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German Pages 212 Year 2014
Philosophische Schriften Band 83
Zur Architektonik praktischer Vernunft – Hegel in Transformation Herausgegeben von Hartmut Rosa und Klaus Vieweg
Duncker & Humblot · Berlin
HARTMUT ROSA/KLAUS VIEWEG (Hrsg.)
Zur Architektonik praktischer Vernunft – Hegel in Transformation
Philosophische Schriften Band 83
Zur Architektonik praktischer Vernunft – Hegel in Transformation
Herausgegeben von
Hartmut Rosa und Klaus Vieweg
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-14394-8 (Print) ISBN 978-3-428-54394-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84394-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorbemerkung Für die wunderbare Initiative zur Gestaltung einer Vortragsreihe zur Aktualität von Hegels praktischer Philosophie sei den Fachschaften Philosophie und Soziologie der Universität Jena und speziell dem Organisationsteam herzlich gedankt. Gerne haben wir dieses Vorhaben der Studierenden unterstützt. Die Herausgabe dieses Bandes erfolgt unter Mitwirkung der am Schluß des Vorwortes namentlich genannten Mitarbeiter der studentischen Gruppe. Jena, im Mai 2014
Hartmut Rosa und Klaus Vieweg
Vorwort Im Sommersemester 2012 organisierten wir, elf Studierende aus den Fachschaften Philosophie und Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemeinsam die Vortragsreihe Hegel in Transformation – Praktische Philosophie und Gesellschaftstheorie nach Hegel, die als offenes Podium für interessante Vortragsbeiträge und kritische Diskussion über die Theorieansätze Hegels in ihrer historischen Transformation in den modernen Geistes- und Sozialwissenschaften an einer besonders geschichtsträchtigen Schaffensstätte des Philosophen konzipiert war. Unser erklärtes Ziel Georg Wilhelm Friedrich Hegel gilt als der Vollender des Deutschen Idealismus und zählt ohne Zweifel zu den größten Denkern in der Geschichte der Philosophie. Urteile dieser Couleur würdigen Hegels philosophische Leistung in höchstem Maße und sind in der wissenschaftlichen Landschaft weithin verbreitete opinio communis. Auf der anderen Seite wird Hegel jedoch auch von zahlreichen TheoretikerInnen und philosophischen Schulen entschieden abgelehnt. Mit solcherlei Urteilen – seien sie zustimmender oder ablehnender Art – wird allerdings weder über Hegels Philosophie selbst noch über ihre Bedeutung für aktuelle wissenschaftliche Debatten etwas Zureichendes ausgesagt. Der Einfluss des Hegelschen Denkens auf die Geisteswissenschaften reicht heute weit über die Fachgrenzen der Philosophie hinaus und ist auch in anderen Disziplinen deutlich spürbar. Ausschlaggebend hierfür sind einflussreiche Rezipienten und Kritiker, die Hegels Denken durch tiefgreifende Transformationsansätze für die modernen Geistes- und Sozialwissenschaften frucht- und nutzbar gemacht haben. Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang, neben der Rechtswissenschaft, die Soziologie ein, in der die Rezeption und die Transformation der Hegelschen Philosophie – insbesondere innerhalb gesellschaftstheoretischer Ansätze – bis heute andauern. So ist Hegel nicht nur für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule generationsübergreifend bis heute ein grundlegender Bezugspunkt geblieben, sondern bildet auch für die maßgebliche Begründerin der Queer Studies, Judith Butler, seit ihrer Dissertation eine stetige Referenz. Besonders Hegels praktische Philosophie erlebt in vielen Ländern eine erstaunliche Renaissance, von den USA über Lateinamerika bis Asien. Auch Vertreter anderer philosophischer Traditionen, wie etwa der analytischen Philosophie oder des (Neo-)Pragmatismus, beschäftigen sich seit einigen Jahren intensiv mit Hegels Philosophie des Praktischen und lesen diese als Philosophie der Freiheit,
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Vorwort
