatischer Geist energischer Handlung, schärfer wie mit dramatischem Abgang endenden Schlüsse. In den Dramen vollendet sich nun seine ganze dichterische Tätigkeit. Sie bewegen sich auf der gleichmäßigen Höhe der idealen Form; um die Gattung, nicht um die Individuen ist es ihnen zu tun; alle feinen Ubergänge und Bezüge des individuellen Lebens verschwinden vor der großen Manier der fortschreitenden Handlung, vor den antithetisch gegenübergestellten Charakteren. Ganz anders verfuhr Goethe. Aber der Erfolg spricht für Schiller. Die Einfachheit der Gestalten, die Sentenzenklarheit der Gefühle machen ihn auch bei dem fremdartigsten Stoffe zum Dichter des Volkes. (Ging der Redner an diesem Punkte mehr als an irgendeinem anderen in den eigentlichen Gegenstand seine Rede ein: so hätten wir doch sehr gern gesehen, er wäre den konkreten Zügen derselben noch tiefer beigekommen.)
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Der Redner überblickte noch Goethes Wirksamkeit nach Schillers Tode, seine letzte Periode, mit der er sich bekanntlich, wie mehrere Schüler Hegels, mit besonderer Vorliebe beschäftigt hat. Die dichterische Manier ändert sich noch einmal; ein Anflug didaktischer Richtung tritt hervor; er beginnt das Bedeutsame, Symbolische zu lieben; die durchgearbeitete Sprache bleibt nicht mehr frei von Manier, Lässigkeit, superlativischem Nachdruck, nur um so ergreifender wirkt aber die durch die ruhige Weisheit des Alters hindurchbrechende Gewalt der Empfindung. Jede Zeile der „Wahlverwandtschaften" — so hat er selber gesagt — beruht auf Selbsterlebtem oder an anderen Erfahrenem. Nicht nur er selbst ist indes alt geworden, Europa selber ist alt. Zur Blütezeit der Restauration sinnt Goethe in den „Wanderjahren" auf neue Zustände in der neuen Welt, wo man frei von den mittelalterlichen Schlössern und Kulturresten, von den Besten und Erfahrensten geleitet, ein neues Leben auf unsprünglidiem Boden begönne. Das Werk gemahnt an Piatons Republik, der auch am Ende des Lebens auf eine neue Form desselben sinnt. An die Spitze stellt er den Bund der Entsagenden. Statt jener Entsagung, die innerlich leidet, sondert er die, welche innerlich auferbaut; wer in der alten Welt für jene ursprünglichen Zwecke aller Kultur den Weg versperrt findet, soll den Boden für solches Streben in der neuen finden; diese selbst aber soll von den Zurückbleibenden durch Erziehung erneuert werden. Wie Dante durch die Kreise der Unterwelt, läßt er Wilhelm durch die drei großen Kreise seiner dichterisch geordneten Oberwelt wandern. Und so muß auch Faust, halb der frühere, halb der allegorische, noch ein Goethesches Weltalter durchleben: das Mittelalter, die antike Kunst, die neue Welt. Dann erst wird er emporgetragen zum Licht. So endet „Faust", und so endete Goethe. Mit diesem Vortrage schlossen die Goethevorträge. Der Beifall, den ihre Tendenz fand, einen umgrenzten Stoff von allen Seiten in einer ununterbrochenen Reihe zu beleuchten, hat das Komitee veranlaßt, eine neue Folge derselben für den nächsten Winter in Aussicht zu stellen. Sind wir recht berichtet, daß unter den Vortragenden Droysen, Kuno Fischer und andere sein werden, so dürfen wir hoffen, daß dieselben noch tiefer, als in den bisherigen geschehen ist, in Goethe eindringen, in Thematen wie über seine Methode der Charakteristik, über die verschiedenen Formen seiner Selbstdarstellung in seinen Werken, über sein Verhältnis zum Roman und zur Novelle und dergleichen uns in die innerste Werkstatt seines Schaffens, soweit das vergönnt ist — und es ist weit mehr vergönnt als die meisten glauben — eindringen lassen werden.
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Goetheausstellung I. Bilder und Büsten Goethes Wir zweifeln, ob in Deutschland je eine Sammlung dargeboten worden ist, welche in so erfreulicher Vollständigkeit das Leben eines großen Mannes veranschaulichte als die, welche das Goethe-Komitee im Konzertsaale des Schauspielhauses zum Besten des Goethedenkmals ausgestellt hat. Wir sind die letzten, welche dem vielfach laut gewordenen Spott über die mannigfachen biographischen und erklärenden Arbeiten, wie sie die Schriften dieses Mannnes hervorgerufen haben, beipflichteten. Jeder große Mensch ist unvergleichlich größer als jedes seiner Werke; und so wird man sich immer getrieben fühlen, über jedes einzelne Werk hinaus dem Zusammenhang aller in dem Ganzen seiner Entwicklung nachzuspüren, um den Schleier über dem Mysterium seines inneren Wesens zu lüften. Aber weit näher, unmittelbarer ergreift uns der Gesamtzug von Goethes großem Dasein in diesen Räumen als ihm irgend das Wort nadigehen kann, das gerade für die Nuancen unserer geistigen Natur so arm ist. In dieser Beziehung daher ist diese Ausstellung der beste Kommentar zu Goethes Werken: der beste überhaupt, den je ein Poet gefunden hat. Das Geheimnis eines eigenartigen Gemüts, dessen Hauch auf jeder Wendung in den Werken großer Männer liegt, entzieht sich überall den Händen des Erklärers. Man streift den blitzenden Tau ab, indem man ihn berührt. Hier, in den Schriftzügen des Dichters, in leichten Federzeichnungen von seiner Hand, indem wir mitten hineingeführt werden in den Reichtum der lebendigen Wirklichkeit, die ihn umgab, vor allem in den Bildern aus allen Epochen seines langen Lebens, tritt uns das Geheimnis seines außerordentlichen Daseins wie konzentriert und vereinfacht entgegen; wir glauben die Lösung desselben in Händen zu haben, da diese uns so fernstehende Natur so einfach und scheinbar verständlich zu unserer Anschauung redet; indem aus so vielen Porträts und Briefen gleichzeitiger Männer und Frauen ein verwandter Grundton spricht: erhalten wir, zwischen ihnen hin- und herwandelnd, eine Anschauung der gemeinsamen Empfindungsgrundlage jener Epoche, die auch Goethe wie jeder große Dichter nur. zusammenzufassen und zu läutern vermochte, nicht zu schaffen, und auch insofern wird er uns verständlicher und näher. So ist diese Goethe-Ausstellung ein würdiger Abschluß der Vorlesungen dieses Winters. Möchte doch diese Weise, einen einzigen Mann von allen Seiten durch Wort und Mitteilung einem größeren Kreise zugänglich zu machen, gegenüber zerstreuten und fragmentarischen Anregungen des Publikums Nachahmung finden! Ein hochverehrter Literarhistoriker, Professor Koberstein von Schulpforta, hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß kein anderer unserer großen Dichter zu Norddeutschland und Berlin eine so enge Beziehung hat als Lessing. Sollte nun auch die Erwägung vorherrschen, daß das Geld allein keine dauernden Denkmäler schaffen kann, sondern daß es dazu auch einer genialen, künstlerischen Konzeption bedarf, welche vielleicht Rietsdiels unvergängliches Meisterwerk zu Braunschweig
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den gegenwärtigen Künstlern allzusehr erschwert: jedenfalls wäre es vortrefflich, wenn dieser Mann, dessen Bestrebungen noch unser Zeitalter ungestüm bewegen, der Schöpfer unserer modernen Prosa und unseres deutschen Theaters, durch seine geniale Nüchternheit und die Leidenschaft des Verstandes, die er oder die ihn besaß, unserem Zeitalter so verwandt, ebenfalls wie Goethe in einer Reihe von Vorlesungen zur Darstellung käme. Möchte also die Anregung des Herrn Professor Koberstein Erfolg haben! Wir kehren zu Goethe zurück. Die erste Stelle nehmen natürlich seine Bildnisse ein. Es liegt im gewöhnlichen Lauf, daß das Bild der späteren Jahre typisch wird, und erst jetzt — hundert Jahre fast nach der Geburt des Dichters — fangen wir an, dem Typus seiner späteren Epoche, unter dem die ihn liebgewonnen hatten, deren Zeitgenosse er noch war, die Bilder aus der Blüte des Lebens gegenüberzustellen. So steht Goethe zu Frankfurt, das doch wohl Ursache gehabt hätte, ihn so darzustellen, wie er dort war, als er „Götz" und „Werther" und Fragmente des „Faust" dichtete, in einer der Mainstadt fremden Lebensepoche. Wie lange wird es dauern, bis gegenüber dem Typus Friedrichs des Großen aus seinem absteigenden Alter der des Mannes ebenfalls zu seinem Recht kommt, aus der Zeit, in der er seine großen Schlachten schlug und seine großen Gedanken faßte? Da ist es uns nun von großem Werte gewesen, die Bilder Goethes aus der ersten Hälfte seines Lebens hier zusammen zu sehen. Die geistvolle Skizze Oesers aus Goethes Studienzeit ist neuerdings durch einen wohlgelungenen Stich dem Publikum bekanntgeworden. Aus der Fülle der Kraft, in den frühesten Weimarischen Tagen, stellt ihn das Bild von May dar: obwohl ein Profilbild, das nie des vollen Ausdrucks mächtig ist, neben dem Gemälde Tischbeins die vollendetste Darstellung, die wir aus dieser ersten Lebenshälfte besitzen. Aus der römischen Zeit — zehn Jahre später — liegen dann drei Darstellungen davon, sehr verschieden in der Auffassung, alle drei in ihrer Weise bedeutend; leider standen von zweien von ihnen nur Kopien der Ausstellung zu Gebote. So gerade von dem besten unter ihnen, dem Gemälde Tischbeins. Goethe, im Mantel und breiten Reisehut, mit ruhig und fest umblickendem Auge unter Trümmern der Römerzeit ausruhend: im Hintergrunde breitet sich die weite Campagna aus und darüber ruhend das Sabinergebirge. Kein anderes Bild von ihm hat so den vollen markigen Ausdrude auf sich selber ruhender Männlichkeit; Tischbeins feste und kräftige Manier war in der Tat höchst geeignet, diesen zu erfassen. Wie ganz anders tritt er uns aus dem Bilde entgegen, das seine Freundin Angelika zur selben Zeit von ihm machte! Wir möchten den Ausdruck spiritualistisch nennen: der sinnende Geist und das leidenschaftliche Feuer in diesem Gesicht, dazu ein eigentümlich vergeistigendes Kolorit, sind ganz ohne das Gegengewicht kräftiger, klarer Form, das uns aus Tischbeins Bild so männlich anmutet. Noch idealistischer ist die Büste von Trippel behandelt, deren Abguß hier freilich weitaus nicht die tiefe Wirkung aus uns machte als das Original auf der Weimarischen Bibliothek; es ist geradezu Goethe als Apoll. Goethe selbst äußert sich in diesem Sinne darüber: „Gewiß, sie ist in einem schönen edlen Stil gearbeitet, und ich habe nichts dagegen, daß die Idee, als hätte ich so ausgesehen, in der Welt bleibt. Sie wird nun gleich in Marmor angefangen und zuletzt auch in den Marmor nach der Natur gearbeitet."
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Wir gedenken noch einer liebenswürdigen Aquarellskizze Tischbeins aus dem römischen Aufenthalt: aus dem Zimmer, dessen Dunkelheit uns kühl anmutet, lehnt sich Goethe, dem Beschauer den Rücken zuwendend, behaglich hinaus in den heißen Nachmittag, dessen Licht ins Zimmer fällt. Eine scherzhafte Erinnerung an Tischbeins Zusammenleben mit Goethe zu Rom im selben Hause, wie das uns Goethe mit solchem Behagen beschrieben hat. D a n n folgen später Bilder und Büsten. Zwei Bilder Kolbes und das berühmte in Kopien vielfach verbreitete Bild Stielers aus 1828. Dazu dann die bekannten Büsten von Tieck (1801) und Rauch (1820), andere von Klauer, Fischer; alle überragend der ungeheure Kopf des Steinhäuserschen Goethe, der f ü r das Arnimsdie Monument bestimmt war und nun in Weimar in einem Häuschen im Parke steht: ein zeusartiger Kopf, wie er sich f ü r den triumphierenden König der Poesie ziemt, als welchen ihn Bettina in ihrem poetisch empfundenen Entwurf des Denkmals sich dachte. Dieser Entwurf, im Besitz der Arnimschen Familie, tritt dem Eintretenden im ersten Zimmer entgegen. Das Schicksal des Lieblingsgedankens der geistvollen und tiefpoetisdien Frau ist merkwürdig. Von ihr selbst ist zuerst die Gruppe modelliert, welche die Spitze bildet: Goethe, in ruhiger, königlicher H a l t u n g dasitzend, zwischen seinen Knien ein Genius, der an die Saiten seiner Leier schlägt. Zum Neujahr 1824 übersandte Bettina Goethe diese Gruppe. Er bemerkt darüber brieflich: „Die Skizze der Frau von Arnim ist das wunderlichste Ding von der Welt; man kann ihr eine Art von Beifall nicht versagen, ein gewisses Lächeln nicht unterlassen, wenn man das kleine nette Schoßkind des alten impassibeln Götzen aus seinem N a t u r zustande mit einigen Läppchen in den schicklichen befördern wollte, und die starre trockener Figur vielleicht mit einiger Anmut des zierlichen Geschöpfs sich erfreuen ließe, so könnte der Einfall zu einem kleinen, hübschen Modell recht neckischen Anlaß geben." Die Gruppe sollte nun, und diesen Gedanken finden wir wahrhaft poetisch und schön, auf einem Postament ruhen, das einen von zwei Seiten zum König der Poesie heranziehenden Triumphzug in Basreliefs darstellt. Diese Basreliefs sind von Steinhäuser, der damals aus Rom hierherkam, modelliert. Es war Aussicht, daß der hochselige König das Monument ausführen ließe. Und, wie es scheint, auf diese unbestimmte Aussicht hin begann Steinhäuser die Ausführung des Monuments zu Rom. Da sich jene Aussicht nun zerschlug, kaufte der Großherzog von Weimar jene vollendete Gruppe an: und nun steht sie zu Weimar im Park — an einem höchst ungünstigen Orte, als Fragment eines ohne Zweifel sehr poetisch gedachten Plans, über dessen Ausführbarkeit allerdings interessant wäre kompetente Stimmen zu vernehmen.
II.
Bilder
Nahestehender,
Handschriften,
Briefe
Ein nicht geringeres Interesse als die Bilder Goethes selbst gewähren die ihm nahestehender Männner und Frauen, an die sich dann eine große Menge zum Teil noch ungedruckter Briefe an dieselben anreiht. Es macht einen wunderbaren Eindruck, wenn man die Masse der engsten und bedeutendsten Verbindungen durch15
Dilthcy, Schriften XVI
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Literatur und Kunst
läuft, wie sie hier Wort und Bild lebendig veranschaulichen. In dieser Toleranz und Assimilationskraft des Genies, welche den inneren Gehalt ganz entgegengesetzter und in den verschiedensten Sphären lebender Naturen aufspürt, aus der Tiefe hervorlockt und mit dem eigenen Wesen verschmilzt, kann nur Leibniz unter den Deutschen mit Goethe verglichen werden. Was dieser aber jenem gegenüber für sich hat: in dem Zeitalter des Gemüts und der Individualität lebend und ein Dichter, war ihm der Verkehr mit Frauen, deren Lebensgang der Ausbildung der individuellen und naiven Züge so viel mehr Freiheit läßt, wie Lebensluft; eine Menge von freundschaftlichen Beziehungen zu älteren und jüngeren, wie keine Biographie sie zur Anschauung bringen kann, tritt hier hervor. Und sein eigentümliches Naturell hielt die Fülle aller dieser Lebensbeziehungen beisammen. Kein Unwille und keine Abneigung trübte die ruhige Form der mannigfaltigen Bilder, die sich in seiner Seele sammelten; mit ruhiger epischer Gelassenheit bewegen sie sich in ihm. Wir heben nur einzelnes hervor. Mancherlei Blätter und Bilder vergegenwärtigen die vorweimarischen Zeiten des Dichters. Da sind Abbildungen des alten Patrizierhauses, in dem er geboren ist: die enge Aussicht aus seinem Fenster, die eine Gruppe jener wunderlichen alten Häuser zeigt; das Pfarrhaus zu Sesenheim mit dem Gärtchen davor, das jedem Leser von „Dichtung und Wahrheit" anmutig vertraut ist, Zeilen von Friederikens Hand und aus ihrem Nachlasse ein Manuskript der „Mitschuldigen" von Goethes Hand; dann einige der wichtigsten Briefblätter jener Korrespondenz mit Kestner und seiner Braut, die auf seine Flucht nach Frankfurt folgte; endlich Bilder von Lotte und Lili Schönemann, von der auch herzliche und heitere Briefe aus ihrer späteren Zeit uns das freundliche und zarte Bild bestätigen, das Goethe am Schluß von „Dichtung und Wahrheit" von ihr entwirft. Weitaus aber von der größten Wichtigkeit wird dann für die Goethesche Entwicklung das sein, was von der Korrespondenz desselben mit Frau La Roche hier ausgestellt ist: fast alles ungedruckt. Manches bezieht sich auf seine Neigung zu Maximiliane, der Tochter jener Frau, welche auch in den „Werther" hineinspielt. Die meisten und wichtigsten dieser ausgestellten Briefe aber beziehen sich auf die inneren Bewegungen des Dichters, vom „Werther" ab bis in die Weimarische Übersiedlung. Es durchzieht die ganze mittlere Zeit seines Lebens ein Kampf einer früh hervorbrechenden betrachtenden und in sich selbst stillen Fassung des Geistes mit der Gewalt eines der sinnlichen Macht der Erscheinungen leidenschaftlich und sorglos hingegebenen Naturells. In den verschiedensten Gestalten von immer neuen Seiten hat er ihn in seinen damals entworfenen Werken dargestellt; die Briefe der früheren Weimarischen Zeit, zumal an Frau von Stein, sprechen mit gleichmäßiger Stetigkeit von seinem Streben nach Stille in sich, nach Gefaßtheit, nach Resignation. Diese Briefe zeigen nun schon in der Frankfurter Zeit denselben Kreis der Empfindungen. Schon im Mai 1773, anscheinend mit ganzer Seele im Treiben der Genossen, schreibt er: „Ich bin allein, allein, und werd es täglich mehr." Und dann nach Vollendung des „Werther" vom September 1774: „Ja liebe Mama, ich muß die Welt lassen wie sie ist, und dem heiligen Sebastian gleich, an meinem Baum gebunden, die Pfeile in den Nerven Gott loben und preisen." Einen Monat darauf: „Ich lag zeither, stumm in mich gekehrt und ahndete in meiner Seele auf und nieder, ob eine Kraft in mir läge,
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all das zu tragen, was das ehrene Schicksal künftig noch mir und den meinigen zugedacht hat; ob ich einen Fels fände drauf eine Burg zu bauen, wohin ich im lezten Nothfall mich mit meiner Haabe flüchtete." Wie er dann nun im Beginn des neuen Jahres 1775 in seinem Briefwechsel seine eigene Entwicklung in dem abgelaufenen bewegten Jahre überblickt, bemerkt er mit Befriedigung: „Indem ich die Briefe des vergangnen Jahrs sortirte und aufhub sind doch mancherley alt-neue Ideen mir durch den Kopf gegangen. Wenn man so den moralischen Schneeballen seines Ich ein J a h r weiter gewälzt hat, er doch um ein gutes zugenommen. Gott verhüte Thauwetter." Nicht lange darauf bringt ihm Friedrich Jacobis Besuch allen Sturm und Drang der Wertherzeit zurück, und das Billet, das er hierüber an dessen Frau sendet, zeichnet das Unbehagen, mit dem ihn diese Aufrüttelung der kaum hinuntergekämpften Stimmungen erfüllt auf höchst charakterische und naiv offener Weise. „Liebe Frau," — so beginnt er — „Friz ist nun fort, und wie wohl es uns war, können Sie denken, weil es uns, besonders mir, auf die lezt etwas weh bey der Sache wurde, und ich Frizen bat zu gehn; auch ist mir schon etwas besser, ob er gleich noch nicht vierundzwanzig Stunden fort ist. So geht's mit mir immer unterst das öberst . . . Wäre Friz nicht fort würde nichts gethan." Noch reichhaltiger ist dann das Ausgestellte für die frühere weimarische Zeit. Wir stellen eine Handschrift von großem Werte voran, für deren Bekanntwerden alle Freunde Goethes dieser Ausstellung verpflichtet sind. Wir meinen den Aufsatz Goethes „Uber den Granit", dessen Einleitung uns den Ubergang von der im „Werther" überall hervorbrechenden enthusiastischen Gemütsversenkung in die Natur zu jener erhabenen forschenden Befreundung mit derselben darstellt, welche vielleicht die tiefste Seite in Goethes Natur ist. Nur ein paar Stellen teilen wir mit und verweisen auf den Katalog, der diese Einleitung ganz enthält. Er verteidigt den Übergang von der Poesie zu diesen Studien. „ J a , man gönne mir, der ich durch die Abwechselungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnellen Bewegungen derselben in mir selbst und in andern manches gelitten habe und leide, die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Natur gewährt, und wer davon eine Ahndung hat, folge mir. Mit diesen Gesinnungen nähere ich midi euch, ihr ältesten, würdigsten Denkmäler der Zeit. Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht . . . In diesem Augenblicke, da die innern anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf midi wirken, da die Einflüsse des Himmels midi näher umschweben, werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt, und wie der Menschengeist alles belebt, so wird auch ein Gleichnis in mir rege, dessen Erhabenheit ich nicht widerstehen kann. So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum in die Ferne am Fuße ein geringwachsendes Moos erblicke, so einsam, sage ich, wird es dem Menschen zumute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen w i l l . . . Idi fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins, ich überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Täler und ihre fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über alles erhaben und 15 :
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Literatur und Kunst
sehnt sich nach dem nähern Himmel." Führt irgendeine Stelle, auch des „Werther" — nur einige in den Briefen an Frau von Stein nehmen wir aus, wie sie unter dem unmittelbaren Eindruck seiner Reisen niedergeschrieben sind —, so in den tiefsten Quellpunkt seines Verhältnisses zur Natur? Die Zahl der übrigen Handschriften und zumal der Briefe ist so groß, daß auch eine Übersicht hier zu versuchen vergeblidi wäre. Unter den Porträts dieser früheren weimarischen Zeit nehmen die der herzoglichen Familie billig die erste Stelle ein, von denen einige gar manchem aus Weimar bekannt sein werden. So das feste kluge Gesicht der Herzogin Amalie, das überaus anmutige, sinnende der Herzogin Luise. Ihnen zur Seite zwei Frauen des preußischen Königshauses, die Goethe noch zu Weimar heranwachsen sah und deren er in bekannten Stellen gedenkt. Das Bild des Herzogs entspricht am wenigsten der Vorstellung, die wir auch nach seinen Porträts aus späterer Zeit von ihm hegten: es ist das offenbar am wenigsten gelungene. Sehr heiter vergegenwärtigt eine Aquarellskizze von Kraus eine Abendgesellschaft bei der Herzogin Amalie, die sich lesend, plaudernd und arbeitend unterhält, und die Herzogin, ihre Hofdamen von Wolfskeel und die scherzhafte und lebendige von Göchhausen, Herder, von Einsiedel, Goethe, Meyer, die Gore. Unter den vielen Bildern und Zeichnungen, welche uns dann die Nächstbefreundeten Goethes vorführen, sucht der Eintretende wohl zunächst nach dem Bildnis der Frau von Stein, deren Einfluß der geistig belangreichste ist, den je eine Frau auf einen der großen deutschen Dichter geübt. Es ist leider nur eine leichte Bleistiftzeichnung im Profil und, wie uns scheint, etwas abstrakt aufgefaßt, was man nach einigem Suchen an der ersten Seitennische findet. In derselben Nische ist denn auch das Bildnis von Goethes Frau und seinem Sohne. Damit treten wir aber bereits in die nachitalienische Epoche des Dichters ein, in der sich die vorhandenen bildlichen Erinnerungen, Briefe und sonstigen Denkmale zu einem breiten Fluß ausbreiten, der gar nicht zu übersehen ist. Viele Zeichnungen Goethes aus den verschiedensten Zeiten, deren Besprechung wir Sachkundigeren überlassen müssen, schmücken die Wände. Einen besonderen literarischen Wert hat das Komitee dieser Ausstellung dadurch gegeben, daß es die ersten Drucke der Goetheschen und die gegen ihn gerichteten Schriften in einer Vollständigkeit, wie sie wohl nie ein Freund dieser Literatur zusammen zu sehen vermochte, zusammengestellt und diese Zusammenstellung durch einen genauen Katalog fixiert hat. So ist die Reihe der Streitschriften über den „Werther" hier wahrhaftig belehrend über die gewaltige Wirkung, welche derselbe augenblicklich machte. Kein Buch Goethes hat wieder so erschütternd gewirkt. Der Katalog ist überhaupt mit einer Genauigkeit gearbeitet, deren Wert die, welche den eingehenden Umfang der Goethe-Literatur kennen, überall zu schätzen wissen werden, und er darf als ein dauernder Beitrag zur Goetheliteratur gelten. Die Anordnung ist mit ebensoviel Geschmack als Umsicht gemacht. Der aufopfernden Tätigkeit des Goethekomitees — aufopfernd schon darum, weil nicht leicht jemand, der diese Dinge so harmonisch beieinander erblickt, von der unsäglichen Mühe, die ihre HerbeischafFung kostete, eine rechte Vorstellung hat — gebührt die lebhafteste
Gelehrte Zeitschriften im 18. J a h r h u n d e r t
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Anerkennung des Publikums. Der liebste Dank wird dem Komitee jedenfalls der sein, wenn ein möglichst zahlreicher Besuch des Publikums den Zweck dieser Ausstellung verwirklicht, jedem Gebildeten und mit Goethes Werken Bekannten eine Anschauung dieses unendlich reichen Lebens zu gewähren und dadurch zugleich die Aufrichtung eines würdigen Goethedenkmals in unserer Stadt zu ermöglichen.
Die gelehrten Zeitschriften im 18. Jahrhundert Das neueste Heft von Kobersteins trefflicher Literaturgeschichte, deren dritter Band für die Geschichte der Romantik grundlegend ist, hat unter anderem auch die literarischen Kämpfe der Romantiker und ihre Bedeutung dem Publikum wieder näher gerückt. Wie ernstlich diese Kämpfe in dem romantischen Kreise genommen wurden, wie hinter ihnen eine Zeitlang alle größeren literarischen Pläne der Freunde zurücktraten, wie sie endlich Friedrich Schlegel nötigten, sein Glück in Paris zu suchen, August Wilhelm Schlegel Deutschand verleideten, wird audi der eben erschienene „Briefwechsel Schleiermachers" mit seinen romantischen Freunden deutlich genug bezeugen. In diesem Briefwechsel (111,147) geschieht nun auch eines von August Wilhelm Schlegel im Verlauf dieser Streitigkeiten gegen Huber gerichteten Briefs Erwähnung, der sich in Schleiermachers Nachlaß vorfindet und der ein so treffender Ausdruck von August Wilhelm Schlegels Talent für literarische Kriegführung ist, daß man ihn schon als ein Specimen von dem leichten und spielenden polemischen Witz dieses Mannes mit Vergnügen lesen wird. Dazu betrifft er die entscheidende Wendung bei diesem Streite: den Bruch mit der „Jenaer Literaturzeitung". Dieser Bruch war eine Spaltung in der Mitte der bisherigen Fortschrittspartei selber: mit ihm fiel das Bindeglied, welches diese extreme romantische Partei mit dem deutschen Publikum verknüpft hatte. Es wollte wenig besagen, daß sich Nicolai satirisch gegen sie erhob, Nicolai, der nach einer über Wolffianismus, Kantianismus und Fichtesche Philosophie mit seinen platten und hämischen Invektiven hergefallen war. Ebensowenig konnten sie die Angriffe der Falk, Merkel und Kotzebue kümmern, der Männer, die recht eigentlich die Sprecher der auf gedankenlose Leselust berechneten, versteckt frivolen, aber mit Sittlichkeit kokettierenden Tagesliteratur waren: man hätte ein kurzes Gedächtnis haben müssen, um die sittliche Entrüstung dieser Leute für etwas anderes als einen Theatercoup zu halten. Ganz anders aber stand es mit der „Jenaer Literaturzeitung" und der Bedeutung des Konfliktes mit dieser. Für Leser oder Schreiber moderner Zeitschriften ist es ein Gegenstand von großem, für letztere zumal von wehmütigem Interesse, die außerordentliche Macht zu bemerken, mit welcher die gelehrten Zeitschriften des vorigen Jahrhunderts das wissenschaftliche Urteil beherrschten. Von wie verschiedenem Charakter waren die
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Literatur und Kunst
drei großen gelehrten Zeitschriften Deutschlands! Aber wie lange Jahre hat doch jede von ihnen ein weites und bedeutendes Publikum beherrscht! Die erste waren die „Acta eruditorum". Ihr Vorbild war das „Journal des savans", die älteste universalgelehrte Zeitschrift (seit 1665). Die holländischen Journale, die in den achtziger Jahren auf die große französische Zeitschrift folgten, konnten sich, so allgemein ihre Titel lauteten — es gab da schon eine „allgemeine Bibliothek" — doch nicht an universalem Geiste mit ihr messen. Dagegen in Deutschland fand der Geist einer alles umfassenden gelehrten Polyhistorie, der diesem Zeitalter eigen war, den günstigsten Boden: hier sollte er sich zum philosophischen Universalismus entwickeln. Diese Entwicklung, eine der merkwürdigsten und folgenreichsten in der Geschichte der deutschen Wissenschaft, knüpft sich an Leibniz und seine Schüler, und das Organ dieser Männer waren die „Acta eruditorum". Im Jahre 1682 erschienen sie zuerst, und sie haben eine beinahe hundertjährige, zuletzt freilich schattenhafte Existenz gehabt, so daß die „Allgemeine Literaturzeitung" wenige Jahre nach dem Ende jener begann. Ein Jugendfreund von Leibniz, Mencken, gründete sie; von Leibniz selbst enthalten sie viele Beiträge, und der große Mann liebte sie so, daß er sie selbst auf seinen Reisen, ja nach Italien sich stets nachschicken ließ. In der gelehrten Universalsprache geschrieben, gleichgültig gegen theologische Streitfragen, aber voll Interesse für jeden Fortschritt der exakten Wissenschaften, alle Teile der Gelehrsamkeit in einer leichteren, rascheren Behandlung zusammenfassend — waren sie ganz dazu angetan, jene großen Kombinationen verschiedener Wissenschaften und Ideen zu befördern, in denen Leibniz und sein Zeitalter so fruchtbar waren. Auszüge und Berichte wiegen diesem Zweck gemäß in ihnen vor; sie kritisieren weniger als daß sie aus jedem Buch zu lernen suchen: recht im Sinne von Leibniz. Und sie lernen von überall her. In dieser Ausdehnung hat außer dem trefflichen Magazin des Auslandes keine Zeitschrift wieder die Literaturen umfaßt: aus Holland und Frankreich, Italien, Polen und Schweden empfingen sie Bücherberichte. So große Vorzüge waren der Natur der Sache nach nicht ohne die entsprechenden Schattenseiten. Das zwar können wir nicht ohne weiteres mit Prutz (Geschichte des Journalismus I, 276), dem sich auch Koberstein anzuschließen scheint ( I I , 484), als eine solche ansehen, daß die „Acta" in einer Zeit, da fast kein Ausländer deutsch verstand, ihrem Zwecke gemäß in der universalen Gelehrtensprache schrieben, daß sie mehr berichteten als kritisierten, daß sie die schöne Literatur ausschlossen und die exakten Wissenschaften bevorzugten. Auf diesem Wege haben sie, wie Leibniz, zu der großen Befreiung des Geistes, welche sich in diesem Zeitalter beinahe durchaus auf der Grundlage der exakten Wissenschaften vollzogen hat, mindestens so viel beigetragen als sie auf irgendeinem anderen gekonnt hätten. Das Üble aber war, daß die bekannte lutherische Orthodoxie von Leipzig ihre theologischen Fächer beherrschte, anstatt daß sie hier mindestens die Neutralität hätten bewahren sollen, daß sie überhaupt zu sehr an Leipzig gebunden waren, wie denn auch die „Jenaische Literaturzeitung" gleich bei ihrem Erscheinen erklärte, daß sie durch die Zusammensetzung ihrer Gesellschaft eifrig bedacht gewesen sei, diesen Fehler zu vermeiden.
Gelehrte Zeitschriften im 18. Jahrhundert (1861)
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Um gerecht zu sein: schon die „Allgemeine deutsche Bibliothek" versuchte es, diesen Fehler zu vermeiden, und auch sonst stand dieselbe in einem scharfen Gegensatz zu den „Acta eruditorum". „Die allgemeine deutsche Bibliothek" — so erklärte ihr Gründer Nicolai selbst — „war das erste rezensierende Journal, dessen Stifter die Idee faßte, eine große Anzahl von Gelehrten aus allen deutschen Provinzen dazu zu vereinigen, um durch solche Vereinigung vieler, miteinander in gar keiner persönlichen Verbindung stehenden Gelehrten einen liberalen Ton einzuführen, zu bewirken, daß die Urteile weniger einseitig, weniger an ein besonderes Land, an eine gewisse einmal irgendwo eingeführte Denkungsart gebunden wären." Aber wenn sie es wirklich ernstlich versuchte, so ist nie ein Versuch ärger mißlungen. Der Berlinismus gewann bald eine so ausschließliche Herrsdiaft über diese Zeitschrift, daß sie zum abgeschlossensten Tummelplatze einer dürftigen und unproduktiven, ja unwissenden Coterie wurde. Allerdings bilden ihre Grundsätze den schärfsten Gegensatz zu denen der „Acta". Aber man gewinnt die Mängel dieser letzteren ordentlich lieb angesichts dieses Gegensatzes. Diese „Bibliothek" will nie lernen, nur kritisieren; anstatt die wirklichen Resultate der Wissenschaften aufzufassen und darzulegen, drängt sie sich überall neugierig und streitsüchtig herzu, wo literarische Scheinkriege geführt werden; indem sie populär über jede Wissenschaft zu reden versucht, wird sie für die Kenner derselben unnütz; indem sie jenem so vielfach irrenden Lichtschein der sogenannten Aufklärungsliteratur nachjagt, hängt sie sich überall an leere Rhetoren und vernachlässigt darüber die Forscher, von denen jene ihr Aufklärungslicht erborgten. Man muß es lesen, wie diese Richter mit den Herder, Schiller oder Goethe, Kant, oder gar wie sie mit einem Fichte verfahren, um es zu glauben. Man muß in dieser ungeheuren Reihe dicker Bände mit Anstrengung nach Berichten über die wissenschaftlichen Fortschritte jener Periode gesucht haben, um einen Begriff von der Unwissenheit und anmaßenden Leerheit dieser Kritiker zu haben. Von ganz anderer Bedeutung und Tüchtigkeit war die „Allgemeine Literaturzeitung", die der unternehmende Bertuch 1785 zu Jena im größten Stile gründete. Es war ein glücklicher Griff, diese aufstrebende Universität zum Mittelpunkt eines solchen Unternehmens zu machen. Auch die Redaktoren waren für das damalige Jahrzehnt höchst günstig gewählt. Sdiütz stand damals an philologischem Rufe kaum einem anderen Gelehrten nach, und seine kluge und behaglidie Art zu sein, erhielt ihn mit seinen Fachgenossen im besten Verkehr. Die Hauptsache aber war, daß er die sich erhebende kritische Philosophie, zwar nicht mit der Tiefe, wie einige Jahre später sein Fachgenosse Gottfried Hermann, aber mit lebendigem Interesse und klarem Geiste ergriff. Hufeland, ein Jurist von anerkanntem Rufe, stand in zweiter Linie und besorgte mehr die äußere Seite; doch war von Bedeutung, daß er sich dem Naturrecht eifrig zuwandte. Durch diese ihre Mittelstellung gelang es den beiden Redaktoren, die Interessen der strengen Fachgelehrsamkeit mit der Teilnahme an der großen Bewegung der kritischen Philosophie zu verbinden. Und es läßt sich schwer sagen, ob die kritische Philosophie mehr die Begründung der Macht dieser Zeitschrift oder die Zeitschrift mehr die Fortschritte der kritischen
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Literatur und Kunst
Philosophie befördert hat. Kant selbst ließ hier jene berühmte Rezension der Herderschen „Ideen" erscheinen. Sonst lag die philosophische Kritik in der ersten Zeit vorwiegend in den Händen Krauses, des bekannten Königsbergschen Freundes und Schülers von Kant; dann trat Reinhold hinzu, der damals audi mündlich in Jena die Verbreitung der Kantschen Philosophie durch seine scharfsinnige und edle Beredsamkeit außerordentlich beförderte. In welchem Umfang die „Literaturzeitung" auch in anderen Fächern die bedeutendsten Kräfte umfaßte, zeigt der Briefwechsel von Schütz, den sein Sohn publiziert hat. Freilich, eine allseitige Gleichmäßigkeit darf man auch hier nicht erwarten, ja man sollte sie nicht fordern. Hatten die „Acta" ihren Schwerpunkt in den exakten Wissenschaften gehabt, so hatte ihn die „Literaturzeitung" ebenso sichtlich in dem Humanismus. Der Verbindung mit der kritischen Philosophie ist gedacht. Die Philologie der Schütz und Wolf stand mit der poetischen Bewegung in enger Beziehung; die „Literaturzeitung" zog auch die Poesie mit in den Bereich ihrer Kritik; Schiller und Goethe lieferten Beiträge und traten bei Gelegenheit der „Hören" in eine noch engere Verbindung mit ihr, die freilich ein wenig drückend war, wenn wir nach dem bekannten diktatorischen Brief Schillers an Schütz schließen dürfen. Hinter diesen Beziehungen trat die Verbindung mit den Interessen der exakten Wissenschaften sehr zurück. N u n begann aber der anfangs friedlich zusammenhaltende Humanismus in den neunziger Jahren in scharfe Parteigegensätze auseinanderzugehen. Der Grund, auf dem eigentlich die Zeitschrift ihrem Geiste nach basiert war, die kritische Philosophie, begann sich heftig zu bewegen. Und eben Jena war der Ort, wo diese Bewegung sich vollzog. Auf dem engen Boden der kleinen Universitätsstadt wurden die Gegensätze um so erbitterter, persönlicher, für Ausgleichungen unempfänglicher. Was früher der Zeitschrift zu ihrer raschen Blüte verholfen hatte, bereitete ihr nun die größten Schwierigkeiten. Zunächst hatte sie sich von den noch ruhigeren Wogen der Bewegung eben tragen lassen. Sie hatte 1788 erklärt, daß Reinhold durch seine Theorie des Vorstellungsvermögens die Philosophie vollendet habe. Sie war mit der Jenaer Bewegung von Reinhold zu Fichte fortgeschritten, obwohl jetzt schon wohl nicht ohne innere Skrupel. Mit der ihm eigenen praktischen Gewaltsamkeit hatte Fichte sidi gleich im Beginn seines neuen Philosophierens mit ihr in Beziehung gesetzt, hatte dann, in Jena angekommen, auch versucht, sich über seine Grundgedanken mit Schiller und Goethe zu verständigen: es lag ganz in seiner Geistesart, nach seiner geschlossenen Herrschaft des kritischen Humanismus zu streben. N u n hatte sich mit Anfang 1796 August Wilhelm Schlegel in Jena niedergelassen, um ästhetische Vorlesungen zu halten und an der „Jenaer Literaturzeitung" mitzuarbeiten. Er bekam bald das ganze ästhetische Fach unter seine Herrschaft. Seine kritische Genialität setzte ihn in den Stand, weitaus die bedeutendsten Beiträge zu liefern; die industriöse Leichtherzigkeit, mit der er einer ganzen Fabrik von Rezensionen, bei der auch seine Frau sehr beteiligt war, seinen Namen lieh, machte ihm zugleich möglich, audi der Masse nach das Fach zu beherrschen. Ein Verzeichnis seiner Rezensionen, das er beim späteren Bruch mit der „Allgemeinen Literaturzeitung" drucken ließ, liegt vor uns — ein Verzeichnis, das man nur mit großer Achtung vor
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der Tätigkeit dieser Fabrik überblicken kann. Diese Verbindung mit Fichte und August Wilhelm Schlegel war nun aber auch der äußerste Punkt, bis zu dem sich die „Allgemeine Literaturzeitung" mit fortreißen ließ. Diese Stellung selbst war ihr bereits höchst beschwerlich. Jena begann sich mit jungen Genies zu füllen. „Ein Nest voll N a t t e r n " nannte es der Jurist Feuerbach in bitterer Erinnerung an das dortige Treiben. Mit ausgesuchter Bosheit schildert Nicolai in einem bekannten Artikel über diese Verhältnisse („Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek" 56, 148) das Aufeinanderplatzen der verschiedenen Geister in der kleinen Universitätsstadt; — den Vertretern der Berliner Intelligenz war es freilich leichter gemacht, sich gegenseitig auszuweichen! Besonders beschwerlich wurde der „Literaturzeitung" Schelling. Auch die Berichte seiner Freunde über ihn aus jener Zeit, wie sie zum Beispiel der Schleiermachersche Briefwechsel enthält, zeigen, daß sein trotzig-anmaßendes Selbstgefühl im Verkehr damals bis zum Terrorismus ging. Er verlangte von der „Allgemeinen Literaturzeitung" nichts weniger als die Erlaubnis, sich entweder selbst in ihr zu rezensieren oder seinen Rezensenten selbst auszuwählen. Und doch war gerade die Naturphilosophie der Punkt, an dem die Erfahrungswissenschaften am erbittertsten und unversöhnlichsten gegen die Philosophie gestimmt waren, an dem daher die „Allgemeine Literaturzeitung" sich entscheiden mußte zwischen den beiden Richtungen, die sie bis dahin mit so viel Mühe und N o t vereinigt hatte. Aber auch die Verbindung mit Friedrich Schlegel, der eben in der „Lucinde" den äußersten Punkt seiner paradoxen Laufbahn nach einer Seite hin erreicht hatte, schien länger nicht gehalten werden zu dürfen. Die „Allgemeine Literaturzeitung" hatte sich sorgfältig gehütet, über die Schriften ihrer romantischen Mitarbeiter, die deren Programm enthielten, zum Beispiel das „Athenäum", sich zu erklären: lieber schwieg sie völlig von ihnen. Als daher dieselben als geschlossene Partei auftraten und ein Sturm von Angriffen sich gegen sie erhob, hatte sie es in der H a n d , die Verbindung mit ihnen zu lösen, indem sie mit August Wilhelm Schlegel brach. Zwei unbedeutende Vorfälle gaben dazu den Anlaß. Die Vorfälle waren diese. Nicolai hatte eine höchst geistlose und gezierte Satire auf die Romantiker geschrieben: „Briefe von Adelheid B.* an Julie S.*°, in der er einen Anhänger der neuen Schule in allen möglichen törichten Situationen Sätze aus dem „Athenäum" zitieren und schließlich von dieser Krankheit durch eine in Nicolais Schule gebildete Weltdame geheilt werden läßt. Dies geschmacklose Produkt wurde in der „Allgemeinen Literaturzeitung" gelobt, doch so, als ob der Kritiker keine Ahnung seiner Beziehung auf die Schlegel gehabt hätte. Wie sehr es auch die Redaktoren ableugneten: Niemand kann zweifeln, daß sie um dies Manöver gewußt, wo nicht gar es gewünscht hatten. Zumal da zur selben Zeit im Hause von Schütz bei einem Familienfeste ein ähnlicher, in Sentenzen des „Athenäums" redender H e l d in einem Lustspiele auftrat. So kam es denn rasch zum Bruch, und den 13. N o vember erschien im Intelligenzblatt August Wilhelm Schlegels Abschied von der „Literaturzeitung". Dem Bruch folgte nun sofort eine Reihe von Huberschen Rezensionen, welche das „Athenäum", die „Lucinde" und die „Briefe" von Vermehren und von Schleiermacher über dieselbe in jener Theaterstellung edler, sittlicher E n t -
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rüstung angriffen, die Huber so gut zu Gebote stand. Wenn Koberstein sagt, „ob Huber auch Verfasser der bitterbösen Anzeigen von Friedrich Schlegels ,Lucinde' und den ,Briefen' über diesen Roman von Vermehren und von Schleiermacher ist, kann ich nicht sagen; ich bezweifle es aber": so ist hier dem belesensten Kenner der Literatur dieser Zeit der Hubersche Brief im Schützschen Briefwechsel (II, 175) entgangen. Dort gibt Huber den Inhalt seiner Lucindenrezession genau so an, wie sie sich in der „Allgemeinen Literaturzeitung" findet. Hiermit hängt das wohlwollende Urteil zusammen, das Koberstein über Huber fällt. Nie ist eine ärgere Schönfärberei mit einem Autor getrieben worden, als Therese Huber sie in den beiden Bänden Werke und Briefwechsel ihres Mannes an diesem geübt hat. Sie dichtet das Leben desselben förmlich zu einem harmlosen Idyll um. Die Namen von Schiller, Körner, August Wilhelm Schlegel, Kotzebue, alle die, um welche sich das wirkliche Leben dieses Mannes dreht, sucht man vergebens in diesem Idyll. Trotzdem kann sie nicht verhindern, daß man eine Anschauung von dem wahren inneren Zustande dieses Mannes erhält. In seiner Jugend erkennt man überall ein aus seltsamen Einbildungen entsprungenes haltloses und leeres Jagen nach Genialität. Es ist unglaublich, wie er bei der mühsamen Zusammensetzung seiner tollen Tragödie „Das heimliche Gericht" von den genialen Stellen darin spricht, wie er sich dann vornimmt, ein großer Historiker zu werden usw. Unfähig zu ernsthafter, anhaltender Beschäftigung, wirft er sich in die ästhetische Kritik. Seine Hauptbeschäftigung ist Lektüre und Kritik schlechter Romane; was er gelegentlich schreibt, ist in der Art von Kotzebue und dessen Genossen; dabei strömen ihm aber Schillers, Forsters und August Wilhelm Schlegels Sätze und die „hohe Sittlichkeit" unaufhörlich von den Lippen. Es ist das eine Art von Naturen, deren haltlose Schwäche und innerer Widerspruch mit Widerwillen erfüllt. Der Brief August Wilhelm Schlegels an diesen Mann ist unmittelbar nach dem Erscheinen der Rezensionen des „Athenäums" und des „Hyperboräischen Esels" entstanden. Huber hatte — ganz in seiner Art — nach dem Abdruck der ersteren Rezession Schlegel und dessen Frau Caroline seine Gründe vorgelegt und mit ihnen eine Korrespondenz über die Rezession eröffnet. Diese Korrespondenz schließt nun der Brief. Der Streit, auf den er hinweist, war der Beginn von Kämpfen, die auch zur Spaltung der „Allgemeinen Literaturzeitung" in eine Jenaische und Hallische führten. Damit war auch die alte Macht der „Literaturzeitung" dahin. Die Veränderungen des Buchhandels und der gelehrten Welt haben kein ähnliches Institut wieder aufkommen lassen.
Sdileiermacher-Briefe (1861)
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Notiz über die Schleiermacher-Briefe Schon vor seinem Erscheinen haben wir unsere Leser auf den dritten jetzt vor uns liegenden Band des Schleiermadiersdien Briefwechsels (Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. 3. Band, zum Drude vorbereitet von Luwig Jonas, nach dessen Tode herausgegeben von Wilhelm Dilthey) aufmerksam gemacht 1 . Wenn derselbe für das Tatsächliche von Schleiermachers Leben und für das Verständnis von dessen persönlicher Eigentümlichkeit minder bedeutend als die ersten beiden Bände erscheint, so bietet er dagegen ein unschätzbares Material zur Aufklärung der geistigen Bewegung und des literarischen Treibens in Deutschland seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Für eine Geschichte der romantischen Schule insbesondere und für die persönlichen Beziehungen ihrer Stifter — die Literaturgeschichte hat hier trotz Kobersteins reichhaltige Arbeit und trotz Julian Schmidts urteilsvollen Analysen noch manche Aufgabe zu lösen — sind in dem vorliegenden Bande ganz neue Quellen eröffnet. Denn die Hauptmasse desselben bildet die Korrespondenz Schleiermachers mit Friedrich und Dorothea Schlegel und mit August Wilhelm Schlegel. Zu welchen biographischen und literargeschichtlichen Darstellungen aber auch der Inhalt dieses Bandes zu verwerten wäre: wir müssen unsererseits jeden derartigen Versuch versparen, bis uns die Akten noch vollständiger vorliegen. Die Vorrede kündigt das Erscheinen einer „Entwicklungsgeschichte Schleiermachers" vom Herausgeber an, zu welcher diesem noch Tagebücher und ungedruckte Arbeiten Schleiermachers zu Gebote stehen. Es ist außerdem noch ein vierter und letzter Band zu erwarten, welcher eine Anzahl bisher unbekannter Rezensionen aus Schleiermachers früherer Periode, Briefe der späteren Zeit und manches andere Ergänzende enthalten wird. Nur über eine durch die neueste Publikation angeregte Streitfrage möchten wir inzwischen unsere Meinung abgeben. Julian Schmidt, gewiß vor vielen anderen zu einem Urteil berufen, erhob nämlich in einem „Literaturbrief" in den „Grenzboten" alsbald gegen den Herausgeber Klage wegen der Zurückhaltung gewisser vertraulicher Mitteilungen, die persönlichen und persönlichsten Verhältnisse der beiden Brüder Schlegel betreffend. Ein Artikel der „Nationalzeitung" wiederholte die Klage, und diesem Artikel verdanken wir eine später in demselben Blatt gegebene Aufklärung „aus zuverlässiger Quelle", die in der Tat für den vorliegenden Fall die Streitfrage erledigen dürfte. Die ausgelassenen Briefe und Briefstellen, wird hier versichert, welche die Familienverhältnisse der beiden Schlegel betreffen, seien allerdings zur Mitteilung nicht wohl geeignet gewesen. „Freilich", heißt es weiter, „hat literarische Neugier über diese Verhältnisse nur allzuviel bereits aufgewühlt. In diesem Betracht könnte eine Mitteilung der ,ganzen Wahrheit' als das Beste erscheinen. Was aber hier vorliegt, sind einseitige, erbitterte, höchst verletzend in verletzende Details eingehende Mitteilungen der einen Partei, welche ohne die entsprechenden Ergänzungen abzudrucken Unrecht wäre. Solche Ergänzungen 1
Preußische Jahrbücher, VII. Bd., S.271.
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standen aber dem Herausgeber nicht zu Gebote. Dazu würden Mitteilungen in solchem Umfange, die zum größeren Teile mit Schleiermacher in keinem weiteren Zusammenhang stehen, als daß sie einen Mann betreffen (August Wilhelm Schlegel), mit dem er in einer literarischen Verbindung stand, die Berechtigung eines Herausgebers Schleiermacher scher Briefe weit überschreiten. Der Nachlaß August Wilhelm Schlegels ist in kundigen Händen seines Freundes und Herausgebers, des berühmten Bonner Juristen Böcking. Diesem steht es zu, was über diese Dinge zu sagen ist, in gehörigem Zusammenhange mitzuteilen. Dazu steht ihm ja auch gewiß der Gebrauch dieser Briefe offen. Die Geldverhältnisse betreifend, geben die vorhandenen Briefe leider weder über die Höhe der damaligen Honorare, noch über die pekuniäre Lage Friedrich Schlegels brauchbare Auskunft: das Erwähnenswerte ist mitgeteilt, das übrige sind gegenseitige Abrechnungen." Diese Mitteilungen, wir wiederholen es, erledigen die Streitfrage für den speziell vorliegenden Fall sachlich durchaus. Da es für solche Publikationen selten eine ausreichende rechtliche Grenze gibt, so muß gewiß nur um so strenger die Grenze moralischer Berechtigung dabei innegehalten werden. Auf der anderen Seite indes fordern derartige Publikationen durch ihren eigenen Inhalt unvermeidlich die Neugierde, wir wollen sagen die aufs Detail gerichtete Wißbegierde heraus. Wir erfahren auf einmal so viel: — warum nicht mehr? Warum nicht auch den Rest, den Rest, der vielleicht für gewisse Fragen von wissenschaftlichem Interesse den bisher vermißten Schlüssel enthält? Dem nun hätte Herr Dilthey, meinen wir, gleich vorbeugend Rechnung tragen sollen. Er hielt sich mit Recht für verpflichtet, „das Verhältnis des in diesem Bande Gebotenen zu dem Briefwechsel kurz zu beschreiben", was ganz unumgänglich ist, damit die, welche von dem Unbenutzten Gebrauch zu machen befugt sind, Kenntnis von dem vorhandenen Material erhalten Warum nun aber versäumte er, die Motive der Ausschließung jener Mitteilungen anzugeben? Warum begnügte er sich mit dem unbestimmten Ausdruck, daß „natürlich das Persönlich-Vertrauliche, rein private Verhältnisse Berührende" ausgelassen worden sei? — einem Ausdruck, den nun freilich die „Grenzboten" allzu sehr preßten. Auch diese werden, wie wir denken, infolge der angeführten Nachrede in der „Nationalzeitung" ihre Beschwerde nicht weiter verfolgen wollen. Denn es ist nicht schwer, aus dieser nunmehr herauszulesen, daß das Ausgeschlossene Briefe Friedrich Schlegels oder Dorotheas über ihre Verhältnisse im Hause August Wilhelm Schlegels sind. Niemand wird den Umstand für ein ausreichendes Motiv der Mitteilung aller dieser intimsten Briefe aus einem gastfreundlichen Hause halten, daß sich daraus ersehen läßt, wie sich Friedrich Schlegel nach des Herausgebers Versicherung in diesen Verhältnissen edler, als man sonst anzunehmen geneigt ist, benommen hat. — Wie dem indes sei: die angeregte Streitfrage scheint uns noch ein über diesen Briefwechsel hinausreichendes Interesse zu haben. Wir finden, daß sich überhaupt über den Wert solcher Veröffentlichungen aus den vertrautesten Verhältnissen bedeutender Schriftsteller sehr übertriebene Vorstellungen verbreitet haben. Es ist nicht gerade immer Neugierde oder gar die leidige Freude daran, daß es hier und da sehr menschlich zugegangen, was die Lust an dergleichen hervorgerufen hat.
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Diese Lust ist von der Durchsuchung der Lebensverhältnisse unserer großen Dichter ausgegangen. Die Begierde, diese ganz zu kennen, war völlig berechtigt — sie hatte einen wissenschaftlichen Sinn. Man belauscht den geheimnisvollen Vorgang im Dichter, durch welchen sich äußere Anregungen in die Bilder seines Inneren umsetzen, durch welche die Wirklichkeit poetische Gestalt gewinnt, indem man alle Schicksale des Gemüts, welche ihn je betroffen, alle Gestalten, welche ihm je nähergestanden, zur Vergleichung mit der poetischen Welt, die er aus diesem Stoffe gebildet, ansammelt. Das Interesse, das wir an der Person und dem Geschick anderer literarisch und namentlich wissenschaftlich bedeutender Männer haben, ist ein wesentlich anderes. Was außer dem innersten Kern ihrer Persönlichkeit mitwirkt zur Ausbildung ihrer Ideen und Werke, sind nicht Gemütsverhältnisse, Erfahrungen über die leidenschaftliche und Gefühlsseite der menschlichen Natur, sondern der Zudrang bestimmter Ideenkreise aus dem allgemeinen Fluß der geistigen Bewegung, der sie umgibt. Den Verlauf dieser Einwirkungen nachzuweisen, ist daher das eine, den Kern ihrer Persönlichkeit, die Grundzüge ihrer geistigsittlichen Organisation zu erfassen, das andere Bedürfnis für ihr Verständnis. Daß nun hierfür in bezug auf Friedrich Schlegel dergleichen Dinge, wie sie in jenem Ausgeschlossenen enthalten sein können, gegenüber der Fülle des in diesem Briefwechsel Mitgeteilten, verschwindend unbedeutend sein müssen, das ist wenigstens uns nach der Lektüre dieses Bandes nicht zweifelhaft gewesen. Das Vorhandene zeigt den Kern von Friedrich Schlegels Natur im ganzen achtungswerter, als die meisten Literaturgeschichten ihn darstellen; der Herausgeber versichert, daß man denselben Eindruck aus dem Ausgeschlossenen empfange. Wenn ein künftiger Biograph diesen besseren Kern Friedrich Schlegels, ohne deshalb die Schwächen seiner Natur zu bemänteln, an denen er zugrunde ging, zur Anerkennung zu bringen suchen wird, so wird er vielleicht aus diesem Ausgeschlossenen manchen lebendigen Zug zur Bestätigung und Veranschaulichung seines Bildes gewinnen. Notwendig scheint uns nach Veröffentlichung dieses Briefwechsels keiner dieser Züge, wenn die Literaturgeschichte anders ihren wahren Zweck verfolgt und nicht die Sittenrichterin spielt. Auch hierin glauben wir im ganzen mit den „Grenzboten" übereinzustimmen. Ihr Ausspruch, daß das Charakteristische der Periode der Romantik gerade darin liege, daß das rein Persönliche, das Private in einer bis dahin unerhörten Ausdehnung Gegenstand der Literatur werde, ist doch jedenfalls nur sehr cum grano salis zu verstehen. Denn nehmen zum Beispiel an, daß die genauesten Berichte über das einem Teile der „Lucinde" zugrundeliegende Verhältnis zu erlangen wären — : dieser Teil der „Lucinde" verlohnte wahrlich nicht der Mühe und des Ärgernisses, ihn dadurch näher zu beleuchten. Es ist eine seltsame Täuschung, hierin einen Beitrag zur Literatur- oder auch nur zur Kulturgeschichte finden zu wollen. Und ebensowenig verlohnte es der Mühe und des Ärgernisses, dem Teil des Publikums, das sich lebhaft für diese Dinge interessiert und welchem das in dem Briefwechsel Mitgeteilte nicht hinlänglich in das Detail geht, seine abenteuerlichen Vorstellungen von Friedrich Schlegel zu berichtigen. Wir sagen: wenn solche Berichte zu erlangen waren. Aber wie erwähnt: nach den obigen Mitteilungen der „Nationalzeitung" sind sie gar nicht einmal vorhanden — es ist das nur ein frommer Wunsch.
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Nur an einem Punkte ist eine zu beklagende Lücke in unserer Kenntnis Friedrich Schlegels — in bezug auf die komplizierten Motive seiner inneren und äußeren Wandlung zum Katholizismus. Daß über die äußeren Beweggründe dieser Wandlung in den Briefen Dorothea oder Friedrich Schlegels an Schleiermacher keine Aufklärung sich finden konnte, war leicht aus dem Charakter ihres damaligen Verhältnisses zu diesem zu erraten. Die Mitteilungen der „Nationalzeitung" bestätigen es zum Überfluß ausdrücklich.
Die Poesie des Weltschmerzes mit besonderer Rücksicht auf Lenau Ein Vortrag von Berthold
Auerbach
Am 18. Januar [1862] las Berthold Auerbach über „Die Poesie des Weltschmerzes mit besonderer Rücksicht auf Lenau." — Der Dichter der „Dorfgeschichten" sprach über jene Reihe von Poeten, die mit titanenhaften Plänen spielten; einer von den Schriftstellern, die zuerst den wilden Fluten einer mit der Welt zerfallenen Literatur einen festen Damm entgegenstellten, hinter dem sich behaglich wohnen ließ, sprach über den Zerrissensten unter den Zerrissenen. Auerbach ist im Kampf gegen diese Art von Poesie zu seiner gegenwärtigen Stellung in der Literatur heraufgekommen; es war damals von großer und wohltätiger Wirkung, daß er an einem kleinen, scharf eingegrenzten Lebenskreis nachwies, wie aller Wert, alles Glück, aller der Mühe lohnende sittliche Kampf in der natürlichen Gebundenheit, in welcher der Mensch geboren wird, und in den sittlichen Beziehungen, die er sich daraus gestaltet, verläuft. Wie gern verließ man in jenen Jahren eine Poesie des isolierten mit sich selbst zerfallenen Ich, um sich dem freien Behagen hinzugeben, mit welchem sich eine gesunde kräftige Natur in Zeiten, in denen die großen Verhältnisse sie abstoßen mußten, in die einfachste Welt einspann, in der Glück und Leidenschaft breite dauerhafte Realität, nicht vorschwebende Stimmung waren! So mochte wohl das zahlreiche Publikum mit einem doppelten Interesse dem Vortrage des Redners folgen; es mochte sich doppelt an der jede Weltansicht größeren Stils in ihren menschlichen Motiven nachempfindenden Toleranz erfreuen, mit welcher jede weite Bildung endet, die aber Dichtern angeboren ist. Wir versuchen, unseren Lesern den Hauptinhalt des geistvollen Vortrags mitzuteilen, ohne der Fülle von Gedanke und Bild, die sich in ihm dicht zusammendrängte, gerecht werden zu können. Wenn jemand von „Weltschmerz" redet, spricht es sich überall in einem eigentümlichen Lächeln aus, daß diese Stimmung für uns vergangen oder, wie man lieber sagt, überwunden ist, daß man es jetzt fühlt, wieviel Grimasse und Affektion in den Ausbrüchen dieser Stimmung mit unterlief. Es mag aber gerade in einer Zeit,
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die über den Weltschmerz hinaus ist und doch ihm noch der Zeit nach nahe genug, um ihn in seinen tiefsten Impulsen verwandt nachzuempfinden wohlgetan sein, die Frage der Erkenntnis aufzuwerfen, was er bedeutete, was in ihm bleibend und ewig ist, und was abgetan. Es ist bezeichnend, daß nur die deutsche Sprache den Ausdruck „Weltschmerz" kennt: die Stimmung ist germanisch, so nahe auch der Genfer Jean Jacques Rousseau an sie anstreift. Wir Deutsche sind Weltbürger, gewohnt, von Nationalideen unbeschränkt, selbstlos uns in die Geschichte zu vertiefen. Es wird unsere Aufgabe bleiben, diese große Errungenschaft jetzt, wo wir an unserer nationalen Zukunft arbeiten, zu bewahren. Dieses deutsche Weltbürgertum nun hat audi den Weltschmerz zu seiner Voraussetzung. Er fließt aber aus diesem Grunde aus drei verschiedenen Quellen. Die erste die Philosophie, welche an der Schranke menschlicher Erkenntnis anprallt und den Schmerz ihrer Täuschung dichterisch ausgleicht. Die andere die Weltgeschichte, insbesondere die Philosophie der Geschichte, welche zu der Frage drängt: wozu das ewige Ringen der Kultur, wenn doch nirgends ein heiteres vollendetes Leben erreicht wird und wir uns immer wieder in neue Leiden und Krankheiten zurückgeworfen sehen; eine Gespensterfurcht, die den Sieg der unholden Mächte ahnt, ein Verzagen über die Sisyphusarbeit menschlicher Kultur überfällt uns, wenn wir diesem Gedanken nachgehen. Endlich die soziale Gebundenheit des Menschen, welche ihn überall sich an Hemmungen reiben läßt, überall einen Teil seiner Kraft in Untätigkeit zurückhält, seine Äußerungen zum Stückwerk macht. In diesem Verstände ist der Weltschmerz ewig; durch die verschiedensten Nationen hindurch läßt sich seine Spur verfolgen. Das Alte Testament selber eröffnet die Reihe. Hiob, aus dem auch Goethe das Vorspiel des „Faust" entnahm, ist der Repräsentant des radikalen Zweifels. Schließt hier der Dichter mit einer Theodizee, so ist der Verfasser des „Prediger Salomonis" so offen und völlig einer zerrissenen Blasiertheit hingegeben, daß man das Budi im engeren Kanon zu dulden Anstoß nahm. Offenbar stammt es aus der Zeit der Restauration des jüdischen Reichs, in der sich der Bruch zwischen dem romantischen Streben und der Wirklichkeit scharf herausstellte; Salomo, der lebens- und wissenssatte König, w a r dem Dichter der wahre Held f ü r die Tragödie des menschlichen Daseins in Leben und Erkenntnis. Und liegt nicht in der indischen Askese, in welcher sich der Mensch vom Leid des Daseins durch freiwilligen Schmerz erlöst, und in dieser Philosophie der Entsagung und der Rückkehr zum Nichts ein diesen Stimmungen des Weltschmerzes verwandter Zug? Im Griechentum dann ist die Idee des Fatums nicht sowohl die Besiegung des Weltschmerzes als vielmehr die ruhige Unterwerfung unter denselben; aber die Frage vom Schicksal hat nur den einzelnen zum Gegenstand, noch nicht die Menschheit, deren Anschauung dem Griechen fremd war. Freilich das Mittelalter hat neben der Askese bereits Spuren der Skepsis und die Lust am Abenteuerlichen deutet auf eine äußerliche Beschwichtigung des inneren Zwiespaltes hin. Audi sofort in den freimütigen A u f b a u unserer modernen Welt mischen sich Klänge aus der alten Wehklage. Wir haben von Lessings „Faust" leider nur ein
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Fragment, und nach Lessings Natur mußte er das bleiben. In seiner „Emilia Galotti", in welcher die Korruption nur erschüttert, nicht besiegt wird, ist etwas von der Stimmung, welche sich in den leidenschaftlichen Worten Luft macht: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren." Aber dies Naturell, dieser philosophische Geist, vor allem dieses Genie der Menschenliebe waren am wenigsten ein Boden für den Weltschmerz. In dem Satze, daß nicht Erkenntnis, sondern das Streben nach derselben unser Leben sei, wird der philosophische Weltschmerz überwunden, in den „Ideen der Erziehung des Menschengeschlechts" der historische; endlich in dieser intellektuellen Menschenliebe, die nicht mehr bloß Stimmung und Naturell, sondern Überzeugung ist, löst sich das soziale Problem, in ihr fließt die taufrische Urquelle des Lebens. — Bei Schiller dann ist jene Elegie über „Die Götter Griechenlands" ein Klang des Weltschmerzes, der nach einem harmonischen Dasein ruft. Und auch später jene Worte Theklas: „Da kommt das Schicksal — roh und kalt Faßt es des Freundes zärtliche Gestalt Und wirft ihn unter den Hufschlag seiner Pferde — — Das ist das Los des Schönen auf der Erde." Sind sie nicht wie eine korrekte Formel des Weltschmerzes? Es ist vielmehr zu bedenken, daß diese Worte die einer Jungfrau sind, welche die Welt mit klösterlichem Zagen betrachtet, daß sie der Ausbruch eines plötzlichen Schmerzes sind, dem alle Stützen der Welt zusammenzubrechen scheinen. Schiller selbst hat am besten gezeigt, wie wenig ihm die Poesie mit Weltschmerz zusammenhing, indem er die Idylle als höchste Gattung der Poesie pries: die Idylle, wie er sie verstand, in welcher sich freie Energien kampflos bewegen, nichts als der süße Duft der in ruhigem Sonnenschein aufbrechenden Blüten des menschlichen Daseins die Welt erfüllt. Kein schärferer Gegensatz gegen die Poesie des Weltschmerzes als das Ideal dieser Dichtungsgattung. Wie tief Goethe diese Stimmungen durchempfand, hat er im „Werther", im „Faust", im Fragment des „Prometheus" in den höchsten Akkorden ausgesprochen. In ihm liegt der ganze Ursprung der Periode des Weltschmerzes unter uns, und gleich im Beginn hat sein gewaltiger Geist den ganzen Kreis dieser Stimmungen vollauf ausgemessen. Denn auch Don Juan ist nur eine Seite des Faust. Freilich, die Kraft des naiven konzentrierten Kontrastes im Volksschauspiel konnte auch seine wie alle Kunstdichtung nicht wieder erreichen, wenn dort Faust von Maria und Helena abwechselnd bewegt wird und, selbst kniend vor dem Marienbild, in ihm der sündige Gedanke sich regt: „Wehe, ich sah in dir doch wieder Leben." Etwas ganz anderes legte jetzt die Kunstdichtung in den alten Stoff; das ganze Leben der Menschheit sollte von der Dichtung umschlossen werden; sie sollte mit der Philosophie der Geschichte selbst parallel laufen. Und wie das Problem allgemein gefaßt war, so auch notwendig die Lösung. Goethe kam aus diesen Stimmungen zum Frieden, indem sich ihm das Menschenleben zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Naturnotwendigkeit darstellte. Auf die Frage des Epimetheus: „Wie vieles ist denn
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dein?" antwortet Prometheus mit der gefaßten Resignation der in die Natur sich fügenden Kraft: „Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt." War es nun nicht ein Anachronismus, daß nach Goethe noch eine Periode des Weltschmerzes kam? Goethe Schloß den Weltschmerz nur individuell ab; er mußte aber historisch, im allgemeinen zum Austrag kommen. Diese neue Bewegung hängt mit der französischen Revolution und ihrem Ausgang zusammen. Ein historisches Titanentum war erstanden und zerschmettert worden; die Kräfte der Menschheit hatten sich erhoben und ihre Bewegung war in ein Nichts verlaufen. Daneben war eine nicht minder kühne Philosophie in Deutschland entstanden, welche den Gang der Menschheit zu begreifen, zu revidieren, in ihrem zusammenfassenden Geiste abzuschließen unternahm; und doch! Auch sie hatte nirgends eine haltbare Gestalt des Lebens oder der Erkenntnis geschaffen. Die Poesie dann hatte in der Romantik sich selber genießen, im Spiel sich hervorbringen und ironisch vernichten wollen: sie hatte sich über jedes Objekt gestellt und war keinem gerecht geworden. Im Zusammenschmelzen aller dieser Stimmungen erhob sich aufs neue die Poesie des Weltschmerzes. Man könnte es als ein Zeichen des Absterbens unserer Kultur ansehen wollen, daß durch sie nun alles in Frage gestellt, alles nichtig erschien. Aber in unserer Zeit ist die literarische Bewegung nicht mehr der allein bestimmende Faktor im Leben der Nation. Und selbst innerhalb dieser rein literarischen Bewegung ging neben jener Strömung eine andere frische, zukunftsvolle der sich erhebenden positiven Wissenschaften her. Vor allem aber: die Geister durften in der politischen Bewegung zu gesunden beginnen. Die Weltschmerzpoesie sang, wenn dies Bild erlaubt ist, nur in dunkler Nacht, ihre Nachtigallenklagen, während der tätige Lärm der Tagesarbeit ruhig fortging. Und doch war hier ein Zusammenhang. Der Zug der Loyalität, der alle sittlichen Naturen bewegt, die Sehnsucht, von der Opposition erlöst zu sein, wurde zum Stachel gegenüber der Metternichschen Staatskunst; auch die aberwitzigsten Versuche, wie die der Emanzipation des Fleisches, waren nur wie die wilden Wasser, die überfließen, weil sie gestaut werden. Freilich, diesem Extreme stehen, Heine ausgenommen, die bedeutendsten Vertreter der Poesie des Weltschmerzes fern. Es ist dennoch nicht zufällig, daß keiner von ihnen aus einem Familienleben heraus so empfand. Das Individuum, abgerissen von dem sittlichen Ganzen, hat nichts als jene allgemeine kalte Beziehung zur Menschheit. In diesem historischen Zusammenhang muß man die Poesie des Weltschmerzes betrachten. Ein Suchen wie nach etwas Verlorenem zieht schattenhaft über unsere nächste Vergangenheit. Diese Wolkenschatten wurden in dem dunklen Bilde des Weltschmerzes festgehalten. Wir, die wir noch etwas von Gewitterluft spüren, verstehen es noch, diese dunklen Bilder zu ergänzen. Nichts einschneidender Skeptisches als der Gedanke, daß mit jedem Tag die Welt, mit jedem Individuum die Menschheit geschaffen wird. Die Erde ist umschifft und vom Zirkel des Denkens umschrieben; aber das Selbst keiner Zeit und keines Dinges öffnet sich weder dem Auge noch dem betrachtenden Geiste. Der Geist jeglicher Vergangenheit erscheint uns so in fragwürdiger Gestalt; die Welt beginnt in uns selber aufs neue. Dieser Tatsache setzt sich die andere freilich entgegen, daß 16
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Welt und Menschheit eine historische Kontinuität sind, durch welche der einzelne sich umschlossen fühlt: Millionen Hände und Herzen, die in der Erde ruhn — wir genießen die Arbeit ihrer Hände und die Empfindungsdenkmale ihrer Herzen. Diese Seite der Betrachtung tritt in trotzig abgeschlossenen Gemütern zurück, die ihre Ursprünglichkeit und Eigenartigkeit wahren möchten. Sie wollen nicht das Datum ihres Daseins genannt und bestimmt denken durch die Welt außer ihnen: sie ruhen in sich selber. Und aus diesem stolzen Gefühl erhebt sich dann der Glaube an die absolute Machtvollkommenheit des Individuums, aus dem bitteren Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, aus der scharfen Empfindung ihrer Grenze endlich der Weltschmerz. — Und wie diese Stimmung, so geht zugleich die der Blasiertheit seit König Salomo durch alle Zeiten. In leichtlebigen Naturen gestaltet sich wohl diese Mischung von Genuß und Überdruß, von Ehrgeiz und Weltverachtung gern zum souveränen Humor; alles ist Schein, die Welt ein konventionelles Spiel ohne Inhalt. In schweren Naturen, die dieses Ringen pathetisch nehmen und nehmen müssen, wird es zum elegischen Grund ton des Lebens; sie erscheinen sich wie enterbt und heimatlos. — Bei nicht wenigen auch waren diese Stimmungen nur Grimasse, hinter der Unzufriedenheit mit sich selbst und ein Tatendrang ins Blaue, dazu allerhand kleine Schicksale sich bargen. Aller Ehrgeiz, der lieber ungemessen plante als Bestimmtes in Angriff nahm, alle Arbeitsscheu, welche die eigne Unfähigkeit gern auf das Jahrhundert ablud — denn mit geringerem als einem Jahrhundert begnügte man sich nicht — fand hier eine Maske. Da war denn viel von trostlosen Konstellationen, Epigonen, Übergangsperioden die Rede und man machte es sich bequem zunutze, den eigenen kleinen Bankrott auf den der Zeit zu schieben. Der Weltgeist sollte die Tyrannei der Staatsexamina abschaffen, die trivialen Forderungen des bürgerlichen Lebens einmal gründlich beseitigen. Es ist nicht nötig, weiter auf diese Grimassen einzugehen: sie waren die Karikatur einer wahrhaften und historisch bedeutenden Empfindungsweise. Der erste deutsche Dichter, der diese Empfindungen der Zeit ausprägte, war Platen. Indem er die Poesie von der romantischen Feinschmeckerei befreien wollte und doch weder formell noch stofflich etwas Notwendiges, Bestimmendes, Imponierendes vorfand: wurde er in den Kultus der eigenen Individualität gedrängt. Es ist nicht gewöhnliche Eitelkeit, was uns oft an ihm so scharf abstößt: est ist ein ernsthafter Schmerz, daß ihm nichts bleibt als sein eigenes starkes, schroffes, einsames Ich. Etwas von dem Stottern der Zeit, die nach einer Formel des Ausdrucks sucht, ist in ihm. Und daher ein endloses Planen. So trivial es klingt: sein ganzes Dichterleben bestätigt nur die alte Weisheit: „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert." Aber kein anderer Dichter empfand es so schmerzlich, daß die Dichtkunst nicht mitten inne steht im deutschen Nationalleben, daß sie seitab liegt als ein Zeitvertreib müßiger Stunden. — In Heine wird die Schwermut zum Übermut. Was bei ihm Grimasse, was eingeborene Physiognomie seines ursprünglichen Genius war, ist nicht abzumessen, diese Verbindung von absichtlicher Verlogenheit und den tiefsten Naturlauten der Poesie bleibt ein schweres psychologisches Problem. — Dann die glänzendsten Vertreter des pathetischen und korrekten Weltschmerzes sind Byron und Lenau.
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Die Form dieser Poeten des Weltschmerzes ist Lyrik. In ihr allein können sie Stimmungen frei ausklingen lassen. In der epischen Dichtung bringen sie es zu glänzenden Momenten, aber nirgends zu geschlossenen, vom Ich des Dichters sich ablösenden Gestalten. Ihre Personen leben sich nicht aus, sie werden nicht emanzipiert vom Dichter. Vermöchte der Weltschmerz eine objektive Gestalt zu schaffen, so hätte er sich damit selbst überwunden. Noch weniger sind sie des Dramas mächtig. Dieses verlangt den Glauben des Dichters an eine providentielle Führung von Menschen und Begebenheiten, an eine Ausgleichung von Schuld und Sühne zwischen den verschiedenen tätigen Kräften, an eine harmonische Lösung der Dissonanz. Shakespeare hat im „Hamlet" den Weltschmerz dargestellt. Wenn bei Orest in der alten Tragödie das Problem, warum dem Sohn die Sühne des Vaters aufgebürdet werde, mit der einfachen Hinweisung auf den Willen der Götter beantwortet wird: so richtet sich in „Hamlet" gerade auf diesen unerforschlichen Willen der moderne grübelnde Geist. Es ist der Schmerz des Helden, daß sich der Mensch nicht von der Vergangenheit und ihren nachkommenden Forderungen frei ausleben kann. Mit der Krone vererbt sich auf ihn die Pflicht der Rache, des Blutes, einer harten Grausamkeit, die er nicht ablehnen darf. Aber Shakespeare löst diese Dissonanz. Indem schließlich Fortinbras erscheint, stehen wir auf dem reinen Boden einer neu anhebenden, von der Vergangenheit freien Zeit. Ihren Motiven gemäß bewegt sich diese Poesie hauptsächlich in drei Stoffen: Faust, in dem die metaphysische, Ahasverus, in dem die weltgeschichtliche, Don Juan, in dem die soziale Dissonanz zur Darstellung kommt. Lertau hat alle drei behandelt. Während Byron mehr an Wirkliches anknüpft, lebt er vorzugsweise in den allgemeinen Ideen der Freiheit. Aber beide treffen darin zusammen, daß sie sich nicht für große Gemeinschaften erwärmen. In beiden ist daher auch eine endlose Wandersucht. Dieses Verlangen, in der Fremde zu leben, ist wie das Stellenwechseln des Fieberkranken im Bette. Bei aller Anerkenntnis der Gemeinsamkeit des Weltlebens ist diese fieberhafte Unruhe doch krankhaft. In beiden ist ein aristokratischer Zug. Sie sind vornehme Naturen, nicht im konventionellen Sinn, sondern in dem einer gewissen Gedankenmajestät. Sie halten sich an große Stoffe. Aber sie irren, wenn sie glauben, damit des großen Stils Herr zu werden; ja, es gibt so große Stoffe, daß sie sich in keinem Augenpunkt mehr fügen und die Poesie in Stillosigkeit treiben. Ein solcher Stoff ohne Abschluß liegt in den „Albigensern". Der verzweiflungsvolle Gedanke, daß die Dämonen der Nacht immer wieder das Gewebe der menschlichen Arbeit vernichten, führt in eine endlose Persepktive. Wie sein Gedicht es sagt: „Den Albigensern folgen die Hussitten und zahlen blutig heim, was jene litten; nach H u ß und Ziska kommen Luther, Hutten, die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter, die Stürmer der Bastille, und so weiter." In diesem „und so weiter" appelliert der Dichter an das Jenseits der Geschichte, unfähig, die Dissonanz aufzulösen. Aber darin unterscheiden sich die beiden Dichter: Byron war frei geboren, Lenau ist frei geworden. Byron hat am historischen Boden seines Vaterlandes stets einen Anhalt des Geistes. Lenau war ohne die Eingewöhnung in Gemeinschaft und historisches Leben. Ein Ungar, aus dem armen Beamtenadel, dazu genötigt, ein ganzes Leben unter Metternichs Herrschaft zu verbringen, gegen den 16*
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er einen H a ß hegte, der, wie der Redner aus dem eigenen Gespräch mit Lenau weiß, wahrhaftig grausenerregend war in seiner Heftigkeit. Wie sein Auge nun so auf die Zukunft gerichtet wurde, reizte ihn audi das Land der Zukunft, wie es damals galt. Er war der letzte Europamüde im idealen Sinn. Zurückgekehrt dann, vergräbt er sich in das Fragengewebe der alten Welt. Der Kern der Dinge soll sich ihm öffnen, er will die Sonne selbst schauen, nicht ihre Strahlen. Das Vergewaltigen des inneren Auges, daß es die Sonne schaue, erzeugt nur ein nicht zu verscheuchendes Spielen von gelben und braunen Fleckenschatten vor dem Auge. Es charakterisiert Lenau, daß er die Musik leidenschaftlich, bis zur eigenen Künstlerschaft liebte. Die Dichter pflegen weniger von der Instrumentalmusik ergriffen zu werden als von der Plastik; das Scharfumrissene in diesen Werken empfinden sie als etwas ihrer Kunst des Gestaltens Verwandtes. Lenau, wie er ein musikalischer Künstler war, lebte auch als Poet in dem gestaltlosen Weben melodischer Stimmungen, lyrischer Klagen. Aber auch in dem bloßen Aussprechen dieser Stimmungen liegt, scheint es, etwas Erlösendes. Der Künstler im Menschen ist es, was den Menschen befreit. E r löst das Elementarisdie, das als kompakte Naturgewalt über ihm liegt, auf; er gestaltet dieses Wogen der Stimmungen in klare Organisation. Wo das Leben nur noch einen Aufschrei hat in Lust und Leid: weiß der Dichter ihn in melodischem Rhythmus zu formen. Lenau verkehrt dies gesunde Verhältnis und macht so die befreiende Kraft der Poesie wirkungslos an seinem Gemüt. Er betrachtet sein Leben wie ein Instrument für diese durchklingenden elementaren Melodien, denen er lauscht. Er will alles nur erleben, um daraus Töne zu bilden. So verfällt er dem Fatum, denn es findet sich in der Welt kein Poetisches als solches, auch in den Urwäldern nicht; es wird im Auge des Poeten. Aber es wird nur ungesucht, unbeobachtet. Wir leben in der Welt als Bürger, Glieder einer Familie; als solche empfangen wir Eindrücke, und diese Eindrücke gestalten sich zu Elementen der Poesie. Aber das Leben als Kunstobjekt ohne weiteres nehmen: das bringt Leben und Kunst gleicherweise in heillose Verwirrung. Der Ernst des Lebens und die Heiterkeit der Kunst sind auch von Sdiiller nicht so schlechtweg als Gegensätze gemeint. Aber was er sagen will, ist allezeit für die Gesundheit der Kunst entscheidend. Er will sagen, daß das unmittelbare Leben seine zwingenden irrationalen Bedingungen habe, daß es nie in geraden logischen Linien verläuft. Die Kunst aber lebt im freien Äther des Ebenmaßes; eine sonnige Heiterkeit ist dort ewig. Denn Ebenmaß, was Schiller Heiterkeit nennt, das ist die Freiheit vom Stoff und seinen sich eindrängenden Bedingungen, das Leben, das sich selber trägt, in sich selber ruht. Auch über den schrecklichsten Gebilden der griechischen Plastik liegt noch ein Hauch der daher stammenden klaren Heiterkeit. So lange immer die Dichter diesen Burgfrieden achten und das Verhältnis von Leben und Kunst nicht verkehren, liegt in der Poesie eine beinahe heilige Macht der Befreiung von dem Problem und dem Schmerz des Irrationalen in dieser Welt.
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„Lohengrin" Ein Vortrag von Richard Gosche Am 1. Februar [1862] las Richard Gosche über „Lohengrin". — Die Wahl war glücklich, da dies letzte große Produkt der mittelalterlichen Kunstdichtung noch einmal alle möglichen Elemente christlicher Mystik, altheidnischer Naturanschauung, nationalen Sinnes in sich versammelt; wie wenig der Dichter auch den innersten Motiven dieser Elemente gerecht wird, man findet sie doch hier noch einmal zu einem imponierenden Ganzen zusammengeschichtet. Dazu ist das Interesse an dieser merkwürdigen Sagenmasse neuerdings durch Wagner auch dem großen Publikum nahegelegt. Es gelang dem Vortragenden vortrefflich, die Hauptmotive des umfassenden Gedichts auszusondern und aus Kunst-, Sagen- und politischer Geschichte zu erklären. Das zahlreiche Publikum war so animiert, daß es demselben am Schluß seinen Beifall laut zu erkennen gab, und wir hoffen, daß wir der geistvollen und anmutigen Darstellung bald irgendwo im Druck begegnen werden. Wir versuchen, den Inhalt des Vortrags kurz zu reproduzieren, soweit uns der Raum dies gestattet. Als in den heißen Julitagen des Jahres 1099 Jerusalem von den Kreuzfahrern eingenommen worden war, ging ein Jubelgeschrei durch das ganze christliche Europa. Es war, als ob der Schmerz der Heimatlosigkeit, den das Mittelalter in jenen immer neuen Versuchen, das Überirdische in ein irdisch Symbol zu bannen, kundgibt, nun endlich gelöst und mit dem irdischen Jerusalem beinahe zugleich das überirdische errungen sei. Der fürstliche Held von Lothringen, der zuerst die Mauern erstiegen, schien der Erde auf wunderbare Weise verliehen: bald berichtete die geschäftige Sage, daß sein Geschlecht auf einen Schwan zurückzuführen sei, daß bei Erstürmung der heiligen Stadt ein Schwan siegbringend über seinem Haupte gekreist, auf dem Turm, bei dem er siegen solle, sich niedergelassen habe. Als aber dann keine von den enthusiastischen Hoffnungen, welche das Zeitalter an diesen Ort und diesen Sieg geknüpft hatte, Wirklichkeit wurde, erhielten diese Ideale wenigstens eine Gestalt in der Poesie. Denn wie uns überall die Kunst, was das Leben entzweit, vorenthält und trübt, lauter und versöhnt darbietet: so stellt sich auch neben die schwere Arbeit der Hohenstaufenzeit trostreich und freundlich die Poesie. Ihre lustigen Minnelieder umklingen den ernsten Gang des 12. und 13. Jahrhunderts; ihre Heldendichtung läßt sich die Gegenwart spiegeln in idealen Gestalten; es liegt etwas vom Sonnenglanz eines heiteren Friedens über diesen Dichtungen, welche einem Zeitalter voll ungeschlichteter Kämpfe entsprangen. Freilich, noch hat die Poesie jene höchste Aufgabe, die sie schon in Griechenland in einzelnen Kunstwerken ergriff, nicht wieder erreicht, in der einfachen Wirklichkeit des menschlichen Gemüts die Lösung alles Zwiespalts und aller Fragen zu finden. Sie beginnt in der Ferne zu suchen, was sie im eigenen Inneren allein finden würde; die alten Sagen von einem weit abgelegenen Wunderlande tauchen wieder auf; man entsinnt sich ihrer mit jener Mischung von Wehmut und Freude, wie man
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der fernabliegenden goldenen Zeit der Kindheit gedenkt. Dort in jenem fernen Lande ragt ein Berg, der Berg des Heils, auf dem ein mächtiger Tempel steht. Die phantastischen Bilder der Offenbarung Johannis und der tiefe Verstand deutscher Baukunst verschlingen sich in diesem Bilde. Und dort in dem Tempel ruht jene Wunderschüssel, der heilige Gral. Wer sich ihr naht, dem verjüngt sich das Leben, dem wird die Seele still und selig. Aber wer mag den Tempel finden? Wohl leuchtet von der Spitze des höchsten Turms ein Karfunkelstein hell in Tag und Nacht hinaus; aber nur reinen Augen sichtbar. Weite Wälder mit seltsamen Irrwegen dehnen sich um ihn aus, wie die, welche Dante durchirrte, bis er zur Pforte des Jenseits kam. Auf dem Boden dieser märchenhaften Welt wurzelt der „Faust" des deutschen Mittelalters, das Gedicht von Parzival. Darin überragt er den Goetheschen, daß die Versöhnung in ihm folgerichtig aus seiner ganzen Anlage und seinem Boden erwächst, wie dies der Redner an dem Gang des Gedichtes treffend nachwies, während sie dort doch nur angefügt ist. Und doch erscheint auch in diesem Gedichte bereits, wenn auch vom ganzen Schmuck mittelalterlicher Bildlichkeit umgeben und durch den versöhnenden Tiefsinn mittelalterlicher Mystik gedämpft und begrenzt, die ganze Macht der modernen Subjektivität. Ihn fesselt keine der genossenschaftlichen Bande, mit denen das Mittelalter den einzelnen sonst so fest umschlingt: einsam geht er durch den persönlichen Zweifel hindurch, einsam findet er sich mit seiner Frage dem Schicksal gegenüber und bestimmt durch diese Frage das Schicksal. Aber eine reiche, lebendige Wirklichkeit überwuchert den tiefsinnigen Zug dieses Gedichts nach den sittlichen Fragen des eigenen Inneren — politische Kämpfe weittragendster Bedeutung, ein leichtes vom Süden angewehtes Sängerleben, das mit den goldenen Fäden seiner Reime und Weisen die festliche Wirklichkeit heiter umschlingt! Dennoch klingen die Fragen und Rätsel unseres Gedichts in dem wunderbaren Fragespiel des „Sängerkriegs auf der Wartburg" nach. Im Süden wandert gegen Ende des 13. Jahrhunderts ein venetianischer Kaufmann, Marco Polo, aus, um mit den Wundern des Orients ins reine zu kommen und dort dieselben irdisch sorgenden und strebenden Menschen wie hier zu finden. Im Norden treibt ein gleicher Zug, sich in den Wundern dieser Welt zurechtzufinden, den tiefsinnigen Albertus Magnus in das Studium der Natur. Vor allem aber tritt uns noch in diesem 13. Jahrhundert ein Dichter entgegen, der die einzelnen Motive jenes Wolframseben „Parzival" noch einmal aufnimmt, der aber den sittlichen Zug dieses Gedichts aufgibt, um sich dafür an die Wunderbestandteile, die der Stoff darbot, völlig hinzugeben — der Dichter des „Lohengrin". Gleich im Beginn schließt er sich an die fast dramatischen Fragespiele des Wartburgkrieges an. Klingsohr von Ungarn beginnt nämlich mit jenem schönen Rätsel aus dem Parzival; wie ein Kind am Gestade der stürmischen See schlafe und nicht eher erwache, um der Gefahr zu entrinnen, als bis es vom Vater mit Strafe geweckt wird: ein Bild unseres menschlichen Lebens. Wolfram weiß die Lösung, wie er selbst ja ursprünglich der Dichter des Rätsels ist; hieran schließt sich dann eine Anspielung Klingsohrs an die Artussage, die Wolfram Gelegenheit gibt, von einem Kämpfer zu berichten, den Artus ausgesendet habe: so daß also dem Dichter des
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Parzival die Fortsetzung desselben, der Lohengrin, in den Mund gelegt wird. So genau lehnt sich diese Weiterdichtung an das ältere Gedicht an. Elsa von Brabant stand einsam in der Welt, der ihr träumerisches Gemüt fremd blieb — sie ist gleichsam das weibliche Gegenbild des kindlich unbefangenen Parzival. Vater und Mutter hat sie nicht mehr: darum darf es der gewaltige Graf, Friedrich von Telramunt, obwohl einst ihres Vaters Dienstmann, wagen, um sie zu werben. In dieser Not gedenkt sie eines wunderbaren goldenen Glöckleins, das sie einst einem Falken, der sich zu ihr flüchtete, abnahm, und dessen Ton bis zum Hofe König Arturs dringt. Die am heiligen Gral hervortretende Schrift gibt ihm und seinen Rittern Kunde von Elsas Gefahr und Parzivals eigener Sohn, Lohengrin, wird zu ihrer Rettung entsandt. Ein wilder Schwan führt ihn in einem SchifFlein über die Flut nach Antwerpen; eine heilige Oblate ist seine Nahrung; schlafend unter dem Gesänge des Schwans kommt er dort an das Gestade, wo Elsa die Ihrigen zusammengerufen hat, für sie im Zweikampf zu fechten. Elsa wählt ihn zu ihrem Ritter. Der Redner hielt einen Augenblick an, den ursprünglichen Sinn dieser Sagenelemente in geistvoller Erläuterung hervorzuheben. Daß vom Gral Hilfe kommen muß, ist einfach; dort ist die irdische Stellvertretung der in Christus geoffenbarten Gottheit. Daß ein Schwan diese Hilfe des Grals herbeiführt, ist ein tiefbedeutsamer Zug der altheidnischen Naturanschauung. Schon bei den Griechen ist der Schwan, seiner Erscheinung entsprechend, der Vogel des Lichtgottes, des Apoll; der leichten weißglänzenden Wolke gleich, sdiwebt er Apoll auf dem blauen Ozean des Himmels vorauf; den nordischen Völkern ist er zugleich der Vogel des Gesangs und des Frühlings. Mit dem Frühling kehren die Scharen der Schwäne zurück; in posaunenartig kräftigen, ehernen Tönen verkünden sie ihr Kommen. Hiermit hängt zusammen, daß sie die Vögel des Todes sind; die Walküren kommen als Schwanenjungfrauen auf Sdiwanenfittichen auf das Schlachtfeld. Auch sie verkünden den Helden nach der tiefernsten altskandinavischen Anschauung ein neuaufdämmerndes frischeres Leben, zu dem sie der Tod ruft. Und zugleich auch hängt damit zusammen, daß der Schwan ein prophetischer Vogel ist. Unsere moderne Naturpoesie gibt dem Schwan nur dicht vor seinem Tode Stimme und Gesang. Seit Aeschylos von dem letzten Liede der Kassandra redete, die nach Schwanesart ihren Todesgesang singe, bis auf die sentimentale Absdiwächung des schönen Liedes bei modernen Lyrikern, die mit ihrem Liede angesidits der Schönen dem Schwane gleich dahinsterben möchten (was leider nicht geschieht), hat man mehr dies wehmütige Motiv betont, als den trost- und kraftvollen Gesang der nordischen Wirklichkeit. — Endlich, das Meer sendet den Schwan. Es ist, als ob es uns seinem tiefen Grunde, wo so viele Reichtümer aufgesammelt liegen, senden könne, wessen irgend die unruhigen Anwohner bedürfen — oder auch von den Inseln, die das unendliche umfließt, unter denen ja auch die der Seligen sind. So sendet schon die Meergöttin Thetis den Achill dem bedrängten Griechenvolke. — Elsa erkennt in Lohengrin sofort ihren Ritter. Sie ist auch hierin wieder recht der weibliche Parzival. Wie jenem in der Einsamket des Waldes, mitten unter dem Gesang der Vögel, ein dämmerhaftes Ideal seiner Zukunft vorschwebt — ihn mahnt,
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daß er aus dieser dumpfen Befangenheit zur Klarheit des Handelns heraustreten muß — : so lebt in ihr bereits das Bild ihres Ritters. Beide sind sich, in ihrer kindlichen Weltentfremdung, ihrer Aufgabe halb bewußt: er der künftigen Tat, sie der nahenden Liebe. — Aber diese einfachen älteren Motive, welche das Kirchentum auch schon im Parzival trübt, sind hier von seinem Zeremoniell beinahe ganz überwuchert. So erkennt hier zum Beispiel in dem Schwan der Abt, als ein in heiligen Dingen wohl kundiger Mann, einen Engel Gottes: eine Auffassung, die später öfter in Mariensagen anklingt. So ist ein Ritter für Elsa erschienen und der Kampf für ihre Ehre kann gegen Friedrich von Telramunt beginnen. Bei der Schilderung der nun folgenden Festlichkeiten verläßt unser Dichter die Traditionen der besseren älteren Poesie. Eine ermüdende Ausführlichkeit, die uns keinen nebensächlichen Zug erspart, vermag nicht den Sinn für die Poesie des Realen, der hier völlig fehlt, zu ersetzen. Wie ungeschickt ist zum Beispiel, wenn ausführlich berichtet wird, wie bei einer Reiherbeize der edle Schwanenritter bei Saarbrücken in die Saar fällt, wohlanständig die Kleider wechselt, um vor den edlen Frauen, die ihn zu sehen gekommen sind, würdig erscheinen zu können usw. Bei Saarbrücken versammelt sich ein großer Zug, und man zieht nun den Rhein hinauf auf die Aue zwischen Mainz und Oppenheim. An den König nach Frankfurt wird Botschaft geschickt, und Heinrich der Vogler erscheint dort auf der Aue zum Pfingstfest. Dort findet nun der Zweikampf statt, in dem Friedrich erliegt. Er bekennt seine Lüge und wird auf Befehl des Kaisers hingerichtet. Nun wird Lohengrin Elsas Gatte. Nach dem Gesetze des Grals verbietet er ihr, je nach seinem Namen und seiner Herkunft zu fragen und folgt Heinrich zum siegreichen Kampf gegen Sarazenen und Ungarn. So wenig sich audi Heinrich in die wüste Chronologie der Artusgeschichte einfügen mag: es ist nicht willkürlich, daß der Dichter ihn hereinzieht. Eben damals, am Ende des 13. Jahrhunderts, waren die deutschen Angelegenheiten in eine bedenkliche Lage gekommen. Das Zwischenreich löste alle letzten Bande der Einheit; die Hausmacht der Habsburger erhob sich. In solcher Zeit mußte der Dichter rückwärts greifen, eine Kaisergestalt zu finden, der sein Lohengrin würdig dienen möchte. Die frische Erinnerung an das Ende der Stauffen warf auch auf ihre größten Heldengestalten ihre Schatten; aber niemals war das Andenken an den ersten sächsischen König, an Heinrich den Vogler, untergegangen. So frisch, wie der Hochwald des Harzgebirges, so labend und erhebend lag sein Gedächtnis noch im ganzen deutschen Volke. Die Sprache unseres Dichters wird belebter, wenn er von diesem Heinrich redet; zwischen dem Rasseln von Harnischen und Panzern, Speeren und Schwertern, bei denen er sonst so gern verweilt, hört man die kräftige Rede dieses Kaisers hindurch und selbst zuweilen durch die feierliche Stille der unvermeidlichen kirchlichen ZeremonienNun kehrt der große König mit dem jungen Brabanter Herzog siegreich zurück. Zu Köln am Rhein sind große Feste. Dort spottet die edle Frau von Kleve, daß der Herzog nicht adlig von Geburt sei und Elsa, nachdem zweimal ihr Gatte die Rede abgewendet hat, tut endlich die verhängnisvolle Frage nach Namen und Geschlecht. Eine merkwürdige gegensätzliche Beziehung zu dem Gedichte Wolframs: Parzival
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soll fragen; denn dem Manne liegt die Welt als eine Aufgabe vor; er soll den Dingen Stelle und Platz anweisen; soll zweifeln, um zu den Dingen die selbstgewollte Stellung einzunehmen. Elsa aber darf nicht fragen. Sie soll sich nicht erst ein Glück erringen, sie hat es schon. Auf wunderbare Weise haben sich die träumenden Ahnungen erfüllt; Lohengrin ist gekommen und mit ihm das Glück. Es kam alles ohne ihr Zutun. Jede Frage ist hier ein verbotener Zweifel; es ist alles wie ein wunderbarer beseligender Zauber, den ein unvorsichtiges Wort löst. Lohengrin muß sie verlassen. Aber wie er einst feierlich und vor vielen gekommen war, so darf der Schwanenritter auch nicht heimlich entweichen. Er bittet Kaiser Karl und Kaiserin, mit ihm nach Antwerpen zu ziehen; dort in feierlicher Versammlung gedenkt er des Tages seiner Ankunft und ihres Versprechens, er bekennt, daß er der Sohn des Parzival des Gralkönigs sei. Es ist bemerkenswert, daß in diesem Gedicht dessen Reich nicht mehr in Spanien liegt, sondern nach Indien verlegt ist, woher die schöne Sage von den frommen Christen des Priesters Johannes gekommen war. In der Schilderung des Abschieds klingt etwas von dem Herzenston des älteren Gedichts. Um der Kinder willen, hofft Elsa, wird er bleiben. Er aber küßt die Kinder und sagt: „Nun muß ich doch an die Fahrt!" Der Gattin gibt er den Ring seiner Mutter, den Kindern Schwert und Horn seines Vaters. Und schon naht der Schwan. Nochmals fleht Elsa, er aber „küßt sie mehr als dreißigmal und sagt: das mag nicht sein, mein vielliebes Lieb". Das Schiff eilt davon; der Wind wehte vom Lande und hatte reichliche Tränen zu trocknen. Das ungefähr sind die Umrisse einer Sage, welche in ihrer letzten dichterischen Fassung die großen und kleinen Interessen der deutschen Poesie am Ende des 13. Jahrhunderts noch einmal zusammenfaßt. Und schon sind die beiden idealen Grundgedanken an das Mittelalter auch in diesem Nachklang unserer großen Poesie verdunkelt. Es ist das Produkt einer Epigonenzeit, weit entfernt von der Straffheit und Kraft der Wolframschen Dichtung. Es ist charakteristisch, daß nicht die innere Geschichte eines Mannes, sondern einer Frau den Mittelpunkt bildet. Lohengrin selbst ist inhaltlos; er ist ein Wunder, das keine Stelle hat in den Entwicklungen der Wirklichkeit. Es ist ebenso charakteristisch, daß neben dieser Frau Wundergeschichten und Äußerlichkeiten im Vordergrunde des Interesses stehen. In solchen vergeuden von da ab die Dichter ihre poetische Kraft und, was schlimmer ist, auch ihre sittliche. So große abgeschlossene Sagen finden dann hinfort keine treue Bearbeitung im alten großen Stile mehr. Aus dem Munde der Sänger kommen sie in den der fahrenden Leute; durch das ganze Land zerstreut liegen die Trümmer der Sagen wie leuchtende Goldsplitter; Kinder und Kinderfrauen haben viel davon aufgelesen, um ihre Märchen damit zu schmücken. Zumal in den schwanreichen Gebieten des Niederrheins, der Maas und der Scheide finden sich von unserer Sage überall verlorene Bruchstücke. Aber in diesen Sagen und Märchen spüren wir nichts mehr von der fast nervösen Zuckung, welche die mittelalterlichen Dichtungen durchzittert; statt des grübelnden Ernstes, der dort nach einem umfriedeten Raum mitten in der stürmischen Welt sucht, spielende Ironie, welche fast in ariostischer Ungebundenheit mit diesen Bruchstücken spielt; die neue Zeit brach heran, die statt des Jenseits diese Wirklichkeit,
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statt der Bilder die Sache selbst ergriff, und die Bilder dieser Dämmerungswelt zergingen vor ihr. D e r Mensch macht die schmerzliche Entdeckung, daß es keine Wunderländer gibt, keine Asyle der sehnsuchtsvollen Phantasie, er macht die schönere dazu, daß der heilige Gral, das Wunder eines umfriedeten Raumes im Wirbel der wechselnden Dinge, in unserer eigenen Brust ruht. Auf dem Boden der neuen Kunst entstand doch wieder in der Oper eine Form, in welcher das unendlich flutende Leben der Leidenschaft und Sehnsucht, jene träumerische Versenkung in die Bilder des Ideals, wie jenes Gedicht sie ausspricht, zur Darstellung gelangen konnten — die Oper. Richard Wagner unternahm es, den alten Stoff neu zu beleben. M i t einer beinahe logischen Strenge handhabt er die Elemente der musikalischen Sprache; er gießt ein dämonisches Feuer in die Fülle musikalischer Mittel, die in heftigen Akkordwechseln und unruhigen Synkopenbewegungen das Gemüt des Hörers erschüttern. Aber kein Mittel vermag jene Lebenswahrheit zu ersetzen, die nun einmal jenem Wunder des Lohengrin fehlt. D i e Gewalt frischer nationaler
Charakteristik
allein entschädigt uns. I n
kräftigen
typischen Zügen wird die Nationalität dargestellt; die ganze volkstümliche H e r r lichkeit des deutschen Mittelalters braust in vollen Akkorden an uns vorüber; dazu die bewegten Massen der Chöre! Diese patriotische Erhabenheit, welche der polyphone Stil zuläßt, heimelt uns an, und von dieser Stimmung ergriffen, ertragen wir dann gern das große musikalische Märchen vom Lohengrin. Auch die Gegenwart hat ihre N o t und ihre Zweifel. Aber ihre Lösung und Befreiung symbolisiert sich ihr nicht im Schwan des „Lohengrin". Diese deutsche Gegenwart will ein Symbol, das ihrem Charakter angemessen, Klarheit des Blicks und Kraftfülle bedeute, und darum schaut sie aus nach dem preußischen Adler.
Johann Joachim Winckelmann Ein Vortrag
von Professor
Friedrichs
A m 22. Februar [ 1 8 6 2 ] las Professor Friedrichs über Winckelmann. — W i r entbehren merkwürdigerweise noch immer eine Biographie und Charakteristik des großen Mannes, ja, was mehr zu beklagen ist: er selbst entbehrt noch immer der Popularität, die tief unter ihm stehenden Geistern so reichlich zuteil geworden ist. E r ist recht ein Beispiel, wie verschoben immer noch die Begriffe von wahrer G r ö ß e bei den sogenannten Gebildeten sind. Zeitgenossen wie Claudius, Lavater und H a m a n n — wir nennen mit Absicht nicht die Geringsten — sind auf alle A r t gefeiert und gepriesen worden. Es waren das in der T a t tiefe und bedeutende Naturen von anregendster Wirkung. Aber groß macht einen Mannn nur der selbstlose begeisterte Wille, der allein dem Genie die Macht des Gestaltens verleiht. V o r diesem reinen und sachlichen Willen allein dürfen die Menschen sich beugen, nicht vor dem
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ruhigen Schwelgen in Empfindungen und Gedankenkombinationen, wie tief sie audi seien. Wo aber ein Mann — wie die oben genannten — in subjektiver Selbstbespiegelung und Scheu vor der Macht des zusammenhängenden Denkens zu einer folgerichtigen Beherrschung seines Lebensgebiets nicht gelangt, sondern in der Opposition des Gemüts gegen den herrschenden Gedankenkreis, von dem ja jene sachlichen Naturen eben so sehr ausgehen, verloren bleibt, ohne dieses Gefühl zu dem Willen und der Macht ihn umzugestalten zu erheben: da mag man lieben und sich anregen lassen, aber die begeisterte Verehrung der Größe hat da keine Statt. Winckelmann ist einer der wenigen Männer, deren geschlossene und ganze Natur diesen strengsten Maßstab erträgt; nicht nur wenn von Kunstgeschichte gesprochen wird, sondern audi, wenn der höchste geschichtliche Gesichtspunkt für unsere neuere deutsche Entwicklung ins Auge gefaßt wird, wenn dargestellt wird, wie nach den Zeiten des französischen Lebenszeremoniells, einer pedantischen kleinbürgerlichen Fügsamkeit, einer die freien Impulse des Herzens und die Folgerichtigkeit der Gedanken abstumpfenden pietistischen oder orthodoxen Gleichförmigkeit des Glaubens selbständige, sachlichen Aufgaben mit rücksichtsloser und völlig offener Begeisterung hingegebene Charaktere sich formten: ist sein N a m e ein Markstein, der einen neuen Anstoß bezeichnet. Wir stellen diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund, weil uns der vortreffliche Vortrag von Professor Friedrichs dieser Seite des Mannes nicht gerecht geworden zu sein scheint. Er hob wiederholt mit Bedauern die Einseitigkeit von Windtelmanns ausschließlich griechischem Bildungs- und Kunstideal hervor. Über diese Einseitigkeit kann kein Zweifel sein. Wir aber glauben, daß die gewaltige Wirkung dieses Mannes eben darauf beruhte, daß hellenistische Begeisterung in ihm verkörpert erschien und möchten um vieles nicht, daß er sich zu der gleichabwägenden Billigkeit der Mittelmäßigen herabgelassen hätte. Wer in reiner Begeisterung ein schöpferisches Ganze gebildet hat, darf verlangen, daß man die Ausgleichung seiner Einseitigkeit dem Strom der Geschichte überlasse, ihn selber aber gelten lasse wie er ist. Winckelmann — so begann der geistvolle Vortrag — steht am Anfang einer neuen Bewegung, welche durch die Lessing, Goethe, Thorwaldsen und Schinkel verläuft. Sowohl Goethe, der mit dem klassischen Schönheitsideal unsere Poesie umgestaltete, als Lessing, der an Homer und Sophokles gebildet das ästhetische Urteil reformierte, als endlich Thorwaldsen und Schinkel, die, ohne bloße Nachahmer zu sein, aus dem Vorbild der griechischen Plastik und Architektur die unsrige erneuerten, haben in ihm ihre geschichtliche Wurzel. Es war das ein zweites Wiederaufleben des Altertums — und zwar ein vom ersten wesentlich verschiedenes. Denn in Deutschland wenigstens galt zur Zeit der Reformation das klassische Studium nur der Literatur und der Sprache. Jetzt galt es in erster Linie der Kunst der Alten; es machte auch denen, welche der Sprache nicht mächtig waren, möglich, sich am Altertum zu bilden; es war ganz Leben, weil die Kunst, der es sich zuwandte, die Seele des griechischen Lebens war. Das bloße einsame Studium verknöchert; die Anschauung übt einen belebenden Einfluß. Weil die Altertumsstudien der Reformation jener Gefahr nicht entgangen waren, bedurfte es einer zweiten Erhebung derselben. Die Schuld der Verknöcherung hatte nicht nur an der ausschließlichen
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Literatur und Kunst
Beschäftigung mit der Literatur gelegen: sie lag auch an der Art der Auffassung. Die Deutschen empfingen aus Italien ein rein formales Bildungsideal, und ein solches Schloß sich ihnen bequem und willig an das Studium der Bibel an. In diesem Sinne nahmen Melanchthon und seine Schule die Beschäftigung mit dem Altertum. In demselben wollte Luther die Ethik und Metaphysik des Aristoteles, die sachlich wichtigsten Schriften desselben, aus den Schulen entfernen; er ließ dagegen die Rhetorik und Poetik, welche Mittel formaler Bildung werden konnten, gelten. Jetzt dagegen vertiefte man sich in die Denkungsweise des Altertums selbst. Und wie viel tiefer diese neue Auffassung in unser Geistesleben einschnitt, beweist am besten die Geschichte der Literatur. Aus jener ersten Erneuerung des Altertums ging eine lateinische, dem Volksleben fremde, formale Poesie hervor; aus dieser zweiten Werke wie die „Iphigenie" und eine neue Literatur. Daher erfolgte nun erst, als die griechische Denkweise selbst ins Auge gefaßt wurde, ein Bruch zwischen der klassischen und christlichen Bildung. In jener ersten Zeit standen die Humanisten, in Deutschland wenigstens, innerhalb des Christentums; Winckelmann, Goethe, Lessing waren keine positiven Christen. Aber man würde Unrecht tun, hieraus auf einen unversöhnlichen Widerspruch zu schließen. Vielmehr pflegt jedes neue Bildungsideal zuerst mit einseitiger Schärfe verfolgt zu werden, bis die Bewegung selbst eine Reaktion bringt. Wie dem einzelnen zuweilen vor einem neuen Streben alles Vergangene wertlos zu werden scheint, so geschieht es mit dem geistigen Leben eines großen Bildungskreises. Diese zweite Wiedererneuerung des Altertums nun wurzelt in Winckelmann. Der Mann stand ganz allein mit seinem Streben. Wissenschaft und Kunst seiner Zeit konnten ihn nicht fördern, seine Verhältnisse engten ihn dreißig Jahre lang aufs drückendste ein. Eines armen Schuhmachers Sohn, dann Schulmeister, dann Bibliothekar in dürftiger Lage; nur des Nachts durfte er seinen Studien leben; alle äußeren Hilfsmittel mangelten ihm: daß er fest blieb in solcher Lage, zeigt eine unverwüstliche angeborene Kraft. Man ist versucht zu sagen, wieviel fröhlicher möchte er sich in einer seinem Drange entsprechenden Lage, etwa in Italien, entwickelt haben. Und doch, bedenkt man die ganze Weite seiner Aufgabe, so war mehr nötig als das Studium der Kunst. Er bedurfte der genauesten Kenntnis des Lebens und der Sitten des Altertums, vor allem der alten Poesie. Noch bis auf diesen Tag ist die alte Poesie die einzige und beste Vorbereitung für die alte Kunst, auch Winckelmann ging diesen Weg. Nie hätte er in ganz freier Lage mit solchem Fleiße die Literatur umfaßt, bevor er zur Kunst überging. Jetzt kam erst der Dreißigjährige in Berührung mit Kunstwerken. Der Übergang zu ihrem Studium lag in seiner innersten Natur; Veranlassung wurde ihm sein Dresdner Aufenthalt. Schon aus seiner Jugend werden Zeichen dieser Geistesrichtung überliefert. Als Knabe soll er in Stendal eifrig nach den dortigen Altertümern gespürt haben; als er dann den Herodot las, wollte er nach Ägypten reisen. Die Lektüre Caesars bewog ihn, nach Frankreich zu reisen, um dort die Anschauung der Orte selbst zu haben; er mußte freilich auf halbem Wege zurückkehren. In Dresden lebte er im Umgang mit Künstlern; er übte sein eigenes Auge mit dem Stift in der Hand; Oeser besonders ging ihm hilfreich zur Hand. Aus diesen Studien entsprang seine Jugendarbeit
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„Über die Nachahmung der Alten" (1755). In ihr liegt bereits, wie im Keime, seine Ansicht über die Kunst. Dieselbe muß auf die Alten zurückgehen, aber nicht nur in den Konturen der Gestalt, sondern auch in Stellung und Handlung. Stille und Ruhe soll ihr Charakter sein. Es ist derselbe Satz, den Lessing im „Laokoon" aus dem Wesen der plastischen Kunst bewies. Das Beispiel des Laokoon paßte freilich nicht, aber wir wissen audi jetzt, daß dies Kunstwerk keineswegs der höchsten Blüte der griechischen Plastik angehörte. Winckelmanns erster Schritt war somit ein Protest gegen die damalige Kunst, besonders gegen den theatralisch prunkenden Stil des Bernini und seiner Schule. Mit diesem Rückgang auf die einfache Natur tat er dasselbe für die plastische Kunst, was Lessing für das Drama tat. In Thorwaldsen ist dann sein Kunstideal praktisch geworden. Die Dresdner Sammlung ist schon in Deutschland eine dritte im Range. Was Wunder, daß sie Winckelmanns Sehnsucht nach Rom nur verstärkte? Eine Reise nach Potsdam, wo sich damals die Antiken noch befanden, verwandelt diese Sehnsucht in festen Entschluß. E r erkaufte sich den Aufenthalt in Rom durch den Übertritt zur römischen Kirche. Zur selben Zeit, als der Dresdener H o f Ballette, die geringsten für 30 000 Taler, aufführte, mußte ein Winckelmann katholisch werden, um das Land zu sehen, ohne das er nicht mehr leben konnte, den Beruf zu erfüllen, dessen Gebot ihn beherrschte. Noch immer ist Rom die hohe Schule der Kunst, so viel auch seitdem nach England verkauft, durch den napoleonischen Krieg verlorengegangen ist. Kein anderer Platz der Welt ist mit ihm zu vergleichen, und nicht die Denkmäler allein, sondern auch die Menschen treiben dort dazu an, sich ganz in Kunst und Altertum zu vertiefen. Von allen Seiten strömen dorthin Künstler und Kunstfreunde zusammen. Und wer in dieser wunderbaren Stadt gelebt hat mit den öden Plätzen, den Trümmern des Altertums, weit hingelagert über eine verwilderte Gegend: der hat es empfunden, wie leicht dort die Gedanken sich zu stiller Betrachtung des vergangenen Lebens wenden. Und wie viel anders war es noch, wie unentbehrlich war noch das Studium in der ewigen Stadt selbst zu der Zeit, als Winckelmann sie betrat! Noch gab es keine größere Sammlung von Gipsabgüssen; Winckelmanns Freund, Raphael Mengs, hat die erste dort zusammengebracht. Noch gewährten die Photographie und ähnliche Mittel der Vervielfältigung nicht die Möglichkeit treuer Nachbildungen. 1755 kam er dorthin, siebenunddreißig Jahre alt, wie Goethe, als er nach Italien ging, ein reifer Mann — mit allen Vorbereitungen, die Rom fordert, wenn es tief und unauslöschlich wirken soll. Neun Jahre darauf erschien die „Geschichte der Kunst des Altertums", die wirksamste seiner Schriften. In den späteren Schriften herrschte das Interesse für genaue Detailforschung vor, ein Interesse, das ihm neben seinem großen Sinne so eigen war wie allen wahren Gelehrten. Sie ist ein Werk für immer, trotz aller der Kritik ausgesetzten Einzelheiten, die in der Lage der Wissenschaft und in seiner Individualität lagen. Denn die philologische Schärfe eines Lessing hatte er nicht, in der Benutzung der Stellen ist er leicht ungenau; das Feuer seines Wesens reißt ihn dann fort. Aber unvergänglich ist die Gesamtauffassung und der Geist des Ganzen.
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Die höhere Schönheit — lehrt Winckelmann — liegt in Gott. Einfach, unteilbar und ununterbrochen ist die Form, in welcher Gottes Wesen sich abbildet. Was wir geteilt betrachten müssen, verliert dadurch von seiner Größe; so erscheint ein großer Palast, wenn er mit Zierat überladen ist, klein, dagegen durch die Erfassung des Ungeteilten erweitert sich der Geist. Aus der Einheit und Ununterbrochenheit des wahrhaft Schönen folgt zweitens die Unbezeichnung desselben; seine Gestalten sind weder diesem oder jenem Wesen eigen noch drücken sie eine bestimmte Leidenschaft aus. Wie das Wasser, je weniger besonderen Geschmack es hat, desto gesunder ist, so ist es mit der Schönheit. Die höchste Schönheit also ist ohne Individualität, in ununterbrochenen Linien sanften Schwungs, allen heftigen Affekt verschmähend. Wie dieses Schönheitsideal der damaligen Kunst entgegengesetzt war, so geht es über die Wirklichkeit hinaus. Die Nachahmung der Natur genügt nicht zur Erreichung dieses Ideals. Zwar von der früheren Schärfe dieses Satzes läßt die Kunstgeschichte bereits nach. Er hatte früher das griechische Profil geradezu als reine Idealschöpfung betrachtet; später in Italien selbst lehrte ihn die Anschauung, diesen Satz aufzugeben. Aber der Grundgedanke von der Idealität des Schönen bleibt. Seine ganze Anschauung desselben faßt er in der Formel „Edle Einfalt und stille Größe" zusammen. — Alle diese Sätze sind, als historische Anschauung der griechischen Kunst genommen, noch heute wahr; ja der tiefste Charakter der griechischen Plastik ist mit sicherem Auge in ihnen getroffen. Wie einfach, klar und harmonisch sind die griechischen Gestalten, während die deutschen durchaus etwas Eckiges, Partikulares, Herbes haben. Man denke nur an die einfache gerade Linie von Stirn und Nase. Auch für Architektur und Poesie der Griechen ebenso sind diese Sätze gültig. Auch diese sind ohne nationalen Beigeschmack. Nur darum konnte der Hexameter und der griechische Baustil so ohne weiteres verpflanzt werden. Fragen wir nun, wodurch die griechischen Künstler diese Kunstform empfingen: so reicht nicht hin, auf die dortige Natur zu verweisen; das tiefste Wesen der griechischen Nation enthielt den Grund, vor allem die griechische Religion. Diese war nicht auf Geschichte basiert, sondern auf Ideen; wenn die Götter Begriffe darstellen, so erklärt sich leicht ihre individualitätslose Erscheinung. Das persönliche Leben ist undurchdringlich, unkonstruierbar, mystisch, das Begriffliche allein ist von durchsichtiger Klarheit. Darf man aber dieses Ideal auf alle Zeiten anwenden? Winckelmann tut so. Er nennt Michelangelo manieriert, tadelt seine Wildheit, ja nennt seine Christusköpfe pöbelhaft. Und wenn er dagegen Raphael Mengs bis zum Himmel erhob, so war dies Urteil nicht so rein von der Freundschaft nur eingegeben; die Gestalten von Raphael Mengs sind in der Tat klassischer als die Michelangelos, sie bestehen in der Tat besser vor dem formalen Maßstab des Altertums. Aber sollen wir nicht fragen, welche Bilder Michelangelos großem Geiste vorschwebten, ob ein Moses darstellbar sei in den befriedigten Formen hellenischer Schönheit? In demselben schroff einseitigen Geiste tadelt er an den Neueren, daß sie Gott Vater als Greis darstellen, man solle den Amazonenkopf für die Mariendarstellung benutzen, die Heroenbilder für Christus, aber vergißt völlig die erste Bedingung jeder Kunstblüte, dem eigenen nationalen Geiste treu zu bleiben. Man muß dabei freilich die Zeit und Bildung Winckelmanns bedenken, die sich überhaupt gegen christliche
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Ideen unempfänglich zeigte. Er hätte Michelangelo anders beurteilt, wenn er das Alte Testament verstanden hätte; noch galt die Kunst des Mittelalters für Barbarei. Wie Winckelmann den Grundzug der alten Kunst auf das tiefste begriff, so faßte er auch zuerst die Idee der Entwicklung derselben. Zwar die ganze Masse des Erhaltenen in eine Entwicklungsreihe zu bringen, hat er nicht versucht; es ist das auch bis auf den heutigen Tag noch nicht durchgeführt worden. Aber von unvergänglichem Werte ist, was er über den Charakter der verschiedenen Perioden festgesetzt hat. Er unterscheidet deren vier: der erste der altertümliche bis auf Phidias, der zweite dann der große und hohe Stil des Phidias selbst, der dritte der schöne Stil des Praxiteles und Apelles, der vierte endlich der von Alexanders Zeiten ab sinkende. Er hat den ersten trefflich charakterisiert, wie in ihm alle Formen und Stellungen noch hart sind; er hat trefflich nachgewiesen, wie notwendig derselbe war, um freie und fließende Linien entstehen zu lassen. Dennoch kommt derselbe bei ihm nicht ganz zu seinem Rechte. Man kannte eben damals noch sehr wenig Werke desselben, und man urteilte über die ältere italienische Malerei zum Beispiel des Giotto und seiner Schule ganz ähnlich. Daß auch ohne formale Vollendung die gewaltigsten künstlerischen Leistungen möglich seien, sah man noch nicht. Wer aber durch diese harten und steifen Formen hindurchgedrungen ist zu der Seele und Innigkeit, aus der diese Werke, wie noch halb verschlossene Knospen, sich gestalteten: auf den wirkt manche dieser harten Gestalten ergreifender als die elegantesten Kunstwerke späterer Zeit. Was aber dann Winckelmann über den hohen Stil des Phidias und den lieblichen des Praxiteles schreibt, sind Wahrheiten für alle Zeiten und Länder. Eine doppelte Grazie unterscheidet er, die eine die himmlische Venus, die andere die Tochter der Zeit, nur im Gefolge der ersten. Diese läßt sich herab von ihrer Hoheit und stellt sich der Betrachtung dar; jene, in sich selbst gewandt, will gesucht sein und sucht nicht das Auge des Betrachtenden. Es ist im vorigen Jahre eine kleine Statue aufgefunden worden, eine Kopie der berühmten Minerva des Phidias, und wenn man diese mit Winckelmanns Schilderung des hohen Stils vergleicht, fühlt man es recht, wie er mit divinatorischem Geiste ergriff, was uns jetzt die Anschauung bestätigt. In der Zeit, in der Äschylus und Pindar schrieben, in der die Künstler an die Götter glaubten, die sie bildeten, entstanden diese hohen, ernsten und einfachen Götterbilder. Erst als der Gott sein Dasein im Bewußtsein des Künstlers verlor, wurden die Statuen menschlicher, liebenswürdiger und neigten sich freundlich dem Betrachtenden; aber der keusche Ernst des hohen Stils war dahin. Als Winckelmann die Kunstgeschichte schrieb, hatte er sich mit Plato beschäftigt; kein Zweifel, daß er es fühlte, wie fruchtbar der Verkehr mit diesem Geiste auf ihn wirkte. Derselbe ist ihm in der Tat verwandt. Auch Winckelmann neigt sich mehr zu Idealen als zu Ideen, mehr zur Anschauung als zum Begriff. Hierin unterschied er sich scharf von Lessing, der, wie er fern von den Denkmälern der Kunst lebte, mehr auf diskursive Erkenntnis gerichtet war als auf Anschauung. Dieser Drang der Anschauung hat auch seinen großen, edlen, phantasievollen Stil geschaffen. Es ist die Sprache eines begeisterten Gemüts, die dem Höchsten nahekommen möchte mit dem Wort: voll von sprechenden großen Bildern. Dem Meer besonders entlehnt er,
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wie Homer, gern seine Gleichnisse. Jetzt klingt das Archaistische darin doppelt erhaben. Zuweilen erscheinen von ihm selbst geschaffene Worte. So sagt er Gewächs statt Gestalt, um das Organische, von innen heraus Gestaltete am Kunstwerk auszudrücken. Und diese Sprache schrieb ein Mann, der die ganze feurige Jugendzeit in Not, Druck und Stubenleben verbracht hatte. Aber neben diesem wissenschaftlichen Drang geht noch ein anderes persönliches Bedürfnis durch sein ganzes Leben — das nach Hingebung und Freundschaft, und er hat es mit einer Glut empfunden, welche nur die höchste Leidenschaft besitzt. Ihm, in seinem antiken Geiste, galt Freundschaft als die höchste Tugend: nicht die, welche die Christen üben sollen, sondern die nur aus einigen hohen Beispielen des Altertums noch zu uns herüberspricht. Dieses Glück werde aber nur denen zuteil, welche die Philosophie selbstlos und stoisch gemacht. Man muß die Zeit berücksichtigen, in der Winckelmann so schrieb, die erste Begeisterung des neu entdeckten Altertums, den Zustand des Christentums, wie es damals war. Goethe hat eine Schilderung Winckelmanns geschrieben, die, so wahr und schön sie ist, doch in einigen Punkten zum Widerspruch reizt. Zuerst in bezug auf seinen Übertritt. In einigen späteren Briefen hat Winckelmann die Freundschaft als das Motiv derselben bezeichnet; er habe in Rom für einen Freund (Lamprecht) Hilfe und Stellung zu schaffen gehofft. Aber da in den mit dem Übertritt gleichzeitigen Briefen nichts von diesem Motiv vorkommt, darf man es wohl für eine Selbsttäuschung halten: die Sehnsucht nach freiem Studium der Kunst war der entscheidende Beweggrund. Und was machte ihm nun diesen Übertritt so schwer? Wohl nicht, wie Goethe meint, die Rücksicht auf Freunde und Gönner; er fürchtete — dies geht deutlich aus seinen Briefen hervor —, ein Heuchler sein zu müssen. Es ist das ein Grundzug seines Wesens, der im H a ß gegen französische Weise, gegen alle Förmlichkeit, der dann ebenso in seiner Kunstanschauung hervortritt — das Bedürfnis der Offenheit und Wahrheit, ein echt deutscher Zug. Goethe bezeichnet als die Grundzüge seiner antiken Natur „Vertrauen auf sich selbst, Wirken in der Gegenwart, reine Verehrung der Götter als Ahnherren, Bewunderung derselben als Kunstwerke". Aber nicht minder antik als solche Gesinnung ist die Pindars, daß das Leben der Schatten seines Traumes sei, aber wenn gottgegebener Glanz naht, dann ist hohe Helle und liebliches Leben. Die Religion ist das erste gewesen, das zweite erst die Kunst, und die Religion entsprang auch damals nicht aus dem Schönheitssinne. Und so wenig jene Gesinnung ausschließlich das Altertum beherrschte, so wenig auch Winckelmann selbst. Wenn er sein märkisches Gesangbuch kommen ließ und gern zuweilen seine Kirchenlieder sang, so zeigt dies wohl, daß ihm Gott noch etwas mehr war als ein Gegenstand ästhetischen Entzückens. Um es zusammenzufassen: Winckelmann war ein Mann, der die tiefsten sittlichen Bedürfnisse in sich fühlte; in diesen wurzelt seine Schilderung der hohen Grazie. Was der Mensch schön findet, hängt doch von seinem sittlichen Maße ab. Treten Schattenseiten in dieser leidenschaftlichen Natur hervor, so möchte darum doch niemand als Tadler des großen Mannes erscheinen, dessen Werk für das Verständnis der antiken Kunst förderlicher war als irgendeine andere Schrift. Es ist für alle geschrieben und trägt den Charakter jener seiner Geistesart, die am meisten
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liebte, in edelgearteten Jünglingen einen höheren Keim zu beleben, die ihn, wie er selbst sagte, zum geborenen Schulmeister machte. Und die Form dieses Werkes macht es zu einem unvergänglichen Denkmal der deutschen Literatur. Aus ihm mag sich der Dilettant eine Anschauung aneignen, die oberflächlicher Betrachtung entgegengesetzt ist. Nur die niederen Werke kehren wie kleine eitle Menschen ihr Schönstes nach außen. Und selbst ein Winckelmann verstand nicht sofort den Torso des Herkules. Aber er stellte sich Michelangelos Bewunderung des verstümmelten Körpers vor und nach dreimonatigem Nachdenken eröffnete sich ihm das Innerste des Kunstwerks. Wer Ein Kunstwerk mit Ernst und Treue sich zu eigen machte, besitzt mehr, als wer hundert gesehen. Die Künstler aber mögen sich seinen reinen Geschmack bewahren und sein Wort von der edlen Einfachheit der griediischen Kunst beherzigen. Die Gelehrten endlich, indem sie jenen Sinn für das Kleinste nachahmen, der ihm eigen war, mögen bedenken, wie derselbe Mann mit allen Sinnen auf das Größte gerichtet war. Wie der Anblick des weiten Meeres, der die Seele nicht unedel sein läßt, ist ihm der Anblick der Kunstwerke. Eine doppelte Pflicht zu soldier Anschauung der Kunstwerke im großen und ganzen und in idealem Sinne hat unsere Zeit, welche audi auf diesem Gebiete die Stoffülle bedrängt. Sdion in Winckelmanns letzten Jahren begann jene lange Reihe von Entdeckungen, die über ganz Kleinasien sich ausgebreitet hat. Wir würden ihnen ratlos gegenüberstehen, hätte nicht Winckelmann in das Vorhandene Ordnung gebracht und uns gelehrt, ein Gesetz der Entwicklung in diesen Massen zu verfolgen.
Julian Schmidts „Literaturgeschichte" Von Julian Schmidts „Literaturgeschichte" liegt der erste Band einer fünften Auflage vor uns: Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tod. 1. Band: Das klassische Zeitalter (1781—1797). Leipzig 1865. Diese Auflage darf als ein neues Werk betrachtet werden. Denn sie ist unter einem ganz neuen Gesichtspunkt gearbeitet. Unsere älteren Leser erinnern sich der Wirkung, weldie vor etwa zwanzig Jahren die „Grenzboten" von Gustav Freytag und Julian Schmidt übten. Sie kämpften im Vordertreffen einer wichtigen Wendung des deutschen Geistes. Wie sie die neu gefundenen Grundsätze handhabten, verbreiteten sie einen panischen Schrecken in den Kreisen der jungdeutschen Schule und unter den letzten Ausläufern der Romantik. Die Analyse war grausam, mit welcher der Zusammenhang in den Erzählungen der damaligen Romanschriftsteller geprüft, das spezifische Gewicht der Empfindungen in den Versen unserer Lyriker bestimmt wurde. Aber notwendig war, daß das geschah. Unzählige Repliken stürmten damals auf die Dioskuren herein. Der Humor in einigen Erwiderungen Freytags wirkt noch heute, nachdem 17
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diese Streitigkeiten so lange vergessen sind, wirklich erheiternd, und diese Bände der „Grenzboten" werden gewiß einmal für den Literarhistoriker eine lustigere Lektüre sein als die Gedichte und Romane der Zeit, auf welche sich die Kriterien beziehen. Aus diesen Streitigkeiten entsprang damals die „Literaturgeschichte" Julian Schmidts. Sie war ein durch und durch polemisches Buch. Es sprach aus ihr das klare Bewußtsein der ernsten und großen Zukunft, welche dem deutschen Volke bevorstand; nicht unvorbereitet sollte dasselbe über sie hereinbrechen, nicht vage Empfindungen, sondern eine ernste politische Bildung, wie sie insbesondere das historische Studium gibt, sollte sie antreffen. Die Erinnerung daran, wie das Buch hierzu wirksam war, hätte schon für sich Beurteilungen, welche vor wenig Jahren und ganz verspätet hervortraten, einen völlig verschiedenen Ton, einen ganz anderen Gesichtspunkt geben müssen als der ist, durch welchen sie eine Art von Ruf erlangt haben. Es wäre leicht zu zeigen, wie viele von den einzelnen Ausstellungen auf geradezu lächerlichen (wir schreiben das Wort mit Bedacht) Mißverständnissen beruhten. Das Wichtigste ist, daß es höchst unbillig war, das Buch unter einem anderen Gesichtspunkt zu beurteilen als unter welchem es entstanden war und gewirkt hatte — in so weiten Kreisen gewirkt hatte als wenig Schriften dieser Jahrzehnte. Fehlerlos und aus genauer Lektüre alles Erwähnten werden einmal dergleichen Bücher überhaupt nicht geschrieben. Und dieses gerade war aus den Gesichtspunkten der damaligen deutschen Bildung und ihrer Bedürfnisse entworfen, nicht aus denen der Gelehrsamkeit. Eine „Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings Tode" findet heute nichts mehr von jenem Publikum vor, welches sich aus jungdeutschen Romanen und Dramen bildete und lyrische Gedichte bändeweise konsumierte. Der fortgesetzte Kampf gegen die falschen Maximen und Empfindungen jener Zeit wäre überflüssig. Und wir dürfen nicht ohne Stolz hinzufügen, daß das gegenwärtige Publikum nicht nur andere, sondern daß es eben höhere Ansprüche an ein Werk dieser Art macht. Demgemäß hat die neue Auflage sich eine Aufgabe gestellt, wie sie diesen veränderten Bedürfnissen des Publikums entspricht. Sie reproduziert den wesentlichen Inhalt der Bildung unserer klassischen Epoche. Es herrscht in dem Buche ein höchst wohltätiger sachlicher Zug. Die Form der Kunstwerke, die Individualität der Schriftsteller, das Urteil über ihre Denkart — das alles tritt ganz zurück hinter die inhaltreiche Reproduktion der geistigen Welt, welche sich damals bildete und die heute noch Deutschland und seine Bildung beherrscht. Hierdurch unterscheidet sich diese Literaturgeschichte fundamental von allen übrigen. Und darum wird sie dem, der Belehrung über den Inhalt dieser großen Epoche sucht, stets am nützlichsten sein. Die von Gervinus überliefert in großem Stil und mit genialem Blick den historischen Geist dessen, was geschah. Bücher wie die von Gottschall, Hettner bewegen sich in der dünnen Luft von ästhetischem Urteil, Schilderung der Individualitäten. Stoffreiche Mitteilung des Gehaltes unserer Literatur gewähren sie nicht. Der vorliegende Band von Julian Schmidt zeigt den Reichtum unserer klassischen Epoche so deutlich, daß man meint, ihn zusammen-
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zählen, gewissermaßen Gedanke für Gedanke durch die Finger rollen lassen zu können. Für diese Wirkung wird ein Mittel benutzt, welches auch seine Schattenseiten hat. Die wesentlichen Stellen, in welchen die verschiedenen Schriftsteller ihre Denkart aussprechen, werden wörtlich mitgeteilt. Die Vorteile hiervon leuchten unmittelbar ein. Aber man empfindet doch audi sehr stark die Nachteile. Die Einheit eines größer gedachten Zusammenhangs wird zerrissen. Ebenso wird der äußerliche Zusammenhang des Lesens zerschnitten. Stellen, die man an ihrem Orte mit Entzücken lesen würde, müssen da ihren Nachdruck verlieren, wo man schon ungeduldig geworden ist, vom Subjekt des Literarhistorikers zu dem der Schriftsteller jener Tage und wieder zurück sich hin und her werfen zu lassen. Wichtiger noch ist, daß die Form einer Geschichte der einzelnen Schriftsteller, in welcher das Material der Literaturgeschichte überliefert ist und die daher noch in den meisten Literaturgeschichten mitten im Zusammenhang hindurch scheint, in dem vorliegenden Buche völlig aufgehoben ist. „In der Geschichte des geistigen Lebens" — sagt der Autor— „ist es nicht anders als in der policischen Geschichte: auch in jener läßt sich die gegenseitige Beziehung und Wechselwirkung der Helden in Form von Grund und Folge entwickeln. Wenigstens habe ich so empfunden, als ich die geistige Bewegung von den ersten Kämpfen des gesunden Menschenverstandes und des Gefühls gegen den kirchlichen Zunftzwang bis auf unsere Tage in ihrem inneren Zusammenhange zu erforschen mich bemühte. Es schien mir, als ob diese geistigen Kämpfe Deutschlands ein ebenso zusammenhängendes und einheitliches Gemälde bilden als irgendein geistiger Kampf; mit anderen Worten, daß sie sich vollkommen für die Form der Erzählung qualifizieren." Demgemäß erblickt man hier an einzelnen Materien Wirkung und Gegenwirkung der Schriftsteller dergestalt im Spiegel gegeneinander, daß der wesentliche Gehalt der Anschauungen über dieselben hervortritt. Der Autor selber bekennt seinen Eindruck, daß auf diese Weise eine gewisse Unruhe entstehe, da die Aufmerksamkeit zwar im ganzen durdi eine Einheit des Gegenstandes zusammengehalten, doch aber durch den Wechsel der Personen, ja selbst durch ein gelegentliches Abschweifen von dem Gegenstande auf der anderen Seite gar sehr zersplittert wird. Wir finden vornehmlich in zwei Punkten seines Verfahrens den Grund zu der Tatsache, daß diese Unruhe manchmal sich störend aufdrängt. Eine Gruppierung in Kapiteln, welche besondere Überschriften trügen und den Stoff durch allgemeine Gesichtspunkte gliederten, die naturgemäße Form für einen solchen Gegenstand, ist von ihm mit einer Gliederung vertauscht, welche große Abschnitte nur durch Striche trennt, bei kleineren nicht selten anstatt einer durchschlagenden Disposition zufällige erzählende Übergänge gibt. Die treffliche Disposition der Inhaltsangabe ist hier eine ungenügende Aushilfe; wer mag sie immer zwischen den Fingern haben? Zugleich sind viele Daten um der Vollständigkeit willen an Orten gegeben, an welchen sie den Leser zerstreuen, ja sogar stören. Das ist freilich unvermeidlich, wenn man mit der von Julian Schmidt eingeschlagenen Methode Vollständigkeit 17*
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der wesentlichen biographischen Daten verknüpfen will. Aber wozu — bei so vielen sonstigen Hilfsmitteln und besonders bei der Unmöglichkeit, diese Daten an ihrem zufälligen Orte zu suchen — soll eine solche Vollständigkeit dienen? Was wir auch im einzelnen anders wünschten: wir haben doch zugleich den Wunsch, daß diese Manier der Literaturgeschichte jene andere verdrängen möchte, die durch Schilderung, durch ästhetische und biographische Charakteristik, geistreiche Urteile den großen Stoff bequem fassen zu können glaubt und durch die Hettner, Gottschall, Schäfer, Hildebrand zur Herrschaft gelangt ist. Die Literaturgeschichte nahm einst einen großen Anfang, als Gervinus, Danzel, Guhrauer, ernste und energische Köpfe, sie in Angriff nahmen. Seitdem ist sie ins Kraut geschossen. Die synchronistische Form des vorliegenden Buchs, welche es möglich macht, die Bindung einer Zeit nach Grund und Folge darzustellen, enthält den Keim einer strengeren wissenschaftlichen Form. Und der sachliche, realistische, auf den Gehalt gerichtete Sinn kommt den gesunden Interessen des Publikums entgegen. Darum heißen wir das Buch, was wir auch im einzelnen anders wünschen mögen, sehr willkommen.
Der „Quickborn" von Klaus Groth Quickborn. Zweiter Teil: Volksleben Mundart. Leipzig 1871.
in plattdeutscher
Dichtung
ditmarscher
Als Klaus Groth 1858, sechs Jahre nach dem Erscheinen seines ersten „Quickborn", seine „Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch" herausgab, erregte er damit einen lebhaften Streit über die Bedeutung von Dichtungen in Volksmundart. „Der Dialekt", so urteilt Julian Schmidt, in Ubereinstimmung mit einer verbreiteten Ansicht, „hat ein eigenes eng umschriebenes Leben, über das er nicht hinaus kann, ohne geradezu das einzubüßen, was seinen Vorzug ausmacht, die innere Übereinstimmung und sinnliche Unbefangenheit. Was wir Hochdeutschen zu reden wissen, ist das Resultat einer hundertjährigen Kulturgeschichte, der Arbeiten eines Goethe, Kant, Hegel, welche die plattdeutsche Mundart eben nicht durchgemacht hat." Dasselbe Urteil wendet sich sin dem neuesten Bande der „Tagebücher" von Varnhagen herb gegen die Dichtungen von Klaus Groth. Dies abstrakte Urteil hält gegenüber einem gründlicheren Einblick in das Leben und die Menschen dieser Landstriche von Ost- und Nordsee nicht Stich. Mit einem einzigen Behagen, welches keine hochdeutsche Dichtung hervorbrächte, wird hier der Vers in plattdeutscher Sprache vernommen und erinnert. Und wer nur einige Zeit hindurch mit den Menschen der Landstriche lebt, aus denen der frische und lebendige Born dieser Dichtung aufsprang, wird die Empfindung teilen. Ein starkes provinzielles Gesamtleben tritt hier mit eigenartigen Bedürfnissen hervor. Volles Behagen an ausreichendem Besitz, ruhige Selbständigkeit, Gefühl seiner Selbst, eine beinahe störrische Neigung, vom Standpunkte des eigenen praktischen Lebens aus
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die Bildung unserer Nation sich kühl, zweckmäßig und mit einer höchst unbefangenen Sicherheit zurechtzulegen — solche Charakterzüge des Volkes an unseren Küsten schließen es in einer durch seine Stände hindurch wenig gesonderten gemütlichen und geistigen Atmosphäre ab. Soll diese Eigenart sich fühlen, soll sie die eigenen Worte finden, so kann das nur in niederdeutscher Sprache geschehen, in welcher das Eigenste und Sinnigste, das Fröhlichste und Traurigste, was das Leben der Menschen dieser Landstriche umschließt, jederzeit seinen Ausdruck fand. — Hiermit wirkt eine geschichtliche Tatsache zusammen. Diese Sprache war das Einheitsband Dänemark gegenüber; in den Kämpfen, deren Erinnerung dem Holsteiner noch heute, auch gegenüber dem Größten, was nachher geschah, sich immer wieder in den Vordergrund drängt. Es war beinahe eine politische Begebenheit, als der „Quickborn" zuerst erschien und von Bauernhof zu Bauernhof die lebendige Freude an der angefochtenen Landessprache trug. Und damals, als ein edler unvergeßlicher Kreis in Kiel den junger Dichter aus dem Dithmarscher Lande mit Begeisterung aufnahm, erschien derselbe den Patrioten, deren Arbeit ein so wichtiges Glied im Zusammenhang von Deutschlands politischer Wiederherstellung geworden ist, auch darum so willkommen, weil in seinen Liedern und Geschichten das frischquellende Leben niederdeutscher Sprache, welche unverdrängbar unsere Grenzen hütete, sich regte und gestaltete. Andere und bessere Zeiten sind gekommen. Aber jeder, der unserer Nation echtesten Kern erhalten wissen will, muß das freudige Selbstgefühl und die kräftige Eigenart der einzelnen deutschen Landschaften hochhalten. Als neulich Gervinus in der neuen Vorrede seiner „Literaturgeschichte" dem Partikularismus der deutschen Einzelländer eine begeisterte Lobrede hielt, berührte er doch eine uns hochwichtige Aufgabe, deren Gewicht jedes Blatt unserer Literaturgeschichte anschaulich macht, inmitten der fortschreitenden staatlichen Einigung Deutschlands die Sondergestaltung seines Kulturlebens zu erhalten. Ein Volk ohne politische Einheit existiert gar nicht; ohne den Willen derselben verdient es auch nicht zu vegetieren; „wie lange", rief Fichte schmerzlich aus, als auch der Schatten des deutschen Kaisertums geschwunden war, „wie lange wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen oder von ihnen gehört hat?" Aber darin ist unser Leben anders geartet und gewachsen als das unserer Nachbarvölker: vom Rheintal und dem Schwarzwald bis zu den Halligen von Schleswig, welche mit der andrängenden Flut der Nordsee kämpfen, sind sich die deutschen Landschaften der Eigenart ihrer Kultur, der eigenen Farbe, welche Leben, Gemüt und Gedanke unter ihnen haben, freudig bewußt. „Jacob Grimm", so hat neulich Herman Grimm die Denkart des Oheims midi dünkt im eigensten Geiste dieses großen Erforschers unserer deutschen Kultur ausgesprochen, „Jacob Grimm ist niemals Föderalist gewesen. Er hatte stets das Allgemeine im Auge. Partikularist war er, wie wir alle heute es sind und hoffentlich bleiben werden. Das Gefühl, mit dem die Brüder Grimm in allen Wurzeln ihres Daseins im hessischen Boden liegen, kennt jeder, der von ihnen weiß. Möge in allen Hessen niemals diese Liebe verlorengehen und die große Vereinigung, die sich heute vollzieht, all den einzelnen Landschaften Deutschlands zugute kommen, damit niemals wie in Frankreich ein einzelner Punkt in erhöhtem Maße das
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Ganze zu repräsentieren scheine." Hierüber hat wohl jeder seine eigenen Gedanken, der heute nach einem naturgesetzlichen Verhältnis unser wissenschaftliches Leben und unsere Literatur sich immer stärker zentralisieren sieht. Wünsche und Worte wirken leider dem Gesetz der Anziehung, das hier waltet, nicht entgegen. Möchte doch vor allem durch eine weise Politik das Gegengewicht, das in den Einzeluniversitäten liegt, gestärkt werden. Genug, es hat auch heute, da der zweite Band des „Quickborn" erscheint, keine Gefahr, daß die Eigenart deutscher Landschaften sich in unserer Literatur allzu breit mache. Ohne dem Dichter die Bürde einer besonderen Mission auflegen zu wollen, die ihn auf seinem leichten Gang beschweren würde, haben wir unsere Freude an den eigenen Lauten seines Gemütslebens, in welchen die Weise seiner Landschaft und seiner Sprache austönt. Und andererseits hat diese Sprache genug an den Veränderungen im Innenleben unserer Nation teilgenommen, um ein schmiegsamer Ausdruck dessen zu sein, was in ihrem Dichter sich bewegt. Lebt doch ein Dichter überhaupt nicht für ein ideales Publikum ästhetisch Gestimmter. Er lebt, Dolmetscher und Ausleger des Gemütslebens eines Kreises zu sein, damit dieser all das, was in ihm arbeitet, erhöht, bewußt, gesteigert empfinden und wollen lerne. Gewiß ist sein höchstes Glück, wenn etwa im Theater ihm eine jauchzende Menge tiefbewegt zujubelt, weil er aussprach in Gestalten, wofür eine ganze Nation die Worte suchte. Aber wer sollte nicht, da solche Wirkungen einmal selten und heute niemand beschert sind, seine Freude haben an der gesunden Gestalt eines Dichters, der doch in Sprache und Gemüt eins und verwachsen ist mit dem Sonderleben, aus dem er hervorging, der alle Stände eines weiten Landstriches bis zu den einsamen Bauerngehöften der Nordseemarschen unmittelbar in dem Gemeinsamen der Sprache ergreift, erschüttert und ergötzt, der solchergestalt der Dolmetscher eines eigenartigen und reichen, ob auch landschaftlich abgegrenzten Gemütslebens wird! Dies alles ist Klaus Groth zuteil geworden. Seine Gedichte werden gelesen und wieder gelesen. Und sie gewinnen dadurch. Denn in der scheinlosen Schlichtheit der Empfindung, in der Prägnanz, mit welcher sie aus der Anschauung heraustritt, prägen sie sich der Erinnerung ein. Es ist Landescharakter darin. „Uns Land is flack, uns Sprak is platt / Un ernsthaft sind uns Lüden; / To seggn hebbt wie hier wenig hatt / Un öfter vel to striden." Zwei Erzählungen, in Prosa die eine, die andere in Versen, und Gedichte umfaßt die vorliegende Sammlung. Die Erzählung in Prosa ist eine Kaufmannsgeschichte, ein „Soll und Haben" auf dithmarschem Boden. Sie spielt in Heide, dem Hauptort vom Vorderdithmarschen; der Ort liegt unfern von der Küste, in den Marschen selber; aber es ist doch, als wäre in der Ferne das Rauschen der Nordsee zu vernehmen, so fühlt man in den Menschen einen kühneren Zug und weiteren Blick, wie ihn die See gibt. Die Sonderart des Landes und der Menschen spiegeln sich in der Erzählung in schöner Klarheit. „Aewer Ditmarschen weer dat Fröhjahr kam. Dat kumt lat, denn dat hett en wide Reis', ehr dat vunt Süden rop to uns dringt. Dat hett toletz jümmer noch en Sprunk aewer de Elf (Elbe) to maken, dat steit un lurt op günt Sit (jenseits), as wull dat eerst en Tolog nehm. Man hört vertelln von Böm de dar grönt, un Kirschen de dar
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blöht, un bi uns is nach Allens dodensstill. Awer wenn't denn kumt, so kum't ok in en Sprunk. Denn süht man't anne Wulken, denn hört man't annen Wind, denn markt man't annen Eerdgeruch, dat Fröjahr is dar, dat kumt mit Macht." — „Dat sünd de Stimm, de de Summernächten lebenni makt, dat sünd de Lütten vun de Sängers, de nach enge Dag' in jede Heck un Tun er Ropp wis't, de dar hüppt so vertrat, as weern se to Hus, un nicht verreist west, un bald mit ern Gesang de Luft opfüllt so fröhlich, as weer't alle Dag Hochtid un de Jugend weer ewig." — „Sin Ogen gingn aewer dat gröne Land: min Vaderland! dach he, min Moderland! Em full en Leed darbi in, wat he as Kind inne Schol kum ohne Thran harr singn kunnt, an de wehmödige Melodie len sik de Wör as weern't Drapens (Tropfen) ut sin Moder er bleken ogen — „füllen sie mit Erde ihre Hand, und küssen sie, das sei der Dank für deine Sorgfalt, Speis' un Trank', du liebes Vaterland." Wie charakteristisch ist dann das Bild der Heide, weitgedehnt, querdurch eine Allee von Lindenbäumen, an der Seite Windmühlen, die untätig ruhen „disse half lebennige Gebüde". „He kunn sik denken, wa Möller un Möllerknecht oppn Mälnbarg rum fulenzen, inne Feern (in die Ferne) äwert ganze Land Ditmarschen keken, un von Mäl un Möllers sproken, meistens nicht dat Beste, awer mit vael Behagen: gewiß snacken se ok oewer Wind un Wedder, dat se wit hin kunn andüdt (angezeigt) sehn an er Collegen, meist na de Richtung vun de Roden (Flügel), oder na de Segeln un er Gestalt." Mit derselben klaren Anschaulichkeit ist der landschaftliche Charakter der Menschen bezeichnet. So wenn von dem Helden erzählt wird: „Awer Thieß weer een vun disse wunnerlichen Naturn, as wi se hier hebbt, de so to seggn op een Sit hell waken sünd, un op de anner Sit drömt. Un disse Naturn sind hier unse besten." Oder wenn er von einem Pietistenzirkel erzählt: „Man kram jümmer int Hart un de Bost herum un ut dat Innere herut; nich Unwahrheiten un nix Slechts, jo nicht. Awer in unsen Lann is dat so wenig de Art un de Brak, dat dat Thieß as wat ganz Fremdes voerkam muß." Oder wenn er mit Behagen bemerkt: „He weer en Oberdütschen; Barbeer, Raseer un Tänbreker broch unse Land nich hervor." Aber aller Zauber dieser Landschaften ist erst über die Küsten gebreitet, wo die Wellen hier blau und mit leiserem Schlag an den Ostseeufern mit ihren grünen Buchenwäldern anschlagen, dort aber mit mächtigem Drängen den Sand der Nordseedünen treffen. Wie weiß der Dichter die Zauber der Kieler Bucht, an der sein eigenes Haus steht, zu zeigen: „wir sweben as in blaue Luft / Un luter Glanz umher." „Dat weer inn schönsten Julimaand, Dat Schipp dat heet Marie, Wi segeln längs den Ostseestrand, An Feld und Holt verbi, An menni Insel blid (freundlich) un grön, Dar gungn int Gras de Köh, An menni Segel, wit to sehn, As Möven op de See." An der dithmarschen Nordseeküste spielt die Geschichte in Versen „De Heisterkrog". Man wird sie lesen, solange die niederdeutsche Sprache an diesen Küsten
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vernommen wird. Nur in den Versen von Klaus Groth ist ganz die ihm eigentümliche klare und knappe Form, welche aus der Anschauung die Empfindung oder den verallgemeinernden Gedanken blitzartig hervorspringen läßt: seine Prosa hat nicht dasselbe feste Gefüge. Dazu ist diese Geschichte von der einfachsten, schönsten Erfindung. Die melancholische Einsamkeit, die über ihr liegt, wird durch die geringe Zahl der Hauptpersonen und die Unbestimmtheit, in welche alle anderen gerückt sind, erhöht. Diese Wirkung wird, wie mir scheint, nur durch die zu grelle Zeichnung des amerikanischen Farmers beeinträchtigt; überblickt man am Ausgang der Erzählung das Ganze, so will diese Figur, welche ja in die Motivierung wohl eingefügt ist, doch nicht in die Stimmung des Ganzen aufgehen, welche sonst so schön durchgeführt ist. Es ist als wäre die ganze Geschichte die Verkörperung einer landschaftlichen Stimmung. Das glücklose Leben dieser Fremden in dem einsamen Hofe an der See, wie es sich von Tag zu Tag, wie in eintönigem und endlosem Grau, hinspinnt, gleicht der Nordsee in ihrer eintönigen Grenzenlosigkeit an einem sonnenlosen Tage. Wo't rechts bindal (hinab) geit na de nie Krog (dem neuen dem Meere abgewonnenen Lande), Vun Breklum dal, wo man de lüttje K a r k (kleine Kirche) Ganz einsam liggn lett medden op de Heid Ni Busch noch Bom darbi, ni H o f nog Krog (Krug) N a k t is de Mur (Mauer) un kal de Likensteens (Leichensteine) Hoch gegen Heben redet (ragt) de Klockenstohl (Glockenstuhl) Man süht hindaer (hindurch) un sieht de Klocken hangn, As hungn se dar en Spillwark vaer den Wind: Dar trippt (trifft) man, ehr man dal kumt na de Dös' (Niederung) En Stunn Wegs af, man süht de K a r k noch eben, En groten Burhof medden (mitten) as int Gras. De Wischen (Wiesen) ligt derväer un Wischen achter (dahinter) Un oppe Wurth (aus der Erhöhung) de Hauberg (Wohnhaus) un de Schün. En Kluster (Gruppe) hoge Eschen stat der rum, Scharp aewerbögt (übergebogen) un opputz (abgeputzt) vunt Norwest — So tekent (zeichnet) sich dat gegen ' Abendhimmel As en Gewülf (Gewölke), un wid derachter hin, Platt as en Teller, liggt de flacke (flache) Marsch, Bestreut mit Hüser, hier un dar mid Böm, Un an de Kimming (am Horizont), as en blanken Strem (Streifen) Bald grau bald sülwern blinkert dar de See. De Porten (Tür) hangt in grote Grausteensulen (Granitsäulen) D e Wurth is infat (eingefaßt) mit en brede Graft (Graben) De Hunn de bellt — dar flüggt mit Lerm und Schracheln (Kreischen) En Schof (Haufe) vun Heistern (Elstern) ut de Eschenböm: Dats' (das ist) Süderwisch, as't schreben steit (geschrieben steht) int Eedbook Mank Lüden (unter den Leuten dort) awer seggt man Heisterkrog (Elsternkrug).
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D a s ist der S c h a u p l a t z der dithmarsischen T r a g ö d i e . Sie spielt auf einem H o f g u t , d a s noch v o r einem Menschenalter eine jener kahlen u n d weit hingestreckten S a n d flächen w a r — der Watten — welche z u r Zeit der E b b e aus dem M e e r hervortreten, u m in die F l u t wieder unterzutauchen u n d a n deren ungewissen U n t i e f e n die Schiffe zerschellen. E s ist etwas in dem V e r l a u f der Geschichte, als ob der B o d e n sich a u f t ä t e u n d d a s t r u g v o l l e E l e m e n t ihn wieder überflutete. D a s w a r v o r J a h r e n in der Russenzeit, da w a r der K r o g hier (das neu gewonnene L a n d ) eingedeicht unter B r e k l u m . W o u m den H o f jetzt fette Ochsen grasen, der K l e e w o g t , w o S o m m e r w e i z e n steht, so dicht wie Binsen im Mühlenteich und hoch wie Schilfrohr: w a r d a m a l s W a t t e n l a n d . D a s g a b im S o m m e r W e i d e f ü r d i e wenigen Schafe, die w ä h r e n d der F l u t mit dem Schäfer zusammenkrochen a u f dem höchsten Streifen L a n d , w e i t a b v o n Menschen, rings um sie d a s Wasser — noch heißt der Streifen auf der K a r t e „ d e H u n d s k n ü l l " , der H u n d e g r a s p l a t z , doch steht d o r t nun ein Bauernhof beim andern. Doch d a m a l s im Winter, wenn d o r t in Schaum und Schlick die R e g e n p f e i f e r S t i n t fischten, w o S o m m e r s Lerchen gesungen: d a n n tauchten statt der Schafe die glatten K ö p f e v o n Seehunden auf und blickten lauernd, neugierig nach den Menschenkindern herüber. F ü r die Weiber g a b d e r Winter viel zu schwatzen, wenn's düster w u r d e u n d an der K ü s t e die See ins Brausen k a m ; d a n n hörten sie d u m p f e S t i m m e n und Weinen u n d K l a g e n
und
G l o c k e n k l a n g wie bei einem Leichenzug — und hinaus nach B r e k l u m zieht es zu der Kirche. Auch a n d e r e Geschichten gab's, v o n gestrandeten Schiifen u n d versunkenen Menschen und unendlichem Reichtum. „ D o r t lag so mancher Schiffer a u f dem G r u n d , so mancher Reichtum, T h r o n und K r o n e d a m i t zu e r k a u f e n , so mancher a r m e S t r a n d - und Bernsteinsucher, oft ausgegangen mir s o n d e r b a r
grausendem
G e f ü h l , als hätten S t i m m e n ihn gerufen und er müßte — u n d w a r nicht wiederg e k o m m e n zu F r a u und K i n d e r n . D a s B l u t kriecht, sagt m a n , und wer weiß denn, ob es nicht auch S t i m m e n gibt fürs Menschenherz?" „ D o c h w o ein Streifen L a n d e s ist, der so auch dem Wasser reicht, wie hier ,de H u n d s k n ü l l ' früher v o r den Watten, der sich mit G r a s b e w u r z e l t : das sieht kein echter Friese, ohne wenn er da w a n d e r t statt an T o t e und Gespenster an Leben zu denken, an Wirken, an einen grünen K r o g (durch Eindeichung der See abgewonnenes L a n d ) , an Deich u n d D a m m , d e r See das a b z u z w i n g e n , die immer gibt u n d immer wieder n i m m t . " „ E r schläft, w o früher w i l d die Wogen gingen u n d Schiffe drüber weg mit vollen S e g e l n . " S o w u r d e d a s L a n d des Elsterkrugs gewonnen. U n d als der Deich die P r o b e bestanden in Wintersturm u n d E i s g a n g , als d a n n der neue „ K r o g " z u K a u f s t a n d : kamen Fremde, H o l l ä n d e r , k a u f t e n , und ein mächtiger H o f , der „ H e i s t e r k r o g " , erhob sich. „ D a wuchs ein J u n g e auf dem H e i s t e r k r u g e a u f , ein einziger S o h n — J o h a n n v o n H a r l e m w a r d a s . " E s ist das Schicksal v o n F r e m d e n , schwerer noch als andersw o in einem B a u e r n l a n d e hier unter diesen u n a b h ä n g i g e n H o f b a u e r n an
der
N o r d s e e zu bezwingen, w a s sich nun abspielt mit dem stolz in sich Zurückgewiesenen. D a s eine, w a s ihn treibt, a u f der See den ungestümen Sinn z u bändigen, weigert der Alte. „ E r kennt die See, die a n den F l a n k e n schäumt, ihm hat d e r
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Sturmwind um die Schläfen geweht — er hat den Deich gemacht, meint er, für seinen Sohn." Aber eine Frau kommt für ihn aus Holland: „nicht gar zu jung, so sagt man, nicht grade schön und auch nicht grade reich, ein wenig aus der Verwandtschaft— Hochzeit wurde gehalten mit großem Aufwand, mit Kutschenfahren, Braten, Wein und Backwerk — still war's geworden, gesäet war die Saat, gemäht die reifen Ähren, aber es kam keine Kindtaufe ins Haus — einmal ein Sarg mit Silberbeschlag, für den Alten. Doch waren die roten Kühe glatt wie immer, die Wiesen grün, und droben aus den Eschen kreischten noch die Elstern wie ehedem." „Er war's zufrieden, wenn seine bleiche Frau was andres vor hatt' als aus dem Fenster blicken, die Hand im Schoß, die Augen in den Wolken, den Mund geduldig, doch im Herzen die Sehnsucht!" Mitleiden ist ein sonderbares Band Man kann's für Liebe nehmen, kennt man Liebe nicht. So stark ist es. Es schnitt ihm in die Seele, Es anzusehn, wie sie verwelkt und hinsiecht, Er mocht' nicht bei ihr sein, nicht von ihr gehn — N u r zwei Bilder mögen aus der Geschichte der auf solchem Hintergrunde nun hervortretenden Liebe zwischen dem Fremden auf dem Elsternkrug, Jan Harlem, und Maria, der Webertochter, hier noch stehen. Der Dichter verzeihe den Versuch der Übertragung. Man kann vernehmen, zwischen Traum und Wachen, Das dringt bis in die tiefste Seele ein, Doch ob es Freud ob Schrecken, weiß man nicht, Man hört als horche man auf Glockenklang: Das kann Gefahr bedeuten oder Fest, Das kann zu Grabe oder Hochzeit läuten. Ja, wenn man aufwacht! Doch man scheut Erwachen — Was es bedeute auch: der Klang ist wunderbar! — So hört Maria, wenn Jan Harlem sprach. Die Flut die kam und spielt' ihr um die Füße, Lief über'n Sand, so wie sich Decken breiten Und klinget an, als küßt sie Land und Strand. Der Mond, der glänzt darüber hin und her, Als spült' er reines Gold ihr vor die Füße. Warf seinen langen Schein die See hinaus — Da zog ein Segel langsam durch den Schein: War nicht das Leben so und zog vorüber? Was ist denn Glück als Mondschein auf der See, Und Unglück anders als das Glück in Schatten? Dann der Moment, bevor alles in Schuld und Unglück unterging. Und später war's im Jahr, Micheli war's. Johann muß zu dem Markt, er hat zu tun.
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Er hat die Rappen vor. — Das war ein Tag Voll Sonnenschein und Wehmut, wie sie selten. Wenn man hinaufhorcht in die stille Luft, So kam dann sacht und leise, wie ein Atem, Die Geest herüber, Breklum dann hinab Ein Ton, als käm's von Menschen oder Vieh Von Glocken oder Orgel und Musik. Das zog, als wehte Frühlingswind dich an, Bis an das Herz, das einsam klopft und bangt Nach Glück und Freude, hellen Menschenstimmen. Er horcht und hört's, als käme seine Jugend Noch einmal wieder, und er könnt' noch einmal Mit aller Lust das Leben neu beginnen. J a damals! War der Ton nicht, den er hört, Als lockt ihn etwas, und er müßte weiter? Und nun? D a kam Maria längs der Diele, Ihm Lebewohl zu sagen für den Tag. Sie kam gleichwie das Glück in Jugendzeit, Von dem er träumte, ohne sich's zu sagen. Nun wußt er, wär' es kommen in Person Wonach er ausging damals, unbewußt — So wäre es gewesen. Die Katastrophe bricht herein, als ob aus der trügerischen und öden Ruhe die elementaren Gewalten sich erhöben und die Nordsee aufrauschte, ihr Opfer zu fordern. Wenn die letzten Seiten der Geschichte gelesen sind und wir die Augen schließen, sehen wir nichts mehr vor uns als das ewige Meer selber, das zürnend an den Dämmen braust, wie von alters, und über ihm auf seinem H o f e den einsamen Mann, dessen ungestümer Wille den Krieg der Jahrtausende mit dem furchtbaren Element weiterkämpft.
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Die Raffael-Biographie von Herman Grimm Herman Grimm, Das Leben des Raffael von Urbino. Italienischer Text von Vasari. Übersetzung und Kommentar von Herman Grimm. 1. Teil, Berlin 1872. Der Verfasser der Biographie Michelangelos beginnt in diesem Bande das Leben von Michelangelos großem Zeitgenossen Raffael zu schreiben, dessen Entwicklungsgeschichte uns vergönnt ist mit einer Genauigkeit verfolgen zu können wie die keines anderen älteren Künstlers. Daher hier, was Grimm in jenem früheren Werk nicht möglich war, der Versuch gemacht werden durfte, in das Geheimnis von Raffael künstlerischem Schaffen selber zu blicken. Wo der Biographie so möglich wird, die Erforschung der Wechselwirkung eines großen Individuums mit seinen Vorgängern und Zeitgenossen als Problem zu stellen: da ist sie an Bedeutung jeder anderen größeren historischen Aufgabe gleich; da arbeitet sie durch die Einzeldarstellung jedesmal an der fortschreitenden Lösung einer der ersten und allgemeinsten Fragen der Geschichte: der Stellung der produktiven Individuen zu dem Volksgeiste, welchem sie angehören, der Zeit, in der sie emporkommen, der voraufgegangenen Reihenfolge von Geschlechtern und Leistungen, welche die Grundlage ihrer Arbeit bilden. Die Geschichte der italienischen Malerei in der Zeit der Renaissance arbeitet sich aus denselben Schwierigkeiten durch dieselben Methoden zu wissenschaftlicher Behandlung empor als die meisten Teile der politischen Geschichte. Die wissenschaftliche Behandlung beginnt, wo die vorhandenen erzählenden Aufzeichnungen der Kontrolle der Urkunden selber unterworfen werden, ihr Wert durch diese Untersuchung bestimmt und der Vorgang selber neu aufgebaut wird. Lange hatten Vasaris Lebensgeschichten der Künstler eine unbestrittene Autorität genossen. Hatte doch Vasari, als ein jüngerer Zeitgenosse und Schüler Michelangelos, aus dem lebendigen Quell zeitgenössischer Uberlieferung schöpfen dürfen, und, als einer der feinsten Kunstkenner aller Zeiten, selber ein gewandter vielgeltender Künstler, die Mittel besessen, diese Überlieferung zu sichten und zu verwerten. Rumohr in seinen herrlichen „Italienischen Forschungen", die seit 1827 hervortraten, unternahm, Vasari an dem urkundlichen Material selber zu erproben und die italienische Kunstgeschichte in musterhaften Einzeluntersuchungen auf urkundliche Forschung und örtliche Beobachtungen zu begründen. Ihm verdanken wir auch ein „Leben Raffaels"; in prägnanter Kürze sind hier auf wenige Bogen die reichen Untersuchungen vieler Jahre zusammengedrängt; in der gediegenen, gemessenen Kraft der Darstellung stehen diese Arbeiten auf ihrem Gebiet einzig da, zu vergleichen etwa mit den historischen Arbeiten von Clausewitz auf dem Gebiet der militärischen Geschichte. Nur wenn der Geschichtsschreiber die Begebenheiten inhaltlich durchdringt und beherrscht, wenn ein Soldat eine Kriegsgeschichte, ein Staatsmann politische Geschichte, jemand, der sein Leben unter Gemälden verbracht hat, Geschichte der Malerei schreibt, entsteht die ruhige Reife der Darstellung,
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welche in der historischen Wissenschaft so selten ist. Von da ab wurde mit wechselndem Glück dieser Weg verfolgt; die italienischen Archive wurden nach Briefen, Vertragsurkunden und Notizen durchforscht, Handzeichnungen und Kartons wurden mit den vollendeten Arbeiten der großen Künstler verglichen, und das große Werk des Engländers Crowe und des Italieners Cavalcaselle in englischer Sprache verspricht eine feste Grundlage unserer heutigen Kenntnis italienischer Malerei zu werden; gingen doch die beiden Verfasser davon aus, Vasari, dessen unkritische Arbeit uns nicht mehr genügen konnte, zu ersetzen, für den heutigen Standpunkt der historischen Wissenschaften zu leisten, was für seine Zeitgenossen einst Vasari geleistet hatte. Ihr Werk reicht bis auf Raffael Sanzio. Herman Grimm übernimmt es so, den wichtigsten und glänzendsten Teil der Geschichte italienischer Malerei, die Arbeiten Raffaels, gleichzeitig mit diesen beiden Forschern, man möchte sagen im Wettkampf mit ihnen, zu untersuchen. Sein auch an anderen Zweigen der Geschichte geübter kulturhistorischer Blick, eine Fähigkeit ersten Ranges, das Individuelle in Personen und Dingen aufzufassen, methodisch geschulter Scharfsinn und seltener Glanz der Darstellung geben Grimm volles Recht, mit seinem Werke neben den beiden hervorragenden Forschern herauszutreten. Der Aufzeichnungen aus dem Leben Raffaels von solchen, welche ihm der Zeit nach nahestanden, sind wenige und wenig zuverlässige. Es ist zunächst die kleine Biographie Giovios, welcher schon an ihm heraushebt „eine wunderbare gelind sich anschmiegende Kraft, aufzunehmen, verbunden mit schöpferischer Begabung", eine nie versagende Liebeswürdigkeit, weldie ihn zum Genossen der Großen machte, daraus entspringend, daß ihm nie die glänzendsten Gelegenheiten fehlten, seine Kunst zu zeigen, in seinen Werken endlich Vornehmheit, Anmut und lebendigster Reiz. Alsdann ein Brief des Celio Caccagnini; dieser schildert ihn, wie er ohne allen Hochmut auch im Gespräch nur zu lernen bestrebt sei; zu lernen und zu lehren betrachte er als das höchste Gut des Daseins; schönste Herzensgüte findet er an ihm ebenso hervorragend als seinen Künstlergenius. Man bemerkt, wie Vasari dasselbe an Raffael preist; „mit ihm beschenkte die Natur die Welt, als sie, besiegt von der Kunst durch die Hand Michelangelo Buonarottis in Raffael von der Persönlichkeit des Künstlers und von der Kunst zugleich besiegt sein wollte". So überwältigend muß der Eindruck der Verbindung von reinster Herzensgüte, vornehmer Schönheit und Grazie in der Erscheinung Raffaels gewesen sein. Das etwa ist, was wir von glaubwürdigen zeitgenössischen Erzählungen besitzen. Kein Denkmal dieser hinreißenden Erscheinung ist uns übriggeblieben wie wir in dem Manuskript des Miniaturmalers Francesco d'Ollanda ein solches über Michelangelos Gespräch und sein Verhältnis zu der edlen Vittoria Colonna besitzen. Es müßte uns denn noch irgendein glücklicher Fund vorbehalten sein. Vasari schrieb beinahe dreißig Jahre nach Raffaels Tode; er baute aus dem genauen Verzeichnis aller ihm zugänglichen Werke Raffaels, ihrer Zeiten und Standorte, und aus dem, was ihm Überlieferungen und Anekdoten von Raffaels Werken gewährten, beinahe mit der Freiheit des Novellisten sein „Leben Raffaels" auf: seine Zeit, wie er selber, forderten nicht genaue Wahrhaftigkeit, sondern An-
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schaulichkeit und lebendige Wirkung auf die Künstler. Unter seinen Quellen erwähnt Vasari „Schriften des Raffael von Urbino"; doch ist bisher unausgemittelt, was er darunter verstand. Spärlich sind auch die schriftlichen Urkunden, die Raffaels Leben beleuchten. Eine nicht große Anzahl von Briefen, die berühmten fünf Sonette, welche auf Studienblättern zur Disputa hingeworfen sind, und einige Urkunden, welche Daten seines Lebens und seiner Arbeiten feststellen. In desto herrlicherer Fülle fließen diejenigen Urkunden, welche sein eigenstes Leben aussprechen und in das innerste Geheimnis seines Schaffens blicken lassen: seine Handzeichnungen. Auch die größten Sammler von Handzeichnungen und Stichen im vorigen Jahrhundert, wie Mariette, so emsige Reisende wie die Richardson konnten zu keinem methodischen Studium gelangen. Erst die Photographie hat dem Kunsthistoriker ermöglicht, das gesamte Material für die Behandlung einer Frage auf einen Punkt zu konzentrieren, frei in demselben zu schalten. Es war das Verdienst des Prinzgemahls von England, in ganz Europa Photographien der Blätter Raffaels hervorzurufen, zu sammeln, die billige Verbreitung zu fördern. Und so ist ein Material nunmehr zugänglich, welches für Raffaels wichtigste Werke uns die ersten Entwürfe und die ganze Reihenfolge ihrer Umgestaltungen, gewissermaßen die Metamorphosen seiner schöpferischen Ideen konstatieren läßt. Solcher Natur ist das Material, mit welchem der neue Biograph Raffaels arbeitet. Indem man seine Verwertung überblickt, wünschte man vielleicht die Kritik Vasaris, d.h. die Untersuchung seiner Glaubwürdigkeit durch Analyse seiner Quellen, des Standpunktes, unter dem und der Methode, mit welcher er sie benützte, genereller geführt oder vielmehr — denn daß Grimms Umsicht sie so führte, bezweifeln wir nicht — audi in diesem Umfang vorgelegt. Unter den Fragen, die wir in dieser Beziehung an den Verfasser zu richten hätten, heben wir die folgende heraus: gibt eine generelle Untersuchung von Vasaris Stellung zu der kirchlichen Restauration nicht einen Erklärungsgrund für seine seltsame Auslegung der „Schule von Athen"? Die merkwürdigen Äußerungen über Leonardos Mangel an Christentum, Pietro Peruginos Atheismus sollten dies vermuten lassen. Andererseits hätten wir gewünscht, er möchte die Form des Kommentars nicht gewählt haben. Seit Rumohr ist Vasari als Quelle zur Seite geschoben und die Aufgabe eines von ihm unabhängigen Aufbaues gestellt. Grimm nimmt diese hervorragende Aufgabe auf, und er ist ganz der Mann, sie zu lösen. Hätte er sie nicht einfacher und reiner in der Form gelöst, welche er seinem „Leben Michelangelos" so glücklich gegeben hatte? Für die Darlegung des urkundlichen Materials, wie die Arbeiten Raffaels selber es vor allem bilden, ist genaueste Vollständigkeit und Übersichtlichkeit die unnachläßliche Forderung, für die darauf gebaute Erzählung übersichtliche Folge. Die Form eines Kommentars zu Vasari hindert, indem sie den folgerichtigen Zusammenhang zerpflückt. Doch kann und darf hier nur ein vorläufiges Bedenken geäußert werden. Ein solcher Künstler der Darstellung wie Grimm hat sicher einen tiefdurchdachten Grund für diese Wahl, und erst wenn der Zusammenhang dieser Erklärung Vasaris und der im nächsten Bande den Abschluß bildenden Biographie vorliegt, wird die Anordnung des gewaltigen Stoffes sich endgültig beurteilen lassen.
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Karfreitag 1483, abends neun Uhr, ist Raffael Sanzio zu Urbino geboren. Sein Vater war ein sehr mittelmäßiger Maler. Alles, was Vasari von seinem Helden bis zu dem Punkte berichtet, an welchem wir ihn siebzehnjährig, 1500, in das Atelier des Pietro Perugino getreten finden, ist nach Grimms Nachweisen Legende. Was Vasari weiter über den Wechsel der Aufenthaltsorte Raffaels in den folgenden Jahren berichtet, beruht nach Grimms scharfsinniger Darlegung auf zu raschen Schlüssen Vasaris. Sicher ist nur, daß Raffael, der in Perugia als erster Meister der Stadt sich allmählich eine feste Stellung errungen hatte, anfangs 1506 seine begonnenen Arbeiteil abbrach und sich in Florenz niederließ. Raffael arbeitete während dieser Zeit bis 1506 bekanntlich gänzlich in der Manier des Pietro Perugino. Das Atelier dieses Malers, welcher damals bereits von einem großen Künstler zum glücklichen Unternehmer malerischer Arbeiten herabgesunken war, lieferte feststehende Formen; es waren in ihm Muster für jede Fußstellung, jede Fingerbewegung vorhanden; und audi ein außerordentliches Talent war in dieser Schule in Gefahr, in Routine unterzugehen. Hier ist für Raffael bezeichnend, daß ihn die Studienblätter, wie sie schon für die ganz in Pietros Manier gearbeitete „Himmelfahrt Maria", etwa von 1502, vorhanden sind, mit der größten Gewissenhaftigkeit beschäftigt zeigen, gleichsam für sein eigenes Bewußtsein das mit voller Klarheit aus der Natur selber zu gewinnen, was die Vorbilder seiner Schule ihm fertig von außen boten. Aus demselben Jahre 1502 sind dann seine Fresken in der Dombibliothek zu Siena. Hier arbeitete Raffael gemeinsam mit dem zwanzig Jahre älteren Pinturicchio, erwies sich ihm aber schon völlig überlegen. Dies erscheint am deutlichsten in den Handzeichnungen Raffaels. Indem Grimm sie hinzuzieht, beweist er, daß an der Ausführung selber Raffaels Anteil ein geringerer war, als bisher angenommen wurde. Damals zeichnete Raffael auch die in der Bibliothek vorhandene antike Marmorgruppe der drei Grazien. Sie ist das erste Zeichen seines für das Verständnis seiner Kunstweise überaus wichtigen Studiums an der Antike. Grimm bemerkt, er sei sichtlich bemüht gewesen, die Gruppe recht gewissenhaft wiederzugeben, desto bezeichnender sei die Umwandlung derselben in die Formen Peruginos dafür, daß er nur gewissermaßen durch dessen Augen die Dinge erblickte. Vielleicht ist hier doch hervorzuheben, daß nicht gewissenhafte Wiedergabe in unserem Sinne, sondern Aufzeichnung zum Zweck der Benutzung die Absicht solcher Blätter damals war; so erklärt sich einfacher die Behandlung des Vorbildes. Schon 1504, in seinem einundzwanzigsten Jahre, malte Raffael das weltberühmte Spolasizio, die Vermählung von Maria und Joseph, welche man heute in Mailand findet. Auch hier schließt sich die Anordnung der Figuren noch so an Pietro Perugino, daß man das Gemälde für eine Kopie des in Caen befindlichen Sposalizio von Pietro halten konnte. Und doch sagt Grimm mit Recht, „das Sposalizio ist durch und durch peruginesk. Perugino aber hätte keine der Figuren damit zustande gebracht. Wie wäre er vermögend gewesen, diese Maria zu malen, die wie eine zarte Wiesenblume ihr Köpfchen leise vorneigt, während Joseph ein reizendes Abbild männlicher Bescheidenheit ist, erhaben über all die jüngeren Leute um ihn her, welche die trockenen Stäbe zerbrechen."
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1506, im dreiundzwanzigsten
J a h r e seines Lebens verließ
Raphael
Perugia, wo er inzwischen der erste und berühmteste Meister geworden war, und begab sich nach Florenz. Grimm weist überwiegend nach, daß er sein Atelier in Perugia beibehielt. E r widerlegt ebenso überzeugend die Annahme, der R u f der Gemälde Michelangelos und Leonardos habe ihn nach Florenz geführt. H i e r nun, unter der Einwirkung einer hohen Blüte der Kunst in Florenz begann, was Vasari, offenbar der herrschenden Einsicht der Künstler folgend, Raffaels „zweite und viel bessere Manier" nennt. Das hervorragendste Denkmal dieser neuen Manier und der Florentiner Epoche Raffaels ist die „Grablegung Christi", welche für die Nonnen des Klosters San Francesco in Perugia gemalt wurde. H i e r ist jeder Anklang an Perugino ausgetilgt und eine neue Technik, die Gestalten herauszubilden, gewonnen: aus der strengen Durcharbeitung jeder Gestalt im Nackten entspringt schließlich die Gruppierung der bekleideten Figuren. Die Grablegung ist die erste Komposition Raffaels, der man sogleich ansieht, daß alle Figuren nach dem Nackten durchgebildet sind, während man bei seinen Gestalten bis dahin oft genug die Empfindung hat, es sei nach Peruginos bequemer Manier das an nackten oder unverhüllten Gliedmaßen Sichtbare: Hände, Füße, H a l s oder Arme, eben so weit, als es zum Vorschein kommen sollte, nach der N a t u r studiert worden, ohne daß man sich um die unter den Falten liegenden Glieder kümmerte. Es ist nun Grimm gelungen, von der ersten Konzeption ab die ganze Genesis dieses Gemäldes festzustellen. Ich halte dies für das wichtigste Ergebnis des vorliegenden ersten Bandes. D i e entscheidende Eigentümlichkeit des Gemäldes liegt in der Art, wie mit sichtlicher körperlicher Anstrengung der Leichnam Christi fortbewegt wird; dies ist mit einer A r t von H ä r t e in den Vordergrund gestellt, während die Gestalten, welche T r ä g e r der Empfindungen sind, den Hintergrund bilden. Jeder wird Grimms Gefühl teilen, daß kaum rein aus Raffaels eigenem Geiste, wie er sich bis dahin entwickelt hatte, ein solches Gemälde entsprungen wäre. I n O x f o r d unter den zur Grablegung gehörigen Federzeichnungen findet sich ein B l a t t Raffaels, das unter dem Namen „Tod des Adonis" geht: D e r nackte Körper eines Toten von nackten Gestalten fortgeschleppt. Dies B l a t t kann zurückgeführt werden auf ein antikes Basrelief im Museum des Capitols, welches wohl als „Tod des Meleager" bezeichnet wird. I n der Beziehung dieser B l ä t t e r aufeinander und auf die Grablegung liegt der Ausgangspunkt der schönen Darlegung Grimms. Raffael hat das griechische Basrelief, eine ihm ähnliche Darstellung oder eine Abbildung desselben gesehen. Hiernach hat er den ersten Gedanken seiner Grablegung gefaßt und ihn allmählich zu dem gestaltet, was dann in einer Zeichnung zu Florenz als vorläufiger Abschluß seiner Komposition heraustritt. U n d bezeichnend für seine Unermüdlichkeit, er kehrte dann wieder zu dem Basrelief zurück und entnahm ihm neue Züge zu einer Umbildung, aus welcher endlich das Gemälde in seiner jetzigen Gestalt hervorging. Dies muß bei Grimm selber nachgelesen werden, welcher von Handzeichnung zu Handzeichnung leitet und hier einen tiefen Einbilde in das Geheimnis der schöpferischen
Phantasie
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Raffaels eröffnet. „Man glaubt", bemerkt Grimm, „in die Werkstätte der schaffenden N a t u r selber zu blicken, wenn man, die Grablegung betrachtend, die, als fertiges Gemälde, von Anfang an rein und wie aus einem einzigen Gedanken entsprungen dasteht, die sich ohne Mühe aus sich selber entfaltete, wie die Teile einer Blüte auseinanderrollen im Frühling, sie aus all ihren Elementen herauswachsen sieht. Aus solcher Verwirrung entstand solche Einheit, aus solchem Schwanken und Wählen solches Gefühl der Festigkeit, als sei es unmöglich, daß an die Stelle einer dieser letzten Figuren jemals eine andere vom Meister hätte gedacht werden können." Diese Komposition bezeichnet einen Fortschritt in der Entwicklung der italienischen Malerei überhaupt. Grimm hat mit gewichtigen Gründen abgewiesen, daß die Kartons von Michelangelo hier von Einfluß gewesen, wie dies Vasari behauptet. Leonardo und Fra Bartolommeo wirkten auf ihn. Mantegnas „Grablegung" stand ihm vor Augen: in denen, welche den Leichnam umgeben, alle Ausdrucksweise heftigsten Schmerzes bis zu dem verzweifelten Aufschrei der über den Leichnam gebeugten Maria, dazwischen der Leichnam selber mit dem Ausdruck starrer Ruhe. Wie anders f a ß t nun Raffael aber die Szene. „Der tiefe Jammer", so schildert Grimm treffend, „und die Verzweiflung sind von ihm gedämpft und in den Hintergrund des Gemäldes gedrängt worden. Maria sehen wir entfernt vom Leichnam ihres Sohnes mit geschlossenen Augen zusammensinken. Die beiden Träger scheinen in einem Gefühl des Erhobenseins mit ihrer Last einherzuschreiten, wie, man verzeihe das Beispiel, edle Tiere mit Stolz einen edlen Ritter tragen. Und Christus selber: Milde und Ruhe und Schönheit scheinen erst jetzt in vollstem Maße in ihm zu wohnen, als schwebte sein Geist um seinen Leichnam und verklärte die Spuren des Leidens mit himmlischem Glänze. Das ist was Raffael unter seinen Zeitgenossen als mit göttlicher Kraft begabt dastehen ließ. Keiner vor ihm und nach ihm hat den Abglanz himmlichen Lichtes auf irdischen Formen zu malen verstanden wie er." 1507 begab sich Raffael nach Rom. Abermals scheint er zunächst seine Tätigkeit zwischen beiden Orten geteilt zu haben und nur allmählich in Rom dann festgewachsen zu sein. Es begann die dritte und größte Epoche seiner Kunst. Der große Papst Julius II. übertrug ihm, den Saal, in welchem er unterzeichnete, die Camera de la Segnatura, zu malen. In allen Blütezeiten der Kunst scheint dasselbe Gesetz zu walten. Langsamer Fortgang unter immer neuen Hemmungen, dann plötzlich sdieint im Zusammenwirken der größten Genies in wenigen Jahren alles auf diesem Gebiete Mögliche erschöpft zu werden. Es ist wie in der N a t u r , auf langsames Wachstum eine Blüte kurzer Dauer folgt. So sind es wenige Jahre, in denen sich damals, was Vasari und Rumohr den großen malerischen Stil nannten, entwickelt. Diese wenigen Jahre enthalten das interessanteste Problem der neueren Geschichte der bildenden Künste. Wie in ihnen Leonardo, Michelangelo und Raffael einander in ihren Fortschritten bedingten, war von Vasari ab für die Kunstkenner das fesselndste der Probleme. Die Stellung der beiden großen Päpste zu dieser Entwicklung hat schon Rumohr so ausgesprochen, daß alle späteren nur näher schildern konnten. „Den großartigen Ansichten, dem standhaften kräftigen Willen Julius' II. verdanken die bewundertsten Werke der neuen Kunst, die vatikanischen Stanzen, die Sixtinische Kapelle ihre 18
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Entstehung. Freilich besaß er wenig gelehrte Bildung, allein Genialität und Energie des Willens brachte dafür in sein Verhältnis zu Raffael, zu Buonarotti die Voraussicht dessen, was ihrem Talent erreichbar, Glauben an die Möglichkeit des noch Unerprobten, Mut zu den größten Unternehmungen, endlich die Kraft, vor Zersplitterungen sich zu bewahren, welche für das Große schwachen Charakteren die Mittel entziehen. Hiergegen war der Günstling der Literaturgeschichte, Leo X., zwar ein vielseitig gebildeter Herr, allein weder gleich jenem ein politischer noch überhaupt ein Charakter. Die Zersplitterung seiner Teilnahme mit daraus hervorgehender Vergeudung seiner unermeßlichen Hilfsquellen hinderten ihn, seinen künstlerischen Unternehmungen in der Anlage Großartigkeit, in der Ausführung Nachdruck zu geben." Sebastian del Piombo schreibt 1512 an Michelangelo über ein Gespräch, das er mit Papst Giulio hatte: „und auf unsere gegenseitige Treue! Seine Heiligkeit sagte weiter: Betrachte die Werke Raffaels, welcher, nachdem er die Werke Michelangelos gesehen, sofort die Manier Peruginos verließ und, soviel er konnte, sie an die des Michelangelo anschloß." So sichtbar trat für die Zeitgenossen dies Verhältnis der beiden großen Künstler hervor. Die Handzeichnungen haben nun Grimm gestattet, die Entwicklungsgeschichte der Fresken in der Camera de la Segnatura, mit welchen Raffael begann, so genau zu verfolgen, daß für jedes derselben der Punkt seiner Entwicklung aufgezeigt werden kann, an welchem der Einfluß Michelangelos umgestaltend eingriff. Alle Daten scheinen sich gegenwärtig harmonisch zu der von Grimm entwickelten Ansicht zusammenzufügen. In seiner lebendigen Darstellung sieht man Raffael an den ersten Entwürfen der „Disputa", der „Schule von Athen", des „Parnasses" stets neu bemüht; vergeblich sucht er und wendet seine Entwürfe immer wieder unter dem Einfluß der alten Vorbilder, die für solche Aufgaben nicht zureichen; noch vermochte er nicht seine Wände perspektivisch zu bewältigen; er ist zunächst bemüht, die Figuren nebeneinander auszubreiten: da sieht er Michelangelos Decke. Zwei Dinge standen vor ihm: ein ungeheurer Raum, in architektonischer Beziehung völlig beherrscht, während er selber seiner dagegen winzigen Wände in der Camera nicht Herr zu werden vermochte; und alsdann, während er sich vergebens abquälte durch Massen und Gruppen zu wirken, hier in der Sixtina die Gewalt einzelner Gestalten, welche in sich selber vollendet dastehen. Der erste der lebenden Kenner griechischer Kunst, Heinrich Brunn in München, hat gezeigt, mit welcher Kunst nunmehr Raffael seinen Stoff perspektivisch gliederte. Nun entstand zum Beispiel die Erhebung der Philosophenreihe auf einen Tempelboden, zu dem Stufen hinanführen. Der Vordergrund seiner Gemälde wird nun, da die zusammenhängenden Gruppen rückwärts geschoben werden, frei für die einzelnen Figuren, welche jetzt durch ihre naturalistische Mächtigkeit eine wunderbare Steigerung in den Gesamteindruck bringen. So ist höchst interessant, daß jener an den Stufen der Treppe vom Beschauer links gelagerte Philosoph — nicht Diogenes —, welcher mit übergeschlagenen Beinen, in Gedanken tief versenkt daliegt, unbekümmert um alles, was ihn umgibt, ein ewiger Ausdruck mächtigster Vertiefung des Gedankens in sich selber, ganz zuletzt in den Entwurf der Schule
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von Athen hineingearbeitet wurde. Jetzt könnte man sich das Werk nicht denken ohne diese gewaltige Gestalt. Eines der interessantesten Probleme, Raffael betreffend, bietet die „Schule von Athen". Grimm hat ihm eine besonders eingehende Untersuchung gewidmet. Doch ist hier einer der Punkte, an welchem wir uns seinen Untersuchungen nicht anschließen können. Grimm hat zuerst den ganzen Verlauf der Tradition an diesem Punkte festgestellt. U n d dieser Verlauf ist in der Tat sehr geeignet, uns in Verlegenheit zu setzen. Wer kennt nicht die erhabene Versammlung in einer Halle klassischen Stils, unter dem Schutze der Götterbilder der Athene und des Apollo, wie sie die Camera de la Segnatura zeigt, als die ideale Repräsentation der Philosophie, die Versammlung der großen wissenschaftlichen Forscher? N u n haben wir die erste U r k u n d e über die Auslegung des Bildes in einem Stich des Agostino Veneziano von 1524, welcher einige wenige Figuren der Gruppe von links enthält. Und hier findet sich in dem Buche des schreibenden Alten, den wir als Pythagoras zu bezeichnen gewohnt sind — eine griechische Stelle neuen Testaments! Ebenso auf der Tafel, welche ein Knabe ihm vorhält. 1550 erscheint Vasaris erste Auflage. Nach ihm ist das Bild „eine Darstellung, wie die Theologen die Philosophie und Astrologie mit der Theologie in Einklang bringen, wo alle Gelehrten der Welt abgebildet sind, welche untereinander in verschiedener Weise ihre Meinung verfechten". Nach ihm sind die Hauptfiguren im linken Vordergrunde Evangelisten, welche von Astrologen die Vorausberechnung von Christi wunderbarem Leben empfangen. Von anderen Figuren überliefert er „Aristoteles und Plato, der eine mit dem ,Timäus' in der H a n d , der andere mit der , E t h i k ' " , Federigo von Mantua, Bramante, Diogenes, Zoroaster, Raffael selber. Das Rätsel wird immer verworrener; im selben Jahre erschien ein Stich des Ganzen von Giorgio Ghist mit folgender dazu gegebener Erklärung: „Paulus zu Athen, von einigen Stoikern und Epikuräern in den Areopag geführt, und mitten darauf stehend, erblickt den Altar mit der Inschrift: Dem unbekannten Gott, und erklärt, wer dieser unbekannte Gott sei." Am Beginn des 17. Jahrhunderts erhalten alsdann die nach Vasari noch als Plato und Aristoteles zu deutenden Figuren Heiligenscheine! Die erste Aufzeichnung der heute herrschenden Auslegung ist in Belloris Beschreibung von 1695; Platner, Passavant und neuerdings Trendelenburg in seiner schönen Deutung der „Schule von Athen" schließen sich ihm an. Das Bild enthalte eine Versammlung der griechischen Philosophen. Schon in einem früheren Aufsatz hat Grimm die Gründe herausgehoben, welche f ü r die erst bezeichneten Ansichten sprechen. Gegenwärtig führt er die Möglichkeit, daß die Evangelisten links, ja daß im Mittelpunkt des Gemäldes Paulus und Petrus ständen, mit Vorliebe weiter aus; am Abschluß seiner Darlegung reiht er sie in seine Annahme über die Entwicklung dieses Gemäldes so ein, daß er die Vermutung ausspricht, nach 1509, unter dem Eindruck Michelangelos, in der Absicht, dem Ganzen Einheit und Bewegung der H a n d l u n g zu verleihen, habe Raffael die Gestalten der zwei Philosophen umgeformt in die des Petrus und Paulus: „nun auch vielleicht erst der Gedanke, die bisherige Bedeutung des Gemäldes: ,Plato und 18*
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Aristoteles' in die .Paulus in Athen' umzuwandeln, weil diese rtlehr dramatische Bewegung gestatten." Inzwischen verzweifelt er daran überhaupt, mit den gegenwärtigen Mitteln einer der Deutungen historische Evidenz zu verschaffen, ja er findet, unser Verständnis dessen, was Raffael gewollt, werde wenig gefördert werden, wenn wir wirklich wüßten, ob das Bild eine Versammlung von Philosophen oder Paulus und Petrus in Athen nebst Evangelisten usw. vorstelle. Ich kann mein Erstaunen gegenüber der letzteren Ansicht nicht lebhaft genug aussprechen. Es wächst gegenüber der Begründung. „Raffael war gleichgültig, ob der Schreibende im Vordergrunde links Pythagoras oder Matthäus sein sollte." Lieber akzeptierte ich den Raffael Passavants als den, von welchem dieser Satz gelten würde. Und wie man in bezug auf die Absicht eines Gemäldes (Verständnis dessen, was Raffael eigentlich gewollt hat) es ziemlich gleichgültig finden kann, ob es diesen oder einen ganz anderen Gegenstand darstelle, verstehe ich nun gar nicht. Schon innerhalb der bescheidenen Bedürfnisse des einfachen Beschauers liegt es, in einem Bilde die Gestalten zu vergleichen mit dem, was sie ausdrücken sollten, und die Tiefe und Mächtigkeit, mit welcher der Gegenstand erschöpft ist, in der Nachbildung zu genießen. Die abstrakte Erwägung von dem damaligen intellektuellen Zustande, welcher die Ideen und Gestalten des Altertums mit den religiösen Ideen verschmolz, kann den wenig trösten, welcher das Bild ansehen und genießen möchte, und den noch weniger, der es zum Verständnis Raffaels und seiner Zeit benützen möchte. Die Frage ist nun, ob wirklich die Gründe für die verschiedenen Ansichten sich so die Waage halten, wie es Grimm erscheint. Schwerlich wird jene alte Überlieferung je einen scharfsinnigeren, beredteren, gründlicheren Verteidiger finden, als sie nun an Grimm erhalten hat. Dennoch bleibt auch nach seiner Darlegung eine Deutung dieser Art schwer denkbar. Grimm meint, daß diese Auslegung durch das so hervorspringende einheitliche Interesse in der ganzen Handlung motiviert werde; in der Tat scheint mir die Tatsache, daß in dem Bilde selber der Tatbestand einer solchen Beziehung der Figuren auf den Mittelpunkt einer Handlung gar nicht vorliegt, die Auslegung zu widerlegen. „Eine Kraft", sagt er, „die in Bewegung setzt und die Achse der Darstellung bildet, muß sich fühlbar machen." Nehmen wir die Auslegung „Paulus in Athen" an: so tritt sie ein. Die Gruppen des Gemäldes selber aber sind eben nur sehr teilweise und alsdann leise und ohne alle heftige Bewegung mit dem Mittelpunkt verbunden. D a ist Sokrates mit den auf ihn lauschenden Philosophen; dicht neben dem angeblichen Paulus stehend, vernehmen sie ihn gar nicht, sondern stehen für sich. Kann es einen stärkeren Beweis geben, daß die beiden mit ihrer Umgebung nur ein idealer Mittelpunkt sind, nicht aber Sprecher vor einer Versammlung? Und steht es auf der anderen Seite der Mittelgruppe etwa anders: sind hier aufmerkende oder erschütterte Zuhörer? Und der Diogenes, vor allem aber die grandiose Philosophengestalt am Fuß der Treppe. Grimm hat recht, es auszusprechen, wie erhaben sie hervortrete. Und gerade diese Gestalt ist gänzlich und aufs tiefste in sich selber und ihre Gedanken versenkt. N i e hätte ein Künstler, wo ein Redner
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zu einer Versammlung einfach spräche, eine solche Gestalt isolieren können. U n d soll man etwa denken, der Epikur oder wer es sonst ist, von Weinlaub heiter umkränzt, fröhlich sinnlichen Antlitzes, schriebe in sein Buch, das ein Knabe spielend hält, die Predigt des heiligen Paulus? Wenn wirklich in dieser Versammlung Paulus redet: so scheinen die meisten dieser Versammelten nicht Philosophen, sondern Taube zu sein. Nein, nicht umsonst ist die Gestalt der Philosophie das Symbol dieser Versammlung, nicht umsonst blicken Apollo und Athene von den Nischen dieses Tempels auf diese Versammlung. Diese Philosophen sind nicht unter dem Eindruck einer Predigt, sind überhaupt ganz sichtlich in ihren Hauptgruppen ideal und durch die Kunst feinster Züge verknüpft, dagegen sicher nicht durch die derbe Aktion einer Bekehrungsrede. Grimm wendet sich in einer, mich dünkt zu weit gehenden Weise gegen Bestimmungen von Personen auf dem Bilde. Und in demselben Atem will er nicht nur die herrliche Gestalt des als Bramante bezeichneten mathematischen Künstlers mit dem Namen des Dionysius Areopagita begaben; der weibliche Kopf am anderen Ende des Bildes soll — Damaris, dessen Genossin sein. „Wir wissen, welche Mühe die Frau auf dem Vordergrund links dicht neben der Gestalt des schreibenden Evangelisten den Erklärern gemacht h a t : hier nun wäre ein N a m e f ü r sie gewonnen." Damaris erscheint als Begleiterin des Dionys in der Apostelgeschichte: es ist kaum glaublich, d a ß ein Maler dies so ausgedrückt hätte, im entgegengesetzten Winkel des Bildes ihren Kopf anzubringen. Und diese Ansicht, welche jedem Teile des Bildes widerspricht, ist nicht einmal durch die Tradition gestützt. Erst gleichzeitig mit Vasari in einem Stich liegt diese Ausdeutung vor: Vasari selber aber sagt: „Aristoteles und Plato, der eine mit dem ,Timäus' in der H a n d , der andere mit der ,Ethik'." Schon daß diese Büchertitel nicht durch Vasari damals vom Bilde selber abgelesen worden wären, wie sie heute sichtbar sind, sondern auf Vasaris Erfindung hin erst in das Gemälde eingetragen, ist schwer zu glauben. Zumal wenn man die hereinbrechende kirchliche Restauration bedenkt, dazu daß die Figuren selber ursprünglich Paulus und Petrus bedeutet hätten: wie soll man sich das recht denken. Überhaupt aber ist ganz wohl verständlich, daß unter dem Einfluß der kirchlichen Restauration ein Stich hervortrat, welcher das Bild in das Kirchliche umdeutete, aber viel weniger, daß in solchen Zeiten das Bild von Vasari in entgegengesetztem Sinne umgedeutet wäre und durch einen Einfall desselben „Timäus" und „Ethik" als die Schriften in den H ä n d e n der beiden Männer bezeichnet worden. Sehr anders steht es um die Frage über die Personen auf dem linken Vordergrunde. Hier liegen Zeugnisse vor, die nicht leicht zu beseitigen sind. Hier bleibt doch f ü r das Bild die Möglichkeit, es in dem bezeichneten Sinne zu verstehen. Hier liegt wirklich eine rein historische Frage vor. Grimm erwähnt einen früheren Entwurf dieser Gruppe, eine Wiener Zeichnung, nach welcher die als Matthäus gedeutete sitzende Gestalt ursprünglich von vier Figuren umgeben dastand, deren Aufmerksamkeit ihr zugewandt war. Dies stimmt weniger mit dem Bilde des Evangelisten, welcher doch am natürlichsten schreibend vorgestellt wird. Auch scheint mir sowohl
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in diesem als in dem Alten, der seinen Aufzeichnungen folgt, die Anstrengung des denkenden Verstandes so mächtig und ganz spezifisch ausgedrückt, jeder Zug religiöser Besinnung so ganz ausgeschlossen, dazu die Beziehung des Arabers auf die Mathematik so schlicht, daß das Bild selber sich sehr vernehmlich erklärt. Hier muß eine Untersuchung der Wiener Zeichnung, andererseits der historischen Tradition wohl schließlich Licht geben. Ein bleibendes Verdienst Grimms in bezug auf die Gemälde der Camera de la Segnatura ist, zu weitgehender Einzeldeutung entgegengetreten zu sein. Hierin hat sich dann auch Springer an ihn angeschlossen; freilich kann ich nicht einsehen, wie Grimm meinen kann: „Springer kritisiert die neueren Darstellungsversuche in meinem Sinne"; denn Springers Aufsatz ist ganz olfenbar (vergleiche S. 147) gegen Grimms Versuch gerichtet, die herrschende Deutung der „Schule von Athen" in den großen Hauptzügen in Zweifel zu stellen. Aber auch solcher Widerspruch im einzelnen spannt nur um so mehr die Erwartung insbesondere auf die Biographie selber, welche den zweiten Band abschließen soll. Dies Werk bedeutet einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis Raffaels. Und Arbeiten Herman Grimms haben jederzeit hinausgehend noch über die hervorragende Förderung der wissenschaftlichen Einsicht, welche sie darbieten, ein sehr starkes Interesse durch den Zauber der edlen Persönlichkeit, welche in ihnen hervortritt. Wir haben heute wenig Schriftsteller in Deutschland in jenem vorzüglichen Sinne, daß bestimmte Ideen, Gesichtspunkte, eine eigene Betrachtungsweise in ihnen durch die Sicherheit der Durchbildung und die Kraft des Stils Einfluß auf die Natiort gewännen: Grimm ist einer der trefflichsten dieser kleinen Zahl.
Β. Dilthey zuzuschreibende Abhandlungen Zur Biographie von Reinhold Lenz O. F. Gruppe, Reinhold
Lenz, Leben und Werke. Berlin 1861.
Wenn ein neues Buch in der Art des vorliegenden erscheint, so pflegen einige Kritiker unabänderlich über das hereinbrechende „alexandrinische Zeitalter" zu klagen. Diese törichte Klage sollte der Veröffentlichung von Briefwechseln und der kritischen Behandlung unserer Dichter gegenüber endlich einmal verstummen. Wenn je ein Zeitalter in neuem lebensfrohen Aufschwung begriffen war, so ist es das unsere. Aber gerade weil eine umfassende, tiefbewegte Periode unseres deutschen Lebens, wenn nicht alle Zeichen trügen, abgelaufen ist, weil wir ebenso über das Epigonentum als über den Kampf gegen dasselbe nun hinaus sind: ziemt es sich, die Denkmale dieser größten Zeit unseres deutschen Lebens seit der Reformation sorgsam zusammenzustellen, solange die Quellen noch so reichhaltig fließen, jetzt ihren Zusammenhang zu erforschen, da noch mitten in der neuen Art zu denken und zu empfinden die letzten und matten Wellenschläge jener älteren zu spüren sind. Mit dieser wachsenden Entfernung wachsen freilich zugleich audi die Ansprüche an sichere Gruppierung, an eine feste Objektivität der Behandlung. Ich wüßte nicht, was jetzt nodi in unsere Behandlung der Poesie des achtzehnten Jahrhunderts Leidenschaft zu bringen vermöchte! So können wir ein Buch über Lenz nur willkommen heißen. Aber es muß uns zugleich auch mit Staunen erfüllen, ein Buch über diesen Mann mit einer Leidenschaft die Sache desselben führen zu sehen, welche, so edel und liebenswürdig sie ist, die Darstellung überschwenglidi und die Resultate höchst unsicher macht. Es war längst überflüssig ausgesprochen, wie mangelhaft die Tiecksche Ausgabe sei; wer jene Periode studierte, mußte zugleich wünschen, Lenz' rätselhafte Entfernung von Weimar, die Ursachen seines Wahnsinns, die Stellung, die Goethe in dieser Tragödie spielte, kennenzulernen. Dazu war vor allem notwendig, dem Nachlaß von Lenz nachzuspüren. Das war in diesem Falle leicht genug. Tieck hatte bekanntlich viel aus diesem in Händen gehabt; Tiecks Papiere waren in Köpkes Hände übergegangen. Von diesem erfuhr denn auch Gruppe, nach seiner Vorrede, was er noch in Händen habe — eine Sammlung Lenzscher Briefe und Konzepte. Wir müssen annehmen, daß, als Gruppe dies erfuhr, sein Buch bereits geschrieben war. Denn Untersuchungen über einen Mann mit allen Künsten kühner Divination anstellen, während einige Minuten von unserem Arbeitszimmer handschriftliches Material, das zum Druck bestimmt ist, liegt, dies überstiege alle Proben
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von deutschem Idealismus, von deutscher Zuversicht auf die Konstruktion a priori, die bis heute vorgekommen sind. Aber dies vorausgesetzt, müssen wir doch beklagen, daß es nicht gelang, beide Unternehmungen in irgendeiner Weise zu verbinden. Es hält schwer, daß der Leser sich für Divinationen interessiere, wenn er den Hintergedanken an jene Papiere nicht loswerden kann. Aber dies möchte sein. Gruppe ist doch von so viel Scharfsinn, von so viel Übung in der philologischen Methode, daß er audi von den gedruckten Werken ausgehend zu bedeutenden Resultaten zu kommen vermochte. Um so interessanter, wenn das handschriftliche Material nachher dieselben bestätigte. Hätte ihm nur nicht diesmal eine eigene Art von Leidenschaft die Feder geführt, deren Grund uns wie gesagt so fernen Zeiten, so fremden Kämpfen gegenüber rätselhaft ist. Sowohl seine Untersuchung über den Konflikt in Lenz' Leben, als die über die historische Stellung seiner Werke erscheint uns dadurch verschoben. Lenz kommt auf seinem abenteuernden Lebensgang im Frühjahr 1776 nach Weimar. Er kommt mit einer natürlich sehr schwärmerischen, aber nach seiner Lage und mehr noch nach seinem Charakter natürlich sehr hoffnungslosen Liebe zu einem Fräulein von Waldner in Weimar. Hier nun kommt es zu einer mysteriösen Szene mit derselben, die Gruppe durch ein seltsames Gedicht, welches er auf sie bezieht, nicht klarer gemacht hat. Fräulein von Waldner und der Hof sind im höchsten Grade verletzt. Goethe, der bis dahin den „täglichen dummen Streich" von Lenz immer wieder abzugleichen gewußt hatte, gerät in starke Aufregung darüber; eine neue „Impertinenz" von Lenz folgt, und er muß Hals über Kopf weg. So schon Dorer. Gruppe will diesen Vorgang erklären. Aber das Mittel, dessen er sich dazu bedient, ist im höchsten Grade unzuverlässig. Er bemerkt, daß die Arbeiten von Lenz, die auf seinen Weimarer Aufenthalt folgen, ein ähnliches Problem behandeln. Diese Bemerkung ist für den Gang der Lenzschen Poesie ohne Frage fruchtbar; sie macht deutlich, wie auf eine mehr objektive Periode infolge jenes Ereignisses eine vorzugsweise subjektive oder, wie wir sie lieber nennen möchten, pathologische folgt. Aber weit weniger ergiebig erscheint sie uns umgekehrt für die Erklärung jenes Faktums. Wenn Gruppe aus jenen Werken auf Erwiderung der Liebe von Seiten des Fräuleins von Waldner schließt, so vergißt er, daß die Phantasie des Dichters ebenso mit seinen Wünschen als mit Tatsachen spielt. Wenn er gar hier überall die Gestalt Goethes in Beziehung zu dieser Tatsache findet, und zwar als des Repräsentanten einer andern Art, es mit Sittlichkeit und Liebe zu nehmen, als sie Lenz gehabt habe: so führt dies in der Anwendung auf jenes Faktum zu einer Lächerlichkeit. Es handelte sich sehr sichtlich in diesem durchaus nicht um große sittliche Tendenzen von Lenz, die das damalige Weimar nicht habe erkennen können, sondern, auch nach aller Wohlwollenden Urteil, um die „dummen" Streiche oder „Impertinenzen" eines Mannes, der schon damals in seiner Eitelkeit und innern Haltlosigkeit überall Anstoß erregte. Es ist daher ein seltsamer Begriff von dem Verhältnis eines Lenz und eines Goethe, wenn Gruppe sagt: „Jene laxe unterhandelnde Moral, der Goethe in Schriften und Leben jener Zeit, namentlich auch in seinem Verhältnis zu Frau von Stein, das Wort redete, diese ist hier mit schnei-
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denden Waffen angegriffen, und sooft man hier und anderswo von leichtsinnigen Verhältnissen, von Freundschaft neben der Liebe, von zweideutigen Zuneigungen in den Werken von Lenz liest, ist man jedesmal versucht, an bestimmte Personen zu denken. U n d in der Tat scheinen diese das selbst auf sich bezogen zu haben, so d a ß es gar nicht einmal eines deutlicheren Pasquills bedurfte. Lenz ist hier wie überall höchst sittlich, sittlicher jedenfalls als seine dichtenden Zeitgenossen." In der Tat, diese „seltsame Komposition von Genie und Kindheit" hätte es sich wohl selbst nie träumen lassen, in solcher Weise mit Goethes großem, geschlossenem, männlichem Willen verglichen zu werden. Hierzu gehört denn notwendig die Vermutung Gruppes, daß Goethe wegen Frau von Stein eine Art Eifersucht gegen Lenz gehabt habe. Es wäre besser gewesen, den romanhaften „Vorgang", um den es sich hier handelt, wenn man ihn nicht kurz durch faktische Mitteilung aufklären kann, seinem Dunkel zu überlassen. H a t t e es aber dieser romanhafte „Vorgang" einmal unserem Literarhistoriker angetan, so möchte man wenigstens Goethe nicht in unsichere Kombinationen mithineingezogen sehen. Was dann seine Werke und deren historische Geltung betrifft, so hat dieselbe unbegreifliche Parteileidenschaft f ü r Lenz, derselbe H a n g zu ungewissen Kombinationen audi den Wert dieser Untersuchungen getrübt. Wir geben zwei Proben seiner Konjekturalkritik. D a gibt es bei Tieck ein Gedicht, aus Lenz' Handschrift herausgegeben: „Lotte am Grabe Werthers". Dieselbe klagt hier sonderbar genug, daß die Angelegenheit wohl besser einen unblutigen Verlauf genommen hätte; „ein allzu zärtlich H e r z verlangte Albert nicht, gern hätt es eingestimmt zu der geliebten Pflicht, dem unglückseligen Freund ein'n Hoffnungsblick zu geben". Diese schlechten Verse scheinen nun Gruppe nicht mit Lenz'Ansicht von der Liebe übereinzustimmen: „Er will Vollbesitz, er will Liebe, mit der Freundschaft ist ihm nicht genügt" usw. „Und wer soll es denn gemacht haben? Ich sage zunächst: Kein Dichter, kein Schriftsteller von Fach, kein Mann. Wer mit Poesien von zarter H a n d vertraut ist, dem muß nicht der mindeste Zweifel sein, daß wir hier eine solche vor uns haben. Ich habe darin viel Erfahrung machen können, und mit derselben Sicherheit, mit welcher sich unter den römischen Elegien die von der H a n d der schönen Sulpicia untersdiieden habe von den Werken der Meisterhand Tibulls, sage ich mir hier, das Gedicht ist nicht von Lenz, sondern von Adelaide (von Waldner)." — Solchen kühnen kritischen Griffen gegenüber ziemt der Kritik stumme Ehrfurcht. — Noch kühner gestaltet sich die Kombination in einem anderen Fall. Der dürftige Stoff der Phantasie ist dieser. Lenz war mit einem Kayser befreundet, der zu Winterthur einige Aufsätze von ihm herausgegeben hatte. D a n n : im „Deutschen Merkur" von 1776 finden sich drei mit Kayser unterzeichnete Gedichte. Endlich: im Vossischen „Musenalmanach" von 1776 ein kurzes, mit Keiser unterzeichnetes. Hieraus bildet nun unser erfindungsreicher Literarhistoriker folgende Geschichte. Die Annäherungen von Lenz in früheren Gedichten mit L. waren zu dreist. „Er wurde also zu Verhüllungen getrieben, er ging über zum Pseudonym, ja sogar zur Unterschiebung, als sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Er mystifizierte wahrscheinlich den Heraus-
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geber des Deutschen Merkur. Ich wäre nämlich geneigt, von den drei Kaysersdien Gedichten das erste und letzte Kayser zu geben (vielleicht von Lenz überarbeitet), das mittlere jedoch Lenz, besonders aber das mit Keiser unterzeichnete Gedicht im ,Musenalmanach'." — „Die Lösung" — so bemerkt Gruppe am Schluß dieser Kombination — „ist freilich auffallend, allein viel auffallender noch die Tatsache. Der Name Keiser im ,Musenalmanach' wäre dann als Rückzug anzusehen." Das sind nur Proben einer durch das ganze Buch hindurchgehenden Art von Kritik, über die jedes weitere Wort Luxus wäre. Die überschwenglichen Urteile überlassen wir ihm. Nur eine Stelle, wo er das Talent von Lenz über das von Schiller stellt, teilen wir mit, weil auch hier im großen und fast frevelhaft konjekturiert wird. „Das war" — sagte er — „das Ende desjenigen, der dem größten Dichter Deutschlands in dessen erster Periode am nächsten steht, des einzigen, der mit ihm hätte wetteifern können." Der Verfasser stellt ein großes Werk über Goethe in mehreren Bänden in Aussicht. Wenn er nicht die Willkür und die subjektive Leidenschaftlichkeit, welche in der vorliegenden Arbeit herrscht, völlig von sich abtut, so kann er unmöglich, trotz mancher besonderen Begabung, die er dazu mitbringt, seinem großen Gegenstand gerecht werden. Goethes wunderbare Gestalt vor allem bedarf einer klaren, ruhigen und tiefen Seele zu ihrem Spiegel. Wer die ungeheuerliche Mischung unbändiger Leidenschaft und kindischer Eitelkeit, welche Lenz Liebe nennt, über die Bewegungen dieser starken und tiefen Seele stellt, wer Goethe das eitle Spiel mit einem Werther redivivus, wie es Lenz treibt, gegenüberhält, möchte schwerlich dem innersten Entwicklungsgange des großen Mannes näherkommen. Wer im „Waldbruder" von Lenz eine ebenso große Meisterschaft der Komposition als der Ausführung und eine ruhige Gegenständlichkeit und freie Lebendigkeit der Gestalten, die bei so nahen Bezügen auf des Dichters inneres Leben ohne Beispiel sei, bewundert: steht so weitab von der Empfindungsweise der übrigen Menschenkinder, daß ihm schwer nachzukommen ist. Indes wir hoffen, es waren vorübergehende Stimmungen und Vorurteile, welche hier ihren Ausdruck fanden, nicht die wahre überlegte Überzeugung des begabten Autors, dessen weiterer Ansicht über Goethe wir mit Interesse entgegensehen.
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Die moderne Novelle Herman Grimm, Novellen. 2. Auflage, Berlin 1862. I. Die moderne Novelle: Ludwig Tieck, Paul Heyse und Herman
Grimm
Es ist wie eine Geschichte aus alter Zeit, wenn wir an den zukunftsfrohen Aufschwung unserer Poesie denken, welcher unser ganzes Leben, das Spiel unserer einsamen Empfindungen und die Begegnisse der Geselligkeit in Kunst und Dichtung verwandeln zu wollen schien. Da das Leben für Novalis zum Gedicht wurde und für erregte Naturen wie Brentano und Bettina wirkliches Geschehen und Poesie wie in einem einzigen goldenen Strom ununterscheidbar zusammenfloß. Da es als die höchste Forderung erschien, sein Leben zum Kunstwerk zu bilden, und eine Sache der Schicklichkeit für jeden Gebildeten, „Momente zu leben, welche verdienten gedichtet zu werden". Es ist wie eine Geschichte aus alter Zeit; nicht als ob so viel Jahre zwischen jenen und uns lägen: aber Stimmungen und Wünsche haben sich zwischen eingedrängt, vor welchen jener romantische Drang zerging. Damals schien es, als ob der Gefühlsinhalt unseres Privatlebens nur dem seine unerschöpfliche Fülle aufschlösse, der in ihm allen Wert unseres Daseins sähe; es schien als ob hier der unendliche und nie erschöpfliche Stoff aller wahren Poesie sich aufgetan hätte. Nun müssen wir wohl, im Drang größerer Sorgen, lernen, es mit unserem privaten Gefühlsleben kürzer und derber zu nehmen; und wenn uns Zeit blieb für ein Kunstideal: so ist es dies, daß von der Bühne herab aus den großen Erinnerungen der Völker Tatendrang, Hoffnungen und Leid handelnder Naturen und Zeiten zu dem versammelten Volke reden, wie vor alter Zeit. Aber es blieb doch ein Nachglanz jenes Dichterfrühlings auch über unserem Privatleben, und wir sollten es dankbar empfinden, daß der Vertiefung unseres inneren Lebens, welche jene widerstrebenden Verhältnissen und einer trockenen, überverständigen Gedankenwelt abrangen, uns wie eine Erbschaft ohne unser Zutun in den Schoß fällt. Und auch in der Dichtung blieb uns eine Nachblüte jener poetischen Tage, — ganz fern dem höchsten Kunstideal der heutigen Zeitbewegung und am entgegengesetzten Ende des Empfindungslebens liegend — die in Roman und Novelle unser Privatleben verklärende Dichtung. Die moderne Novelle ist die anmutigste Frucht unserer romantischen Bewegung; alles, was jene auszeichnete, der feinste Sinn für den Kunststil der Prosa, das Studium romanischer Formen, ein intensives, beinahe musikalisches Empfindungsleben, ein Sinn für anmutige Geselligkeit und ihre poetische Verherrlichung, wie er seit den Tagen der italienischen Renaissance nicht dagewesen war: alles traf aufs glücklichste zusammen, diesen Spätling unserer deutschen Poesie zu begünstigen. Die energische Gestaltungskraft, welche der Roman verlangt, war hier nicht Bedürfnis. Eine nicht allzukühne Wendung genügte, die alte romanische Form der Novelle mit dem Inhalt des modernen Lebens erfüllen zu können.
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Noch bleiben über die merkwürdige Entwicklung dieser alten Form viele Fragen übrig. Es bleibt eine schöne Aufgabe einer künftigen vergleichenden Literaturgeschichte, welche den Sammlungen der Formen und Stoffe nachgehen und damit mit einem Schlage unsere gegenwärtige literaturhistorische Behandlungsweise umgestalten würde, es zu verfolgen, wie die italienischen Novellenstoffe des Mittelalters sich über Spanien und Frankreich verbreiteten und dann die englische und deutsche Literatur überfluteten und mit fruchtbaren Keimen erfüllten. Soviel aber sehen wir: bis in die deutschen Bearbeitungen des 16. Jahrhunderts hinein blieb diese alte Novelle ganz durchdrungen von der naiven Lebensfreudigkeit der italienischen und französischen Gesellschaft am Ausgang des Mittelalters. Die ursprüngliche Freude an dem wunderbaren Begegnis, an der anmutigen Erzähung und der scherzhaften Wendung blickt auch noch durch die derberen Bearbeitungen. In Cervantes allein, dessen unsterbliches Werk wie aus dieser Novellenliteratur herausgewachsen erscheint, treten zu der Freude an der drastischen Wendung der Handlung und der vornehmen Kunst des Erzählens poetisches Stimmungsleben und die feinsten Züge der Charakteristik. Er stand unserer modernen Novelle am nächsten. Ein größeres Geschick noch fiel jenen italienischen Novellen zu, deren Motive Shakespeare ergriff. So war es kein bloßer Zufall, daß der Übersetzer des Cervantes, der einen großen Teil seines Lebens hindurch der Geschichte der Shakespeareschen Dramen nachforschte, zugleich die moderne Kunstform der Novelle durchzubilden unternahm. Nachdem Ludwig Tieck im „Phantasus" jenen überaus anmutigen und prächtigen Rahmen, mit welchem Boccaccio seine Novellen umgeben hatte, nachzubilden unternommen hatte: griff er zur Novellenform selber, um in ihr die Lebensansicht des Kreises, in dem er lebte, dichterisch auszuprägen. Es geschah zu einer Zeit, in der unsere Poesie in den Fratzen von Zacharias Werner und den Abenteuerlichkeiten von Fouque und Brentano, verzerrten Nachbildern seiner eigenen Jugendversuche, zu enden schien, und in der die eigenen großen Pläne Tiecks — deutsche Dramen und Epen — wie Schatten seiner Jugend ihn bedrängten. Es war eine unruhige und unsichere Zeit im Leben des einst so selbstgewissen Dichters, in welcher diese alten Vorsätze und dazu das durch seine eigenen Versprechungen immer nebelhafter gewordene Bild seines Buchs über Shakespeare, zu dem ihm alles philologische Talent und damit der Unterbau fehlte, ihn bedrängten, als er zwischen Umarbeitungen der Jugendwerke, literarhistorischen Rettungen und Editionen und quälenden Gedanken über diese Jugendpläne, von denen er sich nicht trennen mochte, herumtastete. Und auch die Philosophie blieb ihm so wenig als anderen Dichtern in ähnlichen schweren Übergangszeiten erspart. Ein sonderbares Denkmal der subjektiven philosophischen Phantasien, in die er sich einspann, ist der von ihm und Raumer herausgegebene Briefwechsel des Berliner Kunstphilosophen Solger. Mehr noch als die dünne Theorie dieses verschämten Romantikers zog ihn die dialogische Kunstform desselben an, die ja auch Solger selbst zuweilen für wichtiger hielt als den Inhalt selber. Sie berührte sich mit ähnlichen Versuchen Friedrich Schlegels und Schleiermachers. Was ihn so nach -verschiedenen Richtungen zu ziehen drohte, das Alte und Neue, für das er einen Ausdruck suchte: alles fand in der Form der Novelle einen Koinzidenzpunkt. Die alten musikalischen
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Stimmungen seiner Jugendzeit wie der Weltverstand eines vielbewegten Lebens, die literarhistorischen Studien wie die philosophisch-didaktischen Tendenzen, sein altes Erzählertalent wie seine neuesten psychologischen Analysen ließen sich in dieser freien Form der Novelle ineinanderflechten. Wenn man sie jetzt liest, empfindet man scharf den Zeitcharakter; überkluges Gespräch und der Tee fließen allzu reichlich darin. Selbst für die Novelle wird es zuweilen viel zuviel des psychologischen Raffinements und des romantischen Schaumes. Aber ihm verdanken wir doch die moderne Kunstform der Novelle; man darf die beiden bedeutendsten gegenwärtigen Novellisten, Paul Heyse und Herman Grimm, durchaus zu derselben Schule rechnen. Nicht als ob sie seine Schüler wären; aber eher kann man sagen, daß sie alle drei aus der Schule Berlins, wie es sich in der Zeit von Tiecks und Schellings späterem hiesigen Aufenthalt entwickelte, seien. Dieselben Elemente dieser Berliner Bildung sind in allen Dreien zu bemerken. Die feinste, subtilste Reflexion und ein tiefes musikalisches Empfindungsleben, das höchste Kunstgefühl und ein überaus scharfer Sinn für psychologische Analysen und Probleme bilden die Grundlage dieser unserer novellistischen Poesie. Eine hochgebildete, etwas künstliche Gesellschaft, ein von der Literargeschichte geprüfter Kunstverstand: diese Elemente der Berliner Atmosphäre vor einigen Dezennien sind die notwendige Voraussetzung ihrer Entstehung und Blüte. Es macht uns wenig irre, daß Paul Heyses Novellen in Italien spielen: sie sind gut Berlinisch gedacht. Es kann paradox erscheinen, daß wir diese Schule so hervorheben, daß wir ihr eigentlich in erster Linie die Ausbildung der novellistischen
Kunstform
vindizieren.