der Anerkennung, der Gerechtigkeit, als eine ernstzunehmende Theorie der Moderne. Angesichts dieser außerordentlichen Wirkmächtigkeit stellt sich einerseits aus einer historischen Perspektive die Frage, welche Aspekte des Hegelschen Denkens in andere Disziplinen übernommen und dort weiterentwickelt wurden. Andererseits gilt es einzuschätzen, ob und inwiefern das Hegelsche Denken für gegenwärtige geistes- und sozialwissenschaftliche Problemlagen noch als eine maßgebliche Ressource dienen kann. Unser erklärtes Ziel war es, gemeinsam mit den Vortragenden, Studierenden und Dozierenden einen differenzierten Blick in das Werk Hegels und seine Wirkung auf die europäische Geistesgeschichte zu ermöglichen. Dieser Anspruch konnte nicht zuletzt durch das verantwortungsvolle Engagement der beiden in Jena lehrenden Professoren Hartmut Rosa und Klaus Vieweg umgesetzt werden, die sich bereit erklärten, die Schirmherrschaft für dieses, in erster Linie von Studierenden initiierte Projekt zu übernehmen. Neben den beiden Schirmherren konnten wir Jens Bonnemann, Andreas Gelhard, Vittorio Hösle, Frank Ruda, Georg Sans, Ludwig Siep, Charles Taylor, Tilo Wesche, Temilo van Zantwijk und Slavoj Zˇizˇek als Vortragende gewinnen. Der hier vorliegende Band versammelt den Großteil der gehaltenen Vorträge in Textform, um sie auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wir möchten uns an dieser Stelle bei den Vortragenden für ihr Engagement und ihre Beiträge im Rahmen der Vortragsreihe bedanken. Weiterhin gilt den Sponsoren der Vortragsreihe unser Dank, namentlich der Ernst-Abbe-Stiftung, dem Verein der Freunde und Förderer der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie dem Studierendenrat, darüber hinaus den Instituten für Soziologie und Philosophie sowie den Fachschaftsräten der Philosophie und Soziologie. Schließlich wollen wir den beiden Herausgebern dieses Bandes, Klaus Vieweg und Hartmut Rosa, besonderen Dank für ihren Einsatz während der Vortragsreihe und bei der Veröffentlichung dieses Bandes aussprechen. Die Vortragsreihe und die Veröffentlichung der Beiträge wären ohne ihr Zutun vielleicht ein unvollendetes Projekt geblieben. Zuletzt sei die breite Unterstützung der Studierendenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena selbst dankend erwähnt. Ihre Zustimmung begeisterte und zeigte uns vielleicht noch eindrücklicher als die Beiträge selbst, dass die Philosophie Hegels auch heute noch von höchster Relevanz ist. Jena, Oktober 2013
Jana Damke, Amaya Gallegos Eytel, Steven Hartung, Harald Hoppadietz, Daniel Kraft, Daniel Löffelmann, André Pflugbeil, Sascha Prescher, Kevin Rother, Christian Ernst Weißgerber, Thomas Zingelmann
Inhaltsverzeichnis Jenseits von Wall Street und People’s Republic. Das Ende des Kapitalismus und seine Zukunft Von Klaus Vieweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein Maß für alles? Ansätze einer Kritik der Seelenführung nach Hegel Von Andreas Gelhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Recht ohne Recht. Hegel als Theoretiker universaler Empörung Von Frank Ruda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eine unsittliche Sittlichkeit. Hegels Kritik an der indischen Kultur Von Vittorio Hösle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Fliegen oder Springen? Kierkegaards Hegel-Kritik – und ihre Folgen in der französischen Phänomenologie Von Jens Bonnemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Hegel und die Demokratie Von Tilo Wesche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Plato, Descartes, Hegel. Three philosophers of event Von Slavoj Zˇizˇek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Warum Hegelianer (nicht) lügen können Von Georg Sans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Hegel und die moderne Ethik Von Ludwig Siep . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Jenseits von Wall Street und People’s Republic Das Ende des Kapitalismus und seine Zukunft Klaus Vieweg Da viele der heutigen deutschen Philosophen allerlei intellektuellen Schrott, der aus den USA stammt, als Innovation und letzten Schrei der Weisheit anpreisen, muss der Autor einräumen, dass auch alle seine Quellen für die Überschrift ebenfalls aus diesem Lande kommen, das vielleicht nicht zu Unrecht ganz anti-kantisch und sehr hegelianisch als das der unbegrenzten Möglichkeiten gilt. Erstens: Während der Weltwirtschaftskrise und den damit einhergehenden Verstaatlichungen von Banken und Firmen, staatlicher Sanierungsprogramme und Rettungsschirme gegen die heftigen Niederschläge des ach so ,freien‘ und sich angeblich selbstheilenden Marktes, der Vergemeinschaftlichung der gigantischen Verluste des deregulierten Kapitalismus, was ein ganz kurzzeitiges Verstummen der neoliberalen Marktfundamentalisten verursachte, empfahl ein pfiffiger Kommentator die Umbenennung der Wall Street in People’s Republic. Zweitens spielt die Überschrift auf einen paradoxalen Buchtitel von Nouriel Roubini und Steven Mihm an, einer Abhandlung, dessen Lektüre jedem Geisteswissenschaftler empfohlen sei: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft.1 Und drittens bezieht sich die Überschrift auf eine Kolumne des Philosophen Jay M. Bernstein mit dem Titel: Hegel on Wall Street, in welcher der Autor dringend die Nutzung der Ressourcen von Hegels praktischer Philosophie empfiehlt, als einer bis heute aktuellen Theorie der Modernität.2 Im Mittelpunkt stehen hier einige Argumente für die Modernität von Hegels praktischer Philosophie, die er als eine Theorie eines Stufengangs von Rechten formuliert hat. Dabei könnten fatale Selbsttäuschungen in den Denkmustern sowohl des Markfundamentalisten als auch der Protagonisten von People’s Republic deutlich werden, besonders auch ihre erstaunlichen Gemeinsamkeiten, nämlich ihr unhaltbarer Ökonomismus und ihre gemeinsame Tendenz zum Staatssozialismus. Beide Konzeptionen bilden schon heute eine unheilige Allianz und führen in eine dead-end street, 1
Mihm, Stephen/Roubini, Nouriel: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft, Frankfurt am Main/New York, 2010. 2 Bernstein, Jay M.: Hegel on Wall Street, in: The New York Times, 03. 10. 2010. Die Kerngedanken dieses hier gedruckten Beitrages werden in der Monographie Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München, 2012 ausführlich erörtert.
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da sie beide eine Haupterrungenschaft des 20. Jahrhunderts, den auf den Markt beruhenden sozialen Staat, den vernünftig gestalteten, regulierten Kapitalismus, ablehnen und auch bekämpfen und so das Projekt moderner Freiheit massiv gefährden. Einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, brachte dies mit dem Titel eines seiner Bücher schon auf den Punkt: The End of Laissez Faire und schloss folgenden Befund an: „Der dekadente internationale und individualistische Kapitalismus ist ein Misserfolg. Er ist weder intelligent, noch schön, noch gerecht, oder tugendhaft, und vor allem hält er nicht, was er verspricht.“3 Das Urheberrecht auf diese Konzeption einer modernen Gesellschaft der Freiheit und eines vernünftigen, sozialen Staates kommt Hegel zu. Auch wenn es kein leichter Weg wird, lohnt sich ein kleiner Rundgang in der vermeintlichen Rumpelkammer der Philosophie. Der hegelian turn in der Philosophie steht auf der Tagesordnung, denn Hegel erweist sich als der Denker, der die bislang überzeugendste philosophische Grundlegung der Freiheit in der Moderne vorgelegt hat. Und danach ist kein anderer Denker hervorgetreten, der in der gleichen Liga wie Hegel spielen konnte. Hier soll eine Facette von Hegels Idealismus der Freiheit thematisiert sein, seine innovative Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft. I. Die bürgerliche Gesellschaft als moderne Markt-, Bildungs- und Solidargemeinschaft Das theoretische Fundament und zugleich ein Zankapfel liegt in Hegels Begriff der Sittlichkeit, speziell in seiner Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (civil society).4 Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie „die Trennung von Staat und Gesellschaft, die seit Hardenbergs Gesetzgebung zur Rechtswirklichkeit geworden war, als erster begrifflich erfaßt.