J a , haben wir überhaupt ein Recht, von der Novelle in diesem exklusiven Sinne zu reden? Ist sie von den „Erzählungen" O t t o Ludwigs, Auerbachs, Höfers durch etwas anderes als den Namen, als die eine oder andere Äußerlichkeit etwa unterschieden? Eine Frage, die unseren Lesern vielleicht auch einen leichten Berliner Beigeschmack zu haben scheint — indes wir sind nun einmal in der Atmosphäre subtilen Kunstsinnes, und was sonst als unschickliche Kühnheit erschiene, einen modernen Leser, der an der Ausbildung seiner politischen Theorie übergenug und sehr ernsthaft und würdig beschäftigt ist, für ästhetische Distinktionen interessieren zu wollen, das müssen sich die, welche so eifrig Novellen lesen, schon gefallen lassen, damit sie nicht in den Verdacht geraten, sie zu lesen, nicht um der Dichtung, sondern um der Realitäten willen, welche die Dichtung vor sie hinzaubert. E t w a wie der gute Junge in Hauffs Novellen, der seine sparsame Mahlzeit durch die Lektüre der Claurenschen Schilderungen von Diners und Soupers aufbesserte, in denen es bekanntlich nie ohne Champagner abgeht. Die Satire trifft leider scharf genug. Auch die Kunst kann zum Verderben mißbraucht werden: sie kann lehren, ein dürftiges Leben durch romantische Phantasiebilder aufbessern; wie man von Menschen erzählt, welche die Virtuosität besitzen, wochenlang im Zusammenhang zu träumen: so kann sie ein Traumleben schaffen, welches neben dem wirklichen hergeht. Wenn man von entsittlichenden Wirkungen der Kunst spricht: so dünken uns diese viel gefährlicher als die von sinnlichen Stellen oder skeptischen Paradoxien. U n d wie man vom Zauber des Traumes sich dadurch befreit, daß man die Querfrage nach der Möglichkeit des Geschehenen und seinem Zusammenhang ein-
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schiebt — nur zum Traumleben Geschaffene können auch diese in ihre Träume verweben, ohne zu erwachen —, so befreit auch von diesem Traumleben der Romanlektüre allein die Kritik, welche das Erzählte eben entschieden als Kunst nimmt, nicht als wirkliches Geschehen. Die Angriffe gegen ästhetische Kritik und Kunsttheorie sind töricht, wenn sie sich nicht zugleich gegen die erzählende Poesie selbst wenden. Denn erzählende Poesie mit freiem Geiste zu genießen, ist nur möglich durch das Medium des Kunstverstandes. Und ein Dichter, wenn er anders nicht narkotisch wirken will, muß 'sich solche Leser wünschen, welche mit ästhetischer Kritik bei der Hand sind. Mögen sich also unsere Leser nur für einen Augenblick in das alte Berlin versetzen, in welchem sich, laut Solgers „Erwin", Tiecks Novellen und verschiedenen anderen, nicht minder glaubwürdigen Zeitdokumenten, nach dem Theater selbst Geheimräte und Professoren beim Tee zur Eruierung neuer ästhetischer Distinktionen zu versammeln pflegten. Das Theater ist ewa zu Ende; und wie sich nun die Anwesenden begrüßt und über Seydelmanns Spiel ihre Bewunderung ausgetauscht haben, während sie die anmutige Wirtin mit dem subjektiven Getränk und den imaginären Butterbroten mit eigenen lieblichen Händen versorgt: ist endlich der Moment gekommen, an welchem nach allen Quellen die zu eruierende ästhetische Frage vorgenommen wird. Nach mannigfachen scherzhaften und ernsthaften Diskussionen würde also der ästhetische Geheimrat, der aus Tieck wohl bekannt ist, unsere Frage über Erzählung und Novelle ungefähr in folgender Weise besprochen haben. Wir versuchen nur den Inhalt wiederzugeben, ohne der bekannten satyrischen Wendungen und anmutigen Formen des Tieckschen Geheimrats mächtig zu sein. „Sie haben mich zu Hilfe gerufen, meine anmutigen Damen" — so würde er mit der ihm eigenen Galanterie beginnen —, „die Sache Ihrer Schützlinge gegen unseren Freund zu verteidigen, der nach seiner naturalistischen Weise in allen Dichtungsgattungen nach der natürlichen Gewalt der Leidenschaften und ihrer straffen Konsequenz fragt, und den anmutigen Schöpfungen unseres Tieck, Paul Heyse und Herman Grimm die aufregenden und erschütternden Erzählungen von Kleist und Otto Ludwig, von Gottfried Keller und Auerbach gegenüberstellt. Was nun den letzteren betrifft, so geschieht mir mit ihm etwas Wunderbares. Es Ihnen ehrlich zu gestehen, ich bin kein Freund der guten Schwarzwälder und ihrer Tragödien. Jene Kunst der Darstellung, welcher wir dem göttlichen Goethe und seinem einzigen wahren Nachfolger Tieck verdanken, ist gegenüber dem Dialekt, dem Geradezureden und -handeln dieser schlichten Gebirgsmenschen völlig wirkungslos; ihre drastischen Verfahrungsweisen vertragen sich nicht mit dem anmutig gewundenen Gang wahrer epischer Poesie, die uns behaglich und bequem, ohne alle widrigen Gemütsbewegungen, mit sich fortzieht. So hatte ich, nachdem ich unmutig die ersten „Schwarzwälder Dorfgeschichten" zur Seite geschoben hatte, lange nichts mehr von diesem Dichter vernommen, das hübsche Stück unserer Frau BirchPfeiffer ausgenommen, welche alle Straffheit und Härte der Novelle so geschickt in unsere Sphäre behaglicher Konversation zu erheben verstand. Da geschah mir
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neulich etwas Seltsames, als ich durch meine C l a r a , welche etwas f ü r die neue Schule der drastischen Poeten sdrwärmt, d a s „ B a r f ü ß e l e " in die H ä n d e b e k a m , welches diese mit großer R ü h r u n g gelesen hatte. M i r w a r zumute, als ob ich m i d i unter meinen alten Tiecksdien B e k a n n t e n b e f ä n d e ; und ich w a r überrascht, d a ß mich auch d a s K o s t ü m nur wenig störte in dem G e n u ß hochgebildeter E m p f i n d u n g e n u n d feiner Reflexionen, v o n denen dieses liebenswürdige Buch v o l l ist. Diesen also nehme ich aus u n d h a b e jetzt zu ihm die besten H o f f n u n g e n , d a ß ihm selber demnächst lästig werden w i r d , seine gefühlvollen H e l d i n n e n G ä n s e hüten o d e r a n d e r e unschicklidie Geschäfte besorgen zu lassen. W a s aber die übrigen, welche unser F r e u n d hervorhebt, a n g e h t : so begreife ich z w a r völlig, d a ß m a n sie in ihrer A r t schätzt, aber wie m a n sie mit demselben heiteren B e h a g e n genießen könne als e t w a jene unsere N o v e l l i s t e n , ist mir f a s t unverständlich. E s setzt mich aber einigermaßen in Verlegenheit, wie ich unseren jungen F r e u n d widerlegen solle. D e n n diese j u n g e G e n e r a t i o n verschmäht es ja beharrlich, aus den kunstvollen D i a l o g e n meines alten Lehrers S o l g e r jene tiefe Wahrheit v o m Wesen der K u n s t als des schönen Scheines z u schöpfen, nach welcher ja meine g a n z e V e r t e i d i g u n g Ihrer Schützlinge nur ein Anachronismus ist. M a g also unser F r e u n d sich einmal f r a g e n , ob er die S t r a f f h e i t der H a n d l u n g u n d den Ausdruck u n b ä n d i g e r Leidenschaft wohl
a u d i in der
K o m ö d i e suchen w ü r d e , oder ob er wenigstens hier es der G a t t u n g angemessen f ä n d e , wenn wir auch mitten in dem D r a n g leidenschaftlicher G e m ü t s b e w e g u n g doch immer in der R e g i o n a n m u t i g e r B i l d u n g und behaglicher K u n s t f o r m festgehalten werden. D i e echte N o v e l l e , wie sie jene kultiviert haben, hat aber in diesem Übergewicht der künstlerischen F o r m über den Inhalt, welcher uns stets zu heiterem B e h a g e n erhebt, etwas mit der K o m ö d i e überaus V e r w a n d t e s . Wie denn Shakespeares Lustspiele, u n d die spanischen ebenso, durch ihre Entstehung diese innere Verwandtschaft beweisen. J a ich möchte behaupten, d a ß die eigentlichen Kabinettsstücke dieser G a t t u n g alle einer beneidenswerten S t i m m u n g
Ausdruck
geben: d a h e r wir uns so gern v o n ihnen erheitern lassen. E s ist uns z u m u t e bei ihnen wie einem, der z u m ersten M a l e eine schöne S t a d t durchschlendert, in der er sich einige Zeit a u f z u h a l t e n gedenkt, ohne H a s t u n d D r a n g u n d doch in dem heiteren V o r g e f ü h l angenehmer Abenteuer und m a n n i g f a l t i g e r Begegnisse. Wenn nun auch jene n a i v e Lebensfreudigkeit der alten N o v e l l e n , welche das g a n z e Leben wie eine K e t t e überraschender Abenteuer nehmen, die m a n mit Lebenssinn u n d K l u g h e i t z u m Besten wenden müsse, l a n g e v o r ü b e r ist: so f ü h r t uns doch auch unsere L e b e n s e r f a h r u n g zu einem ähnlichen Ziele, indem sie uns lehrt, nicht überall den Begegnissen des Lebens mit sittlichem P a t h o s und scharfen K o n s e q u e n z e n entgegenz u k o m m e n : denn vieles v e r t r ä g t den schweren Druck dieses Ernstes durchaus nicht, sondern will mit einer A r t v o n K u n s t s i n n des Lebens genommen sein, u n d aus solchem Lebenssinn und soldier L e b e n s e r f a h r u n g entspringt nun die D a r s t e l l u n g s weise der echten N o v e l l e . S i e soll uns, wie die K o m ö d i e , mit jener sonnigen H e i t e r k e i t erfüllen, in welcher selbst tiefschmerzliche Begebnisse, j a tragische Ereignisse mehr durch die G e w a l t wechselnder G e m ü t s b e w e g u n g e n , durch den R e i z sich d r ä n g e n d e r Situationen und Abenteuer uns bezaubern, als d a ß ihr ganzer
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Ernst uns ergriffe. — Der Grund aber, warum sie eine solche Stimmung hervorruft, scheint mir eben in jenem ihr eigenen Überwiegen der Kunstform zu liegen, welches allemal das Gemüt befreit. In der Erzählung beherrscht uns der Stoff; hier ist es dem Dichter um nichts zu tun, als eine in sich ergreifende Handlung durch sich selber wirken zu lassen. Straffer Verlauf, strenger Zusammenhang ist hier überall herrschend. Ich vermag, glaube ich, vollkommen zu würdigen, welche Meisterstücke dieser Art, wie den „Kohlhaas" zum Beispiel, unsere Literatur besitzt. Ganz anders die Novelle. Ich stelle mir vor, wenn es anders nicht anmaßend erscheint, in die Geheimnisse dichterischen Schaffens eindringen zu wollen, daß im Kopfe des Dichters zumeist die Entstehung der Novelle auch gar nicht von dem Zusammenhang der Ereignisse, welchen sie enthält, ausgeht. Er ist nur das Netz für die Darstellung der Subjektivität des Dichters. Eine Fülle von Stimmungen, wie sie zu verschiedenen Zeiten ihn bewegt haben, von Reflexionen, wie sie sich in ihm sammelten, drängen sich herzu, dieses Netz zu füllen. Und in Folge davon wird hier alles Absicht. Die Personen sind hier zusammengestellt, um durch Kontraste und Analogien sich zu erläutern, die Begegnisse sind wie chemische Reagentien, durch welche die wahre Natur der Personen rein dargestellt werden soll. Und über allem schwebt die Einheit einer Stimmung, welche in dem Hintergrunde, den Gestalten, den Begegnissen und Reflexionen sich hundertfältig spiegelt. Durch diese Kunst ist die Novelle dem Roman verwandt, der freilich das Wesen der Charaktere durch die ganze Breite ihres Lebens darstellt, während hier aus der Perspektive einer Situation alles vorstellig gemacht wird. — Aber ich bin ernsthafter geworden, als sich in so anmutiger Gesellschaft ziemt — fuhr der Tiecksche Geheimrat fort, indem er sich von seinem jungen Freunde zu den Damen wandte —; ich möchte auch nicht durch harte Grenzen abzusondern scheinen, was der Genius des Dichters in hundertfacher glücklicher Mischung gestaltet. Nur darin denke ich Ihre Schützlinge hinreichend verteidigt zu haben, daß man das Zurücktreten schöpferischer Gestaltungskraft in der Erfindung der Begebenheiten und ursprünglicher Gewalt der Leidenschaften ihren Novellen nicht als einen Mangel anrechne; sie folgen nur dem Genius ihrer Gattung, und nur so üben sie jene reine und völlig heitere Kunstwirkung auf uns aus, an der sich vorzüglich zu erfreuen, Sie mir als einem der letzten Verehrer jener alten Schule von Goethe und Tieck, an der sich meine Jugend erheben durfte, wohl gestatten mögen." Hier schwieg der ästhetische Geheimrat, ohne von seinem langen Vortrag sonderlich ermüdet zu sein; denn nach allen Dokumenten liebte er von jeher eine behagliche Breite. Vielleicht wird uns künftig einmal gestattet, über die Antwort seines jungen Freundes zu berichten. Denn daß dieser die ganze Rede des alten Herrn gebilligt habe, bezweifeln wir, da er zu der jungen Schule der Naturalisten gehörte, die eben damals ihre stürmischen Kämpfe gegen Tieck begann. Desto freudiger dankten die Damen dem alten Freunde für seine anstrengende Verteidigung ihrer Lieblingsform und ihres Lieblingsdichters. Und auch wir wüßten dieser in der Kürze nichts hinzuzusetzen, da sie die Stimmung hinlänglich charakterisiert, aus der jene Schule der modernen Novelle hervorging. Nur über Herman Grimms Stellung in derselben erlauben wir uns noch einige selbständige Bemerkungen.
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Grimm
Keine günstigere Form konnte für Männer wie Tieck, Paul Heyse, Herman Grimm gefunden werden als die der Novelle, wie wir sie in der Kürze charakterisiert haben. Schon bei Tieck hat man das Gefühl, als ob er nach langen Irrfahrten erst in ihr für seine Eigenart festen Boden gefunden hätte. Aber es ist in ihm noch ein Zug, welcher seinen Novellen etwas Fremdes, Anomales gibt. Auch die alte Novelle liebt überraschende, ja abenteuerliche Züge der Charakteristik. Sie liebt sie aber mit jener naiven Freude an dem Seltsamen, Wunderbaren, was im Gedächtnis und im kunstvollen Wort zu bewahren der Mühe verlohnt. In Tieck dringt in diese Eigenheit der Form ein Pessimismus ein, der uns, wo er aus den anmutigen Formen unverkennbar hervortritt, jedesmal aufs Neue verletzt. Diesem Pessimismus ist die Freude am Seltsamen in den Charakteren nicht Folge der Freude an der wunderbaren Fülle der geistigen Erscheinungen, die in unergründlicher Mannigfaltigkeit spielt, sondern Folge eines Prinzips der Nichtigkeit, der Lügenhaftigkeit oder Fratzenhaftigkeit, welches alles Edelste mit durchdringe. Man ist versucht, Solgers sentimentaler Theorie des Bösen und der Darstellung desselben in der Kunst diesen barocken Zug zuzuschreiben; liest man aber „William Lovell", so findet man denselben schon da wie eine Krankheit alles durchdringen. Aus anderen Gründen, wie wir glauben, als aus denen Tieck in seiner späteren klug vertiefenden Vorrede diesen pessimistischen, dunklen Zug ableitet. Die beiden späteren Dichter sind von ihm völlig frei. Ihr Talent und ihre Denkart lebt und webt in der sonnigen und heiteren Atmosphäre künstlerischer Anschauung, welche der Novelle eigentümlich ist. Das Drama verlangt einen großen Gang der Charaktere; es ist der Ausdruck einer erhabenen Seele. N u r wenige Neuere haben wenigstens etwas von jenem großen Zuschnitt aller Gemütsprozesse, auf dem Shakespeares, Schillers und Kleists dramatische Genialität beruht. Der Versuch, den Herman Grimm machte, in die Spuren des zweiten dieser Gewaltigen zu treten, ist ihm, wie anderen Vorgängern, mißlungen. Der Roman aber verlangt vielleicht von allen Dichtungsformen am meisten eigentlidie üppige Erfindungskraft des Dichters. Noch den Novellen von Goethe und Cervantes gibt es einen eigentümlichen Reiz, daß in ihnen die Erfindung so mühelos und unerschöpflich, fast wie ein Spiel, erscheint. Hiervon hat Tieck am meisten. Bei Herman Grimm erkennt man leicht die beabsichtigte Sparsamkeit der äußeren Mittel; sein Kunstsinn weiß auch aus seiner schwächsten Seite eine Stärke abzuleiten. Er weiß zugleich allen seinen starken Seiten in der gewählten Form Ausdruck zu verschaffen. Einige seiner Novellen scheinen uns geradezu vollendet in ihrer Art. Wir meinen hier vor allem die beiden Novellen „Der Landschaftsmaler" und „Das Kind". Denn im ganzen sind sie von etwas ungleicher Arbeit, und da Herman Grimm einmal aus der früheren Auflage — mit vollem Recht — die poetischen Erzählungen ausschied, von denen besonders „Die Schlange" in unangenehmer Weise einen schönen Mythos mit empfindsamen und grellen Schildereien umgibt: so wünschen wir, er hätte wenigstens die Novelle „Das Abenteuer" womöglich durch eine andere ersetzt. Sie erscheint uns wie eine Studie oder wie eine Variation der 19
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Novelle „Die Sängerin", wobei wir die feinen psychologischen Unterschiede bei der Heldin keineswegs übersehen; aber besonders die Handlung ist doch über Gebühr skizzenhaft und ohne jede Anstrengung der Erfindung behandelt. Eine Sängerin, ein Vetter von der Kavallerie, der sich bei ihr einführt, ein Graf, der sie im Stich läßt, ein durch die schöne Verlassene unterbrochenes Duell, gemeinsame Badereise — solche Erfindungen vermögen auch die feinste Charakteristik immer wieder herabzuziehen und lassen die Stimmung, welche in der Schilderung der Dämmerungsstunden und nachher des Badelebens so reizend ausgedrückt ist, immer wieder in eine Trivialität ausklingen. — Und da wir nun einmal am Wünschen sind, so mögen wir auch den Wunsch nicht unterdrücken, die andere Novelle „Cajetan" wesentlich umgestaltet zu sehen. Ganz sichtlich und offenbar verfehlt ist der Schluß. Ein Maler verabredet mit einem adligen Fräulein eine Entführung; gerade da sie ankommt ergreift ihn, der nicht ohne sie leben zu können meinte, das Gefühl, daß auch mit ihr zu leben ihm nicht möglich sei; er galoppiert davon, indem die Schöne bittend und scheltend ihn verfolgt. Das ist höchstens eine komische Situation. Und diese? Schickt ihm eine Kugel nach! Bei diesem Schluß, wie in der ganzen Geschichte, ist einem wie bei einer stilistisch gesäuberten Erzählung von Brentano zumute. Ganz in dieses Genre gehört die Szene im Garten am Bassin, wo der Maler, angesichts seiner Schönen, in ein poetisches Schlafwachen versinkt, aus dem heraus er sie mit einem Sonett anredet. Beide Charaktere sind widrig und von einer unpoetischen Halbheit; wollte der Dichter auf dem Grunde des Dresdener Hoflebens unter August dem Starken ein Abenteuer schildern, so mußte er wohl entweder zu kecken Farben eines im Genuß untertauchenden Lebens oder zu einer tragischen Wendung greifen. Dann konnte aus den schönen Motiven dieser Novelle etwas den drei anderen Ebenbürtiges entstehen. — Ober die Schönheiten dieser, besonders der beiden zuerst hervorgehobenen, zu reden, wäre ein angenehmes Geschäft. Aber so oft wir nach dem Buche greifen, unterliegen wir dem Zauber der Erzählung — das Schöne läßt sich eben nicht analysieren. Der Erbfehler aller Kritiker, daß sie da, wo sie zu loben anfangen sollten, lieber zu reden aufhören, hat hierin seinen sehr verzeihlichen Grund. Um aber unserem Dichter einigermaßen gerecht zu werden, suchen wir wenigstens seine eigentümlichen Vorzüge an einer der vielen schönen Stellen zu verdeutlichen. Zwar, was uns das Liebste an ihm ist, läßt sich nicht durch Stellen deutlich machen, in der Form eine wundervolle, durch allen Wechsel des Dargestellten gleich bleibende plastische Einfachheit des Stils, nur zuweilen von höchst prägnanten Bildern, die nur manchmal fast mehr aus dem Witz als der poetischen Einbildungskraft kommen, unterbrochen, in der Auffassung der Menschen der volle Sinn für die vornehme Selbständigkeit und Abgeschlossenheit der Naturen. Aus dem Zusammenschauen solcher Menschen entspringen ihm auch seine schönsten Probleme. So im „Kinde" eine stolze spröde Mädchennatur, die im überquellenden Gefühl ihres Reichtums sich aus Teilnahme hingibt, und später das lösende Wort in ihrem spröden Mädchenstolze kaum gegen sich selber, geschweige gegen den, welchem sie aus Teilnahme ihre Zukunft schenken will, zu finden vermag. Dann umgekehrt
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im „Landschaftsmaler" eine auf dem Gefühle ihres Wertes und ihrer Liebe so sicher ruhende Mädchennatur, daß aus der Freiheit ihrer stolzen und sicheren Bewegung eine sich selbst täuschende Leidenschaft N a h r u n g schöpfen kann. Die Gefahr ist freilich, daß neben solchen Frauen die Männer kaum ebenbürtig erscheinen. U n d dieser ist er in dem „Kinde" gar nicht, im „Landschaftsmaler" doch auch nur halb entgangen. Er liebt in den Männern Stimmungsmenschen, halbe Poeten zu zeichnen und seine Meisterschaft in der Darstellung des Stimmungslebens f ü h r t ihn hier oft weiter, als die Charakteristik erlaubt. — Mit diesem Darstellen der Stimmungen verbindet sich ein bewundernswürdiges Auge f ü r die N a t u r . Wir wählen eine Stelle, die beides veranschaulichen mag: es ist der Anfang des „Landschaftsmalers". „Meine Geschichte spielt im Spätsommer eines beliebigen Jahres. — Das Wetter war sich seit einigen Wochen gleich geblieben. Ein warmer Morgen, ein heißer Tag, ein milder Abend und nach ihm eine sanfte Nacht, das war das ewige Einerlei, dessen man so gewohnt geworden war, als wäre es von Anbeginn der Welt an niemals anders gewesen. Wolken zogen über den Himmel, aber sie regneten nicht, Winde flogen über die Erde, aber sie kühlten nicht, und die großen Flüsse schwammen wie breite, schwankende Spiegel vorwärts, in deren Glanz man die H ä n d e eintauchte, ohne kaum ihre Kühle zu empfinden, die tief unten auf dem Grunde gefangen lag. In den Städten war es heiß und staubig; in den Gebirgen stieg aus den Wäldern und Wiesen aromatischer Hauch schläfrig empor, an den felsigen Weinbergen hing die Sonne gemächlich brütend über den Trauben und wärmte des Gesteines innerste Adern. Wie sah es da auf der unabsehbaren Ebene aus, durch deren Sand ein paar triefende Postpferde den Wagen zogen, in dessen schwülen Schatten sich der junge Mann befand, von dem ich erzählen will. Er lag in die Ecke des Sitzes gedrückt und gab sich den Bewegungen des Fuhrwerks hin; er betrachtete seit einigen Stunden den gekrümmten Buckel des Postilions vor sich und den vorwärts nickenden, eisenfesten Wachstuchhut auf seinem Kopfe; er sah die niedrigen Kieferngehölze, welche zuerst wie dunkle Streifen vor ihm lagen, gemächlich näher kommen, blickte in ihr finstres, trocknes Schattendickicht hinein zu beiden Seiten des Weges, sah die Stämme sich um einander drehn und hatte dann wieder die Ebene vor sich, wenn er das Wäldchen hinter sich hatte, aber fern vor ihm lag schon ein anderes, eben so dunkel, eben so langsam näherrückend und ebenso sonnentot, wenn der Wagen mitten hindurch fuhr. Doch weckte diese einförmige Einsamkeit in ihm nicht die Sehnsucht nach unebnen, frischen Gegenden auf, deren er doch manche gesehen hatte. Der Weg und das Land gefielen ihm. Die Melodie der Wagenräder im Sande däuchte ihm ganz behaglich, und die lichtzitternden Stoppelfelder oder grauen Wiesen zur Rechten und zur Linken waren ihm kein trostloser Anblick. Manchmal ward er aufmerksamer und sah schärfer hin. So als ein Dutzend hoher, schlanker Kiefern-Bäume zerstreut dastanden, jeder mit dem schwarzen Schattenfleck neben sich, den seine dunkle, unbewegliche Krone dem Sonnenlichte abtrotzte. Genau betrachtete er sie, wie sie dahin und dorthin sich überneigten, wie von der H ä l f t e ihrer H ö h e an ihr 19*
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Stamm oben mit abgebrochenen Ästen umsteckt war, wie die Äste dann ansetzten, die unteren oft abgestorben, die anderen sich zum dichten Dache vereinigend, über dessen Rundung oben nicht selten, wie ein Türmchen über einem Kuppelbau, eine kleine Spitze herausragte. — Gewässer gab es nirgends. Wohl halbtrockene, binsenvolle Gräben, die geschlängelt die Felder durchzogen und über welche holperige Knüppelbrücken gelegt waren, oder es war ein Teich vor den Dörfern, die sie einige Male passierten, und in denen sich kein Leben zeigte. Höchstens daß einige Gänse dastanden, oder daß ein Kind mit einem noch kleineren auf dem Schöße still auf den Steinen der Türschwelle saß. Draußen aber entdeckte man auf der Linie des Horizontes die Gestalten einer schweigsamen Herde, welche kaum ihre Stelle zu verändern schien. Es lag ein Zauber in dieser Stille und flachen Einöde. Ihre Armut verlieh dem kleinsten Stücke, das sie besaß, eigentümlichen Reiz. Da stand ein Eichbaum am Ausgange des Dorfes, an der Ecke des Weges, der Wagen holperte über die bloßliegenden festen Wurzeln. Unter ihm eine Hecke von Weißdorn, dahinter ein Fliederbaum, der sich tief überbeugte, auch einige leichte, blasse, kargblättrige Rosen dazwischen, und als einziger Hintergrund die unendliche Fläche und der metallene Himmel über ihr. Der junge Mann, wir nennen ihn Friedrich, ließ seinen Blick darauf ruhen, solange er dieses Stückchen Vegetation vor sich hatte, und lehnte sich endlich aus dem Wagen, um sich danach umzusehen. Nun bildete das Dorf den Hintergrund; er sah die verwitterten, zusammengeschobenen Strohdächer, ein Stückchen des Teiches sonnenblitzend durch die Stämme eines Gartens, und die Kirche mit dem schwarzen Turme über sich, und das alles sich unbemerkt immer mehr zusammenziehend, in dem Maße, als er sich schleichend entfernte. Der heutige Tag indes schien der Gleichmäßigkeit des Wetters eine Grenze setzen zu wollen. Wolkenschatten fingen an, über das Land zu wandeln. Friedrich sah nach der Uhr und fragte, wieviel Weg sie noch vor sich hätten. Der Postilion zog nun ebenfalls sein silbernes Taschengebäude zu Rate und kam endlich zum Schlüsse, daß sie in einem kleinen halben Stündchen an Ort und Stelle sein würden. Auf diese Unterbrechung folgte wieder ein langes sdiläfriges Fortarbeiten der Pferde, während Friedrich die Seitentasche im Innern des Wagens betrachtete, welche wie eine verzogene mürrische Unterlippe eines müden Maules gegenüber am Tuche hing." Wir wollen den Erzähler nicht unterbrechen, sondern überlassen unseren Lesern, zur Novelle selber zu greifen, welche eine Zierde unserer erzählenden Literatur ist.
Friedrich Schlegels Katholizismus (1863)
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Friedrich Schlegels Katholizismus Sulpiz Boisseree. 2 Bände, Stuttgart
1862.
Unsere Kenntnis der romantischen Periode ist trotz mancher Veröffentlichung der letzten Jahre immer noch eine höchst lückenhafte. Manches scheint f ü r immer verloren, wie sehr vieles aus dem Nachlaß von Novalis und Friedrich Schlegel; anderes wartet noch immer der Veröffentlichung, wie der größte Teil der Korrespondenz von August Wilhelm Schlegel und seiner Frau sowie von Schelling; die wissenschaftlichen und künstlerischen Schulen, die sich an diese anschlossen, stehen uns immer noch zu nah, als daß Veröffentlichungen aus ihrem Kreise jetzt schon zu erwarten wären. So ist denn die Erweiterung unserer Kenntnis dieser Periode nicht hoch genug anzuschlagen, welche wir den umfassenden Veröffentlichungen aus Sulpiz Boisserees brieflichem Nachlaß verdanken. Der treffliche Mann, den sein edles, großen Aufgaben zugewandtes Streben mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit in Verbindung brachte, hat in den letzten Jahren seines Lebens damit begonnen, seine reichen Erinnerungen f ü r die Nachwelt aufzuzeichnen; als ihn am 2. Mai 1853 der Tod überraschte, fanden sich nur einige Bruchstücke von geringem Umfang, so anspruchslos und anmutig erzählt, daß wir nicht genug bedauern können, das Ganze entbehren zu müssen. Wir verdanken nun seiner Witwe die Zusammenstellung seiner Briefe und Tagebücher, welche ein besonderes Interesse beanspruchen dürfen. Einige Punkte von großer literarischer Wichtigkeit erhalten durch die Zusammenstellung ein neues Licht. So die spätere Entwicklung Friedrich Schlegels, dann Goethes Verhältnis zur romantischen Kunst, endlich die Begründung einer mittelalterlichen Kunstgeschichte und in Zusammenhang mit ihr der romantischen Maler- und Architektur-Schule. Friedrich Schlegel ist auf die Entwicklung Boisserees von entschiedenem Einfluß gewesen. U n d zwar fällt dieser Entschluß gerade in die Jahre jener entscheidenden Umgestaltung seiner Ansichten, welche ihn dem Katholizismus und der österreichischen Regierung zuführte. Über diese Zeit nun liegt eine schöne Erzählung Boisserees vor, von dankbarer Erinnerung an den lange verstorbenen Freund erfüllt und in Folge davon freilich nicht von der rücksichtslosen Offenheit des Urteils, welche der Literarhistoriker von dem Manne wünschen möchte, der allein diese entscheidende Zeit mit Friedrich Schlegel durchlebte. Von der Übersiedlung nach Wien ab finden sich dann Briefe. Diese, wenn man sie mit den jüngst im dritten Bande der Schleiermacherschen Korrespondenz veröffentlichten vergleicht, gestatten schon einen tieferen Einblick in die damalige Entwicklung Friedrich Schlegels. Freilich auch zu diesen wird man keine übertriebene Erwartung mit hinzubringen dürfen. Wenn jemand die Triebfedern einer so komplizierten Entwicklung geradezu in H ä n d e n halten möchte, so war Friedrich Schlegel nicht der Mann, einen derartigen Wunsch zu erfüllen. Sein Bruder hatte bereits treffend bemerkt, mit welcher Kunst derselbe, sooft er zur Feder griff, alle paradoxen Gedanken in glatten Worten und künstlich abgewogenen Sätzen versteckte: Er gehörte darin ganz zu der stilistischen Schule Goethes, wie sein Bruder und Varnnagen. Das ist auch, wenn er an Freunde
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schrieb, sehr bemerkbar. Es kam aber dazu, daß es immer eine bedenkliche Sache ist, eine Umgestaltung der innersten Gesinnungen in Darlegungen, Verteidigungen und Dupliken anderen verständlich machen zu wollen; gerade hierdurch entsteht am ersten jene Gehässigkeit, Einseitigkeit, Verurteilung früherer Freunde, wie sie dem Proselytentum eigen ist. Völlig kann diese widrigste Seite desselben eben nur verhindert werden, wenn man, wie auch ein allgemeines Gefühl will, den veränderten innersten Überzeugungen einen äußerlich herausfordernden Ausdruck zu geben vermeidet. Und so hat sich denn auch Friedrich Schlegel durchaus nicht von Gehässigkeit gegen alte Freunde in späteren Jahren frei zu erhalten gewußt; aber damals in der ersten Zeit ist sehr sichtbar, wie er Diskussionen über seine Umkehr zum Katholizismus vermeidet. Nicht nur Schleiermacher gegenüber, mit welchem sich zu verständigen er natürlich keine Hoffnung haben durfte, sondern audi gegenüber seinem katholischen Freunde Boisseree. Man braucht nicht viel zwischen den Zeilen zu lesen, um zu erkennen, wie unangenehm dieser nicht nur vom Zusammentreffen seines Übertritts mit seiner Übersiedlung nach Österreich, sondern überhaupt von diesem öffentlichen Schritt berührt war; dennoch ignoriert Friedrich Schlegel lieber die Andeutungen des Freundes und vermeidet jede nähere Eröffnung über seine Motive. Man wird daher wohl mit Sicherheit sagen können, daß in keinem etwa noch verborgenen Dokument die Gründe seiner späteren Entwicklung offen zutage treten. Vielmehr wird man sie durchaus aus den einzelnen Zügen seiner damaligen Lage ableiten müssen, und von dieser geben uns Erzählungen und Briefe ein anschauliches Bild. Als Friedrich Schlegel im Frühjahr 1802 Deutschland verließ, um unklare Hoffnungen in Paris zu verfolgen, und als er dann das lange hinausgezogene PlatoUnternehmen endlich völlig aufgab, war sein Schicksal entschieden. Er gab damit den einzigen Punkt auf, an welchem er bisher einen festen Halt besessen hatte, seine griechischen Studien. Er unternahm es, ganz neue Gebiete, wie das indische Altertum und die Kunst des Mittelalters, zugleich durchzuarbeiten und für den momentanen Erwerb fruchtbar zu machen. Seine Schriften zeigen daher in dieser Zeit einen Grad von Hast, von formloser Mitteilung seiner Resultate, mit Hinzufügung all der zufälligen Wege, auf denen er sich um sie bemüht hatte, durch den sie sonderbar von seinen früheren Arbeiten abstechen. Die Neigung seiner Natur zu einseitiger Begeisterung und zu einem willkürlichen Enthusiasmus erhielt auf einem Gebiete, auf welchem er keiner ebenbürtigen feindlichen Kritik zu begegnen fürchten mußte, eine gefährliche Nahrung. Von der Reise nach Paris bis zur Ubersiedlung nach Wien bewegt er sich mit unruhiger Hast in einer Reihe historischer Untersuchungen über das Mittelalter und das indische Altertum, Untersuchungen von einschneidender Bedeutung für die betreffenden Gebiete, von höchst anregender Wirkung, die aber in der stärksten Einseitigkeit befangen blieben. Besonders die mittelalterlichen Arbeiten tragen überall Spuren völliger Unfertigkeit; sie entstanden aus dem Verkehr mit Freunden und wurden von deren gründlicheren breit und ruhig betriebenen Forschungen sehr bald überholt. Von da ab zog er sich dann von diesen Arbeiten eben so plötzlich und abrupt zurück wie ehedem von denen über griechische Literaturgeschichte und Ästhetik. Auf seine Gesinnung aber waren sie von um
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so entscheidenderem Einfluß, je unfertiger und infolge d a v o n phantastischer und einseitiger sie waren. Lag doch ihr erster U r s p r u n g nicht in wissenschaftlicher Untersuchung, sondern in poetischen Phantasien. M a n darf Novalis' Aufsatz „Über die Christenheit" als das erste D o k u m e n t dieser poetischen G ä r u n g betrachten; die „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", Tiecks „Sternbald" und seine „Phantasien über die K u n s t " malten die helldunklen Anschauungen jenes Aufsatzes ins einzelne aus; dann kamen die Kunstgedichte August Wilhelm Schlegels von 1800: Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie" gestaltete alle diese Anregungen zu einem zusammenhängenden ästhetischen G e d a n k e n . Z u m a l in der merkwürdigen Rede über Mythologie, in welcher f ü r die moderne K u n s t die Grundlage einer die Phantasie befriedigenden Religion postuliert wird. Es w a r mit H ä n d e n zu greifen, d a ß nur das katholisch gefaßte Christentum eine solche Grundlage zu gewähren vermöchte. Mit solchen G e d a n k e n besuchte Friedrich Schlegel Dresden, den N i e d e r rhein, endlich einen Teil von Frankreich und Paris. Sein „Alarkos" w a r kurz vorher mit beleidigendem H o h n aufgenommen worden. Des platonischen Studiums w a r er m ü d e ; die neuen Anregungen fielen .in eine Seele, welche sich an etwas Großes festzuhalten verlangte, um sich nicht selbst zu verlieren. In solcher Stimmung entstand zunächst die Reisebeschreibung in der „ E u r o p a " und dann die „Gemäldebeschreibungen aus Paris und den N i e d e r l a n d e n " . Es waren darin Nachklänge alter Gespräche, die mit Tieck in der Dresdener Gemäldegalerie g e f ü h r t worden waren, wie denn Tieck (I, Seite 558) nach Schlegels T o d e die H ä l f t e dieses Aufsatzes f ü r sich in Anspruch genommen h a t : freilich bekanntlich f ü r solche literarische Eigentumsfragen kein ganz zuverlässiges Zeugnis. Es w a r e n darin zugleich bereits die ersten Ansätze der Untersuchungen, welche später gemeinsam mit den Boisserees g e f ü h r t w u r d e n . Denn seit dem H e r b s t 1803 w a r e n die beiden Freunde nebst ihrem Genossen Bertram in Friedrich Schlegels Hause. Es w a r eine bunte Hausgenossenschaft, welche sich d o r t im ehemaligen H o t e l des Baron Holbach um Friedrich Schlegel gruppierte, Alexander H a m i l t o n , der große Kenner des Sanskrit, Friedrich Schlegels Lehrer, u n d ein junger Philologe H a g e m a n n von H a n n o v e r , der ebenfalls unter ihm Sanskrit studierte, u n d um die drei Kölner Freunde, junge Männer, welche eben den K a u f m a n n s s t a n d verlassen hatten und eifrig unter Friedrich Schlegel Philosophie, Geschichte und Literatur trieben, endlich eine Berliner D a m e , Frau von H a s f e r , welche mit Frau von Genlis nach Paris gekommen w a r u n d nun bei C o t t a französische Miszellen herausgab: ein buntes Treiben von Lehrenden und Lernenden, von weit aussehender wissenschaftlicher Arbeit und leichtem literarischen Erwerb. D o r t in jenem H a u s e w u r d e der G r u n d gelegt f ü r die deutsche vergleichende Sprachwissenschaft und f ü r die Geschichte der mittelalterlichen Kunst. Mit dem F r ü h j a h r 1804 stob dann die bunte Gesellschaft auseinander. Die Kölner Freunde mußten an die Rückkehr denken, u n d Friedrich Schlegel entschloß sich, sie nach K ö l n zu begleiten. A n d e r t h a l b J a h r e w a r er nunmehr in Paris gewesen, und alle T r ä u m e einer großartig vermittelnden literarischen Stellung zwischen F r a n k reich u n d Deutschland, mit welchen er dorthin gegangen war, hatten sich längst als Illusionen erwiesen. „Schlegel h a t t e damals, auf dem Wege seiner historischen und
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philosophischen Studien, schon eine günstige Ansicht nicht nur von dem Mittelalter, sondern audi von dem Katholizismus gefaßt; daher war vieles ihm willkommen und merkwürdig, was Bertram von alten Einrichtungen und Gebräuchen der Reichsstädte, der Klöster und Stifte am Rhein, was er von dem Gottesdienst und den Kirchen zu erzählen wußte. Durch irgendeine vorgefaßte Meinung hatte Schlegel die alte Kirche Notre-Dame zu Paris unbeachtet gelassen; dieses großartige Gebäude verfehlte nicht, auf ihn einen tiefen Eindruck zu machen, als wir ihn hinführten, und seine ganze Aufmerksamkeit wurde rege, als wir ihm einen weit höheren Genuß von den vielen alten Baudenkmalen in den Niederlanden, in Köln und überhaupt am Rhein versprachen" [1,26f.]. Zugleich bot sich ihm an der höheren Schule in Köln die Aussicht wenigstens einer vorübergehenden Anstellung für Geschichte und Literatur dar, und die Möglichkeit einer Wiederherstellung der alten Universität lag ja immer noch vor Augen. So verlassen denn nun die Freunde Ende April Paris und wandern durch Belgien nach Aachen und von da über Düsseldorf nach Köln. Auf dieser Reise wurden denn die bekannten „Gemäldebeschreibungen aus Paris und den Niederlanden im Jahre 1802—1804" vollendet, wie sie nachher aus der „Europa" und dem „Poetischen Taschenbuch" in den gesammelten Werken zusammengestellt sind. Das Wichtigste gaben die Untersuchungen der Kölner Kirchen, die Entdeckung der „neugriechischen Malerei", denn so bezeichneten die Freunde damals die ersten aufgefundenen Bilder der Kölner Schule. In der Zelle einer kranken Nonne fand Melchior Boisserie eine „Maria mit dem Kinde" auf Goldgrund, welche den Freunden die erste Ahnung dieser griechischen Kunstweise gab. Friedrich Schlegels Arbeiten wurden von den Entdeckungen der drei Freunde bald weit zurückgelassen; indem diese den Beginn der Ölmalerei in van Eyck und dessen Schule feststellten und die Einwirkung dieser niederländischen Entwicklung auf die italienische nachwiesen, war der Grund für die Geschichte der Malerei gelegt. Hiervon hat dann Friedrich Schlegel nur die Resultate in die spätere Umarbeitung seiner damaligen Versuche aufgenommen. Er fand aber in Köln zu gleicher Zeit durch das Studium des Doms eine neue gewaltige Anregung, und als er dann im Herbst 1804, nachdem sich seine Anstellung in Köln zerschlagen hatte, über die Schweiz, wo er bei Frau von Stael und seinem Bruder verweilte, nach Paris reiste und dann im Frühjahr 1805 von da nach Köln zurück, so nutzte er dies verworrene Wanderleben wenigstens dazu, eine Übersicht über die Grundzüge der gotischen Baukunst, wie sie sich ihm in den Niederlanden, den Rheingegenden, der Schweiz und Frankreich dargeboten hatte, zu entwerfen. Während des neuen Aufenthalts in Köln vom Sommer 1805 bis zum Herbst 1806 wurden, mitten unter den ausgedehntesten und gründlichsten philosophischen Studien, welche Schlegel überhaupt wohl je getrieben hat, in täglichem lebendigen Gespräch mit den drei Freunden diese „Briefe über die altdeutsche Baukunst" niedergeschrieben. Abermals beginnt ein unruhiges Wanderleben zwischen Deutschland und Frankreich. Erst 1808 endigten die unsteten Wanderjahre Friedrich Schlegels — in Wien. Boisserie berichtet über die Katastrophe Friedrich Schlegels in seiner Selbstbiographie so: „Lief nun unser Leben auf einen Wendepunkt hinaus, so war das nicht
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weniger mit den Verhältnissen unseres Freundes und Lehrers Schlegel der Fall. Alle Aussichten zu einer angenehmen Stelle am Rhein waren verschwunden; dagegen hatte sein Bruder August Wilhelm in der letzten Zeit in Wien Vorlesungen über dramatische Literatur gehalten, und bei der hochgebildeten und vornehmen Welt dort einen Beifall, eine Teilnahme gefunden, die ihn zu der H o f f n u n g berechtigten, Friedrich würde sich in Wien als öffentlicher Lehrer und Gelehrter eine ehrenvolle Laufbahn gründen können. Er lud ihn deshalb ein, dorthin zu kommen und traf audi schon Einleitung, d a ß er vor demselben Kreis von Zuhörern Vorträge über alte und neue Literatur halten sollte. Schlegel machte im April 1808 Anstalten, Köln zu verlassen, seine Frau sollte einstweilen bei uns bleiben; wir waren schon ganz mit dem Gedanken an diese Reise beschäftigt, da erklärten beide eines Tages, es war am 16. April: sie seien an diesem Morgen zur katholischen Kirche übergetreten. Es war eine große Überraschung f ü r uns; wir kannten zwar die entschiedene Neigung, welche Schlegel f ü r den katholischen Glauben und Gottesdienst gefaßt hatte, seit langer Zeit und sahen voraus, daß er seine Uberzeugung einmal öffentlich bekennen würde, und freuten uns, ihn mit unserer eigenen religiösen Gesinnung übereinstimmend zu wissen; aber in diesem Augenblick, wo der Übertritt, der reine Gewissenssache war, so leicht den Schein äußerer Absicht und dadurch das widerwärtigste Ärgernis erregen konnte, war es uns schwer, die Ausführung eines so wichtigen Schrittes zu begreifen. Beide Freunde versicherten uns freilich, daß sie eben aus Rücksicht auf persönliche wie auf die Zeitverhältnisse diesen Schritt ganz im stillen getan, daher auch uns nicht einmal etwas davon gesagt hätten, und d a ß man ihnen, bis zur angemessenen Zeit, vollkommene Geheimhaltung versprochen habe. Aber kaum war Schlegel ein paar Tage abgereist, als die französische „Kölner Zeitung" eine Nachricht brachte, die so abgefaßt war, als sei die Handlung mit absichtlicher Öffentlichkeit und zwar im Dom vorgegangen . . . [Es] entstand das unangenehmste Geschwätz in und außerhalb der Zeitungen . . . Wir mußten alles aufwenden, um die Redlichkeit unserer Freunde in Schutz zu nehmen" [1,44f.]. An diesem Wendepunkt des Lebens von Friedrich Schlegel bricht die vorliegende Selbstbiographie ab. Aber es treten sogleich Briefe ein, welche uns den vollen Gang der Uberzeugungen und Schicksale desselben zu verfolgen gestatten. Der erste Brief vom 9. Mai 1808 dankt dem Freunde f ü r seine Maßregeln, den Diskussionen in der Presse ein Ende zu machen. D a n n reisen sie den Rhein herauf nach Wien zu. „. . . gerade diese Ufer, diese Hügel und diese Felsen", schreibt Dorothea [am 4. August], „sind es, die mir immer als Fantasie vorschwebten, als ich noch trostlos f ü r immer an Berlin geschmiedet zu sein wähnte; mag immerhin mein Körper zufällig in jener Wüste geformt sein, meine ganze Seele bekennt die Ufer des Rheins zu ihrem Vaterlande!" [I, 53]. D a n n in Wien beginnt Friedrich Schlegel mit Studien über Karl V. und Vorlesungen über deutsche Geschichte. „Ludwig Tieck ist jetzt bei uns. Ein wenig gebeugt und herabgesunken ist er wohl, doch könnte er sich wieder heben und ist oftmals ganz und gar der alte; nur eigentlich zu sehr, zu wenig hat das neue Große ihn ergriffen, er steht noch ganz auf der alten Stelle, aber immer ist es eine Freude, ihn auch da zu sehen, da er derselben ganz Meister ist" [Friedrich Schlegel am 17. August; I, 56], Im März
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1809 endlich schreibt Dorothea den Freunden: „Nun hören Sie: Friedrich hat gestern abend die Bestätigung erhalten, daß er in kaiserlichen Diensten angestellt ist, und zwar recht gut und recht vorteilhaft. Er hat den Titel als Hofsekretär, und die übrigen Bedingungen sind so, daß wir recht zufrieden damit sein können; sein Chef ist der Graf Friedrich Stadion, ein vortrefflicher Mann . . . Die Bestimmung ist ganz Friedrichs Sinn und Wünschen angemessen, und er ist ganz glücklich . . . Ja, lieben Kinder, will das Glück uns wohl, so ist dies der Anfang zu einer ehrenvollen, ersprießlichen Tätigkeit, mit welcher eine neue Epoche für uns und für viele andere anhebt; betet nur fleißig!" [I, 64]. Der Sommer findet Friedrich Schlegel in Ungarn, wo ihn Dorothea besucht; sie bewundert das Land: „Eine Vegetation, die den Orient verkündet, unbeschreiblich leicht könnte das ganze Land zu einem herrlichen Garten gemacht werden, aber . . . aber" [I, 70]. Aus Deutschland dringen seltsam entstellte Nachrichten zu ihm hin: „Daß Schelling gegen mich geschrieben hat, werden Sie wohl schon wissen" [I, 75], Er läßt bei diesem Anlaß eine wunderliche Vermahnung an den Freund ergehen, mit dem „anvertrauten kostbaren Gut seiner Philosophie" künftig doppelt behutsam zu sein, zumal mit den Ideen über die Natur und ihr Verhältnis zur Gottheit. „Dieses sind im Grunde doch nur Geheimnisse der höheren Poesie, welche den Menschenkindern zu wissen nicht vonnöten sind" [1,75], Er sieht eine Sündflut von Pantheismus sich über Deutschland ausbreiten, ist aber gleich zum Schelling der späteren Jahre höchst behutsam, seine Widerlegung desselben nicht vor das große Publikum kommen zu lassen. Baader allein erscheint ihm als ein gewaltiger Mitstreiter. „Könnte er schreiben, so wie er zu sprechen versteht, so würde von Schelling und Fichte wenig mehr die Rede sein. Aber der merkwürdigste, der geistvollste, der tiefste Mensch, den ich seit langem gesehen, ist Baader wohl. Es ist mir vieles durch ihn klar geworden" [Friedrich Schlegel, Frühjahr 1811; I, 110]. Aber es entspricht recht dieser seiner Epoche mystischer Träumereien, daß er auch ihm gegenüber sich einsam fühlt. „Vielleicht gilt auch in der Philosophie für mich der Spruch: Es ist gut, daß der Mensch allein sei" [ebd.]. Immer härter und herzloser beginnt er sich gegen die alten Befreundeten zu wenden: Er verfällt damit der Konsequenz der Apostasie. Als er das „Museum" gründete, lud er Goethe ein. „Gleichwohl habe ich", erklärt er, „auch diesen alten, abgetakelten Herrgott der Vorschrift des Evangelii gemäß eingeladen" [Friedrich Schlegel am 8. Januar 1812; I, 162]. Er beginnt die Zeitschrift mit einem Angriff auf Jacobi. „Die anderen philosophischen Tiere und Untiere werden nun nach der Reihe folgen; Schelling bin ich es lange schuldig, da seine sogenannte Freiheit doch eigentlich ganz gegen mich geschrieben ist (!). Der freundliche Potrympos (ich meine den großen Schleiermacher, Verfasser des calvinischen Krippenspiels, der verächtlichen Religion und ähnlicher) soll zuletzt darankommen" [I, 164], Uber diese unerquickliche Lage eines verbitterten Apostaten erhob ihn für einige Zeit seine Tätigkeit zur Befreiung Deutschlands. Hier in der Tat ist ein Punkt, an dem er allezeit mit edlem Enthusiasmus festgehalten hat. „. . . so habe ich doch", schreibt er zu Beginn des Jahres 1814, „seit einem Jahr unablässig und ausschließend in der Politik gearbeitet. Ich habe viel gelernt, und einiges hat es wohl auch genützt: denn Aufträge hatte ich seit dem 18. August, und zwar ganz wichtige"
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[am 11. März 1814; I 209]. Dann kommt die Zeit der Frankfurter Tätigkeit am Bundestage. Aber audi in ihr findet er keine dauernde Befriedigung. Schon im Frühjahr 1818 schreibt er: „Diejenigen, die nicht gern sehen, daß ein Mann meiner Art hier sei, ermangelten nicht, fleißig zu bohren, um midi wegzubringen . . . N u n ist die Entscheidung mit dem Frühjahr gekommen, d . h . ich habe meine Abberufung zwar noch nicht, erwarte sie aber von einem Tag zum andern. Ich habe audi eigentlich jetzt gar nichts dagegen, diesem Buolstag meinerseits dahier wenigstens Lebewohl zu sagen" [9. April 1818; I, 343f.]. Aus Wien dann sind seine Briefe spärlich und beinahe nichtssagend. Es war doch auch f ü r diese Freunde, fast die einzigen, die ihm aus früherer Zeit geblieben, mehr eine schmerzliche Erinnerung an eine vergangene schöne Zeit, kein Verlust f ü r ihr gegenwärtiges Leben, als sie die Nachricht von dem Tode Friedrich Schlegels traf. Neben dem Urteil dieser Freunde, welche zu keiner Zeit den Glauben an Friedrich Schlegels redliche Gesinnung fahren ließen, obwohl sie wohl erkennen, wie er „bei seinem regen eifrigen Sinn f ü r das Bessere gerade da, w o es vergraben und verbannt ist, nie der Sünde einer augenblicklichen Einseitigkeit entgehen könne"; neben den Briefen Dorotheas, die überall einen fast rührenden Glauben an die große Gesinnung und hohe Aufgabe Friedrich Schlegels ausspredien, stehen scharfe Verurteilungen desselben, vor allem von Goethe, welche zusammen mit der Reinhardschen Korrespondenz die innerste Gesinnung des großen Mannes gegenüber den Schlegels und Tieck völlig klar enthüllen. Goethe klagte, so erzählt Sulpiz Boisseree im Tagebuch seines Sommeraufenthaltes in Wiesbaden, „über Unredlichkeit der Schlegel und Tiecks. ,In den höchsten Dingen versieren und daneben Absichten haben und gemein sein, das ist schändlich. Auch, und wenn ihr nur wüßtet, wie es zugegangen ist. Wenn ich mit der italienischen Reise' fertig bin, werde ich es ihnen einmal recht klar und grell aufdecken. Komme ich zudem schon die die letzten achtziger Jahre und in den Anfang der Neunziger, wo das ganze Treiben schon begann. Schiller war ein ganz anderer, er war der letzte Edelmann, müßte man sagen, unter den deutschen Schriftstellern: sans täche et sans reproche'" [Tagebuch, 3. August 1815; 1,254], Einen blindgewordenen Adler nannte August Wilhelm Schlegel den Bruder seit seiner verhängnisvollen Wendung zum Katholizismus. Dies etwa sind die Beiträge, welche die vorliegenden Briefe Boisserees zur Geschichte der literarhistorisch so einflußreichen Wendung Friedrich Schlegels zum Katholizismus gewähren. Abermals zeigt sich eine bedeutende persönliche Einwirkung dieses groß angelegten Kopfes auf wichtige wissenschaftliche Leistungen: die Entdeckung der Gesetze mittelalterlicher Architektur und des Verlaufs unserer älteren Malerei. Aber f ü r das auseinanderfließende Bild der persönlichen Gemütsentwicklung desselben gewinnen wir nur spärliche Züge. Es erscheint von neuem seine eigentümliche Abneigung gegen ein klares Herausstellen der ihn bewegenden Motive: eine Willensbesdiaffenheit, welche schon bei seinen ersten entscheidenden Entschlüssen, der Verbindung mit Dorothea und der Reise nach Paris, verhängnisvoll zum Vorschein kommt und in der im voraus der unglückliche Verlauf seiner Entwicklung bestimmt war.
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Drei Besuche bei Goethe Sulpiz Boisseree. 2 Bände, Stuttgart 1862. I. Zu den anmutigsten Beiträgen, welche wir in den letzten Jahren zur Goetheliteratur erhalten haben, gehören einige Schilderungen der herzlichen Verhältnisse, in welchen der einsame alternde Dichter in Weimar zu einigen jüngeren Männern gestanden hat. Derselbe Mann, welchen anspruchsvolle Besucher so kalt und verschlossen fanden, geht hier mit der liebenswürdigsten Teilnahme in die Bestrebungen Jüngerer ein; so erschien er noch jüngst in den Reisebriefen Mendelssohns, und das Schönste in den Boissereeschen Tagebüchern und Korrespondenzen ist wieder die Darstellung eines solchen Verhältnisses. Jene Sachlichkeit seiner Natur, oder um mit dem von ihm selber geprägten Ausdruck zu reden, seine „Sachdenklichkeit" tritt in solchen Beispielen mit einer wundervollen Naivität hervor. E r bedarf für jede Beziehung zu einem andern Menschen eines idealen Hintergrundes für den Verkehr; aber er kennt keine andere Idealität als die sich eines bestimmten Gegenstandes gründlich bemächtigt. Für allgemeine Gespräche ist er unzugänglich, aber er ist stets bereit, sich von jeder wirklichen Sache ernsthaft erfassen zu lassen. E r hat eine starke Abneigung gegen enthusiastische Reden, aber jede zweckmäßige, tiefgehende Beschäftigung erfüllt ihn mit Teilnahme. Ganz wie er bei der Durchsicht des Boissereeschen Werkes sagt: „Ja, was Teufel, man weiß da, woran man sich zu halten hat; die Gründlichkeit und Beharrlichkeit, womit die Sache bis ins kleinste verfolgt ist, zeigt, daß es lediglich nur um die reine Wahrheit und nicht darum zu tun, zu wirken, um Aufsehen zu erregen." So öffnet sich denn sein Herz nur denen, die er in einer geordneten, klaren, überschaubaren Tätigkeit findet. In diesen Maximen liegt freilich eine gewisse Willkür der Selbstbeschränkung; für Naturen voll innerer Gärung und voll von Kämpfen, wie er ehedem selber gewesen war, hat er keinen Sinn. Aber vielleicht kann ohne diese Selbstbeschränkung das spätere Leben keines großen Mannes gedacht werden. Noch auffallender ist, daß er gern zwischen sich selbst und andere Menschen Natur- oder Kunstobjekte stellt; es wird einem wohl zuweilen des Hin- und Hergehens von Blättern und Steinen fast zuviel. Und ebenso dringt er im wissenschaftlichen Verkehr, wo die Vermittlung anschaubare Gedanken, auf Schemata, Übersichten: in allen diesen Dingen ein plastischer, in bestimmter und begrenzter Anschauung ganz aufgehender Geist. Er kennt kein Denken als an der Hand der Anschauung; er würde fürchten „Idolen" nachzujagen, wo die Gedanken diese Hand verlassen. Und wiederum kein Gedanke ist zu kühn und zu umfassend für ihn, wenn er ihn anders auf diesem Weg zu erreichen vermag. Wie denn auch zwei merkwürdige Stellen des vorliegenden Buchs zeigen: „Er erzählt mir", sagt Boisseree, „von seiner philosophischen Entwicklung. Philosophisches Denken; ohne eigentliches philosophisches System. Spinoza hat zuerst großen und immer bleibenden Einfluß auf ihn geübt. Dann Bacos kleines Traktätchen ,De idolis'; Ειδολεις , von den Trugbildern und Gespenstern. Aller Irrtum
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in der Welt komme von solchen Ειδολεις (ich glaube, er nimmt deren zwölf hauptsächlich an). Diese Ansidit half Goethe sehr, sagte ihm ganz besonders zu. Überall suchte er nun nach dem Eidolon, wenn er irgend Widersprüche fand, oder Verstockung des Menschen gegen die Wahrheit, und immer war ein Eidol da. War ihm etwas widerwärtig, stieß man gegen die allgemeine Meinung, so dachte er bald, das wird ein Eidol sein, und kümmerte sich nicht weiter. So reiste er nach Italien; da besonders wurde er immer von philosophischen Gedanken verfolgt, und kam er auf die Idee der Metamorphose" [Tagebuch 2./3. Oktober 1815; I, 286 f.]. Wunderbar, wie sich ihm an solche Gedankengänge die Liebe zu Spinoza anschloß. Dieser abstrakteste der Philosophen war zugleich ein mathematischer Kopf, und dessen Methode, den idealsten Gegenstand auf anschaubare Formeln zu bringen, war ihm entschieden sympathisch. „Ich führe", sagte er zu Boisseree, „ die ,Ethik' von Spinoza immer bei mir; er hat die Mathematik in die Ethik gebracht, so ich in die Farbenlehre, das heißt, da steht nichts im Hintersatz, was nicht schon im Vordersatz begründet ist" [I, 255]. Und zugleich wie sicher ist er, durch diese Apercus zu Formeln verallgemeinernde Methode die ganze Natur zu umfassen! „Er sei überzeugt", sagte er zu Boisseree, „es lasse sich alles auf feste Prinzipien bringen, wie die Mathematik" [1,255], „Alles", sagt er gelegentlich, „ist Metamorphose im Leben, bei Pflanzen und bei Tieren, bis zum Menschen, und bei diesem auch. Je vollkommener, je weniger Fähigkeit, aus einer Form in die andere überzugehen" [I, 255], — „Ach Gott, es ist alles so einfach und immer dasselbe. Es ist wahrhaftig keine Kunst, unser Herrgott zu sein, es gehört nur ein einziger Gedanke dazu, wenn die Schöpfung da ist. Was vorher war, geht mich nichts an. Aber so einfach und so leicht der Gedanke ist, so schwer lassen es sich die Menschen werden, alles zu zerstückeln" [1,255]. An diesem Punkt begrenzt die moderne zerlegende Naturforschung seine aufbauende Naturphilosophie. Er hat diese Grenze niemals anerkennen wollen. Der unaufhörliche innere Kampf gegen diese Richtung hat manche bittere Stunde in seine späteren Jahre gebracht. Außerordentlich liebenswürdig nun ist die Art, wie er innerhalb dieser Grenzen seines geistigen Verfahrens jeder ernst gemeinten Bestrebung treulich entgegenkommt, ja wie er sich nicht scheut, alte lang gehegte Vorurteile aufzugeben, wo ihm nur gründliche, geordnet und sachlich vorgebrachte Einwände entgegentreten. Die Tagebücher Boisserees über die längeren Zusammenkünfte, die er mit Goethe hatte, geben hierfür das merkwürdigste Beispiel. Man weiß, wie Goethe sich über jede Art von mittelalterlicher Kunst, ja über seine eigene alte Verehrung des Straßburger Münsters beinah mit Verachtung ausgesprochen hat. Da begegnet dem alten Klassiker der junge und doch besonnen gemäßigte Romantiker. Wie auch Boisseree in seinen behaglichen Berichten durchklingen läßt: schwerlich würde einem anderen aus der romantischen Schule diese Bekehrung des alten Heiden gelungen sein. Auch in ihm war etwas von dem reichsstädtischen Selbstgefühl und der ruhigen Sicherheit und Mäßigung, wie sie Goethe eigen war. Er schlägt ihn gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen. Es ist reizend, den Bericht hiervon zu lesen, mit welcher Vorsicht die beiden einander umkreisen, mit welcher zurückhaltenden Mäßigung sie einander
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entgegengehen, bis der Punkt wirklichen Einverständnisses gefunden ist. Und dann ist das volle und reine Wohlwollen rührend, mit welchem der greise Dichterfürst diese aus edlen Motiven und aus klarem Geiste entsprungenen Bestrebungen umfaßt. Vom 3. Mai 1811 ist der erste Bericht Sulpiz Boisserees: „Ich komme eben von Goethe, der mich recht steif und kalt empfing, ich ließ midi nicht irremachen und war wieder gebunden und nicht untertänig. Der alte Herr ließ midi eine Weile warten, dann kam er mit gepudertem Kopf, seine Ordensbänder am Rock; die Anrede war so steif vornehm als möglich. Ich brachte ihm eine Menge Grüße. .Recht schön', sagte er. Wir kamen gleich auf die Zeichnungen, das Kupferstichwesen, die Schwierigkeiten, den Verlag mit Cotta, und alle die äußeren Dinge. ,Ja, ja, schön, hem, hem.' Darauf kamen wir an das Werk selbst [über den Kölner Dom], an das Schicksal der alten Kunst und ihrer Geschichte. Ich hatte mir einmal vorgenommen, der Vornehmigkeit ebenso vornehm zu begegnen, sprach von der hohen Schönheit und Vortrefflichkeit der Kunst im Dom so kurz als möglich, verwies ihn darauf, daß er sich durch die Zeichnungen ja selbst davon überzeugt haben würde, — er machte bei allem ein Gesicht, als wenn er mich fressen wollte. Erst als wir von der alten Malerei sprachen, taute er etwas auf, bei dem Lob der neugriechischen Kunst lächelte er; . . . ich war in allen Studien so billig, wie Du mich kennst, aber auch so bestimmt und frei wie möglich, und ließ mich gar nicht irremachen durch sein ,ja, ja, schön, merkwürdig'. Ich gab großmütig meine Gedanken über den Gang der Malerei durch die Einwirkungen von van Eyck zum besten, jedoch mit aller Vorsicht, zugleich ließ ich aber nicht undeutlich merken, daß man eben bei der noch ganz frischen Entdeckung, die wir das Glück gehabt zu machen, seine Gedanken noch nicht gerne ausspreche; ich gab sie auch nur in allgemeinen Zügen; dies ließ er sich alles sehr wohl und behaglich einlaufen" [I, 111 f.]. Indem Boisseree das Gespräch auf den bekannten Reinhard hinführt, ihm auch Cornelius' Zeichnungen ankündigt, erheitert sich der Alte sichtlich mehr und mehr. „. . . er gab mir", meint der kluge selbstbewußte Sulpiz Boisseree, „einen oder zwei Finger, recht weiß ich es nicht mehr, aber ich denke, wir werden es bald zur ganzen Hand bringen. Als ich durchs Vorzimmer ging, sah ich ein kleines, dünnes, schwarz gekleidetes Herrchen in seidenen Strümpfen, mit ganz gebücktem Rücken zu ihm hineinwandeln, da wird er wohl seine Vornehmigkeit haben brauchen können" [I, 112 f.]! In der Tat, schon drei Tage darauf berichtet er dem Freunde: „Mit dem alten Herrn geht mir's vortrefflich, bekam ich auch den ersten Tag nur einen Finger, den anderen hatte ich schon den ganzen Arm. Vorgestern, als ich eintrat, hatte er die Zeichnungen von Cornelius vor sich. ,Da sehen Sie einmal, Meyer', sagte er zu diesem, der audi hereinkam, ,die alten Zeiten stehen leibhaftig wieder auf!' Der alte kritliche Fuchs murmelte (ganz wie Tieck ihn nachmacht, ohne die geringste Ubertreibung), er mußte der Arbeit Beifall geben, konnte aber den Tadel über das auch angenommene Fehlerhafte in der altdeutschen Zeichnung nicht verbeißen. Goethe gab das zu, ließ es aber als ganz unbedeutend liegen und lobte mehr als ich erwartet hatte. . . . Bei Tisch kam die Rede auf allerlei . . . Je weiter wir ins Essen und
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Trinken kamen, desto mehr taute er auf . . . In dem Musiksaal hingen Runges ,Arabesken' . . . Goethe merkte, d a ß ich sie auch a u f m e r k s a m betrachtete, griff mich in den A r m und sagte: ,Was, kennen Sie das noch nicht? D a sehen Sie einmal, was das f ü r Zeug ist, z u m Rasendwerden, schön u n d toll zugleich.' Ich a n t w o r t e t e : ,Ja, ganz wie die Beethovensche Musik, die der da spielt [ein Baron von Oliva aus Wien, das kleine höfliche Männchen v o m Tage zuvor, spielte nach Tisch], wie unsere ganze Zeit.' ,Freilich', sagte er, ,das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im einzelnen; da sehen Sie nur, was f ü r Teufelszeug, u n d hier wieder, was da der Kerl f ü r A n m u t u n d Herrlichkeit hervorgebracht, aber der a r m e Teufel hat's auch nicht ausgehalten, er ist schon hin, es ist nicht anders möglich, was so auf der K i p p e steht, m u ß sterben oder verrückt werden, da ist keine G n a d e . ' Ich schreibe D i r dieses Gespräch nur, um Dir die Vertraulichkeit u n d den schönen Eifer des alten H e r r n zu schildern" [I, 113 f..]. — N u r zwei Tage vergehen, u n d nach der Ansicht der Grundrisse von den Kölnischen Türmen sagt Goethe zu Boisseree, als derselbe von ihm fortgehen will: „ H ö r e n Sie, wir müssen die Sache einmal recht mit Ernst betreiben, ich will morgen um elf U h r zu Ihnen kommen, d a ß wir einmal allein sprechen können, w i r müssen die Zeit benutzen, solange wir beisammen sind, mündlich und die Zeichnungen zur H a n d , versteht man sich erst recht" [I, 115]. U n d so entsteht nun zwischen dem Alten u n d dem Jungen ein lebendiger tagtäglicher Verkehr, in welchem Goethe mit der ihm eigenen großen Aufrichtigkeit alle so scharf ausgesprochenen, von seiner Kunstumgebung mit solcher Leidenschaft gehegten A n sichten über das Verhältnis klassischer u n d deutscher Kunst von G r u n d aus umgestaltet. „Alle Einwendungen des Alten gegen die eigene vaterländische Erfindung der gotischen Baukunst verstummten, und alles, was er wegen dem Straßburger Münster zu sagen hatte, ließ er bald fallen. Er b r u m m t e am Dienstag, als ich bei ihm mit den Zeichnungen allein w a r , wirklich zuweilen wie ein angeschossener Bär, m a n sah, wie er mit sich k ä m p f t e und mit sich zu Gericht ging, so Großes je verk a n n t zu haben" [I, 117]. „Am Mittwoch f a n d ich ihn morgens im G a r t e n , w i r sprachen über Cornelius, er h a t t e ihm geschrieben und ihn redit gelobt, ihm aber zu verstehen gegeben, d a ß er bei altdeutschem Geist, Tracht usw. mehr Freiheit in der Behandlung selber wünschte, und h a t t e ihn an Dürers Gebetbuch verwiesen. Er fragte, ob ich dem nicht Beifall gäbe? D u kannst denken, d a ß das ganz willig geschah" [I, 117]. „Nachmittags nach Tisch saßen wir allein, er lobte recht mit aller W ä r m e und allem Gewicht meine Arbeit. Ich h a t t e das erhebende G e f ü h l des Siegs einer großen, schönen Sache, über die Vorurteile eines der geistreichsten Menschen, mit dem ich in diesen Tagen recht eigentlich einen K a m p f h a t t e bestehen müssen . . . Ich gewann hauptsächlich dadurch, . . . d a ß ich rein die Sache wirken l i e ß , . . . er äußerte sich auch ganz demgemäß über das W e r k . . . Ich sagte ihm, wie ich es erkenne, wie hoch ich seinen Beifall schätze. . . Ich sprach, wie eben meine Stimmung mir es eingab, ich weiß nicht, wie ich die W o r t e setzte, sie mußten meine Bewegung kundgeben, denn der Alte w u r d e ganz gerührt davon, drückte mir die H a n d und fiel mir um den Hals, das Wasser stand ihm in den Augen" [I, 118 f.].
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II. Vier Jahre waren vergangen. Zwischen Goethe und seinem romantischen Freunde war mancher Brief über alte Kunst hin und her gegangen, als Boisseree in Wiesbaden im August 1815 abermals mit dem großen Dichter längere Zeit gemeinsam verweilte. Wir stellen die interessantesten Züge dieses Zusammenseins aus dem Tagebuch zusammen, in bunter Aufeinanderfolge, wie sie Boisseree verzeichnete, um ihnen nicht von dem Reiz frischer und getreuester Anschauung zu nehmen. Man erkennt doch aus ihnen, wie abhängig das Bild selbst eines so großen Mannes von dem zufälligen Schicksal sei, in welche Seele es fällt. Sicher sind Eckermanns Aufzeichnungen mit dem besten Willen treuer Reproduktion geschrieben. Aber sei es, daß Goethe eben Verschiedenen gegenüber doch ein gar Verschiedener war, oder daß Eckermann gerade die Züge entgingen, welche den jungen und den alten Goethe miteinander verknüpfen: es ist uns, wenn wir diese vorliegenden und Mendelssohns Berichte lesen, als ob ein altes warmes und lebendiger Bild aus steifen und pedantischen Ubermalungen uns wieder lebendig entgegentritt. Die große Naivität, die herzliche Empfindungstiefe, die männliche Derbheit: alle die liebsten Züge aus Goethes Jugendzeit sprechen hier wieder zu uns, unentstellt durch die späteren Jahre. Wiesbaden, 2. August 1815. „Mittags kam ich zu Goethe, es war ein freudiger, herzlicher Empfang. Stein hatte ihn ersucht, an Hardenberg ein Memoire zu schreiben über die Kunst und die antiquarischen Angelegenheiten; darüber wollte er mich beraten" [I, 249]. Sie reden von Cornelius, von der Lage der Kunst, von dem, was die Unterstützung der Regierungen hier vermöge. „ ,Gebt nur den Malern und Kunstbeflissenen zu leben und zu tun, so werden sie sich schon von selbst Schüler bilden. Mit allen Zeichenschulen ist es doch nichts, es läuft am Ende nur auf Handwerk und Fabrik hinaus'" [I, 249]. — Sie kommen auf die „Farbenlehre" und den Magnetismus. „Er hasse dieses Treiben, weil die Menschen es zu weit führen, und doch sicherlich nie dahinterkommen, darum bekümmere er sich auch gar nicht darum und wolle nichts davon wissen. Er ehre und erkenne die Erfahrung an, damit sei es aber auch abgetan. ,Es bedürfe', meinte er, ,fünfzig Jahre, ehe die ,Farbenlehre' anerkannt werden könne, sie sei nur für die jungen, unbefangenen Menschen, mit den anderen sei nichts anzufangen, die säßen bis an den Hals in ihrem System, und sei ihnen unbequem, sich einmal auch nur zum Versuch herauszubemühen. Darum sei er auch von Herzen grob gewesen; das gefalle doch wenigstens der Jugend, die dächte: Ei, der Alte weiß doch sonst auch Bescheid und kennt seinen Vorteil, er wird doch nicht ins Blaue hinein schelten und verrückt sein, sondern er muß einen Hinterhalt, Grund und Boden haben, wir wollen das doch näher betrachten und beleuchten. So kommen sie allmählich in die Sache hinein; hätte ich es aber gelinder gemacht, so würden mich die jungen Kerls ebensowenig gehört und gelten gelassen haben. Ich habe mir meine Blockhäuser in die Physik hinein gebaut, so bei der ,Farbenlehre', so bei der ,Metamorphose der Pflanzen'. D a kann mir keiner vorbei, ohne daß ich darauf sdiieße; um das übrige bekümmere ich mich nicht. Jene Lehren habe ich auf Urphänomene gegründet, da
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bin ich schon zu Hause. Was hätte und müßte man alles herausfördern können, wenn man vierzig bis fünfzig Jahre alles, was von außen herkommt, beiseite lassen könnte. Was möchte daraus geworden sein, wenn ich mit wenigen Freunden vor dreißig Jahren nach Amerika gegangen wäre und von Kant usw. nichts gehört hätte'" [I, 250f.]. An diese gemütlichen Konfessionen schließt sich ein verwandtes Gespräch. „Goethe: Wunderliche Bedingtheit des Menschen auf seine Vorstellungsart; wie Kant sehr richtig mit Antimonie der Vorstellungsart ausdrückt; so muß es mir mit Gewalt abgenötigt werden, wenn ich etwas für vulkanisdi halten soll, ich kann nicht aus meinem Neptunismus heraus . . . Diese Antinomie der Vorstellungsart ist es nun, warum wir Menschen nie aufs reine kommen können mit einem gewissen Maß von Wissen, sondern immer alte Wahrheiten und Irrtümer auf eine neue Weise aussprechen; darum wir über viele Dinge uns nie ganz verständlich machen können, und ich daher oft zu mir sagen muß: Darüber und darüber kann ich nur mit Gott reden, wie das in der Natur ist, und das; was geht es nun weiter die Welt an. Sie faßt entweder meine Vorstellungsart, oder nicht, und im letzteren Fall hilft mir alle Menschheit nichts. Darum, über viele Dinge kann ich nur mit Gott reden" [I, 251 f.], — 3. August: „Spaziergang von halb elf Uhr bis Mittag, mit Goethe, vor dem Kursaal, dann Essen daselbst. Nach Tisch spazierten wir am Teich, hinter dem Kursaal, lustige Leute segeln auf einem Boote" [I, 253]. Sie reden über Goethes neueste Arbeiten, insbesondere den „Divan". „Aneignung des Orientalismus; Napoleon, unsere Zeit, bieten reichen Stoff dazu. Timur, Dschingis-Khan, Naturkräften ähnlich, in einem Menschen erscheinend. Die Freiheit der Form ist abgerissen, einzeln; und doch bringt er von den Alten mehr Bildung und Bildlichkeit mit. Das ist gerade das einzige, was den Orientalen abgeht, die Bilder. Goethe sagt: ,Insoweit sei er so eitel und übertrieben, zu sagen, daß er darüber stehe und das Alte und Neue verbinde'" [I, 253f.]. „Dann kommt er auf den ,Faust'; der erste Teil ist geschlossen mit Gretchens Tod, nun muß er par ricochet noch einmal anfangen; das sei recht schwer, dazu habe jetzt der Maler eine andere Hand, einen andern Pinsel, was er jetzt zu produzieren vermöchte, würde nicht mit dem Früheren zusammengehen. Ich erwidere: ,Er dürfe sich keine Skrupel darüber machen, ein anderer vermöchte sich in einen anderen zu versetzen, wie viel eher doch der Meister in seine früheren Werke'. — Goethe: ,Ich gebe es gerne zu, vieles ist auch schon fertig.' — Ich frage nach dem Ende. — Goethe: ,Das sage idi nicht, darf es nicht sagen, aber es ist auch schon fertig, und sehr gut und grandios geraten, aus der besten Zeit.' — [Boisseree:] ,Ich denke mir, der Teufel behalte Unrecht.' — Goethe:,Faust macht im Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus alles folgt.' — Faust bringt mich dazu, wie ich von Napoleon denke und gedacht habe. Der Mensch, der Gewalt über sich selbst hat und behauptet, leistet das Schwerste und Größte. Das ist in den ,Geheimnissen' so schön ausgesprochen. Es war dann die Rede von den vielen Irrtümern in der Welt — und wieder von den glücklichen Blicken in die Wissenschaft —: ,Er sei überzeugt, es lasse sich alles auf feste Prinzipien bringen, wie die Mathematik' [I, 255], ,Die Geheimnisse', sagte Goethe, ,habe er zu groß angefangen, wie so vieles. — Die zwölf Ritter sollten die zwölf Religionen sein und alles sich nachher absichtlich durcheinander wirren, das Wirkliche als 20
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Märchen, und dies umgekehrt als die Wirklichkeit erscheinen'" [1,256]. Dann kommt die Rede in den Morgenstunden des folgenden Tages auf die jüngst katholisch gewordenen Protestanten. Goethe möchte den Weg, auf dem sie zum Katholizismus gekommen, näher kennenlernen. Er hält ihrem Versuch, die Tradition durch Gelehrsamkeit und Historie stützen zu wollen, entgegen, daß man die Überlieferung entweder auf gut Glück und völlig annehmen müsse, oder die Kritik ganz frei walten lassen. „Es ist aber gut, ich lasse sie machen, es geht zugrunde, und das ist recht" [I, 257]. Es kommt dann im nächsten Morgengespräch auf die Badebesuche bei fürstlichen Personen die Rede, über welche wir bekanntlich in den Varnhagenschen „Tagebüchern" so gespreizte und wichtig tuende Berichte bekommen haben. Goethe klagt über dergleichen Anmutungen: Sie „haben nichts von mir, und ich nichts von ihnen" fl, 258]. Boisseree vergleicht die fürstlichen Personen und vornehme Welt mit Gewässer, welches um uns herum anschwillt, man segle auf ihm frisch dahin, könne sich aber auch wieder verlaufen. Man müsse ihm nicht trauen, es sei und bleibe Wasser. Goethe antwortet prächtig: „Nun, zu hypochondrisch müsse man sie nicht nehmen, aber so als Naturkräfte" [I, 258]. Dann des Abends sind sie zusammen auf dem benachbarten Geisberg mit dem Oberbergrat Kramer aus Hanau und dessen Töchterchen. „Goethe neckte sie mit ihrer großen Pestalozzischen Rechenkunst, erzählte uns von der Schule hier, und ließ dem Mädchen keine Ruhe, bis sie sich selbst eine algebraische Aufgabe, aber in Zahlen, gab und die Auflösung machte . . . Mir wurde ganz schwindlich bei der Auflösung; vorerst war es einmal nicht möglich zu folgen; dann aber die Bestimmtheit, die Förmlichkeit, womit das Kind die trockenen Dinge aussprach, die man sonst nur in den mathematischen Hörsälen zu hören kriegt, und wie sich das arme Köpfchen was darauf zugute tat, mit den hohlen Zahlen und Verhältnissen herumzuwirtschaften; wie es gar selbst mit über diese Kunst sprach und vernünftelte, warum es Elementarunterricht genannt werde, da es doch, wie Goethe bemerkte, ganz darüber hinausginge, weil jeder alles selbst finde und erfinde . . . Das alles mit der festen, schulmeisterlichen Haltung, setzte mich wahrhaft in Schrecken. Gewitter am Himmel. Auf dem Rückweg Gespräch über orientalische Poesie. Hafiz ein anderer Voltaire . . . Als wir im Dunkel gegen zehn Uhr nach Hause kamen, klagte Goethe seinen Jammer über dies Pestalozzische Wesen. Wie das ganz vortrefflich nach seinem ersten Zweck und Bestimmung gewesen, wo Pestalozzi nur die geringe Volksklasse im Sinne gehabt, die armen Menschen, die in einzelnen Hütten in der Schweiz wohnen, und die Kinder nicht in die Schule schicken können. Aber wie es das Verderblichste von der Welt werde, sobald es aus den ersten Elementen hinausgehe, auf Sprache, Kunst und alles Wissen und Können angewandt werde, welches notwendig ein Überliefertes voraussetze, und wo man nicht mit unbekannten Größen, leeren Zahlen und Formen zu Werke gehen könne. Und nun gar dazu der Dünkel, den dieses verfluchte Erziehungswesen errege; da sollte ich nur einmal die Dreistigkeit der kleinen Buben hier in der Schule sehen, die vor keinem Fremden erschrecken, sondern ihn in Schrecken setzen! Da falle aller Respekt, alles weg, was die Menschen untereinander zu Menschen macht. Was wäre denn aus mir geworden, sagte er, wenn ich nicht immer genötigt gewesen wäre, Respekt vor anderen zu haben. Und
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diese Menschen mit ihrer Verrücktheit und Wut, alles auf das einzelne Individuum zu reduzieren und lauter Götter der Selbständigkeit zu sein; diese wollen ein Volk bilden und den wilden Scharen widerstehen, wenn diese sich einmal der elementarischen Handhaben des Verstandes bemächtigt haben, welches nun gerade durch Pestalozzi unendlich erleichtert ist. Wo sind denn religiöse, wo moralische und philosophische Maximen, die allein schützen könnten? Er fühlte recht eigentlich einen Drang, mir über dieses alles sein Herz auszuschütten" [I, 259f.]. Man kann dieses Gespräch nicht lesen, ohne jene merkwürdigen Darstellungen der „Wanderjahre" und das darin aufgestellte Ideal der Erziehung mit seinem seltsamen symbolischen Apparat wachsen zu sehen. Es zeigt, daß jene Darstellungen viel weniger von kritischen Gedanken über das bestehende Unterrichtswesen als von polemischer Tendenz gegen die Versuche der Pestalozzischen Schule, im Jugendunterricht mit dem Aufbau einer völlig rationellen Welt zu beginnen, ausgingen. Eine ähnliche und mit dieser ganz verwandte Antipathie kommt am folgenden Tage zum Vorschein, als Boisseree einiges aus seinem Leben erzählt. „ A m meisten fiel ihm auf, daß ich zwei Jahre in dem Hamburger Teewasser gelebt. — ,Nun da gehörte doch eine gute Natur dazu, das zu überleben.' . . . Er, Goethe, habe das auf alle interessante Menschen erpichte Reimarussche Wesen immer gemieden, an Jacobi genug gehabt; dafür hätten sie ihn auch schöne gehaßt, ihn einen scharfsinnigen Menschen genannt, der dann und wann gute Einfälle h a b e . . . " [I, 261]. Er liest dann aus seinem „ D i v a n " dem jungen Freunde vor; wir erfahren, daß eines seiner Gedichte sich auf Paulus' Frau in Heidelberg bezieht. „Er macht mir die Konfession, daß ihm die Gedichte auf einmal und ganz in den Sinn kämen, wenn sie recht wären; dann müsse er sie aber gleich aufschreiben, sonst finde er sie nie wieder; darum hüte er sich, auf den Spaziergängen etwas auszudenken. Es sei ein Unglück, wenn er es nicht ganz im Gedächtnis behalte, sobald er sich besinnen müßte, würde es nicht wieder gut, auch ändere er selten etwas; ebenso sei es ein Unglück, wenn er Gedichte träume, das sei meist ein verlorenes. Ein italienischer Poet (Petrarka) habe sich aus diesem Grund ein ledernes Wams machen lassen, worauf er im Bett habe schreiben können" [I, 264], Es sei, erzählt er weiter, nicht leicht eine Begebenheit, worüber er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. Seinen Verdruß über die Angelegenheiten der Tagespolitik usw. lasse er so zur Herzenserleichterung in Gedichten aus; damit schaffe er sich die Dinge vom Halse. Sonst habe er dergleichen immer verbrannt. Jetzt gebe er solche persönliche und zeitliche Gedichte, die er verwerfe, seinem Sohne. Der verehre alles von ihm mit Pietät, da lasse er ihm den Spaß. — Am 12. August fuhren sie dann gemeinsam über Mainz nach Frankfurt. Auf dem Wege kommt Boisse^e mit seinem Wunsch zum Vorschein, nach Weimar mit der Gemäldegalerie überzusiedeln. Es ist wunderschön, mit welcher Vorsicht Goethe diese anhaltende Nachbarschaft mit den Romantikern abzulehnen weiß. In Frankfurt wohnt Goethe auf der Gerbermühle bei der befreundeten Willemerschen Familie. Hier feiert denn auch der Dichter seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag unter so viel alten und neuen Freunden. Boisseree berichtet: „Am Morgen gleich nach der Mühle hinausgeeilt; die Familie Willemer, Herr Scharf und seine 20*
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Frau, Fritz Schlosser, Kastenschreiber Riese, alter Schulkamerad von Goethe und Seebeck, sind mit dem alten Herrn beim Frühstück versammelt. Das große Gartenhaus war ganz mit Schilf ausgeziert, mit Palmbäume zwischen den Fenstern gebunden, oben überhängt. An der hintern Wand, wo der Alte saß, war ein großer Spitzschild von Laubkränzen angebracht, darinnen ein runder Kranz von Blumen, nach der Farbentheorie geordnet. Hier brachten ihm die Frauen des Hauses, Frau Willemer und Frau Städel, zwei Körbe, den einen voll der schönsten Früchte, den andern mit den prächtigsten, meist ausländischen Blumen. Auf den Körben lag ein T u r b a n . . . in Anspielung auf seine jetzige Liebhaberei für die orientalische P o e s i e . . . " [1,271]. Morgens, als er eben aufstand, hatte Frau Hollweg Musik machen lassen. „ ,Ei, ei', sagte er, etwas ängstlich und bedenklich, ,da kommen ja gar Musikanten'; doch fand er sich bald zurecht, weil die Musik gut war" [I, 271]. Bei Tische kommen denn einige nicht allzu feine Späße Ehrmanns, und dann las Goethe bis in die Nacht aus seinen orientalischen Gedichten vor. Am 8. zieht dann Goethe in Willemers Haus in der Stadt über. Boisser£e kommt des Abends zu ihm und findet ihn am Fenster, wie er die Pracht brasilianischer Trockenhäute bewundert. „Was das für ein Glanz und eine Farbe ist" [I, 275]! Dadurch kommen sie auf die „Farbenlehre" Goethes. [Goethe:] „Es findet sich überall ein Haken, ein Kreuz in aller Expansion und Kontraktion, überall dasselbe, alles nur Metamorphose. Ja in der Naturansicht lasse ich mir den Pantheismus schon gefallen; weiß wohl, daß man damit am wenigsten ausreicht" [I, 275]. Und dann: „ . . . die Natur ist so, daß die Dreieinigkeit sie nicht besser machen könnte. Es ist eine Orgel, auf der unser Herrgott spielt, und der Teufel tritt die Bälge dazu" [1,275], Boisseree kommt gelegentlich abermals auf den Wunsch, den Winter in Weimar zuzubringen, „Er rät abermals ab. Seine Heiden machen es ihm, da er doch selbst ein Heide sei, oft zu arg; das sei nichts für mich; ich würde bloß auf ihn reduziert sein, das sei zu wenig, weil er mich oft genug in freier, vertraulicher Ruhe sehen könnte" [I, 275 f.]. Er zeigt Boisse^e die begonnene Schrift von „Kunst und Altertum im südwestlichen Deutschland" und meint bei dieser Gelegenheit, „er habe sich so oft gefragt, warum er sich mit so vielerlei Dingen abgegeben? Habe doch so entschiedene Anlage und Neigung zum Dichten, warum er nicht allein dabei geblieben? Warum er sich auch in die Wissenschaften gewagt, und es ihm keine Ruhe gelassen, selbst in Italien nicht. Ich meinte, er habe seinem Zeitalter die Schuld und Buße bezahlen müssen; er stimmt ein" [I, 276]. Wie sie dann miteinander über Darmstadt Karlsruhe entgegenreisen, besprechen sie viel über das Wesen der gotischen Baukunst, und auch manche persönliche Erinnerung kommt zutage. „Alte Erinnerungen: Wie oft Goethe den Pfad durch die Gerbermühle gegangen nach Offenbach zur Schönemann. Liebesgeschichte. Seine Lieder an Lilly. Braut und Bräutigam. Wie sie allmählich voneinander entfernt wurden durch einen dritten, ohne es selbst zu wissen. Religionsverhältnisse waren erster Anlaß, sie ist reformiert, er lutherisch. Sie sind unglücklich, wie die Kinder, die ein Leid haben und es sich wechselseitig klagen und nicht wissen warum. Dorville, ein Pfarrer, ist im Spiel. Sie hat ihm den größten Teil ihrer höhern Bildung zu danken. Vorher Gleichgültigkeit gegen die Welt, wie es sich bei Mädchen in einem reichen Kaufmannshaus, die alle Tage von Gesellschaft
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umgeben sind, von frühester Jugend her, leicht einfinden muß, wenn sie nicht selbst flach und leer sind. — Er spricht von seiner Verlegenheit wegen dieser Geliebten, die Lebensbesdireibung fortzusetzen; ich suche sie ihm auszureden. V o r vierzig Jahren reiste er auch nach Karlsruhe; er werde da Jung Stilling Wiedersehen, dem er seitdem nicht begegnete" [1, 2 8 5 f . ] . Die Erzählung dieses Besuchs bei dem alten Jugendfreund ist höchst charakteristisch. „. . . werden von der Frau nicht erkannt und von ihm kalt aufgenommen. E r muß morgen mit Elberfeldern nach Baden fahren. Anstalten zum Tee sind gemacht; wir werden nur von der Frau dazu eingeladen . . . Er stichelt auf den Geheimen Rat. Goethe auf den Bischof; der Alte wirft sein schwarzes Käppchen weg, Goethe zwingts ihm wieder auf. Dann müssen wir in die Studierstube, wo noch alle Geburtstagskränze und Geschenke: kleine schlechte Zeichnungen, Kupferstiche, Porträts von Minister Stein, Kaiser Alexander, Lavater usw., alles durcheinanderlag. Goethe, der so herzlich und jugendlich wie möglich, war tief gekränkt durch diesen Empfang; am meisten aber durch die Äußerung Jungs: Ei, die Vorsehung führt uns schon wieder zusammen" [ I , 2 8 7 f . ] . Von da geht's nach Heidelberg, wohin der Herzog kam. „Unterwegs kamen wir dann auf die .Wahlverwandtschaften' zu sprechen. E r legte Gewicht darauf, wie rasch und unaufhaltsam er die Katastrophe herbeiführt. Die Sterne waren aufgegangen; er sprach von seinem Verhältnis zu Ottilie, wie er sie lieb gehabt, und wie sie ihn unglücklich gemacht. E r wurde zuletzt fast rätselhaft ahndungsvoll in seinen Reden. Dazwischen sagte er dann wohl einen heiteren Vers. So kamen wir müde, gereizt, halb ahndungsvoll, halb schläfrig, im schönsten Sternenlicht, bei scharfer Kälte nach Heidelberg" [I, 2 8 9 ] , Am folgenden Morgen will Goethe plötzlich fort, „er sagte mir: Ich mache mein Testament. Wir bereden ihn mit großer Mühe, noch einen Tag auszuruhen und übermorgen zu reisen. Die Jagemann hat ihn mit den andern Damen gedrängt, er soll nach Mannheim kommen, zu Tableau und Attitüden. E r fürchtet den Herzog. E r ist sehr angegriffen, hat nicht gut geschlafen, muß flüchten . . . Den siebenten Regenwetter. Goethe ist frühmorgens unruhig, fürchtet eine Krankheit, will schon zu Mittag fort. Ich biete mich ihm zur Begleitung an, und bereite mich vor, ihm bis Weimar zu folgen. Trauriger, schwerer Abschied. Im Wagen erholt sich der Alte allmählich. Die Sicherheit, nicht mehr vom Herzog oder Jagemann erreicht zu werden, beruhigt ihn sichtbar. Gespräch darüber. Deutsche Politik, Verhältnisse; die Forderungen des Adels und der Bürger hält er nicht für gefährlich. Ständische Verfassung; es sei keine Umwälzung zu befürchten, wenn nur die Fürsten halbwegs ihren Vorteil kennen und einigermaßen den gerechten Wünschen entgegenkommen wollten. Die heftigen Volksmänner seien nichts weniger als beliebt. Aristokratismus im eigentlichen Sinne sei das Einzige und Rechte. Er spricht seine Freude darüber aus, daß ich mich in nichts verwickelt habe, trotz der vielen Lockungen und Gelegenheiten" [ 1 , 2 8 9 f . ] . Unter vertraulichen Gesprächen über die Verhältnisse der herzoglichen Familie, die Not, die der Herzog mit der Familie Jagemann hat, das gute Benehmen des herzoglichen Hauses gegen diese und ihre Kinder, kommen sie bis Würzburg; Goethe hatte den jungen Freund vorher noch nicht entlassen wollen. „Gestern befand er sich viel besser, und da ich beide Nächte bei ihm im Zimmer geschlafen und mich davon überzeugt hatte,
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konnte ich ihn ohne Sorge mit meinen frömmsten Wünschen abreisen sehen. — Ich gehe in den Dom. G e b e t " [I, 291]. Abermals verstreichen zehn Jahre. U n d zwar nunmehr, während bis zu diesem Zusammensein der gemeinsame Briefwechsel doch nur spärlich war, in höchst lebhafter Korrespondenz über mittelalterliche Kunst nicht nur, sondern auch manches vertraute Persönliche, als im Mai 1826 Boisseree noch einmal Goethe sah. Aber es ist kein so heiteres Bild, als es diese letzten Tagebücher uns gaben, welches diese Zusammenkunft in Weimar zeigt. „. . . er ließ midi sogleich kommen. Es war elf Uhr, ich fand ihn hinten in seinem Arbeitszimmer, er empfing mich mit Tränen in den Augen recht herzlich. Er sieht gut aus, ist aber etwas matt im Gespräch, dann und wann ist sein Gehör etwas schwächer; auch fehlt wohl einmal das Gedächtnis für die kurz vergangenen Dinge. Er liest den ,Globe' mit vielem Anteil, überhaupt nimmt ihn die Gegenwart sehr in Anspruch, die Händel von Voß usw." [I, 471]. In diesem Sinne ist denn auch das Tischgespräch. „Lebhaftes Gespräch über die Symboliker. Der alte Herr ist im Zorn gegen Schorn. ,Ich bin ein Plastiker', sagte er, auf die Büste der J u n o Ludovisi im Saal zeigend, ,habe gesucht, mir die Welt und die N a t u r klarzumachen, und nun kommen die Kerls, machen einen Dunst, zeigen mir die Dinge bald in der Ferne, bald in einer erdrückenden Nähe, wie ombres chinoises, das hole der T e u f e l ' " [I, 4 7 3 ] . U n d dann am folgenden Tage ein ähnliches Gespräch. „ D a s Lästern geht wieder an. Paris, das deutsche und französische Parteiwesen, Fürstenlaunen, Geschmacksverderbnis, Albernheiten aller Art, Pfafienkram in Frankreich und aufklärerische Verketzerungssucht in Deutschland... das ist in ganz speziellem Bezug der Inhalt unserer Gespräche. Mit allen diesen moquanten Reden komme ich mir zuletzt wie auf dem Blocksberg vor! Ich sage es dem Alten; er meint: ,Ei nun, wir kommen noch nicht herunter, solange wir die Welt noch nicht ganz durchgesprochen haben, müssen wir auf diesem sauberen Gespräch über die Gesellschaft verweilen'" [I, 474], Fast drei Wochen hält sich Boisseree in Weimar auf, ohne daß die Gespräche dieser Anwesenheit viel böten, was an Interesse jenen früheren frischeren zu vergleichen wäre. Es hielt Goethe schwer, sich von dem jungen Freunde zu trennen. „Ich hatte die größte Mühe, mich von dem Alten loszureißen, obschon ich die Abreise dreimal verschoben hatte, so bat er mich doch wiederholt, ich möchte bleiben. ,Wir kommen so jung nicht mehr zusammen; Sie glauben nicht, wie wohltätig Ihr Besuch mir ist; es wird immer besser, je länger Sie da sind, verweilen Sie noch, überlegen Sie es.' . . . Als ich vom Großherzog Abschied genommen hatte und zu ihm kam, ergab er sich mit den Worten: ,Ich traue Ihnen zu, lieber Sulpiz, daß Sie nicht anders können.' Der Abschied endlich war so herzlich wie der E m p f a n g , die Tränen traten dem herrlichen Greis in die Augen, und ich riß mich schnell aus seinen Armen mit dem Ausdruck des lebhaften Wunsches, ihn wiederzusehen. Mein Gefühl widersprach diesem Wunsch nicht, es steigerte denselben vielmehr zur Hoffnung, denn, das nicht bedenkliche Drüsenübel abgerechnet, ist der alte Herr noch so kräftig, daß er ein hohes Alter erreichen k a n n " [I, 4 8 1 ] ! Boisseree sollte ihn nicht Wiedersehen. Eine lebhafte Korrespondenz hielt ihn bis an Goethes Lebensende mit diesem verbunden. Der ganze zweite Band der
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Boissereeschen Korrespondenz enthält diesen Briefwechsel, der ein hochwichtiger Beitrag zur Kenntnis der späteren Lebensepoche Goethes ist. So unentbehrlich derselbe f ü r den Literarhistoriker ist, und so voll von interessanten Zügen f ü r jeden, den Goethes Kunstansichten ein tieferes Interesse einflößen: ein Bild Goethes von so frischer Unmittelbarkeit, als diese Tagebücher es bieten, vermag er freilich nicht zu gewähren. Denn in keinem Berichte vielleicht, den wir über den späteren Goethe haben, spiegelt sich dieser gewaltige Geist in einem so einfachen, naiven, in seinen bescheideneren Grenzen Goethe wirklich wahlverwandten Gemütern. Davon scheint audi Goethe etwas empfunden zu haben. Alle Ergänzungen über die allmähliche Annäherung beider sprechen d a f ü r . Als Boisseree die Nachricht von Goethes Tod erhielt, w a r er eben mit ein paar Briefen Goethes aus früheren Jahren beschäftigt, die er unter Papieren seines Schwiegervaters gefunden hatte; seine Gedanken waren ganz bei Goethe, denn der Tag war schon bestimmt, an dem er ihn in Weimar Wiedersehen wollte, „da kam meine gute Frau und sagte: ,Du wirst wohl nicht reisen!' Ich erschrak und erriet aus ihren Augen, was geschehen. Ich kann es", schreibt er einige Zeit darauf an Frau von Goethe, „noch nicht ohne Tränen niederschreiben. Durch des Lebens Wechsel immer mehr auf Täuschung gefaßt, überwältigte mich dennoch diese fürchterliche Nachricht" [II, 595], „Es sind nun zweiundzwanzig Jahre", so schreibt er dem Bruder, „daß wir mit dem alten Herrn in dem schönsten Freundschaftsverhältnis gestanden haben. Ich fühle, es kann uns nie ersetzt werden . . . Man erwirbt doch nur wenig neue Freunde, wenn man älter wird, und desto mehr verliert man. O h n e Liebe und Freundschaft ist aber die schöne Welt mit allem Sonnenschein der N a t u r und Kunst gar nichts wert" [II, 580f.]. Mit manchem größeren Geist hat Goethe seine Ideen ausgetauscht, aber kein wärmeres, hingehenderes Gemüt hat er sich gewonnen als Sulpiz Boisse^e.
Ludwig Uhland Otto Jahn, Ludwig Uhland. Bonn 1863. Von den Gaben, welche freundliche H ä n d e auf Uhlands winterliches Grab legten, ist diese von O t t o Jahn die anmutigste und reichste. Solange die angekündigte Biographie von Freundeshand noch nicht vor uns liegt, wird man in dieser Übersicht, welche alles bis heute Bekannte zusammenfaßt und eine Reihe wertvoller literarischer Mitteilungen hinzufügt, das Leben des deutschen Dichters am besten überblicken. Von jener Biographie wünschen wir nur, daß sie uns, wenn auch erst nach einigen Jahren, eine gründliche Verarbeitung dessen, was aus Briefen und persönlichen Mitteilungen jetzt noch so reichlich zu erlangen ist, geben möge; jenes merkwürdigen bunten Lebens der schwäbischen Poetenschule, der Kerner, Pfizer, Schwab, Karl Mayer: wie ihr poetisches Talent in Uhland kulminierte, so gruppiert
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sich schließlich das Bild ihres gemütlichen Treibens um ihn als ihren überlegenen Mittelpunkt. Wie wertvoll ist uns, was aus einem anderen gleich bedeutenden schwäbischen Kreise Strauß in seinem „Märklin" mit so unvergleichlichem künstlerischen Behagen geschildert hat. In etwas wenigstens ersetzen uns solche Biographien mitstrebender Zeitgenossen jene prächtige alte Gelehrtensitte der Selbstbiographie, die freilich aus guten Gründen aus der Mode gekommen ist. Möge so das persönliche Bild dieses echten Mannes, wie es vor den Augen der Zeitgenossen steht, in lebendigen Zügen erhalten werden: so schweigsam verschlossen und doch so offen und frei, so männlich und doch von so kindlicher Zartheit der Empfindung, im Leben ein Einsamer, im Herzen glühend für jede gemeinschaftliche Sache des Menschengeschlechts. Obwohl er selber die Vergänglichkeit dieser persönlichen Seite unseres Daseins so stark und tief ausgesprochen hat! Wie Wie Wie Das
du auf zu Gott geblickt, des Freundes Hand gedrückt, der Liebe Kuß gegeben, entschwindet mit dem Leben.
Aber die Dichter sind von dieser Vergänglichkeit des persönlichsten im menschlichen Dasein ausgenommen, sie allein unter allen Großen der Geschichte. Man kann kein Blatt von Uhlands Gedichten lesen, ohne wie in eine spiegelklare Flut in diese helle, durchsichtige Seele zu schauen, deren ganzes inneres Leben, geordnet und einfach wie es war, in seiner Dichtung Sprache gefunden hat. Hierin steht er mit seinen schwäbischen Freunden anderen dichterischen Zeitgenossen, wie Heine und Brentano, scharf gegenüber. Er durfte allem Worte geben, was er empfand. Die Harmonie, welche seine Lieder durchdringt, stammte aus seinem Leben. Er gehört zu dem Kreis der Wenigen, welchen es gelang, dem lyrischen Drang, der in den ersten Dezennien unseres Jahrhunderts so mächtig heraustritt, eine klassische und für alle Zeit unseres Volkes dauernde Gestalt zu geben. Die Lieder und Romanzen der Dichter, die Melodien der Musiker jener Jahre werden erst mit dem deutschen Volke selber sterben. Was er als Politiker und Philologe gewesen: ist in seiner letzten Zeit, da seine Poesie verstummte, stark hervorgehoben worden, und Otto Jahn hat das letztere mit der besonderen Vorliebe des Fachgenossen behandelt. Aber seine Lieder werden leben, wenn niemand mehr die Redner der württembergischen Kammer und die Mitglieder der Germanistenschule aufzählen wird. Es tut diesen Dichtern allen keinen Eintrag, daß sie Epigonen Goethes sind, und alle daran ihr Maß haben, inwiefern es ihnen gelang, sich in ihrer Weise in der Sprache des Lieds, wie sie Goethe erfand, frei zu bewegen. Man könnte wohl das wirklich Vollendete und Klassische in dieser Art, was ohne wirkliche Manier im reinen Geist unserer Sprache und in der echten Form des deutschen Liedes gedichtet ist, in einem mäßigen Bändchen umfassen: ein Supplement gewissermaßen zu Goethes Gedichten. Eine Reihe von Liedern und Romanzen von Mörike, von Heine, von Eichendorff, Rückert und einigen andern: von keinem könnte die kleine Sammlung wohl so viel enthalten als von Uhland, obwohl von manchem anderen Tieferes und Eigen-
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tümlicheres. Wir glauben audi: Mörike ausgenommen, von keinem so ganz von jener Manier Freies, in der größten Schlichtheit Klassisches. Es ist sehr interessant, nach dem von Bernays aufgestellten chronologischen Verzeichnis die Entwicklung des Dichters in Lied und Romanze zu verfolgen. Leider bezieht sich dies Verzeichnis nicht auf die Entstehung, sondern den ersten Abdruck der einzelnen Gedichte; nur bei der weitaus kleineren Zahl der Gedichte war die Entstehungszeit aus Mitteilung Notters zu schöpfen. Von der künftigen Biographie dürfen wir hierüber vor allem genaue Untersuchung erwarten. Aber auch so läßt sich einiges Merkwürdige sehen. Uhlands poetisches Talent war außergewöhnlich früh entwickelt. Wie er zwischen den schwäbischen Rebenhügeln, im lebendigen Verkehr mit poetisch gestimmten Freunden und im lebendigeren noch mit unserer alten deutschen Poesie, die sich damals aus langer Vergessenheit wieder erhob, aufwuchs, in diesem abgegrenzten Kreise von allem aufs glücklichste gefördert, von keiner geistigen Bewegung anderer Art abgelenkt, war er mit zwanzig Jahren ein fertiger Dichter. Für die Stärken wie für die Schwächen seines poetischen Talents ist dies höchst charakteristisch. Keine Gärungen der Gedanken, kein Uberschwanken der Leidenschaft scheint jemals die klaren Linien seiner sich ausbildenden dichterischen Form verwirrt zu haben. Dagegen brachte er aus seinem Studium unserer alten Poesie das höchste Verständnis, das feinste Studium dichterischer Form mit. Er war Romantiker, aber in seinem klaren Gemüt übersetzte sich die unruhevolle Gärung, die mystische Grübelei, das exzentrische historische Fantasieren der Romantik sofort in eine ruhige Empfindungstiefe, welche sein edles Gemüt aus den Werken deutscher Vorzeit ausschließlich herauslas. Höchst merkwürdig ist in dieser Beziehung sein Aufsatz „Über das Romantische", der aus dem Tübinger „Sonntags-Blatt" im „Weimarischen Jahrbuch" und in den literarhistorischen Beilagen unseres vorliegenden Buches mitgeteilt ist. Als Cotta 1806 das „Morgenblatt" gegründet hatte und dessen Redaktion dem Satiriker Christoph Friedrich Weißer übertrug, dem „reinen Hermelin der alten Schule", mit der ausgesprochenen Tendenz, dem romantischen Unfug zu steuern: hatten die Tübinger studentischen Genossen ein „Sonntags-Blatt" zur Abwehr dieser „Pianisten" herausgegeben — nicht gedruckt, nur geschrieben, wie es sich für ein Studenten-Journal schickt, mit Karikaturen von Karl Mayer, viel Gedichte der Freunde darin, daneben allerhand Scherz übermütiger Art. Hier also erschien Uhlands Aufsatz „Uber das Romantische". Dasselbe wird hier als die Erscheinung der poetischen Natur des Menschen behandelt: überall mit dem merklichen Anklang an Novalis und Friedrich Schlegel. „Das Unendliche umgibt den Menschen, das Geheimnis der Gottheit und der Welt." „Die reellen Seelenkräfte langen mit unendlicher Sehnsucht in die unendliche Ferne. Der Geist des Menschen aber, wohl fühlend, daß er nie das Unendliche in voller Klarheit in sich auffassen wird, und müde des unbestimmt schweifenden Verlangens, knüpft bald seine Sehnsucht an irdische Bilder, in denen ihm doch ein Blick des Uberirdischen aufzudämmern scheint; mit liebender Andacht wird er solche Bilder umfassen." „Dies mystische Erscheinen unseres tiefsten Gemütes im Bilde, dies Hervortreten der Weltgeister, diese Menschwerdung des Göttlichen, mit einem Worte: dies Ahnen
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des Unendlichen in den Anschauungen ist das Romantische." Er verwahrt sich ausdrücklich dagegen, den Ursprung desselben im Christentum zu erblicken: „Schon in den alten nordischen Götter- und Heldensagen herrscht der romantische Sinn"; aus ihm gestaltete sich der Geist der Ritterwelt in Religiosität, Minne und Tapferkeit. Es gibt romantische Charaktere, d. h. vom romantischen Glauben ganz ergriffene, wie Ritter, Mönche, Nonnen; es gibt eine Romantik der Natur, Wolkenbilder, Mondnacht, Gebirge, Gegenden, aus denen der Geist vergangener Zeit und historischen Glaubens zu uns redet. „Nun, so laßt uns Schwärmer heißen und gläubig eingehen in das große romantische Wunderreich, wo das Göttliche in tausend verklärten Gestalten umherwandelt!" In diesen Sätzen sondert sich von allen zufälligen und willkürlichen Tendenzen der Romantik der echte Geist derselben, nämlich der höchste poetische Sinn für die Erscheinungen, welche Ahnungen des Unergründlichen, Empfindungen des Unendlichen in uns hervorrufen, eine Gefühlsweise, die uns aus der wirklichen Welt in ein Reich ausschließlichen, alles überwältigenden Empfindungslebens versetzt. Wohl dünken uns die Gestalten, welche in dieser romantischen Welt Uhlands wandeln, diese Nonnen und Mönche, diese Ritter und Sänger, diese Königssöhne und Schäferinnen zuweilen eintönig. Aber es ist die Eintönigkeit des Volksliedes, die Eintönigkeit, welche von dieser Welt romantischer Empfindung unabtrennbar ist, solange sie die Färbung exzentrischen und zufälligen Empfindens, fremdartiger, nur noch historisch verständlicher Stimmung verschmäht. Denn es war dies die Welt des Mittelalters: aber sie war es so, wie sie im Mund und in den einfachen Liedern des Volkes fortlebte, wie ihre Erinnerung an den Bergen einer Heimat, an den Kapellen und Schlössern hing. Sage und Volkslied waren ihre Heimat, der romantische Geist des deutschen Volkes ihr Ursprung; was bei Friedrich Schlegel oder Novalis so fremdartig und seltsam auftritt, ist hier ganz menschlich und volkstümlich. In den Sagen der Heimat, in den Tönen des Volksliedes hatten sich die Bilder einer fremdartigen historischen Periode unmerklich seit Jahrhunderten mit dem Geist des Volkes selber verwandelt. Als Knabe stieg ich in die Hallen Verlaßner Burgen oft hinan; Durch alte Städte tät' ich wallen, Und sah die hohen Münster an. D a war es, daß mit stillem Mahnen Der Geist der Vorwelt vor mir stand, D a ließ er frühe schon mich ahnen, Was später ich in Büchern fand. Aber wie natürlich es auch bei dieser poetischen Richtung war, daß sie früh abgeschlossen erschien, so scheint uns doch Jahns Ansicht, daß gleich die ersten veröffentlichten Gedichte ihn in seiner Vollendung zeigen und also keine Entwicklung bei ihm bemerkbar sei, entschiedener Einschränkung bedürftig. Mit fünfzehn Jahren bezog Uhland die Universität; dort begann im Verkehr mit schwäbischen Freunden, den Köstlins, Karl Mayer, Justinus Kerner, sofort ein lebendiges poetisches Treiben;
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schon in seinem siebzehnten ließ er in Seckendorfs „Musen-Almanach" eine größere Reihe von Gedichten erscheinen, unter welchen allerdings einige der später sehr beliebten, wie „Die Kapelle", „Schäfers Sonntagslied", „Das Schloß am Meer", sich befinden. Aber obwohl die Neigung des Publikums an dem wehmütig sehnsüchtigen Ton dieser ersten Lieder stets mit einer Art von jugendlicher Vorliebe haftete, so veränderte er selber ihn doch mit vollem Recht später sehr; ja, er hat selbst hinlänglich spöttisch und doch herzlich und ganz der Wahrheit gemäß über sie geurteilt: Anfangs sind wir fast zu kläglich, Strömen endlos Tränen aus, Leben dünkt uns zu alltäglich, Sterben muß uns Mann und Maus. Doch man will von Jugend sagen, Die von Leben überschwillt; Audi die Rebe weint, die blühende, Draus der Wein, der purpurglühende, In des reifen Herbstes Tagen, Kraft und Freude gebend, quillt. Gerade dies macht — um zuerst von der in den Liedern sichtbaren Entwicklung des Dichters zu reden — einen besonderen Reiz derselben aus, daß sie so sichtlich in ihrem engen Umfang die ganz verschiedenen Lebensperioden des Dichters abspiegeln. Oder sollten wir irren? Es scheint uns, als ob die Ordnung derselben in der Sammlung der wirklichen Geschichte ihrer Entstehung noch näherstünde, als das chronologische Verzeichnis der ersten Drucke, wie es Bernays gibt. Im ganzen und großen stimmt die Reihenfolge überein; wo Verschiedenheiten vorliegen, entscheiden die wenigen Angaben Notters für die in den Gedichten vorliegende Reihenfolge; nur hier und da natürlich mischen sich stoffliche Rücksichten in diesen Gesichtspunkt der Anordnung ein. In den ersten überall jugendlicher Überschwang der Empfindung, jugendliche Fülle des Wortes, ein unablässiges Spiel mit dem Grab, mit Leichenchören und Tränen: denn die Jugend allein liebt es, mit Todesgedanken zu spielen. Gedanken und Empfindung schreiten noch in einer unbestimmten Breite; nur wo das übervolle Gemüt, wie in „Schäfers Sonntagslied", sich mit der bloßen Andeutung der Empfindung genügen läßt, wirkt diese mit ganz eigener Stärke. Schon vom folgenden Jahr ab tritt die Empfindung in schärferen Linien hervor. Eine anmutige Liebesgeschichte beginnt sich nun in ein paar rasdien Gedichten abzuspielen, halb zarte Wirklichkeit, halb ein Frühlingstraum des Dichters. „In Liebesarmen ruht ihr trunken, des Lebens Früchte winken euch; ein Blick nur ist auf mich gesunken, doch bin ich vor euch allen reich." Und nun hat sich die lyrische Gabe des Dichters zur vollen Reife entwickelt. Es sind nur wenige Blätter; aber in diesen erreicht die ihm eigene Art volle Klassizität. Sie sind fast alle von 1813 ab in ein paar Jahren erschienen, während er den Justizdienst in Stuttgart begann, dort besonders mit dem Schottsdien Hause, an dessen Tochter nach Notter schon frühere Gedichte gerichtet waren, sowie mit dichterischen Freunden in lebendigem
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Verkehr, zugleich die in Paris begonnenen literarischen Studien, welche ihn der Lyrik des Mittelalters und des Volksliedes nahe hielten, weiterführend. Zumal von den Frühlings- und Wanderliedern sprechen einige die eigentümliche Weise Uhlands völlig reif und klar aus. Hier ist die überquellende Jugendlichkeit der Empfindung, die einige von dem Namen Uhlands gar nicht abzutrennen vermögen, völlig verschwunden. Sie gehören zu denen, von welchen der Dichter selber urteilt: „denen heiße Mittagsstrahlen abgeleckt den Wehmutstau". Hier ist die Uhland so eigentümliche plötzliche Kürze, wie in dem wunderbaren Schluß des ersten Frühlingsliedes „Bald blühen die Veilchen auch". Hier sind jene springenden Wendungen im Tone des Volkslieds, wie in dem zweiten Wanderlied „Ach Liebchen heißt das meiden, wenn man sich herzt und küßt". Die Geister Goethes und des Volkslieds ruhen gemeinsam auf diesen paar Blättern. Dann kommt eine andere Reihe, in welcher der erwachende politische Geist mit den alten Liedertönen kämpft. Die wehmütige Empfindung des abklingenden jugendlichen Gesangs, die Sehnsucht nach den alten vergessenen Liedertönen, die sonst schon merkwürdig oft bei ihm hervortritt und es bezeugt, daß es keine Kaprize, sondern ein Gesetz seiner Natur war, daß seine Lieder verstummten, löst sich nun immer mehr in das Pathos der politischen Stimmungen auf: in den letzten Liedern bereitet sich die zweite Reihe, die der vaterländischen Gedichte vor. In Goethes Gedichten waltet ein Reichtum der Natur, dessen Größe nur mit der Naivität vergleichbar ist, mit welcher er ihn spielend hinschüttet. Die Seele seiner Lyrik ist Bewegung. Bald die eines leichten neckischen Spieles, bald eine, welche von einer Situation oder einem Naturbild zu der tiefsten Empfindung fortschreitet, bald endlich — in den höchsten seiner Lieder, wie dem Gedicht „An den Mond" — die allmähliche Sänftigung eines leidenschaftlich bewegten Gemüts. Einem Vergleich mit dieser Form darf man keinen seiner Epigonen aussetzen. Uhland am wenigsten zeigt eine entwickeltere lyrische Bewegung in seinen Gedichten. Die plastische Kraft und die Ideentiefe, welche in dieser unscheinbaren Form bei Goethe so eigen ergreifend wirken, fehlen ihm völlig. Aber die lyrische Unmittelbarkeit des Tons, die klare Innerlichkeit der Empfindung, eine ganz manierlose Vollendung der Form verbinden seine Gedichte mit denen Goethes. Die Entwicklung seiner Kunstform in Ballade und Romanze geht mit der im Liede parallel. Nur daß hier der Ton, welchen er in der Periode seiner Reife fand, unvergleichlich mannigfaltiger ist und daß ihm daher dieser Quell der Erfindung viel ergiebiger und länger flöß als der des Liedes. Die ersten erinnern bald, wie „Entsagung", „Die Nonne", „Der Sänger", „Der Pilger", an den Balladenton, welchen Novalis, Tieck und Friedrich Schlegel erfanden: bis in das Katholisierende der Empfindung hinein wird man an ihr Vorbild erinnert; bald, wie „Die Vätergruft", „Die sterbenden Helden", „Der blinde König", „Das Schloß am Meer" schlagen sie schon, wie die weniger bekannt gewordenen Gedichte von Fouqui und seinen Freunden, den Ton unserer altdeutschen Poesie an. Aber er geriet Uhland eigener und wirksamer als irgendeinem anderen Zeitgenossen. Nicht die letzte Ursache hiervon war Uhlands großes philologisches Talent und Studium; schon in
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diesen ersten Gediditen, obwohl sie in den Wendungen, zum Beispiel in dem Anheben mit einer Frage, in dem Hin- und Herwerfen von Wort und Antwort, noch etwas sehr Eintöniges haben, tritt die besonnenste Anwendung der Kunstmittel unserer älteren epischen Dichtung hervor. Dann aber zeichnet sie vor allem ein so starker Sinn für durchgehende Einheit der Stimmung und Klarheit der Form aus, daß keiner von jenen Romantikern hiermit wetteifern konnte. So ward er der glückliche Erbe dieser Richtung; in seinen Balladen allein ist uns die poetische Weise jener Dichterschule erhalten. Auch hier sind die nach der ersten Veröffentlichung von 1807 herausgegebenen Gedichte von einem wesentlich veränderten Tone. Das erste unter ihnen ist das von sonniger Heiterkeit strahlende „Der junge König und die Schäferin". Man könnte von da ab sehr verschiedene Tonweisen verfolgen, obwohl alle sich an das Studium der altfranzösischen, altdeutschen und volksmäßigen Poesie anlehnen. Das Eigentümliche ist überall, daß es ihm gelang, aus alter Geschichte und Sage von Roland, Siegfried und Merlin wie von seinen altwürttembergischen Grafen überall die im Sinne jenes ersten jugendlichen Aufsatzes echt romantischen Züge zusammenzustellen. Wie die Stimmungen alter Zeiten hier wieder aufwachen, erscheinen sie völlig verschmolzen mit der schwäbischen Natur und Weise, in der er lebt, mit den innersten Empfindungen und Wünschen, die ihn bewegen. Es ist sehr bemerkbar, wie über die reinen Stimmungsbilder, mit denen seine Balladenpoesie begann, stärkere epische Züge, eine durchdachtere Balladenform das Ubergewicht gewinnen; aber wie er auch in dieser Zeit mit seinem lyrischen Zug, der bald als Einheit der Empfindung, bald in einzelnen lyrischen Stellen durchbricht, alles durchdringt: gibt diesen Gedichten eine Jugendlichkeit und Popularität, wie sie gerade diese Dichtungsform auch für das höchste und feinste ästhetische Urteil fordert. Aber auch diese Balladenpoesie wurde gegen das Ende des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts immer spärlicher. Der „Fortunat", der damals begonnen wurde, wie zur Zerstreuung von den schweren politischen Geschicken, blieb liegen. Während sich Uhland von der Poesie zu politischen Geschäften und wissenschaftlichen Arbeiten hinwandte, stand seine Poesie als ein abgeschlossenes Werk vor den Zeitgenossen, und wie über ein solches wurde über sie geurteilt. Zum Überfluß hat ihn Heine geradezu für tot erklärt. „Ebensogut wie Schlegel, Tieck und Fouqu6 ist auch Uhland längst verstorben und hat vor jenen edlen Leichen nur das größere Verdienst, daß er seinen Tod wohl begriffen und seit zwanzig Jahren nichts mehr geschrieben hat." Noch schärfer als Heines Sarkasmen wendete sich Goethes Urteil, das im Briefwechsel mit Zelter den Zeitgenossen bekannt wurde, gegen den Dichter. Ihm schien, daß aus der Region, worin dieser walte, nichts Aufregendes, Tüchtiges, des Menschen Geschick Bezwingendes hervorgehen könne. „Wunderbar ist es, wie sich diese Herrlein einen sittig-religiös-poetischen Bettlermantel so geschickt umzuschlagen wissen, daß, wenn audi der Ellenbogen herausguckt, man diesen Mangel für eine poetische Intention halten muß." Ein Urteil, das in anderen Äußerungen Goethes gegen Eckermann doch in bezug auf clie Balladen gemildert wird. Und dann wieder Eichendorff, in seiner Sdirift über die romantische Poesie, so hoch er
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audi Uhland stellte, war doch nicht der Mann, Uhland wahrhaft zu würdigen. Er bewunderte in Uhlands Gedichten die gläubige Poesie, die es noch ernst mit sich und ihrem Gegenstande meine; aber er empfand als eine Schwäche Uhlands, daß hier „nicht mehr der alte feurige romantische Glaube walte, der vor kurzem noch rationale Berge versetzt habe", sondern ein kühler poetischer, „ein poetisches Verständnis der katholischen Schönheit". Wie wunderlich mochte der Schweigsame von solchen ihn umschwirrenden Urteilen berührt werden. Wenn so auch ein so wohlwollender Mann wie Eichendorff die jugendlichen und unreifsten seiner Gedichte, jene katholisierenden, als seine Richtung bezeichnend hervorhob, ein Dichter wie Heine, der offenkundig nächst Goethe gerade ihm am meisten in seinen Liedern und Balladen verdankte, in kühl schätzenden, von Invektiven erfüllten Charakteristiken ihm gegenüberzutreten wagte, wenn, was das Schmerzlichste war, der Mann, von dem sicher auch er von allen am liebsten verstanden zu werden wünschte, sich in die begrenzte Größe seines Talents nicht zu finden wußte. Desto offener und herzlicher trugen ihm seine süddeutschen Landsleute ihre Verehrung entgegen; es scheint, daß sie seine Verletzungen bitterer und schwerer empfanden als er selber. Sie betrachteten ihn als das unbestrittene Haupt ihrer politischen Schule. Aber wenn jene Zeit zwischen Abneigung und falscher Bewunderung der romantischen Schule hin und her schwankte und so audi über Uhland das Wort des klaren Urteils nicht fand: die Zeit sollte kommen, wo, nachdem die romantischen Kämpfe vergessen waren, die durchsichtige Helle der Empfindung, die Vollendung der Form, die reine Humanität, zu welcher er und er allein die romantischen Stimmungen gesteigert hatte, erkannt wurden, und von da ab wurde mit Recht dieser deutscheste unserer Lyriker ein Liebling der deutschen Nation. Inzwischen hatte er selbst, dem Anschein nach gegen Gunst wie Ungunst des Urteils sich in sich selber abschließend, die Poesie verlassen. Wissenschaft und Politik erfüllten seine männlichen Jahre. Man muß den Zusammenhang beachten, der diese beiden in ihm mit seinem poetischen Talent verknüpfte. Ohne daß seine Poesie im entferntesten als eine philologische zu betrachten wäre, hatte sie doch auf dem durch Studium entwickeltsten Formsinn geruht; ohne daß seine Gelehrsamkeit irgend dilettantisch gewesen wäre, war sie doch alle Zeit von seinem poetischen Auge geleitet. Und obwohl seine Politik sich niemals in bloßen Doktrinarismus des historischen Rechts verlor, haftete sie doch mit liebevollem, vielleicht zu liebevollem Blicke an der Vorzeit seines Landes und der Vorzeit des deutschen Reichs. Dieser romantische, nach rückwärts gewandte, in Stimmungsleben vertiefte Zug seines Geistes, wie er sein Talent in jeder Richtung hob, steckte ihm freilich auch entschiedene Grenzen. Am wenigsten empfand man diese Begrenzung auf dem Gebiet, das von schöpferischer, vorwärts drängender Kraft das geringere Maß bedarf, in der Philologie. Uber diese Seite seiner Tätigkeit spricht Jahn vortrefflich. Schon auf der Universität war Uhland mit mittelalterlichen Studien beschäftigt gewesen; er hatte dann in Paris einen längeren Aufenthalt mit dem gewissenhaftesten Fleiß der Erforschung der altfranzösischen Dichtung gewidmet. Nach seinen Abschriften haben später
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Bekker und Keller altfranzösisdie Dichtungen herausgegeben. Sein Aufsatz „Über das altfranzösische Epos" war auf diesem Gebiet bahnbrechend. Hier wurde der Unterschied der gesungenen karolingischen chansons de geste und der ungesungenen bretonischen contes zuerst erkannt, und ein Teil der jetzt feststehenden N a t u r geschichte des volksmäßigen Epos trat in ihr zuerst hervor. Ebenso war seine erste Arbeit auf dem Gebiet der deutschen Philologie, sein Schriftchen über Walther von der Vogelweide, der Anfang geschichtlicher Betrachtung des Individuellen unserer alten Poesie (1822). Aus lang gepflegten Studien erwuchsen dann seine 1836 gedruckten Sagenforschungen, in denen er die nordischen Mythen vom Thor physikalisch erklärte. In diesem Buch wurden zuerst mit Scharfsinn und Besonnenheit die Gedanken germanischer Mythe methodisch aufgesucht. D a n n erwuchs die meisterhafte kritische Sammlung der Volkslieder; ein Werk langjährigen Fleißes, scharfsinniger Kritik, von großer Bedeutung. Auch auf dem Katheder durfte er eine Zeitlang f ü r diese Studien wirksam sein. Doch so lieb ihm diese Wirksamkeit war, opferte er sie sofort, als ihm wegen seiner Tätigkeit in der Kammer der Urlaub f ü r diese verweigert wurde. Über diese seine politische Tätigkeit ist merkwürdigerweise bei Gelegenheit seines Todes weit mehr und mit weit größerer Bewunderung geredet worden als von seiner dichterischen. Die Schwächen derselben hat nur Treitschke in seinem meisterhaften Essay über Wangenheim klar hervorgehoben, und da von demselben Historiker eine Charakteristik Uhlands in den „Preußischen Jahrbüchern" zu erwarten ist, so dürfen wir über diese Seite von Uhlands Tätigkeit schweigen. Seine politischen Gedidite gehörten zu den ersten männlichen und offenen Betätigungen des politischen Geistes in Deutschland; sein ganzes Leben war ein Vorbild jener schroffsten Unabhängigkeit des Charakters von Regierungseinflüssen wie von Volksgunst, auf der alle politische Tüchtigkeit beruht; sein Herz war so voll von dem Gedanken des deutschen Reichs, daß er von sich sagen durfte: Wann einst das Heil gekommen, D a n n reis' ich wieder aus; Wohl werd ich's nicht erleben, Doch an der Sehnsucht H a n d Als Schatten noch durchsdiweben Mein freies Vaterland.
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Zur Theorie der Musik Hermann Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen Grundlage für die Theorie der Musik. Braunschweig 1863.
als psychologische
Zwei Töne, die gleichzeitig erklingen, gehen nicht ungestört nebeneinander her, sondern wirken aufeinander. Es tritt in den durch sie hervorgebrachten Schwingungen der Luft ein ähnliches Verhältnis ein, als wenn man gleichzeitig zwei Steine an verschiedenen Stellen in das Wasser wirft. Jeder von ihnen bildet einen Wellenring, der sich vergrößert und zu immer ferneren Punkten ausbreitet. Sobald beide Wellenringe aufeinander treffen, pflanzen sie sich im wesentlichen ungestört audi durcheinander fort; vorübergehend aber geschieht es, daß, wo der Wellenberg des einen Ringes auf das Wellental des anderen Ringes trifft, beide sich ausgleichen, oder wo Berg auf Berg, Tal auf Tal trifft, die Erhebungen und Einsenkungen sich gegenseitig verstärken. Die Untersuchung des analogen Verhältnisses, welches durch das gleichzeitige Erklingen zweier Töne hervorgerufen wird, fällt drei verschiedenen Wissenschaften zu: der Physik, der Physiologie des Gehörsinnes und der musikalischen Ästhetik. Die Physik beweist, daß ein Ton, wie jeder Schall, eine Erschütterung der Luft ist, welche Wellenringe erzeugt, die sich fortpflanzen, wie die Wellenringe einer erschütterten Wasserfläche, nur erfolgt die Ausbreitung nicht kreisförmig, sondern kugelförmig. Sie beweist ferner, daß da, wo in der Luft Wellenberge und Wellentäler aufeinandertreffen, Berg auf Berg, Tal auf Tal, Berg auf Tal, dieselben Erscheinungen entstehen wie auf einer Wasserfläche. Die nähere Ausführung dieses Gegenstandes liegt nicht im Plane des gegenwärtigen Aufsatzes. Die Physiologie des Gehörsinnes untersucht, wieweit diese Wahrheit, welche die Physik unseren Verstand durch Schlußfolgerungen lehrt, uns durch das Ohr unmittelbar sinnlich wahrnehmbar gemacht werden kann. Töne von verschiedener Tonhöhe affizieren verschiedene Fasern unseres Gehörnerves. Erklingen gleichzeitig zwei Töne, deren Höhe voneinander nicht unerheblich abweicht, so setzen sie ganz verschiedene Teile der Fasergebilde unseres Gehörnervs in Bewegung; die sinnliche Wahrnehmung des einen stört also die sinnliche Wahrnehmung des anderen nicht. Weicht hingegen die Tonhöhe nur in geringerem Grade voneinander ab, so werden dieselben Fasergebilde in Bewegung gesetzt. Sobald Wellenberg auf Wellenberg oder Wellental auf Wellental trifft, wird die betreffende Nervenfaser stärker erregt, der Ton erklingt intensiver. Sobald Wellenberg und Wellental aufeinander treffend sich ausgleichen, wird die Nervenfaser in Ruhe versetzt; es entsteht eine Pause. Anstatt eines kontinuierlichen Tones hören wir einen intermittierenden. Es wird dadurch unseren Gehörnerven dasselbe Gefühl der Rauhigkeit bereitet, welches unserem Gesichtsnerven durch ein intermittierendes, d. h. flackerndes Licht, den Gefühlsnerven unserer Haut durch eine intermittierende, etwa eine kratzende Erregung verursacht wird. Zwei gleichzeitig erklingende Töne von nicht erheblich verschiedener Höhe rufen eine sinnlich unangenehme Empfindung, einen Mißklang
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hervor. Wie weit zwei Töne voneinander verschieden sein müssen, um eine solche unangenehme Empfindung zu vermeiden, ist in den verschiedenen Teilen der Skala verschieden. In den unteren Oktaven ist schon eine Terz nicht frei von Rauhigkeit, während sie in den höheren Oktaven wohlklingt; in den höchsten Oktaven wird sogar eine Sekunde erträglich. Die musikalische Ästhetik beruht auf diesem Resultat; soweit in dem Begriff des Schönen der Begriff des sinnlich Angenehmen enthalten ist, beruht sie auf ihm ausschließlich. Es gibt kein anderes Naturgesetz, welches darüber entscheidet, ob ein Klang unseren Ohren angenehm ist oder nicht, als das, daß er nicht zwei Töne enthalten darf, die nahe genug beieinander liegen, um uns intermittierende Tonempfindungen zu verursachen. Wenn die Musik einfache Töne zu ihrem Gegenstande hätte, so wäre ihr Gesetz ein sehr einfaches. Es würde lauten: Vermeide nahe beieinanderliegende Töne, und brauche nur solche Intervalle, die fern genug voneinander liegen, um im Ohr nur kontinuierliche Tonempfindungen zu erregen. Nach diesem Gesetz wäre es für die Musik sehr leicht, Mißklänge, sinnlich unangenehme Empfindungen zu vermeiden, aber es wäre ihr auch unmöglich, eine ästhetische Wirkung hervorzubringen. Nun gibt es aber in der Musik keine einfachen Töne. Nur mittels eines physikalischen Instruments, zum Beispiel einer Sirene, können wir einen einfachen Ton hervorrufen. In der Musik haben wir es durchgängig mit zusammengesetzten Klängen zu tun, weil außer den Tönen, die wir absichtlich hervorrufen, immer noch andere entstehen, die wir nicht unmittelbar beabsichtigen, nämlich die Obertöne und die Kombinationstöne. Sobald wir einen musikalischen Ton angeben, erklingen gleichzeitig Obertöne. Das Vorhandensein dieser Obertöne wird gleichmäßig erwiesen durch mathematische Berechnung, durch physikalische Versuche und durch die unmittelbare Wahrnehmung eines gesunden und gut geschulten Ohres. Welches diese Obertöne sind, die entstehen müssen, steht durch ein Gesetz fest. Physikalisch ausgedrückt sind es diejenigen, deren Schwingungszahl das Doppelte, Dreifache oder irgendein Vielfaches von der Schwingungszahl des Grundtons beträgt. Musikalisch ausgedrückt sind es die Oktave, die Duodezime, die zweite Oktave, die große Terz und die Quinte der zweiten Oktave, alsdann ein Ton, welcher in unserer Tonleiter nicht enthalten ist, die dritte Oktave, die Sekunde und die große Terz der dritten Oktave, alsdann eine Reihe von Tönen, deren Intervalle, immer geringer werdend, weniger als eine Sekunde betragen. Wie stark die einzelnen Obertöne im Verhältnis zueinander und zum Grundton sind und bis in welche Höhe hinauf die Obertöne wahrnehmbar sind, ist nach den verschiedenen Instrumenten verschieden. Bei einzelnen Instrumenten werden auch gewisse Obertöne unterdrückt, zum Beispiel bei der Klarinette. Nach der Anzahl und der Stärke der wahrnehmbaren Obertöne bestimmt sich die Klangfarbe eines Instruments. Daß ein Ton von derselben Tonhöhe anders klingt, je nachdem er auf einem Klavier, einer Geige, einer Flöte, einer Orgel oder von einer menschlichen Stimme hervorgebracht wird, daß wir die Stimmen verschiedener Menschen, den Ton verschiedener Geigen oder Klaviere voneinander unterscheiden können, liegt 21 Dilthey, Schriften XVI
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an der verschiedenen Stärke der den Ton begleitenden Obertöne. Eben daher rührt der Unterschied der Vokale. Bei dem Aussprechen der verschiedenen Vokale ist die Stellung der Mundhöhle, insbesondere die Lage der Zunge und die Zuspitzung der Lippen eine verschiedene. Die Mundhöhle verhält sich zu dem Kehlkopf wie der Resonanzboden zu den Saiten eines Instrumentes. Nach der verschiedenen Form, die der Mundhöhle gegeben wird, und der dadurch hervorgebrachten Verschiedenheit der Luftmenge in derselben wird die Mundhöhle geeignet, Töne von immer anderer Höhe zu verstärken. Töne,.die genau durch dieselbe Tätigkeit des Kehlkopfes hervorgebracht werden, erregen dennoch in uns eine andere Tonempfindung, je nachdem von den Obertönen der eine oder der andere durch die Resonanz der Mundhöhle verstärkt wird. Nachdem das Gesetz entdeckt war, auf welchem die Verschiedenheit der Vokale beruht, ist es Helmholtz gelungen, ein Instrument herzustellen, auf welchem die Vokale künstlich hervorgebracht werden können. Bei den meisten Klangfarben sind nur die fünf ersten Obertöne, die sechs ersten Töne mit Einschluß des Grundtons, in einiger Stärke vernehmbar. Der siebente Ton wird bei dem Klavier durch dessen eigentümlichen Bau absichtlich unterdrückt, weil er unharmonisch wirken würde. Einige Instrumente hingegen gibt es, bei denen auch die höheren Obertöne bis etwa zum fünfzehnten hin vernehmbar bleiben, zum Beispiel die Trompete. Wie wir bereits gesagt haben, bildet das Intervall der Obertöne vom zehnten ab weniger als eine Sekunde; das Intervall zwischen dem fünfzehnten und sechzehnten Teilton beträgt nur einen halben Ton. Es werden also durch die Trompete sechs bis sieben Töne gleichzeitig angegeben, welche nach dem Gesetz, das wir an die Spitze unserer Betrachtung gestellt haben, einen Mißklang in unserem Ohr hervorrufen müssen, weil sie unsere Gehörnervfasern in intermittierender Weise anregen. Bekanntlich hat die Trompete einen eigentümlich schmetternden Klang, der, in der Nähe vernommen, nicht angenehm wirkt und sogar ein Schmerzgefühl im Ohre erregen kann. Dieser schmetternde Ton rührt her von den intensiven, nahe beieinanderliegenden Obertönen. Wenn zwei verschiedene Töne gleichzeitig angeschlagen werden, ertönen natürlich auch ihre Obertöne gleichzeitig. Wenn nun auch die Grundtöne hinlänglich voneinander entfernt sind, um nicht eine intermittierende Tonempfindung, also einen sinnlich unangenehmen Klang zu veranlassen, so werden doch häufig einzelne ihrer Obertöne so nahe beieinanderliegen, daß von ihnen jener Mißklang verursacht werden kann. Hierauf beruht der Unterschied der Konsonanzen und Dissonanzen. Zwei Töne, von denen der eine ein Oberton des anderen ist, bilden, wenn sie gleichzeitig angeschlagen werden, eine absolute Konsonanz. Die Intervalle von einer Oktave, einer Duodezime, zwei Oktaven usw. sind absolute Konsonanzen. Der höhere der beiden Töne samt seinen Obertönen ist in dem unteren Ton schon enthalten; zu diesem kommt also nichts neues hinzu, vielmehr werden nur einzelne der in ihnen enthaltenen Teiltöne verstärkt. Außerdem gibt es andere Intervalle, bei welchen ein Teil der Obertöne beider Grundtöne zusammenfällt, und andererseits diejenigen Obertöne, welche sich in ihrem Abflüsse gegenseitig stören und dadurch eine intermittierende Empfindung hervorrufen, nur schwach in das Ohr fallen. Diese Intervalle sind die Quinte, Quarte, große Sexte, große Terz, kleine
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Terz, kleine Sexte. Man nennt dieselben Konsonanzen, während die große Sexte und die große Terz nach dem Grade ihres Wohlklanges einen mittleren Charakter zwischen den beiden übrigen einnehmen. Alle diese Intervalle bleiben auch konsonant, wenn sie um eine Oktave erweitert werden, also zur Dezime, Undezime und Tredezime. J e vollkommener eine Konsonanz ist, desto empfindlicher faßt das Ohr jede Abweichung von der Reinheit auf. Solche Intervalle hingegen, bei denen die Obertöne sich gegenseitig stören, verursachen dem Ohr genau dieselbe unangenehme Empfindung, als wenn die Grundtöne selbst nahe genug beieinanderlägen, um eine intermittierende Sinneserregung hervorzurufen. Man nennt sie Dissonanzen. Stehen die Zahlen der Schwingungen, welche zwei verschiedene Töne in einem gewissen Zeitraum machen, in einem einfachen arithmetischen Verhältnis zueinander, so bilden diese Töne eine Konsonanz, denn in diesem Fall stellt sich das Verhältnis zwischen den Obertönen so günstig heraus, wie es oben bezeichnet ist. Dieses arithmetische Verhältnis beträgt bei der Quinte 2 :3, bei der Quarte 3 :4, bei der großen Sexte 3 :5, bei der großen Terz 4 :5, bei der kleinen Terz 5 :6, bei der kleinen Sexte 5 : 8 . Die Natur zieht keine feste Grenze zwischen den Konsonanzen und Dissonanzen, und die Theorie hat öfter in der Bestimmung gewechselt, welche Intervalle den Konsonanzen zuzurechnen seien; bekanntlich erkannten die Griechen die Sexten und Terzen als solche nicht an. In neuerer Zeit ist ein ziemlich willkürlicher Umstand dafür entscheidend geworden, wieweit die Intervalle zu den Konsonanzen zu rechnen seien. Es gibt nämlich ein Intervall, welches, obwohl es ziemlich wohllautend ist, dennoch in der Musik nicht angewandt wird, weil es mit keinem anderen Intervall zu einem Akkord sich verbinden kann. Dies ist die natürliche Septime, etwas geringer als die kleine Septime. Ihr arithmetisches Verhältnis beträgt 4 :7, es ist also das Intervall zwischen dem 4. und 7. Oberton. Auf den Tastaturinstrumenten ist es unterdrückt, während es auf Äolsharfen erklingt. Wenn ein musikalischer Ton angegeben wird, so erklingen gleichzeitig seine Obertöne. Werden zwei Töne gleichzeitig angegeben, so erklingen die Obertöne eines jeden. Es stellt sich aber in diesem Fall noch ein ferneres Phänomen ein, das nur durch das gleichzeitige Erklingen zweier Obertöne hervorgerufen wird. Das sind die Kombinationstöne. Diese Kombinationstöne entstehen dadurch, daß die Schwingungen, die durch die beiden primären Töne hervorgerufen werden, zusammentreffen. Es gehört ein sehr geübtes Ohr dazu, die Kombinationstöne wahrzunehmen, weil sie verhältnismäßig schwach sind und schnell verhallen. Indessen ist ihre Existenz nicht allein durch mathematische Berechnung nachzuweisen, sondern sie sind auch durch geeignete physikalische Instrumente in solcher Stärke herzustellen, daß sie jedem Ohr zum Bewußtsein gebracht werden können. Selbst wo die Obertöne und Kombinationstöne nicht bewußt wahrgenommen, nicht von anderen Tönen unterschieden werden, werden sie doch empfunden, sie bringen einen sinnlichen Reiz hervor, der mit dazu beiträgt, den Charakter der ganzen wahrgenommenen Klangmasse zu bestimmen. Der Kombinationston, der durch das Intervall von einer Oktave hervorgerufen wird, hat dieselbe Höhe, wie der untere Ton dieser Oktave. In diesem einzigen Falle bringt der Kombinationston zu dem Intervall nicht Neues hinzu. Ist das Intervall größer als eine Oktave, so entsteht 21*
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der Kombinationston zwischen den beiden Tönen. Ist das Intervall kleiner als eine Oktave, so entsteht der Kombinationston unterhalb des tieferen von beiden Tönen. Der Kombinationston gibt nun mit jedem der primären Töne neue Kombinationstöne und diese hinwiederum neue. So entsteht eine ganze Reihe von Tönen, welche erst dann ein Ende nimmt, wenn die jüngst entstandenen Kombinationstöne ihrer Höhe nach mit anderen schon vorhandenen Tönen zusammenfallen. Je konsonanter das Intervall, desto geringer ist die Anzahl der entstehenden Kombinationstöne. Immer aber ist die entstehende Tonreihe harmonischer Natur; auf den tiefsten der erklingenden Töne folgt dessen Oktave, dann die Duodezime, die zweite Oktave usw. Der höchste primäre Ton erscheint gewissermaßen als der letzte Oberton eines Grundtones. Es ergibt sich hieraus, daß die Kombinationstöne niemals ein störendes Element in ein Intervall hineinbringen können. Das gleichzeitige Erklingen von mehr als zwei Tönen heißt ein Akkord. Derselbe ist konsonant, wenn immer je zwei Töne desselben eine Konsonanz bilden, dissonant, wenn auch nur eine Dissonanz darin enthalten ist. Die konsonanten Akkorde verursachen eine angenehme Sinnesempfindung, weil sowohl ihre Grundtöne als die von denselben gebildeten Obertöne in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, daß sie den Gehörsinn nicht in intermittierender Weise erregen. Der konsonanten Akkorde gibt es nur sechs, nämlich in jedem Tongeschlecht, Dur und Moll, drei: den Stammakkord, den Quartsextenakkord und den Sextenakkord. Ein konsonanter Akkord von mehr als drei Tönen läßt sich nur dadurch bilden, daß einer oder mehrere der drei Töne, um eine Oktave erhöht, wiederholt werden. Wir haben gesehen, daß beim gleichzeitigen Erklingen von zwei Tönen die Kombinationstöne nicht stören, weil sie das angeschlagene Intervall immer zu einer harmonischen Tonreihe ergänzen. Wird ein Akkord angeschlagen, so bildet sich aus je zwei Tönen desselben ein Kombinationston, so daß ein dreistimmiger Akkord von einem dreistimmigen Akkorde von Kombinationstönen begleitet ist. Es fragt sich, ob diese Kombinationstöne ein störendes Element in den Zusammenklang bringen. Die Untersuchung lehrt nun, daß einige Umlagerungen der Dur-Akkorde sich finden, bei denen die Kombinationstöne mit den Grundtönen zusammenfallen oder dieselben um eine Oktave vertieft wiederholen, andere Umlagerungen haben einen oder zwei störende Kombinationstöne. Unter den Moll-Akkorden hingegen ist nicht ein einziger, der nicht wenigstens einen störenden, zu der Tonart nicht passenden Kombinationston erzeugte, während andere Umlagerungen zwei oder drei solcher Töne hervorbringen. Es läßt sich daher nach den Resultaten dieser Untersuchung eine Reihenfolge aufstellen, welcher Grad des Wohlklanges den einzelnen Akkorden und deren Umlagerungen zukommt, und die so gewonnene Regel wird nicht allein durch den sinnlichen Eindruck, sondern auch durch die Beispiele der größten Meister bestätigt. Helmholtz hat bei der Untersuchung mehrerer Chorsätze von Palaestrina und Mozart gefunden, daß beide Meister vorzugsweise diejenigen Dur- und Moll-Akkorde in Anwendung gebracht haben, die sich aus seiner Untersuchung als die wohlklingenderen ergeben. Es zeigt sich ferner, daß die Moll-Akkorde und die ungünstiger gelagerten Dur-Akkorde hauptsächlich da in
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Anwendung gebracht werden, wo der Ausdruck des Verschleierten, Sehnsüchtigen und Mystischen erreidit werden soll. Resümieren wir auf eine möglichst kurze Formel alles Bisherige. Der Wohlklang zweier gleichzeitig erklingender Töne hängt ab von dem Verhältnis ihrer Obertöne; der Wohlklang mehr als zweier gleichzeitig erklingender Konsonanzen hängt ab von dem Verhältnis ihrer Kombinationstöne. So weit reicht die Naturwissenschaft in die musikalische Ästhetik hinein, aber die Naturwissenschaft kann den Begriff des musikalisch Schönen nicht erschöpfen. Alle die Verhältnisse, welche wir bisher dargestellt haben, bestimmen nur, welche Tonbildungen uns sinnlich angenehm sind, welche das O h r in einer sinnlich unangenehmen Weise erregen. Aber das sinnlich Angenehme fällt nicht zusammen mit dem ästhetisch Schönen. Auch das sinnlich Unangenehme, das Häßliche kann als Mittel zu einer ästhetischen Wirkung verwandt werden, wie in allen anderen Künsten, so auch in der Musik. Auch die Dissonanzen, auch die dissonanten Akkorde haben in der Musik Berechtigung, falls sie als Mittel, die einem höheren ästhetischen Zweck untergeordnet sind, auftreten. Die Anwendung, die von Dissonanzen gemacht wird, ist in den verschiedenen Perioden einer Kunst eine verschiedene. Zurückhaltend und vorsichtig waren die Griechen. Das Prinzip ihrer Plastik, welches Lessing dahin ausgesprochen h a t : „ H a ß und Wut schändete keines ihrer Kunstwerke; ich möchte behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben", gilt gewissermaßen auch f ü r ihre Musik. Sie scheuten die Dissonanzen und waren f ü r die Rauhigkeit derselben empfindlicher als wir, da sie sogar die Terz als eine Konsonanz anzuerkennen sich weigerten. In dem Maße, als die Kunst dazu übergeht, das Schöne nicht mehr in dem Einfachen, sondern in dem Charakteristischen zu suchen, wird sie der Ästhetik des Häßlichen, dem sinnlich Unangenehmen eine höhere Berechtigung einräumen. Hierzu kommt ein zweites Element, dessen die Naturforschung sich nicht bemächtigen kann. Die N a t u r liefert eine unendliche Reihe von Tönen, von denen jeder von den anderen durch ein unendlich kleines Intervall geschieden ist. Dieses unendliche Material bedarf der Sichtung, der Ordnung, um verwandt zu werden. Hierzu dienen die Tongeschlechter, die Tonleitern, das System der Stimmung. Musiker ohne theoretische Bildung sind schwer davon zu überzeugen, daß die Skala, wie sie jetzt gesungen wird, daß der Unterschied zwischen D u r und Moll eine menschliche Erfindung sind, von der die N a t u r nichts weiß. Es gibt Musiker, denen die in unseren Orchestern üblich gleichschwebende Stimmung so sehr im Ohre liegt, daß sie sie f ü r die natürliche halten und die Empfindung f ü r die reine Stimmung verloren haben. So sehr siegt im Menschen die Gewohnheit oft über die N a t u r . Die diatonische Tonleiter, der Gegensatz von Dur und Moll, die gleichschwebende Stimmung, diese Grundlagen aller unserer Lehrbücher über Generalbaß und H a r monielehre, sind nicht von der N a t u r gegeben, sondern von den Menschen willkürlich gemacht. Willkürlich nun freilich nicht in dem Sinne, als ob heute irgendein scharfsinniger Kopf sich hinsetzen dürfe und eine andere Tonleiter, eine andere Art der Stimmung ausdenken, eine neue Begründung der Harmonie finden. Sondern willkürlich in der Weise, wie in unseren Sitten, unseren Einrichtungen vieles ist, was
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nur die gemeinsame Überzeugung hervorgebracht hat und was daher auch von gemeinsamer Überzeugung geändert werden kann. In der Musik der Griechen finden wir eine Reihe verschiedener Tonleitern, in denen wir als feste Punkte nur die Quarte, Quinte und Oktave finden, so daß die Zwischenräume zwischen C—F. G—c. in den verschiedenen Tonleitern in verschiedener Weise ausgefüllt wurden. Es hat der Arbeit von Jahrhunderten bedurft, um in rationeller Weise die diatonische Dur- und Moll-Tonleiter in der Weise herzustellen, in der sie jetzt uns geläufig ist. Die Griechen haben eine Reihe von Tongeschlechtern gehabt, von denen uns nur das Lydische und das Äolische als Dur- und Moll-Geschlecht erhalten sind. Während der Reichtum dieser verschiedenen Geschlechter eine größere Abwechslung der Melodie zuließ, fanden sich nur die beiden genannten geeignet zur Ausbildung der Harmonie. Kurze Sätze, Choräle, kürzere Zwischensätze und melodische Perioden aus den übrigen Tongeschlechtern finden sich bis Händel, Bach und Mozart noch an hervorragenden Punkten ihrer Werke; weitläufige Sätze aber lassen sich darauf nicht bauen. Unter den beiden modernen Tongeschlechtern ist aber wiederum die Dur-Tonart für die Harmonie geeigneter als die Moll-Tonart, weil in ersterer allein sich Akkorde herstellen lassen, welche von störenden Tönen frei sind. Es war daher lange Zeit musikalischer Gebrauch, alle in Moll komponierten Stücke dennoch in einem Dur-Akkord, als in einem absolut reinen schließen zu lassen, bis sich im Laufe der Geschichte das Gesetz ausbildete, daß eine Moll-Komposition auch in einem Moll-Akkord schließen müsse. Mit der Ausbildung der harmonischen Musik trat auch das Problem auf, die Stimmung der verschiedenen Intervalle abzugleichen. Wenn man von einem Ton C durch eine Reihenfolge reiner Quinten aufsteigt, so kommt man wiederum zu einem Ton c, der aber in seiner Höhe um ein geringes von dem c abweicht, zu welchem man durch Oktaven aufstieg. Ebenso verhält es sich, wenn man in reinen Quarten, Sexten, Terzen aufsteigt. So wenig eines dieser Intervalle mit der Oktave in Einklang zu bringen ist, so wenig sind es zwei derselben unter sich. An einem Klavier tritt daher die Notwendigkeit ein, daß, wenn eine Art der Intervalle, zum Beispiel die Oktaven, rein gestimmt werden, alle übrigen an Unreinheiten leiden müssen. Wenn man sämtliche Quinten rein stimmt, würde nicht allein anstatt der reinen großen Terz die sogenannte Pythagoräische Terz entstehen, welche von der reinen um ein Komma abweicht, sondern es würden auch alle übrigen Intervalle einschließlich der Oktaven verstimmt sein. Man stimmt deswegen nur sämtliche Oktaven rein, sämtliche übrigen Intervalle aber unrein, indem man die zwölf ihrem Charakter nach völlig voneinander verschiedenen halben Töne der chromatischen Tonleiter einander gleichmacht. Hierin besteht die sogenannte temperierte Stimmung, welche, obwohl sie heute den Musikern so geläufig ist, daß sie ihnen vollständig in succum et sanguinem übergegangen ist, doch kein erhebliches historisches Alter besitzt, da sie ihre Verbreitung wesentlich erst Rameau (etwa 1726) verdankt.
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Die musikalische Technik beruht also nicht auf unabänderlichen Naturgesetzen, so groß auch der Einfluß der letzteren ist, sondern sie ist einem Wechsel, einer historischen Entwicklung u n t e r w o r f e n . Dieser Wechsel der Technik ist aber nichts als eine Konsequenz des ästhetischen Stilprinzips. Wie an einem antiken Tempel u n d an einem gotischen D o m alle untergeordneten Einzelheiten u n d die kleinsten Verzierungen verschieden sind, die einzelnen technischen Konstruktionsregeln aber sich n u r aus dem Konstruktionsprinzip des G a n z e n begreifen lassen, so ist es auch in der Musik. Zwei große Stilprinzipien treten sich in der Geschichte der Musik entgegen: die homophone Musik des Altertums u n d die harmonische Musik der Neueren. Zwischen beiden liegt ein weniger reich entwickeltes Prinzip, das polyphone der mittelalterlichen Kirchenmusik. Die alte Musik bewegt sich in einfachen Klängen, die neuere in A k k o r d e n . N u n ist aber ein musikalischer K l a n g nicht ein einfacher physikalischer Ton, sondern das Zusammenklingen eines G r u n d t o n e s mit seinen Obertönen, u n d ein A k k o r d wiederum ist das Zusammenklingen von Tönen, die eine gewisse natürliche Verwandtschaft miteinander haben. Es k a n n d a r u m der musikalische K l a n g gewissermaßen als A k k o r d , ein A k k o r d gewissermaßen als musikalischer Klang betrachtet werden. Die anatomische S t r u k t u r des menschlichen Ohres h a t sich nicht geändert, w o h l aber die technischen Mittel, durch welche ihm Befriedigung verschafft w i r d . Wir entnehmen dem obengenannten Buch in dem Vorstehenden einen Teil seiner überaus reichhaltigen Sätze. W i r müssen über vieles d a r i n Enthaltene schweigend hinweggehen, so über die zahlreichen Andeutungen in betreff der inneren E n t wicklung der neueren Musik, v o n ihrer älteren Periode, in welcher sie überwiegend Vokalmusik w a r , bis auf die jüngste Zeit, w o unter dem Einfluß namentlich des Klaviers durchaus neue ästhetische Prinzipien sich ausgebildet haben. W i r sind uns sogar bewußt, d a ß unter dem Z w a n g , uns k u r z zu fassen, manches von uns ungenau dargestellt w o r d e n ist. W i r glauben eine Entschuldigung h i e r f ü r finden zu d ü r f e n in unserem Bestreben, nicht eine abgeschlossene Summe von Resultaten zu überliefern, sondern Freunde der K u n s t u n d der Wissenschaft hinzulenken auf das eigene Studium eines Buches, welches durch den Reichtum u n d die innere H a r m o n i e seiner Forschungen auf dem Gebiete der Akustik, der Physiologie u n d der Musikwissenschaft, sowie durch die Eleganz u n d Klarheit seiner Darstellungen eine hervorragende Stelle unter den neueren Leistungen der Wissenschaft einnimmt. [. . . ]
III. ZUR P H I L O S O P H I E UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Λ. Von Dilthey gezeichnete oder anders nachgewiesene Abhandlungen
Christliche Dogmatik und Ethik Daniel Schenkel, Die christliche Dogmatik dargestellt. 2 Bände. Wiesbaden 1858159.
vom Standpunkt
des Gewissens aus
Es wäre nach unserer Überzeugung ein bedenkliches Unternehmen, über das vorliegende umfangreiche Werk, das ein gutes Stück der Lebensarbeit eines unserer regsamsten Theologen enthält, schon jetzt von dem Standpunkt einer theoretischen Prüfung aus ein abschließendes Urteil fällen zu -wollen. Wenn ein jedes Buch, das ein verhältnismäßig Neues in seiner vollen Ausbreitung uns darlegt, verlangen kann, daß man ihm eine Bewährung im ruhigen Gebrauch verstatte, die etwas anderes ist als ein rasches Studium zum Behufe der Kritik, so ist es besonders bei Schenkels Werk der Fall, dessen Gegenstand schon dem flüchtigen Durcheilen widersagt, und das erst derjenige würdigen kann, der in eigener wissenschaftlicher Arbeit ruhig das Ganze in die Teile zerlegt, die der Kritik das Material bieten. Das Eigentümliche des Buches liegt zunächst in dem grundlegenden Teil, oder vielmehr in dessen erster Hälfte. Wir suchen von dieser eine Vorstellung zu geben und fügen einige Bemerkungen hinzu, indem wir uns weiteres vorbehalten. Das erste Lehrstück ist überschrieben „Der Begriff der christlichen Dogmatik"; es beginnt gleich in der synthetischen Form der Darstellung, wo zuerst einige Behauptungen auftreten, die sich sodann in Paragraphen „verschanzen". Diese Form mag für Studierende, auf die das Buch auch berechnet ist, etwas Gutes haben, wir finden sie störend und nicht einmal für die Mathematik mehr musterhaft. Die Dogmatik wird gefaßt als „die wissenschaftlich zusammenhängende, in persönlicher Uberzeugung begründete Darstellung von der Wahrheit des christlichen Heils, wie dieselbe geschichtlich vermittelt ist in der Form des christlichen Gemeindebewußtseins". Es wird dabei in etwas rascher Weise der eine oder andere Versuch, die Dogmatik zu definieren, einer Kritik unterzogen. Auf die zweideutige Form seiner eigenen Erklärung, die aufgelöst heißen kann, daß das christliche Heil Wahrheit ist, oder was an dem christlichen Heil Wahrheit ist, kommt Schenkel nicht zu sprechen. Zusätzlich leugnet er, daß die Ethik einen wesentlich von der Dogmatik
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verschiedenen Inhalt habe und nennt sie nur die besondere Ausführung eines Teiles der Dogmatik. Die Dogmatik erhält nun nach der obigen Erklärung zur ersten Voraussetzung: das Heilsbedürfnis des Menschen, d.h. „eine in der Persönlichkeit des Menschen ursprünglich mitgesetzte Bezogenheit auf Gott als die absolute Persönlichkeit". Hier wird mit Beschädigung des Sprachgebrauchs das Pathologische im „Heilsbedürfnis" vernachlässigt, nur in den Anmerkungen wird die Sünde als tatsächlich vorhanden erwähnt. Der normale Mensch hat doch wohl kein Hei/sbedürfnis und das Wortspiel von „heil" sein ist nicht sehr passend. Bei diesem Paragraphen tritt die Stellung des Verfassers zur Philosophie zuerst hervor; er will „in Abweichung von Schleiermacher die philosophischen Disziplinen aus dem Ganzen der theologischen Wissenschaften ausscheiden", ohne jedoch denselben den gebührenden Einfluß auf die Theolgie zu rauben. Dieser Einfluß soll in einer Schulung des Geistes der Theologen zu strengem Denken bestehen. Jedoch sieht sich Schenkel gezwungen, jene erste Voraussetzung seiner Dogmatik durch Herübernahme einer Reihe von Behauptungen aus „dem anthropologischen Teile der Religionsphilosophie" zu begründen. Dies ist uns in formaler Hinsicht unbegreiflich. Die herübergenommenen Sätze beziehen sich auf Begriffe wie Stoff, Geist, Personleben, Seele, Tierleben, also auf die schwierigsten Probleme der Physiologie, Psychologie usw.; für uns ist das alles fast wertlos, da wir einer ganz verschiedenen Philosophie anhängen als sie aus diesem entliehenen Stück durchscheint. Eine zweite Voraussetzung ist nun die Heilsmitteilung, wobei die bekanntlich schwierige Frage nach der Möglichkeit göttlicher Geistesmitteilung an den menschlichen Geist zur Sprache kommt. Nach einer sehr populären Kritik der Kantschen Ablehnung dieser Möglichkeit wird auf die bloße Erinnerung daran, daß der Geist ja unendlich sei, der Menschengeist wenigstens seinem Wesen nach unendlich, die Sache so gut wie abgemacht. Die dritte Voraussetzung wird so ausgedrückt (Seite 44): „Vermöge der vonseiten Gottes auf die Menschheit ununterbrochen stattfindenden wiederherstellenden Einwirkung wird dieselbe in Gott als heilsgeschichtliche Gemeinschaft vollendet. Die allmähliche, an das Heilsbedürfnis des Menschen anknüpfende, und durch unmittelbare göttliche Heilsmitteilung auf geschichtlichem Wege hervorgebrachte, Vollendung der Menschheit in Gott, ist die dritte Voraussetzung der christlichen Dogmatik, welche für den Dogmatiker die Pflicht größtmöglicher Allseitigkeit in sich schließt." Die Sache ist gewiß richtig und nicht neu, auffallend ist nur das Operieren mit der Präposition in. Das fünfte Lehrstück führt uns zu dem dogmatischen Beweise für das Dasein Gottes; von den herkömmlichen sogenannten Beweisen hält Schenkel nicht viel, er sagt, sie hätten im Grunde keinen anderen Inhalt als die drei von ihm aufgestellten Voraussetzungen. Der Nachweis dieser Reduktion ist reich an interessanten Bemerkungen, obwohl nicht imstande, die Brauchbarkeit jener Beweise für die bescheidene Absicht der neueren Theologie in Abrede zu stellen. Von besonderer Wichtigkeit ist nun das sechste Lehrstück, sofern von der Anordnung des Buchs im ganzen die Rede ist. Die Thesis heißt (Seite 62): „Die her-
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kömmlichen dogmatischen Systeme sind in methodischer Hinsicht unbefriedigend. Von den drei aufgestellten Grundvoraussetzungen aus hat die christliche Dogmatik ihr System von der Wahrheit des christlichen Heils: erstens mit Beziehung auf die Quellen, aus welchen sie schöpft, zweitens mit Beziehung auf die Tatsachen, auf welchen sie ruht, frei von den Fesseln der herkömmlichen Methodik zu entwickeln, und zu wissenschaftlicher Geltung zu bringen. Demzufolge zerfällt sie in zwei Hauptteile; einen grundlegenden und einen ausführenden. Der erstere handelt a) von der Religion, als der Quelle des menschlichen Heilsbedürfnisses, b) von der Offenbarung, als der Quelle der göttlichen Heilsmitteilung, c) von der Überlieferung, als der Quelle der auf Grund der Religion und Offenbarung in Gott sich vollendenden Heilsgemeinschaft. Der letztere handelt a) von der gottwidrigen Selbstbestimmung des Menschen, als der Haupttatsache, auf welcher das menschliche Heilsbedürfnis, b) von der Erlösung des Menschen durch Jesum Christum, als der Haupttatsache, auf welcher die göttliche Selbstmitteilung, c) von der Wiederherstellung der Menschheit im Reiche Gottes, als der Haupttatsache, auf welcher die in Gott sich vollendende Heilsgemeinschaft ruht. Der sogenannte dogmatische Beweis hat die Aufgabe, die Wahrheit der Heilstatsachen dadurch nachzuweisen, daß sie in ihrer wesentlichen Übereinstimmung mit den Heilsquellen aufgezeigt werden." In der Ausführung des Einzelnen werden treffende Rückblicke auf die dogmatischen Gebäude der lutherischen und reformierten Dogmatiker geworfen. Von neueren Systemen billigt Schenkel, bezüglich des anthropologischen Ausgangspunktes und der Originalität der Ausführung, am meisten Langes „Dogmatik". Wenn nun Schenkel hinsichtlich der Form des Systems zugibt, daß die Heilstatsachen, die allem dogmatischen Wissen vorausgegangen sind, nicht im eigentlichen Sinn des Wortes bewiesen werden können, so will er damit doch dem Dogmatiker die Mühe nicht ersparen, die tatsächliche Wahrheit des in ihnen liegenden Inhalts nachzuweisen. Dabei sagt er noch (Seite 79): „Die Kategorien: Religion, Gottesbewußtsein, Offenbarung usw. werden gewöhnlich in sogenannten Prolegomenen zur Dogmatik sehr kurz abgehandelt, oder in Hilfssätzen aus philosophischen Systemen ohne weiteres herübergenommen, im Allgemeinen aber als ein Stoff betrachtet, der eigentlich gar nicht in das dogmatische Lehrganze gehört." Leider kritisiert sich Herr Schenkel damit selbst, wie wir oben an seinen Entlehnungen gesehen haben; gewiß, die hier geforderte Prinzipienlehre ist, wie Schenkel richtig bemerkt, ein wesentlicher Teil des Systems selbst, sie ist die unentbehrliche Grundlage, auf welcher allein ein standhaltender Bau dogmatischer Lehrausführung sich erheben kann. Die Art und Weise des Nachweises der heilsgeschichtlichen Tatsachen aus den heilsgeschichtlichen Quellen wird also als dogmatischer Beweis bezeichnet; zunächst muß dieser aus dem religiösen Bewußtsein geführt werden, d. h. die Tatsache des Heils muß einem wirklichen menschlichen Heilsbedürfnis entsprechen. „Die Wahrheit einer Heilstatsache ist aber zweitens auch erweislich aus einer göttlichen Selbstmitteilung an die Menschen, wobei insbesondere zu zeigen ist, daß dem Menschen oder der Menschheit wirklich neue Heilskraft aus dem absoluten Wesen Gottes zugeflossen ist, die ihr nicht zugeflossen ist, noch zufließen konnte aus ihrem eigenen Wesen. Endlich ist die Wahrheit einer Heilstatsache auch noch aus der
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fortschreitenden heilsgeschichtlichen Entwicklung der christlichen Gemeinschaft erweislich. Jedoch nur in dem Falle, wenn es dem Dogmatiker aufzuzeigen gelingt, daß die heilsgeschichtliche Überlieferung wirklich einen durch göttliche Geisteseinwirkung erzeugten Fortschritt christlichen Heilslebens in sich darstellt, hat der von ihr aus geschöpfte dogmatische Beweis überzeugende Kraft. Demzufolge werden sich für die Anwendung des dogmatischen Beweises folgende allgemeine Regeln ergeben. Erstens: kein Lehrsatz hat im ausführenden Teil der Dogmatik dogmatische Gültigkeit, wenn nicht erwiesen werden kann, daß die in ihm aufgestellte Wahrheit einem Bedürfnis des religiösen Bewußtseins entsprungen ist. Zweitens: ein Lehrsatz ist als ein dogmatisch gültiger auch dadurch erweislich, daß die in ihm aufgestellte Wahrheit als eine einer tatsächlich erfolgten göttlichen Selbstmitteilung entsprechende dargetan wird. Drittens: ein dogmatischer Lehrsatz erhält dogmatische Gültigkeit noch dadurch, daß sich aufzeigen läßt, wie die in ihm aufgestellte Wahrheit ein Entwicklungsmoment im Heilsleben der Menschheit bildet. Viertens endlich: ein Lehrsatz erhält um so größeres dogmatisches Gewicht, aus je mehreren Heilsquellen die Wahrheit desselben erweislich ist" [Seite 82], Man kann über die außerordentlich scharf ausgeprägte anthropologische Natur dieser Kanones sich seine Gedanken machen und die Künste in Aussicht nehmen, mit denen zum Beispiel die Gotteslehre in die Darstellung der Wahrheit des Heils hineingezogen werden muß; aber das ist audi klar, eine ersprießliche Verhütung aller der abstrusen theologisch-konfessionalistischen Partien, von denen unsere Dogmatik so oft verdorben worden ist, liegt doch in ihnen, und wir dürfen uns darüber freuen, daß das Feld einmal nach so einschneidenden Grundsätzen neu gepflügt wird. Es folgt nun der erste Teil „Von den Erkenntnisquellen des christlichen Heils" und zwar erstens von der Religion, wobei vorzugsweise die Herleitung der Religion aus Vernunft und Willen, dann auch die aus dem Gefühl in Abrede gestellt wird. Die Kritik Schleiermachers wird in einer schon von anderen vorgezeichneten Weise geübt. Man könnte gegen diese Kritik wenig einwenden, wenn sie nur mit etwas mehr psychologischer Gründlichkeit vor sich ginge. Was ist das aber für ein Verfahren, wenn man nach einer unbesehen aufgenommenen Trichotomie des Menschen in Leib, Seele und Geist — wobei noch zuweilen die Vergleichung der Tierseele, als welche keine Religion habe, benutzt wird — die Religion ausschließlich in den Geist gelegt wird und nun sich herausstellt, daß das Gefühl in seinem vollen Umfang genommen, auch sinnliche Regungen bezeichnet? Wann werden wir einmal die Redensarten Hegelscher und verwandter Philosophie, die noch immer unsere wissenschaftlichen Verhandlungen beherrschen, fahrenlassen und eigene, nüchterne Beobachtungen unseres Seelenlebens anstellen lernen, die eine Dogmatik auf anthropologischer Grundlage vor allen nötig hat? Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß damit nichts gegen Schenkels Buch insbesondere gesagt werden soll, sondern gegen die noch immer vorhandene Abneigung, die längst aufgegebenen philosophischen Erkenntnisweisen mit gründlichen empirischen Detailuntersuchungen zu vertauschen. Das spekulative „Mühlrad im Kopfe" hat auch in unseren Tagen schon
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manchen jungen Theologen vom philosophischen Studium abgehalten, der einsehen gelernt, daß hier nur pauvre Zeichen der Erkenntnis lägen, denen widersprochen werde von allen Seiten und mit ebenso schönen Gründen. Daß solche widerwärtige Erfahrungen manchen auch dazu geführt haben, die „realen Größen" in den nächstliegenden lutherischen Symbolen mit Zufriedenheit zu umklammern, um alle Zumutungen der Wissenschaft zurückzuweisen, brauche ich wohl nicht zu sagen. Von dem Abschnitt, der (Seite 135 ff.) in dem Gewissen den Archimedischen Punkt der ganzen Dogmatik Schenkels nachweisen sollte, hatte ich so große Erwartungen, daß ich mir meine gegenwärtige Enttäuschung selbst zuschreiben möchte. Wenigstens an Herrn Schenkel liegt es nicht. Er sagt freilich (Seite 137): „Wenn einer der hervorragendsten Ethiker unserer Zeit 1 Klage darüber führt, daß man audi gegenwärtig noch nach einem bestimmten deutlichen Begriff des Gewissens vergebens suche: so ist dieses Zeugnis ein hinreichender Beweis, wie wenig eindringlich das Wesen des Gewissens bis jetzt erforscht worden ist." Aber ich darf behaupten, der Umstand, daß wir noch gegenwärtig, auch nach Herrn Schenkels übrigens wertvoller Auseinandersetzung nach einem bestimmten, deutlichen Begriff des Gewissens vergeblich suchen, liege hauptsächlich in der Sache selbst. Doch wir wollten hauptsächlich referieren. So möge denn die Thesis hier stehen (Seite 135): „Das religiöse ist ein besonderes Vermögen des menschlichen Geistes. Das Organ desselben ist das Gemissen, in welchem das Gottesbewußtsein ursprünglich und unmittelbar gegeben ist, sowohl als das Bewußtsein von einem Sein Gottes in uns, als von einem Nichtmehrsein unser in Gott. Demgemäß ist das Gewissen als religiöses Zentralorgan des menschlichen Geistes zugleich auch ethisches Zentralorgan, und die Synthese des religiösen und ethischen Faktors ist ursprünglich im Gewissen enthalten. Durch den religiösen Gewissensfaktor entsteht das Glaubensbewußtsein, durch den ethischen das Gesetzesbewußtsein. Religion ist mithin das im Gewissen sich kundgebende Bewußtsein des menschlichen Geistes, daß er seines ewigen Wesens vermöge seiner ursprünglichen und unmittelbaren persönlichen Gemeinschaft mit Gott gewiß ist." In welchem Elemente sich die Argumentation bewege, zeigt ferner Seite 138 der Satz: „Wenn wir erfahrungsgemäß weder durch die Tätigkeit der Vernunft, noch durch die des Willens, noch endlich des Gefühls in eine unmittelbare Beziehung zu Gott zu treten vermögen: so ist uns dagegen Gott im Gewissen unmittelbar gegeben. Der Mensch hat Gott ursprünglich im Gewissen, und wir setzen hinzu: er hat ihn nur im Gewissen so. Das Gewissen ist der Ort im menschlichen Geiste, wo dieser den absoluten Geist in sich selbst findet, wo er sich seiner in jenem bewußt wird." Es ist also eine Appellation an die Erfahrung, die „jeder leicht an sich selbst erfahren kann". Wir setzen noch eine Stelle hierher (Seite 147): „Das Gewissen, wie es in dieser eben beschriebenen doppelten Tätigkeit als religiöses und ethisches Zentralorgan des menschlichen Geistes sich uns ergeben hat: ist zugleich das Zentralorgan des geistigen Menschen überhaupt. Weil der Mensch lediglich im Gewissen sich Gottes bewußt wird, außerhalb desselben aber mit seinem geistigen Wesen sich ausschließlich auf die Welt bezieht: so ist er 1
Rothe, Theologische Ethik, I, 264.
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auch lediglich im Gewissen sich seines wahren menschlichen Wesens bewußt. Jenes ist mithin dasjenige Organ, wodurch allein er sich absolut vom Tier unterscheidet; und in der Tat hat auch bis jetzt nicht die geringste Spur oder Analogie des Gewissens in der Tierseele aufgefunden werden können. Weil aber das Gewissen als Zentralorgan des menschlichen Geistes diejenigen Funktionen vollzieht, durch welche der Mensch allein zum vollen und wahren Bewußtsein seiner Menschenwürde und seines menschheitlichen Adels sich erhebt: so kommt demselben auch an sich der Charakter religiös und ethisch normativer Autorität und Dignität zu, und seine Ansprüche sind, insofern es durdi die Einwirkung des Weltbewußtseins noch nicht verdunkelt ist, unfehlbar." Wir halten von den sogenannten „Vermögen" des Menschen überhaupt nicht viel, das Gewissen mit Schenkel „ein Vermögen des Geistes" oder das Organ eines (des religiösen) Vermögens zu nennen, würden wir nicht unternehmen, weil wir diese Sprache f ü r wissenschaftlich unbrauchbar halten. Eine Monographie über das Gewissen, mit Hilfe neuerer Psychologie und mit Anknüpfung an Kant entworfen, wäre eine segensreiche Arbeit. Einen Anfang dazu hat Professor Schlottmann (Deutsche Zeitschrift, 1859, Seite 97ff.) schon gemacht; möchten wir auf die Fortsetzung nicht zu lange warten müssen. Vielleicht daß auf diese Weise durch gemeinsame Arbeit doch nodi der schwierige Begriff methodisch und vor unseren Augen glücklich entwickelt würde. Es müßte sich dann auch der spöttischen Verhöhnung, die von berühmten Leuten wie Heinrich Leo gegen die Berufung auf das Gewissen ergangen ist, anders entgegnen lassen, als es Herr Schenkel (Seite 147) getan hat. Jene vornehmen Spötteleien, welche durch Bunsens Briefe über „Gewissensfreiheit" (Zeichen der Zeit) hervorgerufen worden waren, bezogen sich gar nicht auf das, was Schenkel das „noch nicht verdunkelte" Gewissen nennt, sondern auf das konkrete Gewissen, von dem es allerdings kaum wahr ist, daß es „den Charakter religiös und ethisch normativer Autorität und Dignität" habe. Von dieser Modifikation der Sache kann freilich erst weiter im System gehandelt werden. Doch schon im gleich darauffolgenden Abschnitte „Die Religion in ihrem Verhältnis zur religiösen Gemeinschaft" werden die Grundlagen zur konkreten Betrachtungsweise gelegt. Wir möchten unsere vorläufigen Bemerkungen über das Buch nicht schließen, ohne gerade auf diesen Teil als denjenigen hinzuweisen, der uns in der Grundlegung am meisten gefallen hat und auch f ü r weitere Untersuchungen eine Menge der fruchtbarsten Keime zu enthalten scheint. Inzwischen wollen wir unseren Lesern die Arbeit an dem Buche des Schenkel ans Herz legen, wie wir sie uns selbst zur ferneren Pflicht machen, indem wir wiederholt bemerken, daß es unangemessen, ja unbescheiden wäre, wollten wir über das frische, fast begeistert geschriebene Werk schon jetzt ein Endurteil fällen.
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Goethe als Naturforscher, besonders als Anatom Ein Vortrag von Rudolf
Virchow zum Besten des
Goethe-Denkmals
Mit diesem höchst interessanten Vortrag wurde der Zyklus von sechs Vorlesungen eröffnet, welche zum Besten des Goethe-Denkmals im Saale der Singakademie gehalten werden. Es ist ein trefflicher Gedanke — irren wir nicht, so regte ihn Jacob Grimm an, der selber neuerlich in Seinen kurzen Bemerkungen über Goethes und Schillers Sprachkreis einen so bedeutenden Beitrag zur Darstellung der geistigen Eigentümlichkeit Goethes gegeben hat —, diese Eigentümlichkeit im Laufe dieser rasch aufeinanderfolgenden Vorträge zur allseitigen Darstellung zu bringen. So wird Hofrat Schöll aus Weimar über „Goethe als Staatsmann" sprechen; „Goethe in Italien" von Herman Grimm wird wohl das Verhältnis des Dichters zur plastischen Kunst ausführlich behandeln; seine dichterische Eigenart wird nach zwei Seiten hin dargestellt werden: Professor Hettner wird die „Iphigenie in ihrem Verhältnis zu Goethes Bildungsgeschichte" besprechen, somit wohl Goethes oft mit oberflächlichem Idealismus behandelte Stellung zum griechischen Altertum, um deren nähere Bestimmung sich Hettner bereits in seiner Schrift über die romantische Schule verdient gemacht hat; Professor Hotho wird Goethe und Schiller vergleichend nebeneinanderstellen. Mit höchst glücklichem Griff hat Auerbach ein Thema erwählt, dessen präzise Umgrenzung in die Geistesart des großen Dichters und seine aus dieser herausgebildete sprachliche Technik, die sich sehr wohl analysieren läßt, einen tieferen Einblick zu versprechen scheint: er will über Goethes Erzählungskunst reden. Die dichtgedrängte Versammlung folgte dem Vortrag von Professor Virchow mit teilnehmender Spannung. Dürfen wir es dennoch zu sagen wagen, daß wir gewünscht hätten, der große Gelehrte hätte sich nicht von der Furcht, unverständlich zu werden, allzusehr in den Vorhöfen seiner Wissenschaft aufhalten lassen, er wäre tiefer und direkter in die Geschichte derselben und Goethes Stellung in ihr eingegangen? So vieler Anmut der Rede wäre unfehlbar gelungen, auch dies gemischte Publikum an strengere Gedankenreihen zu fesseln. Wohl hat der Redner die Beziehung angedeutet, in welcher die Theorie der Metamorphose und des Typus zu Goethes künstlerischer Verfahrungsweise und seiner sittlichen Ansicht steht; auch den Gegensatz dieser Theorie zu der Zurückführung des organischen Lebens auf die Zelle mit Hilfe des Mikroskops, in welcher die Bedeutung Virchows selber für die tierische Physiologie wurzelt, hat er berührt: aber mit nur wenigen Worten hat er jene Fragen gestreift, in welchen doch wohl für weit mehrere von den Zuhörern, als er glaubte, der Reiz dieses Themas lag. I. Der Eingang versetzte in den Moment der ersten Begegnung — wenn wir es so nennen dürfen — von Schiller und Goethe, um den Gegensatz in ihrem Verhältnis zur Natur zu veranschaulichen, nach welchem der eine, der für die Medizin bestimmt war, in der Philosophie das Medium der Kunstvollendung finden sollte, der andere dagegen von seinen juristischen Studien sich schon früh aus ureignem
Goethe als Naturforscher (1861)
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Zuge zur naturwissenschaftlichen Forschung getrieben f a n d , a n welcher sich d a n n seine Geistesart am eigentümlichsten — eigentümlicher selbst als am Vorbilde des klassischen Altertums — durchbilden sollte. Die Begegnung f a n d den 14. Dezember 1779 in der Karlsschule zu S t u t t g a r t statt. U n t e r den Eleven, welche v o n H e r z o g K a r l am Stiftungstage Preise erhielten, ehe sie entlassen w u r d e n , b e f a n d sich Friedrich Schiller. Als der Student der Medizin ein J a h r z u v o r eine „Philosophie der Physiologie" den Lehrern eingereicht hatte, hatten diese erklärt, er w e r d e einmal in Wissenschaften sich ausnehmend auszeichnen, ja der H e r z o g h a t t e gesagt: „er werde gewiß ein recht großes Subjektum w e r d e n " : indes der sich leidenschaftlich aus dem Z w a n g dieser Schule hinaussehnende Jüngling w a r noch auf ein J a h r zurückgestellt worden. Dies w a r sein letztes Geburtstagsgeschenk gewesen. Ein ganzes J a h r noch hatte er in den engen Verhältnissen zubringen müssen, ein J a h r , in welchem die „ R ä u b e r " mehr gewannen als die Medizin. A n diesem Dezembertage nun t r a t der blasse kränkliche Jüngling hinzu, drei Preise zu erhalten. Als er sich dem Platze des H e r z o g s näherte, seine Preise f ü r Arzneimittellehre u n d Chirurgie zu empfangen, mochte ihm anderes seine stürmische Seele bewegen. D e n n neben seinem H e r z o g saß K a r l August von Weimar, der Beschützer der deutschen Dichtung, an seiner Seite J o h a n n W o l f g a n g Goethe, er, der Dichter des „ G ö t z " , des „Werther", des „Clavigo", k a u m dreißig J a h r e alt: u n d schon w a r e n die Augen einer N a t i o n auf ihn gerichtet. Die Gewalt seiner damaligen Erscheinung deuten Lavaters W o r t e an, der ihn „den furchtbarsten u n d liebenswürdigsten Menschen" nennt. Es deutet auf die Beschäftigung mit ihm, d a ß sich Schiller ein p a a r Wochen später bei einer A u f f ü h r u n g des „Clavigo" in der Titelrolle versuchte. Aber noch lag wie eine Mauer zwischen dem jungen A r z t e u n d seinen poetischen Zielen. M a n setzt ihn ans K r a n k e n b e t t . Indes es w a r ein Hypochonder, den m a n ihm anvertraute. S o f o r t fließen Betrachtungen über das geheimnisvolle Band zwischen K ö r p e r und Geist u n d die wechselnden Beziehungen beider in seine K r a n k e n berichte. Das wüste Leben in der Garnison folgte, dem er endlich entfloh. Noch einmal stieg vier J a h r e später der G e d a n k e in ihm auf, in Heidelberg die versäumten medizinischen Studien nachzuholen. Er täuschte sich über sich selbst. E r w a r nicht dazu angelegt, ein „großes Subjektum" in den Naturwissenschaften zu werden. Als K a r l August ihn nach Jena berief, w u r d e die Philosophie, die w a h r e H e i m a t seines Geistes, sein Studium. Auch Goethe stand in jenem M o m e n t zu S t u t t g a r t an einem W e n d e p u n k t seines Lebens. Aber dieser f ü h r t e ihn aufs neue in jene Studien hinein, von welchen sich Schiller bald f ü r immer abwenden sollte. Er kehrte von seiner Reise durch die Schweiz mit dem H e r z o g zurück. Wie eine Abschiedsreise von seiner Jugend w a r sie gewesen. Noch einmal h a t t e er zu Sesenheim neben Friederike gesessen: sie h a t t e ihm verziehen. Er h a t t e Lili gesehen, von K i n d e r n umgeben. Er hatte die Schauplätze der abenteuerlichen Reise mit Friedrich Stolberg wieder besucht. Das alles w a r nun abgetan. Ernster, fester k e h r t er zurück. D e r Ernst der Geschäfte nimmt ihn hin; Bergbau und Forstwesen beschäftigen ihn a n h a l t e n d ; er t r i t t der N a t u r n ä h e r ; aber noch sieht sein poetisch schwärmendes Auge in ihr eine A r t von persönlichem Wesen. „Sie h a t " — sagt er in jener Zeit (1780) in dem merkwürdigen A u f -
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satz „Über die Natur" — „keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen durch die sie fühlt und spricht — ihre Krone ist die Liebe." Aber es kam die Zeit, wo die Natur ihm nicht mehr nur „dachte und sann" wie damals, wo nicht mehr die stille Zuversicht ihrer Befreundung ihm genügte — wer denkt nicht an Fausts Worte, der wie in den Busen eines Freundes in die Tiefen der Natur schaut? — es kam die Zeit der Beobachtung und Zergliederung — der Naturforschung. In Italien vollendete sich diese Metamorphose. Stolzer auf die Entdeckung der Urpflanze, als auf die vollendeten Dichtungen kehrte er zurück. Der Dichter der Natur hatte sich in den Naturforscher verwandelt. Aber wie vermögen zwei sich scheinbar so sehr ausschließende Äußerungen des Geistes wirksam ineinanderzugreifen? Der Redner stand nicht an, die Überschreitungen der Grenzen nach beiden Seiten zuzugestehen. Die Grundanschauung des Naturforschers nahm auch den Dichter, wo er sich den Erscheinungen des sittlichen Lebens gegenüber befindet, gefangen. Er übertrug den Gedanken der fortschreitenden Metamorphose vom Unvollkommeneren zur Vollkommenheit ohne weiteres auf dieses Gebiet, für dessen verwickelte Erscheinungen dieses Gesetz nicht genügt. War ihm ehedem im Gedichte an die Geliebte Amor die Spitze aller Metamorphosen gewesen, so theoretisiert er später seinem Ediermann gegenüber, etwas wolle er ihm anvertrauen: wie die Pflanze von Knoten zu Knoten bis zur Samenkapsel fortschreite, wie die Wirbelknochen in der menschlichen Gestalt endlich zum Schädel würden, so bringe auch nach demselben Gesetz der Metamorphose in ganzen Korporationen die Gesamtheit als eine lange gleichartige Reihe endlich das Abschließende hervor, die Bienen ihre Königin, „ein Volk seine Helden, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen". Mit solchen aus der Anschauung der Natur fließenden Gedanken steht Goethes dichterische Grundanschauung nicht nur in solchen vereinzelten Äußerungen, sondern auch — und wir wünschten, hierauf wäre der Redner näher eingegangen — in seinen dichterischen Erzeugnissen selber im engsten Zusammenhang. Seine Charakteristik entspricht genau dem Begriff des Typus; seine höchsten dichterischen Bekenntnisse im „Faust" und „Meister" dem der Metamorphose; seine ganze Weise, die Einheit des Realen und Idealen anzuschauen, hat erst in seinen naturwissenschaftlichen Begriffen die genügsame Formel gefunden. — Es mußte aber ebenso das Entgegengesetzte geschehen, daß die Eigentümlichkeit des Dichters die Grenzen des Naturforschers bestimmte. Sein Ziel war die Form, das Allgemeinbild, nicht das Element; seine Methode die Synthese, nicht die Zergliederung, die Analyse. Seine Bedeutung war, daß er in der Periode des Übergangs aus der älteren logischen Klassifikation diese genetische oder besser morphologische Verfahrungsweise zur Geltung brachte. „Goethe lebte" — sagt Eckermann — „mehr in der Anschauung allgemeiner großer Gesetze." Wie dankbar er die Fülle strengen Einzelwissens würdigte, zeigt seine schöne Äußerung über Alexander von Humboldt. „Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht." Goethe war unter den Angreifern des großen Gebiets, unter den ersten Eroberern. Als nun der Staat zur geordneten Verwaltung kam, wuchsen ihm die Provinzialbehörden über den Kopf. So in der Mineralogie. In der Meteorologie erlebte er den großen Um-
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schwung nicht mehr, der auch seine Hypothesen zu Boden warf. In der Optik gelang es ihm nie, mit der Gilde in Einklang zu kommen, trotz seiner herrlichen Untersuchungen über die physiolgische Seite des Sehens, von denen Johannes Müller öfters bekannt hat, wie fördernd sie ihm gewesen seien. Seine Verwerfung der Anwendung der Mathematik schied unversöhnlich die Männer der strengen optischen Wissenschaft von ihm. Nur auf dem Gebiet des Organischen haben die besten Forscher seine Verdienste vollauf gewürdigt. Lewes hat bekanntlich die Erklärungen von Geoffroy St.-Hilaire, Helmholtz und anderen hierüber zusammengestellt; Virchow fügte dieser Reihe die dankbaren Bekenntnisse zweier anderer großen Physiologen über den Einfluß Goethes auf ihre Studien hinzu: das seines Lehrers Johannes Müller und sein eigenes, das nicht leichter wiegt. I I . Nach dieser abgrenzenden Charakteristik der naturwissenschaftlichen Studien Goethes ging der Redner näher auf die Entstehung der morphologischen Ideen des Dichters auf dem Gebiet des Pflanzenlebens ein, indem er den Faden der Erzählung wieder bei der italienischen Reise anknüpfte. Schon mit dem Gedanken einer Reform des schematisierenden Linneschen Systems beschäftigt, war er nach Italien gegangen. Jeder Schritt, den er weiter in die Fülle der italienischen Pflanzenwelt tut, erregt Neues in ihm. Von Neapel läßt er Herder sagen, daß er mit der Urpflanze bald fertig sei. In Sizilien endlich hat er „den Hauptpunkt, wo der Keim steckt", erfaßt, das Blatt als die Einheit der Pflanze. Mit diesem Modell könne man dann — schreibt er — alle Möglichkeiten der Pflanzenbildung verzeichnen. Was höchst merkwürdig und instruktiv für seinen Gedankengang ist: er sieht seine Entdeckung sogleich in ihrer allgemeinen Anwendung auf alles Organische, wie er sie später durchgeführt hat. „Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." Seine Entdeckung war, daß es dasselbe Organ ist, welches in der Pflanze sproßt, blüht, Früchte bringt: das am Stengel als Blatt sich ausdehnt, sich dann im Kelche zusammenzieht, abermals im Blumenblatte sich ausdehnt und in den Geschlechtswerkzeugen zusammenzieht, um dann sich zum letzten Male auszudehnen als Frucht. Zweierlei ergab sich daraus: indem dasselbe Organ als sich verfielfältigend erkannt wird, wird der Zusammenhang zwischen Wachstum und Fortpflanzung sichtbar; Wachstum ist eine sukzessive Fortpflanzung; indem die Pflanze aus solcher Vervielfältigung hervorgeht, löst sich das Individuum in eine Mehrheit von gleichartigen Wesen, eine Vergesellschaftung auf. Trefflich hob der Redner gerade diesen Punkt, welchen Lewes und Oscar Schmidt nicht berühren, hervor: an ihm ist in der Tat der Zusammenhang dieser Theorie mit der großen Entdeckung der Zellenbildung, welche erst durch das Mikroskop möglich wurde, am sichtbarsten. Wir sahen Goethe bereits im ersten Moment der Entdeckung über die Urpflanze hinaus auf das organische Leben überhaupt blicken. Durch einen höchst merkwürdigen Zufall gewann auch dieser Gedanke in Italien einige Jahre später Gestalt, als er 1790 auf dem Judenkirchhof zu Venedig einen glücklich geborstenen Schafschädel fand, an welchem er die Identität der Schädelknochen mit den Wirbelsäulen sofort erkannte. Und ebenso war seinen optischen Studien schon bei seiner ersten Reise der italienische Himmel höchst günstig gewesen. 22
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Wie mußte ihm zumute sein, als er von jener ersten italienischen Reise zurückkehrte! Kaum fand er einen Verleger für die „Metamorphose der Pflanzen"; das Werk, auf dem noch jetzt die wissenschaftliche Botanik fortbaut, erschien den Zeitgenossen als eine Verirrung. In der Literatur fand er sich zwischen Ardhingello und Franz Moor eingeklemmt. So zog er sich in sich selbst, „in sein wissenschaftliches Beinhaus" zurück. Sein Dichtermund verstummte. Aber auch Schillers Muse schwieg; seine Dichterlaufbahn schien mit „Don Carlos" geendet. Geschichte und Philosophie beschäftigten ihn völlig — alte Zweifel sollten sich lösen. Als er seine Dissertation schrieb, hatte er der Abhängigkeit des Geistes vom Körper nachgespürt. Sinnlichkeit erschien ihm als erste Stufe auf der Leiter der Vollkommenheit, diese selber als die vollständige Mischung der sinnlichen Natur mit der geistigen. Der Raum verbietet, der Darstellung des Redners nachzugehen, wie Schiller nun von Kants Dualismus zwischen Sittengesetz und Sinnlichkeit aus in der Abhandlung „Über Anmut und Würde" zu der Versöhnung in dem Gedanken der schönen Seele, dann, den Ausnahmefall zum Gesetz erhebend, in den „Briefen" zu der allgemein menschlichen Aufgabe der ästhetischen Erziehung fortschritt. Bei diesem Begriff und dieser Aufgabe angelangt, wird Schiller wieder Dichter, er berührt sich nun mit Goethe. Zwischen Goethe und Kant, von denen dieser mit schneidendem Scharfsinn das Bild der Welt zerlegt, jener es ins Ganze zusammenschaut, steht Schiller in einer beweglichen Mitte. Das Freundschaftsband, was sich aus dieser Stellung notwendig ergab, knüpfte — wie Goethe dankbar anerkannt hat — die Naturwissenschaft zuerst an. Im Mai 1794 traf man sich in einer botanischen Vorlesung von Batsch; zufällig gingen beide zugleich heraus; Schiller tadelte die unerfreuliche Zerstückelung der Natur. Goethe, erfreut, sprach von einer anderen Behandlung der Natur als eines lebendigen, wirksamen, aus dem Ganzen in die Teile strebend. In eifrigem Gespräch über Urpflanze und Metamorphose folgte Goethe Schiller in sein Haus, und seit dieser ersten Begegnung wuchs ihre Freundschaft rasch empor. Dies der Anteil, den die Naturwissenschaft an dieser Freundschaft unserer beiden Dichter hat, welche in ihr beide gelernt hatten, in Natur wie in Kunst das Gesetz zu suchen. In seiner schlichten Weise sagt Goethe über diese Verbindung: „Für mich war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh nebeneinander keimte und aus aufgeschlossenen Samen und Zweigen hervorging." I I I . Zunächst verfolgte Goethe seine morphologischen Ideen in der tierischen Welt weiter. Der Redner ging hiermit auf die Studien des Dichters für vergleichende Anatomie über. Sein Verdienst ist auch hier nicht die einzelne Entdeckung, wie die des Zwischenkiefers. Früher oder später hätte diese doch ein anderer gemacht: sie lag in der Luft. Sein Verdienst war auch hier das des Denkers in der Naturwissenschaft: er begründete auf diesem Gebiet die genetische Methode. Obwohl vor ihm durch Caspar Friedrich Wolff (auf den als Vorgänger Goethes bekanntlich Lewes wieder aufmerksam gemacht hat) geübt, hat sie erst seit Goethe einen vordem ungeahnten Einfluß gewonnen. Aber nicht durch bloße Genieblitze hat er sie geltend zu machen gewußt; der Redner, der sich auch zu dem Gedanken bekennt, welchen neuerdings Emerson so unnachahmlich schön ausgeführt hat, daß Genie nicht zum wenigsten Energie der inneren Arbeit sei, wies nach, wie unablässig
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Goethe seit seinen Studienjahren über dem Problem der menschlichen Gestalt gesonnen hat. Die populären Schriften Hallers und Zimmermanns hatten damals den größten Einfluß auf das Publikum. In Leipzig verkehrte der junge Dichter viel mit H o f r a t Ludwig, einem naturwissenschaftlichen Polyhistor. Als er krank nach Frankf u r t zurückkehrte, wühlte er in der Chemie oder vielmehr der Alchimie nach den K r ä f t e n des Lebens. Er geriet auf Boerhaaves „Medizinische Aphorismen", das medizinische Kompendium der damaligen Zeit. So vorbereitet kam er nach Straßburg, dessen anatomische Schule in hoher Blüte stand. Aus „Dichtung und Wahrheit" kennen wir die wunderliche Tischgesellschaft, in welcher er sich damals bewegte, und wie in ihr das medizinische Element vorherrschte. „Die Chemie" — schreibt er — „ist noch immer meine heimliche Geliebte." Seine wissenschaftlichen Tagebücher aus jener Zeit, welche Schöll herausgegeben hat, zeigen ihn mit dieser und der Anatomie anhaltend beschäftigt. Die Erzählungen von den anatomischen Studien Wilhelms in den „Wanderjahren" sind eine Schilderung jener Studien. Ihre innersten mystischen Antriebe aber zeigen sich nirgends so tief als am „Faust", dessen Szenen sich damals zuweilen in seinem Kopfe bewegten. In der Zueignung desselben tauchen die wundersamen Stimmungen jener Tage wieder auf, mit unnachahmlichem Zauber ausgedrückt. Aber aus den Wirrsalen jener Zeit gestaltete sich der leitende Gedanke, daß die Forschung über unsere Ziele sich begnügen müsse mit dem, was dem Gesetz unseres Wesens gemäß sei; aus den Banden der Mystik erhob sich stolz der Realist, der Humanist. Im Geiste resignierender und doch auf das Höchste gerichteter Forschung nahm er um die Zeit der italienischen Reise jene anatomischen Studien wieder auf, welche ihn zuletzt als Mitarbeiter an Lavaters mystischer Physiognomie beschäftigt hatten. Wir sahen, wie ihm der Gesichtspunkt des Typus, des sich in verschiedenen Formen wiederholenden, endlich abschließenden Organs feststand. Wir sahen, wie ihm jener zerborstene Schädel in Venedig die konkrete Bestätigung dieses Gedankens gab: der Schädel ist nur eine Fortsetzung der Wirbelsäule, aus der Metamorphose von Wirbeln sind die einzelnen Knochen desselben hervorgegangen. Die Priorität dieser Entdeckung Oken gegenüber ist jetzt durch den Herderschen Briefwechsel festgestellt. Auch bei dem wunderbaren Faust des 13. Jahrhunderts, bei Albertus Magnus, dem man die Priorität dieser Entdeckung zugeschrieben hat, hat Virchow vergebens nach einer Erwähnung dieses Gedankens gesucht. So bildeten sich langsam die Ideen aus, welche endlich 1795 — auf Anregung Alexander von Humboldts — in der epochemachenden „Allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" zusammengefaßt wurden. Die Julirevolution kam. Als Eckermann in jenen Tagen bei Goethe erschien, rief dieser ihm entgegen: „Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen, alles steht in Flammen." Und als nun Eckermann über die französischen Minister sich auszulassen beginnt, unterbricht ihn der Alte: „Wir scheinen uns nicht zu verstehen. Ich rede von dem nun endlich in der französischen Akademie zum Ausbruch gekommenen Streite zwischen Cuvier und Geoffroy St.-Hilaire." In der Tat, Geoffroys Streit war Goethes Streit: Er vertrat die Einheit des Typus im Tierreiche. Ihm gegenüber der größte Kenner der Anatomie, Cuvier, der ebenfalls wissenschaftlichen Ernst von einem Deutschen, Kielmeyer, einem 22s'
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Schüler der Karlsschule — noch einem unbeachteten Jüngling, als Schiller sie verließ — gelernt hatte. Mit deutschen Waffen kämpften beide. Da hielt es den alten Helden nicht länger; er ergreift für Geoffroys unit£ de composition organique, das Prinzip der Forschung seines Lebens noch einmal die Feder: dem französischen Forscher von deutscher Seite aus Teilnahme an seiner Richtung zu bezeugen, will er den Gang dieser Studien überblicken. Zwei Jahre später, im Monat seines Todes (März 1832) legt er Hand an die Ausführung selbst in einer Fortsetzung des damals Begonnenen. Alle Forscher, die in der langen Zeit seines Lebens auf ihn gewirkt, läßt er, wie in geistiger Heerschau, an sich vorüberziehen. Da kam Graf Buffon, dessen glänzender Geist mitten in seinen beredten Einzelschilderungen bereits auf „eine ursprüngliche und allgemeine Verzeichnung" gerichtet war; dann d'Aubentons sondernde anatomische Methode, Cuviers grenzenloses Wissen, das in höherem Sinne d'Aubentons Eigenschaften wieder darstellt, nicht ohne dessen „Apprehension gegen eine höhere Methode", Petrus Camper, der Entdecker der Gesichtslinie, Thomas Sömmering, der befreundete Genösse seiner Studien, — aller Förderungen, alles feindlichen Abstoßens gedenkt er noch einmal. Die Heerschau ging zu Ende. Er durfte sich solchen Forschern als ebenbürtig erachten. Es war seine letzte Arbeit gewesen, sein Verhältnis zu diesem Gebiet, die Stellung seiner „genetischen Methode" innerhalb desselben noch einmal ausführlich sich und den Zeitgenossen zu vergegenwärtigen.
Zur Philosophie Kants Hermann Fürst zu Wied, Ein Ergebnis aus der Kritik der Kantischen lehre. Leipzig 1861 (anonym erschienen).
Freiheits-
Der Verfasser der vorliegenden Schrift (wie wir hören ein Mann aus einer Sphäre, in welcher man sich sonst leicht über die Arbeit der Erkenntnis erhaben glaubt) ist unseren Lesern bereits durch sein umfangreiches Buch 1 bekannt, auf das viele Blätter seinerzeit aufmerksam gemacht haben. Der bewegende Gedanke seiner philosophischen Arbeiten ist, durch genauere Erkenntnis der menschlichen Seele Religion und Wissenschaft zu versöhnen. Es gehört Mut und Selbstlosigkeit dazu, dieses Endziel wahrer Bildung, von dem wir so weit abgekommen zu sein scheinen, im Auge zu behalten. Und es bedarf, um den Weg nach diesem Endziel nicht bei aller Anstrengung zu verfehlen, einer gewissen geistigen Gesundheit, eines an der wirklichen Welt mannigfach geübten geraden sittlichen Urteils: Eigenschaften, welche uns das vorliegende kleine Buch sehr wert machen. Ohne dieselben wird es nie 1 Das unbewußte Geistesleben und die göttliche Offenbarung. Ein Versuch, durch genauere Kenntnis der menschlichen Seele Religion und Wissenschaft zu versöhnen. 2 Teile, Leipzig 1859.
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gelingen, den sittlichen Gehalt des christlichen Systems unverletzt zu erhalten und dabei dennoch die phantastisch-theologische Form vollkommen abzustreifen, in welcher es uns überliefert ist. Sind doch so bedeutende Versuche wie die von Julius Müller so geistvolle wie die von Peter, Lange, Tholuck und andere an dieser Klippe vollständig gescheitert: ihre ethischen Phantasien treffen durchaus nicht die Motive, auf welchen die sittliche Welt in Wirklichkeit beruht und so werden die Resultate derselben nie dem Verstände der sich im tätigen Leben bewegenden Menschen einleuchten. Es bedarf gar nicht einmal einer wissenschaftlichen Widerlegung derselben: sie sind durch die Tatsache verurteilt, daß ihre Resultate praktisch unbrauchbar sind. Denn von den Begründungen des religiös-sittlichen Lebens müssen wir unbedingt fordern, daß sie in irgendeiner Form in jenem höchsten Sinne praktisch sind, in welchem dieser Ausdruck einem Gedanken die Fähigkeit zuspricht, in den Ideenkreis mitwirkend einzutreten, welcher die Beweggründe unserer sittlichen Bildung enthält. Eine wahre Forschung in dieser Richtung wird sich immer auf Kant zurückgeführt sehen; auch wo sie von ihm abweicht, wird sie das Bedürfnis fühlen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Denn die gesamte neuere Geschichte zeigt kein zweites System von einer gleichen praktisdien Energie. So hat denn auch die anwachsende praktische Richtung der Zeit die verschiedensten Geister auf Kant geleitet, den ersten Philosophen, welcher — echt christlich — auch die Anschauung der übersinnlichen Welt an den moralischen Willen knüpfte. Es ist daher wohl begründet, wenn unser Verfasser an die Prüfung der ethischen Prinzipien Kants seine Gedankenreihe anlehnt. In ganz anderem Geiste freilich als vor ihm Julius Müller getan hat. Wenn dessen Kritik den metaphysischen Tiefsinn der Freiheitslehre Kants in Origenistische Phantasien umzubilden strebte: so versucht die unseres Verfassers, diese Freiheitslehre mit den nüchternen und allein wesentlichen Tatsachen der sittlichen Bildung, des Charakters usw. abzugleichen, von denen sie Julius Müller und Schelling nur noch weiter entfernt hatten. Kant geht mit Recht davon aus, daß die Möglichkeit unseres sittlichen Lebens auf der Freiheit unseres Willens von der Gewalt einer rein mechanischen Abfolge beruht. Indem die dogmatische Philosophie die Reihe der Dinge zu einer Kette von selbstlosen Durchgangspunkten einer im absoluten Sein ruhenden Kausalität machte: hatte sie konsequenterweise für ein Ereignis nirgends Raum, für welches der einzelne Geist nicht nur Schauplatz — ein Schauplatz, in welchem von außen eindringende Einflüsse sich kreuzen — sondern tätiges, verantwortliches Subjekt wäre. Kant nun, um den Willen von dem Gesetz dieser mechanischen Abfolge zu befreien, versetzte ihn außerhalb des Kreises, in welchem der Satz des zureichenden Grundes gültig sei — außerhalb der erscheinenden Welt. Seine Kritik prüfte nicht erst den wahren Wert des Satzes vom zureichenden Grunde selbst, sondern sie begrenzte nur das Gebiet dieses Satzes. Hieraus entstand die Zurückführung der Freiheit im praktischen Verstände auf die Freiheit als transzendentale Idee, entstanden dann alle die Schwierigkeiten, in welche diese Zurückführung den Philosophen verwickelt. Diese Schwierigkeiten verfolgt unser Verfasser mit scharfsinniger Kritik; er weist überzeugend nach, wie Kant das wahre Verhältnis von praktischer
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und transzendentaler Freiheit verkehrt, wie beide durchaus in keiner notwendigen Beziehung zueinander stehen, so daß die erste die zweite als Voraussetzung enthielte. Er endigt diesen Teil der Untersuchung mit dem positiven Resultat: „Steht dies nun fest, daß der Wille überall, wo er in die Erscheinung tritt, als Naturkraft wirken müsse, ganz abgesehen davon, was er für einen Inhalt hat, so stehen auch alle Willensakte unter dem Naturgesetz der ursächlichen Verknüpfung, und es gibt folglich keinen Willensakt, der eine Reihe von Erscheinungen anfinge; sondern ein jeder Willensakt ist durch Ereignisse des Innenlebens oder der Außenwelt bedingt" [Seite 30], Wir überlassen die fesselnde und überzeugende Kritik Kants — uns der liebste Teil der kleinen Schrift — der eigenen Lektüre unserer Leser, um unsererseits ein Bedenken gegen das aus ihr gefolgerte positive Resultat anzudeuten. Nur ein Bedenken; denn wer möchte leichthin wagen, über den hier in Frage kommenden schwierigsten, tiefreichendsten Punkt der Ethik, die metaphysische Begründung der Freiheitslehre, ein Urteil in einer Anzeige auszusprechen? Kant, wie wir schon bemerkten, prüft nicht erst die eigentliche Bedeutung des überlieferten Kausalitätsbegriffs, sondern sucht nur den Umfang seiner Geltung zu begrenzen. Das Problematische in dieser Voraussetzung bemerkt nun unser Verfasser sehr wohl. „Daß aber auch die kritische Philosophie" — so bemerkt er gleich im Anfang in dieser Beziehung — „die Freiheit gegen das Gesetz der Naturnotwendigkeit nicht recht zu behaupten wußte, kann wohl nur daher kommen, daß sie nicht kritisch genug gegen ihre eigenen Voraussetzungen verfuhr. Der Gedanke der Freiheit, der als Forderung der Vernunft so tief in unserem Bewußtsein wurzelt, daß kein Beweis ihres Nichtvorhandenseins ihn auf die Dauer erschüttern kann, hätte den kritischen Denker immer aufs neue anspornen sollen, seine ersten Voraussetzungen wiederholt zu prüfen, damit die irrtümliche Annahme endlich ans Licht trete, welche ihn verhinderte, die Freiheit als Wirklichkeit anzuerkennen" [Seite 2]. Und dann später auf Kants Voraussetzungen näher eingehend: „Es kann sehr wohl gedacht werden, daß geistige Wesen von höheren Verstandeskräften und von tieferer Einsicht, als die unsrige ist, das, was wir kausalen Zusammenhang nennen, in einem ganz anderen Zusammenhang erkennen würden" [Seite 10]. Die Frage ist, ob was er hier „Wesen von höherer Einseht" überläßt, nicht vom menschlichen Verstand bis zu einem gewissen Punkt geleistet werden könnte? Ob, mit anderen Worten, eine Kritik des gewöhnlichen Kausalitätsbegriffs wirklich jenseits der Grenzen unserer Erkenntnis liegt? Wir übergehen Herbarts Kritik des Kausalitätsbegriffs: über Freiheit denkt derselbe, obwohl aus anderen Gründen, noch härter als unser Verfasser. Aber das System Lotzes hat gerade in der Untersuchung der Kausalität seinen Schwerpunkt und in seiner kurzen vorläufigen Besprechung der Freiheitslehre wendet er sich, auf Grund dieser Untersuchung, ausdrücklich gegen die Folgerungen, welche in dem obigen positiven Resultat unseres Verfassers liegen. „Nicht darin besteht die unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes, daß jeder Teil der endlichen Wirklichkeit immer nur im Gebiet dieser Endlichkeit selbst durch bestimmte Ursachen nach allgemeinen Gesetzen erzeugt werden müßte, sondern darin, daß jeder in diese Wirklichkeit einmal eingeführte Bestandteil nach diesem Gesetz
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weiterwirkt" [Lotze], Näher begründet, würde dieser Satz mitten durch die Folgerung des obigen positiven Resultates hindurch schneiden, welche auf der vorausgesetzten Gültigkeit des gewöhnlichen Kausalitätsbegriffs beruht. Vorläufig ist man darauf angewiesen, die vielfach zerstreuten Andeutungen mit der älteren Ausführung in der Metaphysik zusammenzuhalten. Ganz vor kurzem hat nun auch Ulrici in seiner trefflichen Schrift „Gott und die Natur" in ähnlichem Geiste eine Untersuchung dieser Probleme angestellt, deren Besprechung uns indes hier zu weit führen würde. Wir berühren kurz die ethische Beurteilung des Freiheitsproblems, zu welcher die vorliegende Schrift nunmehr fortschreitet. Die Bedenken gegen eine ungemessene Wahlfreiheit sind hier unwidersprechlich; darin, daß die sittlichen Motive mit der Notwendigkeit der Natur wirken, liegt das Wesen des Charakters; darin, daß die Aktion in einem notwendigen Zusammenhang mit dem handelnden Subjekt steht, so daß der sittliche Wert des Subjekts sich in der Handlung darstellt, liegt das Wesen der Zurechnung. Die Wahlfreiheit in ihrer gewöhnlichen Formulierung widerspricht daher dem ethischen Motiv, aus dem sie entstanden ist. Auf der anderen Seite scheint die Tatsache, daß der Wille ohne Bewußtsein eines zwingenden Zusammenhangs wählt, dem sittlichen Bedürfnis zu genügen. Audi von hier aus führt die Frage in verwickelte Überlegungen. Beabsichtigt die Kritik der Kantschen Freiheitslehre in diesem ersten Teil des Schriftchens eine andere Formulierung der offenbar von Kant ungenügend behandelten Freiheitslehre selbst, so dringt sie dann in dem anderen Teil, in dem sie die Motive dieser Lehre bei Kant untersucht, zu der audi neuestens mehrfach behandelten Frage vom Verhältnis der Seiten des menschlichen Wesens zueinander vor. Sie trifft hier vielfach mit dem jüngeren Fichte zusammen, welcher ja audi in der neuen Auflage seiner „Anthropologie" seine Freude über dies Zusammentreffen voneinander unabhängiger Untersuchungen in Beziehung auf die frühere, größere Schrift unseres Verfassers ausgesprochen hat. Der Anlaß, den Kant zu der Erörterung dieses Verhältnisses bietet, liegt in seiner Unterscheidung der Seele als eines noumenon und eines phaenomenon. Diese Unterscheidung erklärt der Verfasser aus dem Begriff des Dinges an sich; wir übergehen die treffliche nähere Behandlung dieses schwierigen Punktes; im wesentlichen befindet sie sich mit Fischers neuester Darstellung in Übereinstimmung. Auf die menschlichen Handlungen angewandt ergibt diese Unterscheidung den Satz, daß dieselbe Handlung auf empirische Ursachen und auf einen transzendentalen Grund zurückzuführen sei. Das Sollen wirkt als eine Art von kausaler Notwendigkeit. Der Beweis für diesen Satz ist von Kant nicht geliefert. Die Stellung, welche K a n t dem Sollen zuteilt, unterliegt mehrfachen Bedenken. Das Sollen erscheint im Geiste als etwas ihm Fremdes, als eine von außen hereintretende Nötigung; es gibt sich in ihm, in unserem Bewußtsein ein der Zeit nicht unterworfenes Subjekt von Wirkungen kund, welches nicht das Subjekt unserer empirischen Willensbestimmung sein kann. Das Subjekt der Handlung muß aber durchaus stets der ganze Mensch im empirischen Sinne sein. Daraus ergibt sidi, daß die Willensentscheidung nicht in den Menschen als noumenon fällt, sondern in das empirische Subjekt. Und so stellt denn der Verfasser an die
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Stelle jenes Kantschen Unterschieds zwischen der Seele als phaenomenon und noumenon den zwischen dem empirischen Subjekt, Inbegriff aller selbstbewußten Tätigkeiten, das er als Seele bezeichnet, und dem Geiste, dem Inbegriff des Allgemeinen, Unveränderlichen, der Zeit nicht Unterworfenen. Die Seele ist das Prinzip der Individualität, der Geist das Höhere, Göttliche, das Prinzip der Offenbarung; die vollkommene Sittlichkeit ist reinstes Wirken des Geistes in unserem Inneren. Dies sind die Grundgedanken der kleinen Schrift, Gedanken, welche überall deutliche Anhaltspunkte bieten für den religiös-sittlichen Ideenkreis des Christentums. Möge dieselbe recht vielen eine Anregung sein, die Harmonie zwischen der Philosphie und dem richtig verstandenen Christentum immer gründlicher zu erkennen.
Albertus Magnus Ein Vortrag von Jessen von
Eldena
Am 25. Januar [18621 las Jessen von Eldena über „Albertus Magnus". — Es war verdienstlich, ein Thema zu wählen, welches einem größeren Publikum in ein so gewaltig bewegtes Zeitalter, als das 13. Jahrhundert war, und in die Wiedererweckung der Naturwissenschaften in Europa einen Einblick gewährte. Denn nur zu selten führt uns der Kreis der modernen Bildung zu diesen Anfängen unseres wissenschaftlichen und Kulturlebens zurück; nur zu leicht sind wir geneigt — und die falsche romantische Verehrung des Mittelalters hat dieser Ansicht nur Vorschub geleistet — jene Zeit und die unserige in reinem Gegensatz zu nehmen, während dieselben wissenschaftlichen und Kulturantriebe auch damals wirksam waren. Erst in den letzten Jahren hat die Wissenschaft sich, zum Beispiel in Sybels politischen, in Haureaus und Prantls philosophischen Untersuchungen über das Mittelalter, mit einer beinahe leidenschaftlichen Schärfe auf die der Romantik entgegengesetzte Ansicht der mittelalterlichen Entwicklung geworfen und so einer allseitigen Erwägung der historischen Bedeutung des Mittelalters einen mächtigen Antrieb gegeben. Dem Interesse des größeren Publikums aber wird trotzdem diese Periode stets fernerstehen als die des Altertums oder der neueren Zeit. Es wird jeder Zeit von außerordentlicher Schwierigkeit sein, dieselbe seinem Verständnis wirklich nahezurücken. Audi dem Redner gelang es nicht völlig, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Am meisten möchte der Vergleich des Albertus mit Alexander von Humboldt, der sich durch den ganzen Vortrag hindurchzog, den ersteren dem Verständnis und Interesse des Publikums nahegebracht haben. Denn die Analogie bleibt in solchen Fällen stets die populärste Handhabe der Darstellung. Wir stellen die Hauptgedanken kurz zusammen.
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Die Liebe zur Natur ist ein Grundzug im Charakter des deutschen Volkes. Die ersten Berichte der Römer bemerken sie. Aus einer Zeit voll Roheit und Gewalt, aus dem 6. Jahrhundert, vernehmen wir, wie ein König mit eigenen Händen seine Blumen pflegt. Im 9. Jahrhundert treten in Karl dem Großen ähnliche Züge hervor, und dasselbe Jahrhundert bringt schon das erste Idyll. Wieder ein Jahrhundert später beschrieb die heilige Hildegard, die Äbtissin von Bingen, die Heilquellen Deutschlands aus eigener Beobachtung und, wenn man den Dämonenglauben der Zeit abnimmt, mit gesundem Sinne. An solche Bestrebungen reiht sich dann im 13. Jahrhundert Albert, der Graf von Boilstädt, der Begründer der deutschen Naturwissenschaft, unter den ersten Philosophen und Theologen seiner Zeit, von Königen und Päpsten der Freundschaft gewürdigt, von einer enthusiastischen Schülermenge umgeben, die ihn in seinem einsamen Kloster so gut als in der Weltstadt Paris umgibt. Die deutsche Naturliebe erhob sich in ihm zum wissenschaftlichen Naturstudium. Die ganze Naturbetrachtung des späteren Mittelalters knüpft sich an ihn an. Was seit Aristoteles niemand wieder gewagt hatte, die Natur als ein Ganzes zu schildern, hat er von neuem begonnen; acht Jahrhunderte sind dann auch danach wieder vergangen, bis ein Deutscher, Alexander von Humboldt, mit den Mitteln der modernen Zeit diese Aufgabe abermals ergriff. Kosmographien freilich gab es mehrere, wie die des Plinius; aber keine kam über die Beschreibung hinaus zu dem Versuch, die Welt in ihrem Zusammenhang zu schildern. Nur bei den Arabern möchte ich in den Schriften der lauteren Brüder, deren Kenntnis wir Dieterici verdanken, etwas Ähnliches finden. Jene Drei aber, Aristoteles, Albertus und Humboldt, haben zwar ihre Aufgabe nach der Verschiedenheit der Zeiten verschieden aufgefaßt, aber gleich sind sie sich im innersten Streben und Wollen, in nie ermüdender Tätigkeit, in ihrer Naturliebe. Noch schlagendere Ähnlichkeiten finden sich zwischen Albertus und Humboldt: sie gleichen sich in hoher Abkunft, in freiwilligem Ablehnen großer Stellungen, in freiem, nahem Verkehr an Fürstenhöfen, ja, daß audi dies nicht fehle, in einem glücklichen und rüstigen Alter. Aber mitten unter Mitstrebenden, von ihren Forschungen immer neu angeregt und gefördert, von seiner Zeit verstanden und gewürdigt, durfte Humboldt leben; Albertus lebte einsam, vielbewundert auch er — aber nicht um seiner naturwissenschaftlichen Forschungen willen, er mußte sich vielmehr in der Theologie einen Namen machen, um dem Vorwurf der Zauberei, den ihm jene zuzogen, durch diesen zu entgehen. Als seine Untersuchung Mittel fand, Rosenknospen so aufzubewahren, daß man sie dann zu beliebiger Zeit zur Blüte bringen könne, entstand in dem naturunkundigen, abergläubigen Volke die Sage, er habe mitten im Winter einen Garten blühender Bäume aufschießen und ebenso plötzlich wieder verschwinden lassen. Es war die Zeit der Blüte päpstlicher Macht, in welche das Schicksal seine naturwissenschaftliche Forschung und Betrachtung hineinwarf. Er ist zu Lauingen in Schwaben geboren. Eben war der große Barbarossa in Asien im Dienst der Kirche gestorben. So trüb begann das Jahrhundert. Unmöglich konnte ein deutscher Edelmann große Sympathie mit dem Papsttum empfinden. Aber für die geistige Tätigkeit bot sich nirgend eine Zufluchtsstätte als in der Kirche, wenn
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jemand nicht sein halbes Leben in Fehden verbringen wollte. In der Tat scheint Albert lange gezögert zu haben. In einem Alter — er war dreißig Jahre —, in welchem bereits Humboldt sich einen berühmten Namen gemacht hatte und sich zur Reise nach Amerika rüstete, befand sich Albert noch als Student in Paris. Wie schwierig war auch damals, durch die schwer zu erlangenden, noch schwerer zu verstehenden literarischen Hilfsmittel durchzudringen. Und dennoch war der ungestüme Drang jener Zeit nach Wissen kaum geringer als der der unsrigen. Bereits begann im Volksverstand, im Bürgerstand eine Opposition gegen die geistige Herrschaft des Papsttums. Die Universitäten wuchsen rasch. Ja, es gab bereits revolutionäre Männer, welche das Wissen des Heidentums, Aristoteles und arabische Weisheit, an die Stelle der christlichen Kultur setzen wollten. Es erscheint das erklärlich, wenn man die Blüte arabischer Wissenschaft mit dem Verfall der christlichen Kirche vergleicht, mit dem Kampf, den sie durch Feuer, Schwert und Bücherverbote gegen den hereindringenden Geist der Selbständigkeit führte. Die Frage war, ob die Wissenschaft ihren Weg frei verfolgen sollte. Den hohen Klerus fesselte die Lust der Welt, den niederen die Armut und Abgelegenheit der Klöster. In dieser Lage boten die Bettelorden, die frei außerhalb des straffen Systems der Hierarchie standen, den einzigen Anhalt. Hier fand Albert denn auch einen Platz für seine Wirksamkeit. Noch eben, 1219, hatten die Dominikaner sich zu der ernsten Aufgabe bekannt, die Reinigung des Glaubens nicht blos außerhalb, sondern auch innerhalb der Kirche zu fördern; 1223 trat Albert in den Orden, und wir sehen den ersten Denker Deutschlands zu Fuß mit dem Stab in der Hand lehrend die deutschen Lande durchziehen. Es begannen Alberts Wanderjahre, denen Humboldts vergleichbar. Aber er durfte die Beobachtung in seinen Mußestunden nur im Gedächtnis niederlegen; seine tägliche Beschäftigung stimmte wenig mit dieser innersten Richtung seines Geistes überein. Köln war der Ruhepunkt in seinen Wanderungen. Es war damals die gebildetste Stadt Norddeutschlands, die berühmteste deutsche Lehranstalt. Dorthin wandte er sich immer wieder zurück. Zuerst sandte ihn sein Orden nach Paris, und er bestand dort die Feuerprobe der Vorlesungen an dieser damaligen Weltuniversität vor den erlauchtesten Personen seiner Zeit; Fürstensöhne saßen zu seinen Füßen; wie für Humboldt reichte auch für ihn kein Hörsaal aus. Dem Aufenthalt im Westen folgte sechs Jahre darauf eine Reise nach Osten. Einundsechzig Jahre alt ging er im Dienste seines Ordens nach Livland zur Inspektion der dortigen Klöster — in hohen Ehren, aber nach der Ordensregel zu Fuß. Der Siebenundsechzigjährige muß dann den Regensburger Bischofssitz annehmen; erst mit siebzig Jahren gelingt es ihm, nachdem er die zerrütteten Verhältnisse seiner Diözese geordnet hatte, die Erlaubnis zu erlangen, sich in seine Einsamkeit zurückzuziehen. Nun lebt er in Köln ruhig seinen Studien. Der Papst hatte ihn von dem Gelübde der Armut dispensiert; so darf er nun doch wenigstens, was er geschrieben, behalten, während ihm dies früher sein Gewissen verbot; darf eine Bibliothek um sich sammeln. N u r noch einmal ergreift er — er war fünfundachtzig Jahre alt — den Wanderstab, um in Paris selbst die Lehre seines jüngst verstorbenen großen Schülers Thomas gegen die Ketzerrichter zu verteidigen. Bis ins hohe Alter hielt er Vorlesungen. Es wird
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erzählt, daß er, als ihm einst die Stimme versagte, mit raschem Entschluß abbrach und diese Vorlesung f ü r die letzte erklärte. Wie im Leben hat er auch in der Lehre am Glauben seiner Zeit festgehalten und doch die Wissenschaft nicht aufgegeben. Überall in seinen Schriften schließt er sich der Schulmethode seiner Zeit, der Achtung vor den Autoritäten, der Weise, sie nebeneinanderzustellen, fügsam an. Aber wie ein Blitz schlagen dann einzelne Gedanken durch diesen Wust durch. Solche Äußerungen muß der zusammenlesen, welcher in dem Studium dieser vielen Foliobände nicht an ihm irre werden will. Gott scheint ihm auf doppelte Weise erkennbar: mit dem Gemüt aus der Bibel, mit dem Verstand aus der N a t u r . In Fragen der Arzneikunde zieht er daher offen den Galenus, in Fragen der N a t u r k u n d e den Aristoteles den Kirchenvätern vor. Mit diesen einfachen Gedanken setzt er sich ohne weiteres über die scholastischen Vorurteile der Zeit hinweg. Er empfängt von Aristoteles den Grundgedanken der Einheit der N a t u r . Keiner seit jenem griechischen Philosophen hat Anspruch auf die selbständige Fortführung dieses Gedankens. Audi Averroes ist wie die anderen nicht über das Schülertum hinausgekommen. Albertus ist der erste, der sich selbständig neben Aristoteles stellt. Gelegentlich schiebt er untergeschobene Werke desselben, wie die Botanik, kurzweg beiseite; er erklärt sie f ü r seines Meisters unwürdig und will selbst in seinem Geiste weiterarbeiten. Audi an diesem Punkt erhebt sich ihm die Beobachtung über den Autoritätsglauben. Ebenso selbständig ist er in der Ausführung des Ganzen. Er kann nicht den Menschen an die Spitze seiner Erdbeschreibung stellen, sondern er steigt wie H u m b o l d t vom Niederen zum Höheren auf; durch die drei Gruppen der toten N a t u r , der lebendigen Wesen, des geistigen Lebens hindurch, steigt er bis zum Ursprung der Seele und der Gottheit empor. Überall in seinen Schriften quillt Neues, aber nicht in philosophischer Deduktion, sondern in Beobachtungen und daraus abgeleiteten allgemeinen Gesetzen. Spricht er sich doch ganz klar darüber aus, daß die Philosophie auf Beobachtung beruhe. Das Verdienst seiner Beobachtungen abzuschätzen ist schwer, da der Stand des Naturwissens seiner Zeit uns zu wenig bekannt ist. Freilich nennt er oft Autoritäten, aber er verbessert sie nicht selten schweigend nach eigenen Beobachtungen. Am abhängigsten ist er in Physik und Chemie, wo er meist arabischen Quellen folgt, am selbständigsten in den geographischen Wissenschaften und beschreibender Naturkunde. Finden sich doch bei ihm bereits die Keime einer Pflanzengeographie. Wo er in diesen Gebieten nichts anderes tut, fügt er doch zu den vorhandenen neue Beobachtungen aus dem von den früheren als barbarisch undurchforschten Norddeutschland hinzu. Aber seine Stärke liegt weniger in der Beobachtung als in der Verknüpfung. Schon er stellt als ersten Grundsatz des Ackerbaues auf: woraus eine Pflanze besteht, das muß ihr durch den Ernährungsprozeß zugeführt werden; schon er fügt der zerlegenden Anatomie des Aristoteles, die er weiterführt, die Morphologie hinzu. Die Massen des Neuen waren ihm Nebenwerk; die Hauptsache: er wollte die Welt darstellen als ein lückenloses göttliches Ganzes. Er hat Aristoteles' Geschick darin geteilt, daß kein Schüler in seinem Geiste weiterarbeitete. Erscheint auch der katholischen Kirche, welcher die mystische Ver-
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tiefung in das Dogma Maßstab ist, Thomas größer: vor unbefangener wissenschaftlicher Erwägung hält seine historische Stellung nicht den Vergleich aus mit der seines Lehrers. Aber nicht bloß in der Wissenschaft hat Albertus' großer Geist Zeugnisse hinterlassen. Sicherer Nachricht nach hat er den Chor des Doms zu Freiburg, dann den des Kölner Doms erbauen lassen; nach aller Wahrscheinlichkeit ist der ganze Entwurf zum Kölner Dom seinem Geiste entsprungen (?). So möge der gewaltige Plan jener einheitlichen Naturwissenschaft, in dem er lebte, zu einem ebenso gewaltigen Bauwerk sich gestalten, als jener Dom, zu dem er zu Köln die Grundlinien zog.
Johannes Kepler und die Harmonie der Sphären Ein Vortrug von Professor
Förster
Am 8. Februar [ 1 8 6 2 ] las Professor Förster über „Johannes Kepler und die Harmonie der Sphären". — Es gelang dem Vortragenden vortrefflich, bei einem dem allgemeinen Verständnis so fern liegenden Gegenstande durch die Entwicklung der Sadie selbst, nicht durch Schmuck und Exkurse, das Interesse des Publikums zu fesseln. Der Grundgedanke seines Vortrags war von höchstem Interesse für die Geschichte der Wissenschaften. E r wies nach, wie die Entdeckungen Keplers, ganz wie die voraufgehenden von Kopernikus, auf spekulativen, in der griechischen Philosophie ausgebildeten Ausnahmen ruhten, wie somit in diesen beiden die exakte Forschung aus der Wiederentdeckung der griechischen Spekulation entsprang. Wir teilen die allgemeinen Gedanken, welche sich auf diesen allgemein-historischen Gesichtspunkt beziehen, mit und hoffen, daß der ganze Vortrag dem Publikum zugänglich gemacht werden wird. Kepler ist unter den astronomischen Heroen der, dessen wissenschaftliche Bedeutung vielleicht am schwersten erkennbar ist. Bei Ptolemäus und Kopernikus denkt jeder an das unermeßliche Gewicht der Frage, ob die Erde der Mittelpunkt der Welt sei oder ein Stern unter Sternen wandelnd. Die Bedeutung von Newtons erklärender Theorie der Anziehungskraft leuchtet jedem ohne weiteres ein. Der Name Keplers ist mit dem Gedanken an dunkle und unfruchtbare allgemeine Theorien und schwerer verständliche exakte Entdeckungen verbunden. In der besonderen Natur dieses Mannes und seinen wissenschaftlichen Entdeckungen liegt daher eine Aufforderung, den Versuch, beide verständlicher zu machen, zu wagen. Kepler ist von den Historikern der exakten Wissenschaften herabgesetzt worden, weil sich in ihm zur mathematischen Begabung eine mächtige Phantasie gesellte. Der englische Historiker der exakten Wissenschaften hat ihn geistvoll mit einem Schnitter verglichen, der nicht nur Garben heimbringt, sondern audi die Blumen,
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die er auf dem Wege traf. Geistvoller als w a h r : der Engländer verstand doch den deutschen Geist nicht, in welchem es kein unvermitteltes Nebeneinander geben konnte. Eben aus der Blume selbst kam die Frucht; eben aus diesem Idealismus Keplers erhob sich die klare Strenge seiner Gesetze. Der tiefste Inhalt dieses Keplerschen Idealismus war aber nichts anderes als die Harmonie der Sphären, die Harmonie des Weltalls. Der Redner verfolgte zunächst Keplers Jugendentwicklung bis auf den Zeitpunkt, in dem diese große kosmische Idee des Altertums in seinen Geist eindrang und ihm einen Anstoß zu nicht endender Bewegung gab. Er war 1571 im Württembergischen geboren. Sein Vater war von herabgekommenem Adel — ein Kriegsmann, der in den Niederlanden — als Protestant für den Katholizismus — und gegen die Türken focht und fiel, man weiß nicht, wo und wann. Mit der Mutter verknüpfte den Sohn eine unverkennbare Verwandtschaft des Geistes. Die Begeisterung für die große wissenschaftliche Laufbahn desselben ergriff sie später so, daß man in ihrer Heimat meinte, sie sei in die Gewalt der bösen Geister gefallen und einen Hexenprozeß gegen sie begann, aus dem sie nur der herbeieilende Sohn selbst rettete. Der junge Kepler wurde in Maulbronn vorbereitet und studierte dann im Stift zu Tübingen, wie lange nach ihm die Schelling und Hegel, Theologie. Tübingen w a r damals für den Süden, was Wittenberg für den Norden Deutschlands w a r ; reiche Stiftungen erleichterten dort die Studien, und zum Lohn dafür band die, welche sie genossen, nur eine Pflicht der Dankbarkeit, dahin zu gehen, wohin sie die mütterliche Fakultät sende. Eben als Kepler ausstudiert hatte, kam ein Gesuch um einen Mathematiker aus Steiermark. Kepler scheint nicht die besondere Vorliebe seiner theologischen Oberen genossen zu haben. Sein Geist lechzte nach einer weltumfassenden Wahrheit; von den theologischen Kollegien weg, fühlte er sich immer mehr zu den Vorträgen von Michael Möstlin, dem Professor der Mathematik, hingezogen. Es war das einer der wenigen Männer, die damals eine klare Vorstellung der Kopernikanischen Lehre hatten; ja, man erzählt, daß er, als er in Italien seine Studien machte, dort auch Galilei für dies System gewonnen habe. In Tübingen war er leider nicht in der Lage, diese gefährliche Doktrin lehren zu dürfen. Er mußte nach dem System des Ptolemäus vortragen, wußte indes seine wahre Ansicht doch seinen näheren Schülern verständlich zu machen, so daß Kepler aus seinem Unterricht als ein entschiedener Anhänger des Kopernikanischen Systems hervorging. Die theologische Fakultät nun hatte das alles mit Verdruß bemerkt und sandte ihn nun in die nicht gerade beneidenswerte steiermärkische Stelle. Er hatte Lust zu protestieren: indes folgte er doch Möstlins Rat, die Stellung anzunehmen. Zu seinen Amtsgeschäften gehörte dort, Kalender zu machen und zu den Kalendern Prophezeiungen. Er hatte Glück mit den Kalendern und den Prophezeiungen. Gleich im ersten Kalender sagte er einen harten Winter voraus, der dann auch richtig eintraf und seinen Gaben großes Zutrauen verschaffte. Er wußte aus diesem Geschäft doch so viel Vorteil zu ziehen, daß er zuweilen unter allerhand Prophezeiungen Gelegenheit nahm, herzlich und treuherzig zu seinen Lesern von der Natur zu reden.
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Ihn selbst beschäftigten völlig einsame Studien. Schon noch drei Jahren erschien seine Schrift über das Geheimnis des Weltbaus, die überall erstaunte Bewunderung und große Erwartungen von dem jungen Mathematiker erregte. Neben dem Studium des Kopernikus lag das der platonischen und pythagoräischen Lehren ihm zugrunde. „Geometrische Symmetrie" und „arithmetische Harmonie" der Welt wurde von da ab die Formel seines Idealismus. Man muß sich den Einfluß der griechischen Ideenwelt in jener begeisterten Periode vergegenwärtigen, um diese Formel des Keplerschen Idealismus zu verstehen. Es ging wie Frühlingshauch durch die Welt der Geister. Das Musische, Begeisterte in der griechischen Welt, der eigentümliche Hauch kontemplativer Seligkeit, der sie durchweht — das alles kontrastierte bedeutsam und machtvoll mit der grauen abstrakten Färbung des mittelalterlichen Geistes. Dort war das natürliche Leben der Erscheinung verflüchtigt worden. In der Berührung mit dem Orient, mit der arabischen Literatur, war dann die erste Gegenwirkung gegen diesen Zug bemerkbar geworden; erst die heitere Klarheit des Griechentums errang nun den Sieg. In einem früheren Vortrag hatte der Verfasser die Stellung des Kopernikus zu dieser großen Erbschaft des Altertums gezeigt. Diesmal wies er nach, wie auch noch auf Kepler dieser klassische Enthusiasmus durch die Wirkung der aus der griechischen Philosophie stammenden divinatorischen spekulativen Ideen auf dies Gebiet der exakten Wissenschaften: er selbst vollendete eine Methode, die über das Altertum hinausging. Die Alten haben in logischen und mathematischen Symbolen die Einheit des Geistes in der Natur ausgedrückt, allzufrüh durch spekulative Phantasie gegen vom Einzelnen fortschreitende Forschung sich abschließend, aber auch zugleich zu außerordentlicher Anregung naturwissenschaftlicher Untersuchung. Als nun Kopernikus eine von den Griechen nie geahnte Auffassung von für unseren Gesichtskreis schwierigerer, aber die sachlichen Fragen mit einem Schlage vereinfachender Art hinstellte: entstand den griechischen Phantasien gegenüber der allgemeine Ruf nach einer Astronomie sine hypothesi — einer Astronomie von naturwissenschaftlicher, das heißt rein experimenteller Methode. Die beiden Gründer derselben waren Kepler und Galilei. In Galilei ist der Übergang vollendet, die Methode rein hingestellt; in Kepler ist uns das merkwürdige und belehrende Schauspiel gewährt, den Übergang selbst zu beobachten. Die Frage ist: welche ist die Bedeutung dieser griechischen Spekulation von der Weltharmonie, die hier in Kepler noch wirkt und zugleich überwunden wird? Welcher war ihr Einfluß auf Keplers exakte Entdeckungen selbst, die doch seine welthistorische Bedeutung ausmachen? Welcher ihr Gegensatz gegen die Mechanik? Die Quelle der Harmonik war eine der frühesten Entdeckungen über den Zusammenhang von Geist und Natur — die Entdeckung der Beziehung der Zahlenverhältnisse zu unserer Seele, wie sie in der Musik sich offenbart. Schon den Rhythmus in seiner Regelmäßigkeit empfinden wir mit einer eigenen natürlichen Lust. Aus ihm entwickelt sich dann weiter die Lust an der Konsonanz. Wenn wir die Anzahl der Stöße so wachsen lassen, daß wir die einzelnen nicht mehr unterscheiden, entsteht wie eine Bogenlinie der zusammenhängende Ton, der eine
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höhere G a t t u n g v o n W o h l g e f ü h l erzeugt. W a s d o r t als R e g e l m ä ß i g k e i t e m p f u n d e n w i r d , genießen w i r hier als R e i n h e i t ; w a s d o r t als S y m m e t r i e w i r k t , w i r k t hier als K o n s o n a n z . Wie bei den Gesichtsempfindungen aus der Freude an symmetrischen F o r m e n endlich die an den freien T o n f o r m e n sich entwickelt: so erwächst hier aus dem Wohlgefühl an der Reinheit der K o n s o n a n z endlich die an freien w o h l gefügten T o n f o r m e n . Freilich w i r d mit dem mathematischen N a t u r g e s e t z d a s Wesen der K u n s t nicht erschöpft, weil in ihr die G e m ü t s b e w e g u n g e n und ihre Bilder mit diesem gesetzmäßigen V e r l a u f V e r b i n d u n g e n eingehen. Z u welcher Zeit nun f ü r diese Erscheinungen die einfache arithmetische D e u t u n g g e f u n d e n w u r d e , ist nicht festgestellt; die Griechen schrieben sie P y t h a g o r a s u n d der italischen Schule zu. E s w u r d e beobachtet, d a ß die H ö h e eines T o n e s v o n der L ä n g e der S a i t e a b h ä n g t ; aus der Messung ergab sich d a n n , d a ß je reiner zwei T ö n e konsonieren, ein desto klareres Verhältnis der Saitenlängen sich herausstellt: ja d a ß je genauer diese Saitenlängenverhältnisse abgemessen sind, der Eindruck der K o n s o n a n z desto reiner wurde. D a s w a r die durch Messung präzisierte Beobachtung. Sie w u r d e nun der A u s g a n g s p u n k t neuer S p e k u l a t i o n e n , einer großartigen S y m b o l i k , welche die Welt durch die Idee der akustischen H a r m o n i e umfassen wollte. W a r die Reinheit der mathematischen Verhältnisse identisch mit der Seligkeit des Geistes, welche der W o h l k l a n g erregt, d a n n w a r sie es vielleicht auch mit der Seligkeit des ewigen Weltalls selber. In dieser Anschauung v e r b a n d m a n nicht allein mathematische Erkenntnis und ihre Seligkeit mit musikalischem W o h l g e f ü h l : m a n n a h m auch an, d a ß die Welt der Erscheinungen v o n einer Seele u m f a ß t werde, in welcher diese mathematisch-musikalischen Verhältnisse genossen w ü r d e n . A u s dieser geistvollen S p e k u l a t i o n entstand d a s Bestreben, Zahlenverhältnisse f ü r alle D i n g e als ihr Wesen aufzustellen. D e r charakteristische Fehler dieser mathematischen Weltansicht w a r , d a ß f ü r sie nur diejenigen Zahlenverhältnisse, welche ein musikalisches W o h l g e f a l l e n erregen, welche somit v o n uns Menschen genossen werden konnten, eine B e d e u t u n g zu haben scheinen, d a ß die mathematische Weltbetrachtung a n die menschliche I n d i v i d u a l e m p f i n d u n g gekettet wurde. Wie gestaltete sich nun diese Theorie in ihrer besonderen A n w e n d u n g auf die A s t r o n o m i e ? M a n k a n n t e sieben H i m m e l s k ö r p e r ,
deren jedem eine
besondere
S p h ä r e oder Kugelschicht angehörte. D i e E n t f e r n u n g s v e r h ä l t n i s s e dieser S p h ä r e n w a r e n u n b e k a n n t . Sie müssen aber natürlich eine Zahlenreihe bilden, die in musikalischen I n t e r v a l l e n ihr B i l d hatte. Verschiedene Zahlenreihen entstanden so. Diese sind nun, w a s m a n H a r m o n i e der S p h ä r e n nennt. O b m a n a n wirkliche T o n erzeugung dachte, ist G e g e n s t a n d des Streits. A n f a n g s , als m a n der akustischen Entdeckung, v o n der die S p e k u l a t i o n a u s g e g a n g e n w a r , noch näherstand, scheint dies der F a l l gewesen zu sein. D a ß w i r sie nicht vernehmen, e r k l ä r t e m a n d a r a u s , d a ß sie uns v o n J u g e n d auf umklingen. Bei P l a t o , o b w o h l er die Poesie dieser der Beobachtung nahestehenden Anschauung gern benutzt, bemerken wir doch bereits, d a ß er auf der Seite der rein mathematischen Ansicht steht, welche die a b s t r a k t e und allgemeine Erkenntnis der Zahlengesetze f ü r eine höhere L u s t hielt als die T o n e m p f i n d u n g e n mit ihren unmittelbaren Eindrücken. S o enthält sein „ T i m ä u s "
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eine Reihe von mehr arithmetischer als akustischer Art. Aber schon Aristarch machte wahrscheinlich, daß die Sonne nicht zweimal, wie bei jenem die Annahme war, sondern mindestens neunzehn Mal so entfernt von der Erde sei als der Mond. Ptolemäus selbst dann gab die harmonische Reihenfolge auf, weil es ihm — bis auf den Mond — nicht gelang, die Entfernungen zu ermitteln und er zu dichten bereits verschmähte. Die Umlaufszeiten wurden bestimmt und mit ihnen eröffnete sich ein neuer Spielraum für harmonische Verhältnisse: alle freilich sehr unbestimmter Art, da die musikalische Beziehung sich immer mehr in die allgemeine mathematische auflöste. In diesem Zustand fand Kepler diesen Ideenkreis der Harmonik. Die Reihenfolge und das Verhältnis der Abstände war endlich bestimmt; das astronomische Weltbild durch Kopernikus verwandelt. Er faßte den Gedanken, auf diesen neuen Stand der Forschung die alte Idee der Sphärenharmonie anzuwenden, das Kopernikanische System so durch eine allgemeine Theorie zu begründen. Es war überraschend, in welchen Einklang er jene Theorie mit dem vorhandenen Material der Messungen zu setzen verstand. Der junge Mathematiker erschien wie ein Baumeister der Welt. Bis zur Ostsee drang seine Schrift — auf jene kleine Sundinsel, nicht fern von Kopenhagen, zur Uranienburg des großen Tycho de Brahe, der dort umfassende Messungen mit Instrumenten von einer bis dahin unbekannten Genauigkeit leitete — nicht auf eine neue Theorie, sondern auf vollständige Messungen war es hier abgesehen. Als dort auf der Sternenburg das Buch des jungen Kepler erschien, waren diese Messungen beinahe beendet. Es war ein merkwürdiger und entscheidender Moment für die Astronomie, als diese beiden sich so begegneten, der stolze, berühmte Meßkünstler und der junge grübelnde Philosoph. Tycho war von der ihm fremden Denkart des Buches erstaunt, aber er erkannte sofort, daß hier das Feuer sei, auch das Erz seiner eigenen Erkenntnis in Gold zu verwandeln. Er lud ihn zu sich auf die astronomische Burg, welche die Freigebigkeit seines Königs ihm dort auf seiner Sundinsel geschaffen hatte, und als nach dem Tode desselben jene Schöpfung zerfiel und er eine Freistatt in Prag fand, wünschte er dringend, ihn dorthin zu ziehen und setzte es durch. Kepler selbst stand vor einer neuen Aufgabe, die ihm die Verbindung mit Tycho höchst wünschenswert, ja zum Bedürfnis machte. Die Idee, durch welche er die mathematische Gesetzmäßigkeit des Weltalls erfassen hoffte, war diese, daß was in den Zahlenverhältnissen die Harmonie, in den Raumverhältnissen die Symmetrie sei, daß daher jene mathematische Gesetzmäßigkeit eine doppelte sei: in dem Verhältnis der Entfernungen Symmetrie, in dem der Umlaufszeiten Harmonie. Der Symmetrie in den Entfernungen, wie sie neuerdings bestimmt worden waren, hatte jene erste Schrift gegolten, er stand nun vor der Aufgabe, die Harmonie in den Umlaufszeiten zu entdecken. Hier bedurfte er die Grundlage der Rechnungen der Uranienburg. Die herrschende Voraussetzung über die Bewegungen der Himmelskörper war, daß sie in Kreisen und zusammengesetzten Kreisbewegungen vor sich gehe. Aber diese Voraussetzung ergab kein harmonisches Resultat. Es galt zuerst, die Bewegungen zu ergründen. In diesem Zusammenhang, auf die Schätze Tychos
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gestützt, wurde die Entdeckung von der elliptischen Bewegung durch Kepler gemacht — auf dem Wege nach jener Harmonie in den Umlaufszeiten. Auch aus einer traurigen persönlichen Lage befreite ihn Tychos Ruf. Es ist merkwürdig, daß damals nur die Jesuiten Kepler in seiner Stellung schützten. Dieselben hatten nämlich in China am Ende des 16. Jahrhunderts Fuß gefaßt und auf die Regierung Einfluß gewonnen. Nun war aber das himmlische Reich durch die Verwirrung seiner Zeitrechnung in einer traurigen Lage. Man hatte dieselbe den Arabern überlassen und nach deren Vertreibung fand sich, daß die alte Routine der Mandarine verlorengegangen war. Die Jesuiten suchten daher aufs eifrigste die Astronomie zu befördern, um den geängstigten Chinesen tüchtige Kenner derselben senden zu können. Dies war der Grund, warum sie Kepler begünstigten. Er erhielt sogar den Antrag, mit Beibehaltung seiner Religion in den Dienst des Ordens zu treten. Aber er lehnte ihn ab, weil er fürchtete, daß er trotz jener Klausel religiösen Verdächtigungen nicht entgehen würde. In dieser ungewissen, allein durch die Politik der Jesuiten für den Augenblick geschützten Lage war es wie ein Strahl neuer Hoffnung für ihn, als er nach Prag berufen wurde, wo Kaiser Rudolph einen neuen Aufschwung der Astronomie versprach. Er überwand die Schwierigkeiten, die in Tychos herrschsüchtigem Wesen lagen, und als er nach dessen Tode sein Nachfolger wurde, kam nun der ganze Schatz der Beobachtungen der Uranienburg in seine Hände. Wie Kepler ihnen die Entdeckung der wahren Bahnen abgewann, dies darzustellen geht über die Grenzen eines populären Vortrags hinaus; nur seine Methode kann hier charakterisiert werden. Sie ist rein experimentell. Obwohl von der apriorischen Voraussetzung der Sphärenharmonie völlig erfüllt, erkannte er doch die Wahrheit der Natur als eine höhere Instanz und ließ keiner Selbsttäuschung Raum, um die Beobachtung dieser Sphärenharmonie anzupassen. Wenn die Phantasie noch etwas mächtiger in ihm wogte als in späteren kühlen Forschern, so bedenke man, daß so breite ungefüge Massen des Erfahrungsstoffes, wie ihm vorlagen, alle gestaltenden Kräfte herausfordern und nie ohne eine große und kühne Macht derselben bezwungen worden wären. Das Experiment aber, durch das er arbeitete, war das des Feldmessers. Mußte man früher die Standlinien für die Messung auf der Erde selbst nehmen, so gab jetzt die Bewegung der Erde in ihrer Bahn dieselben ab. Allerdings kam so in die Voraussetzung ein Fehler, da man diese Bahn als Kreis betrachtete, aber doch ein möglichst geringer, da sich die elliptische Bahn der Erde dem Kreise sehr nähert. Und beruht nicht unsere ganze Forschung auf solchen zu verbessernden und ergänzenden falschen Voraussetzungen? Mit Hilfe dieser verschiedenen Standorte der Erdbahn wurde nun eine krumme Linie konstruiert, deren Natur sich endlich als Ellipse erwies. Die Bahn des Planeten Mars hatte Kepler zunächst so konstruiert. Die Erscheinung der „Astronomia N o v a " , welche diese Entdeckung verkündete, bezeichnet eine neue Ära der Astronomie. Für Kepler selbst war diese Entdeckung nur eine Brücke für den Zugang zu jener Harmonik der Welt, nach der er so viele Jahre geforscht hatte. Abermals vergingen zehn Jahre in neuem Ringen nach ihrem Gesetz auf der neuen Basis. Man könnte 2
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dies vergebliche und so gewaltige Ringen schmerzlich beklagen, enthielte nicht die Weltharmonik, wie er sie endlich aufstellte, ein Kleinod, das abermals nur wieder auf diesem Wege gefunden wurde — das dritte Keplersche Gesetz. Die elliptische Bewegung hat etwas Rätselhaftes; erst durch Newton wird sie in ihrer gesetzlichen Möglichkeit verständlich. Aber Newtons große Entdeckung liegt in ihrem Keime in diesem dritten Gesetz. Und so darf man wohl sagen, daß Kepler sich nicht völlig täuschte mit seinem Traum von der aufgefundenen Weltharmonie. Um Keplers Harmonie zu verstehen, mußte man sich auf die Sonne versetzen. Denn die einfachen Verhältnisse der Geschwindigkeiten können nur von dem Mittelpunkt der Sonne aus verstanden und in ihrem harmonischen Zusammenklang genossen werden. Von der Erde aus stellen sie sich nur verworren dar. Und so fließt in Keplers Harmonik die rein menschliche Symbolik der Alten in die allgemeine Idee einer höheren Gesetzmäßigkeit über. Aus dem menschlich Empfundenen erhebt sich die Seligkeit des gesetzlich Allgemeinen. Der Gedanke wird gefaßt, daß, was uns verworren erscheint, von einem höheren Standpunkte aus seine Gesetzmäßigkeit offenbart. Es bleibt übrig, noch eine andere Seite jener Ideen kurz hervorzuheben, die persönliche — nämlich das Licht edler Heiterkeit, mit dem diese Ideen den armen Mathematiker erfüllten. Seine äußere Lage hatte sich audi in Prag nicht gebessert. Die kaiserliche Kasse litt an solcher Ebbe, daß ihm nur spärliche Bruchteile seiner Besoldung zuflössen; die Rückstände betrugen gegen Ende seines Lebens vierzehntausend Gulden. Trotzdem blieb Kepler seinem Kaiser Rudolph in herzlicher Anhänglichkeit ergeben. Als der arme Monarch im Prager Schloß gefangengehalten wurde, war die Unterhaltung mit dem Mathematiker seine Lieblingserholung. Der Nachfolger Rudolphs, Mathias, bestätigte nun wohl Kepler in seiner Stellung, ja, er wurde zu Regensburg zum Mathematiker des Reichs ernannt. Aber den Geldmangel vermochte auch die Abstimmung des armen Reichs nicht zu beseitigen. Indes erhielt er doch ein paar tausend Gulden für die Herstellung der sogenannten rudolphinischen Tafeln. Der König von England hatte glänzende Anerbietungen gemacht, aber Kepler wollte, daß dies Werk Deutschland angehöre. 1627 erschienen sie zur Freude aller schiff ahrenden Nationen; sie erfüllten Europa und die Meere mit ihrem Ruhm und die Jesuiten im fernen China setzten sich fester in ihrer Stellung als die Mathematiker des himmlischen Reichs. Es ist dann eine merkwürdige Episode in Keplers Leben, wie der Sohn der als Zauberin verklagten Mutter nach Württemberg zu Hilfe eilt. Er setzte es durch, daß nicht Tortur, sondern nur die Drohung derselben angewandt werden durfte. Als dann Katharina Kepler unter den Drohungen dieser furchtbaren Instrumente fest und gottselig blieb, wurde sie freigesprochen. J a , es gelang ihrem berühmten Sohne sogar, eine Milderung in dem württembergischen Verfahren überhaupt zu veranlassen. Unter Geldnot, Gemütsdrang, Kriegsgefahr verfloß so das Leben; und doch welche Heiterkeit! Nach der Veröffentlichung der „Weltharmonie" ist der Ausdruck seiner Briefe selige Entzückung, die noch jetzt nach zweihundert Jahren den teilnehmenden Leser mit sich fortreißt. Das Ende seines Lebens führte ihn in die Nähe Wallensteins. Dieser
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hatte Geldverpflichtungen, welche die Nürnberger gehabt hatten, dort gegen ihn übernommen, und so wies ihn der Kaiser ganz Wallenstein zu. Aber es war nur der Aberglaube, der den Feldherrn Österreichs an die Astronomie kettete. So war ein näheres Verhältnis nicht möglich. Diese Astrologie war die größte Dissonanz in Keplers Leben. Die Beschäftigung mit ihr widerstrebte seinem Geiste, und doch gab es Anknüpfungspunkte für sie in seinem System; vor allem: das Bedürfnis, notwendige Beschäftigungen in Einklang mit seinen Ideen zu setzen, trieb ihn, astrologische Ideen auszubilden. Er nahm eine Art optisch-harmonischer Einwirkung der Gestirne auf die Seele an. Aber es sind noch Prognostika von ihm vorhanden, die offen genug gegen den Aberglauben, dem er dienen mußte, herausgehen. Vor allem interessieren zwei solche Prognostika für Wallenstein mit Anmerkungen von dessen eigener Hand. Kepler fügt beiden Warnungen hinzu; Wallenstein aber hat für diese kein Ohr, dagegen bemerkt er jedesmal sehr sorgfältig das Eintreten des Vorausgesagten, und es kommt hier dem großen Feldherrn bei der Vergleichung gelegentlich auf die Differenz einiger Jahre nicht an. Ausdrücklich spottet Kepler über die Astrologen vom Handwerk; er bemerkt ebenso naiv als die zugrundeliegende Täuschung erklärend: Das Treffen behält man, das Fehlen aber vergißt man, und damit bleibt der Astrologus in Ehren. Er ermahnt sogar Wallenstein, wenn er der Astronomie helfen wolle, so möge er Frieden machen, damit er seine Tafeln zu Ende bringen könne. Ein solcher Mann war auf die Dauer kein Gefährte für den Friedländer. Nachdem Wallenstein ihn zum Professor in Rostock gemacht hatte, verlangte er, ehe er die kaiserlichen Dienste verließe, die Garantie seiner rückständigen Forderungen. Als zu Regensburg der Reichstag zusammenkam, eilte er dorthin, für sich und seine Tafeln das unentbehrliche Geld zu erlangen. Nach erschöpfendem Ritt dorthin fand er auf dem Reichstag alles mit der Anklage Wallensteins beschäftigt; er erlag der Anstrengung, Sorge und Not dort zu Regensburg — er, das einzige reinstrahlende Licht in einer Zeit, die man aus unserer Geschichte tilgen möchte. In Hellas' sonniger Heiterkeit ging eine entzückende Idee von der Harmonie der Welten auf — nach Jahrtausenden fiel sie dann im düsteren Norden in die Seele eines Mannes, den sie allein hinüberzuheben vermochte über die N o t einer gärenden Zeit, damit er, einsam von ihr beseligt, für künftige bessere Zeiten die Fackel der Erkenntnis anzünde.
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Zur Philosophie Arthur Schopenhauers Arthur Schopenhauer, Von ihm. Über ihn. Ein Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner und Memorabilien, Briefe und Nachlaßstücke von Julius Frauenstädt. Berlin 1863. I. Schopenhauers Philosopheme haben in einer aller Philosophie abgewandten Zeit das lebhafteste Interesse eines großen Publikums zu erlangen gewußt, ein Interesse, das, wie uns scheint, immer noch im Steigen begriffen ist. Dies Publikum ist ein anderes als das, welches bisher die deutsche Philosophie durch ihre verschiedene Systeme hindurch begleitet hatte. Im Gegensatz zu den Gelehrten sind es die „Weltleute" der verschiedensten Richtung. Diesem veränderten Publikum entspricht eine veränderte Art der Wirkung. Während die früheren deutschen Systeme auf die wissenschaftlichen Begriffe und Erkenntnisse ihrer Zeit einzuwirken unternahmen: steht dies System abseits von aller Wissenschaft mit dem Anspruch ein allen Menschen gemeinsames metaphysisches Bedürfnis des menschlichen Geistes zu befriedigen, so daß es den bisher von der Religion in den Gemütern eingenommenen Platz in Anspruch nimmt. Um so nachteiliger wäre ein Sieg desselben, wenn es nachher doch gegen die vereinten Angriffe der bisherigen Philosophie und der Erfahrungswissenschaften nicht standhielte. Als Hegels metaphysischer Irrtum erkannt war, ließ sein System doch weite Gebiete der Wissenschaft mit seinem Gedanken erfüllt und befruchtet zurück. Dies System Schopenhauers, wenn seine Willkürlichkeit erkannt werden sollte, wird keinen Keim wissenschaftlicher Anregung auf irgendeinem Gebiete zurücklassen, wie es denn noch auf keinen einzigen wissenschaftlichen Forscher in seinen Arbeiten irgendwelche Wirkung gehabt hat. Es würde nur die wüste Stimmung hinterlassen, welche auf einen barocken, lebhaft ausgesponnenen Traum folgt. Es würde gegen die neuen Anfänge einer gesunderen Philosophie, welche nicht gleich ihm durch glänzende Anwendungen und Analogien, sondern durch eine strenge Methode auf die Erfahrung gegründet ist, ein neues schwer zu überwindendes Mißtrauen hinterlassen, während jetzt eben die ersten Zeichen eines neuen Zutrauens zu der Philosophie hervortreten. Darum wünschten wir, daß noch, bevor eine unwissenschaftliche Schwärmerei sich immer wachsend dieses Systems bemächtigt, eine unerbittliche und doch unparteiische Kritik die, wie wir glauben, wenigen und sehr einfachen richtigen metaphysisch-psychologischen Gedanken, zu welchen wir vor allen die erneuerte und schärfer durchgeführte Unterscheidung der verschiedenen Formen des Satzes vom Grunde rechnen, dann die Hinweisung auf die Intellektualität der Sinneswahrnehmungen, welche durch die neuesten Untersuchungen so glänzend bestätigt worden ist, endlich aber einige psychologisch-ethische Erkenntnisse über den Willen im Individuum und seine Schicksale, welche sich an Fichtes und Schellings Gedanken über denselben anschließen, von den überall so eng mit ihnen verketteten Irrtümern dieses Systems aussondern und den Nachweis liefern möchte, daß alles, was sonst von geistvollen
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Bemerkungen dieses System in Fülle enthält, durchaus mit den Prinzipien desselben in keinem notwendigen Zusammenhange steht, w o es nicht gar, wie das interessante dritte Buch der „Welt als Wille und Vorstellung" über die platonische Idee und die Kunst, denselben geradezu widerspricht. Ein solches U n t e r n e h m e n w ü r d e aus den nach Schopenhauers Tode sich rasch folgenden Publikationen seiner Freunde über ihn den größten Vorteil ziehen. Es ist nicht der letzte N u t z e n der Veröffentlichungen von Briefen u n d wissenschaftlichem Nachlaß philosophischer Schriftsteller, d a ß hier die sonst in der Rüstung des Systems A u f t r e t e n d e n ohne diesen Schutz erscheinen und so ihre w a h r e Gestalt leichter gesehen werden k a n n . Wenn m a n einen Gedankenkreis entstehen sieht, hält m a n v o n vornherein seine Einseitigkeit und seine etwaigen Widersprüche mit sich u n d den zu erklärenden Erscheinungen in H ä n d e n . Mit diesem P u n k t e aber verband sich bei den Publikationen über Schopenhauer ein anderer, den w i r nur ungern berühren und daher von vornherein abmachen. Das Leben eines Denkers, wie Schopenhauer w a r , der es selber immer wieder aussprach, wie er sich mit all seinen übrigen K r ä f t e n nur als ein Werkzeug des Intellekts betrachte, welcher in ihm wirksam sei, ruht ganz in seinen Werken u n d ihrer Geschichte. Die Geschichte seines Denkens ist die Geschichte seines Lebens. N u n hat aber die bizarre Lebensweise des F r a n k f u r t e r Philosophen, welche in übertriebenen Berichten ins Publikum k a m , die Neugier dessen erregt, ja in den letzten Jahren seines Lebens, ähnlich wie das sonderbare Ungestüm seiner Polemik gegen die Universitätsphilosophie, dem Interesse an seinen Werken eine scharfe W ü r z e gegeben. Ein F r a n k f u r t e r Freund Schopenhauers, Wilhelm G w i n n e r , hatte wenige M o n a t e nach seinem T o d e ein Bild desselben entworfen, welches in der photographischen Genauigkeit, mit welcher es jede Falte seiner Existenz u n d jede N a r b e seines C h a r a k t e r s wiedergab, nichts von dem zu wünschen übrigließ, was m a n wenigstens von einem Freunde ein p a a r Monate nach dem Tode des Porträtierten e r w a r t e n d a r f . Allen denen, welche mit der Geschicklichkeit aller Weiber persönliche Inquisitionen überall wissenschaftlichen Erörterungen vorzuschieben wissen, w a r hiermit eine unerschöpfliche Quelle eröffnet. Aber auch wer sonst beide Fragen auseinanderzuhalten gewohnt ist, w e r dem Urteil über die Person u n d der Untersuchung über die G e d a n k e n zuteilt, was jedem gebührt, m u ß t e doch die Frage a u f w e r f e n , ob man bei einem Sonderling von einem beinahe an N a r r h e i t streifenden Egoismus u n d einem halbwahnsinnigen Mißtrauen gegen alle Welt ü b e r h a u p t gerade G e d a n k e n u n d eine w a h r e u n d gesunde E m p findung der Welt gegenüber erwarten dürfe. Es w a r daher ein im Interesse Schopenhauers notwendiger Schritt, notwendig zur Rechtfertigung seiner Person, u n d um das auch sein System mittreffende M i ß t r a u e n wieder zu heben, d a ß dies Bild berichtigt würde. W i r wissen nicht, ob es bei den beiden hier f ü r Schopenhauer a u f tretenden K ä m p f e r n an der mangelnden Kenntnis seiner Person oder ob es an der Hoffnungslosigkeit der Sache liegt: genug, was in dieser Beziehung die vorliegende Schrift enthält, ist durchaus nicht geeignet, die durch G w i n n e r hervorgebrachte V o r stellung von Schopenhauer gründlich zu verändern. Vielmehr bestätigt es Schopenhauers eigene, höchst aufrichtige Urteile von seinem C h a r a k t e r . „Ich habe", meinte er, „wohl gelehrt, was ein Heiliger ist, bin aber selbst kein Heiliger." U n d Frauen-
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städt bekannte er, wie dieser erzählt, einst ganz unverhohlen, so sehr ihm auch seine intellektuelle Physiognomie gefalle, so wenig gefalle ihm doch seine moralische. Hiergegen verschlägt nichts, daß Frauenstädt selber ihn f ü r einen der edelsten Menschen erklärt, die je gewesen seien. Denn die Motive stimmen nicht mit dem Urteil. Erklärt derselbe doch zugleich Gwinners Erzählung über sein Verhältnis zu seiner Mutter f ü r richtig, welches den durch kein Verdienst anderer Art zu tilgenden Makel der Pietätslosigkeit seinem Charakter mitteilt. U n d ebenso wird, daß er sich in der Zeit der Freiheitskriege der Konskription entzog, durch keine Sophistik über höhere Pflichten höherer Geister f ü r eine gesunde Ansicht je entschuldigt werden. So d a ß es auf alle Weise Schopenhauers Philosophie schädlich bleiben wird, daß seine Freunde, ganz ohne Zwang, eine unpassende Verherrlichung seiner Person, vermischt mit gegen sie sonderbar kontrastierenden Mitteilungen aus seinem Leben, in die philosophische Streitfrage eingemischt haben. Was ihnen dabei vorschwebte, war, das normale Leben eines Genies mit seiner Einsamkeit, seiner Menschenverachtung, seinem ausschließlichen Leben f ü r die ihm mitgegebene Intelligenz darzustellen, wie es Schopenhauer bereits hinter dem durchsichtigen Schleier allgemeiner Theorien an vielen Stellen seiner Werke getan hatte. Aber glücklicherweise zeigt die Geschichte des Geistes nur noch wenige Beispiele einer solchen Koketterie der Genialität mit ihrer Einsamkeit und ihrer welthistorischen Aufgabe, welche das eigentliche Gesetz ihres Daseins sei. Vielmehr, solange bedeutende Menschen nicht, wie Heine oder Byron, eine wahnsinnige Selbstüberhebung ergreift, wissen gerade sie es am besten, daß die allgemeinen Sätze, an welchen die moralische Welt hängt und durch welche allein das gesellschaftliche Dasein möglich wird, zu denen vor allem die Pietät gegen die Eltern und die Pflichten gegen den Staat gehören, um jeden Preis in ausnahmsloser Geltung erhalten werden müssen und sollten alle von dem Gefühl ihrer Einzigkeit erfüllten Genies darüber zugrunde gehen. Daher denn audi dies P o r t r ä t Schopenhauers höchstens auf eine Klasse von Leuten Einfluß haben wird, welche jedem großen Mann absehen möchte, wie das Genie sich zu tragen pflegt. Diesen seien denn die ausführlichen Berichte über den Pudel Schopenhauers, den langen Schlaf der Genies und den Mittagstisch im Frankfurter „Schwanen" bestens empfohlen. U n d damit denken wir dieser Seite des Schopenhauerkultus überhoben zu sein. Die Hauptabsicht des vorliegenden Buches war aber, aus dem wissenschaftlichen Nachlaß Schopenhauers Beiträge für seine Entwicklungsgeschichte und Zusätze zu seinem System zu geben. Dieser Nachlaß befindet sich in den Händen Frauenstädts: zum größten Teil Gedankenbücher, welche f ü r die zweiten Auflagen und die Parergen benutzt wurden; von mehr zusammenhängender N a t u r nur die Vorlesungen, die er während seines kurzen Privatdozententums in Berlin gehalten hat, und die Erstlingsmanuskripte, aus welchen die „Welt als Wille und Vorstellung" entstand, welche indes ebenfalls aphoristisch aufgezeichnet wurden und in seinen H e f t e n vielfach von anderen Gegenständen unterbrochen sind. Diese letzteren vor allen mußten f ü r das Verständnis der Entwicklung Schopenhauers das größte Interesse erregen. Von 1812 bis 1818 aus Berlin, Weimar und Dresden finden sich solche Ausführungen, in denen das Wachstum seines philosophischen
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Systems verfolgt werden kann. Publikationen dieser A r t haben eine große Schwierigkeit, da entweder vieles, was in den späteren Werken in vollendeter Gestalt vorliegt, ebenfalls mitgeteilt oder dem Leser die Autopsie des vollen Verlaufs der Entwicklung vorenthalten werden muß. Man kann entweder Papiere solcher Art zu einer vollständigen Entwicklungsgeschichte verarbeiten oder das Wesentliche in seiner ursprünglichen Folge und wahren chronologischen O r d n u n g mitteilen. Leider hat Frauenstädt keine dieser beiden Verfahrungsweisen rein durchgeführt. Zuerst sind schon die mitgeteilten Memorabilien dadurch, d a ß eine an solcher Stelle ganz ungehörige Polemik die Darstellung überall unterbricht, zu einer völligen Wildnis geworden, in der sich ein auch mit dem Gegenstand Vertrauter, der etwa weiß, was er zu erwarten hat, schwer zurechtfindet. Dann aber folgen, nachdem man sich durch dritthalb hundert Seiten Briefe durchgelesen hat, welche der spätesten Zeit Schopenhauers angehören, plötzlich wieder Nachlaßstücke aus der früheren Periode, die sich überall sichtlich an Stellen der Memorabilien anschließen, ohne daß diese Beziehung deutlich hingestellt wäre. Von der Reinlichkeit einer philologischen Arbeit, welche doch von einer Seite betrachtet ein solches Unternehmen ist, zeigt sich in dem Buch sowenig eine Spur, daß audi viele ausführliche Stellen in die Memorabilien aufgenommen sind, die nachher in den Briefen wiederkehren, ebenso viele völlig mit Gwinner übereinstimmende Erzählungen. Diese Verfahrungsweise des Herausgebers macht die Aufgabe, sich von der Entwicklung des Systems ein Bild zu machen, unendlidi viel schwieriger, als nötig wäre. O b es schicklich war, Schopenhauers nur durch persönliche Invektiven gegen Lebende interessante Briefe zu veröffentlichen, und zwar jetzt zu veröffentlichen: darüber werden wir nachher sprechen, wo wir den späteren Lebensgang Schopenhauers zu übersehen versuchen. Hier reden wir nur von seiner früheren wissenschaftlichen Entwicklung. Für diese bestätigen die vorliegenden Nachweise, was bereits f ü r den Kundigen aus seinen Werken hervorgeht. Wenn Schopenhauer glaubte, mit Wegwendung von der falschen Philosophie seiner Zeitgenossen, an Kant wieder anzuknüpfen, so lief hierbei eine Selbsttäuschung mit unter. Sowohl das Prinzip als audi der Charakter seines Philosophierens sind durch Fichte, Schelling und die Zeit der Romantik wesentlich bedingt. Wir halten in der Philosophie wenig von Prioritätsfragen über Prinzipien: denn auch in ihr liegt die wirkliche Kraft der Erfindung nicht in dem Einfall, sondern in der besten, strengsten Begründung. Aber da Schopenhauer sich wie einen Einsamen in seiner Zeit betrachtete, der über Fichte und seinesgleichen weg dem großen Kant die H a n d reiche: so ist nötig, darauf hinzuweisen, wie sehr er in den genannten Richtungen seiner Zeit wurzelte. In seinem Prinzip des Willens und der Aufhebung desselben in dem „besseren" Bewußtsein ging er von Fichte und Schelling aus. Dies wurde gleich beim Beginn seiner Laufbahn und später öfter hervorgehoben. U n d wenn Schopenhauer hiergegen die Theorien dieser beiden als eine Antizipation, als eine Art von Vorspuk seines Systems angesehen wissen wollte, so ist hiermit doch der Zusammenhang, den er leugnete, zugegeben, und es kann unmöglich gebilligt werden, daß er mit einem Kopf, welcher in dieser Weise seine Gedanken antizipierte, so umgeht, wie er mit dem Fichtes tut. Freilich liebt er es dann wieder, diese Antizipierenden zu ignorieren, ja völlig zu
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vergessen. In dieser Beziehung ist das Spaßhafteste, wie er sich die Willenstheorie bei dem jüngeren Fichte und Fortlage nur aus dem Einfluß seines eigenen Systems erklären kann, während er doch selbst am besten wissen mußte, daß sie alle drei aus dem älteren Fichte als ihrer gemeinsamen Quelle geschöpft hatten. Ähnlich, glaube ich, verhält es sich audi mit seinen Anschuldigungen gegen Noack, der wohl eher von Reiff, ebenfalls einem Schüler Fichtes, als von Schopenhauer beeinflußt war. In der Methode des Philosophierens ging er, wie seine Manuskripte zeigen, von der romantischen Bewegung aus, welche alles, zu allererst aber die Philosophie in Kunst verwandeln wollte. Dieser Zusammenhang eröffnet in den mehr poetischen und subjektiven Charakter seines Philosophierens einen wichtigen Einblick. „Meine Philosophie", schreibt er zu Dresden 1814, „soll von allen bisherigen (die platonische gewissermaßen ausgenommen) sich im innersten Wesen dadurch unterscheiden, daß sie nicht, wie jene alle, eine bloße Anwendung des Satzes vom Grunde ist und an diesem Leitfaden daherläuft, was alle Wissenschaften müssen. Daher sie audi keine solche sein soll, sondern eine Kunst. Aus dem Gewirre unseres Bewußtseins wird sie jede einzelne Tatsache herausheben, bezeichnen, benennen, wie der Bildner aus dem großen ungestalteten Marmorfelsen bestimmte Formen heraustreten läßt." Über diesen Unterschied der neuen Philosophie als Kunst von der bisherigen als Wissenschaft, wie ihn damals die Romantik verkündigt hatte, sind, nach Frauenstädt, seine Erstlingsmanuskripte unerschöpflich. „Die Philosophie" — sagt er zum Beispiel — „ist so lange vergeblich versucht, weil man sie auf dem Wege der Wissenschaft, statt auf dem der Kunst suchte. Daher hat keine Kunst so entsetzliche Pfuscherei aufzuweisen, als diese." — „Die horizontale Linie ist der Weg der Wissenschaft und des Genusses, die senkrechte der Weg der Kunst und der Tugend. — Wer bei Begriffen bleibt, wird kein Künstler und Philosoph: dieser muß den Begriff, die Vernunft fahrenlassen und unbefangen anschauen, eben damit er alsdann die Begriffe und die Vernunft bereichere. So muß der Held das Leben aufgeben, um das Leben zu gewinnen." An diesen Zusammenhang erinnert auch seine Polemik gegen die Vernunft in den 1813 zu Berlin geschriebenen Stellen: „Wer ganz ihr hingegeben häre, würde der vollendete Philister sein." Dessen Bild gibt uns zum Beispiel Tieck im „Prinz Zerbino", in der Person des Nikanor, der es rein ausspricht, ungefähr so: „Wann wirst du kommen ersehnte Zeit, wo ich sitzen werde, umgeben von einer wohlgezogenen Familie, zwischen dem ,Hamburger Correspondenten' und seinen zahlreichen Beilagen!" Auch der Vers gehört hierher: Sie beschneiden die Nägel in Ruh' und Fried. Und singen ihr Klimpimperlied. Theoretische Vernunft im spekulativen Gebrauch macht den Dogmatiker, im empirischen den reinen Gelehrten, Polyhistor, den Wagner im „Faust": Zwar weiß ich Viel, doch möcht ich Alles wissen; Faust: Wie nur dem Geist nicht alle Hoffnung schwindet, Der ohne Rast nach gold'nen Schätzen gräbt, Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!
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Praktische Vernunft in ihrer Vollendung gibt das „Ideal des Philisters". Das sind ganz die bekannten Töne, welche aus dem damaligen romantischen Berlin herüberklingen; es wäre auch wunderbar gewesen, wenn sie auf den Sohn Johanna Schopenhauers, der in den poetischen Kreisen Weimars aufgewachsen war, ohne Wirkung geblieben wären. Nur daß in Schopenhauers philosophisch angelegtem Geiste Kants Theorien von der Subjektivität von Raum und Zeit und den Kategorien unseres Denkens in einer ganz anderen zugleich gründlicheren und originaleren Weise in die romantische Melodie hineingearbeitet werden, als dies zum Beispiel bei Friedrich Schlegel geschah. Aus diesem Charakter seiner Methode ergab sich aber jene merkwürdige beständige Verwandlung des Persönlichen, Subjektiven der psychologischen Erfahrung in metaphysische Ideen, welche zugleich den eigentümlichen Zauber und den Grundirrtum seiner Methode ausmacht. Denn diese besteht wesentlich darin, für metaphysische Sätze vom allgemeinsten und unbestimmtesten Charakter in der Welt der Erfahrung beweisende Phänomene aufzusuchen. Also anstatt wirkliche Untersuchung überall den Scheinbeweis, der in der Übereinstimmung einzelner Phänomene und allgemeiner Theorien liegt, und der für jede, noch so absurde, wenn nur hinlänglich unbestimmte und allgemeine Theorie gewonnen werden kann, hinzustellen. Hier wird dasjenige, was den wichtigsten Gegenstand aller wissenschaftlichen Untersuchung ausmacht, was Baco die axiomata media nannte, die Welt der Gesetze, welche zwischen den Phänomenen und den letzten Prinzipien liegt, aus der Philosophie ausgestoßen und alle Willkür in der Verknüpfung von Erscheinungen und letzten Gründen hat nun in ihr ihren freien Tummelplatz. Eine Philosophie dieser Art glänzt durch Gleichnisse und überraschende Anwendung ihrer Prinzipien auf die einzelne Erscheinung, welche die Tiefe der letzteren wie mit einem Schlage zu zeigen scheint. Hierher gehört der Kultus, welchen die Philosophie Schopenhauers mit Bildern treibt. Zuweilen konstatiert er durch chronologische Vergleichung die Priorität eines solchen erläuternden Vergleichs bei ihm und Goethe. Man sieht sie in seinen ersten Manuskripten sich allmählich entwickeln: in den späteren Schriften kehren sie dann bis zur Ermüdung wieder. Wie sie entstanden, wird eine gleich mitzuteilende Stelle klarmachen. Schopenhauer ging von äußeren Bildern aus und suchte dann für sie eine Anwendung in irgendeinem abstrakten Satz, der durch sie zu verdeutlichen wäre, anstatt daß sie sonst bei Denkern aus dem Bedürfnis einen bestimmten Gedanken zu erläutern, aus dem Bedürfnis der Deutlichkeit entspringen. Hierher gehören dann ferner die überraschenden Anwendungen einzelner Erscheinungen, besonders psychologischer Art, auf seine metaphysischen Begriffe vom Willen und seiner Verneinung. Die ganze Welt dient zur Verdeutlichung einiger abstrakten Sätze, so wie alle Bücher gelesen werden, um Zusätze und Erklärungen für „Die Welt als Wille und Vorstellung" zu beschaffen. Diese Methode ist nicht bloß ein unwillkürliches Verfahren seines Geistes, sondern er bringt sich dasselbe zu einer Deutlichkeit, die nichts mehr zu wünschen übrigläßt. Zunächst schreibt er in Weimar 1814: „Eine unwürdige Redensart gebrauchend, kann man sagen: Jeder Mensch von Genie hat nur einen einzigen Kniff, der ihm aber ausschließlich angehört und den er in jedem seiner Werke, nur immer unter
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anderer Anwendung, anbringt. D a der Kniff ihm ausschließlich eigen ist, so ist er durchaus originell; und da der Kniff nicht unmittelbar, sondern bloß mittelbar, d. h. durch Kunstwerke, ferner nicht im Ganzen und Abstrakten, sondern nur in einzelnen Exempeln mitteilbar ist, so hat er nicht zu fürchten, daß einer ihn ablerne, auch nicht, daß er sich (solange er genial bleibt, d. h. seinen Kniff besitzt) erschöpfe. Der Kniff ist gleichsam nur ein Loch im Schleier der Natur, ein übermenschliches Stückchen im Menschen. Er ist durchaus der Brennpunkt aller Produktionen des jedesmaligen Genies. Er leuchtet aus seinen Augen als geniale Individualität. Seinem reflektierenden Bewußtsein (Vernunft) ist der Kniff, so gut als anderen, ein Rätsel." Dann später: „Schon vor vielen Jahren habe ich aufgeschrieben, daß dem Treiben jedes Genies ein angeborener Kunstgriff, man möchte sagen ein Kniff zugrunde liegt, der die geheime Springfeder aller seiner Werke ist und dessen Ausdruck man auf seinem Gesicht erblickt. Mein Kniff ist, das lebhafteste Anschauen oder das tiefste Empfinden, wann die gute Stunde es herbeigeführt hat, plötzlich und im selben Moment mit der kältesten, abstraktesten Reflexion zu übergießen und es dadurch erstarrt aufzubewahren. Also ein hoher Grad von Besonnenheit." Dies war also die Methode des Schopenhauerschen Philosophierens. Von außerordentlich reichen und tiefen Anschauungen und Empfindungen gestaltete er seine persönlichen Erfahrungen zu psychologischen Phänomenen und gebrauchte diese psychologischen Phänomene als Bestätigung seiner abstrakten Gedanken. So geschah es, daß sich sein System gewissermaßen von allen Seiten zugleich entwickelte, wie er es denn gern im Gegensatz zu den von bestimmten Sätzen ausgehenden Systemen mit dem vieltorigen Theben verglich, in das man von allen Seiten her eintreten könne. So entstand aber auch eine außerordentliche Unbestimmtheit dieses Systems, da dasselbe nur die Einheit der Stimmung, nicht den Zusammenhang der Begriffe besitzt. Es kam so, daß er, nachdem er am Beginn seiner Laufbahn dasselbe mit einer wundervollen Einheit der Stimmung und Kunst der Komposition in ein Ganzes zusammengefaßt hatte, später niemals vermochte, einen einzelnen Teil desselben in vollständiger wissenschaftlicher Durchführung auszuarbeiten, am wenigsten den wichtigsten: die Psychologie; wie denn auch der eine seiner Schüler erklärt, daß er durch willkürliche Ignorierung der Phänomene des Gefühlslebens sein System verdorben habe, der andere, daß an dem Mangel einer wissenschaftlichen Untersuchung der Phantasie seine Ideenlehre gescheitert sei. Und irren wir nicht, so lag in diesem Umstand der Hauptgrund dafür, daß er, mitten in der großen wissenschaftlichen Aufregung der Zeit, so lange unbeachtet und bis heute isoliert blieb. Er fand keine Stelle, wo er mit klaren, entwickelten Begriffen in die wissenschaftlichen Fortschritte der Zeit hätte eingreifen können. In diesem allen bildet er den schärfsten Gegensatz gegen Kant, mit welchem er sich so gern verglich, und dessen philosophische Methode dennoch im Grunde der seinigen so entgegengesetzt war. Der mit einer seit Aristoteles beispiellosen Härte und Festigkeit geprägten Terminologie, den unaufhörlichen Definitionen und Argumenten Kants merkt man überall die eiserne Energie eines Geistes an, der sich ein ganzes Heer verdichteter Begriffe schuf, um das ungeheure Gebiet seiner Gedanken überblicken und bewegen zu können. Ihm gegenüber war der Mann, der den Vorgang der Entstehung seines
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Systems so beschrieb: „Ich werde ein Glied, ein Gefäß, einen Teil nach dem andern gewahr, d.h. ich schreibe auf, unbekümmert, wie es zum Ganzen passen will", der Mann, in dessen System man vergeblich nach klaren Definitionen seiner wichtigsten Begriffe sucht, durch und durch ein Romantiker.
II. Aus langgehegten, tiefgefühlten Schmerzen Wand sich's empor aus meinem innern Herzen. Es fest zu halten hab' ich lang' gerungen: Doch weiß ich, daß zuletzt es mir gelungen. Mögt euch d'rum immer wie ihr wollt gebärden: Des Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden. Aufhalten könnt ihr's, nimmermehr vernichten: Ein Denkmal wird die Nachwelt mir errichten. Diese Verse schrieb Schopenhauer im April 1819 auf der Reise von Neapel nach Rom, als er „Die Welt als Wille und Vorstellung" vor kurzem beendigt hatte. Es spricht sich in ihnen auf das klarste die Entstehung seines Werkes aus: eine Anschauung der Welt, aus der persönlichsten Empfindung erwachsen, die er im Element des klaren und allgemeinen Gedankens festzuhalten und auszuprägen bemüht ist. Wir erhalten von ihm selber aus einem seiner Tagebücher von 1813 ein merkwürdiges Bild seiner Stimmung während der Konzeption und Abfassung seines Werkes und der Art, wie es entstand. Ist darin auch etwas von gekünsteltem Bewußtsein der Genialität, so gibt doch das schöne Fragment in den mehr künstlerischen als wissenschaftlichen Entstehungsprozeß desselben einen solchen Einbilde, daß wir es ganz mitteilen. — „Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in einem sein soll, da man sie bisher trennte, so fälschlich als die Menschen in Seele und Körper. Das Werk wächst, konkresziert allmählich und langsam, wie das Kind im Mutterleibe: ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden ist. Ich werde ein Glied, ein Gefäß, einen Teil nach dem anderen gewahr, d. h. ich schreibe auf, unbekümmert, wie es zum Ganzen passen wird: denn ich weiß, es ist alles aus einem Grund entsprungen. So entsteht ein organisches Ganzes, und nur ein solches kann leben. Ich, der ich hier sitze und den meine Freunde kennen, begreife das Entstehen des Werkes nicht, wie die Mutter nicht das des Kindes in ihrem Leibe begreift. Ich sehe es an und spreche wie die Mutter: ,Ich bin mit Frucht gesegnet.' Mein Geist nimmt Nahrung aus der Welt durch Verstand und Sinne; diese Nahrung gibt dem Werk einen Leib; doch weiß ich nicht, wie, noch warum bei mir und nicht bei anderen, die dieselbe Nahrung haben. Zufall, Beherrscher dieser Sinnenwelt, laß mich leben und Ruhe haben noch wenige Jahre, denn ich liebe mein Werk, wie die Mutter ihr Kind. Wenn es reif und geboren sein wird, dann übe dein Recht an mir und nimm Zinsen des Aufschubs. — Gehe ich aber früher unter in dieser eisernen Zeit, ο so mögen diese unreifen Anfänge, diese meine Studien der Welt
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gegeben werden, wie sie sind und was sie sind: dereinst erscheint vielleicht ein verwandter Geist, der die Glieder zusammenzusetzen versteht und die Antike restauriert." In der Tat liegt in jedem Anfangsfragment, das wir in der vorliegenden Herausgabe erhalten, eine bewundernswürdige Einheit der Grundanschauung. Die intensive Gewalt derselben spricht aus jeder Seite seiner Werke. Aber wenn er damit den Zusammenhang der Begriffe gewissermaßen von selber und ohne die Arbeit unaufhörlicher Prüfung des Zusammenhangs mit erreicht zu haben glaubte, so lag hierin eine sonderbare Täuschung. Aus so wenig wesentlichen Begriffen die Gedankenkette dieses Systems auch gebildet ist: ein jeder von ihnen läßt uns über seinen strengen und klaren Sinn völlig im Dunkeln. Daß dies nicht als aus seinem eigentümlichen Begriff von Philosophie folgend hinzunehmen ist: werden die, welchen Klarheit für eine unbedingte Forderung gilt, ohnehin zugeben. Aber er selber hat darauf großen Wert gelegt, Kants Tiefe, wie er glaubte, klargemacht zu haben, und seine Schüler geben diese Unklarheit an den wesentlichsten Punkten zu, ja Lindner gibt geradezu dies zu, daß Schopenhauer „in der abstrakten Konstruktion des Systems nur ein vergängliches Werk geschaffen habe". Die hier zugrunde liegende Unterscheidung zwischen der Unhaltbarkeit eines Systems begrifflich betrachtet und seiner Wahrheit als Anschauung genommen, wollen wir dahingestellt sein lassen. Schopenhauers Fall scheint sie nicht gewesen zu sein, da sich gerade bei ihm überall zeigen läßt, wie die falschen Verallgemeinerungen, auf denen sein System beruht, alle Grundpunkte seiner psychologisch-ethischen Anschauung unheilbar verdorben haben. So daß dies System wohl richtige Anschauungen in dem anregen mag, der es überall in die Erfahrungen zurückübersetzt, aus denen es hervorwuchs. Aber dies gilt eben von jedem Produkt irgendeines bedeutenden Kopfes; alle nicht auf Worten, sondern auf Sachen ruhenden Systeme bleiben in dieser Beziehung wahr. Und dies ist nichts Geringes. Denn ein Verfahren, aus den sogenannten „Prinzipien" oder „Standpunkten" anderer, d.h. aus ihren bloßen Begriffen durch Kritisieren und Zusammenschmelzen einen neuen Standpunkt und ein neues Prinzip zu gewinnen, hat in den letzten Dezennien einen breiten Raum eingenommen. Solchen gegenüber tritt Schopenhauers Größe allerdings sofort hervor, dessen Philosophieren überall aus der Anschauung der Sachen, nicht aus dem Umwenden der Begriffe anderer entsprang. Aber in einem anderen Sinne als in diesem wird man dies Experiment nicht machen können, Schopenhauers Begriffe aufzugeben und seine Anschauung festzuhalten. Dies ließe sidi in allen Hauptpunkten seines Systems zeigen, während freilich hier nur zu Andeutungen der Ort ist. So gleich bei seiner Grundanschauung des Willens, wie dies Trendelenburg in der neuen Auflage seiner „Logischen Untersuchungen" meisterhaft dargetan hat: „Wir hantieren, wenn wir Schopenhauer lesen, von selbst mit dem Willen, wie wir ihn kennen, aber wir sollten ihn nur nehmen, wie wir ihn nicht kennen." Denn der Wille soll hier als metaphysisches Prinzip, völlig ohne den Intellekt, welcher erst ein Phänomen seiner Objektivation ist, gedacht werden. Und dennoch ist es dieser grundlose und blinde Wille, welcher die platonischen Ideen will und in Gesetzen, in einer gegliederten Ordnung der Dinge erscheint. Dieselbe Am-
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phibolie seines Begriffs vom Willen, vermöge welcher wir abwechselnd den metaphysischen mit dem psychologischen und diesen dann wieder mit jenem vertauschen, liegt in seiner Lehre von der Verneinung des Willens. Denn wenn nach seiner Lehre das Individuum in das Eine, das vor dem Intellekt und vor der Objektivation ist, zurückkehrt, so findet es daselbst eben doch nur den Willen selber wieder, welchen es verneinen wollte, und unterliegt so abermals einer Täuschung. Hier müßte man unter dem zu verneinenden Willen nicht, wie Schopenhauer doch ausdrücklich will, den Willen in seinem metaphysischen Sinn nehmen, sondern vielmehr denselben nach seinem psychologischen Begriff, wie denn auch Lindner in dieser Art die Lehre von der Verneinung des Willens umgestaltet. Eine solche Vertauschung aber liegt unzähligen psychologischen Bemerkungen zugrunde, deren metaphysischer Schein und deren psychologischer Ursprung einander widersprechen. Während überall sonst, seinem Grundgedanken gemäß, das Freiwerden der Intelligenz vom Wollen nach ihm die Genialität ausmacht: findet er dann doch wieder, „daß eine starke Grundlage des Willens für die Genialität die Regel sei". Ebenso macht er einen Gegensatz zwischen dem Ermüden des Intellekts und der Unermüdlichkeit des Willens, welcher, seiner Theorie zuliebe, in den sonderbarsten Widerspruch mit der Erfahrung tritt. Mit dieser metaphysischen Analogie des Willens ist dann aber ein psychologischer Satz verknüpft, welcher aus der tiefsten psychologischen Erfahrung Schopenhauers stammt und daher einerseits mit der höchsten Gewalt subjektiver Empfindung in immer neuen Wendungen von ihm dargestellt worden ist, andererseits in der mit ihm vorgenommenen Verallgemeinerung vor der Untersuchung auf keine Weise Stich hält. Es ist dies die Lehre von dem Schmerz des Willens: der Grundgedanke seines Pessimismus. Diese Kette von Begierde, Anstrengung und Enttäuschung in der Befriedigung scheint nur da den Willen wirklich zu umspannen, wo der isolierte, einzelne Mensch abwechselnd von äußeren Objekten affiziert wird. Der dem Allgemeinen hingegebene Wille, welcher durchaus nicht mit dem verneinenden Willen Schopenhauers zu verwechseln ist, durchbricht diese Kette und tritt in die Region der Freiheit ein. Diese innere Freiheit, welche in Schopenhauers System keine Stelle fand, haben Hegel und Schleiermacher in derselben Zeit mit großer, philosophischer Tiefe aufgefaßt, so daß Schopenhauer hier wie an vielen anderen Punkten von ihnen hätte lernen dürfen. Vom Glück des Wollens, wo die Seele von den bloßen Affekten befreit ist, redet jeder Tag im Leben eines Lessing oder Friedrich, und es gehört recht zu Schopenhauers ausgesuchter Romantik, daß er die handelnde Seite des Menschen so mißkennt. Wie er sich als einen realistischen Denker angesehen wissen wollte, er, der phantastischer dachte als irgendein anderer moderner Philosoph: so stellte er sich auch gern mit seiner Philosophie unter den Schutz derer, die die Welt kennen, während die große Triebfeder der wirklichen Welt, das planvolle Handeln von ihm überall hinter die sogenannte Verneinung des Willens zurückgesetzt wurde. Hiermit hängt die Entstellung zusammen, welche die Geschichte erfährt, wo er sie irgend berührt; „die einzige entscheidende Begebenheit, die aber nicht in Völkern und Staaten, sondern im Individuum sich vollzieht", ist ihm die Selbsterkenntnis des Willens als der Quelle alles Unheils, und die darauf
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sich entscheidende Bejahung oder Verneinung des Willens. Gegen diesen moralischen Zweck gehalten, ist ihm jeder andere nur von untergeordneter Bedeutung. Die Geschichte ist ihm nur der Schauplatz der Bejahung des Willens zum Leben, und da es die Erlösung von diesem gilt, so ist ihm die größte, wichtigste und bedeutsamste Erscheinung, welche die Welt aufzeigen kann, nicht der Welteroberer, sondern der Weltiiberwinder. Der asketische Mönch und „die schöne Seele" sind ihm ehrwürdigere, beneidenswertere Erscheinungen als die gefeiertsten „welthistorischen" Helden. In seinem Manuskriptenbuch „Foliant" (angefangen zu Berlin 1821 im Januar) sagt er: „Ich weiß mir keinen schöneren Einwurf gegen den Wert des Geschichtsstudiums, als daß man den Historikus f r a g t : U n d wenn ich nun gelebt hätte, ehe all diese Dinge sich zutrugen, hätte ich dann notwendigerweise weniger weise werden müssen?" — Den relativen Wert der Geschichte verkennt er zwar nicht (vergleiche „Welt als Wille und Vorstellung", Bd. II, Kap. 38, und „Parerga", Bd. II, § 238 der 2. Auflage), aber die, welche der Geschichte einen höheren Wert als den von ihm anerkannten beilegten, verspottete er als „Philister". In diesem Sinne bezeichnete er Frauenstädt gegenüber als den Sinn der Geschichte „die europäischen Katzbalgereien". Es war dann nur konsequent, wenn ihm der Staat „der Maulkorb" war, der das Raubtier Mensch unschädlich zu machen und dadurch dieselbe Erscheinung hervorzubringen hat, als wenn er ein grasfressendes Tier wäre. „Er hielt daher das politische Leben und die politische Tätigkeit nur f ü r eine untergeordnete und spottete über die Philister, welche den Staat als den Inbegriff aller Sittlichkeit vergöttern." Frauenstädt widerlegt die, welche Schopenhauer seine politische Indifferenz vorgeworfen haben, durch den Nachweis, daß diese die Konsequenz seines Systems sei. „Unverstand ist es, von einem Baume andere Früchte zu fordern, als er seiner N a t u r nach geben kann, und Unverstand ist es, von einem Menschen andere Leistungen zu fordern, als seinem Geiste und seinem Charakter möglich sind." Er übersieht in diesem Satz, daß in soldien psychologisch-ethischen Verallgemeinerungen nicht die Theorie der Praxis voraufgeht, sondern beide aus der Wurzel des Charakters entspringen, welche auf diese Weise allerdings mit der ethischen Seite des Systems in einem nicht abzuleugnenden Zusammenhang steht. Man kann die Konsequenz zwischen dem politischen Gedanken und der politischen Indifferenz Schopenhauers völlig einsehen und wird dann nur mit um so klarerer Übersicht diese ethische Seite seines Systems nach ihrer Wurzel, ihrer theoretischen Formulierung und ihren praktischen Konsequenzen zugleich f ü r eine der extremsten Verirrungen der an falschen Theorien so fruchtbaren ersten Dezennien unseres Jahrhunderts halten. Neben dem subjektiv-psychologischen Sinne seiner Theorie vom Unglück des Willens stellt er dieselbe, seinem Verfahren gemäß, auch in eine weite metaphysische Perspektive. Wenn dort die psychologischen Phänomene der schmerzhaften Affekte als Argumente seiner Theorie gebraucht wurden, so versucht er hier, durch eine ethische Wendung der Fichteschen Transzendentalphilosophie, in metaphysischen Antithesen den Schmerz des Willens zu veranschaulichen. H i e r f ü r ist eine zu Weimar 1814 geschriebene Stelle, welche, wie alles, was wir hier mitteilen, von Frauenstädt aus den Tagebüchern Schopenhauers publiziert ist, höchst bezeichnend.
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„Man könnte sagen: alle unsere Sündhaftigkeit ist nichts als der Grundirrtum, die Ewigkeit durch die Zeit ausmessen zu wollen, ist gleichsam nur ein fortwährender Versuch der Q u a d r a t u r des Zirkels. Denn sie geht einzig darauf hinaus, das zeitige Dasein zu verlängern, teils im Individuo (Gier, Habsucht, Feindseligkeit), teils in der Spezies (Geschlechtstrieb). Zeitliches Dasein wollen und immerfort wollen ist Leben. Das Verkehrte davon liegt darin, daß wir nicht merken, daß dieses zeitliche Dasein, indem es gewonnen, auch wieder zerronnen ist, daß es seiner N a t u r nach flüchtig, bestandlos ist, ein unhaltbarer Schatten, ein Faden ohne Dicke, ohne Konsistenz, eine mathematische Linie, die auch durch unendliche Länge keine Dicke gewinnt. Das merken wir nicht, werden nicht müde, das Sieb der Danaiden zu füllen, dem H u n d e im Bratenwenderrade zu gleichen. Wir wähnen durch Sukzession das zu erhäschen, was nur mit einem Schlage ergriffen werden kann, durch das Übertreten aus der Zeit in die Ewigkeit, aus dem empirischen ins bessere Bewußtsein. Wir laufen rastlos an der Peripherie herum, statt zum ruhigen Zentrum zu dringen. Jener Grundirrtum erzeugt praktisch Sündhaftigkeit, theoretisch Mangel an Genialität, Polymathie statt Philosophie." Was f ü r ein Ungedanke, aus einer Verwechslung der quantitativen und intensiven Unendlichkeit Sündhaftigkeit, Mangel an Genialität und Polymathie ableiten zu wollen. Das Spiel mit Begriffen als die Geschichte produzierenden Mächten ist so ganz abenteuerlich an keinem Punkt des Hegeischen Systems, wie es in dieser Äußerung Schopenhauers heraustritt. Der dritte Grundgedanke der Philosophie Schopenhauers, die Konsequenz aus den beiden hervorgehobenen, ist die Verneinung des Willens. Es ist interessant, daß er diese in seinen früheren Manuskripten mit einem sich an Fichte anschließenden Ausdruck „das bessere Bewußtsein" nennt. Auch diesem Satze, wie dem vorigen, liegen einige tiefe und richtige Anschauungen zugrunde. Hierher rechnen wir von seinen vielfachen Äußerungen über die beiden Formen, in welchen er die Verneinung des Willens anschaulich macht, nicht die über die Heiligen, welche seine Schüler bewundern, sondern die außerordentlich zahlreichen über das Genie. Und zwar zeigt dies einen eigentümlichen Mangel in der Konsequenz seines Systems. Wir glauben, daß in seinem eigenen Bewußtsein von seinem System das Genie und die in ihm stattfindende Verneinung des Willens den Mittelpunkt bildete. Die völlige Herrschaft, die unbedingte Freiheit der Intelligenz, welche sich von der Sklaverei partikularen Willens zu der Hingabe an die Objekte und zu der Ruhe der Betrachtung erhoben hat, war das Ideal seiner persönlichen Existenz. Und sie war in der Tat ein ethischer Begriff. Dagegen ist eine Verneinung des Willens, welche nicht auf Befreiung der Intelligenz abzielt, sondern auf die Rüdekehr in die bloße Verneinung des reinen Nichts, wie sie in dem letzten Abschnitt „Die Welt als Wille und Vorstellung" dargestellt ist, ein Unding. Und mitten aus der Erhabenheit jener Stellen klingt in dem „vor uns bleibt allerdings nur das Nichts" etwas von der Selbstironie Friedrich Schlegels und die Art, wie er hier abermals, um dies Sein in nichts mit Fleisch und Blut zu umgeben, ein Phänomen herbeizieht, dessen Anschaulichkeit diese leere Vorstellung beleben muß, ist das willkürlichste Kunststück seiner Taschenspielerei mit Phänomenen. Denn in jenen Heiligen, deren
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wunderbare raffaelische Gestalten er wie einen verhüllenden Teppich vor dies Sein in Nichts stellt, war vielmehr die anschaulichste und innerlichste Vorstellung einer anderen und unendlich reicheren Welt, durch welche allein die Hoheit und heitere Ruhe ihrer Gestalten uns erklärlich wird. Er müßte denn in jenem ausgearteten Fanatismus sein Ideal suchen, welcher die Gedanken selber ächtete und die Ruhe der Seele in einem dumpfen Brüten fand. Aber anstatt diese Konsequenz hinzustellen, spielt er mit den Geschichten der Heiligen und mit den Bildern Raffaels und Correggios. Der Grund, welcher ihn zwang, die leere Vorstellung seines Lebens in der Verneinung, durch solche Bilder verhüllt und verwandelt, der inhaltsvollen einer von den Affekten befreiten, ruhigen Intelligenz vorzuziehen, lag in der Konsequenz seines Systems; denn die Intelligenz ist nach diesem sekundärer Natur und muß daher konsequenterweise samt allen übrigen Objektivationen des Willens verneint werden. Die physische Natur des Intellekts, welche er gern so schroff als möglich ausdrückte, liebte er daher bis zur Frivolität schroff hervorzuheben. Wie er sich gern gelegentlich auf Unglücksfälle in Zeitungen und dergleichen berief, um seinen Pessimismus zu begründen: so zieht er auch hier die zweifelhaftesten und unbedeutendsten Phänomene zum Beweis hinein, wie zum Beispiel den Satz: „Das Bedürfnis des Schlafs steht in geradem Verhältnis zur Intensität des Gehirnlebens, also zur Klarheit des Bewußtseins", eine willkürliche Erfindung ist. Ist nun so die Intelligenz eine Eigenschaft der Materie, rein physisch und in bezug auf den Willen sekundärer Natur, so leuchtet ein, daß diese selber in der Verneinung des Willens notwendig mit einbegriffen ist und daß der Wille sich in ihrer Herrschaft keineswegs befriedigt fühlen kann. Und so wurde Schopenhauer über den Begriff des Genies zu dem des Heiligen, wie er ihn aufstellte, fortgetrieben. Seine Anhänger selber haben die Widersprüche seines Systems, welche an diesem Punkt zutage treten, hervorgehoben. Wenn man, was sie kritisiert haben, zusammenstellt, so bleibt von Schopenhauers System für jemanden, der Irrtümer in ihre letzten Ursachen zurückzuverfolgen gewohnt ist, nur wenig stehen. Ja, Gwinner erklärt, daß er sich selber mit einer Art Wiederaufhebung seines Systems beschäftigt habe. Er erzählt, daß die in dieser Rücksicht besonders merkwürdige Stelle („Parerga" II, § 116), „wie er Grund habe zu vermuten, bis zu Schopenhauers Tod der Gegenstand seines unablässigen Nachdenkens gewesen sei". Diese Stelle gibt, gegenüber dem früheren durchgeführten Idealismus zu, „daß die Individualität nicht allein auf dem prinzipio individuationis beruht und daher nicht durch und durch bloße Erscheinung ist, sondern daß sie im Dinge an sich, im Willen des einzelnen wurzelt: denn sein Charakter selbst ist individuell." „Wie tief nun aber hier ihre Wurzeln gehen, fügt er hinzu, gehört zu den Fragen, deren Beantwortung ich nicht unternehme." Diese Stelle verhält sich zu der ersten Auflage seines Systems ganz ähnlich wie die von ihm heftig geschmähten Zusätze und Veränderungen der Kantsdien Kritik zu dem ursprünglichen Text derselben. Sie vernichtet den Idealismus derselben. Wenn Trendelenburgs Kritik das durchgeführte System traf und nicht diese Andeutung einer Umgestaltung desselben, so begreifen wir Frauenstädts Polemik gegen dies Verfahren nicht. Denn die Kritik hat es mit durchgedachten Systemen, nicht mit abgerissenen Andeutungen zu tun. Und welche Gestalt die
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Ideenlehre gewinnen würde, wenn nicht mehr die Materie und ihre Qualitäten als die einzige Objektivation des Willens betrachtet würden, hierüber eine vor der Darstellung herlaufende Kritik zu geben, wäre eine sonderbare Aufgabe. Wir verfolgen die Einwände nicht, welche die Freunde des Systems selbst gegen dies erhoben haben, da sie uns zu tief in ausführliche Erörterungen verwickeln würden. Sie finden sich in vorliegendem Buch Seite 129, 153, 434, 438 und Gwinner Seite 171. Wir verfolgen Schopenhauer nicht durch seine späteren Jahre hindurch. In der Tat verallgemeinerte er auch damit eine persönliche Erfahrung, wenn er mit dem 35. Jahre die Zeit der Produktivität abschloß. Es waren in der Natur seines Denkens liegende Gründe, welche dies von mehr als der halben Gelehrtengeschichte widerlegte allgemeine Gesetz bei ihm in der Tat wahr machten. Nur die auf einer wahren Methode der Untersuchung erbauten Systeme beschränken den Geist ihres Entdeckers nicht. Schopenhauers Methode, zu einigen allgemeinen metaphysischen Sätzen erläuternde Phänomene zu suchen, ließ für seine späteren Jahre keine Fortsetzung von Untersuchungen zu, sondern nur eine unendliche Anhäufung neuer Beispiele, Belege und Analogien. So begann er denn in der besten Zeit seines Lebens, einen Kommentar zu dem Werk seiner Jugend zu schreiben, und in der Zeit, in welcher Kant die Grundlinien zu seinem ersten Hauptwerk entwarf, war seine Arbeit, Zusätze in die durchschossenen Exemplare seiner Schriften zu schreiben. Abgesehen von der anderen, von welcher wir nur ungern reden, in Journalen und Büchern nach der Erwähnung seines Namens zu suchen. Ein wunderlicher Widerspruch, daß der Mann, welcher Eigenleben und Eigensucht noch in den höchsten Formen der Individualität witterte, an jeder Erwähnung seines Namens in den Blättern für literarische Unterhaltung und ähnlichen Journalen sich tagelang ergötzte. Wir müssen hier den Briefwechsel mit Frauenstädt erwähnen, welcher dem vorliegenden Buch beigegeben ist. Nicht leicht hätte etwas geschehen können, was dem Ruhm Schopenhauers schädlicher gewesen wäre als die Veröffentlichung dieser Korrespondenz. Von der moralischen Seite reden wir nicht. Und zwar rechnen wir zu ihr auch das maßlose, böswillige Reden über alle Zeitgenossen, und zwar ausnahmslos, welche auf dem gleichen wissenschaftlichen Gebiet mit ihm arbeiten. An Gehässigkeit übertrifft die Publikation in dieser Beziehung alles, was literarische Indiskretion in den letzten Jahren gesündigt hat. Aber diese Seite der Korrespondenz, wie nachteilig sie auch Schopenhauer in bezug auf die Beurteilung seiner Person sein wird, soll uns auch hier nicht beschäftigen, obwohl sie uns von dem Herausgeber gewissermaßen aufgedrungen wird. Hier konnte man ohnehin nach den Proben in seinen Werken schon ähnliches erwarten. Dagegen hat, soweit wir Urteile gehört haben, die Nichtigkeit dieser Korrespondenz die größte Verwunderung erregt. Literarischer Klatsch, Aufstöbern, Uberschicken und Lektüre von Schopenhauer erwähnenden Stellen, das Verfolgen aller Zustimmenden und Einsprucherhebenden bildet den wesentlichen Inhalt dieser Briefe. Hierbei kommen dann wunderliche Dinge vor. Schopenhauer beklagt sich bei seinen Aposteln, daß gewiß noch immer sein Name in Zeitschriften und Büchern vorkomme, ohne von ihnen überall aufgespürt worden zu sein. Er beantwortet ihre Einwendungen in einer Weise, welche selbst den die Briefe Durchlesenden empört. Sonderbare 24
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Schüler treten auf. So wird an einer Reihe von Stellen als ein Hauptvertreter der Pfarrer G . . . genannt: wir können dem Herausgeber, falls derselbe davon nicht unterrichtet sein sollte, mitteilen, daß derselbe zu jener Zeit bereits an partialem Wahnsinn litt, wie er denn auch später dem Irrenhause übergeben werden mußte. Wer dagegen von einem Philosophen erwarten würde, daß, worüber er auch rede, ein den Sachen und der wissenschaftlichen Wahrheit allein zugewandtes Auge hervortrete, daß man sich mit ihm überall wie auf einer Höhe befinde, welche die größeren Linien in den Begebenheiten der Zeit klar hervortreten lasse, und wer nach der Erhabenheit von Schopenhauers Jugendwerke gerade von ihm diesen weiten, die Dinge zusammen schauenden Blick erwarten würde, der mag sich nur erst, bevor er diese Briefe liest, recht deutlich machen, wieviel Ursachen ein Philosoph haben kann, Korrespondenzen zu führen und auch solche, die gar nicht mit seinem innersten Leben zusammenhängen, damit er nicht härtere Rückschlüsse als billig von dem Ton dieser Briefe auf die weltüberschauende Erhabenheit von Schopenhauers Jugendwerk mache.
Schleiermachers „Psychologie" F. D. E. Schleiermacber, Sämtliche Werke, 3. Abt.: Zur Philosophie, 4. Band: Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. v. L. George. Berlin 1862. Aus dem Nachlaß Schleiermachers, dessen Veröffentlichung vor länger als einem Vierteljahrhundert begann, erscheint hier die letzte Herausgabe einer Vorlesung, mit derselben sorgsamen Genauigkeit besorgt, mit welcher damals Jonas die Veröffentlichungen begann. Die Arbeit der Schüler Schleiermachers, die hier beendet ist, bedarf wohl eines dankenden Rückblicks. An Umfang und Bedeutung ist wohl nur die Herausgabe von Hegels Vorlesungen mit dieser zu vergleichen; die Methode der Behandlung war freilich höchst verschieden, hat sich indes bei der späteren Veröffentlichung Schleiermacherscher Vorlesungen der, welche die Hegelianer befolgten, bedeutend genähert. Die Schüler Hegels waren auf eine möglichst allgemeine, einschneidende, in die Masse dringende Wirkung seiner Vorlesungen und seines Systems gerichtet. Es lag ihnen nicht daran, die Modifikationen, welche dies System im Laufe der Entwicklung erlitt, darzulegen, vielmehr es in seiner durchgebildeten unfehlbaren Form wirkungsvoll hinzustellen. Es ist bekannt, daß dieser Grundsatz bei der Herausgabe der „Rechtsphilosophie" und der „Philosophie der Geschichte" zu einer solchen Umbildung des vorliegenden Materials führte, daß nicht bloß die Form, sondern die Sache und der Gedanke selbst ehemaligen Schülern des großen Mannes hier und da fremd erschien. Die beabsichtigte Wirkung wurde
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mit diesem Verfahren völlig erreicht. Gerade durch diese Vorlesungen drang dies System in einer bisher nie dagewesenen Weise in unsere Literatur bis in den Sprachgebrauch und den Gedanken des letzten Theater-Rezensenten hinab. Die Herausgeber der Schleiermacherschen Vorlesungen verfuhren nach einer ganz anderen Methode. Es war vor allem der sachliche philologisch-gewissenhafte Geist des verewigten Jonas, der diese Richtung bestimmte. Diesem hatte Schleiermacher selbst kurz vor seinem Tod seine Papiere übergeben, mit dem Auftrag, „Dialektik", „Christliche Sittenlehre" und „Apostelgeschichte" dem Druck zu übergeben. Was das übrige betraf, so hatte er sich über den Wert desselben verschieden erklärt, die Bestimmung aber, was davon dem Publikum mitzuteilen sei, lediglich dem Urteil und der gewissenhaften Prüfung seines jüngeren Freundes überlassen. Dieser hatte gemeinsam mit Schweizer, Sydow, Nitzsdi, Lücke, Bleek, Bonnel, Brandis, Ritter, Lommatzsch, lauter näheren Schülern des großen Mannes, sich mit vollem Recht zur Veröffentlichung sämtlicher wichtigerer Vorlesungen desselben entschlossen, damit der Nachwelt ein Bild des umfassenden, einheitlichen und doch jeden Stoff mit mit aristotelischem Geiste in seiner Eigenart behandelnden Mannes erhalten bliebe. Es war nicht die Hoffnung auf augenblickliche und durchgreifende Wirkung, was diese Männer leitete. Sie wußten nur zu gut, wie wenig der hohen Flut der absoluten Philosophie irgendeine abweichende Richtung sich erfolgreich entgegenstellen könne. Hatte doch Schleiermacher selbst dieser Wirkung ins Große mit seinen philosophischen Arbeiten entsagen müssen. Denn der vorsichtig untersuchende, fast skeptische Standpunkt seiner „Dialektik", die alle Elemente des sittlichen Lebens wie zu einem geistigen Kosmos ruhig und billig abwägende Methode seiner „Ethik" konnten gegenüber einer Philosophie, welche das innerste Gesetz der Welt zu enthüllen schien, nur bei wenigen kritischer Gestimmten Teilnahme finden. Aber wenn die Schüler Schleiermachers dieses wußten, so waren sie doch dessen ebenso gewiß, daß für Untersuchungen dieser Art einst die Zeit erscheinen würde; die, für welche sie schrieben, wollten sie nicht durch den Schein einer fertigen unfehlbaren Gestalt des Systems täuschen. Schleiermacher selbst hatte sein Philosophieren nur für einen sich stets erneuernden Versuch gehalten, sich den höchsten Problemen zu nähern. Mitten im Fragen und Untersuchen war er gestorben. Es entsprach daher völlig dem Geiste des Systems und seines Urhebers, von den ersten Entwürfen ab die wichtigeren Modifikationen in seinen Versuchen darzustellen. Mit einem Fleiß und einem philologischen Geiste, wie sie kaum je auf eine solche Publikation verwandt worden sind, hat Jonas für die „Dialektik" und „Christiche Sittenlehre" diese Aufgabe gelöst. Für gewöhnliche Leser freilich hat er seine Methode allzuscharf angespannt, seine Ausgaben sind auf das intimste Studium Schleiermachers berechnet. Für Vorlesungen, welche nicht so unmittelbar Schleiermachers Grundansicht zum Gegenstand hatten, war es in der Ordnung, den Leser einen bequemeren Weg zu führen. Wie die „Ästhetik" und „Hermeneutik" so ist audi jetzt die „Philosophie" zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammengearbeitet worden, dem nur einiges für die Entwicklung Schleiermachers Merkwürdige anhangsweise beigegeben ist. Herr Professor George, dem wir die Herausgabe der „Psychologie" verdanken, hat seine Aufgabe vortrefflich gelöst. 24*
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Er selbst hat sich nicht verhehlt, daß diese „Psychologie" zu spät erscheint, um noch Schüler um sich zu sammeln. Ihre Bedeutung liegt zunächst darin, daß sie neben der „Dialektik" über seine wissenschaftlichen Grundanschauungen, über seine Theorie von der Religion und über manche andere dunkle Seiten seines Systems den erwünschtesten Aufschluß gewährt. Aber sie liegt doch nicht darin allein. Die Psychologie hat inzwischen allerdings eine andere wissenschaftliche Basis erhalten. Sie ist durch Herbart auf die Erklärung der Erscheinungen der Seele aus einfachen Elementen gestellt worden. Herbarts physikalischer Standpunkt, der ausschließlich in der einzelnen Vorstellung und ihrem mechanischen Verhältnis zu den übrigen diese Elemente der Erklärung sieht, ist vor neueren Untersuchungen, insbesondere Lotzes, gefallen. Die völlige Ungleichheit der Beziehungsgesetze der stofflichen und geistigen Elemente, die Wirksamkeit noch anderer Kräfte, als die in den einfachen Vorstellungen liegen, ist durch Lotze überzeugend nachgewiesen. Aber die Methode, den Reichtum des geistigen Lebens nicht durch Teilungen in eine Reihe von Kräften, sondern durch Erklärung aus der Beziehung einfacher Elemente zu erfassen — diese ist das sichere unantastbare Resultat der scharfsinnigen Arbeiten, welche Herbart auf den damaligen Stand der physikalischen Wissenschaften gründete. Indes etwas anderes ist die Erklärung, etwas anderes die Beschreibung. Wo die modernen Psychologen es unternehmen, das ganze Gebiet des Geistes, von welchem Herbart bekanntlich nur die einfachsten niederen Erscheinungen behandelt hat, zu umfassen, da müssen sie auch jetzt noch die beschreibende Methode mit der erklärenden verbinden. Es läßt sich nicht sagen, wann unsere Mittel der Beobachtung und Erklärung so durchgebildet und fein sein werden, daß sie für die höheren Erscheinungen des Seelenlebens zureichen werden. Wer aber Schleiermacher kennt, wird von vornherein wissen, daß gerade in der Betrachtung dieser höheren, verwickeiteren Erscheinungen der Schwerpunkt seiner Psychologie liegen muß. Charakter, Individualität, der psychische Unterschied der Geschlechter und der Lebensalter, das religiöse Bewußtsein, das Naturgefühl — die Analyse der geistigen Erscheinungen dieser Art bildet den Inhalt dieser Psychologie. Und wer die unvergleichliche Kenntnis Schleiermachers vom menschlichen Leben, dies einzige Talent der Selbstbeobachtung und der innersten Durchdringung fremder Individualitäten kennt, wird begierig nach einem Buch greifen, in welchem eine Ubersicht über die Resultate derselben gewährt ist. Schleiermacher trug sich lange mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben, in dem er die Resultate seines Lebens niederlegen wollte. Für den einen Bestandteil, seine persönlichen Verhältnisse, müssen uns seine Briefe Ersatz sein, für den anderen Veröffentlichungen wie diese Vorlesungen über Psychologie. D a werden zum Beispiel die Frauen einen Ersatz finden für die Mißhandlungen, welche sie von den Philosophen seit K a n t erlitten haben. Man kennt die frevelhafte Charakteristik, welche der berühmte Hagestolz in seiner „Anthropologie" von dem schwächeren und eben durch seine Schwachheiten herrschenden Geschlecht entworfen hat. Mit dem Entsetzen des einsamen, jede leiseste Störung seiner Gedankenkreise leidenschaftlich fürchtenden Philosophen bemerkt er in naturgeschichtlicher Schilderung
Die „Anthropologie" von Waitz (1863)
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der Frau: „Sie scheut den Hauskrieg nicht, den sie mit der Zunge führt, und zu welchem Behuf die Natur ihr affektvolle Redseligkeit gab, die den Mann entwaffnet." Wie Fidite über die Frauen dachte, ist bekannt, und noch in der neuesten trefflichen Anthropologie, dem schönen „Mikrokosmos" Lotzes, ist die Ironie, die seine Charakteristik der Frauen umspielt, unverkennbar. Solcher Gesinnung der Philosophen gegenüber ist in der T a t der Abschnitt bei Schleiermacher bemerkenswert; denn Schleiermacher schrieb ohne Zweifel aus wirklicher Kenntnis. Und in seinem Grundgedanken von dem Wert der Individualität, abgesehen von dem objektiven Beruf, liegt in der Tat, daß er für die in sich geschlossene Gemütstiefe und Bildung der weiblichen Natur einen besonderen Sinn haben mußte. Wir verweisen unsere Leser auf diese und ähnliche Ausführungen in den vorliegenden Vorlesungen. Indes das Verdienst derselben liegt nicht allein in den einzelnen Ausführungen für sich betrachtet; es liegt ebensosehr in dem großen Stil der Anordnung des Ganzen. Wer noch nicht den Sinn verloren hat für eine wahrhaft künstlerisch gegliederte Anlage einer wissenschaftlichen Disziplin, wird sich an dieser wissenschaftlichen Form ebensosehr als an den einzelnen geistvollen Ausführungen erfreuen.
Die „Anthropologie" von Theodor Waitz Theodor
Waitz, Anthropologie
der Naturvölker.
3 Bände. Leipzig
1859—1862.
Der vornehmste Gegenstand der Philosophie ist der menschliche Geist; ihre lebendigste und anschaulichste Form, die, welche den konkreten Wissenschaften am nächsten steht, ist die Anthropologie. In ihr vereinigen sich alle Naturwissenschaften, Geographie und Geschichte, alle philosophischen Disziplinen. Sie war das Lieblingsobjekt des 18. Jahrhunderts, wie denn selbst Kants abstrakter Geist sich von den metaphysischen Studien gern auf ihrem Gebiet erholte. Ihr gehörten nicht bloß weitaus die meisten Studien der Franzosen und Engländer an, sondern auch soweit Herder und Lessing in die Philosophie eingriffen, geschah es auf dieser Seite derselben. Die Literatur ist nicht zu umfassen, welche das 18. Jahrhundert auf dem Gebiet der Anthropologie hervorbrachte. Aber die Erfolge standen nicht in gleichem Verhältnis zu den Anstrengungen. Denn diese sind wesentlich durch den Grad der Kenntnis bedingt, welche von den verschiedenen Formen dem menschlichen Daseins vorhanden war. Diese aber war in jener Zeit nicht nur unvollkommen, sondern selbst fantastisch. Wenn man die Grenzen der menschlichen Natur umspannen will, so wird es wesentlich auf unsere Kunde von den Naturvölkern ankommen. Das träumerische Bild, welches Rousseau von diesen entwarf, ist bekannt; weniger, daß diese Vorstellungen in der Literatur
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jener Zeit einen weiten Platz einnahmen. Damit war der unbefangene Blick in das Wesen der menschlichen Natur versperrt, denn, wie wir schon sagten, nur wo der Kreis der gesamten menschlichen Natur in seinen Formen und Entwicklungen von exakter Kunde und klarer Forschung umschrieben ist, kann gleicherweise ein stolzer Spiritualismus und jene wegwerfende Ansicht vom Menschen, welche ihn zu einer höheren Entwicklung der tierischen Natur macht, vermieden werden. Beides ist aber auf gleiche Weise notwendig. Wenn wir jetzt vorzugsweise mit jener zweiten Richtung und ihren schädlichen Wirkungen den Kampf aufzunehmen haben, so sollen wir nicht vergessen, wie uns jene spiritualistische Denkart mehr als irgendein anderer Punkt theoretischer Natur in unserer Zivilisation gehemmt hat. Dem Unternehmen nun, eine solche wissenschaftliche Erkenntnis der menschlichen Natur aus ihren der empirischen Forschung zugänglichen Formen zu gewinnen, stellen sich Vorurteile ganz entgegengesetzter Art entgegen. Die westlichen Nationen stehen in praktischer Beziehung zu den Naturvölkern: dieselben sind ihnen nicht bloß Gegenstand theoretischer Betrachtung. Diese Einflüsse der Praxis haben Engländer und Amerikaner zu sonderbaren Theorien verleitet. So erdachte selbst ein Mann wie Agassiz, so frei und ohne Nebenrücksicht und tiefblickend wie einer, die Theorie, daß die höheren Rassen bestimmt seien, die niederen zu verdrängen, wie dies von jeher auf der Erde den niederen Gebilden von Seiten der höheren geschehen sei. Ebenso bildete sich unter dem Einfluß dieser Theorie die Vorstellung von der Unfähigkeit der Neger, sich zu einer höheren Kulturstufe zu erheben. Auf der anderen Seite war unter uns lange Zeit die spiritualistische Denkart und die Neigung, aus Begriffen zu konstruieren, so stark, die Bekanntschaft mit dem ungeheuren Material so unvollständig, daß dies ein unbefangenes und vollständiges Studium der Naturvölker unter uns unmöglich machte. Erst die moderne Richtung der psychologischen Schule machte es möglich, eine Untersuchung dieser Frage in Angriff zu nehmen. Es ist bewunderungswürdig, daß es Waitz in seiner Marburger Abgeschiedenheit möglich war, die ungeheure Masse der Quellen über diesen Gegenstand mit solcher Vollständigkeit zusammenzustellen. Mit seinem Buch erst ist eine Grundlage für ein wirkliches Studium der Naturvölker gelegt. Eine Untersuchung wie die seinige, welche ein Material von so ungeheurem Umfang zusammenzufassen unternimmt, pflegt nicht durch schneidende und auffallende Resultate zu glänzen. Indes bringt er einen ihm ganz eigentümlichen und, wie uns scheint, sehr fruchtbaren Grundgedanken hinzu. Er sondert nämlich den Artbegriff vollständig von dem der gemeinsamen Abstammung und macht ihn zum Mittelpunkt seiner gesammelten Untersuchung. Er bejaht die Gleichheit der Art, ohne deshalb über die Gleichheit der Abstammung eine Entscheidung treffen zu wollen, so daß ihm die Frage nach der Einheit des Menschengeschlechts aus ihrer bisherigen halbtheologischen Fassung, wie sie aus der Erzählung der Genesis erwuchs, in das Gebiet einer streng untersuchenden Anthropologie tritt, welche die Natur des Menschen selber zu ihrem Gegenstand hat. Der Behandlung dieser und ihr ähnlicher Fragen ist der erste Band des umfassenden Werkes gewidmet. Auf dieser Grundlage gibt dann der zweite eine erschöpfende ethnographische Untersuchung und kulturhistorische Schilderung der Negervölker. Der
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dritte enthält die erste Hälfte der Bearbeitung der amerikanischen Völker; sobald die zweite Hälfte erschienen sein wird, werden wir auf diese außerordentlich interessanten ethnographischen und kulturhistorischen Untersuchungen zurückkommen. Wir versuchen diesmal nur, von dem Gang seiner allgemeinen Untersuchungen einen Begriff zu geben. Dieselbe gliedert sich nach den verschiedenen wissenschaftlichen Gesichtspunkten, unter welche das Problem der Arteinheit fällt. Dasselbe bietet einmal eine Reihe naturhistorischer, dann eine solche psychologischer Gesichtspunkte. Es ist ein besonderes Verdienst der vorliegenden Schrift, daß sie neben dem Naturhistorischen audi dem Psychologischen in dieser Frage endlich zu seinem Recht verhilft. Es handelt sich also um die Arteinheit des Menschengeschlechts. Der Begriff der Art beruht überall, wo wir ihn bilden, auf der Tatsache, daß sich in allem Wechsel der Erscheinungen die typische Gleichheit der Naturwesen erhält. Da es nun nirgends in der Natur an individuellen Unterschieden der Einzelwesen untereinander fehlt, so verlangt der Begriff der Art ein Kriterium, nach welchem sich entscheiden lasse, wie groß der Variationskreis eines jeden Typus sei. N u r da, wo die gemeinsame Abstammung selber unmittelbar dargetan werden kann, bedurfte es keines anderen Nachweises aus irgendeinem anderen Kriterium. Daher denn auch Cuviers Bestimmung des Artbegriffs sehr einleuchtend und einfach erscheint: zu derselben Art gehören alle diejenigen Individuen, welche voneinander oder von gemeinsamen Eltern abstammen, und diejenigen, welche ihnen so stark gleichen, als diese einander selbst. Da indes die gemeinsame Abstammung eine bloß wahrscheinliche Folgerung aus der tatsächlich vorliegenden Gleichheit der Wesen ist, weil die Fortpflanzung sich als der einzige Weg der Erhaltung und Übertragung derselben ausweist, und da ferner dieser Schluß von keiner unbedingten Sicherheit ist, so daß sehr wohl möglich bleibt, daß Individuen von der bezeichneten Gleichheit dennoch nicht auf dasselbe Elternpaar zurückführbar sind: so bleibt zwar der Satz zweifellos, daß aus erwiesener Stammeseinheit die Einheit der Art folge, der andere aber, der mit Unrecht auch von Zoologen für untrennbar von ihm gehalten wird, ist in Frage zu stellen, daß nämlich gesonderte Abstammung, wo sie sich dartun läßt, ein ausreichender Beweis für Artverschiedenheit sei. So finden sich Tiere, die offenbar derselben Art angehören, in so voneinander abgeschlossenen Gebieten gleichzeitig wieder, daß man sie nicht wohl als ursprünglich nur in einem Paar geschaffen denken kann. Daher hat man sich genötigt gesehen, neuerdings mehrere Schöpfungszentren und ursprüngliche Ausgangspunkte, wenigstens für manche Arten, anzunehmen. Hiermit aber erscheint es auch zugleich als unerläßlich, Arteinheit und Stammeseinheit voneinander fest zu unterscheiden. Es scheint nun unmöglich, ein allgemeines und unterscheidendes Merkmal der Art aufzustellen. Denn auch das durch Buff on zur Herrschaft gekommene Unterscheidungsmerkmal der unbeschränkten Fruchtbarkeit besitzt keine unbestrittene Allgemeingültigkeit; ebensowenig das des Rückfalls, d. h. der Rückkehr unter sidi fruchtbarer Individuen in den ursprünglichen Typus ihrer Stammeltern. So daß für jetzt wenigstens die Frage nach einem unterscheidenden Merkmal der Art immer nur im besonderen aus dem Studium der Größe aller besonderen Variationskreise, die den einzelnen Typen
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zukommen, zu beantworten möglich ist. Das heißt also: wir sind in dieser Frage ganz an das Studium der einzelnen Erscheinungen selbst gewiesen. Hier handelt es sich nun zunächst um die höchst interessante Untersuchung über die Art und Größe der Veränderungen, denen der Mensch in physischer Rücksicht unterworfen ist. Vier Klassen von Ursachen sind zu unterscheiden, welche diese gerade bei den Menschen außerordentlich großen Veränderungen bewirken. Die erste und am meisten behandelte Ursache ist das Klima. Wenn man aus diesem einen der Hauptpunkte in der körperlichen Verschiedenheit der Rassen abzuleiten unternommen hat, die Verschiedenheit der Hautfarbe: so ist hier jedenfalls wenigstens der Unterschied der Nahrungsverhältnisse hinzuzuziehen. Wenn trotzdem scheinbare Widersprüche übrigbleiben, die alle Einwirkung des Klimas ganz zu widerlegen scheinen, wie daß die Europäer nahe am Äquator in dem heißen und feuchten Guayaquil sehr schönen weißen Teint, blaue Augen und lichtes H a a r behalten — so läßt sich dies wohl aus dem größeren oder geringeren Schutz erklären, welchen sie sich gegen die Einwirkungen des Klima zu verschaffen wissen. Von außerordentlicher Bedeutung ist dann der Einfluß der Nahrung. Ein merkwürdiger Beweis für diesen sind die Buschmänner. Wie ihre Sprache beweist, sind sie ein Hottentottenstamm, der auf steiniges, unfruchtbares Gebiet von seinen Feinden hinübergedrängt ist und dort eingeschlossen gehalten wird. Die Abweichung ihrer Körperbildung von der ihrer Stammverwandten und ihre größere Tierähnlichkeit, die Lichtenstein so frappant geschildert hat, sind wir um so mehr berechtigt, dieser elenden äußeren Lage zuzuschreiben, als die Buschmänner am Zogafluß und im Nordosten des Ngamisees, welche keinen Mangel leiden, groß und gut gebaut sind. Derselbe Fall ist mit den Eingeborenen von Feuerland und Neuholland. Wenn man behauptet hat, daß ein Volk sich bei vorwiegend animalischer Kost leiblich und geistig besser entwickle als bei Pflanzenkost, so hat Foissac nachgewiesen, daß vielmehr die volle Angemessenheit der Speisen und der besonderen Bedürfnisse des Organismus für die Art der Entwicklung bestimmend ist. Selbst der Arbeiter sättigt sich in Benguela mit einer Handvoll Maniokmehl vollkommen. Die dritte Ursache liegt in der Kultur des geistigen Lebens. Die interessanteste Veränderung, welche diese in der äußeren Erscheinung hervorbringt, ist die Individualisierung der Gesichtszüge. Indes hat man die Gleichheit der Gesichtszüge bei unkultivierten Völkern übertrieben. Dann aber gestaltet sich die Kopfform selber und der allgemeine Ausdruck der Physiognomie bei fortschreitender Kultur um. So ist bei den Negern in Guinea von Hancock in solchen Fällen ein Zurücktreten der Unterkinnlade und selbst eine Modifikation der Schädelform beobachtet worden. J a , Ward behauptet, daß die Neger in einigen Teilen von Amerika unter dem bloßen Einfluß besserer physischen und moralischen Verhältnisse ihre wulstigen Lippen und hervorragenden Unterkiefer teilweise verloren und daß sich ihre früheren Eigentümlichkeit überhaupt gemäßigt hätten. So scheinen auch die hervorragenden Backenknochen, welche auf den älteren Bildern besonders der frühesten englischen Malerei bemerkbar sind, auf eine entsprechende Umgestaltung der Gesichtsbildung bei den europäischen Völkern selber zu deuten. Außer dem Klima, der Pflege des Leibes und der Kultur des Geistes gibt es endlich noch ein vierte
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Quelle f ü r die Veränderungen, denen die leibliche Organisation im L a u f e einer längeren Reihe von Generationen u n t e r w o r f e n ist. Sie liegt in der spontanen E n t stehung neuer Eigentümlichkeiten. — Es ist bekannt, d a ß gerade dieser P u n k t durch D a r w i n s neueste Untersuchungen eine außerordentliche Wichtigkeit erlangt hat. Dieselben w a r e n Waitz bei Abfassung seiner Schrift (1859) noch nicht b e k a n n t . Indes gibt er bereits dieser Klasse von Ursachen ein großes Gewicht. E r f ü h r t dieselbe auf das gemeinsame Gesetz zurück, d a ß unter günstigen U m s t ä n d e n eine regelmäßige Vererbung ursprünglich bloß individueller Eigentümlichkeiten stattfindet u n d d a ß diese Vererbung ebensowohl f ü r viele erst erworbene als f ü r angeborene C h a r a k t e r e eintreten k a n n . Versucht m a n nun die Macht dieser einzelnen Klassen von Ursachen, aus denen die Veränderlichkeit der T y p e n stammt, gegeneinander abzuwägen, so scheint die Ansicht das meiste f ü r sich zu haben, d a ß die Macht der geistigen K u l t u r am bedeutendsten, die der klimatischen Verhältnisse f ü r sich allein genommen am geringsten ist, w ä h r e n d die Wirksamkeit von N a h r u n g u n d Lebensweise eine mittlere Stelle zwischen ihnen einnimmt. Das spontane A u f t a u d i e n u n d F o r t erben neuer Eigentümlichkeiten endlich scheint m a n den einflußreichsten unter den Ursachen, die auf die Differenzierung der Menschen hinwirken, gleichstellen zu müssen. Doch gelangt diese Klasse von Ursachen erst da zu größerer Macht und Bedeutung, w o höhere K u l t u r bereits festen Boden gewonnen hat. Nachdem Waitz so das M a ß zu bestimmen versucht hat, durch welches die Variabilität der menschlichen T y p e n begrenzt ist, u n d diese Variabilität auf ihre Ursachen zurückgeführt h a t : handelt es sich nun u m die bedeutendsten anatomischen und physiologischen Verschiedenheiten, wie sie wirklich unter den einzelnen Menschenstämmen v o r k o m m e n . H i e r b e d u r f t e es besonders einer P r ü f u n g der Fabel von affenähnlichen Menschen. Das W a h r e an ihnen beschränkt sich auf die b e k a n n t e Tatsache, d a ß der affenähnlichste der Menschen der N e g e r ist. Eine ausführliche Untersuchung weist nach, wie völlig verschieden die anatomische u n d physiologische Organisation audi dieser niedrigsten menschlichen Rassen von der mit ihr so vielfach verglichenen der Affen ist. Dagegen tritt die Einheit innerhalb der menschlichen Rassen um so klarer h e r v o r ; u n d vergleicht m a n die weiße Rasse mit den übrigen in Rücksicht der physischen Leistungen u n d Eigenschaften, so w i r d sich ohne Schwierigkeit zeigen lassen, d a ß m a n es hierbei nicht mit bleibenden, spezifischen, sondern nur mit angebildeten Unterschieden zu t u n hat, welche in äußeren Verhältnissen oder in wechselnden inneren Zuständen ihre vollständige E r k l ä r u n g finden. Die größere Leistungsfähigkeit, die zähere Ausdauer und höhere Energie des physischen Lebens findet sich im allgemeinen auf Seiten der N a t u r völker, die ausgedehntere Akklimatisationsfähigkeit, die längere mittlere Lebensdauer, die weit geringere Verwüstung des Lebens durch K r a n k h e i t e n u n d die größere Muskelkraft auf Seiten des zivilisierten Menschen. W o m a n dagegen wie bei den Amerikanern, Polynesiern u n d Australiern eine angebliche Lebensunfähigkeit von Rassen hat beobachten wollen, da sind überall G r ü n d e ganz besonderer A r t aufzuzeigen, welche die außerordentliche Sterblichkeit bewirken.
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Dies etwa sind die Gesichtspunkte, unter welche Waitz die wichtigsten naturhistorischen Tatsachen ordnet, von denen die Entscheidung der Frage über die Arteinheit des Menschengeschlechts abhängt. Die Hauptgründe, welche für die Arteinheit sprechen, beruhen auf dem Nachweis der Veränderlichkeit der menschlichen Organisation durch äußere und innere Einflüsse. Obwohl diese Veränderlichkeit nicht so groß ist, daß sie die Arteinheit als notwendige Annahme nachweise, so zeigt sie doch jedenfalls die Möglichkeit derselben. Hier tritt nun die psychologische Untersuchung ergänzend ein. Die Wichtigkeit dieser Seite der Frage ist kaum vor Waitz von jemandem klar genug eingesehen worden. Wie in physischer Rücksicht die Menschen alle zu einer und derselben Art gehören, wenn sich nachweisen läßt, daß die größten physischen Unterschiede, welche unter ihnen vorkommen, nicht beträchtlicher sind, als diejenigen, welche erst im Lauf der Zeit an demselben Volk oder Stamm entstehen können, so wird man sie in psychischer Beziehung zu derselben Spezies zu rechnen haben, wenn sich zeigen läßt, daß die größten Differenzen ihrer geistigen Entwicklung, ihrer intellektuellen und moralischen Kultur nicht größer sind als die Unterschiede der Kulturzustände, welche dasselbe Volk in seiner Geschichte durchläuft. Waitz entwirft zur Lösung dieser Aufgabe eine möglichst vollständige, spezielle Schilderung des geistigen Lebens der Naturvölker. Er geht hierbei aus von der Frage nach den spezifischen Charakteren des Menschen, durch welche er sich von den ihm zunächststehenden Tieren unterscheidet: an diesen ist ein fester Maßstab für die Verschiedenheit der menschlichen Begabung gegeben. Wenn man von den spezifischen Charakteren des Menschen redet, so handelt es sich für eine auf empirischer Forschung ruhende Philosophie nicht um Aufstellung irgendeines hervorbringenden Begriffs, irgendeiner allgemeinen Formel, wie ältere Zeiten sie in der Perfektibilität des Menschen fanden. Es handelt sich vielmehr um eine allseitige Analyse. Waitz sucht durch eine solche in vier entscheidenden Merkmalen des menschlichen Handelns die Grundlagen für einen empirischen Begriff des Menschen zu gewinnen. Zuerst: der Mensch unterwirft sich die Natur, indem er aus gemachten Erfahrungen in viel umfassenderer Weise lernt als das Tier. Zweitens: was ihn innerlich bewegt, stellt er dar teils durch Wortsprachen, teils durch andere äußere Mittel. Ferner: überall unter Menschen besteht Recht und Eigentum, eine gewisse Abstufung innerhalb der Gesellschaft, tiefere Anhänglichkeit an Familie und Volk. Endlich: überall finden sich religiöse Vorstellungen, ein Glaube an geistige Wesen, die über und hinter den natürlichen Dingen stehen und sie nach Gefallen lenken. Die Frage ist, welche nun für diese spezifisch menschlichen Eigentümlichkeiten die psychologischen Ursachen seien. Hier ist zunächst die Art und Stärke der ursprünglichen Auffassung und die Genauigkeit des Behaltens als Bedingung des Lernens aus Erfahrung ein spezifischer Charakter des Menschen. Neben sie tritt, daß bei den Menschen die Beschränkung des Interesses auf die niederen Sinnesempfindungen und auf die an sie geknüpften Lustgefühle, wie sie sich beim Tier zeigt, hinwegfällt. Vielmehr sind bei den Menschen viele Wahrnehmungen der höheren Sinne mit solchen angenehmen Gefühlen verbunden, und so erhebt er sich dazu, den Gesichts- und Gehörvorstellungen eine weit größere unwillkürliche
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Aufmerksamkeit zu schenken und sie in einer Vielseitigkeit auszubilden, durch welche sie zur Grundlage seiner gesamten Weltauffassung werden. In den beiden Hinsichten also, welche das psychische Leben bestimmen, dem theoretischen Verhältnis zu den Dingen und dem praktischen Verhältnis, welches in den mit ihrer Auffassung zugleich auftretenden Lustgefühlen liegt, unterscheidet sich die menschliche Seele von der tierischen auf unbedingte Weise. Wir können der meisterhaften Untersuchung nicht folgen, welche die Variabilität der menschlichen Rassen in psychologischer Hinsicht an dem Maßstab der gefundenen, spezifischen Charaktere des Menschen mißt. Ihr Resultat ist, daß die geistigen Eigentümlichkeiten der Völker im allgemeinen flexibler und veränderlicher sind als die physischen der Rassen und sich vielleicht nur mit einem geringeren Grade von Konstanz vererben als diese. Ferner, daß auf der anderen Seite keineswegs die geistigen Unterschiede innerhalb der Naturvölker vor ihrem gleichbleibenden Maß verschwinden. Vielmehr fehlt es auch bei den rohesten Völkern wicht an genialen Individuen: der Unterschied ist nur, daß diese bei ihnen in der Regel zu gar keiner oder nur zu einer verkümmerten, spurlos vorübergehenden Wirksamkeit kommen. Es geht daher aus der gesamten Betrachtung des Menschen von der psychologischen Seite als zwar nicht in voller Strenge bewiesenes, doch im ganzen wenig zweifelhaftes Ergebnis hervor, daß es eine sehr hohe allmähliche Variabilität der geistigen Entwicklung der Völker gibt, welche uns berechtigt, auch die größten unter den Menschen vorkommenden Kulturunterschiede als graduelle anzusehen, daß für alle Menschenstämme dieselben Entwicklungsbedingungen des geistigen Lebens gelten, daß deshalb auch von dieser Seite her kein hinreichender Grund vorliegt, spezifische Unterschiede innerhalb des Menschengeschlechts anzunehmen. Die Untersuchung erreicht damit ihr Ziel. Es war ihre Absicht, gesondert von der Frage nach dem gemeinsamen Ursprung des Menschengeschlechts die wesentliche Arteinheit desselben zu betrachten. In dem ausgeführten Bilde, welches sie von der anatomisch-physiologischen wie von der psychologischen Art-Einheit und ihren Variabilitäten entworfen hat, liegt die Frucht dieser Untersuchung mehr noch als in der sdiließlichen Einsicht, wie überwiegende Gründe für diese Art-Einheit sprechen. Denn nicht in den letzten zusammengezogensten Begriffen liegt das Resultat menschlischer Forschung, sondern mehr noch in dem anschaulichen Bilde, welches von einem umfassenden Gesichtspunkt aus entworfen ist. Daher wir noch, wenn sich irgend dazu die Gelegenheit bietet, auf Einzelheiten zurückkommen müssen, um unseren Lesern von der Bedeutung dieses umfassenden Werkes einen Begriff zu geben.
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Adolf Trendelenburgs „Kleine Schriften" Adolf Trendelenburg, Kleine Schriften. 2 Bände. Leipzig 1871. Sammlungen kleiner Schriften, wie deren dieser Winter eine überraschend große Zahl gebracht hat, können durch Vertiefung in die einzelnen Stoffe eine mächtige Wirkung erreichen. So geht Macaulay, der unerreichte Meister dieser Kunst, von Gegenstand zu Gegenstand, ohne daß dem Leser auch nur die Frage nach der Einheit so vieler Anschauungen im Geiste des großen Schriftstellers entstände. Es ist als brächte er durch Zauberkunst die Menschen und Sachen zum Licht des heutigen Tages empor, und man vergißt der magischen Laterne im Anschauen der vorüberschreitenden Gestalten und Dinge. In solcher Art wird schwerlich so bald ein Deutscher mit der singulären Kunst der Engländer wetteifern können, die Sachen selber gewissermaßen sprechen zu machen. Eine Bedeutung anderer Art gewinnen solche Sammlungen, wenn sich in dem bunten Wechsel der Gegenstände die Einheit des Charakters, die Einheit des Gedankens ausprägt. Diese „Kleinen Schriften" des Philosophen der „Logischen Untersuchungen" und des „Naturrechts auf dem Grunde der Ethik" sind ein Muster einer solchen Gattung. Hier herrschen eine bewußte geschlossene Persönlichkeit und eine einfach und fest gefügte Gedankenordnung über jeden Stoff, welchen wechselnde Gelegenheiten boten, zuweilen wohl aufdrangen. So sind sie ganz dazu angetan, die gesunde und männliche Weltansicht Trendelenburgs, welche den Geist der Griechen atmet, auch in weitere Kreise zu tragen. Die Aufsätze zerfallen in drei Gruppen. Die nach Umfang und Gehalt hervorragendste Gruppe entwickelt die Idee von Recht und Staat und führt sie in das einzelne unserer preußischen Geschichte und Verfassung. Die zweite entwickelt die Aufgabe der Universität und Akademie und beleuchtet durch sie die Geschichte und Gegenwart der Berliner Universität. Die dritte erörtert das Wesen der Kunst an kunstgeschichtlichen Stoffen. Die Aufgaben sind mehrfach durch Trendelenburgs Stellungen als Sekretär der Akademie und Rektor der Universität gegeben. Es mag untunlich gewesen sein, den akademischen Stil aus einigen dieser Reden auszumerzen. In diesem Fall hätten wir zum Beispiel auf den Aufsatz „Die Akademie der Wissenschaften unter der Regierung Friedrich Wilhelms I V . " lieber verzichtet. Es hat etwas Mißliches, wenn hier die vom Bestände der Akademie gänzlich unabhängigen Leistungen ihrer Mitglieder als Ganzes einer Wirksamkeit der Akademie selber aufgefaßt werden. Ihr Verdienst liegt doch hauptsächlich in den großen Arbeiten, welche ohne sie nicht hätten zustande kommen können, wie den großen Inschriftenwerken und dem Aristoteles, dessen neuerdings hervortretender Index von Bonitz ein unschätzbarer Fortschritt für die Geschichte der alten Philosophie ist. Auch die „Erinnerungen der Universität und die Höhe des akademischen Studiums" scheint uns zu ausschließlich den Räumen der Universität anzugehören, um hier ihren geeigneten Ort zu finden. Den Betrachter unserer politischen Entwicklung werden die Stellen fesseln müssen, in welchen die reifste vergleichende Betrachtung von Recht und Staat
Trendelenburgs „Kleine Schriften" (1872)
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inmitten der Schwankungen der letzten Jahrzehnte mit unbeirrbarer Sicherheit die Aufgaben des preußischen Staats bezeichnet. In die Wirren von 1849 hinein ruft der Vertreter der Akademie: „Möge die Politik im Wechsel der Ereignisse das Königtum bewahren gleich der ruhenden Achse, um welche die Bewegungen schwingen. Wo die Umwälzungen audi diesen festen Halt in die Schwankungen oder gar den Untergang hineinrissen, da büßten dies immer die Völker in wirbelnden, sich überschlagenden Bewegungen. Möge Preußen aus seiner Geschichte lernen, was es an dieser beharrenden und im Beharren bewegenden Macht seines Königtums habe, und Preußen, noch ein werdender Staat, bleibe dessen eingedenk, daß es in seinen Fürsten seinen Ursprung hat. Es gilt auch hier der vom staatskundigen Altertum ausgesprochene Gedanke, daß sich ein Staat auf dem Wege, mit welchem er erzeugt ist, audi am sichersten erhalte und befestige." Die rechtsphilosophischen, ästhetischen und pädagogischen Aufsätze bedürfen keiner Hinweisung. Sie sind Anwendungen der Grundgedanken Trendelenburgs, und sie werden den Einfluß dieser gesunden Philosophie verstärken, welche an den höchsten philosophischen Kräften unserer europäischen Entwicklung genährt ist. Dagegen möchten wir die Leser dieser Zeitschrift auf den Kreis von Abhandlungen besonders aufmerksam machen, welcher den Staat Friedrichs des Großen in einigen hochwichtigen Beziehungen darstellt. Sie ruhen auf eingehenden archivalischen Studien. Den Preis unter ihnen trägt offenbar die Abhandlung davon „Friedrich der Große und sein Großkanzler Samuel von Cocceji. Beitrag zur Geschichte der ersten Justizreform und des Naturrechts". Sie fügt in unsere Kenntnis der Wirkungen des Naturrechts auf die Gesetzgebungen und Verfassungen des neueren Europa ein wichtiges Glied ein. Die sophistische Darlegung der Stellung des Naturrechts in Stahls berühmtem Werk, welche selbst hervorragende, aber mit der Geschichte der philosophischen Arbeiten nicht vertraute Forscher verwirrt hat, beginnt mit solchen Arbeiten gegründeter historischen Einsicht zu weichen.
Β. Dilthey zuzuschreibende Abhandlungen
Zur Philosophie des Rechts Adolf Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. Leipzig 1860. Bei der natürlichen Wechselwirkung zwischen den Richtungen und Bewegungen des politischen Lebens und den in der Stille der Gemüter sich erzeugenden Gedanken, die auf jene Richtungen einen Einfluß ausüben, darf es als ein günstiges Verhältnis angesehen werden, wenn die Philosophie ihres Berufes eingedenk bleibt, den Gedankenkreis, der sich auf die großen und vielfach verwickelten Begriffe von Recht und Staat bezieht, zu bestimmen, zu läutern und ihm in ethischen Uberzeugungen feste Haltepunkte darzubieten. Werke, welche in ernster und umfassender Weise die Aufmerksamkeit des denkenden Teils der Nation auf diese Gegenstände lenken, können in demselben Maße für die Kräftigung und Veredlung des öffentlichen Lebens wirken, als es ihnen gelingt, die ethischen Zielpunkte desselben zum klaren Bewußtsein zu bringen, vorausgesetzt, daß sie ein Publikum finden, welches die Resultate solcher Untersuchungen nicht bloß als theoretische Ansichten, sondern als Motive des Handelns sich anzueignen befähigt ist. Aus diesem Gesichtspunkt verdient das oben genannte Werk von Trendelenburg neben manchen anderen gleichzeitig erschienenen Schriften über denselben Gegenstand eine vorzugsweise Beachtung. Die Einsicht in die innere Unhaltbarkeit einer Ansicht, die darauf ausging, das Recht von dem gemeinsamen Boden des Sittlichen loszulösen und die Rechtsphilosophie als ein System von Bestimmungen hinzustellen, für deren Erfüllung nach Fichtes Ausdruck auf den guten Willen ganz und gar nichts ankommen sollte, hat sich, zum Teil früher als die Wasserfluten des älteren Naturrechts aus der Kantischen Periode sich verlaufen hatten, vielfach geltend gemacht. In dem Bemühen, dem Recht seine Stellung auf dem Boden der Ethik wiederzuerobern, begegnen sich Hegel und Herbart, Stahl und Ahrens, ohne daß gleichwohl dadurch sehr große Verschiedenheiten in der Lösung der darin liegenden Aufgabe ausgeschlossen wären. Abgesehen von der Zurückführung aller Rechtsinstitute auf die „von Gott gesetzte Ordnung" ebenso wie von dem dialektischen Prozeß der Idee, der das Recht als eins der Momente ihrer Selbstbewegung auftreten und schließlich in der absoluten Macht des Weltgeistes wieder untergehen läßt, kann die Begründung des Rechts durch die Ethik zunächst einen doppelten Sinn haben, entweder den, daß das Recht nicht nur seinen Inhalt aus der Gesamtheit ethischer Zwecke abzuleiten habe, sondern daß auch die ihm eigentümliche Autorität aus dieser Beziehung auf ethische
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Zwecke herstamme, daß es somit lediglich Mittel und Werkzeug in dem Ganzen der sittlichen O r d n u n g sei; oder der, d a ß dem Recht an sich selbst, also abgesehen von anderen sittlichen Ideen, die Bedeutung einer sittlichen Idee innewohne, so daß die Rechtsphilosophie zunächst diese Bedeutung zu bestimmen und in ihren Konsequenzen zu entwickeln hätte. Es ließe sich noch ein dritte Ansicht denken, welche die beiden ebengenannten Grundgedanken verbände, nämlich die, daß das Recht zwar keineswegs bloßes Werkzeug, sondern ein wesentlich mitbestimmendes Glied der sittlichen Ordnung, aber gleichwohl fähig und bestimmt sei, einen von anderen sittlichen Zwecken dargebotenen Inhalt in sich aufzunehmen und diesen Zwecken dadurch einen Schutz zu verleihen, dessen sie ohne die Form des Rechts entbehren würden. Trendelenburg entscheidet sich f ü r die erste dieser Ansichten; er definiert das Recht als „den Inbegriff derjenigen allgemeinen Bestimmungen des Handelns, durch welche es geschieht, daß das sittliche Ganze und seine Gliederung sich erhalten und weiterbilden k a n n " (Seite 76), und diese Definition bezeichnet den Mittelpunkt des Gedankenkreises, den das Werk vor dem Leser ausbreitet; alle speziellen Erörterungen desselben sind bestimmt, auf ihn als das gemeinschaftliche Zentrum zurückzuverweisen. Es würde ziemlich nutzlos sein, etwa durch Angabe der Überschriften die Reihenfolge dieser Erörterungen kenntlich zu machen; der Leser wird finden, daß das Werk nicht bloß den Charakter eines innerlich zusammenhängenden Ganzen trägt, sondern auch umsiditig nach Vollständigkeit in Beziehung auf die mannigfaltigen Gebiete und Verhältnisse des Rechts und Staatslebens strebt. Statt daher Einzelheiten aus dem reichen Inhalt des Buchs herauszugreifen, sei es erlaubt, die allgemeinen Grundbestimmungen unseren Lesern vorzuführen, welche f ü r das Werk maßgebend sind. Wir meinen darunter die allgemeine ethische Begründung und die Formel f ü r das ethische Prinzip; die Art, wie der Verfasser den Rechtsbegriff bestimmt und endlich seine Auffassung des Staats. Der Verfasser hat sich der wissenschaftlichen Verpflichtung nicht entzogen nachzuweisen, wie aus dem ethischen Prinzip und innerhalb des Sittlichen die Idee des Rechts gerade in der von ihm aufgestellten Bedeutung gefunden werde (Seite 21). Er geht von dem Gedanken aus, d a ß eine Ethik überhaupt nur innerhalb der organischen Weltansicht möglich sei, d . h . derjenigen, nach welcher der bewußte Gedanke als das Ursprüngliche vor der blinden Kraft steht und diese regiert. „Nach der organischen Weltanschauung ruht das Wesen der Dinge in einem schöpferischen Gedanken; und es kann daher das ethische Prinzip so gefaßt werden, die Dinge nach der göttlichen Bestimmung zu nehmen und zu behandeln . . . [Aber] dieser Gedanke . . . ist f ü r das Maß des ethischen Prinzips zu weit, f ü r welches in erster Linie nicht die innere Zweckmäßigkeit der uns fremden und schwer erkennbaren äußeren Dinge das Bestimmende sein kann. . . . Es kann dem Menschen keine andere Aufgabe gegeben sein, als die Idee seines Wesens zu erfüllen." Es handele sich also darum, die Idee des Menschen zu bestimmen, was in die Psychologie zurückführe. N u n erscheine, wie in allem Organischen ein Trieb zum Dasein, so im Menschen zunächst ein Begehren als sein Grundwesen. „Dort ist der Gedanke sich selbst verborgen, höchstens blind empfunden; im Menschen gelangt er zum Selbstbewußtsein. Die Wechselwirkung des Denkens mit dem Begehren und der
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Empfindung, das bewußte Allgemeine in seiner Wirkung auf die blinden Regungen des Besonderen bildet das menschliche Eigentümliche. Indem das Allgemeine zur Herrschaft aufsteigt und nach und nach die Richtungen des Eigenlebens durchdringt, so daß der Gedanke das Begehren und Empfinden erhebt und wiederum das Begehren und Empfinden den Gedanken treibt und belebt, wird die sinnliche Wahrnehmung und die egoistische Ideenassoziation zur Erkenntnis des Wesens, das blinde Begehren zum Willen, die Empfindung zum Gefühl, die Tätigkeit des Instinkts zum Handeln und Bilden. Während das Organische in der Natur von dem ihm selbst fremden Gedanken gebunden ist, so erscheint das Ethische, indem der Mensch den schöpferischen Gedanken seines Wesens erkennt und will, als das freigewordene Organische. Der Einzelne würde für sich allein im blind Organischen beharren, und jene Erhebung und Befreiung ist für den Einzelnen nur in der Gemeinschaft möglich. Die Gemeinschaft hingegen ist die Darstellung dessen, was in der Idee des Menschen liegt, aber aus dem vereinzelten Menschen nimmer herauskäme, in einem bleibenden, sich fortsetzenden und erneuernden Ganzen . . . Die wachsende Verwirklichung der Idee des Menschen ist der Impuls der Weltgeschichte — und der einzelne Mensch ethisiert sich nur in diesem großen Zusammenhang... [Seine Aufgabe bleibt immer] die Eine, an dem gegebenen Stoff das in der Idee sich immer gleiche menschliche Wesen auszuleben und ihm die edle Form desselben aufzuprägen . . Das Prinzip der Ethik ist also das menschliche Wesen an sich, d. h. das menschliche Wesen in der Tiefe seiner Idee und im Reichtum einer historischen Entwicklung, das ideale Menschenwesen, „der Mensch im großen S t i l . . . , im Stil der göttlichen Idee, welche ihre Züge der Weltgeschichte einzeichnet" [Seite 37—41]. Es mag dahingestellt bleiben, ob das, was der Verfasser organische Weltanschauung nennt und was man mit Vermeidung des dunklen Begriffs des Organischen auch als teleologische oder religiöse bezeichnen kann, die ausschließende Bedingung der Anerkennung ethischer Wertbestimmungen ist; vielleicht ließe sich noch nachweisen, daß erst durch diese Anerkennung die theoretische Weltansicht über die Annahme eines gedanken- und zwecklosen Mechanismus hinausgehoben werden kann. Auch darauf wollen wir nicht ausführlich eingehen, ob die sehr natürliche Verknüpfung des Ethischen mit dem Psychischen eine Begründung der Ethik durch die Psychologie einschließe. Möge immerhin das Grundwesen des Menschen ein zum Bewußtsein kommendes Begehren sein und möge die hinzutretende Allgemeinheit des Denkens, indem dieses „zur Herrschaft aufsteigt", immerhin die vom Verfasser bezeichneten Wirkungen ausüben, so vermissen wir hier, wo es sich um eine Ableitung des Ethischen aus diesem psychischen Vorgang handelt, eine Aufklärung darüber, ob die dadurch herbeigeführte Verwandlung des blinden Begehrens in ein Wollen auch schon die Verwandlung desselben in ein wahrhaft gutes Wollen einschließe. In der obigen Deduktion liegt zunächst nichts als die Hinweisung auf die Allgemeinheit des Denkens und seine Wirkungen; soll diese Allgemeinheit etwas Wertvolles bezeichnen, so ist dies nur dadurch möglich, daß man ihr den Begriff dessen substituiert, was intellektuell oder ethisch Anspruch auf Allgeme'mgültigkeit hat, und wenn es nicht bloß als eine Wesensäußerung, sondern als die „Aufgabe", die der einzelne in der Gemeinschaft zu lösen habe, hingestellt wird, das „ideale Menschen-
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wesen auszuleben", so ist dieses „ideale Menschenwesen" nur der summarische Ausdruck f ü r die Gesamtheit alles dessen, worüber man ein bestimmtes Bewußtsein schon haben müßte, um jener Aufgabe überhaupt einen Inhalt zu geben. Wir überlassen es unseren Lesern, ob sie in der Berufung auf die „Idee des Menschen" etwas mehr zu finden imstande sind als einen abbreviierten Ausdruck f ü r die Gesamtheit stillschweigend vorausgesetzter sittlicher Wertbestimmungen, der ganz ähnlich wie Kants kategorischer Imperativ nur dann fähig sein würde, den Rang eines ethischen Prinzips, d. h. eines unveränderlichen Maßstabs der ethischen Werte, zu behaupten, wenn es möglich wäre, aus dem allgemeinen Begriff des ethisch Wertvollen das zu entwickeln, was im Umfange dieses Begriffs liegt und als der Ausdruck des sittlichen Werts Gegenstand der sittlichen Wertschätzung ist. Wenigstens das vorliegende Werk macht keinen Versuch dieser Art, man müßte denn diese (wie uns scheint unmögliche) Aufgabe durch die Erklärung gelöst finden: „die Eine Idee scheidet sich in viele Ideen, der Eine innere Zweck in viele (untergeordnete) Zwecke" (Seite 42). Wenn daher der Verfasser im Verlauf des Werks sich vielfach auf Begriffe und Ideen beruft, deren sittliche Gültigkeit niemand bestreiten oder auch nur leise bezweifeln wird, wie die Gerechtigkeit, das Wohlwollen, die Weisheit, die Tapferkeit, die Gottesfurcht und so fort, so mag sich der Leser darüber entscheiden, ob Gerechtigkeit und Wohlwollen, Tapferkeit und Gottesfurcht darum vortrefflich sind, weil sie der Idee des Menschen, dem idealen Menschwesen entsprechen, oder ob man darüber, was diese Idee des Menschen an ethischem Gehalt, an sittlicher Würde einschließt, erst dadurch etwas erfährt, daß man des sittlichen Vorzugs innewird, welcher der Gerechtigkeit und Tapferkeit an sich und im Gegensatz zur Ungerechtigkeit und Feigheit usw. gebührt. Diese Unbestimmtheit des ethischen Prinzips droht nun einer Ansicht, welche das Recht lediglich als Mittel zur Bewahrung und weiteren Entwicklung des sittlich Erreichten bestimmt, insofern alle festen Haltepunkte zu entziehen, als die Bestimmtheit der sittlichen Zwecke, in deren Dienst das Recht stehen oder genommen werden soll, im Prinzip selbst nicht liegt. Gleichwohl hat dieses ungünstige Verhältnis, wenn man nicht auf die schulgerechte Strenge der logisdien Deduktion ein sehr bedeutendes Gewicht legen will, auf die Ausführung nicht die Wirkung, daß dadurch der sittliche Gesamteindruck des Werks wesentlich beeinträchtigt würde, und zwar vielleicht aus folgenden Gründen. Zuvörderst ist die Ubereinstimmung über das sittlich Wertvolle denn doch im Grunde viel größer, als die Verschiedenheit in der Formulierung der ethischen Prinzipien sollte erwarten lassen, und die H i n weisung auf sittliche Zwecke und Zielpunkte kann darauf rechnen, in dem sittlichen Gesamtbewußtsein ziemlich ausreichende Anknüpfungspunkte des gemeinsamen Verständnisses zu finden. Steigen solche Hinweisungen herab zu den konkreten Verhältnissen des menschlichen Lebens, geht man auf die Frage ein, inwiefern dergleichen Verhältnisse und Einrichtungen nach dieser oder jener Seite hin eine sittlich wohltätige oder nachteilige Wirkung ausüben — und gerade darin besteht ein Hauptverdienst des Werkes, daß es die einzelnen Rechtsgebiete und Rechtsinstitute auf diese Frage hin untersucht —, so sind diese Wirkungen durch so viele Mittelglieder und Umstände, die nicht in der sittlichen Idee allein, sondern in den 25
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empirischen Lebensverhältnissen wurzeln, bedingt, daß die Erwägung der hier zusammenwirkenden Faktoren von einer mehr oder weniger bestimmten Formulierung des ethischen Prinzips nicht überall gleich wesentlich abhängt. Überdies sind diese Mittelglieder nicht nur sehr mannigfaltig, sondern auch veränderlich; die sittliche Kultur und der Ausdruck, den sie zum Teil in den Rechtsinstituten findet, hat ihre Geschichte, und die Beziehung des Rechts auf die sittliche Gesamtaufgabe ist für jede bestimmte Zeit und für jede bestimmte größere Menschengruppe durch die gerade jetzt und hier vorhandenen Bedingungen des sittlich Erreichbaren verschiedenartig bedingt. Es ist deshalb keineswegs undenkbar, daß bei vollkommenem Einverständnis über die Formel des ethischen Prinzips die Ansichten über die ethische Bedeutung bestimmter Rechtsinstitute ziemlich weit auseinandergehen und daß umgekehrt, trotz der Verschiedenheit der Ansichten über die Formel des ersteren, doch über den sittlichen Gehalt der letzteren Einverständnis herrschte. Entwickelt man sich nun den vom Verfasser an die Spitze gestellten Begriff des Rechts, so liegt darin dreierlei: erstlich, die Idee des Rechts ist keine selbständige ethische, sondern nur ein Mittel zur Bewahrung und Weiterbildung des sittlich Erreichten; sodann, das Motiv der Rechtsbildung liegt ausschließlich in der Beziehung der Rechtsinstitute auf sittliche Zwecke endlich, das Recht hat eine Bedeutung nur innerhalb eines sittlichen Ganzen und seiner Gliederung, d. h. im Sinne des Verfassers nur innerhalb des Staats. Den ersten Satz spricht der Verfasser in dieser negativen Form nicht gerade ausdrücklich aus; er ist aber in der positiven Formel, durch welche er den Begriff des Rechts bezeichnet, unvermeidlich mitgesetzt. Rücksichtlich der beiden anderen Sätze mag es genügen, die eigenen Bestimmungen des Verfassers anzuführen. „Aus demselben Geiste, aus welchem die Pflichten entstehen, . . . entsteht das Recht . . . Die ordnende Gerechtigkeit kann schöpferisch erscheinen; genau genommen geht sie nur dem schöpferischen Leben nach" (Seite 71). Hinter den Verneinungen, der negativen repulsiven Tätigkeit des Rechts, liegt „als positiver Ursprung die volle Energie des Sittlichen". „Alles Recht, sofern es Recht und nicht Unrecht ist, fließt aus dem Triebe, ein sittliches Dasein zu erhalten" (Seite 76). „Alles Recht steht organisch und ethisch auf der Voraussetzung eines Ganzen in der Gemeinschaft" (Seite 157). Die Entscheidung der Frage, ob der Rechtsbegriff eine selbständige ethische Bedeutung oder nur die eines Mittels zu ethischen Zwecken habe, ist nun gewiß für die Rechtsphilosophie geradezu maßgebend. „Mag es ein Segen des Guten sein, daß es zugleich das Nützliche ist", sagt der Verfasser Seite 176 einmal gelegentlich, „das Gute wird seiner Würde beraubt, wo es nur das Nützliche ist und nur um des Nutzens willen gewollt wird." Was aber lediglich einem fremden, nicht in ihm selbst liegenden Zwecke dient, ist nur nützlich, und der Glanz, der dadurch auf die Rechtsidee zu fallen scheint, ist nur ein geliehener. Nun wird man sich zwar bescheiden müssen, daß in ethischen Dingen ebensowenig wie in logischen oder mathematischen eine Deduktion ins Unendliche rückwärts möglich ist; aber es will uns vorkommen, als berufe sich der Verfasser selbst und zwar an sehr wichtigen Orten auf ein Rechtsbewußtsein, welches sich sehr ernsthaft dagegen sträuben würde, das Recht lediglich als ein Mittel für andere Zwecke, und seien es immerhin die sittlich
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höchsten, zu betrachten. Der Verfasser nennt Seite 389 das Recht „des Volkes sittlichstes Gut", das nicht wie ein blindes Schicksal über den einzelnen kommen dürfe; der ganze Abschnitt über die Rechtspflege ist von dem Gedanken durchdrungen, d a ß die innere Würde derselben von ihrem N u t z e n unterschieden werden müsse. Und wirklich, wenn man zur Prüfung, ob die Definition des Rechts adäquat sei, die Probe ihrer reinen Umkehrung macht und die Frage so stellt: sind alle allgemeinen Bestimmungen des Handelns, von welchen sich nachweisen läßt, daß das sittliche Ganze und seine Gliederung durch sie sich erhalte und weiterbilde, auch schon Recht, so würde ein gewissenhafter Richter vielleicht gestehen, es sei höchst wünschenswert, vielleicht sogar sittlich notwendig, daß dergleichen Bestimmungen rechtliche Geltung erhalten, ohne doch diesem sittlichen Bedürfnis auf seinen Richterspruch einen Einfluß zu gestatten. Es fehlt in diesen Fällen die Form des Rechts, und f ü r das Recht als solches ist gerade diese Form das Wesentliche. „Abgesehen von allem Inhalt", heißt es Seite 85, „bildet die Anerkennung des Rechtes, inwiefern es nur als offenkundiger Ausfluß seines gesetzmäßigen Ursprungs sittliche Macht ist, die Idee des förmlichen Rechts". Dem Gewohnheitsrecht wird Seite 81 ein hoher sittlicher Wert beigelegt, weil bei ihm die Anerkennung, von Vater auf Sohn vererbt und befestigt, nicht selten innerlicher und stärker sei als bei der Macht des äußeren Befehls; erst der anerkannte Besitz wird Eigentum (Seite 167); ein Grund der Stärke der Geschworenengerichte liege darin, daß der Angeklagte die Richter anerkannt habe (Seite 405). Wie, wenn gerade in dieser Anerkennung, gleichviel welches die Motive und die Gegenstände derselben wären, das läge, was den Verhältnissen wollender Wesen den spezifischen Charakter eines Rechtsverhältnisses gibt? Wo von der Entstehung von Rechtsverhältnissen zwischen unabhängigen Staaten die Rede ist (Seite 527), erkennt dies der Verfasser sogar in einem weiteren Umfange an, als f ü r welchen es eine genaue Abwägung zuzugestehen genötigt sein würde. „. . . in der sittlichen Welt", heißt es da, „[ist] nicht bloß der Bestand, sondern der anerkannte Bestand eine wesentliche Forderung. Denn erst dadurch wird der Bestand, der sich sonst nur physisch durch die räumlich und zeitlich gegenwärtige Macht behaupten könnte, eine ethische Macht, . . . indem der anerkannte Zweck des einen zu einer zugestandenen Pflicht des anderen wird . . . Im Praktischen (d.h. hier: in dem Verhältnis der Staaten zueinander) liegt hinter der Anerkennung der Zwang der Macht und der zustimmende oder doch der sich fügende Wille. Aber die Unterwerfung allein tut's nicht; der beitretende Wille muß hinzukommen . . . In diesem zustimmenden Willen liegt ein Moment der Freiheit, der nur erzwungen auf einer Stufe steht, welche wenig Gewähr bietet, aber selbst erzwungen die Gründung eines Rechts bedingt" (Seite 527 f.). Wenn wirklich Rechte selbst durch erzwungene Zustimmung gegründet und die anerkannten Zwecke des einen nicht bloß Pflichten überhaupt, sondern Rechtsverbindlichkeiten f ü r den anderen werden, so liegt darin eine selbständige Bedeutung der Rechtsidee, die nicht erst von der Entscheidung darüber abhängt, ob die anerkannten Zwecke einen sittlichen Gehalt haben. Aber da erzwungenen Zugeständnissen denn doch etwas von der Strenge der Verbindlichkeit fehlt, lassen sich nicht Verhältnisse denken und kommen nicht solche Verhältnisse tagtäglich vor, wo die Willen un25*
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gezwungen in dergleichen rechtlich verpflichtende Beziehungen treten? „Im Verkehr, dem Feld der Verträge", sagt der Verfasser Seite 219, „wahrt das Recht die sittlichen. Voraussetzungen, soweit sie dem Allgemeinen angehören, und zwar als Grundbedingung Treue und Glauben". Aber Treue und Ehrlichkeit sind, ganz unabhängig von der Beziehung entweder auf das gesellschaftliche Ganze oder andere ethische Zwecke, an sich selbst einer der primitivsten Ausdrücke der rechtlichen Gesinnung. „Treue und Glauben im Geschäft, die Konsequenz des Worts", heißt es Seite 331, „und pünktliche Erfüllung der Verbindlichkeit ist die rechtliche Gesinnung, welche den Stand der Kaufleute belebt." Wenigstens soll sie ihn beleben, aber nicht bloß den Stand der Kaufleute soll sie beleben, sondern jeden, den Bauer wie den Fürsten. Gerade diese Forderung bezeichnet den ethischen Gehalt der Rechtsidee, unabhängig von jeder anderen ethischen Forderung. „Darum steckt im Recht etwas, was, durch kein Geld meßbar, nur durch sich selbst gemessen wird", heißt es Seite 388 sehr treffend; es steckt in ihm aber auch etwas, was durch keine andere sittliche Forderung gemessen wird, sondern seine eigene sittliche Signatur hat. Es scheint uns überdies bedenklich, Rechte und Rechtsverbindlichkeiten ohne weiteres durch die Hinweisung auf die sittliche Gesamtaufgabe gründen zu wollen; denn die Ansicht vom Recht greift tief hinein in das Staatsleben, wo es nicht bloß darauf ankommt, daß die Macht vorhanden sei und diese allenfalls auch das Gute wolle, sondern sehr wesentlich darauf, ob sie das Recht zu einer bestimmten Art des Handelns habe. Man kann mit dem Verfasser vollkommen darüber einverstanden sein, daß die Auffassung des Staats als einer bloßen Rechtsanstalt zu eng und einseitig sei; die praktische Beantwortung der Frage: worauf beruht das Recht der gerade vorhandenen Macht, gibt es gewisse Formen und Schranken der berechtigten Ausübung derselben und welche sind diese? bezeichnet eines der wichtigsten Momente für die Gestaltung des Staatslebens, nicht deshalb, weil die Form des Rechts die Willkür unmöglich machte, sondern deshalb, weil es ohne sie an jedem Unterscheidungsmerkmal zwischen der berechtigten und unberechtigten Ausübung der Macht fehlen würde. Von diesem Gesichtspunkt aus wird man auch schwerlich damit einverstanden sein können, wenn der Verfasser rücksichtlich der Teilnahme des Volks an der Gesetzgebung in der repräsentativen Monarchie sagt: „Gegen diesen realen Begriff der Freiheit, in dem Inhalt der Gesetze begründet, tritt selbst die formale Freiheit des Volkes, seine mittelbare oder unmittelbare Beteiligung an dem Ursprung der Gesetze, an der gesetzgebenden Gewalt, zurück" (Seite 382). Es widerstreitet eben dem Rechtsgefühl eines sich als politisches Ganzes fühlenden Volks, daß die Quelle des Rechts, welches es zu achten haben soll, lediglich ein fremder Wille sei, und es ist keine sittlich leere Eitelkeit, wenn ein Volk, das bis zu dem Entwicklungspunkt gediehen ist, wo es zum Heil des Ganzen gereicht, wenn die Macht im Staate sich an rechtliche Bedingungen und Schranken bindet, darin seinen Stolz, seine politische Ehre setzt, daß sein Urteil, sein Wollen dabei sein muß, wenn etwas als seine Rechtspflicht gelten soll. In der Idee des Menschen, um mit dem Verfasser zu sprechen, liegt auch ein Widerstand gegen die Zumutung, die Vorschriften eines fremden Wollens bloß als solchen als Rechtspflicht zu respektieren; der ideale Mensch beugt sich gern und willig vor einer Idee, aber nicht vor
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einem Willen bloß als solchem! Die Biegsamkeit vor einem Willen als solchem dagegen, welche nicht nach dem Recht fragt, wenn sie nur ihren Vorteil findet, ist die breite Basis der Gemeinheit, auf welcher — und nidht auf den ethischen Ideen — seit Anbeginn der Geschichte so viele „politische Ordnungen" geruht haben, so lange eben die Basis aushielt. Wir wagen nicht zu entscheiden, inwiefern auf die Art, in welcher das vorliegende Werk nicht nur den Inhalt, sondern auch die Autorität des Rechts lediglich von der Beziehung auf andere sittliche Zwecke abhängig macht, der Umstand eingewirkt habe, daß die ganze Untersuchung über das Recht auf die Art und Weise beschränkt ist, wie es im Staat, bewaffnet mit der Macht desselben, auftritt, wobei trotz der Hinweisung auf die Pflichten der Macht, die Frage nach dem Recht derselben nicht ausdrücklich aufgeworfen wird, man müßte denn den Seite 74 ausgesprochenen Satz: aus jeder Pflicht fließt ein Recht, das Recht, die Pflichten erfüllen zu dürfen, f ü r eine genügende Erledigung derselben halten. Rechte im subjektiven Sinne werden von vornherein (Seite 71) f ü r abhängig erklärt von den Bestimmungen der Gesetze, deren einheitlicher Ausdruck das Recht im objektiven Sinne sei; der Zwang, mit welchem das Recht seinen Willen durchsetzt, wird (Seite 72) durch die Erklärung eingeführt, er stamme aus der sittlichen Macht des Ganzen gegen die Glieder und habe sein Maß in dem Zweck des Sittlichen, wenn auch später (Seite 93) ausgeführt wird, daß durch ihn das Recht nur in dem Sinne einer indirekten Gewöhnung des Menschen in das Gute der Gesinnung zu erheben vermöge. Weil alles Recht organisch und ethisch auf der Voraussetzung eines Ganzen in der Gemeinschaft stehe, müsse festgehalten werden, daß Rechtsverhältnisse einzelner eine bloße Vorstellung seien: „Alles, was sie sind und haben, [sind und haben sie] nur in dem umfassenden Ganzen . . ., welches die Macht mit dem Recht und das Recht mit der Macht v e r e i n i g t . . . Wo es sich vom Rechte handelt, ist die Unterordnung unter die Macht eines solchen Ganzen stillschweigende Bedingung" (Seite 157). Privatverträge setzen die Rechtsgemeinschaft voraus (Seite 301). Die Notwendigkeit, welche sich die einzelnen im Vertrag auflegen, wird vom Ganzen durch das Recht gewährleistet; „ohne diesen Zwang, welcher nur im Staate möglich ist, könnte die einseitige Erfüllung eine Schwächung und Beeinträchtigung des erfüllenden Teils werden" (Seite 186). Wenn aber die eigentlich rechtliche Gesinnung des ehrlichen Mannes sich dadurch zu erkennen gibt, daß er seine vertragsmäßig eingegangenen Verbindungen erfüllt, möge immerhin die Erfüllung eine Beeinträchtigung f ü r ihn einschließen, ohne an den dahinterstehenden Zwang auch nur zu denken, und wenn Verträge zwischen Staaten, die sich von Privatverträgen dadurch unterscheiden, d a ß es eine über den Parteien stehende Macht gibt, welche die Erfüllung des Vertrages gewährleistet (Seite 520), dennoch Rechtsverbindlichkeiten begründen, so sollte eine Untersuchung über den RechtsbegrifT sich doch zu der Anerkennung bewogen finden, daß die Bedeutung der Idee als solcher nicht abhängig ist von der Größe des Gebietes, auf welcher sie angewendet wird, und daß der Staat mit seiner Macht sich so gut, wie der einzelne gefallen lassen muß, nach ihr beurteilt zu werden. Es handelt sich hier eben um die Dignität eines ethischen Gedankens; steht dieser fest, so mag man sich nach den Bedingungen seiner Verwirklichung umsehen; ob
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aber der Rechtszwang so in Bausch und Bogen aus der sittlichen Macht des Ganzen gegen die Glieder hervorgehe, ist denn doch schon der Sorgfalt gegenüber, mit welcher eine nur leidliche Gesetzgebung die Bedingungen, Formen und Grade des Zivilzwangs und des Kriminalzwangs bestimmt und unterscheidet, mehr als zweifelhaft. Zwang und Strafe, sofern sie nur durch allgemeine ethische Gesichtspunkte bedingt sind, haben einen pädagogischen, einen rechtlichen Charakter. Überhaupt scheint der Satz, daß gewisse allgemeine Bestimmungen durch ihre Beziehung auf die sittliche Gesamtaufgabe den vollen Charakter von Rechtsinstituten erhalten, das Recht teils zu tief, teils zu hoch zu stellen; zu tief, weil er ihm eine selbständige ethische Bedeutung abspricht, zu hoch, weil er die Voraussetzung einschließt, daß die Rechtsbildung durchaus von ethischen Motiven getragen sei und daß das Recht keinen anderen Inhalt habe als den von ethischen Gesinnungen vorgezeichneten. Damit wird nicht geleugnet, daß der Gesichtspunkt, welchen der Verfasser als den allein und ausschließend maßgebenden geltend macht, f ü r die bewußtvolle Einführung und Ausbildung korrekter Rechtsnormen, also f ü r die Gesetzgebung in vielen Fällen geradezu entscheidend sein kann. Die Rechtsordnungen sind f ü r einen sehr verschiedenen ethischen Gehalt zugänglich; aber gerade da, wo es sich um die Veränderung des bestehenden, um die Einführung eines sittlich höherstehenden Rechts handelt, macht sich der Respekt, der gleichwohl dem bestehenden Recht gebührt, anderen sittlichen Anforderungen gegenüber oft in lästig eigensinniger Weise fühlbar, und die Entscheidung über den Rechtstitel einer Befugnis hängt nicht von dem Gewicht ihres anderweitigen sittlichen Wertes ab. In den Rechtsinstitutionen verschiedener Völker und Zeiten gibt sich im großen und ganzen der Grad und die Richtung nicht bloß ihrer sittlichen Kultur, sondern auch ihrer sittlichen Roheit und Barbarei zu erkennen, und selbst für verhältnismäßig hochstehende sittliche Kulturzustände scheint uns der Satz, daß alles Recht aus dem Triebe, das sittliche Dasein zu erhalten, fließe, die Wirklichkeit in ein unwahr verschönerndes Licht zu stellen. Was sich historisch in der Gestalt von Rechtsnormen konsolidiert hat, ist oft genug nur der schließliche Erfolg eines Kampfes sittlich undisziplinierter Begegnungen und Leidenschaften gewesen; dergleichen Rechtsgestaltungen reichen nicht nur oft hemmend in die Kulturzustände hinein, die höheren gesellschaftlichen Zwecken rechtliche Haltepunkte geben möchten, sondern Naturbedürfnisse und Naturverhältnisse, mit einem Worte die Not des Lebens, haben für die rechtliche Gestaltung der Verhältnisse des Privat- wie für die des Staatslebens fast überall und fortwährend einen allgemeineren und größeren Einfluß als eigentlich sittliche Motive; der Friede, die Ordnung, welche der Rechtszustand schafft, mag immerhin im Auge des philosophischen Beobachters „die Vorbedingung alles Sittlichen" sein (Seite 185), für die weit überwiegende Mehrzahl der Beteiligten selbst ist in den wenigsten Fällen diese Reflexion das Entscheidende, sondern sie empfinden diesen Frieden und diese Ordnung als eine Wohltat, weil sie ihnen f ü r die Sphäre ihres Daseins Sicherheit und so viel freien Spielraum gewähren, daß sie nicht fürchten müssen, in dem Gedränge der Menschen zerquetscht zu werden. Die sittlichen Seitenwirkungen, welche gewisse Rechtsordnungen möglicherweise haben, sind nicht immer ethisch beabsichtigte, ebensowenig als die sittlich
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nachteiligen Seitenwirkungen solcher Tätigkeiten, die aus ethischen Gesinnungen hervorgehen, sich in der Verwirklichung menschlicher Angelegenheiten immer ganz vermeiden lassen. An die Stelle der Erklärung, daß alles Recht aus dem Triebe, ein sittliches Dasein zu erhalten, fließe, könnte vielmehr eine ebenso schwierige als interessante Untersuchung treten, welche versuchte, die positiven Rechtsinstitutionen verschiedener Zeiten und Völker daraufhin zu analysieren, nicht nur, welcherlei und wieviel eigentlich sittlicher Gehalt in ihnen steckt, sondern auch inwieweit das, was als Recht gegolten hat, in einer dem Begriff des Rechts entsprechenden Weise entstanden sei und sich befestigt habe. In allen ethischen Dingen ist es von Wichtigkeit, die reine Zeichnung des Ideals abzusondern von der Analyse oder Konstruktion konkreter Zustände, in welchen das sittlich Wertvolle mit sittlich gleichgültigen oder unsittlichen Elementen vermischt ist. Das Ideal mag immerhin der bunten Mannigfaltigkeit des konkreten Lebens gegenüber farblos erscheinen; ohne diese Sonderung fehlt das sichere Maß der Vergleichung, und entweder gerät das Ideal in Gefahr, an seiner Strenge und Reinheit etwas einzubüßen, oder dem Wirklichen wird ein Wert beigelegt, den ihm eine sittlich ernste Beurteilung nicht durchaus zugestehen kann. Diese Gefahr liegt um so näher, je verwickelter der Gegenstand ist. Der komplizierteste Gegenstand auf diesem Gebiete aber ist der Staat, weil es fast keinerlei Art von Gesinnungen, Bestrebungen und Tätigkeiten gibt, die er nicht einschlösse. Die durchaus von dem strengen Ernste sittlicher Gesinnung getragene Erörterung, welche das Werk diesem Gegenstande widmet, ist nicht darauf angelegt, eine Physiologie des wirklichen Staatslebens zu sein; sie zeichnet vielmehr die idealen Umrisse des Staates und seiner Gliederung und weist seinen einzelnen Gliedern und Funktionen im Dienste der ethischen Gesamtaufgabe ihre Stellen und Bahnen an. Die Idee des Staats, sagt der Verfasser Seite 284ff., ist „Verwirklichung des universellen Menschen in der individuellen Form des Volkes"; der „Staat ist nur Mensch im großen", der kanonische Mensch. Der Staat soll „ein volkstümliches und geschichtliches Ganzes sein, bewußt und in sich selbständig, den Begriff des Menschen nach allen Seiten verwirklichend, in welchem die Glieder sich ihrer selbst und des Ganzen bewußt werden und in der Vernunft des Ganzen frei sind. Seine Macht ist die sich als Wille verwirklichende Vernunft." Er „ist die bestehende sittliche Ordnung, ohne welche der Mensch nicht Mensch wird. Mit dieser Notwendigkeit herrscht der Staat, erhaben über das Belieben des einzelnen, welchen er an seiner Macht und seiner Vernunft erzieht. Wer an den Staat H a n d anlegt, legt an die Bedingung alles Sittlichen H a n d " . „Der einzelne Mensch wird erst im Staate Person, und der Staat soll dieselbe Höhe erreichen, Person werden, nicht bloß juristische . . ., sondern sittliche Person durch das Volk, das, in ihm eins, durch ihn Vernunft und Willen hat. Der Staat wird der bessere sein, welcher, im sittlichen Sinne selbst Person, die in ihm begriffenen einzelnen, so viel an ihm ist, Person werden läßt" (Seite 286). So wird der Begriff des Staats in die Höhe der Idee einer sittlichen Gemeinschaft alles dessen, was würdig, schön, edel und groß ist, gehoben, von welcher der aristotelische Satz gelten mag, daß das Ganze früher ist als der Teil. Denn nicht nur das Bewußtsein der sittlichen Gesamtaufgabe, sondern auch die Vollständigkeit, Reinheit und
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Energie aller zu ihrer Erfüllung erforderlichen Gesinnungen und Einsichten müßten in allen Gliedern eines solchen Gemeinwesens dergestalt vorhanden sein, daß aus dem Begriff des Ganzen sich die Gliederung des einzelnen entwickeln und die Glieder selbst sich nur durch die Verschiedenheit ihrer Funktionen, durch eine Art sittlicher Arbeitsteilung unterscheiden könnten. Ob aber auf ein solches ethisches Gemeinwesen, auf diese „Verwirklichung der sittlichen Idee" der Name des Staates angewendet werden könne, ohne sehr wesentliche Merkmale, welche der Tatbestand der Geschichte diesem Begriff aufdringt, zu ignorieren, ist uns mehr als zweifelhaft. In dem wirklichen Staat — und es gibt keine anderen Staaten als wirkliche — spielt ein von dem Verfasser selbst auf das nachdrücklichste hervorgehobener Faktor, nämlich die Macht, und zwar zunächst die in äußeren Wirkungen fühlbare Macht, eine entscheidende Rolle, der in einer durchaus und wahrhaft sittlichen Gemeinschaft ebenso in seinen Grundlagen als in seiner Wirkungsart sich ganz anders gestalten würde. „Es ist", sagt der Verfasser Seite 296 f., „der allgemeine Gang in der menschlichen Entwicklung physisch wie psychisch, daß sich zwar der Zeit nach das Vernunftlose vor dem Vernünftigen, die vegetative Kraft vor den Sinnen, das bewußtlose Vermögen des Leibes vor dem selbstbewußten Geist, aber nach dem inneren Zweck das Bewußtlose für das Vernünftige, die blinde Kraft für den Geist entwickele, und zwar als die Grundlage des Höheren und die reale Bedingung des Idealen. In diesem Sinn ist das beständige und unveräußerliche Fundament des Staats, das zwar an sich noch blinde, aber notwendige, die in sich selbst ruhende Macht; sie ist das Erste und Letzte, ohne welche es keinen Staat geben kann. Erst wo sich über die Menschen eine sich selbst behauptende Gewalt gründet, welche ihnen als ursprünglich entgegentritt und nicht von ihnen abgeleitet ist, erst da ist ein Staat möglich." — „Macht [ist] das Erste und Letzte, worauf der Staat in seiner ethischen Entwicklung steht" (Seite 487). „. . . der Staat [muß] auf Macht wie auf einen Felsen gebaut sein . . . und . . . ohne Macht [gibt es] kein Vertrauen des Staats zu seinem eigenen Gesetz und keine Scheu anderer Staaten vor seinem Willen" (Seite 413). „Da dem Willen der Regierung teils der Wille der einzelnen bald zerstreut, bald massenhaft, teils der Wille anderer Staaten entgegensteht und nicht selten widerstrebt: so bedarf sie der Macht, um diesen Widerstand zu brechen, und der letzte Nachdruck ihres Willens liegt in der Kriegsmacht" (Seite 360). — Dieser in seiner ethischen Entwicklung auf die Macht als das Erste und Letzte gestellte Staat ist nun sehr weit entfernt von jenem rein idealen ethischen Gemeinwesen, in welchem die Glieder „sich ihrer selbst und des Ganzen bewußt und in der Vernunft des Ganzen frei sind." Denn die Macht würde überflüssig werden, wenn den vernünftigen Zwecken des gemeinsamen Lebens der Wille aller Glieder der Gesellschaft in sittlicher Freiheit entgegenkäme. Ja, selbst für den wirklichen Staat muß man die Frage aufwerfen, ob, abgesehen von seiner Stellung zwischen anderen Staaten, der innere Schwerpunkt desselben so ganz ausschließend in der gerade vorhandenen Macht liegt, wie die angeführten Sätze aussprechen. Eine schlechthin in sich selbst gegründete, ursprüngliche, von nichts außer ihr abgeleitete Macht hat es unter den Menschen niemals gegeben; von der Untersuchung über die Bedingungen der Macht, die darin liegenden Richtungen und Grenzen derselben und die davon
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abhängenden Gestaltungen und Umgestaltungen des politischen Ganzen hängt die Beantwortung der Frage ab, ob von der gerade vorhandenen Macht für die sittliche Entwicklung mehr zu hoffen oder mehr zu fürchten ist; ein Staat ist überdies nur dann gesund, wenn die Macht in ihm nur subsidarisch zu wirken braucht; es droht ihm innere Zerrüttung, wenn das Bedürfnis ihres Einschreitens die Grenzen einer bloß partikularen und sporadischen Notwendigkeit überschreitet, und mit dem Staate wäre es übel bestellt, in dessen Innerem es ohne die beständig hinter dem Gesetz stehende „Kriegsmacht" keine Achtung vor dem Recht und kein Vertrauen auf das eigene Gesetz mehr gäbe. Der Staat ist nicht bloß Schauplatz und Arbeitsfeld sittlicher Kräfte, sondern viel eher, als sich sittliche Forderungen in ihm geltend machen, Produkt einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit; sittliche Anforderungen durchkreuzen sich in ihm nicht nur unter sich, sondern auch mit den vorhandenen Naturgewalten, und aus dem wirklichen Staatsleben ist ein größeres oder kleineres Quantum nicht ethisierter, vielleicht sogar ganz unethisierbarer Kräfte und Verhältnisse nicht wegzuschaffen. Vertieft man sich lediglich in die Idee des Staates, ohne die Ursachen dieser bald in den niedrigen, bald in den höheren Regionen desselben übrigbleibenden Rückstände vor Augen zu legen, so kann leicht der Schein entstehen, als sei im Staat sittlich mehr erreicht, als wirklich erreicht ist, und weil der Begriff des Staats vorzugsweise an die Macht in ihm erinnert, so fällt dadurch auf die Macht ein sittlicher Glanz, der sich der Geschichte der Staaten gegenüber nur in seltenen Fällen rechtfertigen läßt. Jedoch, der Verfasser spricht am Schlüsse der Vorrede aus, daß der Lauf der Welthändel in unserer Zeit mehr an die alten Fabeln vom Wolf und vom Fuchs als an das Recht auf dem Grunde der Ethik glauben lehre, und im Verlauf, namentlich am Schluß des Werkes, weist er wiederholt und entschieden darauf hin, daß der sittliche Gehalt und die sittliche Festigkeit, deren ein Staatswesen fähig ist, abhänge von der sittlichen Reinheit und der sittlichen Energie aller in ihm vorhandenen, auf dem gemeinsamen Boden zu wirklich gemeinsamen Zwecken wirkenden Kräfte. Möge also der Begriff des sittlichen Ganzen, welchem sich zu nähern der Staat die die Aufgabe hat, für das Denken den Teilen vorausgehen; die Verwirklichung desselben kann nur in und mit der sittlichen Veredlung der Teile selbst Zustandekommen. Doch wir brechen ab; kein für den Ernst des Gegenstandes, dem das Buch gewidmet ist, empfänglicher Leser, wird von ihm anders als mit dem Gefühl persönlicher Hochachtung vor dem Verfasser scheiden; möge es dazu beitragen, den politischen Bildungstrieb auf die richtige Schätzung und Pflege der Zwecke und Tätigkeiten hinzuweisen, in denen allein die menschlichen Angelegenheiten ihre Würde und ihren Bestand haben.
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Schopenhauers Lehre und Leben Wilhelm Gwinner, Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgange dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Charakter und seine Lehre. Leipzig 1862. Es ist ein eigentümliches Porträt, welches Gwinner in seinem Werk über Schopenhauer uns zeichnet; wir gewinnen daraus den Eindruck, als sähen wir ein Dennersches Bild, welches jede Furche und' Falte, jedes Muttermal mit größter Treue wiedergibt, umgeben von einem blendenden Heiligenschein, wie ihn die ältesten christlichen Meister ihren Aposteln und Märtyrern zu leihen pflegten. Ein Philosoph, der die Sympathie mit jedem lebenden Wesen als das vornehmste Gebot seiner Ethik hinstellt, und eine schutzlose Frau aus unerheblicher Veranlassung zum Krüppel schlägt; der jede Gelegenheit ergreift, um die Leiden des menschlichen Lebens mit den grellsten und ergreifendsten Farben auszumalen, und nie von einer fast beispiellosen Furcht vor dem Tod, den er bald in Gestalt der Blattern oder der Cholera, bald in Form vergifteten Schnupftabaks oder eines Rasiermessers sich nahen sah, verlassen wurde; der tief durchdrungen war von der Nichtigkeit des menschlichen Daseins und mit Erfolg in Staatspapieren spekulierte, während Mutter und Schwester darbten; der lehrte, daß jedes Individuum ein gleichgültiges Exemplar seiner Gattung sei, und aus unbegrenztem Hochmut jeden Verkehr mit Menschen mied, weil er nur in wenigen hochbegnadigten Denkern früherer Jahrhunderte, einem Plato und Kant, ihm ebenbürtige Umgangsformen zu finden meinte — das sind Widersprüche, die schwer miteinander zu vereinen sind. Gwinner sucht den Nachweis zu führen, daß die Fehler des Menschen, welche er nicht verkennt, weder der hervorragenden Bedeutung seiner Lehre noch der Hoheit seines Charakters Abbruch tun, und bezieht sich auf eine Betrachtung, die Schopenhauer selbst über sich angestellt: „Er habe sich zuweilen für einen anderen gehalten und dann dessen Jammer beklagt, zum Beispiel für einen Privatdozenten, der nicht Professor wird oder keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser Philister schlecht redet oder jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten in einem Injurienprozeß, oder für andere ähnliche Personen, die an ähnlichen Miseren laborieren; das alles sei er nicht gewesen, das alles sei fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen sei, den er eine Weile getragen und dann gegen einen anderen abgelegt habe. Wer aber sei er denn? Der, welcher ,Die Welt als Wille und Vorstellung' geschrieben, und vom Problem des Daseins eine neue und bedeutende Lösung gegeben habe." Wer indessen Schopenhauers Werke und die jetzt von ihm vorliegende Biographie unbefangen durchliest, der möchte leicht zu der Überzeugung kommen, daß er in allen jenen „anderen Personen" den wahren Schopenhauer zu suchen hat, und daß, wenn dieser hinsichtlich seiner Identität jemals geirrt hat, dieser Irrtum nur darin bestand, daß er sich für einen großen Philosophen gehalten hat. Hatte der Schriftsteller Schopenhauer es nicht verdient, daß man beinahe vierzig Jahre hindurch ihn gänzlich ignorierte, so schießt man jetzt noch viel weiter über das ent-
Schopenhauers Lehre und Leben (1862)
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gegengesetzte Ziel hinaus, wenn man in dem Philosophen Schopenhauer den berechtigten Erben K a n t s und den Vollender der Lehre desselben nachweisen will. In Schopenhauers Werken findet sich eine Fülle interessanter Bemerkungen über die verschiedenartigsten Gegenstände, über den T e x t zur Oper „ N o r m a " , über die deutsche Wortbildung, über die griechische Baukunst, über die Erblichkeit der Charaktereigentümlichkeiten und über die Frage, w a r u m die N a t u r die Männer, aber nidit die Frauen mit einem Barte versehen hat; die Lektüre derselben wirkt meistens sehr anregend, und es zeigt sich, welcher Gewinn es ist, wenn einmal ein geistreicher M a n n Muße sucht und findet, die ganze K r a f t seines Geistes daranzusetzen, alles Alte und Alltägliche als völlig neu zu betrachten und so ihm neue Gesichtspunkte abzugewinnen, aber ein wertvolles philosophisches System hat er nicht aufgestellt. Es werden audi jene V o r z ü g e des Schriftstellers Schopenhauer durch mancherlei Mängel arg beeinträchtigt. Seine beständigen K l a g e n über das Leiden und die Nichtigkeit des menschlichen Lebens werden zur Grimasse; wer an einem Morgen nach einer wüst durchschwärmten Nacht oder während unerträglicher Zahnschmerzen seine Bücher in die H ä n d e bekommt, m a g sich befriedigt fühlen, hier auseinandergesetzt zu finden, daß die Welt, wenn sie nur noch etwas schlechter wäre als sie ist, nicht mehr bestehen könnte, und daß es daher besser wäre, wenn sie nicht existierte; jeder andere Leser wird sich durch solche Ubertreibungen eher zum Gelächter als zur Bestimmung angeregt fühlen. Nicht minder ermüdend wirken die Angriffe gegen seine Gegner; wenigstens zwanzigmal kehren mit denselben Worten die Ausfälle gegen „den Windbeutel Fichte und den ekelhaften Schwätzer H e g e l " wieder. Leider mangelt es diesen Angriffen nicht allein an attischem Salz, sondern auch an jedem Adel der Gesinnung. Wenn er Fichte, dem Manne, der unter dem L ä r m der französischen Trommeln seine Reden an die deutsche N a t i o n hielt, während Schopenhauer sich seinen Pflichten gegen das Vaterland entzog, Heuchelei und Immoralität vorwirft, so ist es schwer, hierfür einen geeigneten Ausdruck zu finden, und man wäre fast versucht, sich seiner eigenen neuerfundenen Kraftaussprüche zu bedienen. D i e eingehende Würdigung des Schopenhauerschen Philosophems gehört nicht in eine politische Zeitung. Wir bemerken, daß Gwinner selbst, auf dem Standpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie stehend, dasselbe einer gründlichen Beurteilung und Widerlegung unterzogen hat. Die scharfsinnigen Ausführungen, welche der besonnenste der neueren Philosophen, Trendelenburg, gegen die Kantische Erkenntnistheorie richtet — daß nämlich R a u m , Zeit und die Verstandeskategorien uns z w a r a priori gegeben, daß sie aber ebensowohl dem Dinge an sich zukommen, und daß nur vermöge dieser Gemeinsamkeit eine Beziehung des Denkens auf das Sein möglich ist —, diese Ausführungen scheinen Schopenhauer sein ganzes Leben hindurch unbekannt geblieben zu sein. Die vielfach wiederholte K l a g e , daß die gleichzeitigen Philosophen absichtlich Schopenhauers Lehre zu T o d e geschwiegen haben, weil sie unfähig gewesen, dieselbe zu widerlegen, ist übrigens in dem U m f a n g , in welchem sie erhoben wird, nicht begründet. In den „Hallischen J a h r büchern" ist wiederholt, z w a r immer nur gelegentlich und sehr kurz, aber doch scharf und klar eine Zurückweisung dieser Lehre ausgesprochen.
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Unter den Anhängern des Schopenhauerschen Systems ist der Glaube allgemein verbreitet, daß dasselbe, nachdem es lange Zeit hindurch in unverdienter Mißachtung gestanden, jetzt, nachdem es endlich allgemein bekannt geworden, dazu berufen sei, anstelle der Hegeischen Philosophie, deren Einfluß in gleichem Maß abgenommen, bestimmend auf die Zeit einzuwirken. Dieser Ansicht wollen wir hier entgegentreten, da wir Hayms Ansicht teilen, daß der Bankrott des einen großen Hauses (Hegel) auf das Darniederliegen des ganzen Geschäftszweiges deute. Die Tatsache, daß es Menschen gibt, denen das philosophische Bedürfnis gänzlich abgeht, wird von Schopenhauer zwar beklagt, aber doch zugestanden; man wird sich auch darin finden müssen, daß es ganze Zeitalter gibt, in denen die Philosophie keinen Boden findet und daß das wissenschaftliche Bedürfnis des Geistes durch die positiven Wissenschaften vollständig zu befriedigen ist. In dem abgelaufenen halben Jahrhundert glich die Philosophie einem mächtigen Strom, der über seine Ufer tretend auch den Boden überschwemmte, der den Erfahrungswissenschaften angewiesen ist; der Strom ist jetzt zurückgetreten und hat den Boden mächtig befruchtet zurückgelassen, so daß der Anbau desselben doppelt lohnend ist. Dies gilt insbesondere von den historischen Wissenschaften. Hegel hatte zuerst den großen Gedanken durchgeführt, daß die Weltgeschichte der Entwicklungsprozeß des Geistes sei; die in diesem Sinne gedachten Geschichtswerke von Duncker, Mommsen, Häusser, Sybel sind, um den Schulausdruck zu gebrauchen, „die Wahrheit" des Hegeischen Systems. An jenem Befruchtungsprozeß hat aber die Schopenhauersche Philosophie nicht den geringsten Anteil, weder auf dem Gebiet der Naturwissenschaften noch auf dem der Geschichte. Mit der Physik hat sich Schopenhauer zwar sehr eindringlich beschäftigt und sogar eine neue Optik aufgestellt; seine Ansichten sind aber nicht weniger unhaltbar und abenteuerlich als das „hirnverdummende Geschwätz des widerwärtigen Unsinnschmierers Hegel". Zwei der wichtigsten neueren Entdeckungen hat er nicht mehr erlebt: die Kirchhoff sehen Untersuchungen über das Spektrum und die Verringerung der Umlaufbahnen der elliptischen Kometen. Nach dem Bekanntwerden derselben würde er sich der Uberzeugung nicht mehr haben verschließen können, daß die Existenz des Äthers eine Tatsache ist und demgemäß die Undulations-Theorie des Lichts und der Wärme die ihr noch fehlende solide Stütze gewonnen hat, und daß hiernach von der GoetheSchopenhauerschen Farbenlehre nie mehr die Rede sein kann. Mit zwei Worten hat die Schopenhauersche Lehre sich ihr eigenes Urteil gesprochen: sie leugnet den Fortschritt des Menschengeschlechts und sieht deswegen mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung auf die Geschichte herab. Wer den Fortschritt leugnet, verzichtet darauf, selbst einen Fortschritt zu begründen, und wem die Geschichte gleichgültig ist, an dem wird auch sie kein Interesse nehmen. Aber einen Fortschritt will ja auch Schopenhauer in der Tat nicht machen; er will zurückkehren zu der „Ur Weisheit des menschlichen Geschlechts", zum Brahmanentum und Buddhismus. Anstatt die Welt zu genießen, sollen wir strenge Askese üben, anstatt unsere geistigen K r ä f t e dazu anzuwenden, die menschliche Lage durch neue Erfindungen und bessere Staatseinrichtungen zu verbessern, sollen wir mit kreuzweise gelegten Beinen, die Augen auf die Nasenspitze gerichtet,
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sitzen und sechstausendmal mit geschlossenen Lippen das heilige Wort „ O m " wiederholen, um dereinst zum Nirwana zu gelangen. Wie viele der „zahlreichen fanatischen Anhänger seiner Lehre" diesen Regeln bisher gefolgt sind, wissen wir nicht; vom Meister erfahren wir ausdrücklich, daß wir in ihm nicht den Heiligen neben dem Denker, nicht die Gnade neben der Natur suchen dürfen. Seine Mission war es, die Lehre aufzustellen, und um diese Mission erfüllen zu können, bedurfte er des ungestörten Genusses eines beträchtlichen Vermögens und einer kräftigen und reichlichen Nahrung, und Gwinner gibt uns die beruhigende Versicherung, daß er sich nichts habe abgehen lassen. Hätte das Schicksal Schopenhauer in die Unmöglichkeit versetzt, von seinen Renten zu leben, so wäre er nicht imstande gewesen, seine Lehre zu ergründen und niederzuschreiben. Für die Größe eines Sokrates, Spinoza, Kant ist es uns ein Wahrzeichen gewesen, daß ihr ganzes Leben mit ihrer Lehre übereinstimmte; Schopenhauers Lehre konnte nur dadurch zustande kommen, daß er nicht ihr gemäß lebte. Der unheilbare Zwiespalt zwischen Lehre und Leben beweist uns, daß nicht allein jene unhaltbar, sondern daß auch in diesem ein tiefgehender, häßlicher Fehler sich findet. Pectus facit theologum ist ein alter Satz; aber auch um einen großen Philosophen zu bilden, reichen „Wille und Vorstellung" allein nicht aus, wenn das Herz gänzlich fehlt.
Fichte als Ethiker und Politiker I. Der Festjubel 1 ist verrauscht, und wie nach mächtigen und mannigfaltigen Eindrücken sich das Ohr gern an einer einfachen Melodie sammelt: so hat vielleicht mancher Leser mit uns das gleiche Bedürfnis, nach dem Sturm von Reden und Broschüren, den diese Tage brachten, mit einer ruhigen und einfachen Ubersicht über die Seite Fichtes, welche ihn mit dem nationalen und politischen Leben verbindet, abzuschließen. Die Begeisterung dieses Tages wird unvergeßlich bleiben. Es war seit wenigen Jahren das dritte Mal, daß Berlin, das man sich gern draußen als die Stadt des exklusiven preußischen Selbstgefühls, der souveränen Kritik und des blasierten Witzes denkt, von einer ehrlichen deutschen Begeisterung ergriffen, Nationalfeste beging, die der Hauptstadt einer deutschen Nation würdig gewesen wären; das dritte Mal, daß es den Gesinnungen Deutschlands jenen überwältigenden Ausdruck gab, durch den von einem Gedanken getragene Menschenmassen uns bewegen. Nichts Gewaltigeres, als vom Jubel solcher Menschenmassen umtönt zu werden: gewaltiger selbst als das Rauschen des Meeres oder jedes andere Schauspiel der 1
1862 w u r d e der 100. Geburtstag Fichtes gefeiert.
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Natur: denn „Vieles Gewaltige lebt, doch nichts gewaltiger als der Mensch", sagt jener große Dichter, den an manchem nationalen Festtage die Beifall rufenden Griechen umdrängten, um ihn zu bekränzen. Jahrtausende hat unser großes Volk gelebt, stumm, ohne den lebendigen Ausdruck seines Gesamtgefühls. Nur in den bewegtesten Zeiten trat etwas davon hervor. So in denen der Reformation, wenn mitten in der Masse im großen katholischen Dom einer ein Lied Luthers anzustimmen begann, andere einfielen und nun die ganze Versammlung von einer Begeisterung fortgerissen wurde, deren noch die Kindes-Kinder gedachten. Dann haben zu unserer Großväter Zeiten große Menschenmassen ihre Waffen zum französischen Kriege auf dem Felde weihen lassen, weil keine Kirche sie faßte. In unserem Jahrhundert erst sind in unserer Nation Volksfeste wahrer Art aufgekommen, in denen das Volk sich selbst fühlt und in Lied und Jubelruf Ausdruck findet für dieses Gefühl. Wie in den Landtagen, den Schwurgerichten, der Presse, liegt auch hier ein gewaltiger Hebel jener Öffentlichkeit, auf der die beste Erziehung eines Volkes beruht. Es liegt hier ein Element edler Lebensfreude, einer wahrhaft poetischen Färbung unseres Lebens, dessen unser Volksleben allzulange entbehrt hat, und das es von jetzt ab nie wieder wird entbehren können. In solchen Momenten wirkt, was von großen Menschen in das Lebensgefühl der Massen übergehen kann: der Charakter, die Beziehungen ihres Strebens mit Ziel der gegenwärtigen Zeit, die Energie der sittlich-politischen Überzeugung und des Wortes. So war es möglich, daß der Philosoph des transzendentalen Idealismus, ein Mann, der begreiflicherweise in den Zeiten, aus deren Idealismus seine Philosophie entsprungen war, niemals populär gewesen ist, im Zeitalter des konsequenten Empirismus der Gegenstand eines nationalen Festes werden konnte. Sein Charakter wirkte. Die Lebenslust dieses Charakters war die Selbständigkeit, die sittliche Freiheit oder, was ihm dasselbe war, die Energie des Wollens, unablässiges Handeln. Er hätte die Gedanken des Ich und Nicht-Ich zu denken verschmäht: wäre ihm dies Denken nicht Handeln, wäre ihm die Wissenschaftslehre nicht die Befreiung des Geistes vom Naturgesetz gewesen. Diese Einheit von Denken und Handeln, von Theorie und Praxis, von theoretischer Vertiefung in sich selbst und sittlicher Freiheit ist der deutsche Zug seines Charakters. Er wußte wohl, was er tat, wenn er Luther und Kant anrief: die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, die Lehre vom kategorischen Imperativ waren eines Geschlechts mit dem Element seines eigenen Lebens. Es wirkten die vielfachen Beziehungen seines Strebens auf das Ziel der gegenwärtigen Zeit, die sich überall aufdrängen. Als an diesem Tage, vor der Tribüne des Redners, im Angesicht der beiden großen Theaterräume des Viktoriatheaters eine Reihe der bedeutendsten Abgeordneten aller liberalen Parteien saßen: mußte jeden das Gefühl durchdringen, daß hier der politische Redner, der Vorkämpfer der Nationalpartei, der Mann gefeiert werde, der zuerst in Deutschland der Neugestaltung dieses Volks sein Leben zu widmen den Mut hatte. Es wirkte die Energie der sittlich-politischen Überzeugung und des Wortes, in der — wir sagen es ohne Widerspruch befürchten zu dürfen — nur Luther, Lessing und Schiller in unserer Nation ihm ebenbürtig sind. Er war der erste politische Mann, den wir Deutsche gehabt haben; — ehe es noch bei uns eine andere Rednerbühne gab als die
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Kanzel, f ü r die er sich zuerst bestimmt hatte, und das Katheder, das er dann später wählte: schuf sich dieser eherne Geist ein Publikum und eine Lage, in der er zum Herzen der N a t i o n mit seinen Worten dringen durfte, „die wie Blitz und Schwerter trafen". Ganz frei von all dem erdrückenden Staub der Tradition, der auf uns liegt, wäre er gern als Heerredner mit in den Krieg gegangen, zu den Soldaten sprechend in der Weise der alten Feldherrn, zugleich in einem Geiste, der völlig modern und ganz sein eigen war. Wunderbarer noch als diese politische Beredsamkeit dünkt uns die Kunst, mit der er alle Zeit seines Lebens in den verschiedensten Formen die spröde wissenschaftliche Aufgabe seines Lebens seinem kalten Publikum aufzuzwingen versuchte: in immer neu formulierten strengen Gedankenreihen, in Reden, Monologen, Dialogen — keine mögliche Form, die er nicht in den Dienst dieser Aufgabe gestellt, keine, die er nicht als Meister gehandhabt hätte. Solcher Art sind die Züge dieses Geistes, welche an einem solchen Tage in dem erhobenen Lebensgefühl des Volkes zunächst ineinanderklingen. Aber dennoch war es nicht dies allein, was uns bewegte. Wenn uns auf Zeiten die Anschauung eines Charakters am stärksten ergreift: Wahrheiten allein verharren mit gleichmäßiger Macht in der Seele. Und Fichte hat eine Anzahl moralisch-politischer Wahrheiten ausgesprochen, im strengen Zusammenhang unter sich und mit seinem Charakter, im strengen Zusammenhang auch, wie wir nicht leugnen wollen, mit f ü r sein System folgenschweren Irrtümern, Wahrheiten, die keine Zeit ihm vergessen darf. Es ist der Vorzug so einschneidender Geister, daß ihre Irrtümer anregen und so wahre Gedanken ans Licht rufen, daß ihre wahren Sätze, wie oft sie auch zurückzutreten scheinen, für immer gewonnen sind. Diese letzteren möchten wir in kurzer Übersicht hinstellen. II. Wir verkennen nicht die Macht, welche Fichtes Charakter, welche die Beziehungen seines Strebens auf das Ziel unserer Zeit an seinem Festtag über die Gemüter geübt haben. Aber über sie hinaus suchen wir unwillkürlich und mit vollem Recht nach den einschneidenden ethisch-politischen Wahrheiten, die wir ihm verdanken. Erkannte Wahrheiten allein sind eine vom Wechsel der Anschauungen unabhängige Macht im Gemüt. U n d die tun dem Philosophen einen schlechten Dienst, welche bewegende hinreißende Worte, nicht überzeugende Wahrheiten bei ihm suchen. Die verkennen Fichte völlig, welche irgendeine Energie des Charakters bei ihm bewundern, die nicht auf klarer durchdringender Einsicht beruhte; er kennt keine solche. Das System des Philosophen darf nicht wie ein Schauspiel betrachtet werden, in dem große Vorsätze, edle Reden und schöne Charakterzüge auftreten; sein Ziel und sein Wert liegt in der Förderung der Erkenntnis, die aus ihm resultiert. Was die theoretische Weltansicht Fichte verdankt — insbesondere die Bedeutung der von ihm geschaffenen genetischen Methode, der größten theoretischen Förderung, die von ihm ausging —, liegt diesem O r t fern. Aber vom Beginn seiner Wissenschaftslehre ab geht durch sein System eine Reihe von ethischen und politischen Sätzen, welche dem allgemeinen Verständnis und Interesse hinlänglich naheliegen.
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Philosophie und Wissenschaftsgeschichte
Das erste ist, daß er die Wissenschaft unter einen ethischen Gesichtspunkt stellte. Die sittliche Befreiung des Geistes vollzieht sich in der Wissenschaft. Aus diesem Satze spricht jene mächtige Zuversicht unseres Jahrhunderts, daß weder die Tröstungen der historischen Religion noch der Glanz der Poesie, noch weniger irgendeine gedankenlose Praxis, sondern allein das Erkennen der gesetzlichen Ordnung der Dinge, wie sie ist, und ein aus dieser Erkenntnis entspringendes Handeln den Menschen dem Schicksal, der Natur und dem eigenen Herzen gegenüber in Freiheit versetzt. Die erste Form, in der Fichte diesen Gedanken ausspricht, verfolgt Wissenschaft und Freiheit, die beiden zu verknüpfenden Begriffe, in die abstrakte Tiefe des Selbstbewußtseins: dort vollzieht sich diese Befreiung auf unbedingte Weise, in einem einzigen Akt. „Der Grundcharakter der Wissenschaftslehre ist vollkommenes Verstehen, durchgeführtes Sehen, dagegen sonst allenthalben etwas verborgen Bleibendes, noch zu Ersehendes ist — eine vollkommene Freiheit. Sie ist vollkommen frei, sich selber in Besitz habende Erkenntnis." Aber wie er sich über die Fragen der Praxis ausbreitet, erhält dieser Gedanke einen breiteren Umfang; mit einem oft seltsamen Rigorismus wird jede Bewegung des Handelns auf einen Fortschritt der Theorie gestützt. Der Gedanke einer völligen wissenschaftlichen Rationalisierung des menschlichen Handelns wird nackt, einfach, wie selbstverständlich ausgesprochen. „An die Stelle der direkten und sich selbst unbekannten Genialität ist die Wissenschaft getreten, und seitdem die Vernunft aufgehört hat, als dunkler Instinkt, und in der Form des unmittelbaren Lebens selber zu wirken, ist sie in ihrer Einheit durch den Begriff klar durchdrungen worden. Von nun an kann nur von dieser klaren Wissenschaft aus, und nach den klar eingesehenen Gesetzen derselben, nur durch besonnene Kunst von demjenigen Punkt aus, wo die dunkle und nicht besonnene Kunst der Genialität die Menschen stehen gelassen, dieselbe weiter vorwärts geführt werden." Diese Begründung alles menschlichen Handelns auf das wissenschaftliche Bewußtsein ist ihm „die große Begebenheit unserer Tage, welche die Schöpfung erst geendet, die Menschheit auf ihre eigenen Füße gesetzt und sie von aller Bevormundung durch das Ungefähr mündig erklärt hat" — mit anderen Worten, die Verwirklichung der sittlichen Freiheit. Die Erbschaft dieser Zuversicht des Gedankens ist von der Philosophie an die Naturwissenschaften, die Nationalökonomie und verwandte Disziplinen übergegangen. Aber die Philosophie darf sich ihres Anspruchs nicht begeben, daß in ihr allein sich die befreiende Selbstbestimmung des Menschen vollendet. Der überspannten Konsequenz dieses Satzes gehört es an, wenn Fichte einen Stand der Lehrer dem des Volkes gegenübersetzte und aus ihm die Herrscher hervorgehen lassen wollte. Ein Gedanke, der sich gleich anderen irreleitenden Entwürfen Fichtes mit Piatos Träumen begegnet. Es gehört dagegen demselben richtigen Gedankenkreise an, daß in der Freiheit das Wesen des Menschen ergriffen wird, daß sie erst den Erklärungsgrund der Natur enthält, nicht diese den ihrigen, daß ein Akt dieser Freiheit wie den Anfang, so jeden weiteren wahren Fortschritten der grundlegenden Wissenschaft bildet, endlich daß diese Freiheit das genügsame Prinzip der menschlichen Geschichte ist. Denn Fichte spricht es mit seiner ganzen schroffen Schärfe aus, „daß kein Mensch und kein
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Gott und keines von allen im Gebiete der Möglichkeit liegenden Ereignisse aushelfen kann, sondern daß allein wir selber aushelfen müssen", zugleich aber — was nur die bejahende Ergänzung dieses Satzes ist —, „daß alles, was irgend wert ist, gewollt zu werden, der Wille des Menschen erfassen und durchsetzen kann, daß es nichts Gutes, Großes und Edles gibt, was der Mensch nicht könnte, wenn er will." So kurz entschieden schiebt er in der Religion alles scheinheilige Spiel mit dem Gedanken göttlichen Beistandes, in der Politik alles gedankenlose Rechnen auf Zufälle beiseite. Im Geiste dieser Zeit lag nun ebenso eine weitere Reihe von Sätzen, deren ersten man so formulieren kann: Es ist die Aufgabe des Staats, das gleiche Recht allen Menschen zu verwirklichen. Das Verhältnis zum Staat beruht nicht mehr wie in der alten Welt auf dem Stadtbürgertum, nicht mehr wie im Mittelalter auf Korporationen: alles, was „Menschenantlitz trägt", umfaßt das gleiche Recht des Staates unmittelbar. Es ist der Gedanke des Rechtsstaats, der parallel mit den Ideen der französischen Revolution hervortritt, im bewußten Gegensatz gegen den absolutistischen Staat der vorhergehenden Periode. Hatte jener des Bevormundens kein Ende gefunden, so sollte dieser sich so viel als möglich auf das Unerläßlichste, auf den Sdiutz der Privatrechte beschränken. Hatte jener die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Staatsbürger auf diese Weise vernichtet, so sollte dieser sie nur schützen, indem er die Konflikte des Freiheitstriebes durch Beschränkung verhinderte, diesen selber völlig frei ließ. Diesem Rechtsstaat standen die Individuen so total vereinzelt gegenüber, daß Fichte selbst das Recht der Eltern auf die Kinder nur daraus abzuleiten wußte, daß — die Besitzergreifung von denselben durch die Hebamme im Auftrag der Eltern geschehen sei! Es war ein Fortschritt, daß man versuchte, dem alles regierenden bürokratischen Mechanismus, den der absolute Staat geschaffen hatte, Grenzen zu setzen, ein Gebiet vor ihm zu sichern, in dem sich die persönliche Freiheit vom Staat ungehindert entfalten könnte. Und in diesem Fortschritt knüpfen an Fichte audi die frühesten Staatstheorien von Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher, so verschiedenen Geistern, an. Sie begegnen sich zugleich mit Fichte in dem überstarken Interesse an der „Denkfreiheit", mit deren Zurückforderung Fichte seine schriftstellerische Laufbahn begann, deren Sdiutz in jener Zeit das vornehmste politische Interesse aller Liberalen bildete. Der Gedanke des Rechtsstaates macht einen tiefen Einschnitt in unserer politischen Entwicklung; eine totale Umänderung in der Weise, wie die Menschen ihr Verhältnis zueinander und zum Staat empfanden, ging mit ihm zusammen; die Idee der menschlichen Würde und des modernen Staatsbürgertums gelangten zur Herrschaft. Niemand könnte jetzt daran denken, diesen Fortschritt rückgängig zu machen. Der erste politische Redner der Deutschen aber, der mit diesem Gedanken und mit diesem Selbstgefühl seine Nation durdidrang, war Fichte. Er übersprang weit Kants vorsichtige Formeln. Aber die Einseitigkeit, die in diesem rein privatrechtlidien Zweck des Staates lag, machte sich mitten in der Anwendung geltend. Noch bevor die Not des Vaterlandes dazu drängte, regen sich bei Fichte Anfänge einer weiteren und tieferen Fassung des Staatsbegriffes. Im Kampf um die Existenz der deutschen Staaten hat er diesen 26
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dann ausgebildet. Drei wesentliche Sätze treten nun hervor: Einer, der die soziale Ausgleichung, ein zweiter, der die Nationaleinheit, ein dritter, der die Volkserziehung betrifft. Diese bezeichnen den Höhepunkt seiner ethisch-politischen Ideen. III. Was die Theorie betrifft, von der wir hier allein reden, war es das entscheidende Verdienst der zweiten Periode Fichtes, daß er den formalen Begriff des Rechtsstaats, der nur durch seinen Rechtsschutz die isolierten Individuen verbindet, durch eine lebensvolle Anschauung überwand. Dieser Staatsbegriff des vulgären Liberalismus, der kein Element der Gestaltung in sich enthält, da das so gefaßte Recht nur beschränkend ist, hat, wo er irgend auf die Staaten wirkte, ein künstliches, formales Wesen geschaffen, das jedem Anprall einer wirklichen Bewegung gegenüber ohne Widerstandskraft war. Zumal sozialen Fragen und Bewegungen gegenüber erwies er sich völlig machtlos, ja begriffslos. Wie hätte er, als das revolutionäre und dann das auf dieses gebaute napoleonische System den französischen Staat in eine einzige gewaltige Maschine verwandelten und als dieser Apparat sich mit seiner ganzen Unwiderstehlichkeit gegen Deutschland richtete, von der theoretischen Seite her die deutsche Machtentwicklung wirksam unterstützen können? Jene politische Begeisterung und Willensanstrengung verstärken können, welche diesem Apparat gegenüber allein Aussicht auf Erfolg hatte? Fichtes Staat vermochte dies. Denn dieser Staat war von einem positiven Willen beseelt: er selber für sich das gestaltende
soziale Gesetz,
geschichtlichen
Aufgabe
die erziehende der Nation:
Intelligenz,
der tätige Verwirklicher
der
ein Abbild somit jenes selbsttätigen, in sich
geschlossenen Ich, in dem alles von der Freiheit ausgehendes, spontanes Tun ist, und die Wurzel dieses Tuns der Wille. Kein Zweifel, daß dieser Staat die gewalttätigen Züge der revolutionären Epoche an sich trägt, daß er das deutsche Gegenbild des französischen Revolutionsstaates ist. Aber Macht kann nur durch Macht bekämpft werden. Dem auf nackte Kräfte gebauten Staat Napoleons gegenüber schien ein Staat die einzige Rettung, der allen Willen, alle Intelligenz, alle Begeisterung aus der Gesamtheit hervorbrächte und auf die Gesamtheit richtete. In diesem Zeitalter des Eudämonismus, das jetzt nur die bittere Frucht seines verweichlichenden und zerstreuenden Egoismus erntete, schien — so dachte Fichte — in dem reinen und festen Willen des Ganzen Willen der Vielen;
die einzige Hilfe gegen die in Selbstsucht verlorenen
jenem mußte man die Aufgaben übergeben, welche die Familie,
welche die soziale Ordnung, welche die freieren gesellschaftlichen Formen bis auf diesen Tag hätten lösen sollen und, im Eudämonismus der Zeit befangen, nicht lösen konnten. Den Geist dieses Systems rufen wir noch heute zu Hilfe. Denn heute wie damals bedarf Deutschland einer verstärkten Kraftentwicklung. Und heute wie damals mag und soll unser Volk sich bei seinem Staate nicht eine Anstalt zum Schutz der Einzelrechte denken, sondern etwas Höheres, in dem mit seinem privaten Willen aufzugehen sich das Leben lohnt. Wohl hat uns eine durchgebildete Gesellschafts-
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lehre gezeigt, daß die Naturgesetze der Gesellschaft eine Reihe von Erfolgen weit vollendeter von selber bewirken, welche Fichte vom Staatszwang allein hoffte, daß die natürliche pädagogische Tätigkeit der Familie weitaus die wichtigste und fruchtbarste Kraft ist, deren die nationale Erziehung mächtig ist, während Fichtes radikale Konsequenz diese Kraft verschmähte, daß endlich in den freien Formen, welche der geschichtliche und nationale Geist ohne Anregung des Staates zu seinem Kulturzwecke sidi selber gestaltet, eine wirksamere Macht liegt, als in vom Staat diktatorisch ins Leben gerufenen und beherrschten. Aber wir haben doch zugleich gelernt, daß der Staat nicht die Regsamkeit der Gesellschaft als ein ruhiger Zuschauer betrachten darf, wenn nicht die hochgehenden Bewegungen derselben immer wieder von Zeit zu Zeit ihn erschüttern sollen, daß er ihnen gegenüber nicht eine beschränkende, sondern eine positive gestaltende Macht sein muß. Und wie auch die Probleme, die hier liegen, Probleme des politischen Handelns und der politischen Theorie für viele Jahrhunderte hinaus, gelöst werden mögen: nie wird man es Fichte vergessen, daß er den Theorien des Rechtsstaats gegenüber den Staat wieder zu einer lebendigen, konkrete Zwecke in sich fassenden Macht gemacht hat. An seinem Gedanken des deutschen Staats vermochte so die kriegerische Begeisterung einer großen Nation sich zu erheben; für jede Betrachtung der theoretischen Probleme selber bot er kräftige Anregung. Am frühesten nahm er die soziale Frage in Angriff. Hier trat die irrtümliche Steigerung der Staatsgewalt am gefährlichsten und schroffsten hervor. Fichte ist der erste deutsche Sozialist. Aber man kann die Sache auch mit demselben Rechte umdrehen und sagen: er war der erste völlig konsequente Schutzzöllner. Der Zusammenhang dieser scheinbaren Gegensätze liegt am Tage. Jedes tief in die Verteilung der Arbeit eingreifende Schutzzollsystem hat eigentlich zu seiner Konsequenz die staatliche Regulierung dieser Arbeit selber: Feststellung der hervorzubringenden Rohstoffe, der Zahl der Arbeiter, der Preise usw. Man hat die Quälereien der Schutzzölle und indirekten Steuern, wie sie im vorigen Jahrhundert bestanden, nicht selten mit dem bittersten Sarkasmus dargestellt: sie verschwinden gegen die Einrichtungen dieses Idealstaates, der einer Strafanstalt ähnlicher sieht als einem philosophischen Staatsbilde. Zu dieser Theorie liegt schon im Eigentumsbegriff des „Naturrechts" (1796) der erste Schritt. Da nämlich der erste Bestandteil des Staatsvertrags der Eigentumsvertrag sei, der Zweck des Eigentums aber, leben zu können: so ist nach seiner Theorie die Erreichung dieses Zweckes im Eigentumsvertrag garantiert. Somit wird es der Sorge des Staats übergeben, daß jedermann von seiner Arbeit leben könne. Vier Jahre darauf erschien „Der geschlossene Handelsstaat" — die genaue und konsequente Durchführung seiner sozialistischen Theorie. Hier wird das Eigentumsrecht ganz sozialistisch bestimmt: es ist nicht das Recht auf den ausschließlichen Besitz einer Sache, sondern es ist ausschließendes Recht auf eine bestimmte freie Tätigkeit, gleichviel ob sich diese auf eine bestimmte Sache beziehe oder nicht. Der Rechtsgrund des Eigentumsrechtes liegt somit in dem Vertrag aller mit allen, durch den jedem die ihm ausschließlich angehörige Sphäre seiner Tätigkeit bestimmt wird. Dieser Vertrag beruht auf der Bedingung der Gegenseitigkeit: er ist also nur gültig, wenn wirklich jedem die 26*
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Sphäre seiner Arbeit garantiert ist. Er geschieht nadi dem Gesetz völliger Gleichheit: er setzt also voraus, daß allen die gleiche Möglichkeit gewährt wird, sich durch Arbeit Annehmlichkeit des Lebens zu verschaffen. Dies ist nur möglich durch rationelle Leistung der Arbeit durch die Staatsgewalt bis ins einzelste. Es ist festgesetzt, von wem und wieviel jemand kaufen, an wen, wieviel und zu welchem Preis er verkaufen darf. Keiner darf ein Geschäft wählen, in welchem das Maximum von Arbeitern bereits erreicht ist. Gegen die Produkte des Auslands wird der Staat allmählich abgesperrt. Es ist eine Art ausgesuchter Tortur für die Betreffenden, wie man sie unserem Jahrhundert gar nicht mehr zutrauen sollte, daß ihnen Kaffee und Tabak in langsam aber unweigerlich verminderten Portionen gestattet wird — bis zur völligen Entziehung. Was sind hiergegen die berühmten Kaffeeriecher Friedrichs des Großen? — Das Reisen ohne bestimmten Zweck wird völlig verboten oder in Fichtes klassischer Ausdrucks weise: „Der müßigen Neugier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, die Langeweile durch alle Länder herumzutragen." Es ist der Abschluß dieser Theorie, daß ein eigenes Landesgeld eingeführt werden soll, welches für das Ausland wertlos ist und dort nicht angenommen wird — eine Bestimmung, die eine Ironie des Schicksals gegen den Philosophen in Österreich verwirklicht hat. Es ist das Verdienst dieser Schrift, daß sie in Deutschland die sozialen Fragen anregte. Und vor den übrigen sozialistischen Systemen hat sie wenigstens dieses negative Verdienst voraus, daß sie die Wahrheit nicht verkennt, daß alles Eigentum nur Erzeugnis der Arbeit sei, daß somit der Mensch von Geburt kein Eigentum hat, sondern nur die Fähigkeit, welches zu erwerben, das heißt also, daß die natürliche Rechtsgleichheit nicht darin bestehe, daß alle gleich viel Besitz, sondern daß sie das gleiche Recht haben, Besitz zu erwerben. Aber wenn damals Fichte die soziale Ausgleichung in den Staat mithineinzog, wenn er im Gegensatz gegen die frühere Aufstellung, daß die Bestimmung des Staates sei, den einzelnen in seinem Eigentum zu schützen, zu dem kühnen Satze fortschritt, sie sei es vielmehr, „jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen", so zeigte sich doch seine Theorie noch langehin spröde gegen die höheren objektiven Zwecke des Staats. Noch in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" erklärte er, „die höheren Zweige der Vernunftkultur, Religion, Tugend, können nie Zwecke des Staates werden". Noch damals — dicht vor dem Falle Preußens — sprach er sozusagen die strikte Formel des Kosmopolitismus aus: „Ich frage, welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Jeder Staat, der gefährlich fehlgreift, wird mit der Zeit freilich untergehen, demnach aufhören, auf der Höhe der Kultur zu stehen. Aber eben darum, weil er untergeht und untergehen muß, kommen andere und unter diesen einer vorzüglich herauf, und dieser steht nunmehr auf der Höhe, auf welcher zuerst jener stand. Mögen dann doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollten
Fichte (1862)
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und was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und frei sich dahin wenden, wo Licht ist und Recht." Es war kaum ein Jahr darauf, daß Fichte jene zwei merkwürdigen Gespräche schrieb: „Der Patriotismus und sein Gegenteil", in denen auch die höheren objektiven Zwecke des Staats zum vollsten Rechte kommen. Es gehört zu der Größe dieser spontanen Natur, daß sie nicht vornehm ihre Theorien der Begeisterung der Nation gegenübersetzte, sondern die großen Regungen der Zeit in sich zum klaren Wollen und Gedanken sammelte.· Nie hat jemand so vornehm und adelig über das eudämonistische und gedankenlose Treiben der Masse gedacht. Es hatte den größten Anschein der Wahrheit, diesen Mann einer maßlosen aristokratischen Selbstüberhebung, einer grenzenlosen Verachtung des Publikums, welches sicher von niemand je so harte Worte gehört hat, zu zeihen. Aber zugleich war nie jemand bereiter, seine isolierte Theorie an dem reinen Zug der Begeisterung, welcher in diesem Volke sich erhob, zu messen und nach ihm umzugestalten. Diese Umgestaltung ging von dem Satze aus: daß es gar keinen Kosmopolitismus wirklich geben könne, sondern daß in der Wirklichkeit der Kosmopolitismus notwendig Patriotismus werden müsse. Denn der Wille, daß der Zweck des Menschengeschlechtes im Menschengeschlecht erreicht werde, vollzieht sich nur durch den, daß er in derjenigen Nation erreicht werde, deren Mitglieder wir selber sind. Nur in diesem Wirkungskreise der Nation lebt der einzelne als lebendige Kraft; nur in ihn kann er daher eingreifen. Der zweite, entscheidende Satz ist: Der Staat soll nicht der Ausdruck territorialer Zufälligkeit, sondern der Nationalität sein. Es ist ihm daher selbstverständlich, daß Deutschland zu einheitlicher staatlicher Gestaltung kommen muß. „Der Einheitsbegriff des deutschen Volkes ist noch nicht wirklich, er ist ein Postulat der Zukunft. Diesem Postulat entspricht der Föderativstaat nicht. Alle Föderationen werden nur durch den Vorteil oder die Übermacht erhalten, ein nachhaltiger Begriff der Volkseinheit kann nicht aus ihnen hervorgehen. Wenn wir daher nicht im Auge hätten, was Deutschland zu werden hat, so läge an sich nicht so viel daran, ob ein französischer Marschall wie Bernadotte, an dem wenigstens bisher begeisternde Bilder der Freiheit vorübergegangen sind usw., über einen Teil von Deutschland geböte." Es entspricht hier allein ein deutsches Kaisertum. „Allgemeiner Satz: Ein deutscher Kaiser, der ein Hausinteresse hat, hat zugleich ein Interesse, deutsche Kraft zu brauchen für seine persönlichen Zwecke. Hat Österreich ein solches? Hat es Preußen? Österreich allerdings: Italien usw. ziehen es in fremde, undeutsche Konflikte. Also Österreich kann nicht Kaiser sein. Preußen? Es ist ein eigentlich deutscher Staat, hat als Kaiser durchaus kein Interesse zu unterjochen, ungerecht zu sein, der Geist seiner bisherigen Geschichte zwingt es fortzuschreiten in der Freiheit, in den Schritten zum Rechte, nur so kann es fortexistieren. Sonst geht es zugrunde." Wenn nun die Nationalität die Form und Aufgabe des Staats bestimmen soll und sie allein: welche ist die des künftigen deutschen Staates? Er soll darstellen „ein wahrhaftes Reich des Rechts, wie es noch nie in der Welt erschienen ist, in allen die Begeisterung für Freiheit des Bürgers, die wir in der alten Welt erblicken, ohne
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Aufopferung der Mehrzahl der Menschen als Sklaven, ohne welche die alten Staaten nicht bestehen konnten; für Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt." Das deutsche Volk ist das einzige Kulturvolk: Ursprünglichkeit und Freiheit, wahre Religiosität und Wissenschaft sind bei ihm allein: so ist das Schicksal der Menschheit selber an sein Schicksal gebunden, und dieses Volk ist so unzerstörbar wie der göttliche Wille selber, dessen Ausdruck die Geschichte ist. Ein gewaltig zuversichtliches Selbstgefühl ohne Frage, was die Geschichte mißhandelt und der Wirklichkeit Zwang antut — aber ein Selbstgefühl, wie der Glaube Alexanders oder Cäsars an ihren Stern — ein Selbstgefühl, ohne das weder Menschen noch Nationen jemals groß sein werden! Es galt aber, diese Zukunft nicht nur zu prophezeien, sondern den Weg anzugeben, auf dem die Nation zu ihr gelange. Und hier bricht von neuem jener zuversichtliche Idealismus durch, dem jeder Fortschritt des Handelns auf einem Fortschritt der Intelligenz beruht. In der Reform der Erziehung liegt ihm die Hoffnung der Nation. Mit diesem Satze reiht sich Fichte an jene Männer des achtzehnten Jahrhunderts von Rousseau bis Pestalozzi, welche die Schulen, die noch immer von der Reproduktion religiöser Sätze und der Formen des Altertums lebten, mit den Aufgaben der neueren Zeit in Einklang bringen wollten. Man kann den Wert dieser scheinlosen, aber tief einschneidenden Bestrebungen nicht hoch genug anschlagen. Wir wünschten, daß das Andenken Fichtes, wie in bezug auf den Gedanken des nationalen Staats, so audi in bezug auf den der Erziehung einen neuen Anstoß geben möchte. Sein tiefbohrender Geist traf auch hier offenbar den entscheidenden Punkt. Die Erziehung soll nicht auf ruhendes Wissen, sondern auf ein aus klarer Erkenntnis fließendes Handeln, sie soll auf Selbsttätigkeit gerichtet sein. Demnach soll das Einlernen von Lesen und Schreiben durchaus nicht den Mittelpunkt der ersten Erziehung bilden; vielmehr soll hier der Geist zum selbständigen Entwerfen von Bildern angeregt werden. Die Entwicklung der Körperkraft soll stets mit der geistigen parallel laufen. In solchen Sätzen ging er einen Weg mit Pestalozzi, dessen Gedanken nur sein konsequenter Geist verschärfte. Worin er von ihm abwich, war die Übertragung der Erziehung auf den Staat im Zusammenhang mit dem oben entwickelten Begriff des Staats. Es ist nicht Gefahr, daß er hierin Nachfolger finde. Aber wohl wäre zu wünschen, daß er mit dem Gedanken, der ihn in jenes Extrem trieb, Ernst gemacht hätte, daß die Erziehung schon den künftigen Bürger im Auge hätte, der im Staate wurzelt und für den Staat lebt. Es ist eine große wenn auch eine einseitige Wahrheit, welche die Seele aller dieser Gedanken Fichtes ist. Die Staatskunst soll nicht aufgehen in ein Künsteln über Staatsformen; ihr erstes und oberstes Ziel sind die realen Zwecke der Nation. Als die der deutschen Nation aber betrachtete Fichte: Gründung der nationalen Einheit, Hebung der arbeitenden Klassen, sittliche Erziehung des Volkes. Ein Staat, der unaufhörlich über jene Formen meditiert und so zur Vollendung zu gelangen hofft, gleicht einem Individuum, das durch Selbstbespiegelung es zur Vollkommenheit zu bringen gedenkt. Eben im Handeln selbst für objektive Zwecke erlangt jedes
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Aus Spellings Nachlaß (1862)
Ganze die harmonische Form der Teile, deren es bedarf; wenigstens nie ohne dies Handeln. Auf diesem Wege haben sich die beiden einzigen freien Staatsformen großen Stils, welche die bisherige Geschichte kennt, gebildet: die Roms und Englands.
Aus Schellings philosophischem Nachlaß Friedrieb Wilhelm Joseph Schelling, Clara oder Zusammenhang der Geisterwelt. Stuttgart 1862.
der Natur
mit
Aus der Gesamtausgabe der Werke Schellings, welche durch Zahl, U m f a n g und Preis ihrer Bände dem Publikum schwer zugänglich ist, hat hier Schellings Sohn ein in seinem Nachlaß vorgefundenes unvollendetes Werk von 1816 oder 1817 abdrucken lassen. Zu einer einschneidenden Wirkung sind weder Gegenstand noch Form angetan. Dieser Dialog über die jenseitige Welt in ihrem Zusammenhang mit der N a t u r spricht wie aus fernen Zeiten zu uns herüber. Wir verstehen noch heute, wie fremd uns auch die Form sei, alle heroischen Versuche vor allem Hegels und Schleiermachers, die Bedeutung und den Inhalt unserer wirklichen geistigen Welt als eines großen, durch die Idee organisierten Ganzen zu erfassen. Immer wieder bewegt uns die tiefe Absicht dieser genialen Männer, gleich weit entfernt vom Dahinleben in vereinzeltem Genuß und vereinzelter Erkenntnis und von jenem Rationalismus, der erst jenseits der Welt in Gott und der Unsterblichkeit zur Ruhe kommt, den unendlichen Gehalt des gegenwärtigen geistigen Lebens zur Anerkennung zu bringen. Die ins Große gehende praktische Richtung unserer Zeit, die resolute Lebensfreudigkeit derselben bereitete sich in ihren abstrakten Systemen vor. Wie Hegel unsere Literatur mit dieser Empfindung erfüllt hat, springt bei jeder Betrachtung derselben in den zwanziger und dreißiger Jahren aufs neue in die Augen. Hier aber tritt jene Gegenströmung hervor, welche nur in den katholischen Ländern einen bleibenden Einfluß erhalten hat, eine Strömung, in die sich Schelling eben nur durch die feindliche Stellung zu Hegel so weit mit fortreißen ließ. Jene phantastischen Stimmungen, in denen sich Novalis und eine Zeitlang audi Tieck bewegten, werden hier zu Theorien über den Abfall der Welt, die Erneuerung der N a t u r , das geheimnisvolle Band, mit dem Traum und somnambuler Schlaf N a t u r und Geisterreich ineinander zu verschlingen scheinen, verdichtet. Steffens, Schubert, Baader sammelten um Gedanken dieser Art eine schwärmerische Schule. Die jetzt zuerst publizierten Werke Schellings aus dieser Zeit u n d Umgebung zeigen, wie tief seine unstreitig große philosophische Kraft — die freilich Leute wie Noack nicht zu würdigen wissen — in den Banden dieser Stimmungen lag. Ein Bild hiervon zu geben, dazu ist dieser populäre Dialog nicht geeignet, wo umfassende Werke vorliegen, in denen mit dem tiefsten Studium des Aristoteles und der englischen Philosophen diese wunderlichen Gedanken sich zu einem höchst scharfsinnigen System verknüpft haben. Was aber den Leser an diesem Dialog fesseln wird, ist die Form.
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Wie eine anmutige Poesie mutet uns das Gespräch an, und über dem Wohlklang einer dem Tone Goethes und zuweilen der romantischen Schule nachgehenden Prosa vergessen wir leicht einen Inhalt, der unserem Gedankenkreise so fernsteht. Die Kunst der dialogischen Form ist es, welche in unseren Augen diesem kleinen posthumen Werke Schellings ihren Wert gibt. Sie bestätigt aufs neue, wie sich auch die von der romantischen Schule angeregten wissenschaftlichen Männer zu den der Poesie benachbarten Formen hingezogen fühlten. Trug sich doch Schelling lange in seiner Jenaer Zeit mit einem großen naturhistorischen Gedicht in Terzinen — über die Natur der Dinge. Damals hatte ihn Dante gewaltig ergriffen. Dann wirkte das Beispiel Piatons, als er seinen Dialog „Bruno" schrieb. Der erste, der audi diese Richtung der Romantik angab, war Friedrich Schlegel. Nicht nur daß er unaufhörlich auf die Dialogs- als Kunstform des Piaton hinwies; in seinem „Gespräch über die Poesie" machte er audi selber den ersten Versuch. Diesem folgte Schelling, und auch Schleiermacher schrieb um jene Zeit einen noch ungedruckten „Dialog über das Anständige"; wie jene gedadite er damals seine ethischen Ansichten überhaupt in Dialogen darzulegen, da diese allein ihm dem Leben in seiner Fülle sich zu nähern schienen. Solger allein hat bei dieser von der romantischen Schule angegebenen Richtung der wissenschaftlichen Darstellung treulich ausgehalten. Sein „Erwin" ist das reichste, was aus dieser Nachahmung des dialektischen Gesprächs entsprang. Zuerst machte sich der Ubersetzer des Piaton selbst von dieser engeren Form des dialektischen Dialogs frei. „Wilhelm Meister" und seine romantischen Nachahmungen hatten ihm eine leichtere, weniger nach der Antike arbeitende Art, Gespräch und Erzählung zu verknüpfen, nahegelegt. So entstand die „Weihnachtsfeier", zwischen dem dialektischen Dialog und der Novelle in der Mitte stehend, eine Art Form für sich. An diese schließt sich offenbar Schellings „ C l a r a " in bezug auf die Form an. Wie jene ein Fragment aus einem Zyklus ist, welcher die großen Feste umfassen sollte, so diese aus dem Zyklus der Jahreszeiten. Was Schelling zustatten kommt, ist die größere Leichtigkeit seiner Sprache: sie fließt nicht selten im anmutigsten und natürlichen Fluß: hier und da freilich empfindet man die Einwirkung Goethesdier Erzählung und Gesprächsart, wenn audi angenehm, doch allzu deutlich. Der Gedanke ist vortrefflich, den Gesprächen dadurch einen inneren Zusammenhang zu geben, daß eine edle Frauennatur durch sie von Stufe zu Stufe aus schmerzlich dunklen Empfindungen zu einer heiteren und klaren Ansicht der ewigen Dinge fortgeführt wird. Denn es ergibt sich dann auch, wie in der Natur des halbpoetischen, halb-religiösen, kaum aber philosophischen Gegenstandes liegt, daß die Gespräche untereinander mehr den Zusammenhang einer sich klärenden Stimmung als streng fortgeführter Gedankenreihen haben; breite Episoden treten ein; ein ruhiges Behagen tritt an die Stelle der scharfen Spannung, mit welcher die dialektische Manier der Solgerschen Gespräche den Leser fortzieht. Daß dieser Eindruck von Schelling beabsichtigt ist, dafür spricht eine, freilich an seltsamer Stelle eingefügte Episode über den Dialog. Hier wird die Ansicht, welche Friedrich Schlegel ausgesprochen hatte, aus historischen Personen die Sprecher zu wählen, verworfen. Der Dialog sei darin mehr der Komödie als der Tragödie
Biographisches über Savigny (1862)
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ähnlich, d a ß er seinen Stoff mehr aus der Gegenwart als aus der Vergangenheit zu nehmen habe. Nähere er sich aber nicht damit dem Roman, -wenn er die Gesinnungen der Gegenwart mit einiger Anschaulichkeit darzustellen unternehme? Auch dies scheint Schelling nicht verwerflich. Der Roman mit seinem zwischen D r a matischem und Epischem schwebenden Leben neige sich sehr zum Dialogischen hin, so daß es gerade noch die Frage wäre, ob irgendeine Form dem philosophischen Gespräch f ü r unsere Zeit näherliege als eben diese. „Ich fühle lebhaft das Wohltätige, was eine solche Darstellung philosophischer Ansichten f ü r unsere Zeit haben könnte, die im ganzen doch so sehr nach Wissenschaft verlangt. Es wird so viel über den U n f u g geklagt, der mit philosophischen Systemen und Theorien getrieben wird; sollte er nicht hauptsächlich in dem Gebrauch der Kunstsprache seinen Grund haben? Die Kunstwörter kann auch ein im übrigen geistloser Kopf nachreden. Wer aber die Sache in einem gemütlichen und äußerlich kunstlosen Gespräch darstellen kann, der m u ß sie wirklich innehaben, sie durchdringen und von ihr ganz durchdrungen sein." Dies ist es in der Tat, was jederzeit dem Dialog seine Stelle in der philosophischen Literatur — wie eingeschränkt sie auch sei — erhalten wird, daß durch ihn abstrakte Theorien Innerlichkeit, Leben und Charakter gewinnen. Um je abstrakter und unserem Zeitalter ferner die sind, welche Schelling im vorliegenden Dialog hinstellt, desto mehr bewundern wir die Kunst, durch welche er ihnen eine Art von Leben in demselben einhaucht.
Biographisches über Friedrich Carl von Savigny R. Stintzing, Berlin 1S62.
Friedrich
Carl von Savigny.
Albrecht Friedrich Rudorff, Friedrich Wesen und Wirken. Weimar 1862.
Ein Beitrag
Carl von Savigny.
zu seiner Erinnerung
Würdigung. an sein
Von des Lebens Gütern allen Ist der Ruhm das höchste doch; Wenn der Leib in Staub zerfallen, Lebt der große N a m e noch. Diese Worte des Dichters erinnern uns daran, daß, wer das Leben eines großen Mannes schildern will, des Lebens höchstes Gut, den Ruhm, dabei nicht unbeachtet lassen darf. Eine Biographie, die nicht zugleich die Geschichte des Nachruhmes erzählt, ist etwas unvollständiges. Diese Betrachtung mag es rechtfertigen, wenn wir diesen Bemerkungen, welche wir am Jahrestage des Todes Savignys (gestorben den 25. Oktober 1861) an die Geschichte seines „großen Namens" während dieses Jahres knüpfen, die Überschrift „Biographisches" geben.
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Wie die Geschichte des Handelns und des Leidens, so ist audi die Geschichte des Ruhmes bei verschiedenen Männern eine verschiedene. Goethe ging dahin, von dem Volke verehrt und bewundert; der Stern seines Ruhms strahlte fortan in immer gleich hellem Glänze. Für das Wesen und Wirken eines Schiller und Fichte ging der Nation erst Jahrzehnte nach ihrem Dahinscheiden das volle Verständnis auf, und rauschende Feste zu ihrer Erinnerung entschädigten sie für viele Zurücksetzungen, die während ihres Lebens sie getroffen. Das glänzende Gepränge bei dem Leichenzuge Humboldts haben wir selbst gesehen; am Abend aber wurde die Feierlichkeit entweiht durch einen rohen Pöbelkrawall, einen Vorboten jenes widerwärtigen Buches, das einen tiefen Schatten auf das Andenken des berühmten Mannes warf und welches zu vergessen noch immer nicht gelungen ist. Savigny starb zur ungünstigen Stunde, als eine Reaktion, welche mit Recht oder Unrecht auch seinen Namen als eine Autorität für ihre verderblichen Tendenzen zitiert, eben im Anzüge war. Ohne diesen Zufall wäre es nicht möglich gewesen, daß der Tod eines Mannes, der nur über Jahrhunderte hinweg wenigen ebenbürtigen Fachgenossen die Hand zu bieten vermag, und der neben Zeitgenossen, wie die beiden Humboldts, Schleiermacher, Niebuhr und andere vollberechtigt stand, nur in so engen Kreisen Aufmerksamkeit und Teilnahme erregt hätte. Wenn es indessen der Wunsch des Forschers ist, in dem Andenken seiner Berufsgenossen, der des Lehrers, in dem Herzen seiner Schüler fortzuleben, so ist jene antike Eudämonie, welche das Leben und Wirken Savignys begleitete, auch durch seinen Tod nicht gestört worden. Die beiden oben zitierten kleinen Schriften sind Denkmäler, welche des großen Toten durchaus würdig sind, und deren Pietät nicht in hohlem Wortgepränge, sondern in inniger Vertiefung in den Geist und die Bedeutung des Meisters besteht. Zwischen beiden waltet eine kleine Verschiedenheit der Behandlung ob: Rudorff war der unmittelbare Schüler Savignys, und zwar sein Lieblingsschüler; seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nach ist er fast ebensosehr Philologe als Jurist. Bei ihm finden wir daher die vollständigere Darstellung der Persönlichkeit, das treuere Erforschen aller der kleinen Züge, welche auf das Gesamtbild von Einfluß sind. Der jüngere, Stintzing, ist nicht in den Traditionen der historischen Schule allein auferzogen; er hat in vollerem Maße alle Bildungselemente des 19. Jahrhunderts in sich aufgenommen, und sein Urteil ist daher das unbefangenere und treffendere. Beide Schriften aber geben von der Wirksamkeit Savignys ein Bild so klar und so treu, wie es wohl kaum je von einem Gelehrten so bald nach seinem Tode entworfen worden ist. Ein ferneres Denkmal, welches man Savigny errichtet, ist die nach seinem Namen benannte Stiftung zur Beförderung des Studiums der vergleichenden Rechtswissenschaft, welche einen günstigen Fortgang nimmt und nach einem kürzlich veröffentlichten Ausweise bereits ein Vermögen von 13,752 Talern besitzt. Für diejenigen unserer Leser, welche sich nicht entschließen können, in diesen Notizen etwas Biographisches zu finden, geben wir an Rudorffs Hand einige Nachrichten über die Vorfahren Savignys, unbekümmert um den Vorwurf, daß auch dies strenggenommen nicht in die Kategorie der Biographie gehört.
Biographisches über Savigny (1862)
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Savignys Familienname klingt französisch an, darum verdient es betont zu werden, daß die Voreltern Savignys zu keiner Zeit Frankreich angehört haben, daß sie einem Grenzlande entstammten, welches ein altes Glied des deutschen Reiches war und daß, als dieses Gebiet an Frankreich verlorenging, sie wenigstens es längst verlassen hatten. Savignys Familie gehörte zu den ältesten Geschlechtern der von alters eingesessenen Ritterschaft des Herzogtums Oberlothringen. Im lothringischen Amte Charmes, wo im Stromgebiet der Mosel auf dem linken Ufer der Nebenfluß Colon in den Madon einmündet, liegt das feste Schloß und die Herrschaft Savigny. Ein Grabstein in der nahen Zisterzienserabteikirche Beaupre an der Meurthe aus dem Jahre 1353 meldet, daß die Familie seit diesem Jahre nach jener Herrschaft sich zu schreiben angefangen habe. Allein diese Nachricht ist nicht genau. Schon 1312 ernannte Kaiser Heinrich V I I . von Luxemburg bei dem Römerzuge den kriegstüchtigen burgundischen Ritter Johann von Savigny zum Kapitän von Rom. Ja, der noch erlauchtere N a m e jenes Andreas von Savigny, welcher 1191 und 1192 an Richards Seite gegen Saladin kämpfte, knüpft sich an jenen heimatlichen Rittersitz. Mochte dieses Geschlecht dem romanischen Kulturgebiet des Herzogtums entstammen: bei der Zersetzung des lothringischen Rechtszustandes ist es gleichwohl nicht mit dem Lande zu Frankreich, sondern gleich dem Fürstenhause zu Deutschland gestanden. Diese Wendung brachte auch ihm der Dreißigjährige Krieg. Im Jahre 1630 wurde der achtjährige Paul von Savigny, der Sohn Peters von Savigny und Susannas de Berjon, der protestantischen Religion wegen von einem älteren Verwandten aus seiner Vaterstadt von Metz nach Deutschland geführt, erwarb in dem Leiningschen Lehen Calestadt Grundbesitz auf deutschem Boden und fand nach seinem noch vorhandenen Denkmal in der Kirche zu Kirchheim in der Grafschaft Alt-Leiningen ein G r a b in deutscher Erde. Während in Frankreich fortan die Familie als erloschen gilt, haben die deutschen Savignys dankbar und treu ihrem deutschen Vaterlande jene Aufnahme vergolten. In der trüben Zeit nach dem Westfälischen Frieden, als das durch den langen leidenschaftlichen Bürgerkrieg geschwächte Kaiserhaus sowenig als das vertriebene lothringische Fürstenhaus sich der französischen Unbilde mit den Waffen des Kriegs zu erwehren vermochte, als nur im fernen Nordosten die straffe Energie des großen Kurfürsten die schwedischen Eindringlinge von der deutschen Erde vertrieb, in jener Zeit der verfallenden hierarchisch-feudalen Universalmonarchie und der in der nationalen Individualisierung des brandenburgischen Kurstaats keimenden neuen Staatsidee, hat Savignys Urgroßvater, der Sohn jenes aus Metz geflüchteten Paul von Savigny, Ludwig Johann von Savigny, fürstlich-nassauischer Geheimrat und Präsident zu Weilburg, furchtlos und kraftvoll mit den Waffen des Geistes und Rechts gegen die Übermacht Ludwigs des Vierzehnten gestritten. Sein Buch gegen die Reunionskammern, „dissolution de la reunion", ist mit einem Nachdruck und einer Kühnheit der Sprache geschrieben, als ob es nicht 1692 in den Zeiten unserer Demütigung, zwischen den Tagen von Nymwegen und Ryßwidc, auf welchem letzteren sein Verfasser den am stärksten gemißhandelten oberrheinischen Kreis vertrat, sondern wie wenn es mitten im Aufschwung der Nation in den preußisch-
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deutschen Freiheitskriegen erschienen wäre. Die treueste und entschiedenste monarchische Gesinnung hat den Verfasser jener Schrift nicht gehindert, sämtliche Eide, welche die burgundischen, lothringischen und elsässischen Reichsstände der Krone Frankreich zu Metz, Colmar und Besanfon hatten schwören müssen, für nichtig und unverbindlich zu erklären, erzwungen und erschlichen durch die tyrannische und ländersüchtige Politik des vierzehnten Ludwig, in deren Gutheißung auf jenem Tage zu Ryßwick unser Vaterland und Volk die schwere, aber wohlverdiente Buße seiner inneren Zwietracht entrichten mußte. Im Eingange der erwähnten Schrift heißt es von Ludwig XIV.: „Der maßlose Ehrgeiz dieses Fürsten läßt ihn alle seine Worte und Versprechungen brechen; ihm opfert er seinen Gott, seine Ehre und sein Gewissen. Man macht sich keine Sorge mehr darüber, auf welchem Wege und mit welchem Rechte man eine Sache unternimmt, vorausgesetzt, daß man sie durchführen und seine Grenzen erweitern kann. Der große Erfolg und das Glück, die mehrere Jahre seine Unternehmungen begleitet haben, haben ihn so übermütig gemacht, daß er nichts mehr für unrecht oder für unmöglich hält, und, nicht zufrieden, die Grenzen seines Königtums so beträchtlich erweitert und seine Kassen mit ungeheuren Summen gefüllt zu haben, seine Edlen und sein Volk unumschränkter zu regieren, als es je einem seiner Vorgänger möglich war, auch die Absicht gefaßt hat, der Schiedsrichter aller seiner Nachbarn zu werden. Aber die Sache ist zu weit getrieben, und es könnte dahin kommen, daß er den Namen Ludwigs des Großen mit dem Ludwigs des Unglücklichen vertauschen müßte." In der Vorrede an die deutschen Reichsstände heißt es: „Ihr Herren seid Deutsche; Ihr zieht die Großherzigkeit eines Hermann der niedrigen und feilen Seele eines Flavius vor; Ihr wollt keine Verräter an Eurem Vaterlande werden, sondern Ihr wünscht vielmehr, dem Hermann gleich, Befreier und Verteidiger Eurer bedrängten Untertanen zu werden, die unter der ungerechten Last seufzen, welche eine grausame Nation ihnen auferlegt hat; Ihr werdet Eure teure deutsche Freiheit nicht gegen ein französisches Linsengericht wegwerfen; Ihr werdet Euch nicht unter die Gewalt eines Fürsten bringen lassen, unter der Ihr, wie Ihr gewiß wißt, die Freiheit verlieren würdet." Der Sohn dieses wackeren Verteidigers deutscher Ehre und Integrität, Savignys Großvater, Ludwig von Savigny, diente als Freiwilliger unter dem kaiserlichen General Rehbinder bei der Entsetzung von Turin, lenkte aber bald in eine politischadministrative Tätigkeit ein, in welche ihm sein Sohn Christian Carl Ludwig, Savignys Vater, folgte. Auf die politische Richtung Savignys selbst geht von den beiden Schriftstellern Stintzing ausführlicher ein, und indem er seine Freude darüber ausspricht, daß Savignys Name nur lose verwebt ist mit den Ereignissen, die sich an die Namen der Hassenpflug, Linde, Schröter, Pernice, Keller, Stahl knüpfen, tut er einen Ausspruch, der gewissermaßen das ergänzt, was wir eingangs gesagt haben und mit welchem wir deswegen hier schließen wollen: „Savignys Name selber hat durch solche Erscheinungen bei unserem Volke Schaden gelitten, so daß es Zeit ist, seinem Andenken den guten Klang wiederzugeben durch die Erinnerung an das Große und Edle seines Wesens und Wirkens."
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Joachim Jungius Des Joachim Jungius Briefwechsel mit seinen Schülern und Freunden. Ein Beitrag zur Kenntnis des großen Jungius und der wissenschaftlichen wie sozialen Zustände zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Hrsg. von Ave-Lallement. Lübeck 1863. Zehn Jahre sind es her, daß Joachim Jungius, der Baco der Deutschen, aus dem Halbdunkel, in welchem seine Entwicklung, seine Ideen, seine Einwirkung auf seine Zeit lagen, durch Guhrauers treffliches Werk, eine unserer schönsten literaturhistorischen Untersuchungen, herausgehoben wurde. Angeregt war Guhrauer durch die bewundernden Äußerungen einiger unserer größten Geister, welche Jungius in ihren Forschungen begegnet waren. Die des großen Leibniz sind auf eine fast domantische Weise mit dem Schicksal der Manuskripte des Jungius verknüpft. „Joachim Jungius ist selbst in Deutschland nur wenigen bekannt; aber er war ein Mann von soldier Schärfe und solchem Umfang des Geistes, daß man kaum von einem anderen Sterblichen — und ich nehme selbst den Cartesius nicht aus — die Wiederherstellung der Wissenschaften eher hätte erwarten dürfen." Nur von drei Männern wundert er sich, daß sie den Gedanken seiner Wissenschaftslehre, ihm des größten seiner großen Projekte, nicht von ihm gefunden hätten: von Aristoteles, Cartesius und — Jungius. In einem Brief an Vagetius forderte er die Hamburger auf, den umfassenden Nachlaß des Jungius auf öffentliche Kosten zu edieren. Es war ein Mahnungsruf, im Vorgefühl eines bevorstehenden Unglücks. Nicht lange darauf vernichtete eine Feuersbrunst im Hause des Vagetius, welche diesem selber den Tod brachte, den größten und wertvollsten Teil der Manuskripte. Mit jener eigenen Pietät gegen die Forschungen der Vorgänger, wie sie dem Gefühl entspringt, wieviel auch hier vom Glück und der edlen Gesinnung der Späteren abhänge, eine Stimmung, in welcher sich Leibniz mit Lessing berührt, gedachte er mit immer neuem Leidwesen dieser Verluste und der Verdienste des Mannes. „Ich kann den Verlust seiner Manuskripte nicht genug beklagen." Nachdem er das Erhaltene in Hamburg durchmustert hatte, beabsichtigte er es mit ungedruckten Schriften von Galilei, Campellana und Pascal herauszugeben; denn — dies hinzuzufügen unterließ er nicht — er setzte den Jungius keinem dieser Männer nach. Sein Tod vereitelte diesen Plan. Demselben Schicksal, vor dem seine großartige Pietät den edlen Vorläufer zu bewahren gedacht hatte, verfiel nun die ungeheure Manuskriptenmasse, welche er hinterließ. Man kann nicht umhin, wehmütige oder scherzhafte Vergleichungen, je nach der Stimmung, zwischen damals und jetzt anzustellen; Werke, welche den Gang der Wissenschaften umgestaltet hätten, wie Leibniz' ungeheure historische Quellensammlung und Jungius' Schriften zur Theorie der exakten Wissenschaften, sind damals im Staub der Bibliotheken begraben worden; jetzt, nachdem wir ihrer nicht mehr bedürfen, treibt uns ein Gefühl der Pietät sie — zu spät — ans Licht zu ziehen. So spielt das Glück mit den Arbeiten großer Geister, den Resultaten ungeheurer Forschungen. Mehr als ein Jahrhundert später führten Alexander von Humboldt seine Studien auf die Arbeiten des Jungius, und er, der ein Auge für die ganze wissenschaftliche
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Stellung des Mannes haben konnte, hob mit Begeisterung die universelle Bedeutung des „großen, so lange verkannten Jungius, welchen an Gelehrsamkeit und philosophischem Geiste keiner seiner Zeitgenossen übertraf", hervor. Als dann Goethe — es war in seinen letzten Lebensjahren — durch eine Vergleichung seiner botanischen Arbeiten mit denen des Jungius auf diesen Schriftsteller aufmerksam gemacht wurde: interessierte ihn diese wissenschaftliche Erscheinung so stark, daß er ihm ein literarisches Denkmal zu setzen den Plan faßte. In der Einsamkeit des Dornburger Aufenthalts, wo er, nach Karl Augusts Tode, von der Öde eines so großen Verlustes sich zu erholen, in Studien verschiedener Art sich versenkte, wurde neben den botanischen Arbeiten diese über Jungius in Angriff genommen. — Die schönen Fragmente sind bekannt, welche damals aus diesen Studien hervorgingen. Auch Schelling sprach den Wunsch aus, daß einige „der auf Logik, auf Philosophie und Mathematik, oder wissenschaftliche Methodik überhaupt sich beziehenden Schriften von Jungius möchten herausgegeben werden." Auf solche Anregungen unternahm Guhrauer, die Schriften und das Leben von Jungius aus den Manuskripten desselben, welche sich erhalten hatten und auf der Hamburger Stadtbibliothek sich befinden, zu erforschen. Seine Biographie widmete er dem Senat von Hamburg mit der dringenden Bitte, daß jetzt doch „der Wunsch des großen Leibniz seine Erfüllung erleben", und eine Herausgabe dieser Manuskripte veranstaltet werden möchte. Auch für diesen Plan starb der unermüdliche und scharfsinnige Literarhistoriker zu früh. Es war sehr verdienstlich, daß Ανέ-Lallement, ein Lübecker Landsmann des Jungius, bei verschiedenen Gelegenheiten dieser Pietätspflicht gedachte und auf die Manuskripte des Jungius die Aufmerksamkeit richtete. Er hat nun auch aus den Konvoluten, welche die vollständig erhaltene Korrespondenz des Jungius enthalten, den Briefwechsel desselben, für einen größeren Leserkreis und durch biographische Mitteilungen in sich verbunden, herausgegeben, um endlich Hand ans Werk zu legen. Es war keine kleine Arbeit, obwohl Guhrauers Vorarbeiten zugrunde liegen, da die Briefe des Jungius selber in schwer leserlichen, teilweise undatierten Kladden vorliegen. Wir können, trotz unserer Anerkennung dieser Arbeit, den Wunsch nicht unterdrücken, daß er eine andere Methode der Herausgabe befolgt hätte. Zunächst sollte man doch überhaupt Editionen nicht mit Briefen anfangen, da der Zweck derselben ist, den Entwicklungsgang und die Genesis der Arbeiten und Ideen des Betreffenden zu erläutern; das kann nur auf Grund und mit steter Berücksichtigung der vorliegenden Arbeiten selber geschehen. Briefe werden sonst zu einer unzusammenhängenden Notizensammlung für alle möglichen Zwecke, wie denn audi der Zusatz „zur Kenntnis der sozialen Zustände zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges" auf eine solche zu weit gesteckte Aufgabe deutet. Vortrefflich, wenn eine Briefsammlung einen solchen Dienst in zweiter Linie leistet; aber das Notwendigste ist, daß sie mit scharfem Bezug auf ihre nächste und direkte Aufgabe gearbeitet werde. Dann, in ihren richtigen Zusammenhang gestellt, hätten die Briefe von selber dazu aufgefordert, in fortlaufende Beziehung zu den Werken gesetzt zu werden, welche sie erklären sollen. Es hätte dann auch wohl nötig geschienen, mit größerer Anstrengung der Chronologie der Briefe nachzugehen und zugleich hätten
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sich audi durch genaue Bekanntschaft mit den anderweitigen Manuskripten Anhaltspunkte für diese Chronologie auffinden lassen. In solchen Dingen gilt wirklich der Spruch des Terenz, den ein großer Philologe sich zum Motto erwählt hat, nil tarn difficile est, quin investigari possiet. Dann wäre ein anderer, strengerer Zusammenhang dieser Korrespondenz hervorgetreten, die doch jetzt einem literarischen Urwalde zu ähnlich sieht. Zwei Punkte in der Behandlung wären dann zu einer Erwägung gekommen, über die wir, ohne Einsicht in die Manuskripte, nicht entscheiden können. Einmal die Frage der Vollständigkeit. Was die Schüler betrifft, so scheint uns ab und zu sogar zu viel getan: hier Vollständigkeit zu fordern wäre töricht. Anders aber ist es mit den Briefen des Jungius selber; wenn der Verfasser zum Beispiel zwei mathematische Briefe „vorläufig zurückgelegt hat, um sie später vielleicht einmal zu benutzen": so ist das für die Herausgabe der Jungiusschen Briefe doch ein zu gemütliches Manöver. Ohnehin blieb die Grenze des allgemein Interessanten doch nicht festzuhalten; eine gelehrte Korrespondenz ließe sich eben nur, wenn man das Wichtigste wegschnitte, unter diesem Gesichtspunkt unterbringen. Die andere offene Frage betrifft die Übersetzung ins Deutsche. Wo es sich um logische Terminologien handelt, ist meist, wie zum Beispiel Seite 387/388, das ins Deutsche Übersetzte für den Forscher der Geschichte der Logik unbrauchbar; was sie aber für solche, die Latein ungern lesen, für ein Interesse haben solle, ist kaum abzusehen. Sollte nicht die Wirkung, welche Arbeiten, die kulturhistorische Dokumente mitteilen, in den letzten Jahren auf ein größeres Lesepublikum gehabt haben, hier den Herausgeber zu einem Irrtum verleitet haben? Diese hatten aber doch volkstümliche Gegenstände; die Widerlegung der Logik von Suarez und der scholastischen Metaphysik hat aber wenig Aussicht, je volkstümlich zu werden. Das Verständnis einer fast tausendjährigen Periode des Abendlandes hängt an dem der syllogistisdien Logik und ihrer Motive; aber es bedarf noch mancher rein gelehrten Durcharbeitung, ehe auch nur allgemeine Resultate und ehe sie audi nur den Historikern und anderen Gelehrten abliegender Gebiete verständlich werden könnten. Wir können daher dem verdienstvollen Herausgeber unsere Ansicht nicht vorenthalten, daß uns hier die Grenzen der Gelehrsamkeit und allgemeiner Wirkung auf Kosten der ersten und ohne Nutzen der letzteren durchbrochen zu sein scheinen. Damit wir uns aber hüten, in denselben Fehler zu verfallen, wollen wir einiges aus den Briefen mitteilen, nicht von dem Logiker oder Mathematiker oder Botaniker Jungius, sondern von den abenteuerlichen Zuständen des damaligen Gelehrtenwesens auf den Universitäten. — Jungius hat seine mathematische Professur aufgegeben, um nebst einem Freunde, dem berühmten Orientalisten Helvich, dem abenteuerlichen Reformator der damaligen Didaktik, dem Vorläufer unserer modernen Lehrmethoden: Ratidiius zu folgen. Einige Zeit haben die drei Reformatoren einträchtig im Hause eines berühmten Gräzisten in dem alten Augsburg gelebt und die neue Didaktik weiterzubilden gesucht. Dann trieben sie Streitigkeiten auseinander und der Freund Rätichius', einer der bedeutendsten Orientalisten seiner Zeit, Helvich, berichtet nun so über das Geschick des ersteren: „Ratidiius lebt jetzt in Waldeck, hat sich von Erfurt fortgemacht, ohne für die gastliche Auf-
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nähme zu danken, wo er doch auf weimarsche Kosten gelebt hat. Zu Waldeck, höre ich, wohin ihn der Graf von Waldeck gerufen hat, ist er ebenfalls nicht eben beliebt. Ich wünsche ihm gesunden Menschenverstand und Menschenkenntnis. Mir erzählte Kromeier, der Hofprediger, einigen Verdacht, welcher, wenn er sich bewahrheitet, mich des Menschen jammern macht. Er steht in Verdacht, einen in einer Zirkelfigur eingeschlossenen spiritus familiaris bei sich zu führen, welchen spiritum familiarem er einmal in Augsburg, als er aufs Höchste unwillig geworden war, hervorgezogen habe. Auch erwähnte er einiger von jenem vorgebrachten Reden, als Ihr einmal beim Frühstück zugegen wäret. Gewiß tut mir das Schicksal des Menschen leid, Gott bekehre ihn und bringe ihn zur Vernunft zurück." So dachten voneinander mitstrebende Zeitgenossen von Kepler, Cartesius und Bacon. — Wir knüpfen hieran eine interessante Erzählung der Tumulte, welche die Philosophie des großen Einsiedlers von Amsterdam, des Cartesius, auf der benachbarten Leydener Universität erregte; auch hier tritt die seltsame Mischung großer geistiger Gärung und eingewurzelter Vorurteile hervor. Der Erzähler ist einer von Jungius' Lieblingsschülern, jener Varenius, dessen Entwurf der allgemeinen und vergleichenden Erdkunde Alexander von Humboldt so schön im „Kosmos" hervorgehoben hat. „Zu Leiden wird in heftigem Zwiespalt um Descartes gekämpft, nicht sowohl über seine Naturlehre selbst, sondern über jene Demonstration, wodurch er die Existenz Gottes beweisen wollte, und über einige andere Punkte. Die Akademie ist in zwei Teile gespalten, in Scholastiker und Cartesianer. Nicht aber nur mit Worten und Schreiereien streiten sie, sondern auch mit Prügeln. Es hatte nämlich vor einigen Wochen ein Aristoteliker eine Disputation zu halten unter dem Titel: Gegen die philosophischen Neuerer. Denn es ist vom akademischen Senat beiden Parteien verboten, den Namen des Cartesius auf Thesen zu setzen oder in Disputationen auszusprechen. Die kartesianischen Opponenten forderten vom Präsidenten, er solle sagen, gegen wen er die Disputation gerichtet hätte und welche denn die philosophischen Neuerer seien. Der Präses erwiderte: man könne ihn nicht zwingen, das zu sagen; jene aber bestrebten sich, es von ihm auszupressen. Nun ist aber in jener Akademie die Sitte, daß die Zuhörer mit den Füßen scharren, wenn entweder der Präses oder die Opponenten etwas vorbringen, was weniger zweckmäßig gesagt scheint. Das passierte jetzt dem Präses. In den Scharen der Zuhörer war gerade ein Bruder des Respondenten. Dieser bezog die Beleidigung gegen den Präses und seinen Bruder auch auf sich und gab einem Studenten in seiner Nähe eine lautschallende Ohrfeige. Mein Student aber, nicht faul Gleiches mit Gleichem zu vergelten, gab dem andern eine noch mächtigere Maulschelle wieder, und nun allgemeiner Aufruhr!" — Es ist noch etwas von der mittelalterlichen Ungebundenheit der Studenten in diesem Treiben; auch damals befanden sich noch viele fertige Männer in den Hörsälen. Nicht friedlicher lauten freilich die Berichte von den deutschen Universitäten: überall hallen sie wider von den Streitigkeiten der Theologen und Philosophen der alten und neuen Schule. Diese Berichte, wie sie Jungius als Rektor des Hamburger akademischen Gymnasiums in seiner späteren Lebenszeit von seinen Schülern erhielt, gehören zu den interessantesten Partien der Korrespondenz. So vieles, was
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jetzt über literarische Zustände dem einzelnen durch den Drude zukommt, mußte damals durch eine weit ausgebreitete Korrespondenz bezogen werden, und es scheint, daß der treffliche Hamburger Rektor dazu nicht ohne eine starke Dosis literarischer Neugierde war. Von Helmstedt, das damals durch Männer wie Calixt und Conring seine Blütezeit hatte, heißt es — eine große Seltenheit in diesen Berichten — : „Alles ist hier still und friedlich; jeder kommt seiner ihm angewiesenen Amtsverwaltung nach und bekümmert sich nicht darum, wie der andere die seine verrichte. Streitereien sind ganz verbannt von hier, mit Ausnahme einer einzigen zwischen Baldovius und dem Mathematiker von Felden." Von Conring berichtet der sonst sehr sarkastische Blom: „Das ist wahrhaftig, so weit meine Einsicht reicht, ein höchst scharfsinniger Naturforscher, der Dich aus demselben Grunde hochhält. In diesem Augenblicke läßt er alles veröffentlichen, was zur Erzeugung des Blutes zu gehören scheint; später wird er mancherlei über die Form der Substanz und die Entstehung der Dinge aus der Materie herausgeben. Gar sehr wünscht er, Du möchtest etwas über die Beweisart in den Naturwissenschaften herausgeben. Übrigens zieht er unter den Alten niemand dem Aristoteles vor, doch so, daß er nicht leugnet, man läse bei ihm Sachen, welche von der Wahrheit abwichen; beim Beurteilen aller Dinge aber müsse man nicht sowohl auf das Ansehen jener, als auf die Erfahrung selbst sehen, da es häufig geschähe, daß etwas sich vortrefflich herleiten ließe aus anderen Sachen, was notwendig falsch sein müßte, weil das nicht richtig wäre, wovon es sich herleiten ließe. In dieser Weise, erinnere ich mich, ihn auch öffentlich, als er Harveys Ansicht über den Kreislauf des Bluts verteidigte, gehört zu haben." — Von Königsberg berichtet ein Schüler: „Am meisten blühen hier die theologischen Studien, sowohl weil alles in Preußen vor Kriegseinfällen sicher ist, als auch weil jetzt die theologische Fakultät aus mehr Lehrern besteht als je zuvor. Dazu kommt noch, daß, weil der durchlauchtigste Kurfürst von Brandenburg wegen der Kriegstumulte, welche Deutschland zerfleischen, in seiner Königsberger Residenz verweilt, die Professoren hierselbst sehr fleißig ihre Pflicht tun im Lesen und Disputieren." Es wird dann von den Disputationen berichtet, die der bekannte eifrige calvinistische Streiter, der Hofprediger Berg, mit den Königsberger Theologen ausfocht: zuletzt indes wollte er doch nur noch unter Assistenz öffentlich beglaubigter N o t a r e mit den Lutheranern disputieren. Dagegen berichtet ein Schüler vom Zustand der Rostocker Universität: „Er ist der Art, daß er meines Erachtens nicht schlimmer sein kann. Denn in der ganzen Zeit, die ich hier bin, sind nicht über drei theologische Kollegien gehalten worden, medizinische vier, juristische gar keine. Ebenso wie die Philosophie in ihrer sittlichen Verfassung entartet ist, ebensosehr ist sie auch aus den Vorträgen, was Würde und Sachwahrheit betrifft, fortgewichen. Die Magister reden barbarisch; dann erctwickeln sie nicht, sondern verwickeln in viele Finsternis die Aussprüche ihres Schutzherrn, des großen Aristoteles. Wenn ich das alles anhöre und ansehe und mit dem vergleiche, was ich aus der Tiefe Deiner Lehren geschöpft habe, so muß ich bald in mich hineinlachen, bald so mit Barclay ausrufen: Ο wie viel Rächer der Wissenschaften ihr auch sein möget, entreißt die besudelten Musen aus den Kerkern der Schulen und bringt sie zurück in die alte Freiheit." — Noch trüber lautet es von dem vom Krieg gewaltig 17
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mitgenommenen Wittenberg: „Bei meiner allerersten Ankunft war schon alles in einem mittelmäßigen Zustand, indes bemerkte ich sogleich, daß das den Studierenden der verschiedenen Fakultäten, zumal den Theologen, ganz recht wäre und die Bemühungen der Juvenile, wie sie sich nennen, nicht eben eifrig wären. Doch sind dagegen die Plackereien, was der einzige Trost ist, ganz erträglich. Ich glaube, daß daran diese trüben und unglücklichen Zeiten Schuld sind. Die Lage der Einwohner ist, wie man sich leicht denken kann, im höchsten Grade traurig und wird auch nicht so leicht sich bessern, was ihnen audi schreckliche Wunderzeichen leider! übergenug verkündigen. Mehr als gewiß ist es nämlich, daß die drei Flüsse bei Leipzig mit blutrotem Wasser angefüllt gefunden seien. Dazu sind, was noch mehr zu beherzigen ist, während mehrerer Nächte an jenem Orte, den man die Walstatt nennt, an welchem Schlachten stattgefunden haben, jammervolle Wehrufe gehört worden, und man hat aufgestellte Schlachtreihen kämpfender Krieger gesehen, was bis dahin meines Wissens niemals ohne das größte Elend der Bewohner geschehen ist. Möge ihnen der allmächtige Jehova mit seiner unfehlbaren Hilfe beistehen und ein drohendes Übel gnädig abwenden. Wenn das nicht geschieht, so wird es um dieses ganze Herzogtum Sachsen geschehen sein." So der Wittenberger Student, der im selben Briefe ausführliche Berichte über die Kämpfe der induktiven Methode gegen den scholastisch verstandenen Aristoteles gibt und als „Jungianer" in Wittenberg als ein höchst bedenklicher Skeptiker angesehen wurde. Wir wollen die Berichte nicht häufen, die ohnehin, wenn sie nicht mit der damaligen Lage der Wissenschaften und den Arbeiten des Jungius und Geistesverwandter, sie zu reformieren, kombiniert werden, etwas Einförmiges haben. Möchte uns doch bald möglich werden, durch Vergleichung derselben mit den Arbeiten des Jungius das Bild einer Wirksamkeit zu erhalten, die offenbar weit tiefer in die Geschichte der damaligen deutschen Wissenschaft eingreift als man bisher irgend dachte. Ave-Lallemant hat sich an die Liberalität der Bürger und die Teilnahme der Gelehrten von Lübeck, Rostode und Hamburg gewandt: den drei norddeutschen Seestädten, welchen Jungius angehörte; möchte dies der letzte Ruf sein, dessen es bedarf, damit diese Pflicht der Kritik gegen einen großen Mann und gegen die Vergangenheit unserer eigenen Wissenschaft erfüllt werde. Während in England, Frankreich und Holland überall im 17. Jahrhundert gewaltige Anstrengungen der Philosophie und der induktiven Wissenschaften sich zu einer ruhmreichen Geschichte verketten, schien in Deutschland alles in trübem Dunkel geblieben zu sein. Es ist aber möglich, darzutun, daß groß angelegte wissenschaftliche Bestrebungen audi bei uns nur durch die Zerrüttung des Dreißigjährigen Krieges unterbrochen wurden. Immer leuchtender tritt Keplers Bedeutung hervor, nicht nur für die astronomische Forschung, sondern für die Begründung der modernen wissenschaftlichen Methode. Er beginnt, selbst Bacos Verdienste für diese in Schatten zu werfen. Was seine und Jungius' Schüler im Zusammenhang mit den großartigen Anregungen Jacob Böhmes und den energischen Bestrebungen Johann Valentin Andreäs für freie Bahn der Wissenschaft und einer milden Frömmigkeit, wie sie im ersten Viertel des siebzehnten Jahrhunderts ineinandergriffen, für eine Entwicklung herbeizuführen imstande gewesen wären, ohne die Zerrüttung des deutschen
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Kriegs: wer kann ohne Schmerz daran denken? Es ist unser deutsches Geschick, daß wir in der Wissenschaft, wie im Staat und der Kirche immer neuer Anfänge nach abgebrochenen Entwicklungen bedurft haben. Luther fand seiner Zeit den abgerissenen Faden für die kirchliche Reform, Leibniz, nach dem scheinbaren Erlösdien all jener wissenschaftlichen Anfänge, f ü r die wissenschaftliche; halten wir den f ü r die politische in Händen? Oder wer wird den verlorenen Faden der alten Einheit des deutschen Reichs zu fassen wissen?
Aus dem Studierzimmer eines materialistischen Philosophen Louis Büchner, Aus Natur lungen, Leipzig 1862.
und Wissenschaft.
Studien,
Kritiken
und
Abhand-
Große Männer, wenn sie ihres Ruhmes und des begeisterten Beifalls des Publikums völlig gewiß geworden sind, pflegen sich vor diesem, wie vor einem alten Freunde, wohl audi im Schlafrock und zwischen den Büchern ihres Studierzimmers zu zeigen. Ein solches Schauspiel gönnt nun audi der Verfasser von „Kraft und Stoff" seinem begeisterten Publikum. Wir dürfen ihn belauschen inmitten seiner Studien: Bücher von allerhand Art anblätternd, hübsche Stellen aussuchend, die er durch Verse illustriert; dann wieder schüttelt er, wenn die Philosophie gar zu philosophisch werden will, sichtlich mit dem Kopf und überschlägt die Stellen über das philosophische „Ding an sich": denn entweder — bemerkt er höchst vorsichtig — existiert dergleichen nicht, dann stiehlt es uns nur die Zeit; oder es ist unerkennbar, dann ist es auch überflüssig, sich darum zu kümmern. Und nicht nur die Philosophen nötigen ihn zu herzhaften Schnitten, durch welche er allerhand Sätze, die ihm nicht übel scheinen, von denen aussondert, die in die philosophische Rumpelkammer gehören: wo er mit einem großen Naturforscher zusammentrifft, pflegt es ihm leider nicht besser zu gehen; er hat f ü r solche Gelegenheiten eine große Rubrik: „so unphilosophisch nun auch leider die Resultate des Herrn X. sind, so" — bedient er sich eben der Entdeckungen dieser unphilosophischen Leute genauso wie der der philosophischen eben als Heizungsmaterial f ü r seine materialistische Garküche. Es ist ein wunderbarer Anblick, die bequeme Behaglichkeit, mit welcher die neue Philosophie hier vor den Augen des Publikums in philosophischen und unphilosophischen Büchern blättert, und das deutsche Publikum, wie es auf die gelegentlichen Worte lauscht, die ihr dabei entfallen. Welch ein Gefühl mußt Du, ο großer Mann! Bei der Verehrung dieser Menge haben! O, glücklich! wer von seinen Gaben Solch einen Vorteil ziehen kann. 27'"
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Dürfen wir uns unter die Verehrer mischen und Louis Büchner in seinen Studien belauschen? Wir gedenken unser Vorrecht nicht zu mißbrauchen. Wir wollen dem nicht nachspüren, wie er die naturwissenschaftlichen Data zusammenflickt, deren er für die Reform der Philosophie aus dem Geiste der Naturwissenschaft bedarf. Wir finden es unbillig, daß ihm sein Dilettantismus und seine Ignoranz auf diesem Gebiete so schroff vorgeworfen ist. Er hat nie den Anspruch gemacht, Naturforscher zu sein; seine Aufgabe war, aus den Resultaten der Naturforschung die Philosophie zu reformieren, ein System derselben als Erfahrungswissenschaft aufzustellen. Mag sein, daß er das Recht, mit Resultaten zu dilettantisieren, auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, wie die Naturforscher behaupten, über die Gebühr mißbraucht hat. Seine Methode, sich der Philosophie und ihrer Resultate zu bemächtigen, ist desto belehrender. Sie zeigt eine schöne Mischung von Vorsicht und Offenheit. Von Vorsicht: denn mit welcher Behutsamkeit weiß er alle bestimmten Äußerungen über die Grundgedanken der verschiedenen philosophischen Systeme zu umgehen, in der Weise kluger Schüler, welche ihr Pensum in unbestimmten Ausdrücken umkreisen. Und dann wieder von liebenswürdigster Offenheit: so verlockt ihn ein Aufsatz über Schopenhauer hier und da zu einigen Äußerungen ohne Gänsefüßchen, die uns recht tief in den Abgrund von Unwissenheit blicken lassen, den er sein „Denken" nennt: freilich durch einen angenehmen Nebel vorsichtiger Unbestimmtheit. Wenn er sagt: „Locke war nach Schopenhauer der erste, welcher darauf drang, den Ursprung jener philosophischen Begriffe zu untersuchen und dadurch auf die Anschaulichkeit und die Erfahrung zurückführte. Das nämliche tat Baco, später in einem gewissen Sinne auch Kant": so möchte man darauf wetten, daß er Locke vor Baco setze; beweisen kann man es nicht. Wenn er meint: „der sogenannte kategorische Imperativ ist die Grundlage der Moral bei Kant; er soll sich bei jedem Menschen mit unmittelbar zwingender Gewalt von innen aus äußern, und tugendhaft und vernünftig sollen dasselbe sein; daß diese alte und abgestandene Theorie sich sehr weit von der Wahrheit entfernt, wird man Schopenhauer gern zugeben": so ist hier sein tolles Mißverständnis schon außer Zweifel; was in Schopenhauers bekannter Kritik der Ethik Kants bloße Konsequenzenmacherei ist, hält er für einen Kantschen Satz, und wer das tut, kann auch nicht die erste Seite der Analytik der reinen praktischen Vernunft gelesen haben. Oder sollte er nur unfähig sein, sie zu verstehen? Es gibt kurz vorher einen Satz, der die Unmöglichkeit davon, daß er eine von Kants ethischen Schriften mit Augen sah, so evident macht, daß selbst die Fanatiker des Sehens und Hörens, seine Freunde, nicht mehr zweifeln dürfen. „Einen seiner wichtigsten und interessanten Gedanken verfolgt endlich Schopenhauer in der Ethik, welche er nicht mehr, wie Kant, durch eine Hintertür in die Philosophie einführt, sondern durch eine auf wirkliche Erfahrung basierte Untersuchung analysiert." Kein Zweifel bleibt, daß hier nichts als ein Mißverständnis des Satzes vorliegt, daß Kant die übersinnlichen Ideen in der praktischen Vernunft als Postulat durch eine Hintertür wieder hineingeführt habe, welche er aus der theoretischen entfernte. Aber er ist eben eine eigene Kunst, dieser Stil, der jeden bestimmten Satz meidet, um so irrigen Sätzen zu entgehen. Man muß sich gelegentlich an kleine Verbindungswörtchen halten, um ihn irgendwo zu fassen. So wenn er
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die Herbartsche Kritik Kants bei Thilo mit dem gelegentlichen Sätzchen begleitet: „auch seine Psychologie ist falsch". Wir schweigen davon, was jemand etwa sonst von Philosophen kennt, der offenbar K a n t nie gelesen hat. Die Propaganda läßt diesen populären Philosophen keine Zeit, die Gedanken anderer ernstlich zu studieren: Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben, Durch die man zu den Quellen steigt! Und eh' man nur den halben Weg erreicht, Muß wohl ein armer Teufel sterben. Und nun ist das Vertrauen rührend, mit welchem er sich von Zeitschriften und möglichst populären Darstellungen über Kant, Fichte und Hegel gelegentlich belehren läßt. Die Philosophie der fünf Sinne, wie sie ihren naturwissenschaftlichen Apparat aus Moleschott bezieht, so wendet sie sich in betreff ihres philosophischen Bedarfs an Gruppe, Schopenhauer, Allihn: sie lebt von einem gemütlichen Kleinhandel. Ja, wenn Büchner unter dem begeisternden und belehrenden Einfluß von Gruppes Buch über „Gegenwart und Zukunft der Philosophie in Deutschland" die Entdeckung macht, daß auch Herbarts Erfahrungsphilosophie nur auf einem kleinen Umweg in die Schwindelei der reinen Spekulation zurückkehre: so hindert das sein vertrauendes Gemüt keinen Augenblick, sich wiederum von dem Striktesten aller Herbartianer aus Herbartschen Prinzipien Fichte widerlegen zu lassen. „Fichte strebt nach Thilo Unmögliches an." Fast scheint es, als ob seine wissenschaftliche Methode mit jener populären auffallende Ähnlichkeit hätte, welche niemandem etwas Gutes zutraut außer wenn er über andere Schlimmes spricht. So läßt er sich auch von Gruppe über die Nichtigkeit der Grundlagen der Kantschen Philosophie gern belehren, bedient sich dann aber wieder in betreff der Streitfragen zwischen Erfahrung und a priorischem Denken, also eben in der Grundfrage Kants, ganz ruhig einiger aus dem Zusammenhang gerissener Worte des „berühmten Geschichtsschreibers der induktiven Wissenschaften, Whewels", der zufälligerweise eben in diesem Punkte Kantianer ist. So weiß er klugen Sinnes die Nachrichten verschiedener neuerer Schriftsteller über Kant, Fichte usw. gegeneinander abzuwägen: der geborene Historiker unserer Philosophie! Schade nur, daß Kants Werke nicht verloren sind, damit dieser ingeniöse Kopf sie rekonstruiere. Was tuts? Für ihn sind sie verloren. Ja, sie sind für ihn und seinesgleichen nicht eimal geschrieben. Wozu brauchten sie diese veraltete Weisheit auch? Sie sind, ihrem unsterblichen Prototyp gemäß, ganz davon voll: Wie wir es denn zuletzt so herrlich weit gebracht. Aber einen hat er doch gelesen: Schopenhauer! Schmückt er nicht alle seine Tiraden über die Philosophie mit dem N a m e n dieses neuen Modephilosophen und mit wirklichen, wörtlichen, ordentlichen Zitaten aus dessen Werken, — ja behandelt er ihn nicht völlig wie einen uns noch erhaltenen Schriftsteller? Und dennoch! Nach der ihm eigenen Methode hat er auch hier sichtlich seine Erfahrungsphilosophie, das mit eigenen Augen Sehen, aufs Nötigste beschränkt. Zugrunde legt er
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offenbar die „Parerga und Paralipomena", die sich überhaupt ganz dazu anlassen, für Kommis, Reporters kleiner Zeitungen usw. endlich eine genießbare Quelle der modernen Philosophie zu werden. Indem er dieses Werk zugrunde legte, entzog er sich doch nicht der Notwendigkeit, einige Fragmente aus der „Welt als Wille und Vorstellung" zu sammeln. Unser Beweis? Er wäre geliefert, wenn ihm auch nur das einzige Sätzchen entschlüpft wäre, Schopenhauer habe seine Philosophie mehr aus äußerlichen als inneren Gründen auf Kant basiert. Denn wenn auch nach obiger Untersuchung feststeht, daß er K a n t selber nicht mit Augen gesehen, so enthält doch Schopenhauers Buch so ausführliche Mitteilungen aus Kant, daß ihm, wenn er diese und Schopenhauers System, beides, gelesen hätte, dergleichen Unsinn nicht hätte entfallen können. Und wozu sollte er auch? Wer über das Problem des Ich und über die Subjektivität der Erkenntnis wie Büchner redet, würde seine Zeit selbst mit Schopenhauers, geschweige mit Kants Schriften verderben. Es bedarf eines anders organisierten Kopfes, um audi nur den Zug zu den philosophischen Problemen zu empfinden. Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden, Doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden. Desto klarer ist der Rest. Ein Kopf, der die Sprache des Kritizismus gar nicht versteht, muß sich wohl mit Behagen an dem Gedanken erwärmen, wie viel der menschliche Geist bereits weiß. Und indem er Satz auf Satz, Anschauung auf Anschauung, Gesetz auf Gesetz zusammenzählt, darf er mit Wagners ruhig behaglichem Selbstbewußtsein sagen: Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen. Louis Büchner eignet sich Gruppes Ausspruch an, mit Fichte habe die Philosophie der Unredlichkeit begonnen. Diese Herren versuchen es zur Abwechslung mit der Philosophie der Unwissenheit. Nie ist von Dilettanten eine anmaßendere Sprache geführt worden als von diesen, welche gegenüber der Naturwissenschaft mit ihrer Philosophie prahlen und gegenüber der Philosophie mit ihrer Naturwissenschaft. Indem wir aus dem Studierzimmer dieses ihres Heroen scheiden, bleibt uns von allem saloppen und unbestimmten Gerede über die verschiedenartigsten Dinge nichts als der Eindruck, den wir, einmal von Louis Büchners zierlicher Gewohnheit, mit anmutigen Versen zu spielen, angesteckt, mit den Versen des Schülers ausdrücken zu dürfen bitten: Ich schwör' euch zu, mir ist's als wie ein Traum. Dürft ich euch wohl ein andermal beschweren, Von einer Weisheit auf den Grund zu hören?
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Die Sprache Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache. Von der kaiserlichen Akademie zu Paris gekrönte Preisschrift. Für das deutsche Publikum bearbeitet von Carl Böttger. Leipzig 1863. Ungern und nur durch die Qual der Wahl dazu veranlaßt, haben wir die Anzeige dieses schon vor mehreren Monaten erschienenen Werkes bisher aufgeschoben. Sooft wir die Sichtung des Stoffes versuchten, um die Gesichtspunkte auszusondern, welche als besonders bemerkenswert erscheinen, und hiernach die Auswahl des Materials zu treffen, welches wir aus dem Reichtum des hier Gebotenen unserem Publikum vorzulegen gedachten, gelang es uns nicht, diese Arbeit zu vollenden. Des Neuen, allgemein Interessanten und Anregenden ist hier so viel geboten, daß jeder Auszug, den wir versuchen möchten, die uns in diesem Blatte gezogenen räumlichen Schranken bei weitem übersteigen würde. Die Wissenschaft der Sprache gehört nicht zu denjenigen Gegenständen, mit denen wir uns, wie mit der Geschichte oder der Physik, von Jugend auf beschäftigen. Die zahlreichen und herrlichen Resultate, welche die wissenschaftliche Arbeit der letzten Dezennien zutage gefördert, sind nicht, wie dies etwa in der Physiologie geschehen ist, durch eine Reihe populärer Schriften Gemeingut aller Gebildeten geworden. Eine Darstellung dieser Disziplin dient daher nicht dazu, Kenntnisse, die wir bereits erworben haben, im einzelnen näher zu vervollständigen und zu befestigen; sie erschließt uns vielmehr ein ganz neues und unübersehbares Gebiet. Die Aufgabe, uns in dieses Gebiet einzuführen, uns auf demselben zu orientieren, kann nicht füglich kürzer und präziser gelöst werden, als es in dem vorliegenden Werke geschehen ist; jeder Versuch, aus demselben wiederum einen Auszug zu machen, um in das Studium des Buches einzuführen, müßte ein mangelhafter bleiben; er würde weder zum Verständnisse des Gegenstandes dienen können noch eine Anregung bieten. Noch weniger als auf eine Inhaltsangabe kann auf eine Kritik des Inhaltes hier eingegangen werden. Die wissenschaftliche Kritik hat sich mit Recht des Buches bemächtigt. Der Verfasser hat sich nicht auf die allgemein anerkannten und unbezweifelten Grundfragen seines Gegenstandes beschränkt, sondern ist auch in Spezialfragen eingegangen, über welche die Verhandlungen noch nicht geschlossen sind; er hat vielfach eigene Ansichten aufgestellt, die von anderen Gelehrten bestritten werden. Diese Streitigkeiten sind innerhalb der Gelehrtenrepublik auszufechten. Wir wollen hier nur der Befürchtung entgegentreten, als könne es überflüssig, ja schädlich sein, Ansichten kennenzulernen und auf Treu und Glauben hinzunehmen, deren Richtigkeit noch nicht erwiesen, vielleicht nicht zu erweisen ist. Wem mit Lessing die Wahrheit nicht ein fertiges Produkt, ein Präparat, das man herumzeigen kann, sondern ein Prozeß, ein Streben nach Erkenntnis ist, der wird anerkennen, daß auch die Irrtümer eines tüchtigen und eindringenden Forschers Wahrheiten sind, indem sie uns zeigen, welcher Mühe und Kunst der menschliche Geist sich bedient, um den Schleier zu heben von dem Wesen der Dinge, welches „geheimnisvoll am lichten Tage" ist.
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Weder exzerpieren noch kritisieren können wir das oben genannte Buch; wir müssen uns begnügen anzuzeigen, daß es da ist, daß es gelesen werden muß. Aber eine Betrachtung anderer Art drängt sich uns unwiderstehlich auf. Max Müller ist ein Deutscher, ein Sohn des früh verstorbenen Carl Otfried Müller, eines der gefeiertsten und dem griechischen Geiste kongenialsten Forschers im Gebiet der Altertumswissenschaft. Er ist getränkt mit deutschem Geist, großgezogen in der deutschen Wissenschaft. Seit Jahren bekleidet er ein hervorragendes und einflußreiches Lehramt in England. So gehört er zwei Nationen, zwei Sprachen an. Er versichert in der Vorrede, das Buch sei, wie die Vorlesungen, aus denen es entstanden, obgleich englisch geschrieben, dennoch deutsch gedacht, wie alles, was er in England schreibe. Wir bezweifeln nicht die Wahrheit dieses Ausspruchs, aber dennoch sind wir überzeugt: hätte der Verfasser diese Vorlesungen in Deutschland und vor einem deutschen Publikum gehalten, er hätte vieles in anderes Form gesagt, er hätte hier mehr und dort weniger gesagt, er hätte sich dem Bedürfnis des deutschen Publikums anbequemt, wie er sich jetzt dem des englischen anbequemt hat. Wie es jetzt vorliegt, ist es ein englisches Werk, zunächst mit allen Vorzügen eines solchen. Die streng systematische Ordnung ist einer durchaus praktischen gewichen, die von dem einfachen und bereits Bekannnten zu dem Schwierigen und minder Bekannten übergeht. Jede allgemeine Behauptung ist mit Beispielen belegt, die uns tief in die Detailforschungen hineinführen, durch welche allein uns der Geist der Wissenschaft zugänglich gemacht werden kann. Aber auch in anderer Weise wendet sich das Werk zunächst an das englische Publikum, indem es auf die wissenschaftlichen und philosophischen Voraussetzungen desselben eingeht. Locke, Adam Smith und Dugald Stewart werden als allgemein bekannte und anerkannte Philosophen vorgeführt, während vor einem deutschen Publikum ganz andere Autoritäten gelten würden. In vielen Beziehungen hätte der Ubersetzer durch kleine Änderungen den Ansprüchen der deutschen Leser gerecht werden können; ein Punkt aber ist uns aufgefallen, bei welchem dieses Werk über die Sprache den großen Unterschied zeigt, den es macht, in welcher Sprache ein Buch geschrieben ist. Der Verfasser erörtert die Frage, ob die Sprachwissenschaft eine historische oder physische Wissenschaft ist und entscheidet sich für die letztere Alternative. Er leugnet, daß die Sprache eine Geschichte im eigentlichen Sinne habe und schreibt derselben nur ein Wachstum zu, und zwar ein solches, das nicht etwa dem Wachstum der Pflanze gleicht, sondern auf eigenen ihm eigentümlichen Gesetzen beruht. Diese Darlegung ist richtig für englische Leser, unrichtig für deutsche. Der Engländer sucht die Grenzlinie zwischen der Physik und der Geschichte an einem anderen Punkte als wir. Geschichtlich ist dem Engländer nur, was aus der Tat des freien Willens hervorgeht, und die Freiheit unterscheidet er schwer von der Willkür. Wenn der Verfasser in seinen englischen Zuhörern die Vorstellung austilgen wollte, daß die Sprache ein willkürlich geschaffenes Menschenwerk, daß sie durch Verabredung der Gesamtheit oder durch die Vorschrift eines Mächtigen eingeführt sei, so mußte er ihnen sagen, die Sprache sei keine historische, sondern eine physische Tatsache.
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Anders ist dies in Deutschland. Die Einsicht, d a ß alles Geistige, Sprache, Recht und Sitte, auf einem Ineinander der Freiheit und der N o t w e n d i g k e i t beruhe, diese Einsicht, welche das kostbarste Resultat ist, welches uns der Prozeß der IdentitätsPhilosophie zurückgelassen, ist, so laut sie auch v e r k ü n d e t wurde, bisher ein Geheimgut des deutschen Geistes geblieben. Die Wechselwirkungen, welche die Sprache auf das Denken des einzelnen, u n d die Gedanken wiederum auf die Gestalt der Sprache ausüben, sind gleich unbegreiflich, wenn wir die Sprache lediglich als ein P r o d u k t menschlicher Willkür und wenn wir sie lediglich als einen N a t u r p r o z e ß auffassen, das D e n k e n schmiegt sich nicht gleich leicht jeder Sprache an. Das Übersetzen ist häufig — um so öfter, je schwieriger der ausgedrückte G e d a n k e ist — nur durch ein U m d e n k e n möglich. Das vorliegende Buch bildet d a f ü r einen sprechenden Beweis; die ganze Erörterung der Frage, ob die Sprachwissenschaft in die Klasse der physischen oder der historischen Wissenschaften gehöre, h ä t t e zutreffend nur übersetzt werden können, w e n n die Begriffe „physisch" und „historisch" u n d damit die ganze Gedankenentwicklung umgedacht wurde. Wenn solche Erscheinungen bei zwei nahe v e r w a n d t e n Sprachen, wie die deutsche und englische, eintreten, in wie viel höherem G r a d e müssen sie sich geltend machen bei Sprachen von ganz entgegengesetztem C h a r a k t e r . W i r wachsen mit der Vorstellung auf, d a ß wir das, was wir als die Elemente der Sprache betrachten, die Unterscheidung in verschiedene Redeteile, sich in jeder Sprache wiederfinden müsse. In unserem näheren Gesichtskreise liegt keine Sprache, welche nicht Substantive, Adjektive, Verben, Partikeln hätte. Die chinesische Sprache kennt diesen U n t e r schied nicht. Jedes W o r t k a n n ohne die geringste Veränderung je nach seiner Stellung im Satze Substantivum, A d j e k t i v u m , Verbum sein. In wie ganz anderer Weise muß der Geist in dieser Sprache denken als in einer europäischen. Diese Wechselwirkung zwischen dem Inhalt des Gedachten und der Form, in der es ausgesprochen wird, darzustellen, w ü r d e f ü r deutsche Leser das interessanteste Kapitel einer Sprachwissenschaft sein, und es w ä r e hocherfreulich, w e n n der Verfasser, den sein Bildungsgrad in gleicher Weise befähigt, englisches u n d deutsches Publikum in der angemessensten Weise zu belehren, diesen Erörterungen seine Arbeit einmal zuwenden wollte.
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Aus Carl Ritters Nachlaß Carl Ritter, Allgemeine Erdkunde. — Ders., Europa. Vorlesungen an der Universität zu Berlin. Hrsg. von Η. A. Daniel. 2 Bände. Berlin 1862163. Aus dem Nachlaß des berühmten Schöpfers einer wissenschaftlichen Erdkunde sind schon früher die Vorlesungen über die „Geschichte der Erdkunde und der geographischen Entdeckungen" herausgegeben; ihnen sind die beiden oben angeführten Bände jetzt gefolgt. Der Abdruck erfolgte nach den Manuskripten Ritters; zur Kontrolle, nur in einem Ausnahmefall auch zur Ergänzung, sind die nachgeschriebenen Hefte seiner Zuhörer benutzt worden. Durch die Resultate neuerer Forschungen ist das von dem Verfasser Gebotene nicht weitergeführt worden; es kam nicht darauf an, ein Kompendium für den täglichen praktischen Gebrauch herzustellen, sondern den Verehrern der Wissenschaft für alle Zeiten ein Werk zugänglich zu machen, welches durch seine Methode, durch den Reichtum der darin niedergelegten Gedanken, durch den wissenschaftlichen Geist, von welchem es durchweht wird, immer die Bewunderung seiner Leser erringen wird. Das „pietätvolle Wohlwollen", mit welchem nach des Herrn Herausgebers Zeugnis weite Kreise den ersten Band dieser Vorlesungen aufgenommen haben, wird audi den beiden übrigen nicht fehlen. Der Berliner Hochschule ist seit ihrer Begründung bis auf den heutigen Tag die beneidenswerte Aufgabe zugefallen, ein lebendiges Zeugnis dafür abzulegen, in wie anderem Geiste das neunzehnte als das achtzehnte Jahrhundert sämtliche historische Wissenschaften auffaßt und pflegt. An die Stelle einer dürren rationalistischen Auffassung, welche sich bestrebte, die Welt zur Formel zu machen, ist die Vertiefung in einen reichen Stoff getreten, den man bis dahin gleichgültig hatte zur Seite liegen lassen, dessen Vorhandensein man kaum geahnt hatte. Die hervorragendsten Männer der „historischen Schulen" haben der Berliner Universität teils als Lehrer angehört, teils in anderen Stellungen ihr nahegestanden. Neben den Wilhelm von Humboldt, Niebuhr, Ranke, Savigny, Eichhorn, Grimm, Wolf, Böckh, Schleiermacher, Neander nimmt hier Carl Ritter eine hervorragende Stelle ein. Sein Ruhm kann weder erhöht werden durch ein Lob, das wir an dieser Stelle seinen nachgelassenen Werken zuteil werden lassen, noch wird es im geringsten beeinträchtigt, wenn an der Stelle der von ihm vertretenen Grundsätze mit der Zeit andere sich Bahn brechen. Möge man daher es uns verstatten, den Ansichten Ritters gegenüber in betreff einiger Punkte eine abweichende Ansicht geltend zu machen. Die Erde, das Objekt seines Forschens, stellt Ritter dar als einen Organismus, als ein kosmisches Individuum, als ein systematisches Ganzes mit kosmischem Leben. „Der Kristall, die Pflanze und das Tier, der Planet, der Mensch sind in aufsteigender Linie verschiedene Organismen des irdischen Daseins der Dinge." Also nicht in nur figürlichem, sondern im strengsten wissenschaftlichen Sinne des Wortes gibt Ritter der Erde den Namen eines Organismus, weist er ihr ihren Platz an zwischen dem Tier und dem Menschen. Wir glauben hingegen, daß weder der Kristall noch die Erde ein Organismus ist, daß ihnen ein Leben nicht zukommt. Soll der Begriff
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des Lebens nicht zum Gegenstande unfruchtbarer Spekulationen werden, so müssen wir ihn streng unterscheiden von den nur physikalischen und chemischen K r ä f t e n einerseits, von dem bewußten sittlichen Handeln andererseits. In der Entstehung und Entwicklung des Erdballs ist ein Leben nicht erkennbar; auf der einen Seite haben neptunische und vulkanische K r ä f t e gewirkt, um dem Erdballe die Gestalt zu geben, in welcher er aus den H ä n d e n der N a t u r hervorging, auf der anderen Seite haben historische Mächte das Aussehen desselben geändert, indem die Menschen in bewußtem Entschluß Meerengen durchstachen, Felsen sprengten und die Flora und Fauna, welche die N a t u r an einem Orte geschaffen hatte, durch andere, die ihren Zwecken nützlicher, verdrängten. Die Erde ist kein Organismus, die Erdteile keine Organe. Nie wird der Wissenschaft gelingen zu definieren,, was Europa und Asien, was Deutschland und Frankreich ist. Auf dem Rücken des Ural fand Alexander von H u m b o l d t einen alten Fichtenstamm, auf welchem er mit großen Buchstaben nach West das Wort Europa, nach Ost das Wort Asien las. Wie wäre es möglich, in dieser willkürlichen Weise die Organe eines lebenden Wesens, die Wurzel und den Stamm einer Pflanze voneinander zu sondern? „Kann die geographische Wissenschaft die Individualität der Erde nach allen ihren Teilen, Gliederungen und Funktionen zur klaren Anschauung bringen, so wird die Erdkunde zu einer selbständigen Erdwissenschaft." Die Anschauung also ist ihm der Zweck der Wissenschaft. U n d die Anschauung soll uns lehren, wie die Erde, Gottes Schöpfung, ein Inbegriff höchster Zweckmäßigkeit, Schönheit, Vortrefflichkeit ist, wie sie, nicht durch die bloß materielle Wirkung von N a t u r k r ä f t e n , sondern durch die göttliche Vorsehung ihrer Bestimmung gemäß eingerichtet wurde, die große Erziehungsanstalt des Menschengeschlechts, der Schauplatz der Weltgeschichte zu werden. Gewiß mußte Ritter von dieser Auffassung ausgehen, wenn er seine Riesenaufgabe lösen wollte, Ordnung und System in eine chaotische Menge von Tatsachen zu bringen, einen P f a d zu schlagen durch eine unbetretene Wildnis. Aber die Schule kann dem Lehrer in eine solche Auffassung nicht folgen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es nicht anzuschauen, sondern die Ursachen der Dinge zu erforschen, causas cognoscere rerum zu entwickeln, zu erklären, zu verstehen. Die Wege der göttlichen Vorsehung sind nicht erforschbar; wohl dem, der sie anzuschauen vermag. D a r u m hört aber auch der Vorsehung gegenüber die Aufgabe der Wissenschaft auf, welche auf das Erforschbare sich zu beschränken hat. Die Erdkunde greift, wie keine andere Wissenschaft, in alle Zweige der Erkenntnis ein; mit der Naturwissenschaft und der Geschichte ist sie gewachsen. Zum Range einer selbständigen Disziplin aber hat sie nur in einem uneigentlichen Sinne sich erhoben. Ritter sagt zwar: „Durch die gleichmäßige Erweiterung des ganzen Kreises der Wissenschaften, in deren Mitte sie steht, konnte sie die höhere Stufe einer selbständigen Disziplin erreichen." Dem steht aber die Tatsache entgegen: es gibt keinen wissenschaftlichen Satz, welcher der Geographie als solcher angehörte. Sie ist eine angewandte Wissenschaft, indem sie Gesetze und Resultate, welche anderen Zweigen der Erkenntnis angehören, auf einzelne Fälle anwendet und aus den so gewonnenen Einsichten ihr System auferbaut. Alle Probleme der mathematischen Geographie werden gelöst durch die Anwendung mathematischer und
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mechanischer Gesetze; die Bildung des Festlandes, die Vorgänge des Ozeans und der Atmosphäre sind zurückzuführen auf physikalische Lehrsätze, die Botanik und Zoologie lehren, welche Pflanzen und Tiere unter den natürlichen Bedingungen gedeihen, welche ein bestimmter Ort der Erde bietet. Gemeinhin sind uns in der Naturwissenschaft nur die Gesetze selbst von Interesse; die Aufzählung der einzelnen Fälle, in denen, und der Körper, an denen sie gewirkt haben, übergehen wir als der Wissenschaft nicht angehörig. In bezug auf den Erdball haben wir sorgfältig erforscht, wie die Naturkräfte auf ihn gewirkt und was sie aus demselben gemacht haben, weil dieser Erdball die Voraussetzung der Geschichte ist. Die Erdkunde verwandelt die Resultate naturwissenschaftlichen Wissens in die Vorbedingung des geschichtlichen Wissens. Sie bildet das verbindende Glied zwischen den beiden großen Gebieten der Erkenntnis. Daß die Geschichte der Menschheit, der einzelnen Völker so geworden ist, wie sie vor uns aufgeschlagen liegt, war nur möglich, weil die Erde und ihre einzelnen Teile so sind, wie sie sind. Die Wissenschaft zeigt uns, wie nach den Gesetzen der Naturwissenschaft die Erde und ihre Teile geworden sind und wie nach den Gesetzen der Geschichte das so Gewordene zum Schauplatz der sittlichen Tätigkeit des Menschengeschlechts wurde. Was diese beiden Elemente vereinigt, die Vorsehung, welcher sowohl die materiellen Mächte der Natur als die sittlichen der Geschichte untergeben sind, liegt jenseits der menschlichen Vernunft. Alle Wissenschaften sind in beständigem Fortschreiten begriffen; bei den Naturwissenschaften bleibt ihr Objekt unverändert, und nur unser Erkennen erweitert sich, bei den historischen Wissenschaften hingegen ändert sich das Objekt selbst. Die Geographie nimmt an den Eigentümlichkeiten beider teil; von ihren Objekten sind viele unverändert seit dem sechsten Schöpfungstage, seit der Erschaffung des Menschengeschlechts, andere sind im steten Wechsel begriffen. Die Berge und Meere sind unverändert geblieben, aber die menschliche Tätigkeit hat das Ferne nah, das Unzugängliche erreichbar gemacht; in weniger als drei Jahrhunderten wurde in Amerika eine Rasse fast ganz verdrängt, der Erdteil von einer anderen Menschenrasse erfüllt und mit Pflanzen bebaut, welche die Natur dort nicht hervorgebracht hatte. Die Geographie ist in schneller Entwicklung begriffen; die Resultate eines Lehrbuchs der physikalischen Geographie pflegen in zehn Jahren, der beste Atlas in noch kürzerer Zeit zu veralten. In der Pflege dieser Wissenschaft hat Deutschland stets eine hervorragende Stelle eingenommen. Ein Blick in das „Verzeichnis der im geographischen Institut des Landes-Industrie-Kontors zu Weimar erschienenen Atlanten, Karten, Globen usw." (Weimar 1861) bezeugt die außerordentliche Tätigkeit dieses im Jahre 1804 durch Bertuch begründeten Instituts; daß unter den Entdeckern und Bahnbrechern in dem von der Natur gleichsam absichtlich verschlossenen Afrika die deutschen in erster Reihe stehen, möge jeder ausführlich in der Schrift von Alexander Ziegler (Geschichte deutscher Nationalunternehmungen, Dresden 1863) nachlesen. Am bezeichnendsten aber für das Verdienst der Deutschen um diese Wissenschaft ist es, daß England, das freie seefahrende England, von Deutschland die Kunst erlernt, die Erdkunde zu studieren und zu lehren.
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Vor uns liegt der Abdruck eines Vortrages, den Gottfried Kinkel am 21. Januar 1861 im Süd-Kensington-Museum zu London gehalten hat: „Über physikalische Geographie und ihre Anwendung auf den geographischen Unterricht in Schulen". Auf Veranlassung des Science and Art Department of the Committee of Council on Education wurde eine Reihe von Vorlesungen für Lehrer über die Art, die einzelnen Disziplinen in den Schulen wissenschaftlich zu behandeln, gehalten, und Gottfried Kinkel, der von Deutschland noch immer nicht die Erlaubnis erhalten hat, auf deutschem Boden zu leben, war es, der den Ruhm deutscher Wissenschaft im Auslande verbreitete. E r lehrte, wie man eine Wissenschaft, die häufig als trocken und unfruchtbar verschrien war, zu einer Quelle anregender Belehrung machen könne, indem er auf wenige Seiten die wichtigsten Grundsätze zusammenfaßte, durch welche einst Carl Ritter diese Wissenschaft umgestaltet hat.
Rousseaus Entwicklungsgeschichte Friedrich Brockerhoff, 1. Band. Leipzig 1863.
Jean Jacques
Rousseau. Sein Leben und seine
Werke.
Das normale Leben eines historisch bedeutenden Mannes verläuft in zwei klar auseinandertretenden Hälften: die erste die Zeit, in welcher er nach vielfachen Wandlungen seine historische Aufgabe ergreift; die zweite dann die Zeit von Wirkung und Gegenwirkung zwischen der Welt und seinem Streben, welche ihn von da ab erfüllen. Selten erfährt er später eine Umwandlung seiner Richtung, welche mit denen jener Zeit der Entwicklung vergleichbar wäre. Daher denn das größte Interesse allezeit auf jene frühere Periode ungestümen Drangs und gärender Entwicklungen gerichtet ist: auf die Zeit der Entwicklungsgeschichte. Wie aber diese in ihren bestimmenden Einwirkungen und Kräften zu fassen sei, wie tief in ihr Inneres Studium und Darstellung reichen: hierüber gehen die Meinungen und die Verfahrungsart der bedeutendsten Historiker weit auseinander. Es ist die Sache einer Art von historischem Takt, hier das Richtige zu treffen. Denn wenigstens für die Geschichte der Dichter und Denker gibt es noch kein klassisches Vorbild, keine Traditionen, an welche man sich ruhig anschließen dürfte. Jeder experimentiert hier noch auf eigene Hand. Man kann für ein Experiment dieser Art kaum einen günstigeren Stoff erdenken, als ihn Rousseaus Entwicklungsgeschichte darbietet: keine mehr singuläre und originale Wendung des geistigen Lebens, keine abenteuerlicheren Schicksale als biographische Erklärung dieser Wendung, endlich keine Quellen, welche ein genaueres, lebhafteres und schärferes Licht auf dies Leben würfen, als seine „Confessions" tun. Ein Experiment mit den Methoden unserer bisherigen biographischen Geschichtsschreibung an diesem Gegenstande kann daher nicht anders als höchst
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belehrend sein. Auch dann nicht, wenn wir, wie in diesem Falle, die angewandte Methode nicht billigen können. Es ist die einer durchgehenden psychologischen Ausdeutung des vorhandenen biographischen Materials, welche es für ihre Pflicht hält, von jedem irgendwie hervortretenden Faktum in der Jugendgeschichte des Helden Einwirkungen auf seinen späteren Charakter nachzuweisen. Diese Methode ist von einigen bedeutenden biographischen Schriftstellern der Gegenwart eingeführt worden, und auch außerhalb der historischen Literatur stützt sie sich auf die Wendung, welche die-Manier der Erzählung bei Engländern, Franzosen und Deutschen gleichmäßig genommen hat: besonders psychologisierende Jugendgeschichten haben die Romane der letzten Jahre, audi die nicht von englischen Gouvernanten verfaßten, überviele gebracht. Wir wollen die zugrunde liegende Theorie nicht bestreiten, da sie so gut oder so schlecht, d.h. so unbeweisbar ist, als die entgegengesetzte. Mag man annehmen, daß der Charakter das Produkt unendlich vieler, teilweise unendlich kleiner und zufälliger Einwirkungen der Außenwelt sei. Aber wir zweifeln, auch vom Standpunkt jener Betrachtungsweise angesehen, an der Richtigkeit der biographischen Methode, durch welche diese Theorie auf die Geschichte einzelner Individuen angewandt wird. Eben weil die objektive Bedeutung der Eindrücke gar keinen Maßstab für ihre subjektive Macht in dem sich bildenden Gemüt darbietet: ist jeder Versuch doppelt fruchtlos, auf diese Eindrücke Schlüsse zu bauen. Diese Biographen beobachten gewissermaßen von draußen; durch die Fenster der Seele blickend, wollen sie die Vorgänge erraten, welche da drinnen verlaufen: aus der Bewegung der Gestalten und dem Ton der Stimmen. Es scheint freilich, als ob diese Stellung völlig geändert würde, wo eine Selbstbiographie des Helden vorliegt. In der Tat treten hier anstatt von außen sehender Schlüsse Erinnerungen auf, welche die wichtigsten Einwirkungen der Außenwelt auf die Seele fixieren. Aber der Wert dieser Erinnerungen hat einen sehr bestimmten Maßstab an den Grenzen des Gedächtnisses. Und wenn dieses bei dichterischen Menschen für persönliche Erlebnisse außerordentlich geschärft ist, im Vergleich zu dem gewöhnlichen Durchschnittsmaß, so ist dafür auch bei diesen die Phantasie um so geschäftiger, das Erlebte umzugestalten. Und diese Umgestaltung trifft eben das, um dessen genaue Wiedergabe es uns eben zu tun ist: nicht Schauplatz und Verlauf der Begebenheiten, sondern ihre subjektive, unanschauliche Seite, ihre Motive und ihre Einwirkung auf das Gemüt. Das Gefühl hiervon und dazu der Widerwille eines naiven Lesers, sich beständig aus dem Verlauf der Erzählung und des unzweifelhaft Faktischen durch unsichere Reflexionen herausgerissen zu sehen, geben daher in der Regel vor diesen neueren jenen alten einfachen Erzählungen den Vorzug, welche sich noch genügen ließen, vergangene Zeiten und Menschen lebendig vor die Augen zu bringen und dann in ihrer Mitte das innere Leben eines einzelnen Mannes sich verändern und ausbilden zu lassen, die Schlüsse aber, welche dieses und jenes verbinden, der Phantasie des Lesers zu überlassen. Höher freilich steht eine Methode, welche mit bewußter Absicht den Charakter aus der Erzählung Zug für Zug hervorgehen läßt, aber mit künstlerischem Sinne die doktrinäre Absicht hinter der naiv erzählenden Form verbirgt und nur an ent-
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scheidenden Stellen die Fäden des entstehenden Gewebes leise zeigt, wie dies in Goethes Selbstbiographie in so vollendeter Weise geschehen ist. Und hierzu konnte auch Rousseaus Erzählungsweise Anleitung geben, welche wenigstens im ersten Bande der „Confessions" mit einer wundervollen N a i v i t ä t und Liebenswürdigkeit des erzählenden Tones überall die Entwicklung des Schriftstellers andeutet, ohne irgendwo das Urteil über dieselbe dem Leser lehrhaft aufzudrängen. Aber während der Verfasser der vorliegenden Biographie Rousseaus sich sonst überall an diese Bekenntnisse dicht anschließt, glaubte er gerade durch eine solche Hinzufügung psychologischer Ausdeutungen das Amt des Biographen erfüllen zu müssen. Dies Amt aber hätte ihm in erster Stelle eine ganz andere Pflicht auferlegt. Die „Confessions" sind in den H ä n d e n jedes, der f ü r französische Sprache und Literatur und das Höchste, was in diesen künstlerisch geleistet ist, einen Sinn hat; diese Mischung von leidenschaftlichem Gefühl und anmutig spielender Grazie, diese Naturschilderungen, diese Darstellungen von Seelenbewegungen, welche die abenteuerlichsten Vorgänge glaubwürdig, und die zweifelhaftesten, ja frivolsten Verhältnisse beinahe liebenswürdig machen, prägen sich jedermann unvergeßlich ein. Es war daher überflüssig, ihren wesentlichen Inhalt zu reproduzieren; um so notwendiger aber, diesen hinreißenden Roman einer Kritik zu unterwerfen. Die Widersprüche zwischen der Charakteristik der Personen und den von ihnen mitgeteilten Tatsachen, welche zumal in der Darstellung der wichtigsten Person dieses Romans neben dem Helden, seiner Wohltäterin, der Frau von Warrens, so offen zutage liegen, daß man lieber noch als an eine Selbsttäuschung an absichtliche Durchsichtigkeit des wahren Sachverhalts hinter einer vorgeschobenen Charakteristik glauben möchte; die Unterschiede in der Auffassung des ersten und des in seiner späteren trüben Zeiten abgefaßten zweiten Bandes geben hier schon f ü r den aufmerksamen Leser der Memoiren Anknüpfungspunkte einer abweichenden Auffassung. Aber die Grundlage einer solchen Kritik liegt in der Korrespondenz vor, welche freilich leider erst mit dem Jahre 1732 beginnt. Aber das Verhältnis zwischen diesen Dokumenten und der späteren Erzählung, wie es sich hier herausstellt, gibt doch auch f ü r die frühere Zeit, aus der wir Briefe entbehren, einen Maßstab. So viel ist sicher: die romanhaften Ereignisse jener früheren Zeit, soweit zurückliegend und so verschmolzen mit seinem Phantasieleben, waren sicher weniger treu als die der späteren von ihm aufgefaßt. Indem in freudeloseren Jahren seine Phantasie zu jenen Abenteuern seiner Jugend zurückkehrte, schwand, wie es in der N a t u r der Erinnerung liegt, aus diesen Bildern, die er im Gegensatz zu seinen späteren Jahren in seinen Träumen hegte, das meiste von dem wilden Tumult, der auch damals heftiger noch als später seine Seele bewegt hatte, von den Schmerzen des Ehrgeizes, welcher ihn damals ruhelos und unstet umhergetrieben hatte, auch von dem Niedrigen und beinahe Schmutzigen, was seinen Umgebungen in jenen Jahren ohne Frage anklebte. N u n , wie er es so lange nachher erzählt, erscheint, wenige Stellen ausgenommen, dies Ganze, was in Wirklichkeit eine Kette ungestümer, unfruchtbarer Anstrengungen gewesen war, als eine Kette leichter und heiterer Abenteuer, ab und zu sogar in dem Ton, welchen die französischen Abenteurer- und Schelmenromane anschlugen. Es wäre eine Aufgabe, des feinsten historischen
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Kritikers und des größten Menschenkenners würdig, den Wert dieser Memoiren zu untersuchen und so eine kritische Grundlage für die Entwicklungsgeschichte Rousseaus zu schaffen. Dieser wird freilich die sonderbare kritische Maxime unseres Biographen (Seite 204) nicht teilen dürfen, welcher, wo ihm eine Differenz zwischen den Briefen als Originaldokumenten und den später, wie Rousseau ausdrücklich sagt, ganz aus dem Gedächtnis und mit vielen Irrtümern („Confessions", Buch VII, Anfang) abgefaßten Memoiren vorzuliegen scheint, eine Umgestaltung der Erzählung abweist, weil diese mit den „Confessions" unverträglich sei und er „glaube von diesen nur dann abweichen zu müssen, wenn es unbedingt notwendig sei." Dies ist wohl mehr eine Maxime der Bequemlichkeit als der Kritik. Dieser künftige Kritiker wird aber ebenso auch den vielfachen Angriffen auf Rousseaus Charakter und Leben, und, nach dem Erscheinen der Memoiren, auf die Authentizität derselben nachgehen müssen, wie sie in der zerstreuten Literatur jener Jahre sich heute noch zusammenstellen und nach ihrem Wert abschätzen lassen. Sie wären eines solchen Kritikers wert, nicht bloß, weil dieser Stoff so außerordentlich anziehend und schwierig, sondern weil er auch von einer so außerordentlichen Bedeutung ist. In dem Gange der Kultur erscheint bisweilen, was der einzelne hinzubringt, wenn man die Vorbedingungen aller sich in ihm vereinigenden und gewissermaßen konzentrierenden Gedanken erwägt, beinahe unbedeutend, ein Atom unter Atomen; wir sehen sich in seinem Geiste verschiedene Gedankenkreise verknüpfen, Anfänge fortbilden, das Verdienst seines Geistes gleicht dem eines elektrischen Funkens, welcher widerstrebende Stoffe zu einer chemischen Einheit verbindet. Nur selten sind die Menschen, welche sich einer solchen Betrachtungsweise nicht unterwerfen wollen, sondern die Macht des Persönlichen auch für die Geschichte der Ideen und Wissenschaften bezeugen. Solche bilden die höchsten Probleme biographischer Kunst. Die größte Aufgabe in dieser Beziehung möchte Kant sein. Zu den Aufgaben dieser Klasse gehört aber auch unstreitig die Entwicklungsgeschichte Rousseaus. Hätte freilich der elende Pragmatismus recht, welcher den Grundgedanken Rousseaus aus dem ehrgeizigen Bedürfnis ableitet, bei Gelegenheit der Preisfrage von Dijon eben gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was alle Welt und im Grunde auch er selber gedacht hätte: so hätte dieser Gedanke, welcher für die Entwicklung des modernen Geistes von so entscheidender Bedeutung war, eben gar keine Geschichte. Aber schon Schlosser, der alle Zeit so geneigt war, auffallende und glänzende Gedanken aus den Motiven des Ehrgeizes zu erklären, hat doch diesen gegenüber geltend gemacht, daß Rousseau seine Idee bis zur Torheit im Leben selbst verfolgt und ihr alle Güter, welche die Menschen sonst am eifrigsten zu suchen pflegen, freiwillig geopfert habe. Hierfür ist ein sehr klarer Beweis, wie damals, als Ludwig X V . ihn nach der Aufführung seiner Oper zu sehen wünschte, und eine seiner würdige Stellung ihn endlich zu erwarten schien, der Philosoph ganz gegen die Bitten auch seiner nächsten Freunde, ohne eine Audienz abzuwarten, Paris verließ und damit seine Zukunft aufgab. Solchen durch sein ganzes Leben hindurchgehenden Zügen gegenüber kann an der inneren Gewalt, mit welcher seine Überzeugungen ihn beherrschten, unmöglich ein Zweifel sein. Es muß möglich sein, einen tieferen Ursprung derselben in seiner Seele nachzuweisen.
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Aber die Untersuchung dieser inneren Entstehung seiner Überzeugungen führt auf einen ganz anderen Weg, als man sonst in der Geschichte der Wissenschaften zu verfolgen gewohnt ist. Ihn sondert von fast allen, welche auf die Entwicklungen der menschlichen Meinungen gewirkt haben, daß ihn nicht die Lage der Wissenschaften oder der Verhältnisse außer ihm auf seine Reform führte, sondern die Lage des eigenen Gemüts. Selbst in einer Zeit und Umgebung, in welcher Poesie und Denken sich in fast allen bedeutenden Schriftstellern, Diderot, Voltaire und anderen berührten, was es sehr hervortretend, wie der Dichter in ihm den Denker beherrscht. Seine Geschichte zeigt daher nicht eine Entwicklung von Ideen, sondern die Entwicklung seines inneren Gemütslebens und der Lage desselben zur Welt. Nichts ist in dieser Beziehung merkwürdiger als seine Doppelstellung zwischen Musik und Literatur; in der ganzen Geschichte der Musik ist dieselbe ohnegleichen bis auf die neuesten deutschen und französischen Romantiker, weldie ebenfalls versuchten, auf beiden Gebieten gleich heimisch zu sein. In der ersten Hälfte seines Lebens zumal herrschten musikalische Bilder von Seelenstimmungen, poetische der gegenseitigen Lage von Welt und Gemüt in seinem geistigen Leben völlig vor, und erst sehr spät erhob sieht jenseits dieser ein zusammenhängendes Bild der moralischen Welt, das auf Objektivität wenigstens Anspruch machte, soweit diese Natur ein objektives Bild der Außenwelt zu schaffen fähig war. Nur selten und, wie es scheint, auf ganz kurze Perioden war in jener früheren Zeit sein Empfindungsleben von Nachdenken und Studium wenigstens unterbrochen. Vierunddreißig Jahre war er alt, als er in der Einsamkeit von Charmettes, wie er dachte, dem Tode nahe, als alle persönlichen Antriebe und Verhältnisse der letzten Jahre vor seiner Seele schwanden, den Drang nach Erkenntnis mit unwiderstehlicher Gewalt sich erheben fühlte und den Entschluß faßte, sein, wie er dachte, damals nur noch ganz kurzes Leben der Erforschung der Wahrheit zu weihen. Damals begann er, schlecht vorbereitet durch die Kenntnis der Wissenschaften, aber außerordentlich durch eine wiewohl höchst einseitige der menschlichen Seele, dem Studium der Philosophie sich hinzugeben: fruchtlos zerarbeitete er sich an Locke, Malebranche, Descartes, Leibniz und den anderen Philosophen, welche im Horizont jener Zeit lagen, ohne daß er den Punkt gefunden hätte, an dem seine Kenntnis menschlicher Leidenschaften und Schicksale in die Gedanken dieser Männer eingegriffen hätte. Und so folgte auf jenen Entschluß doch zunächst nur eine Zeit merkwürdiger, tastender Versuche. Dazu kam, daß er, haltlos und hilflos wie er war, aufs neue auf die hohe Flut des Abenteurerlebens hinaufgetrieben wurde. Ein steter Wechsel zwischen ländlicher Abgeschiedenheit, in welcher er den Bildern alter Leidenschaften und neuer Gedanken und seiner sdiwärmerisdien Liebe zur Natur nachging, und verschiedenartigen, vorübergehenden Stellungen, wie er denn in jener Zeit auch einmal in Venedig die Geschäfte eines Gesandtschaftssekretärs versah. Und ebenso wechseln ihm Studien und Versuche der verschiedensten Art. Das erste, womit er in die Öffentlichkeit trat (September 1738), war ein Sendschreiben über die damals in der ganzen gebildeten Welt lebhaft debattierte Frage über die Abweichung der Gestalt der Erde von der Kugelform nach den Polen hin. Dann am Ende des Jahres 1740 legte er als Erzieher bei Herrn de Mably eine aus2>j Dilthcv, Schriften X V I
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führliche Denkschrift über Erziehung in dessen Familie vor. Dann im Sommer 1742 erschien er vor den vierzig Unsterblichen der Akademie mit seiner Erfindung einer Verwandlung der Noten in Zahlenschrift. Dann endlich arbeitete er zugleich an seinem Lustspiel „Die Kriegsgefangenen" und seiner Operette. Er hatte die Form für seinen Genius noch nicht gefunden, ja es scheint, daß er in all diesen Werken noch gar nicht gewagt hatte, sich dem einen Zug desselben rücksichtslos hinzugeben. Vielleicht mit alleiniger Ausnahme des musikalischen. Die Musik war die erste Form, in der seine Seele für ihren leidenschaftlichen Drang nach Natur eine Form und einen Ausdruck fand. Achtunddreißig Jahre war Rousseau alt, als er sich selber fand. So schwer hatte es das objektive Denken, in dieser ruhelosen Natur inmitten der Stürme der Leidenschaft sich ein andauerndes Gehör zu verschaffen. Es scheint, daß die Freundschaft und das Vorbild Diderots in dieser Zeit von entscheidendem Einfluß auf seine Entwicklung war. Trotz mannigfacher Versuche hatte er bisher doch der Literatur ferngestanden; oder wenigstens das, was ihn in der Tiefe bewegte, hatte mit der Schriftstellerei, soweit er sie kannte, keinen Zusammenhang finden können. Jetzt, in fast täglichen Zusammenkünften mit Diderot und Condillac, lernte er seine K r ä f t e an denen zweier Schriftsteller, auf welche man schon damals die größte Hoffnung setzte, messen und seine innersten Gedanken mit der Literatur jener Jahre in Beziehung bringen. Oder vielmehr es bedurfte nur, daß er diese vorhandene Beziehung begriff. Das Studium des Menschen, der Geschichte und der moralischen Welt begann damals jedes andere geistige Interesse in Frankreich zu überwiegen, wie das in England schon seit einiger Zeit der Fall war. Die Luft der Zeit war voll von Ideen über den Sinn der Geschichte, das wahre Wesen der menschlichen Natur, die Triebfedern der moralischen Welt. D a kam die berühmte Preisfrage von Dijon. Man muß ihn selbst erzählen hören, wie diese präzise Fragestellung, ob der Fortschritt in den Künsten und Wissenschaften dazu beigetragen habe, die Sitten zu verderben oder zu reinigen, ihn ergriff. Wie der Komponist eines ihm gegebenen, ihm fremden Textes bedarf, damit seine inneren Melodien sich formen, so nahmen auch die aus dem Gemüt stammenden und darum unbestimmten und formlosen Gedanken Rousseaus Gestalt und Form an, als diese Frage mit ihrem spitzen „Entweder-Oder" ihnen gegenübertrat. Es wird stets unausgemacht bleiben, ob dieses schiefe Entweder-Oder sie nicht in eine Einseitigkeit hineinzwang, die ihnen keineswegs notwendig gewesen war und die ihnen von da ab unabtrennbar anhaftete. „In dem Augenblick", erzählt er, „wo ich dies las, sah ich eine andere Welt vor mir, und wurde ich selbst ein anderer Mensch. Wenn jemals etwas einer plötzlichen Inspiration ähnlich sah, so war es die Bewegung, welche mich in diesem Moment ergriff. Ich fühlte, wie mein Geist mit einem Male von dem Lichte tausendfacher Einsicht geblendet wurde. Eine Fülle von lebendigen Ideen drang auf mich ein, mit solcher Kraft und in so bunter Mischung, daß ich in eine unbeschreibliche Unruhe geriet. Mein Kopf wurde von einer betäubenden Aufregung ergriffen, die fast der Trunkenheit glich; ein heftiges Herzklopfen beengt mich, hebt mir die Brust; außerstande, gehend Atem zu schöpfen, sinke ich unter einem der Bäume nieder und verbringe hier eine halbe Stunde in solcher Aufregung, daß ich beim Aufstehen die
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vordere Seite meiner Weste von Tränen durchnäßt fand, die ich, ohne es zu merken, vergossen hatte." — So entstand, wenn man der etwas theatralischen Behandlung dieses Augenblicks Glauben schenken will, welche überaus lebhaft an eine ähnliche in den „Bekenntnissen" Augustins erinnert, das Programm der europäischen Sturm- und Drangperiode. Der Erfolg war, auch in der Literatur der Weltstadt, ohne Beispiel, und auch aus dem Sturm von Gegenschriften, der sich gegen Rousseau erhob, ging seine Rhetorik als Siegerin hervor. Am schwierigsten war denen zu antworten, welche an ihn die Frage stellten, wie denn diese glücklichen und tugendhaften Urmenschen zu der Entartung der Gesellschaft, des Staates und der Wissenschaft hätten herabsinken können. Auch dieser Frage gegenüber kam ihm merkwürdigerweise eine zweite Preisfrage von Dijon entgegen: „Über die Ungleichheit unter den Menschen." Es war die Frage, welche das brennende Problem des Jahrhunderts in Frankreich werden sollte. Rousseau zog die Konsequenz seiner Theorie vom Menschen für die Theorie vom Staat. Hiermit war seine Entwicklungsgeschichte vollendet. Alle späteren Gedanken schließen sich an das in jener Zeit in einer kurzen mächtigen Bewegung des Geistes Gefundene an. Und hiermit schließt auch der vorliegende erste Band des Lebens und der Werke Jean Jacques Rousseaus. Wem es um eine angenehme, lebendig gesdhriebene Ubersicht des Materials dieser Entwicklungsgeschichte zu tun ist, der wird diesen Band mit Vergnügen lesen. Für die Forschung bleiben andere Aufgaben übrig.
Friedrich August Wolf /. F. ]. Arnold, Friedrich August Wolf in seinem Verhältnisse zum Schulwesen und zur Pädagogik. 1. Band: Biographischer Teil, 2. Band: Technischer Teil. Braunschweig 1861/62. In einer Zeit, in welcher das geschriebene, das gedruckte Wort eine so ungemeine Wichtigkeit gewonnen hat, daß das gesprochene Wort neben ihm seine Bedeutung als Mittel für die Mitteilung von Tatsachen und Gedanken fast gänzlich verloren hat, geschieht es sehr leicht, daß man den Wert eines Mannes der Wissenschaft lediglich danach abschätzt, was er geschrieben hat. Was hat er geschrieben? Um welche Wahrheiten, die man vor ihm nicht kannte, bereichert hat er die Literatur hinterlassen? Diese Fragen werden dem Forscher gegenüber ebenso regelmäßig aufgeworfen, wie man bei dem Industriellen danach fragt, was er besitzt, was er erwirbt. Und dennoch führt ein solches Urteil häufig zur Ungerechtigkeit. So groß auch die Umgestaltung ist, welche die Erfindung der Buchdruckerkunst in der literarischen Welt hervorgerufen, so sehr sie es erleichtert, daß ein Lehrer Schüler findet, welche durch weite Räume und Zeiten von ihm getrennt ist, die Bedeutung 28*
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des persönlichen Verkehrs von Mund zu Ohr, die Anregung, welche ein kräftiger Mann jugendlichen Geistern durch unmittelbare Unterweisung zu geben vermag, hat sie nie aufheben können. Einen vortrefflichen Mann erziehen ist ein größeres Verdienst als einvortreffliches Werk schreiben. Dennoch ist der Dank der Nachwelt lauter und anhaltender für den, der ein gutes Werk geschrieben, als für den, der viele tüchtige Männer herangebildet und jeden in den Stand gesetzt hat, gute Bücher zu schreiben. Auf jeden, dessen Verdienste nicht, in gedruckte Schriften ausgeprägt, durch die Welt verbreitet werden können, sondern mit seinem persönlichen Wirken untrennbar verbunden sind, findet mehr oder weniger das Wort Anwendung, daß die Nachwelt ihm keine Kränze flicht. Aber das Streben nach Gerechtigkeit lebt, wie in der Poesie, so in der Historie, und nach einer kurzen Frist des Vergessens oder der Vernachlässigung findet sich stets ein dankbarer Epigone, der die einzelnen Züge des Meisters zu einem Bilde sammelt und ihm ein Denkmal errichtet. Wenn wir mit diesen Betrachtungen die Anzeige einer Biographie Friedrich August Wolfs einleiten, so wissen wir allerdings, daß es nicht fremder Arbeit, nicht der Pietät eines Biographen bedurfte, um seinen Namen in den Annalen der Wissenschaft unvergeßlich zu machen. Was er geschrieben, reicht hin für den Ruhm mehr als eines Mannes. Aber den besten Teil seines Wesens hat er nicht in seinen Schriften, sondern in seiner unmittelbaren Wirksamkeit als Lehrer niedergelegt. Noch vor zwei Dezennien konnte man von älteren Lehrern häufig den Ausspruch hören: „Wolfs größtes Verdienst ist es, daß er tüchtige Schüler gebildet hat", und der Ton des also Sprechenden deutete es zweifellos an, daß audi er sich in die Reihe dieser tüchtigen Schüler rechne. Inzwischen hat der „bleiche Tod mit gleichem Fuße" vielfach an die Tür der tüchtigen und der untüchtigen geklopft, und jetzt leben nur noch wenige derer, die Wolfs mündlichen Unterricht in der Zeit seiner tüchtigsten Kraft genossen haben. Damit ist das Andenken an ihn mehr als billig verblaßt. Das vorliegende Werk tut einen Schritt, um dasselbe wieder herzustellen, und die Ausführung desselben verdient das uneingeschränkteste Lob. Das Verdienst Wolfs ist ein doppeltes. Er ist als der Gründer der heutigen Altertumswissenschaft zu betrachten, sofern er zuerst in dieselbe alles einschloß, was zur vollständigen Auffassung des griechischen und römischen Altertums gehört. Er überwand den einseitig kritischen und den einseitig antiquarischen Standpunkt seiner Vorgänger und bezeichnete als das letzte Ziel seines Strebens die Kenntnis der altertümlichen Menschheit selbst, welche Kenntnis aus der durch das Studium der alten Überreste bedingten Beobachtung einer organisch entwickelten bedeutungsvollen Nationalbildung hervorgehe. Die so aufgefaßte Altertumswissenschaft wurde ihm aber ferner das vorzüglichste Mittel, eine rein menschliche Bildung und Erhöhung aller Geistesund Gemütskraft zu einer schönen Harmonie des inneren und äußeren Menschen zu erzielen, und so nimmt er eine hervorragende Stelle unter den deutschen Pädagogen ein. Der Plan des Arnoldschen Werkes schließt die Berücksichtigung der eigentlich philologischen Tätigkeit Wolfs aus. Es stellt die Grundsätze und Ansichten zusammen, welche Wolf über die Erziehung und den Unterricht im Hause, in der Elementarschule und in der höheren Schule, im allgemeinen und in den einzelnen Hauptgegenständen aufgestellt und betätigt hat. Als unerläßliche Ein-
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leitung hierzu gibt es einen Abriß des Lebens, der vor allen Dingen erkennen läßt — was die Tradition uns aufbewahrt hat — , daß Wolf eine durchaus geniale, urkräftige und eigentümliche Persönlichkeit war. Raum und Zweck dieser Zeitung gestattet uns nicht, mehr als einige der hervorspringendsten Züge mitzuteilen. Christian Wilhelm Friedrich August Wolf, Sohn eines Schulmeisters und Organisten, wurde am 15. Februar 1759 zu Hainrode bei Nordhausen geboren. Als ein frühreifes Kind hatte er bald nach Vollendung seines zweiten Lebensjahres eine große Anzahl lateinischer Vokabeln erlernt und ein dunkles Gefühl für ihren grammatischen Zusammenhang erworben. Zur Feier des an seinem fünften Geburtstag geschlossenen Hubertusburger Friedens konnte er in der Dorfkirche nach der Predigt ein vom Vater verfaßtes Festgedicht öffentlich hersagen und las im sechsten Jahre zu nicht geringer Erbauung der andächtigen Zuhörer für den Vater öfters Predigten in der Kirche ab. In seinem vierzehnten Jahre als Primaner in Nordhausen macht er die Bekanntschaft eines Kantors Frankenstein, eines etwas zynischen Kraftgenies, der an Wolf Gefallen fand, und in ihm die Neigung zu Witz und Spott erweckte, die dieser sein ganzes Leben hindurch betätigte, andererseits ihm aber auch ein reges Interesse für die neueren Sprachen einflößte. In unglaublich kurzer Zeit wird Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch gelernt. Ein italienisches oder englisches Lexikon war beim Büchertrödler in der Stadt nicht zu haben. Deshalb lieh ihm Frankenstein seine schmächtigen Diktionarien dieser Sprachen, doch jedes nur auf zwei Monate, da er diesen Zeitraum für genügend hielt, um die Wörter teils abzuschreiben, teils im Gedächtnis zu behalten! Mit seinem fünfzehnten Jahre beginnt er, Privatunterricht zu erteilen und erlangt darin bald solchen Ruf, daß in der Geschichte und den alten Sprachen einige seiner Klassengenossen sich von ihm unterrichten lassen. Diese Unterrichtsstunden betreibt er mit solcher Gewissenhaftigkeit, daß er auf eine derselben zuweilen sechs Stunden der Vorbereitung verwandte. Mit achtzehn Jahren bezog er die Universität Göttingen, wo er, in den Bücherschätzen der Bibliothek schwelgend, auf den Kollegienbesuch wenig Fleiß verwandte und es daher erleben mußte, daß Heyne ihn von seiner Vorlesung über Pindar zurückwies, weil er zu derselben nicht hinreichend vorbereitet sei, ein Schmerz, den Wolf sein Leben lang nicht verwunden hat. Im Jahre 1779 wurde er Kollaborator an dem Pädagogium zu Ilfeld, Anfang 1782 Rektor der Stadtschule zu Osterode. Hier blieb er nur ein J a h r lang, da die inzwischen von ihm herausgegebenen Schriften die Aufmerksamkeit des preußischen Ministers von Zedlitz auf sich gezogen hatten, der ihn an die Universität Halle berief. Hier begann im Jahre 1783 die Glanzperiode seines Lebens, namentlich seit er nach Begründung des philologischen Seminars an der Ausführung seiner Lieblingsidee arbeiten konnte, den Stand der Schulmänner völlig von dem der Theologen zu trennen. Seinen Zuhörern suchte er auf jede Weise näherzutreten und gab sich gegen sie wie ein alter Kamerad. Die ihm eigene Gabe der Unterhaltung, seine Offenheit und sein immer treffender Witz wirkten unwiderstehlich auf die jungen Leute; ehe sie selbst es wußten, sahen sie sich in seine großartige Bahn mit fortgerissen. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Halle wurden ihm drei Töchter
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geboren, die er gleichzeitig mit dem deutschen Alphabet das lateinische und griechische lernen ließ. Zugunsten der väterlichen Forschungen wurde ihnen aber aufgegeben, wie oft wohl dieses oder jenes Wort bei Tacitus oder in einer homerischen Rhapsodie vorkomme, und manchen Besuchenden hat es überrascht, in dem Zimmer vor Wolfs Arbeitstube ein reichumlocktes Köpfchen hinter großen Folianten emsig beschäftigt zu finden und mit der unbefangensten Heiterkeit von dem holden Kinde begrüßt zu werden. Allem Dämmerweben war er abhold. Als die eine seiner Töchter einmal ihren Schwestern erzählte, was sie in letzter Nacht seltsames geträumt, brach Wolf mit gewaltiger Stimme in das trauliche Geflüster und rief der Erzählerin zu: „Du sollst nicht träumen; von heut an wird nie wieder geträumt." Und Wilhelmine, so versichert deren nachmaliger Gatte Körte, hat wirklich seitdem nicht wieder geträumt. Die Schlacht von Jena machte der Universität Halle ein Ende, und Wolf lebte und wirkte seitdem in Berlin; nicht erfolglos für die Wissenschaft, aber ohne innere Befriedigung. Ein grillenhafter Ehrgeiz, eine krankhafte Unzufriedenheit mit seinem Schicksal verbitterte ihm den Rest seines Lebens. Auf einer Badereise nach Nizza erkrankte er in Marseille und starb am 8. August 1824. Im Jahre 1850 wollte die Versammlung deutscher Philologen seine Grabstätte mit einem Denkmal schmücken, aber die Grabstätte war nicht mit Sicherheit zu ermitteln. „So ist das Grab des großen Mannes ohne Malzeichen geblieben, und bald vielleicht wird jede Spur desselben verschwunden sein. Eine solche Vergänglichkeit kann zur Wehmut stimmen, doch werden wir deshalb nicht kleinlich mit dem Schicksal rechten, sondern uns an dem Gedanken erheben, den Perikles bei Thukydides ausspricht: „Hervorragender Männer Grabschrift ist die ganze Erde."
Materialismus der Naturwissenschaft Matthias Jakob Schleiden, Uber den Materialismus der neueren deutschen wissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte. Leipzig 1863.
Natur-
Einer der geistvollsten naturwissenschaftlichen Forscher, der Begründer der Pflanzenphysiologie, welcher den Kampf gegen den Materialismus bereits auf den verschiedensten Punkten der wissenschaftlichen Forschungen aufgenommen hat, unternimmt in der vorliegenden kleinen Schrift, denselben aus der gegenwärtigen Lage des wissenschaftlichen Denkens zu erklären. Er will ihn widerlegen, indem er aus dem Gang des gesamten wissenschaftlichen Geistes, in einer kurzen Übersicht angeschaut, den wahren Zusammenhang der gegenwärtigen Methoden in Philosophie und Naturwissenschaft aufzeigt, die willkürliche Störung, welche nach seiner Meinung durch die Systeme der Identitätsphilosophie in diesem Gange eingetreten
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sei, darstellt und nun zeigt, wie das System des Materialismus, für welches in jener normalen Entwicklung der Methoden der Philosophie und Naturwissenschaft gar kein Platz sei, durch die Störung derselben vorübergehend möglich geworden sei. Es ist höchst verdienstlich, immer wieder hervorzuheben, daß eine gleichmäßige gründliche Beherrschung der Methoden und Resultate von Naturwissenschaften und Philosophie den Materialismus überall unmöglich mache und aufhebe. Und die historische Form, in welcher der Beweis für diese Tatsachen hier auftritt, ist sehr glücklich gewählt. Wenn Schleiden in diesen Beweis, der eine allgemeine Gültigkeit beansprucht, die subjektiven Voraussetzungen seines eigenen Standpunktes so weit einmischt, daß Hegel als ein Ignorant und Apelts „Metaphysik" als der Abschluß des Baues der menschlichen Erkenntnistheorie hingestellt wird: so glauben wir, seinem historischen Argument einen Dienst zu tun, indem wir solche subjektive Voraussetzungen seiner historischen Betrachtung aussondern, ehe wir dasselbe erörtern. Die gegenwärtige Lage der Philosophie zu besprechen, reichte die Kürze der Schrift von Schleiden nicht hin, geschweige denn, daß wir hier für eine solche Erörterung Platz finden. Und die selbstgewisse Art, mit welcher Schleiden Urteile fällt und Sätze hinstellt, von einer verhältnismäßig wenig bekannten Philosophie aus, scheint uns bei ihm, wie bei Schopenhauer und ähnlichen, eben an den Ton des „Philosophischen Journals" von Schelling und Hegel zu erinnern, welchen sie perhorreszieren. So daß wir Schleidens Voraussetzungen über die Entstehung dieser Lage keineswegs mit anderen peremtorischen Erklärungen, sondern nur mit einigen Bemerkungen über seine Auffassung gegenübertreten wollen. Der Ton derer, welche Hegel als eine unglückliche und verwirrende Episode in unserer philosophischen Entwicklung betrachten, wird immer diktatorischer. Schleiden sagt: „Durch Schellings traurige Erfolge und seine eigenen unangenehmen Erfahrungen (die Asteroiden wurden gerade in demselben Jahre entdeckt, in dem sein philosophischer Beweis ihrer Unmöglichkeit erschien) gewitzigt, verlegte er sich auf die Geschichte, die er dadurch auf lange Zeit verdarb, daß er auch hier das immer unvermeidlich unvollständige und zufällige historische Material als philosophische Notwendigkeit konstruieren lehrte." Wie er in einer früheren Schrift über Sdhellings und Hegels Verhältnis zur Naturwissenschaft die Nichtigkeit der Naturphilosophie des letzteren mit vollem Rechte aufzeigte, so mißt er Kenntnis und philosophische Kraft desselben auch hier an dieser Seite philosophischer Untersuchungen. Aber Hegel wandte sich nicht etwa durch Schellings Erfolge und seine eigenen Erfahrungen gewitzigt zur Geschichte, wie Schleiden erzählt, sondern nach langer Vorherrschaft der aus der Naturwissenschaft stammenden Probleme des philosophischen Denkens warf er sich von Anfang an und mit der Kraft eines außerordentlichen Talents konzentrierter und tiefgehender historischer Anschauung auf die andere Gruppe der philosophischen Probleme: die der Geistes Wissenschaft. Wie weit ab auch unsere gegenwärtigen Ergebnisse von seinen Anfängen liegen: die Umgestaltung, welche er und seine Schüler in der kritischen Behandlungsweise der religiösen Systeme, in der Auffassung des Staates, in den Begriffen von geschichtliches Entwicklung, von dem inneren Zusammenhang der Erscheinungen einer Zeit hervorrief, war so ungeheuer,
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daß kein auch noch so tüchtiger Forscher der Gegenwart ein Recht hat, auf seine Gedanken als auf „Theorien" herabzusehen. Und auf diesem Gebiet, von dem er in seiner Jugend ausging und auf welchem seine philosophische Kraft lag, besaß er auch eine außerordentliche historische Kenntnis, welche nur der ableugnen kann, der seine hierhin einschlagenden Werke nicht kennt. Daß aber die Anforderung, daß, wer philosophieren wollte, beide Gebiete: Natur- und Geisteswissenschaft, mit gleicher Kenntnis umfassen müsse, ungerechtfertigt sei, wird uns Schleiden selbst zugeben, wenn wir nachher die paar Seiten seines historischen Exkurses Seite 11 bis 18 einer kurzen Musterung unterwerfen. — Wenn ferner Hegel eine für die Philosophie unglückliche Herrschaft Dezennien hindurch geübt hat: so scheint es uns nicht billig, dies der Philosophie als Schuld zuzuschieben. Er w a r ein einzelner Mann, und von den philosophischen Talenten jener Zeit hat fast kein einziger — nur etwa Feuerbach — seiner Philosophie auch nur eine Zeitlang zugestimmt. Ja, er herrschte, während er nicht von einem, sondern von Philosophen der verschiedensten Richtung längst widerlegt war. Die Lage w a r vielmehr die, daß durch die Schuld des Publikums über viele bedeutende philosophische Köpfe hinweg die Hegeische Philosophie den Weg zur philosophischen Diktatur fand. Wie beharrlich und mit welcher Schärfe der Kritik kämpften Fries, Herbart, Beneke gegen diese Entwicklung, mit wie schneidenden Gründen Schleiermacher und Trendelenburg. Es w a r die ungemessene Begeisterung des Publikums, welches die entscheidenden Gründe bedeutender philosophischer Denker wie im Rausche überhörte. Und beinahe im Verborgenen, während dasselbe Publikum damals mit Hegel schwärmte, welches jetzt in ihm die Philosophie hinter sich zu lassen glaubt, fern von allem Beifall nicht streng philosophisch geschulter Köpfe, wurde das Fundament der modernen Psychologie gelegt. In seiner Einsamkeit zu Tegel, fast vergessen von seinen Zeitgenossen, gründete Wilhelm von Humboldt die Philosophie der Sprachen. In bitterem, täglich mehr vergeblichen Kampf gegen diese Schwärmerei des Publikums entstanden Schleiermachers kritische Arbeiten über die Sittenlehre, dann die bedeutenden Anfänge zu einer wissenschaftlichen Logik, welche wir ihm und der Schule von Fries verdanken. Nichts Ungerechteres, als die Philosophie dessen zu beschuldigen, was das deutsche Publikum zu verantworten hat. Wie viel oder wie wenig in dem System Hegels lag: das zu erklärende Phänomen ist, wie man eigentlich einem Meister der induktiven Methode kaum zu sagen nötig haben sollte, nicht, daß etwa die ganze Philosophie von Hegel fortgerissen worden wäre, sondern daß das wissenschaftliche Publikum Hegel einen philosophischen Thron errichtete und alle übrigen Leistungen einer besonneneren Philosophie vollkommen im Stich ließ. Mit dieser Behandlung der Philosophie Hegels als einer müßigen Episode des menschlichen Denkens hängt denn auch die Auffassung der positiven philosophischen Bestrebungen der Gegenwart zusammen. Schleiden sieht in ihnen nichts als ein Wiederaufnehmen des abgerissenen Fadens einer auf empirischer Psychologie ruhenden Kritik der Vernunft, wie sie Fries entwarf. „Die neuere Zeit hat sich endlich wieder zur richtigen philosophischen Grundlage, zur empirischen Psychologie durchgefunden und mit großer Achtung nenne ich Namen wie Waitz, Lazarus, Steinthal, Jürgen Bona Meyer und andere. Leider haben dieselben nicht genügend
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ihre Vorgänger, Fries und die wenigen mit ihm gleich denkenden, sowie den gleichzeitigen Kantianer Apelt beachtet, und manches Richtige bei ihnen würde klarer und deutlicher hervortreten, schärfer ausgesprochen sein, wenn sie treuer an die Vergangenheit angeknüpft hätten. Dazu kommt noch, daß auf Lazarus und Steinthal offenbar der scholastische Dogmatismus Herbarts mit seinem an die Spitze gestellten leeren Wort ,das reine Sein' einen ungebührlichen Einfluß sich bewahrt hat. Jedenfalls aber sind die Genannten und ihre Mitarbeiter freudig als die Boten einer neuen besseren Zeit zu begrüßen." Es ist zweifellos richtig und ein wichtiges Ergebnis der nachkantischen Entwicklung, daß Philosophie wesentlich Geisteswissenschaft ist, daß daher Erkenntnistheorie, Logik und Ethik erst durch die Ausbildung der Psychologie einen fruchtbaren Boden erhalten und die Genannten, unter denen wir indes ungern den Namen Lotzes vermissen, des bedeutendsten neueren Bearbeiters der Psychologie, haben in dieser Richtung die Philosophie wahrhaft gefördert. Aber weder ist diese neueste philosophische Bewegung mit dem Unternehmen von Fries in irgendeinem Zusammenhang zu setzen; vielmehr gebührt außer Kant vor allem Herbart das Verdienst, der Philosophie diese Wendung gegeben zu haben. Noch ist audi nur im einzelnen, bei der Bearbeitung der wesentlichen Fragen, jetzt zu bemerken oder nach irgendeinem Zeichen in der Zukunft zu erwarten, daß die eigentümliche Verbindung von empirischer Psychologie und Vernunftkritik, wie sie Fries aufstellte, von Einwirkung auf unsere gegenwärtige Philosophie sein würde. So daß eine Erörterung, welche sich auf historische Gründe stützen will, wohl diese ganze Ansicht über den Verlauf der neueren Philosophie besser zurückgehalten hätte, da die Frage nach dem Wesen des Materialismus und seiner Geschichte wohl mit dem Gange der bisher herrschenden Methoden in Philosophie und Naturwissenschaft in einem klaren Zusammenhang steht, dagegen auf keine Weise mit der Frage nach der Bedeutung der Friesschen Philosophie, da diese bisher von keinem Einfluß gewesen ist. Es ist unmöglich, jene Frage erörtern und diese Erörterung zugleich zur Empfehlung der Friesschen Philosophie benutzen zu wollen. Wir kommen zu der eigentlichen Aufgabe der kleinen Schrift. Schleiden entwickelt zunächst in einem weiten historischen Überblick den Gegensatz des mittelalterlichen und modernen Denkens. „Im Altertum entwickelte sich der Geist der Menschheit frei und ungehemmt nach allen Seiten. Der Mensch versuchte in jeder Weise und nach allen Richtungen hin, sich der in seinem Geiste liegenden Schätze von Vorstellungen, Wertgebungen und Bestrebungen, von Erkenntnissen und Ideen bewußt zu werden. Der eine trat wohl dem anderen entgegen, aber nicht in geordneter Polemik, sondern von ihm aufnehmend, was er Gutes hatte, was verfehlt schien, umgestaltend. Fehlte doch bis auf Aristoteles selbst die Waffe zum K a m p f : eine geordnete Logik und Dialektik. Auch noch von Späteren, wie von Aristoteles selbst, wurden jene Mittel, je nach der Ausbildung, die sie bei dem einzelnen gewonnen, bei weitem mehr gebraucht, um das Eigene zu entwickeln und klarzumachen, als um den Andersdenkenden anzugreifen und zu widerlegen." Von all diesen noch dazu sehr schillernden Sätzen ist so wenig richtig, daß vielmehr von dem ersten Erwachen des griechischen Geistes ab die Dialektik, das Spiel logischer Kämpfe anstatt der
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realen Untersuchung, ein unaufhörliches Angreifen und Widerlegen Andersdenkender beinahe die Krankheit der griechischen Wissenschaft war. — Dem griechischen Geiste und seiner freien Bewegung stellt er das Mittelalter gegenüber, und zwar glaubt er hier für den Charakter des Mittelalters eine neue Erklärung aufstellen zu können. „Der Abschluß des Römerreichs hatte auch die ganze alte Bildung in eine solidarisch verknüpfte Einheit verwandelt; ein Angriff auf das ungeheure staatliche Ganze war daher, nicht minder als der Angriff dieses oder jenes einzelnen Teiles, zugleich ein Angriff auf die gesamten geistigen Errungenschaften; jeder Teil, wie das Ganze, mußte früher oder später das Bedürfnis kennenlernen, die gewonnenen geistigen Schätze in irgendeiner Weise gegen die eindringende, scheinbare Barbarei zu retten und sicherzustellen. Darin scheint mir nun der Grund zu liegen für eine sonst schwer zu begreifende Erscheinung, wodurch sich der fast ein ganzes Jahrtausend dauernde Kampf der alten und neuen Welt auszeichnet. Es ist dies die Kodifikation der sämtlichen gewonnenen Geistesschätze der Menschheit, wovon man in der alten Welt keine Spur findet." Wenn Schleiden dies alles als einen sonst übersehenen Punkt bezeichnet, so sind ihm wohl alle neueren Arbeiten über mittelalterliche Kulturgeschichte unbekannt, da zum Beispiel Prantls Untersuchungen über die mittelalterliche Logik ganz von derselben Voraussetzung ausgehen, den mystischen Punkt ausgenommen, daß diese Kodifikation ein Werk überlegter Absicht gewesen sei, um sich „gegen die eindringende, scheinbare Barbarei zu retten und sicherzustellen". Wer griechische und lateinische Schriftsteller jener Zeit wirklich kennt, wird diese sonderbare Hypothese freilich Schleiden überlassen müssen. Nun behauptet Schleiden weiter: „Dieser im Mittelalter zuerst auftretende, nach und nach den Menschen zur Gewohnheit werdende, gewalttätige Konservativismus, dem es absolut an jeder Begründung und Berechtigung fehlt, wenn man nicht das bloße Dasein, worauf sich auch jeder Gift- und Raubmörder berufen könnte, für Berechtigung gelten lassen will, vergiftet noch heute unser ganzes sonst gesundes Volks- und Staatsleben. Der Staat ist seiner Natur nach nur die gesetzlich geordnete Gemeinschaft der Menschen. Der staatlichen Ordnung fällt daher nur das anheim, was das gemeinschaftliche Leben der Menschen betrifft, also vor allem der Schutz des Rechts als Gegensatz des individuellen Faustrechts, dann die Verteilung des Rechtsschutzes an die verschiedenen Glieder des Staats, d.h. die Verfassung, und endlich die Formen des Kultus, soweit derselbe das Zusammentreten einer größeren Anzahl von einzelnen bedingt. Alles übrige kann nur von einzelnen getan werden." Dahin gehört ihm die religiöse Oberzeugung und das wissenschaftliche Denken. Es sind auch hier irrtümliche oder wenigstens völlig undeutliche Sätze eingemischt. So die Definition der Verfassung als der Verteilung des Rechtsschutzes an die verschiedenen Glieder des Staates. Dann, daß der staatlichen Ordnung anheimfalle, was das gemeinschaftliche Leben betreffe, wobei denn allerdings Lassalle mit seinem die Ordnung der Gesellschaft handhabenden Staat Recht hätte. Aber der Hauptirrtum ist, daß er dies alles dem Zustand des Mittelalters gegenüberstellt, in welchem „der Staat zu seinem eigenen größten Nachteil die Ordnung und Feststellung von Gebieten übernommen hatte, die ihrer Natur nach dem Staate ewig fremd bleiben und sich ihm entziehen werden." Es ist der Staat des 17. Jahrhunderts,
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den solche Sätze treffen; der des Mittelaiters war weitaus nicht entwickelt genug, um sich solcher Sünden schuldig machen zu können. — Die Kühnheit, mit der diese Sätze in halb wahren oder ganz falschen Behauptungen die Jahrhunderte durchfliegen, wird indes durch die darauf folgende neue Auffassung der Kirchenreformation noch überboten. „Faßt man das Wesen ins Auge und nicht die bloß äußerlichen ,Haupt- und Staatsaktionen', so ist die Kirchenreformation gerade die unbedeutendste Erscheinung der neuen Zeit und würde in Deutschland ganz andere und friedlichere Formen angenommen haben, wenn nicht die abgeschmackte Kaiserspielerei der Ottonen auch die deutsche Kirche an die Despotie eines römischen Bischofs und seiner angemaßten Souveränität verschachert hätte." — „Leider folgten auf die lächerlichen Ottonen noch so viele ehrlose und nichtswürdige Buben unter den Kaisern, denen schlaue und zu jeder Schurkerei bereite Päpste gegenüberstanden, daß damit die edle deutsche Nation vollends in ihrer Selbständigkeit vernichtet wurde." — J a er findet das Urteil Wessenbergs richtig: „Hätte nicht einer der schwächsten Schattenregenten auf dem deutschen Kaiserthron das Baseler Konzil den Intrigen der römischen Kurie preisgegeben oder vielmehr hätte dieser Friedrich III. nicht die gute Sache der deutschen Nation an den Papst verraten, so würde die Kirchentrennung kein Bedürfnis gewesen sein." Wir überlassen die Karikatur des Sybelianismus: „die abgeschmackte Kaiserspielerei der Ottonen" und „die vielen ehrlosen und nichtsnutzigen Buben" unter den Kaisern ohne weiteren Kommentar ihrer eigenen drastischen Wirkung; nur wer von dem Zusammenwirken geschichtlicher Motive, dem Abc der historischen Theorie gar keine Ahnung hat, konnte Sätze dieser Art hinschreiben. Was die Auffassung der Reformation betrifft, so ist dies ein unstreitig richtiger und neuerdings öfter hervorgehobener Gedanke, daß die Geschichte der geistigen Bewegung nicht bei ihr, sondern bei der Emanzipation und ersten Grundlegung der Erfahrungswissenschaften einen Abschnitt zu machen habe. Aber freilich ist nicht jedermann so rasch als Schleiden von Buckles neuem historischen System überzeugt worden, daß die Geschichte außer der wissenschaftlichen Entwicklung „bloß äußerliche Haupt- und Staatsaktionen" enthalte. Daher denn die alte Ansicht, welche diesen Rest im Auge habend sich nicht entschließen kann, in der kirchlichen Reformation „die unbedeutendste Erscheinung der neuen Zeit" zu sehen, wohl auch nach dieser lichtvollen Auseinandersetzung noch nicht ganz verdrängt sein wird. — Hiermit sind wir denn zu dem wahren Anfang der neueren geistigen Entwicklung gelangt und wenn wir auch an Schleidens vortrefflicher Auseinanderestzung dieser hier und da etwas aussetzen könnten, so enthalten wir uns gern von hier ab der Polemik. Es schien uns nur eine Pflicht, gegenüber dem immer wieder auftretenden Ruf von der Ignoranz eines so umfassenden wissenschaftlichen Kopfes, als Hegel war, zu zeigen, daß selbst einem modernen induktiven Naturforscher auf ihm ferner liegenden Gebieten leicht etwas Menschliches begegne. „Es waren zwei Verhältnisse im 14. und 15. Jahrhundert, welche vor anderen den neuen Gedanken weckten und ihm seine erste Richtung bestimmten. Fanatismus und Goldgier der Spanier sandten die Schiffe des Kolumbus nach Westen, wodurch der europäischen Menschheit die eigentümliche, bis dahin unbekannt gebliebene andere
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H ä l f t e der Erde aufgeschlossen wurde. Die abergläubische Verehrung, welche die europäischen Fürsten vor der Astrologie hegten, bewaffnete die Hofastrologen mit den Instrumenten, wodurch dieselben eine ganz neue Welt am Himmel und eine ganz neue Weltordnung entdeckten. Beide Ereignisse traten zusammen, um dem Geist der Menschheit die Richtung zu geben, in welcher er die eigentlichen Naturwissenschaften oder vielmehr die induktive Methode, ohne welche sie eben nichts sind, als unsichere Meinungen der einzelnen, erfand. Wollen wir an bestimmte Namen knüpfen, was doch nur in dem Geist aller damaligen Wahrheitsforscher sich vollzog, so ist Galilei der eigentliche Erfinder der wahren induktiven Methode und der eigentliche prinzipielle Gegner des Aristoteles, Kepler derjenige, welcher das erste und größte Beispiel für den Wert der induktorischen Methode in der Entdeckung seiner Gesetze hinstellte, und endlich Baco von Verulam derjenige, welcher, getragen von einer großen und mächtigen Nation und glücklich fortentwickelt durch seinen Landsmann Newton, den Grund zum Siege der induktorischen Methode legte." Schleiden hat recht, der gewöhnlichen Geschichte der Philosophie mit ihren ausführlichen Darstellungen sonderbarer Hirngespinste diese Einsicht in den wahren Zusammenhang der Geschichte der modernen Wissenschaft gegenüberzustellen. Nicht durch diese, sondern durch die in den Erfahrungswissenschaften ausgebildete Methode bildete sich der Charakter der modernen Zeit. Wer sich für eine wahre Einsicht in diese Entwicklung interessiert, kann von den Andeutungen Schleidens an die musterhafte Darstellung Apelts in seiner Theorie der Induktion verwiesen werden. Die Frage ist, warum diese Methode, von ihrer ersten Anwendung ab durch glänzende Erfolge bewährt, sich so langsam Bahn brach, daß sie noch heute, nach fast dreihundert Jahren, nicht vollkommen anerkanntes und unbestrittenes Eigentum der Menschen geworden ist. Schleiden beantwortet dieselbe mit Recht aus der Einseitigkeit ihrer Auffassung und Anwendung, wie sie aus der notwendigen Teilung der Arbeit erwachsen sei. Er sagt mit Recht, obwohl etwas übertrieben, daß der Naturforscher, insofern er die Geisteswissenschaft, die Philosophie, ignoriere, dem Astronomen analog sei, der nichts von Optik und Mathematik verstehe. Der Mensch steht der inneren und äußeren Natur in gleicher Weise als Erfahrender gegenüber; beide zusammen bilden die eine ganze Welt der Erscheinungen, die eine Natur. Indem man sich nun anfänglich infolge des gegebenen Anstoßes lediglich auf die äußere Natur beschränkte und die Methoden für diese ausbildete: sprach man in der Wissenschaft der äußeren Natur von Substanz, Kraft, Ursache, Wirkung, Gesetz usw., ohne zu bedenken, daß diese Begriffe gar keine Gegenstände der äußeren Sinnesanschauung sind noch jemals werden können und stellte doch gleichwohl notgedrungen auf den Gebrauch und zwar den richtigen Gebrauch dieser Begriffe die ganze Sicherheit dieser Wissenschaft von der äußeren Natur. Diese Schwierigkeit empfanden in Mathematik und Physik heimische Philosophen: Descartes, Hobbes, Locke, Leibniz. Kant erst entdeckte die Methode einer kritischen Durchforschung der inneren Welt. Mit ihm also trat zur induktiven Methode, welche die Außenwelt erforscht, die kritische Methode, deren Gegenstand die gesamte innere Welt des Geistes ist. Und da die Außenwelt nicht nur in den Formen
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des Raums und der Zeit, sondern auch in den metaphysischen Begriffen und den logischen Operationen, durch welche wir sie erfassen, zugleich der inneren Welt angehört: so bilden beide die Einheit einer ganz ineinander verschlungenen Erfahrungswissenschaft der inneren und äußeren Natur. Hiermit, wenn man die bekannten Begründungen dieser Sätze durch Kant hinzudenken will, ist der Nachweis geliefert, daß von dem ausschließlichen Studium der äußeren Welt aus keine irgendwie wissenschaftlich begründete Lösung der letzten Fragen möglich ist. Somit der Beweis, daß der Materialismus mit seiner das Studium der Außenwelt isolierenden Methode durch das von Kepler bis Kant sich allmählich entwickelnde Ganze einer Wissenschaft der inneren und äußeren Welt bereits widerlegt ist. Wenn nun Schleiden den Materialismus aus der wachsenden Teilung von Arbeiten, welche immer wieder einer Zusammenfassung bedürfen, und aus der Abneigung der Naturforscher gegen eine unwissende und leere Philosophie, welche diesen natürlichen Zug zur Teilung der Arbeit bis zum vollständigen Ignorieren der ganzen Wissenschaft der inneren Welt gesteigert habe, erklären will, so möchten wir an zwei Punkten anderer Meinung sein. Einmal scheint uns diese Tatsache allerdings einen Erklärungsgrund für die Möglichkeit, daß trotz der entgegenstehenden Instanzen eine materialistische Wissenschaft entstehen konnte, zu enthalten. Aber der Zug, welchen die moderne Physiologie immer wieder zwar nicht zu ausgebildeten materialistischen Systemen, wohl aber zu einer Hinneigung zu der materialistischen Erklärungsweise hintrieb, scheint uns doch vor allem in einem allgemeinen Bedürfnis des wissenschaftlichen Geistes, dem des Monismus zu liegen. Vielleicht ist es ein Mißverstand dieser in der Natur des wissenschaftlichen Geistes liegenden Forderung, nicht bloß eine Einheit des Zwecks, sondern auch eine Einheit oder wenigstens Einartigkeit des Erklärungsgrundes zu verlangen. Aber so tief liegt doch dies Bedürfnis in der menschlichen Natur, daß es dem Materialismus gegenüber die Monadologie hervorgetrieben hat, welche ebenfalls über die Einheit des Zweckes hinaus eine Gleichartigkeit des den Erscheinungen zugrunde liegenden Seins annehmen. Und zu diesem allgemein wissenschaftlichen Motiv traten die besonderen physiologischen Probleme, welche, indem sie immer mehrere bis dahin aus den Wirkungen der Seele erklärte Erscheinungen dem physiologischen Verlauf zuzuweisen lehrten, die Aussicht eröffneten, daß aus diesem so fruchtbaren Erklärungsgrunde auch das geistige Leben verstanden und der andere immer weiter zurückgedrängte Erklärungsgrund von Wirkungen der Seele ganz beseitigt werden könne. — Dann aber möchten wir doch, obwohl wir von der philosophischen Bildung unserer Physiologen keinen übertriebenen Begriff haben, uns gegen die Methode verwahren, durch welche Schleiden dieselben ihrer philosophischen Unbildung überführt. Wir führen hier nur das Manöver an, durch welches er Virchow zugleich von seiner philosophischen Unwissenheit und davon überzeugen will, daß er ohne sein Wissen Materialist sei. Man braucht nur aus seinen ,Vier Reden' folgende Sätze zusammenzustellen: „Auch die geistige Entwicklung ist ein untrennbarer Teil des Lebens" (Seite 70). — „Alles Leben ist an die Zelle gebunden, sie ist selbst der lebendige Teil" (Seite 54). — „Die Zelle ist ein für sich bestehender Teil,
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in welchem bekannte chemische Stoffe usw." (Seite 12) . . . — Vergeblich bemüht man sich, zwischen Leben und Mechanik einen Gegensatz zu finden. — Also: „die geistige Entwicklung ist untrennbarer Teil der Mechanik ganz gewöhnlicher chemischer Elemente." Eine Schlußreihe, in welcher der Ausdruck: an die Zelle gebunden, völlig übersehen und so eine falsche Folgerung erlangt wird. Aber welche besonderen wissenschaftlichen Gründe auch das Wadisen des Materialismus mit begründet haben mögen, und einerlei, welcher der philosophische Bildungsgrad seiner einzelnen Vertreter sein mag, unter welche Virchow in der Tat nach seiner neueren Entwicklung nicht mehr gezählt werden darf: das Argument bleibt unwiderleglich, daß derselbe überall nur aus einem einseitigen Studium der äußeren Welt entstand, daß aber eine solche Isolierung die Einheit, in welcher allein wir die innere und äußere Welt besitzen und in der allein sie daher ihre letzte und höchste Erklärung finden kann, willkürlich durchschneide und so hinter der Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden durch die moderne Forschung zurückbleibe. Wenn der die Beweise der Materialisten durchkreuzende Einwand, daß sie durch diesen oder jenen falschen Schluß auf die mechanischen Erklärungsgründe, welche sie besitzen, alle bisher unerklärten Erscheinungen zurückzuführen suchen, bisweilen als eine kleinliche Störung des großen Zuges ihres wissenschaftlichen Strebens erscheint: so treten Betrachtungen dieser Art, wie sie die vorliegende meisterhaft geschriebene kleine Schrift Schleidens enthält, ergänzend zu dieser Art von Polemik hinzu, indem sie zeigen, wie weit dieser einseitige wissenschaftliche Zug hinter dem großen Ganzen der wissenschaftlichen Methoden zurückbleibt, welches der Erwerb der letzten drei Jahrhunderte ist.
Die Grundzüge der Weltordnung Christian
Wiener,
Die Grundzüge
der Weltordnung.
Leipzig!Heidelberg
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„Es gibt Menschen, welche ihre Kenntnisse an die Stelle der Einsicht setzen." Mit diesen Worten Goethes glauben wir am passendsten dieses Werk und die Richtung, aus welcher es hervorgegangen, zu charakterisieren. Auf etwa sechshundert Seiten stellt der Verfasser die Quintessenzen seiner Kenntnisse auf allen Gebieten des Wissens zusammen. Wie natürlich sind dieselben in den Disziplinen, mit welchen er sich berufsmäßig zu beschäftigen hat, wohlgeordnet und umfassend; in denen hingegen, mit welchen er sich nur als Dilettant beschäftigt hat, unzureichend. Die Grundsätze der Mechanik sind in eine neue strenge Ordnung gebracht und um eine dem Verfasser angehörige Hypothese über das Verhältnis des körperlichen Stoffes zum Äther bereichert worden, welche, wenn wir auch die Prüfung ihrer Richtigkeit den Fachmännern überlassen müssen, uns lebendig angeregt hat. Es folgt darauf die Wärmelehre, die Lehre von den diemischen Erscheinungen, die
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Physiologie der Pflanzen und der Tiere, zum Teil sehr kurz behandelt. Wer mit den gangbarsten populären Schriften über diese Wissenschaften vertraut ist, wird weder stofflich Neues noch neue Gesichtspunkte finden, wenngleich er sich durch die Prägung des Ausdrucks überall angenehm berührt finden wird. An diese Darstellung der „nicht geistigen Welt" schließt sich die der „geistigen". Hier ist der Verfasser auf einem ihm fremden Gebiete. Seine Sittenlehre, seine Rechts- und Staatslehre, seine Kunstlehre sind durchweg eudämonistisch. Was seit hundert Jahren in der Wissenschaft geleistet ist, um diese Disziplinen auf einen höheren Standpunkt zu erheben, durch Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Savigny, ist für den Verfasser nicht vorhanden, wird von ihm nicht erwähnt. Dürfen wir auch nicht ohne weiteres insinuieren, daß er die Werke dieser Männer nicht kennt, so scheint er sich doch erhaben genug über dieselben zu dünken, um an ihnen mit völligem Stillschweigen vorüberzugehen. Es ist dies ein Akt des Selbstbewußtseins und der Kühnheit, für den es nur eine vollgültige Erwiderung gibt, die nämlich, daß die Kritik bei den Theorien des Verfassers mit dem gleichen Stillschweigen vorübergeht. Eine Abteilung in diesem Teil des Werkes ist der „beschreibenden Geisteslehre" nach Gall gewidmet. Von diesem System ist der Verfasser so durchdrungen, daß er in einem „Zahlenbeispiel" eine Anwendung davon macht, die auf uns geradezu den Eindruck des Grotesken hervorbringt. Es wird uns ein Bauernbursche vorgeführt, dessen einzelne Gehirnorgane, sein Kampfsinn, sein Ortssinn usw., uns ihrer Stärke nach genau beschrieben werden; alsdann wird derselbe in einen Konflikt der Pflichten gestellt über die Frage, ob er nach Amerika auswandern soll, und nun wird in kalkulatorisch untadeliger Weise unter Anwendung von Dezimalbrüchen berechnet, ob er geht oder bleibt. Es tut Not, in der Retorte einen Homunkulus zu fabrizieren, um die Überzeugung zu gewinnen, ob das Exempel stimmt. Nachdem in dieser Weise die positiven Wissenschaften abgehandelt sind, folgt auf etwa 200 Seiten die philosophische Ansicht des Verfassers über das „Wesen und den Ursprung der Dinge", die auf die bekannten Sätze hinausläuft, daß kein Wesen existiert außer dem Stoff, daß der Geist nur eine Tätigkeitsfähigkeit einer in bestimmter Weise zusammengesetzten Stoffmenge ist und daß der Stoff ewig ist. D a ß zwischen diesem und den vorhergehenden Teilen des Werks ein zwingender Zusammenhang stattfinde, hat uns nicht klarwerden wollen. Wohl aber ist uns recht klargeworden, wohin es führt, wenn philosophische Erörterungen ohne die erforderliche philosophische Bildung vorgenommen werden. Zwei Partien sind hierfür besonders lehrreich. Auf Seite 627 wird in syllogistischer Weise der Beweis für die Wirklichkeit des Ich geführt. Der bekannte Satz „cogito ergo sum" wird in der etwas abgeänderten Form „Ich fühle, also bin ich" kühn für einen Beweis ausgegeben, wie man schon an dem Wort „also" erkenne, für einen Beweis, dem indessen die strenge Form fehle. Diese Form wird nun durch zwei Voraussetzungen, einen Grundsatz, zwei Erklärungen und drei scholastisch völlig korrekte Schlußfiguren hergestellt. Woher wir die Uberzeugung von der Existenz der Gesetze der Logik nehmen sollen, solange die Existenz des Ich in Frage steht, bleibt freilich unklar. Ferner wird auf Seite 689 durch ein verschmitztes physikalisches Experi-
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ment der Beweis geführt, daß der Raum etwas außerhalb des Ich Seienden, nicht eine bloße Form unserer Auffassung sei. Ist es denn aber für einen Gebildeten so schwer einzusehen, daß der Urheber des Kritizismus dem Raum und der Zeit nicht die empirische, sondern nur die transzendentale Realität abgesprochen hat? Kein Verständiger kann leugnen, daß Raum und Zeit empirisch existieren; es bedarf hierfür sowenig eines physikalischen Beweises als eines logischen für die Existenz des Ich. Dem transzendentalen Wesen des Ich und der Außenwelt aber wird durch so untergeordnete Hilfsmittel wie Syllogismen oder gar gläserne Würfel, mit denen physikalische Experimente gemacht werden, nie beizukommen sein. Nachdem wir unsere Ansichten über den modernen Materialismus wiederholt an dieser Stelle vorgetragen haben, würde für uns keine Veranlassung vorliegen, auf dieses Werk weitläufiger einzugehen, wenn es nicht einen wesentlichen Vorzug vor ähnlichen Schriften von Büchner, Vogt usw. hätte: es ist durchweg von einem hohen, sittlichen Ernst getragen. Der Schauder, welchen uns der Materialismus einflößt, war indessen stets mehr ein wissenschaftlicher als ein religiöser, und die gute Absicht kann uns für die wissenschaftlichen Mängel nicht schadlos halten. Wohl aber müssen wir die Frage aufwerfen: Was verleitet Männer der Wissenschaft, sich immer von neuem über den unbestreitbaren Satz hinwegzusetzen, daß die Berechtigung der Erfahrungswissenschaften da aufhört, wo die Möglichkeit der Erfahrung ein Ende hat. Vor einer Reihe von Jahren war es eine beliebte Form der Polemik in Deutschland, jeden einen „Theologen" zu nennen — im Sinne derer, die den Ausdruck brauchten, dürfen wir sagen: zu schimpfen —, der nicht auf derselben Höhe des Standpunktes stand wie sein Kritiker. Bruno Bauer nannte Rüge, Feuerbach nannte gar den Spinoza einen Theologen. Man gestatte uns einmal dieselbe Freiheit. Es ist der theologische Grundzug in der deutschen Natur, der aus den Kenntnissen, welche wir den Naturwissenschaften verdanken, dem Inbegriff des Erkennbaren, ein Dogma, das Dogma des Materialismus machen will. Was einst der Kultusminister von Bethmann-Hollweg auf der Tribüne des Abgeordnetenhauses sagte, der Atheismus ist seiner Natur nach intolerant, ist, auf den dogmatischen Atheismus beschränkt, zweifellos richtig. Das materialistische Dogma duldet den Glauben an den Geist, an Gott nicht, obwohl er der Wissenschaft keinen Abbruch tut. Im Namen der Freiheit der Wissenschaft muß gegen solche Intoleranz protestiert werden. Auf dem Gebiete der geistigen Wissenschaften, der Geschichte, Politik bereitet sich — tausend Anzeichen lehren es — eine Revoluton vor, die ebenso tiefgreifend ist als die, welche die Naturwissenschaften durch Galilei und Newton erfuhren. Die geistigen Wissenschaften bedürfen ihrer eigentümlichen Gesetze, ihrer Methode, so gut als die Physik, und sie werden sie finden. Die Erscheinungen des geistigen Lebens müssen nach ihrem Maßstabe gemessen werden so wie die Naturerscheinungen durch die physikalischen Experimente. Einst war die Physik eine von der Theologie unterdrückte Wissenschaft; jetzt strebt sie danach zu unterdrücken. Aber auch auf dem Gebiet der Ethik wird ein Galilei erstehen, der den dogmatischen Gottes- und Geistesleugnern zurufen wird: Ε pur si muove.
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.Kirchengesdiichte" Ferd. Christ. Baurs (1863)
Die „Kirchengeschichte" Ferdinand Christian Baurs Ferdinand Christian Baur, Kirchengeschichte des neunzehnten Herausgegeben von Eduard Zeller. Tübingen 1862.
Jahrhunderts.
Am Ende einer langen, für kritische und kirchengeschichtliche Forschungen epochemadienden Laufbahn begann der berühmte Tübinger Kirchenhistoriker Baur im Jahre 1853 mit einer übersichtlichen Zusammenstellung seiner Forschungen über die ersten drei Jahrhunderte der christlichen Kirche eine Zusammenfassung seiner kirchenhistorischen Studien, in welcher ihn leider bei der Ausarbeitung des mittelalterlichen Teils der Tod unterbrach. Es waren kirchenhistorische Arbeiten gewesen, mit denen er nach seinem Versuch auf dem Gebiet der Mythologie sich in den theologischen Studien Bahn gebrochen hatte. Damals noch völlig von dem Anstoß, welchen Hegel der geschichtlichen Betrachtung von Gedankenkreisen und ihrer Fortentwicklung gegeben hatte, bewegt, hatte er durch das Schema dieser Philologie die Bewegung des religiösen Dogma in seinen Hauptperioden aufzuklären versucht. Ein eigentümlicher, der Gegenwart völlig fremd gewordener Zug geht durch seine umfassenden Schriften jener Zeit. Völlig abgetrennt von ihrem historisch-geographischen Boden, von den Zufälligkeiten ihres Geschehens, werden die Schicksale des Dogma in der griechischen und römischen Kirche als ein gewaltiger dialektischer Prozeß vorgestellt; zumal die Geschichte der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes verwandelt, was ganz in den merkwürdigen historischen Verhältnissen der untergehenden griechisch redenden Völker und dann in denen der von Rom aus geleiteten Kulturentwicklung der neueren Nationen seinen Grund gehabt hatte, was nur aus der konkretesten Betrachtung der politischen und Kulturverhältnisse der verschiedensten Epochen zu verstehen war, in das Schattenbild einer grau in grau malenden Dialektik. Es war der Ertrag dieser umfassenden Arbeiten, daß die alte Betrachtungsart der religiösen und theologischen Entwicklung, wie sie Spittlers Buch am besten vergegenwärtigt und wie sie in Schlossers hierher gehörigen Arbeiten vielleicht den besten Ausdruck gefunden hat, eine wesentliche Ergänzung erfuhr. Denn mit ihnen trat unter die Beweggründe kirchlicher Entwicklung der einer zusammenhängenden konsequenten, den Inhalt des Gemüts in Begriffen ausprägenden Gedankenentwicklung zum ersten Male in sein ganzes Recht ein. Aber bei der Einseitigkeit, in welcher diese Gruppe der geschichtlichen Ursachen hervorgehoben wurde, konnte ein so tief in das Quellenstudium selber Eingedrungener unmöglich stehenbleiben. Zunächst freilich nahmen ihn eine Reihe von Jahren hindurch die kritischen Arbeiten zur Geschichte des Urchristentums, von welchen wir nachher noch reden werden, völlig in Anspruch. Als er dann wieder zur Kirchengeschichte zurückkehrt, erscheint er in weit größerer Freiheit vom zwingenden Schema der Hegeischen Philosophie, mit einem weit offeneren Blick für die übrigen Gruppen geschichtlicher Beweggründe, wie denn auch in der Zusammenfassung seiner kritischen Studien über die ersten drei Jahrhunderte der ursprüngliche Hegeische Ausgangspunkt derselben fast völlig zurücktritt hinter den im Verlauf der Arbeit selbst gewonnenen selbständigen Gesichtspunkten einer wahrhaft 29 Dilthey, Siriften XVI
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historischen Betrachtung dieser Epoche. So daß den Unermüdlichen noch der Tod selber nach einer langen Laufbahn mitten in lebendiger und fruchtbarer Entwicklung traf. Wir verdanken es Zeller, dem Professor der Philosophie in Heidelberg, seinem geistesverwandten Schwiegersohn, der auch Baurs kritische Methode von all seinen Schülern mit dem weitaus größten Talent und der größten Genauigkeit und Schärfe der Kritik gehandhabt hat, daß das von Baur begonnene Werk einer allgemeinen Kirchengeschichte nun aus seinen Kollegienheften zu Ende geführt worden ist. Bei der außerordentlichen Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, mit der Baur seine Kollegienhefte ausarbeitete, gleich beim ersten Entwurf alles wohldurchdacht in der reinlichsten Form zu Papier brachte, das Niedergeschriebene immer aufs neue revidierte, jede kleinste Verbesserung darin nachtrug, erhielten auch diese zunächst nur für den eigenen Gebrauch bestimmten Aufzeichnungen eine solche Reife, daß Zeller nicht den mindesten Anstand nehmen durfte, sie so, wie sie waren, der Öffentlichkeit zu übergeben. Und auch darin stimmen wir dem Herausgeber völlig bei: für die „Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts" ist gerade der Umstand, daß sie von dem Verfasser nicht unmittelbar für die Leserwelt bestimmt war, durchaus kein Schade; er verleiht ihr vielmehr ein eigentümliches Interesse. Denn wenn es an sich schon seinen besonderen Wert hat, einen geistig bedeutenden Mann solches erzählen zu hören, was er nicht allein mit erlebt, sondern wobei er auch in seinem Teile mitgewirkt hat, so wird der Reiz dieser Erzählung dadurch wesentlich erhöht werden, daß wir sie in der ganzen Frische und Unmittelbarkeit erhalten, in der sie der Erzähler für sich selbst und seine persönlichen Zuhörer niedergeschrieben hatte. Zumal die Bescheidenheit und Schlichtheit, in welcher diese Partien des Buches auftreten, muß sie dem, der die außerordentliche Tragweite der kritischen Leistungen Baurs zu würdigen versteht, besonders wert madien. Und so lassen wir denn von keinem lieber eine Summe der theologischen Bewegung unseres Jahrhunderts ziehen als von diesem Mann; denn was ihm an persönlicher Kenntnis und Anschauung der übrigen bei dieser Entwicklung Beteiligten abgeht, ersetzt er durch die um so eindringendere Kenntnis der wichtigen Entwicklung der kritischen Studien, welche sich an Tübingen knüpfen; die Einseitigkeit der Betrachtung aber verzeiht man am leichtesten einem Manne, welchen das Schwergewicht eigener großer Leistungen an einem einseitigen Punkte der Betrachtung festhält. Denn diese Einseitigkeit kann allerdings durchaus nicht abgeleugnet werden. Sie beruht auf sehr verschiedenen Ursachen. Einmal sind die von den süddeutschen außerordentlich verschiedenen Verhältnisse der norddeutschen, besonders preußischen Kirche dem Tübinger Gelehrten, der ohnehin alle Verhältnisse etwas zu ausschließlich aus den Fenstern der Studierstube betrachtet, so gut als völlig fremd; ja eine in Süddeutschland sehr häufig entschiedene Abneigung gegen dieselben tritt überall hervor. Man begreift dort die zum Teil widerwärtigen Formen, in welchen hier die kirchliche Orthodoxie hervortritt, sowenig als die entsprechenden der alten Anmaßungen des Adels. Denn in den kleinen Staaten und Kirchen hat beides dort viel harmlosere und gemütlichere Formen annehmen müssen. Und der wirkliche religiöse Sinn ist in diesen kleineren Staaten nirgend in dieser Weise mit den Formen einer bestehenden Kirche und mit dem Bewußtsein ihrer Macht verschmolzen: er
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erhält sich dort in kleinen Kreisen und privaten Verbindungen und hat so den Anspruch auf die Herrschaft über Welt und Wissenschaft nur sehr gelegentlich und in milderen Formen geltend machen können, welcher in der preußischen Kirche immer wieder von Zeit zu Zeit mit verletzender Härte hervorgetreten ist. Ein anderer Grund der sehr einseitigen Beurteilung der religiösen und theologischen Bewegung unseres Jahrhunderts liegt offenbar darin, daß dem von der Philosophie Hegels gebildeten Gelehrten der Inhalt des Christentums und das Wesen der Religion vorherrschend Dogma und Gedanke war. Dies macht ihn einer zweiten umfassenden Richtung der kirchlichen Entwicklung gegenüber entschieden einseitig. Und wenn man ein allzu schneidiges Urteil den Männern der kirchlichen Formen und der kirchlichen Macht gegenüber gern verträgt: so muß doch die Art, wie hier über die Männer, welche von dem Gedanken des Christentums als einer Sache der persönlichen Erfahrung ausgegangen sind, wie über entweder nicht völlig aufrichtige oder unklare Köpfe geurteilt wird, jeden verletzen, welchen die Kenntnis der Welt und die Untersuchung der in der moralischen Welt bestimmenden Ursachen gelehrt hat, einseitige Konsequenz und systematischen Absdiluß des wissenschaftlichen Denkens zu einem fertigen Ganzen nicht höher zu schätzen als sie verdienen. Diese Einseitigkeit hat besonders alle die Parteien, welche die Schule Sdileiermadiers und die sich an dieselbe entfernter anschließenden Theologen, wie Neander, betreffen, für eine unbefangene Würdigung unfruchtbar gemacht. Und dieser Mangel ist für das Verständnis der Entwicklung des religiösen und theologischen Denkens in unserem Jahrhundert sehr tiefgreifend. Denn diese bewegt sich wesentlich um zwei Kardinalpunkte. Zuerst um den Gegensatz Schleiermachers und seiner Schule zu Hegel; dann um den Gegensatz der von Baur begründeten Schule einer Kritik des Urchristentums zu den übrigen theologischen Richtungen. Schleiermacher zuerst und nach ihm Baur, wenn auch durchaus nicht an Umfang und Höhe der Genialität mit ihm vergleichbar, sind die beiden bewegenden Kräfte in der Geschichte der neuesten Theologie. Obwohl wir von den früheren kirchenhistorischen Arbeiten Baurs her, besonders aus seiner Geschichte der Gnosis, das Urteil kannten, welches er vom Standpunkt Hegels aus über Schleiermacher fällt, so waren wir doch erstaunt, ihn in diesem Punkt so wenig durch seine spätere Entwicklung zu einem tieferen Verständnis desselben fortgeschrittenen hier wiederzufinden. Irren wir nicht, so liegt der Hauptgrund hierfür in einer bei Baur höchst auffallenden einseitig theologischen Kenntnis dieses umfassenden Mannes. N u r hierdurch ist zu erklären möglich, wie Baur zu des Satze kommt: „Hegel hat demnach nur in seiner Reinheit und Konsequenz ausgesprochen, was auch schon Schleiermacher voraussetzen mußte; die Hegeische Religionsphilosophie ist der notwendige Fortschritt, wenn man mit der denkenden Betrachtung auch nur so weit gegangen ist, als Schleiermacher selbst unwillkürlich gehen mußte." Nur so ist es möglich zu sagen: „Die Anlage zu einer spekulativen Theologie, welche schon in der Schleiermacherschen .Glaubenslehre' sich nicht verkennen läßt, ist durch Hegel zu einem in sich geschlossenen System fortgebildet worden." Vielmehr hat uns Schleiermacher eben von diesen spekulativen Theologien, wie Hegel eine aufstellte, wofern nur irgend die Beweiskraft der von ihm 29*
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aufgestellten Sätze wirklich eingesehen wird, gründlich und für immer befreit. Aber welche Stellung dann die Religion, welche nicht mehr in irgendeiner Form philosophische Sätze enthält, einnehme: kann nur aus seinem im Zusammenhang des Ganzen überdachten System verstanden werden. Nur von da aus kann auch die Frage von seiner Fassung des Gottesbegriffes, welcher uns überhaupt und besonders audi wieder in diesem Buche eine übermäßige Bedeutung beigelegt zu werden scheint, welche aber mit Sätzen über das bei ihm aufgestellte immanente Verhältnis Gottes und der Welt und ähnlichen durchaus auch nicht einmal getroffen wird, wirklich erledigt werden. In dieser Beziehung aber scheint uns vielmehr das Verhältnis Schleiermachers zu den Resultaten der Kritik Kants und dem ganzen kritischen Standpunkt desselben beachtenswert, als das bis zur Ermüdung wiederholte zu den pantheistischen Schulen. Mit Entrüstung zurückzuweisen aber und als ein Beweis anzusehen, daß Baur diese reine, zugleich aber außerordentlich reiche und nirgend von der bloßen Konsequenz eingeschränkte Natur gar nicht in ihrer ganzen Größe zu verstehen vermochte, ist ein Satz, welchen hier und bei einem so edlen und wahrhaften Forscher zu finden uns geschmerzt hat; er sagt Seite 205: „Oft genug kann man, bei der gar zu großen Vorsicht, mit welcher die Schleiermachersche Glaubenslehre den Widerspruch mit der Kirchenlehre so viel möglich zu umgehen und zu mildern sucht, und bei der gesuchten Künstlichkeit, mit welcher sie die kirchlichen Lehrsätze und Formeln in einem Sinne deutet, welchen Schleiermacher unmöglich für den wahren und eigentlichen halten konnte, den Gedanken an eine absichtliche Täuschung nicht unterdrücken, und Schleiermacher bleibt in jedem Fall ein Muster in der Kunst, den dogmatischen Formalismus auf echt diplomatische Weise zu handhaben; allein der Vorwurf, welcher in dieser Hinsicht Schleiermacher zu machen ist, fällt von seiner Person auch wieder auf die Zeit, zu deren Charakter dieser konstitutionelle Formalismus gehört, zurück." Freilich muß man, um die theologische Stellung, welche Schleiermacher in der Glaubenslehre einnimmt, völlig verstehen zu können, die kirchlichen Verhältnisse und K ä m p f e im einzelnen kennen, welche Schleiermacher seit dem Jahre 1815 in immer steigendem Maße beschäftigten und ihn zwangen, in der Dogmatik möglichst wenig Angriffspunkte zu geben, nicht um seinet-, sondern um der Sache willen. Denn er, um seinetwillen, hätte gern den ermüdenden Platz eines Kämpfers für die verlorene Sache der kirchlichen Freiheit mit einer ruhigeren Muße für seine wissenschaftlichen Arbeiten vertauscht. Aber wie einmal sein N a m e mit einer selbständigen und freien Gestaltung der Kirche völlig verknüpft war, mußte er wohl den Gegnern möglichst wenig Blößen zu bieten suchen. Wie wenig das seine eigene Neigung war, zeigen die kühnen Schriften seiner Jugend, zeigt der Vernichtungskrieg gegen Schmalz und Ammon. Aber wer in so schwierige und große Verhältnisse gestellt, zum Führer einer so schwer beschuldigten Sache gemacht, keiner Öffentlichkeit gegenüber, sondern inmitten persönlicher Stimmungen, Einflüsse und Entscheidungen einer großen Sache dienen will: dem legt sie allerdings Beschränkungen auf, welche den einsamen Tübinger Professor nicht banden. — Diese Abneigung gegen Schleiermacher und diese Verkennung der wirklichen Kirchenverhältnisse in Preußen tritt nicht weniger bei der Beurteilung der Schleiermadherschen Schule hervor: „Gestehen muß man, daß Hengstenberg
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nicht Unrecht hat, wenn er den Schleiermacherianern gegenüber auf Bestimmtheit und Entschiedenheit dringt. Es zeigt sich auch hier derselbe Standpunkt der Halbheit und Zweideutigkeit, auf welchem dieselbe Partei auf der Generalsynode stand; immer glaubt sie mit ihrem Schleiermacherschen Christus, als dem alleinigen Grunde der Seligkeit, beides, das Alte und das Moderne, vereinigen zu können, während sich doch klar herausstellt, daß man nur die Wahl hat, entweder über Schleiermacher hinauszugehen oder sich gegen die nicht zu sträuben, welche auf den Standpunkt der alten Symbole zurückdrängen." Wer zum Beispiel Jonas, diesen Mann von der schneidigsten Energie und einer unerschütterlich festen Bestimmtheit des Willens gekannt hat: dem muß dieser Vorwurf gegen ihn und seine Partei wohl sonderbar vorkommen. Es gibt eben noch andere Gründe, welche diese Männer bewegen konnten, an dem System ihres Lehrers festzuhalten, als Mangel an Bestimmtheit und Entschiedenheit. Wir gehen gern von diesem ersten Hauptpunkt, der religiösen und theologischen Bewegung unseres Jahrhunderts, zu dem zweiten über: der Aufstellung der kritischen Geschichte des Urchristentums. Die Darstellung dieses Punktes ist ohne Frage die weitaus wichtigste und interessanteste Partie des ganzen Buches. Daß er selber den Ausgangspunkt dieser Bewegung bilde, deutet er nur leise an, wo er von der Entstehung des „Lebens Jesu" von Strauß redet. „Man sieht es gewöhnlich als ein Erzeugnis der Hegeischen Philosophie an, und allerdings hatte Strauß selbst schon in der Vorrede zur ersten Auflage bekannt, die innere Befreiung des Gemüts und Denkens von gewissen religiösen und dogmatischen Voraussetzungen, ohne welches Grunderfordernis mit aller Gelehrsamkeit auf kritischem Gebiet nichts auszurichten sei, sei ihm durch philosophische Studien früh zuteil geworden. Allein den kritischen Geist, aus welchem das Werk hervorging, hatte Strauß nicht aus der Hegeischen Schule, die schon lange existierte, ohne ein kritisches Element dieser Art aus sich zu entwickeln." In der Tat war es nichts weniger als die Schule Hegels, es war die kritische Genialität Baurs, welche das außerordentliche Talent von Strauß zu seinem Unternehmen aufregte. Mit neidlosem Interesse schildert Baur die ungeheure Wirkung des Buches. Man muß die Periode des Straußschen Buches durchlebt haben, um sich eine Vorstellung von der Bewegung machen zu können, die es hervorrief. Nicht leicht hat eine literarische Erscheinung so schnell und allgemein so großes Aufsehen erregt und alle Streitkräfte mit so regem Interesse auf einen Kampfplatz gerufen, auf welchem die verschiedensten Parteien einander entgegenstanden und den Eifer des Widerspruchs selbst bis zur heftigsten Leidenschaft steigerten. Das Straußsche „Leben Jesu" war der zündende Funke, durch welchen der schon lange zusammengehäufte Brennstoff in lichterlohe Flammen geriet. Höchst anschaulidi schildert er nun die Flut von Gegenschriften und Entgegnungen von den verschiedensten Parteien, welche das Werk von Strauß hervorrief. Er analysiert vortrefflich das Buch selber; wie der Beweis der Ungeschichtlichkeit der Evangelien und der Täuschungen der Apologetik hier vollständig geführt sei, diese Seite der Evangelienkritik sei im wesentlichen durch Strauß vollendet; das andere Glied seiner Beweisführung führt aber von dem negativen Urteil, daß gewisse Tatsachen nicht geschichtlich seien, zu der positiven Aufgabe, die Entstehung dieses Ungesdiichtlichen
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zu erklären. Strauß antwortet, indem er sie aus der absichtslos dichtenden Sage als allmähliche Schöpfungen der Gemeinde verständlich zu machen unternimmt. An die Stelle lebendiger Gestalten, wirklicher Menschen, ihrer Taten und Gedanken, trat so eine Mythen bildende Kraft: es war unmöglich bei einem so negativen Resultat, bei einem so unklaren, unbestimmten Bild von Urgeschichte des Christentums stehenzubleiben. Es war doppelt unmöglich, als die Aufregung der streitenden Parteien, die Flut von Schriften und Gegenschriften, die Denunziationen und Erwiderungen diese Frage zu einer Zeitfrage gemacht hatten, welche alle Gemüter bewegte. Indem die Aufgabe, das Urchristentum geschichtlich zu begreifen, so von allen Seiten in Angriff genommen wurde: mußte die Frage entstehen, ob die Negativität des Straußschen Resultats nicht in einem Mangel der Untersuchung, der kritischen Methode ihren Grund habe, und ob man nicht von einem anderen Punkt aus sicherer in das Innere der Urgeschichte des Christentums eindringen und das auf ihr liegende Dunkel aufhellen könne. „Hier ist es nun" — so beginnt Baur die Erzählung seiner eigenen kritischen Leistungen—, „wo ich auch meine Bemühungen zur Erforschung des Urchristentums erwähnen zu müssen glaube. Ich habe lange vor Strauß meine kritischen Untersuchungen begonnen und bin daher auch von einem ganz anderen Punkt ausgegangen. Meine Beschäftigung mit den beiden KorintherBriefen veranlaßte mich zuerst, das Verhältnis des Apostels Paulus zu den älteren Aposteln schärfer ins Auge zu fassen." So entstand die bekannte grundlegende Untersuchung über die Zustände der korinthischen Gemeinde (1831), und wie sich Baurs Arbeiten über alle paulinischen Briefe und ihre Kritik ausbreiteten, faßte er alle Ergebnisse in der Schrift über den Apostel Paulus zusammen: „Diese ist das Resultat von Forschungen, welche mich ganz unabhängig von der Straußschen Kritik auf diesen Standpunkt gestellt haben. Wird eine Periode um so klarer erkannt, je tiefer man in ihre Verhältnisse und Bestrebungen, in die sie bewegenden Gegensätze hineinsieht, so glaube ich eine Periode der ältesten Geschichte des Christentums, die bisher noch außerhalb der Sphäre der geschichtlichen Betrachtung lag, weil man von einer dogmatischen Voraussetzung aus Verhältnisse gar nicht für möglich hielt, wie sie sonst in menschlichen Dingen stattfinden, für die geschichtliche Auffassung dadurch gewonnen zu haben, daß sich zeigte, wie tief der Gegensatz selbst in das Herz des apostolischen Christentums eindringt und die Differenzen der späteren Zeit schon in diesem ersten Kreise ihren Anfang genommen haben. Von da aus konnnte man sich nun auch erst eine klarere und konkretere Vorstellung von der Gestaltung der ältesten Kirche, ihren Gegensätzen und Kämpfen und der Ausgleichung derselben zur Einheit der katholischen Kirche bilden." So hatten sich die ersten Arbeiten von Baur, welche bereits begonnnen waren, bevor Strauß sein Werk in Angriff nahm und neben demselben herliefen, auf die Aufgabe bezogen, aus den paulinischen Briefen, mit Hilfe der übrigen Quellen, ein Bild der Zustände der apostolischen und nachapostolischen Zeit zu gewinnen. Noch hatte er auf die Evangelien selber seine Untersuchungen nicht ausgedehnt. „Als das Straußsche ,Leben Jesu' erschien und die bekannte Bewegung hervorrief, blieb ich ruhiger Zuschauer. Die Sache hatte ohnedies für mich nichts Neues, da ich das Werk in meiner nächsten Nähe hatte entstehen sehen und mit dem Verfasser oft genug
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darüber gesprochen hatte. Ich hätte aber auch ebensowenig für als gegen dasselbe auftreten können, da mir damals die dazu nötigen tieferen Studien noch fehlten." Erst nachdem er auf das Johanneische Evangelium seine Untersuchungen ausgedehnt hatte, sah er sich imstande, nun auch in Hinsicht der evangelischen Geschichte eine neue selbständige Stellung einzunehmen. Mit der Abhandlung über den Charakter und Ursprung dieses Evangeliums vom Jahre 1844 „war ein neuer Boden für die Kritik der evangelischen Geschichte gewonnen." H a t das Johanneische Evangelium keine eigentlich geschichtliche, sondern eine ideelle Tendenz, so kann es auch nicht mehr mit den synoptischen zusammengenommen werden. Es ist daher nicht mehr möglich, mit der Straußschen Taktik die Synoptiker durch den Johannes und diesen durch jene zu widerlegen. In demselben Verhältnis, in dem der historische Wert des Johannes sinkt, steigt dagegen der der Synoptiker, man kann keinen Grund mehr haben, ihre Glaubwürdigkeit um des Johannes willen in Zweifel zu ziehen. Als dann auch das Evangelium des Lukas sich als eine Tendenzschrift sehr bestimmter Art erwies, wurde so der Kreis immer enger gezogen, innerhalb dessen die ursprüngliche evangelische Tradition zu suchen ist, und die Möglichkeit einer Anschauung der ursprünglichen Lehre Christi trat hervor. Wir können uns nicht versagen, den Epilog mitzuteilen, mit welchem Baur die Geschichte seiner Arbeiten schließt. Sein Verhältnis zu Strauß ist Gegenstand so vielfacher Erörterung geworden, seine Stellung zu der von ihm gegründeten Schule ist besonders durch Ritschis Abwendung von derselben Gegenstand so lebhafter Debatten geworden, daß die Weise, wie er selber sich auf das Einfachste über diese Beziehungen ausspricht, wohl allgemein interessiert: „Talentvolle Schüler, deren ich mehrere zu haben das Glück hatte, haben meine Ansichten und Grundsätze weiter ausgeführt und zu ihrer Verbreitung und Anerkennung mitgewirkt. Man hat davon Veranlassung genommen, mich als Stifter einer Schule zu betrachten: die neue Tübinger Schule ist eine sehr gewöhnliche Bezeichnung der neuesten, kritischen Richtung geworden. Ich mache keinen Anspruch dieser Art und bin zufrieden, zu Erforschung der wichtigsten Frage, welche die gegenwärtige Zeit beschäftigt, das Meinige nach Maßgabe meiner Kräfte beigetragen zu haben. Mein kritischer Standpunkt ist der einzige, von welchem aus die Straußsche Kritik sowohl berichtigt als weitergeführt werden kann. Meine Kritik ist methodischer als die Straußsche, weil sie auf die Frage zurückgeht, welche Strauß vor allem hätte ins reine bringen sollen. Man kann das,Leben Jesu' nicht zum Gegenstand der Kritik machen, solange man sich nicht über die Schriften, welche die Quelle unserer Kenntnis desselben sind, und ihr Verhältnis zueinander eine bestimmte kritische Ansicht zu bilden imstande ist. Meine Kritik ist eben deswegen auch konservativer als die Straußsche, sofern sie nach einem bestimmten Gesichtspunkte die geschichtlichen Elemente von den nichtgeschichtlichen zu scheiden weiß. Was daher auch künftig das Resultat der mit so großem Interesse geführten Untersuchungen sein mag, die Gewißheit glaube ich in jedem Fall haben zu dürfen, daß es keiner Ansicht gelingen wird, der meinigen gegenüber sich allgemeinere Anerkennung zu verschaffen, ehe die meinige in ihrem ganzen Umfang und mit ganz anderen Gründen und Beweisen, als bis jetzt gegen sie vorgebracht worden sind, widerlegt sein wird."
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Die Untersuchungen, welche Baur begann, haben durch die eindringende theologische Reaktion eine gewaltsame Unterbrechung erlitten. Seine Schüler wurden von dem Gebiet der biblischen Kritik hinweggedrängt. So wandte sich Zeller von ihnen ab; Schwegler wurde genötigt, sich der römischen Geschichte und Literatur zuzuwenden; Köstlin flüchtete sich in die Ästhetik. Hilgenfeld allein schritt trotz aller Hindernisse in den von seinem Lehrer eröffneten Bahnen weiter. Indes werden andere Zeiten kommen, welche der Theologie gestatten, die begonnene Arbeit fortzuführen, und dann erst, von einem wirklich fortgeschrittenen Standpunkte aus wird ein Urteil darüber möglich sein, was Baur für eins der höchsten Probleme aller menschlichen Forschung, für die Geschichte des Urchristentums geleistet hat.
Die „Gesammelten Werke" John Stuart Mills ]ohn Stuart Mill, Gesammelte von Theodor
Gomperz.
Werke. Autorisierte
12 Bände. Leipzig
1869 bis
Übersetzung
unter
Redaktion
1873.
Von dieser Übersetzung liegen uns bis jetzt acht Bände vor, und wir hoffen, die übrigen vier folgen recht bald nach, damit das deutsche Publikum imstande ist, sich der Gesamtleistung des großen philosophischen, politischen und volkswirtschaftlichen englischen Schriftstellers zu erfreuen und Nutzen, Belehrung und Vergnügen aus seinen Schriften zu ziehen. Es ist die erste Ubersetzung sämtlicher Werke von John Stuart Mill. Seine Schriften, welche in England Dutzende von Auflagen erlebt haben und dort in jedermanns Händen sind, haben in Deutschland noch lange nicht diejenige Verbreitung gefunden, welche sie verdienen. Allgemein bekannt sind eigentlich nur die „Grundsätze der politischen Ökonomie nebst einigen Anwendungen derselben auf die Gesellschaftswissenschaften", deren englisches Original 1848 erschien; Adolf Soetbeer nämlich, der verdiente Hamburger Gelehrte, welcher dermalen den Lehrstuhl für Volkwirtschaften in Göttingen ziert, publizierte 1851 eine deutsche Übersetzung, welche inzwischen eine neue Auflage erlebt hat. Außerdem existierten andere, minder gelungene Ubersetzungen einzelner kleinerer Schriften Mills sowie eine gute Übertragung seines „System der deduktiven und induktiven Logik" von J . Schiel (Braunschweig 1862, 2 Bände). Professor Gomperz in Wien, der als Philosoph, Philologe und Kulturhistoriker rühmlich bekannt ist, hatte schon unmittelbar nach dem Erscheinen des Originals der „Logik" (welche übrigens keineswegs, dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend, eine bloße Zusammenfassung des Denkformalismus, sondern eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung überhaupt, also das System des empirischen oder analytischen Phänomenalismus, in gemeinverständlicher Sprache enthält), dasselbe von Anfang bis zu Ende Wort für
„Gesammelte Werke" John Stuart Mills (1847)
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W o r t übersetzt und dem A u t o r mit der Bitte um Genehmigung vorgelegt. Mill erteilte die nachgesuchte Erlaubnis auf das bereitwilligste, indem er seine größte Genugtuung darüber aussprach, „daß sein Werk einen Übersetzer gefunden habe, welcher so vollständig in den Geist desselben eingedrungen sei". Leider gelang es Herrn Professor Gomperz, trotz der gewichtigsten Empfehlungen und einer w a h r haft odysseischen Irrfahrt bei dem deutschen Buchhandel damals nicht, einen V e r leger zu finden. Mißmutig ließ er die Sache liegen. Er ist nun mit verstärkten und vertieften Intentionen auf seinen Gegenstand zurückgekommen und hat uns nun, zwanzig Jahre später, eine deutsche Reproduktion der Millschen Schriften geliefert, f ü r die das deutsche Publikum alle U r sache hat, ihm dankbar zu sein. Die bis jetzt erschienenen Bände enthalten: 1. „Uber Freiheit", übersetzt von Gomperz, 2. „Das Nützlichkeitsprinzip", übersetzt von Adolf Wahrmund, 3. „Rektoratsrede" (gehalten am 1. Februar 1867), übersetzt von Adolf Wahrmund, 4. Die „Logik", übersetzt von Theodor Gomperz, 5. Die „Politische Ökonomie", übersetzt von Theodor Gomperz, 6. „Betrachtungen überRepräsentativ-Regierung", übersetzt von Eduard Wessel. Ich kann auf Grund der Vergleichung mit dem mir seit lange werten und gewohnten Original behaupten, daß diese Ubersetzungen, was Treue, Deutlichkeit und richtiges Deutsch (eine seltene Sache bei „gewöhnlichen" Übersetzungen!) [betrifft], nichts zu wünschen übriglassen. Es sind überall die neuesten Auflagen benutzt, und Gomperz hat namentlich audi Soetbeers Übersetzung der „Politischen Ökonomie" auf Grund der sechsten Originalausgabe einer Überarbeitung unterzogen, deren Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit alle Anerkennung verdient. Zur Empfehlung Mills etwas zu sagen, heißt „Eulen nadi Athen tragen". Ich möchte nur bemerken, daß, was den augenblicklich in Deutschland grassierenden Streit über das sogenannte „Laisser-aller" oder „Laisser-faire" anbelangt, Mill sidi präzis dahin ausspricht: „Laisser-faire muß die allgemeine Regel sein, Ausnahmen sind zu beweisen." Die Begründung dieses Satzes in Band VII, Seite 256 und 294, verdient alle Beachtung.
ANMERKUNGEN Zur Charakteristik
Macaulays (S. 1)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.489 vom 18.10.1860, S.3 und Beilage S . l (anonym); Nr.495 vom 21.10.1860, S.3 und Beilage S . l (anonym); Nr.499 vom 24.10.1860, S . 2 f . (anonym); Nr. 503 vom 26.10.1860, Beilage S. 1 (anonym); N r . 505 vom 27.10.1860, S. 2 f. (gezeichnet v.). Überschrift von Dilthey. Geschichte der deutschen Kaiserzeit (S. 29) Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.19 vom 12.1.1861, S . 2 f . (anonym); N r . 2 1 vom 13.1.1881, Beilage S . l (anonym); N r . 2 3 vom 15.1.1861, S . l (anonym); N r . 2 5 vom 16.1.1861, S. 3 und Beilage S. 1 (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Goethe als Staatsmann
(S.46)
Zuerst in: Preußische Zeitung Nr. 129 vom 17.3.1861, S . l — 3 (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. — Vgl. Adolf Schöll, Goethe als Staatsmann. In: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S.423—470; 585—616; 11 (1863), S. 135—161, 211—240. Englische Geschichte
(S.51)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.273 vom 15.6.1861, S . l f . (anonym); Nr.277 vom 18.6.1861, S. 1 f. (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Geschichte Spaniens (S. 57) Zuerst in: Nationalzeitung, 14. Jg. 1861, Nr.429 vom 14.9.1861, S. 1—3 (gezeichnet D—). Überschrift von Dilthey. Die „Preußischen Jahrbücher" (S. 66) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 198 vom 30.4.1862, Beilage (1 Spalte) (anonym). Überschrift vom Hrsg. — Der Text wurde von Erich Weniger abgedruckt als Beilage IV zu den von ihm hrsg. „Briefen an Rudolf Haym 1861—1873" in: Abhh.d.Preuß. Akad.d.Wiss., 9.Jg. Berlin 1936, phil.-hist.Kl., Nr.9, S.46—48. Volkszählungen
(S. 69)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 8 2 vom 18.2.1862, S . l (gezeichnet —υ.). Überschrift vom Hrsg. Vorlesungen zum Besten des Germanischen Museums (5. 73) Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 123 vom 14.3.1862, S . l f . (gezeichnet —v.). Überschrift von Dilthey. Friedrich II., Kurfürst von Brandenburg
(S.76)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, Nr. 153 vom 1.4.1862, S. 1 f. (gezeichnet —υ.). Überschrift vom Hrsg.
Anmerkungen
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Zur Geschichte des Parlamentarismus
(S. 80)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.264 vom 11.6.1862, S. 1 (anonym). Nachgewiesen im Berliner Druckschriftenverzeichnis im Dilthey-Nachlaß, Nr. 17. Überschrift vom Hrsg. Aus der englischen Gesellschaft von 1840 (S. 83) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 316 vom 11.7.1862, S. 1 £. (anonym); Nr. 320 vom 13. 7. 1862, S. l f . (anonym). Nachgewiesen im Druckschriftenverzeichnis, Nr. 16. Überschrift von Dilthey. Zur Biographie des Freiherrn vom Stein
(S.91)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.509 vom 30.10.1860, Beilage S . l f . (anonym). Die Memoiren Guizots
(S.96)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr. 531 vom 11.11.1860, S. 3 (anonym). Ein angekündigter Schluß der Rezension ist nicht erschienen. Uberschrift vom Hrsg. Geschichte und Wissenschaft (S. 100) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 246 vom 29.5.1862, S.l—3 (anonym). Überschrift von Dilthey. Der preußische Staat (S. 107) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.266 vom 12.6.1862, S . l (anonym). Überschrift von Dilthey. Ein System der Politik (S. 109) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.410 vom 4.9.1862, S. 1 f. (anonym). Überschrift von Dilthey. Deutsche Geschichte um 1800 (S. 113) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.464 vom 5.10.1862, S.l—4 (anonym); Nr.466 vom 7.10.1862, S.l—3 (anonym). Überschrift vom Hrsg. Die Memoiren Kaiser Karls V. (S. 127) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.472 vom 10.10.1862, S. 1 f. (anonym). Überschrift von Dilthey. Preußische Landtagsmänner
(S. 132)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.522 vom 8.11.1862, S . l (anonym). Überschrift von Dilthey. Der Mensch und die Zahlen (S. 134) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 526 vom 11.11.1862, S. 1 f. (anonym). Übersdirift von Dilthey. Eine Politik der Zukunft (S. 138) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 550 vom 25.11.1862, S. 1 f. (anonym). Überschrift von Dilthey. Deutsche Geschichte (S. 141) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.267 vom 12.6.1863, S. 1 f. (anonym); Nr.269 vom 13.6.1863, S.l—3 (anonym); Nr.321 vom 14.7.1863, S.l—3 (anonym). Überschrift von Dilthey.
460
Anmerkungen Ein preußischer
Staatsmann
(S. 156)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 385 vom 20.8.1863, S. 1 f. (anonym). Überschrift von Dilthey. „Deutsche Geschichte" von Ludwig Häusser (S. 159) Zuerst in: Westermanns Monatshefte, 19.Bd. Braunschweig 1865, Nr. 111 (Dezember), S. 255—261 (anonym). Vgl. die Bibliographie von Erich Weniger, Gesammelte Schriften Bd. X I I , Nr. 26 a. Osterfest
und Osterspiele
(S. 169)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr. 186 vom 20.4.1859, S. 1 (anonym; Berliner Druckschriftenverzeichnis Nr.29); Nr.188 vom 21.4.1859, S . l f . (anonym); Nr.190 vom 22.4. 1859, S . l — 3 (gezeichnet —ν.); Nr. 192 vom 24.4.1859, S . l f . (gezeichnet —v.); Nr. 196 vom 28. 4. 1859, S. 1—3 (gezeichnet —v.; Druckschriftenverzeichnis Nr. 30). Überschriften von Dilthey. Kingsleys
„Hypatia"
als historischer
Roman
(S. 191)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.543 vom 19.11.1859, S . 2 f . (anonym); Nr.545 vom 20.11.1859, S . l — 3 (gezeichnet —v.; Druckschriftenverzeichnis Nr. 18). Überschrift von Dilthey. Goethes
„Iphigenie"
in ihrem Verhältnis
zur Bildungsgeschichte
des Dichters
(S.201)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.81 vom 17.2.1861, S . l f . (anonym; Druckschriftenverzeichnis Nr. 22). Überschrift vom Hrsg. — Im Druck: Braunschweig 1861, auch in: Hettners „Kleinen Schriften". Nach dessen Tode hrsg. Braunschweig 1884, S. 452—474. Veränderte Fassung auch in: Westermanns Monatshefte 10 (1861), S. 157—166. Goethe
und die Erzählkunst
(S.203)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.91 vom 23.2.1861, S . l — 3 (gezeichnet —v.). Überschrift von Dilthey. Im Drude: Berthold Auerbach, Goethe und die Erzählkunst. Stuttgart 1861. Goethe in Italien (S. 210) Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr. 143 vom 26.3.1861, S . l — 3 (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Im Druck in Grimms „Neue Essays über Kunst und Literatur", Berlin 1865, S. 344—371. Goethe
und Schiller
(S.216)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr. 161 vom 7.4.1861, S . l — 3 (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Goetheausstellung
(S.223)
Zuerst in: Preußische Zeitung, Nr.259 vom 7.6.1861, S . l f . (anonym; Druckschriftenverzeichnis Nr.26); Nr.263 vom 9.6.1861, S . l f . (anonym). Überschrift von Dilthey. Die gelehrten
Zeitsdbrtften
im 18. Jahrhundert
(S.229)
Zuerst in: Preußische Jahrbücher, 8.Bd. (1861), S.225—235 unter dem Titel: Ein Brief A. W. Schlegels an Huber (anonym). — Der Text wurde von Erich Weniger als Beilage I zu den „Briefen an Rudolf Haym 1861—1873" wiederabgedruckt in den Abhh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., 9. Jg., Berlin 1936, phil.-hist. Kl., Nr. 9, S.36—41. Überschrift von Erich Weniger.
Anmerkungen Notiz
über
461
die Schleiermacher-Briefe
(S. 235)
Zuerst in: Preußische Jahrbücher, 1 0 . B d . (1861), S. 1 7 9 — 1 8 2 (anonym). — Der T e x t wurde von Erich Weniger in den Akademie-Abhandlungen (s.o.) S . 4 2 — 4 5 a.a.O. abgedruckt. Überschrift von Erich Weniger. Die Poesie
des Weltschmerzes
mit besonderer
Rücksicht
auf Lenau
(S. 238)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 34 vom 2 1 . 1 . 1 8 6 2 , S. 1 f. (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. „Lohengrin"
(S.245)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 5 8 vom 4 . 2 . 1 8 6 2 , S. 1 f. (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Johann
Joachim
Winckelmann
(S. 250)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 9 5 vom 2 6 . 2 . 1 8 6 2 , S. 1 f. (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Julian
Schmidts
„Literaturgeschichte"
(S. 257)
Zuerst in: Preußische Jahrbücher, 1 6 . B d . (1865), S . 4 0 1 — 4 0 3 (anonym, Druckschriftenverzeichnis N r . 134). Überschrift vom Hrsg. Der
„Quickborn"
von Klaus
Groth
(S.260)
Zuerst in: I m Neuen Reich, l . B d . , l . J g . (1871), S. 8 0 9 — 8 1 7 (gezeichnet D ) . Überschrift vom Hrsg. Die Raffael-Biographie
von
Herman
Grimm
(S. 268)
Zuerst in: Schlesische Zeitung, N r . 302 vom 2 . 7 . 1 8 7 2 (gezeichnet W . D . , Druckschriftenverzeichnis N r . 31). Überschrift vom Hrsg. Zur Biographie
von
Reinhold
Lenz
(S. 279)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 4 4 0 vom 2 1 . 9 . 1 8 6 2 , S. 1 f. (anonym). Überschrift vom Hrsg. Die moderne
Novelle
(S.283)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 596 vom 2 1 . 1 2 . 1 8 6 2 , S. 1—3 N r . 602 vom 2 5 . 1 2 . 1 8 6 2 , S. 1 f. (anonym). Überschrift vom Hrsg. Friedrieb
SSiegels
Katholizismus
(anonym);
(S. 293)
Zuerst i n : Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 6 5 vom 8 . 2 . 1 8 6 3 , S. 1—3 (anonym). Übersdirift von Dilthey. Drei Besuche
bei Goethe
(S. 300)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 7 7 vom 1 5 . 2 . 1 8 6 3 , S. 1 f. (anonym); N r . 8 9 vom 2 2 . 2 . 1 8 6 3 , S. 1—3 (anonym). Ludwig
Uhland
(S. 311)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 193 vom 2 6 . 4 . 1 8 6 3 , S. 1—3 (anonym). Überschrift von Dilthey. — Nachweis der Gedichte: „Als Knabe stieg i d i . . . " : Anfang der Ballade „Lieder der V o r z e i t " ; „Anfangs sind wir . . . " : Aus dem Vorwort zur ersten Auflage der Gedichte (1815); „Wann e i n s t . . . " : Schluß der „Wanderung".
462
Anmerkungen Zur Theorie der Musik (S. 320)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 2 8 5 vom 23.6.1863, S. 1—3 (anonym). Überschrift von Dilthey. Christliche Dogmatik
und Ethik (S. 328)
Zuerst in: Deutsche Zeitschrift f ü r christliche Wissenschaft und christliches Leben, Neue Folge, 3. Jg. (1860), N r . 22 vom 2.6.1860, S. 169—172 (anonym, von Erich Weniger in seiner Dilthey-Bibliographie [Ges. Sehr. X I I ] aufgeführt). Überschrift vom Hrsg. Goethe als Naturforscher,
besonders als Anatom
(S. 334)
Zuerst in: Preußische Zeitung, N r . 6 9 vom 10.2.1861, S. 1—3 (gezeichnet —v.). Überschrift von Dilthey. Im Druck: Rudolf Virchow, Goethe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Sdiiller. Eine Rede. Berlin 1861. Zur Philosophie
Kants (S. 340)
Zuerst in: Protestantische Kirchenzeitung, 8.Jg. (1861), N r . 4 7 vom 23.11.1861, Spp. 2004—2007 (anonym, von Erich Weniger Dilthey zugeschrieben). Überschrift vom Hrsg. Albertus
Magnus
(S. 344)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 4 6 vom 28.1.1862, S. 1 (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Johannes Kepler und die Harmonie
der Sphären (S. 348)
Zuerst in: Allgemeine Preußische Zeitung, N r . 7 1 vom 12.2.1862, S. 1 f. (gezeichnet —v.). Überschrift vom Hrsg. Zur Philosophie
Arthur
Schopenhauers
(S. 356)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 3 5 5 vom 2.8.1862, S. 1—3 (anonym, Druckschriftenverzeichnis N r . 12); N r . 359 vom 5.8.1862, S. 1—3 (anonym). Überschrift vom Hrsg. Schleiermachers
„Psychologie"
(S. 370)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 4 0 2 vom 30.8.1862, S. l f . (anonym, Druckschriftenverzeichnis N r . 14). Überschrift von Dilthey. Die „Anthropologie°
von Theodor Waitz (S. 373)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 4 5 7 vom 1.10.1863, S. 1—3 (anonym, Druckschriftenverzeichnis N r . 11). Überschrift vom Hrsg. Adolf
Trendelenburg!
„Kleine Sthriften"
(S.380)
Zuerst in: Preußische Jahrbücher, 29.Bd. (1872), S.252—254 (anonym, Druckschriftenverzeichnis). Überschrift vom Hrsg. Zur Philosophie
des Redits
(S.382)
Zuerst in: Preußische Zeitung, N r . 603 vom 23.12.1860, S . 3 und Beilage S . l (anonym); N r . 607 vom 28.12. I860, S. 2 und Beilage S. 1 (anonym); N r . 611 vom 30.12.1860, Beilage S. 1 (anonym). Überschrift von Dilthey. Schopenhauers
Lehre und Leben (S. 394)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 163 vom 6.4.1862, S . l f. (anonym). Überschrift von Dilthey.
463
Anmerkungen Fichte als Ethiker und Politiker (S. 397)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.234 vom 22.5.1862, S. 1 (anonym); Nr.236 vom 23.5.1862, S. 1 (anonym; Nr. 244 vom 28.5.1862, S. 1 f. (anonym). Überschrift von Dilthey. Aus SAdlings
philosophischem
Nachlaß
(S.407)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.350 vom 31.7.1862, S. 1 (anonym). Überschrift vom Hrsg. Biographisches über Friedridh Carl von Savigny
(S.409)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.498 vom 25.10.1862, S. l f . (anonym). Überschrift von Dilthey. Joachim Jungius (S. 413) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.606 vom 30.12.1862, S. 1—3 (anonym). Uberschrift von Dilthey. Aus dem Studierzimmer
eines materialistischen
Philosophen
(S.419)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr. 101 vom 1.3.1863, S . l f . (anonym). Überschrift von Dilthey. Die Sprache
(S.423)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 113 vom 8.3.1863, S.2 (anonym). Überschrift von Dilthey. Aus Carl Ritters ΝαώΙαβ (S. 426) Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.253 vom 4.6.1863, S . l f . (anonym). Überschrift von Dilthey. Rousseaus Entwicklungsgeschichte
(S. 429)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.259 vom 7.6.1863, S. 1—3 (anonym). Überschrift von Dilthey. Friedrich August Wolf
(S.43S)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 307 vom 5.7.1863, S . l f . (anonym). Überschrift von Dilthey. Materialismus
der Naturwissenschaft
(S.438)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, N r . 335 vom 22.7.1863, S. 1—3 (anonym). Überschrift vom Hrsg. Die Grundzüge
der Weltordnung
(S. 446)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.371 vom 12.8.1863, S. 1 (anonym). Überschrift von Dilthey. Die „Kirchengeschichte'
Ferdinand Christian Baurs (S. 449)
Zuerst in: Berliner Allgemeine Zeitung, Nr.407 vom 2.9.1863, S. 1—3 (anonym). Überschrift vom Hrsg. Die „Gesammelten
Werke'
John Stuart Mills (S. 4S6)
Zuerst in: Westermanns Monatshefte, 36. Bd. (1874), S. 178 f. (anonym). Überschrift vom Hrsg.
PERSONENREGISTER Literarische und biblische Namen wurden nicht aufgenommen Adalbert, B. v. Bamberg 43 Adalbert, B. v. Bremen 40 Adelheid, dt. Kgn. 42 Addison 22, 89 f. Aegidi 66 Aesdiylos 247, 255 Agassiz 374 Agostino Veneziano 275 Ahrens 382 Alarich 198 Alberich 36, 38 f. Albertus Magnus 123, 246, 339, 344 ff., 462 Albrecht Adiill, Kf. V.Brandenburg 76 ff. Albrecht, österr. H g . 79 Alcibiades 21 A l e x a n d e r d. Gr. 102, 104, 165, 255, 406 Alexander, russ. Zar 162, 168, 309 Alfieri 216 Allihn 421 Alphons X., span. Kg. 189 Altenstein 158 Alvensleben 143, 147 Amatus v. Salerno 45 Ammonn 452 Andrea 418 A n n a , engl. Kgn. 20, 89 Anna Amalie, Hgn. v. Sachsen-Weimar 228 Apelles 255 Apelt 439, 441, 444 A r a n d a 65 Archimedes 332 d'Argens 160 Aribert v. M a i l a n d 44 Ariost 60, 249 Aristardi 352 Aristobulus 195 Aristophanes 3 Aristoteles X V I I I , 27, 196, 252, 275—277, 345—347,
362, 380, 407, 413, 416— 418, 441, 444 Arndt 95, 157, 163 Arnim, A. v. 127 Arnim, B. v. 225, 283 Arnold 435 f. Artois 117, 143 Athaulf 193, 198 d'Aubenton 340 Auerbach 203 f., 206, 208, 217, 238, 285 f., 334, 460 August, sächs. Kf. 290 Augustinus 182, 192 f., 196, 199 f., 435 Ave-Lallement 413 f., 418 Averroes 347 Baader 298, 407 Bach, J . S. 191, 326 Bach, Th. 156 Baco 6, 8, 60, 105, 138, 300, 361, 413, 416, 418, 420, 444 B a r c l a y 417 Bartolommeo 273 Batsch 338 Bauer 448 Baumgarten X , 57 ff., 66 Baur, F. C. 449 ff., 463 Baur, W . 91 B a y l e 63 Beaumarchais 211 Beda 172 Beethoven 303 Behrend 133 Bekker 319 Bellari 275 Benedikt v. Sorakte 36, 38 Beneke 440 Bentham 8, 10 Berengar 35, 42 Berg 417 Bernadotte 405
Bernays 313, 315 Bernini 253 Bernstorff 68 Bertram 295, 296 Bertuch 231, 428 Bethmann-Hollweg 448 Beust 68 Bidiat 56 Biergans 123 Birch-Pfeiffer 286 Bischoffwerder 142—144 Bismarck Χ , X I I I Black 106 Blau 118 Bleek 371 Blom 417 Blücher 94 Boccaccio 208, 284 Bockum-Dolff 132 Böckh XI, 71, 426 Böcking 67 f., 236 Böhme 418 Böhmer 30, 117 Boerhaave 339 Böttger 423 Boisseree, M. 296 Boisseree, S. 293, 296, 299, 300 ff. Bonaparte s. Napoleon Bonitz 380 Bonnel 371 Boretius X I Borgia 39 Bourrienne 167 Boyen 157 Bramante 275, 277 Brandis 371 Brentano, C. 127, 283 f., 290, 312 Bright 9 Brion 226, 335 Brockerhoff 429 de Broglie 99 Brugsch 73
465
Personenregister Brunn 274 Bruno, B. v. Köln 40 Brutus 13 Budier 138 Buckingham 89 Budde X f . , XIV, 51 ff., 100 ff., 443 Büchner 419 ff., 448 Buff 226 Buffon 340, 375 Bunsen 193, 201, 216, 333 Bunyan 22 Burke 7 Burnet 19—21 Busch 79 Byron 22, 242 f., 358 Caesar 3, 5, 21, 105, 165, 252, 406 Caccagnini 269 Calixt 417 Campanella 413 Camper 340 Campomanes 60 f., 64 f. Capet 35, 37 Carl Wilhelm Ferdinand, Hg. v. Braunschweig 118 Carlyle XI, 21 Cartesius s. Descartes Casaubonus 54 Catilina 3 Cavalcaselle 269 Cervantes 14, 208, 284, 289 Chateaubriand 96, 165 Chatham 17, 22, 89 f. Chrysostomos 192 Cicero 4 Clarendon 85 Claudius 71, 250 Clauren s. Heun Clausewitz 268 Clemens v. Alexandria 170 Clemens Wenzel, B. v. Trier 124 Clerfayt 152 Clive 13, 21 f. Clodius 3 Cobenzl 147, 149 Cocceji 381 Codes 13 Colonna 269 Comte X f., XIV, XVI Condillac 434 30
Dilthey, Schriften XVI
Conring 417 Corneille 60 Cornelius 216, 302—304 Correggio 368 Cotta 295, 302, 313 Cowley 3 Creuzer 127 Cromwell 7 Crowe 269 Custine 118 f. Cuvier 56, 339 f., 375 Cyrill 196 Dahlmann XI, 110 Dampierre 122 Daniel 426 Dante 90, 222, 246, 408 Danzel 260 Darius 70 Darwin 377 David 71 Davoust 167 Decius, röm. K. 192 Demosthenes 174 Denner 394 Descartes 51 f., 54, 60, 413, 416, 433, 444 De Thou 55 Diderot 211, 433 f. Diemer XV Dieterici 107, 345 Dilthey, W. I X ff., 235 f. Diogenes 274—276 Dionysius Areopagita 189, 277 Disraeli 7 Dörnberg 165 Dorer 280 Dortmuth 19 Dorville 308 Droysen Χ—XII, 76, 105, 222 Dryden 22 Dschingiskhan 104, 305 Dürer 303 Dumas 96 Dumont 17 Duncannon 86 Duncker XI, 396 Duns Scotus 123 Eckermann 304, 317, 336, 339
Egbert 27 Ehrmann 308 Eidiendorff 312, 317 f. Eichhorn 67, 426 Einsiedel 228 Eiselen 107 ff. Eldena 344 Elisabeth I., engl. Kgn. 17, 24, 89 Emerson XI, 210, 338 Engel 69 Ensenada 63 Epaminondas 13 Epikur 277 Erasmus 174 Erdmannsdörffer X I f. Ernesti 124 Erthal, C. J. v., Eb. ν. Mainz 116, 118
d'Espreminil 17 l'Estock 162 Eusebius 170 Eyck 296, 302 Falk 229 Fechenbadi 118 Federigo v. Mantua 275 Felbiger 124 Fenelon 63 Fepoc 60, 63 f. Ferdinand II., dt. K. 67 Ferdinand VI., span. Kg. 63 Ferdinand VII., span. Kg. 163 Feuerbach, L. A. 9, 440, 448 Feuerbach, P. J. A. 233 Fichte XVIII, 163, 201, 229, 231—233, 261, 298, 343, 356, 359 f., 366 f., 373, 382, 395, 397 ff., 410, 421 f., 447, 463 Firdusi 73 f. Fischel 138 Fischer, A. 225 Fischer, K. 222, 343 Förster 348 Foissac 376 Forster 116, 118—121, 123, 126 f., 234 Fortlage 360 Fouque 284, 316 f. Fox 7, 89 Frankenstein 437
466 Franz I., frz. Kg. 129 Franz II., d. K. 146, 149, 154 Frantz 138 ff. Frauenstädt 356—360, 366, 368 f. Freytag X, 257 Friedrich, Ldgf. v. Thüringen 184 Friedrich I., dt. K. 33, 102, 345 Friedrich II., Kf. v. Brandenburg 76 ff. Friedrich II., preuß. Kg. 16, 22, 65, 141, 147, 154, 159 —161, 224, 365, 381, 404 Friedrich III., dt. Kg. 443 Friedrich August II., sächs. Kf. 124 Friedrich Wilhelm II., preuß. Kg. 143 f., 149 f. Friedrich Wilhelm III., preuß. Kg. 154, 160—162, 166 Friedrich Wilhelm IV., preuß. Kg. 166, 380 Friedrichs 250 f. Fries 440 f. Galenus 347 Galilei 349 f., 413, 444, 448 Gall 447 Geich 123 Geliert 124 Genlis 295 Gentz 81 Geoffrey ν. Dunstaple 181 Geoffroy St.-Hilaire 337, 339 f. Georg Podiebrad 77 George 370 f. Gerbert 36 Gervinus XI, 7, 25, 52 f., 57 f., 114, 202, 258, 260 f. Gförer 30 f., 35, 39—45 Ghist 275 Gibbon 6, 26 Giesebrecht IX, XI, 29 ff. Gilsa 191, 193 Giotto 255 Giovo 269 Gleim 94
Personenregister Gneisenau 163 Gneist 27 f., 110, 141 Godoy 66 Göchhausen 228 Görres 121, 125 f. Goethe IX, XII, X I X , 46 ff., 60, 67, 122, 201 ff., 203 ff., 210 ff., 216 ff., 223 ff., 231 f., 239—241, 246, 251 —253, 256, 260, 279— 282, 288 f., 293, 298 f., 300 ff., 312, 316—318, 334 ff., 361, 396, 408, 410, 414, 431, 446, 458, 460— 462 Goltz 143, 150 f. Gomperz XII, 456 f. Gore 228 Gosche 245 Gottschall 258, 260 Gottsched 124 Grabow 132 Gray 89 Gregor v. Nazianz 170 Gregor VII. 45 Grey 85 Grimm, Η. IX, XI, 210, 216, 261, 268 ff., 283, 285 f., 288, 289 ff., 334, 460 f. Grimm, J. 171, 174, 217, 261, 334, 426 Grimm, W. 261 Grolmann 157 Groth 260 ff., 461 Gruppe 279 ff., 421 Günther 109 Guhrauer 260, 413 f. Guizot 83 ff., 96 ff., 459 Gustav Adolf, schwed. Kg. 18 Gutenberg 133 Gwinner 357 f., 368 f., 394 ff. Händel 191, 326 Häusser XI, 66, 141 ff., 159 ff., 396 Hafiz 306 Hagemann 295 Halifax 20 Hallam 26, 87 f.
Haller 81, 339 Hamann 202, 250 Hamilton 295 Hampden 22 Hancock 376 Hannibal 93, 100 Hardenberg 151 f., 159, 165, 304 Harich X I I I Harvey 417 Hase 67 Hasfer 295 Hassenpflug 412 Hastings 13, 22 Hauff 285 Haugwitz 148—150, 152, 162 Haureau 344 Haym Χ—XIII, 133, 396, 458, 460 Hegel XIV, 67, 109, 197, 216, 222, 260, 331, 349, 356, 365, 367, 370, 382, 395 f., 407, 421, 439 f., 443, 447, 449, 451, 453 Heine 241 f., 312, 317 f., 358 Heinrich, Hg. v. Bayern 42 Heinrich I., dt. K. 34, 248 Heinrich II., dt. K. 29, 43 Heinrich III., dt. K. 44 f. Heinrich IV., dt. K. 45 Heinrich IV., frz. Kg. 52 f., 97 Heinrich VII., dt. K. 411 Heinse 116 Helmhohz XIV, 320, 322, 337 Helvich 415 Hengstenberg 452 Heraklian 191, 196 Herbart 342, 372, 382, 420 f., 440 f. Herder XIII, 49, 202, 228, 231 f., 337, 339, 373 Hermann 231 Hermann F. zu Wied 340 Hermannus Contractus 177 Herodot 16, 100, 252 Hertzberg 142, 146 Hettner 201, 216, 258, 260, 334, 460 Heun 285
Personenregister Heyderhoff Χ, XII Heyne 117, 124, 135, 437 Heyse 283, 285 f., 289 Hildebrand 260 Hildegard v. Bingen 345 Hilgenfeld 456 Hippel 156 ff. Hirsdi 43 Hobbes XVIII, 444 Hodie 125 Höfer 285 Hölderlin 197 Hoffmann 116 f., 120 Hoffmann, Ε. Τ. Α. 158 Holbach 295 Holland 84 f. Hollweg 308 Homer 202, 205, 209, 251, 256, 438 Hontheim 124 Hotho 216, 334 Hoverbeck 132 Huber, L. F. 229, 233 f., 460 Huber, Th. 234 Hefeland 231 Hugo 67 Hugo, Kg. v. Italien 35—39 Humboldt, A. v. XI, 121, 336, 339, 344—347, 410, 413, 416, 427 Humboldt, W. v. XI, 94, 157 f., 163, 201, 216, 401, 410, 426, 440 Hume XVI, 6, 15, 26 Hurter 30 Huß 243 Hutten 243 Hypatia 191 ff., 460 Ibrahim Pasdia 171 Isidor 195 Jacobi 143 f. Jacobi, F. H. 122, 227, 298, 307 J a f f i 30 Jagemann 309 Jahn, F. L. 157 Jahn, O. 311 f., 314, 318 Jakob II., engl. Kg. 15, 19— 21, 89 James 6 Jerusalem 205 30'
Johann, engl. Kg. 26, 28 Johann, Mkgf. v. Brandenburg 79 Johannes XIX. 44 Johnson 22 Jonas 235, 370 f., 453 Julianus, röm. K. 192, 196— 198 Julius II. 273 f. Jungius 413 ff., 463 Jung Stilling 309 Junius 7 Kaiser 215 Kalb 49 Kant XIV, XVI, XVIII, 60, 158, 219-221, 229, 231 f., 260, 305, 329, 333, 338, 340 ff., 359, 361 f., 364, 368 f., 372 f., 382, 385, 394 f., 397 f., 401, 420— 422, 432, 441, 444 f., 447, 452, 462 Karl, Erzhg. v. Österreich 153 Karl I., engl. Kg. 89 Karl II., engl. Kg. 5 f., 89 Karl III., span. Kg. 59, 61, 63—65 Karl IV., span. Kg. 59, 66 Karl V., dt. K. 18, 20, 127 ff., 210, 297, 459 Karl VI., frz. Kg. 181 Karl August v. SadisenWeimar 50, 335, 414 Karl d. Einfältige, dt. Kg. 126 Karl Eugen v. Württemberg 335 Karl d. Große 27, 34, 40 f., 122, 345 Katharina II., russ. Zarin 145—148 Kauffmann 215, 224 Kayser 281 f. Keller, A. v. 319 Keller, G. 286 Keller, F. L. v. 412 Kepler, J . 348 ff., 416, 418, 444 f., 462 Kepler, K. 354 Kerner 311, 314 Kestner 205 f., 226 Kielmeyer 339
467 Kingsley 191 ff., 460 Kinkel 429 Kirdihoff 396 Kirchmann 132 f. Klauer 225 Klein 115 Kleist 286, 289 Klopstotk 117, 211, 218 Knebel 50 Knesebeck 158 Koberstein 223 f., 229, 234 f. Köpke 279 Körner 234 Körte 438 Köstlin 314, 456 Kolb 134 ff. Kolbe 225 Kolumbus 443 Konrad II., dt. K. 37, 44 Konrad v. Burgund 35, 37 f. Konrad v. Lothringen 42 Konstantin, röm. K. 169 Kopernikus 63, 348—350, 352 Kotzebue 4, 229, 234 Kramer 306 Kraus 228 Krause 109, 232 Kromeier 416 Lafayette 17 Lamarque 99 Lamprecht 256 Landsdowne 85, 87 Lang 123 Lange 330, 341 La Roche, M. v. 226 La Roche, S. v. 124, 226 Lavater 250, 309, 335, 339 Lazarus 440 f. Leibniz 32, 226, 230, 413 f., 419, 433, 444 Lenau 238 ff., 461 Lenz 279 ff., 461 Leo 30, 333 Leo IX. 44 Leo X. 20, 274 Leonardo 270, 272 f. Leonidas 13 Leopold II., dt. K. 142— 146 Lerchenfeld 139
468 Lessing XII, 46, 63 f., 203, 206, 210 f., 218 f., 223, 239 f., 251—253, 255, 257 f., 325, 365, 373, 398, 413, 423 Lettenhove 127 f. Lewes 337 f. Lieber X I I I Linde 412 Lindner 356, 364 Linne 337 Liscow 124 Liudolf, Hg. v. Schwaben 34, 41 f. Luitprand 36, 38 Livius 131 Locke XVI, 420, 424, 433, 444 Löbell 66 Lommatzsch 371 Longinus 189 Lotze 52, 342 f., 372 f., 441 Louis Philippe, frz. Kg. 84, 98 Lucdiesini 149 f., 162 Ludwig d. Deutsdie 126 Ludwig I., dt. K. 35—37 Ludwig XIV.,frz. Kg. 17, 52—55, 60, 411 f. Ludwig XV., frz. Kg. 432 Ludwig XVI., frz. Kg. 98, 143, 145 Ludwig, C. L. 339 Ludwig, O. 285 f. Lücke 371 Luise, Hgn. v. Weimar 228 Luther 18, 127, 129, 174, 210, 243, 252, 332, 398, 419 Lux 120 de Mably 433 Macanaz 60—63 Macaulay 1 ff., 87—90, 380, 458 Machiavelli 39, 60, 106 Mackintosh 26 Mahon 87 Male 128, 131 Malebranche 433 Malmesbury 150 Mannstein 149 Mansfield 89
Personenregister Mantegna 273 Manzoni 216 Margarethe v. Valois 96 Maria, engl. Kgn. 23, 89 Marie Luise, span. Kgn. 66 Mariette 270 Masco ν 31 Mathesius 174 Mathias, dt. K. 354 Max III., bayr. Kf. 174 Max Franz, Eb. v. Köln 123 May 224 Mayer 311, 313 f. Mazarin 53 Mehemed Ali 83 f. Melanchthon 252 Mencken 230 Mendelssohn 300, 304 Mengs 253 f. Merck 47 Merkel 229 Metternich, C. W. N . L. 94, 163, 241, 243 Metternich, F . G . K . 116f., 119 Meyer, Η. H. 228, 302 Meyer, J . B. 440 Mezeray 55 Michelangelo 182, 213, 254 f., 257, 268—270, 272 —275 Mill X — X I I , XIV, XVI, 8—10, 456 f., 463 Milman 87 Milton 3, 7, 14, 22, 89 f. Mirabeau 7, 17, 22 Misch, C. I X Misch, G. XII, X V I Mitford 14 Möllendorf 150 Mörike 312 f. Möstlin 349 Mohammed 183 Mohl, M. 139 Mohl, R . v . 60, 110 Moleschott 421 Moliere 60 Mommsen XI, 5, 45, 396 Monk 89 Montesquieu 27, 56 Moreau 124 Moritz, Kf. v. Sachsen 131 Moritz, K. Ph. 206, 215 Mozart 326
Möllenhoff X Müller, A. 81 Müller, C. O. 424 Müller, Joh. 337 Müller, Joh. v. 6, 15, 25, 29, 116 Müller, Jul. 341 Müller, M. 423 ff. Muratori 32 Napoleon 53, 71, 83, 95, 104 f., 114, 126, 153-155, 159, 162, 164—168, 305, 402 Neander 426, 451 Nelson 89 Newton 6, 63, 89, 106, 348, 354, 444, 448 Nicolai 229, 231, 233 Niebuhr XI, 47, 67, 216, 410, 426 Nietzsche X I I Nitzsch 371 Noack 360, 407 Notker 177 Notter 313, 315 Novalis X I , 283, 293, 295, 313 f., 316, 407 O'Connell 86 Oeser 224, 252 Oken 339 Olavide 65 Oliva 303 d'Ollanda 269 Origenes 341 Orosius 193 Ossian 205 Otto, Hg. v. Stettin 78 Otto I., dt. Κ. IX, 29, 34— 37, 41—43 Ovid 215 Oxenstierna 67 Palgrave 87 Palmerston 83, 85 f. Pape 119 Pascal 413 Passavant 275 f. Paul I., russ. Zar 155 Paul III., Papst 129 Paulus 307 Perier 98
Personenregister Perikles 34, 438 Pernice 412 Perthes 113 ff. Pertz 32, 91 Perugino 270—272, 274 Pestalozzi 306 f., 406 Peter 341 Petrarca 307 Pfizer 311 Phidias 255 Philipp, Ldgf. v. Hessen 130 Philipp II., Kg. v. Spanien 128, 131 Philipp V., Kg. v. Spanien 62 Philo 170, 195 Pindar 255 f., 437 Pinturicchio 271 Piombo 274 Pippin 41 Pitt 1, 89 f., 163 Placidia 193 Platen 242 Platner 275 Plato 196 f., 222, 255, 275, 277, 350 f., 357, 360, 364, 394, 400, 408 Plinius 345 Plotin 197 Polo 246 Polybius 106 Pompejus 4 Potocki 120 Prantl 344, 442 Praxiteles 255 Prutz 230 Ptolemäus 348 f., 352 Pythagoras 275 f., 350 f.
Reimarus 307 Reinhold 232 Reiske 124 Rethel 123 Reuß 144 Riccoboni 181 Richard I., engl. Kg. 411 Richardson 270 Richelieu 51—53, 163 Richer 36 Riedel 76 Riedel, Μ. XIV—XVI Riehl 106, 111 Riese 308 Rietsdiel 223 Ritsehl 455 Ritter, C. 135, 426 ff., 463 Ritter, H . 371 Rodbertus 138 Rodi X I I I Rogge 133 Roscher 60, 106 Roth 124 Rothacker Χ — X I I Rothe 332 Rousseau XVIII, 97, 115, 202, 205, 211, 219 239, 373, 406, 429 ff., 463 Rudolph, dt. K. 353 f. Rudorff 409 f. Rüchel 162 Rückert 312 Rüge 51, 56, 100, 448 Rumohr 268, 270, 273 Runge 303 Russell 85 f.
Radowitz 113 Raffael 182, 213, 268 ff., 368, 461 Rainald, B. v. Köln 40 Rameau 326 Ranke XI, XVII, 5, 20, 26 f., 32 f., 43, 426 Rather 36, 38 Ratichius 415 Rauch 225 Raumer 30 f., 284 Rehbinder 412 Reiff 360 Reinhard 299, 302
Sachs 219 Sadler 2 Saint Simon 96 Sand 67, 96 Sandoz-Rollin 65, 154 f. Saucken-Julienfelde 134 Saumaise 54 Savigny, F . C . v . 67, 409 ff., 426, 447, 463 Savigny, Familie 410 ff. Scaliger 54 Schack 73 Schäfer 260 Scharf 307
469 Scharnhorst 158 f., 163, 168 Schelling 109, 233, 285, 293, 298, 341, 349, 356, 359, 407 ff., 414, 439, 447, 463 Schenckendorff 95 Schenkel 328 ff. Scherer Χ — X I I Schiel 456 Schill 165 Schiller 67 f., 110, 201 f., 204, 210 f., 215 ff., 231f„ 234, 240, 244, 282, 289, 299, 334 f., 338, 398, 410, 460, 462 Schinkel 216, 251 Schlegel, A.W. 67f., 201, 204, 217, 229, 232—236, 293, 295, 297, 299, 460 Schlegel, C. 117 f., 234 Schlegel, D. 235 f., 238, 297—299 Schlegel, F. XI, 30, 67, 81, 117, 194, 201, 204, 229, 233—238, 284, 293 ff., 313 f., 316 f., 361, 367, 408, 461 Schleiden 438 ff. Schleiermacher XI, XVIII, 163, 229, 233 f., 235 ff., 284, 293 f., 298, 329, 331, 365, 370 ff., 401, 407 f., 410, 426, 440, 447, 451— 453, 461 f. Schlosser, F. 308 Schlosser, F.C. XI, 6, 57, 114, 432, 449 Schlottmann 333 Schmalz 452 Schmidt, J. Χ—XII, 202, 235, 257 ff., 260, 461 Schmidt, O. 337 Schmidt-Weißenfels 132 ff. Schöll X I X , 46 ff., 216, 219, 334, 339, 458 Schönemann 226, 308, 335 Scholz IX Schopenhauer, A. 356 ff., 394 ff., 420—422, 462 Schopenhauer, J. 361 Schott 315 Schröter 412 Schubert 407 Schütz 231—234
470 Schulenburg 147 Schulze-Delitzsch 132, 134 Schwab 311 Sdiwegler 456 Schweizer 371 Schwerin X I Scott 14 f., 20, 23, 194, 200 f. Seckendorf! 315 Seebeck 308 Servius Tullius 71 Sethos 71 de Sevigne 96 Seydelmann 286 Shakespeare 60, 67, 89, 186, 190, 209, 216, 219, 243, 284, 287, 289 Shelburne 85 Siegfried, B. v. Regensburg 40 Si^yes 98 Sigismund, dt. K . 79 v. Simson 132—134 Smith 61, 106, 111, 135,424 Sömmering 116 f., 340 Soetbeer 456 f. Sokrates 17, 276, 397 Solger 284, 286 f., 289, 408 Sommer 123 Sophokles 217, 251 Soult 99 Spencer X V I Spinoza X V I I I , 204, 207— 209, 300 f., 397, 448 Spittler 135, 449 Springer 278 Stadion 163, 298 Stadel 308 de Stael 296 Stahl 80 ff., 110, 113, 381 f., 412 Stanley 86 Staps 164 Steffens 407 Stein, Ch. v. 46, 212, 226, 228, 280 f. Stein, H. v. 32, 91 ff., 162 f., 165, 168, 304, 309, 459 Steinhäuser 225 Steinthal 440 f. Stenzel 31 f., 35, 43, 45 Steward 424 Stieler 225
Personenregister Stintzing 67, 409 f., 412 Stolberg, C. 211 Stolberg, F . L . 211, 335 Strauß 66, 312, 453—455 Suarez 415 Sueton 131 Suidas 195 f. Sulla 3 Sully 97 Sunderland 21 Suworoff 150, 155 Sybel X I , 33 ff., 133, 145 f., 151, 344, 396 Sydow 371 Synesius v. Cyrene 196 f., 200 f. Tacitus 23, 131, 218, 438 Tauler 123 Tennyson 87 Terenz 415 Thackeray 210 Theodosius 192 Theon 196 Thibaut 67 Thiers 83 f., 99 Thietmar 42, 44 Thilo 421 Tholuck 341 Thomas v. Aquin 123, 346, 348 Thorwaldsen 251, 253 Thugut 146, 149 f., 153— 155 Thukydides 100, 438 Tibull 281 Tieds, F. 225 Tiedc, L. 279, 281, 283— 289, 295, 297, 299, 302, 316 f., 360, 407 Timur 305 Tischbein 215, 224 f. Tizian 20, 194 Tobler X I Tocqueville 52 Tode 78 Treitschke X I , 66, 319 Trendelenburg Χ, XV, X V I I — X I X , 275, 364, 368, 380 ff., 395, 440, 462 Trippel 224 Turgot 56
Twesten X I I , 133 Tydio Brahe 352 f. Uhland 311 ff., 461 Ulloa 60, 62 Ulrici 343 Usener X I I Uztariz 60, 62 Vagetius 413 Varenius 416 Varnhagen v. Ense 260, 293, 306 Vasari 268 ff. Vermehren 233 f. Veronese 20, 194 Villars 118 Vincke X I , 80, 132—134 Viktoria, engl. Kgn. 28 Virdiow 132, 134, 203 f., 217, 334 ff., 445 f., 462 Vogt, K. 448 Vogt, N. 116 Voigt 79 Vollgraff 140 Voltaire 55 f., 218, 306, 433 Voß 310 Wach X I X Wagner 245, 250 Wahrmund 457 Waitz, G. 109 ff. Waitz, Th. 373 ff., 440, 462 Waldeck 134 Waldner 280 f. Wallenstein 133, 354 f. Walther v. d. Vogelweide 319 Wangenheim 319 Ward 376 Warnkönig 127 f. Warrens 431 Washington 90 Watts 89 Wedekind 118 Wehrenpfennig X Weißer 313 Wellington 12, 165 Weniger X f . , 458,460—462 Wentzel 133
Personenregister Werner 158, 284 Wessel 457 Wessenberg 443 Whewel 421 Widukind 42 Wieland 211, 218 Wiener 446 Wilhelm III., engl. Kg. 7, 16, 18—20, 23 27, 89 Wilkens 7, 17
Willemer 307 f. Willigis, B. v. Mainz 40, 43 Winckelmann 135, 215, 250 ff., 461 Wipo 44 Wolf 232, 426, 435 ff., 463 Wolff, C. 229 Wolff, C.F. 338 Wolfram v. Eschenbach 246, 249
Wolfskeel 228 Woltmann 30 Zabala 60, 63 Zastrow 162 Zedlitz 437 Zeller 449 f., 456 Zelter 317 Ziegler 428 Zimmermann 339 Ziska 243