“5 Die von Hegel vollzogene Überwindung der traditionellen Gleichsetzung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat liefert einen wesentlichen Beitrag zur ,angemessenen Theoretisierung der modernen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse‘,6 das Fundament für eine moderne Gesellschafts- und Staatstheorie. Mit der bürgerlichen Gesellschaft tritt die Sittlichkeit in die Sphäre der Besonderheit ein. Der unmittelbare sittliche Zusammenschluss in Gestalt der Familie wird aufgelöst, die unmittelbare Einheit erfährt ihre erste Aufhebung – in einer Einheit der Reflexion, einer Einheit des Verstandes. 3 Keynes, John Maynard: The End of Laissez Faire, zit. nach: Mihm/Roubini: Das Ende der Weltwirtschaft, S. 23. 4 Vgl. Ferguson, Adam: An Essay on the History of Civil Society, Dublin, 1767; Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London, 1776. 5 Koselleck, Reinhardt: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München, 1989, S. 388. 6 Horstmann, Rolf-Peter: Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Ludwig Siep, Berlin, 1997, S. 203 ff.
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Die bürgerliche Gesellschaft reißt aber das Individuum aus diesem [unmittelbaren] Bande heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbständige Personen […] und unterwirft […] das Bestehen der ganzen Familie selbst, der Abhängigkeit von ihr, der Zufälligkeit.7
Die konkreten einzelnen Personen gewinnen so Möglichkeiten ihrer besonderen Selbstbestimmung, sie sind ,in selbständiger Freiheit und als Besondere für sich‘.8 Zugleich verlieren sie zunächst die sittlich-gemeinschaftlichen Bestimmungen und geraten in Räume der Kontingenz. Die konkreten Personen haben zunächst nicht die Einheit des Sittlichen, sondern notwendig ihre eigene Besonderheit in ihrem Bewusstsein und zu ihrem Zwecke. Die immanente Negativität des Sittlichen findet in seinem ,Sich-Entzweien‘, in der Trennung in seine Extreme, in seinem ,Sich-selbst-Entfremden‘ ihren Ausdruck. Im Blick auf diesen ,Verlust der Sittlichkeit‘ formuliert Hegel die Schlüsselbestimmung der Civil Society: „System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“.9 In diesem ,System der Atomistik‘ mutiert die sittliche Substanz zu einem allgemeinen, vermittelnden Zusammenhange von selbständigen Extremen und von besonderen Interessen. Insofern das Allgemeine nur als innerliche Grundlage auftritt, darf von der bürgerlichen Gesellschaft als einem „äußeren Staat“10 gesprochen werden, von einem Ganzen allgemeiner Abhängigkeit, von einer „Not- und Verstandesgemeinschaft“,11 situiert zwischen der Familie und dem Staat. Hegel entwirft die Idee einer modernen Welt, die Idee eines auf den Gedanken der Freiheit fußenden modernen Staates, der die Grundlage der modernen Lebensform bildet. In der Konzeption der Civil Society haben wir einen Grundbaustein für dieses theoretische Gebäude. Zwei Grundbestimmungen prägen diese bürgerliche Gesellschaft: a) das Prinzip der Besonderheit (B), der konkreten Person, welche sich als besonderer Zweck und als ein Ganzes von besonderen Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür darstellt, sowie b) das Prinzip der Allgemeinheit (A), den notwendigen Zusammenhang der besonderen Personen, jede besondere Person vermag sich nur durch die Vermittlung dieser Allgemeinheit geltend zu machen. Die vom Staat damit präzise unterschiedene bürgerliche Gesellschaft wird einerseits geprägt vom (kapitalistischen) Marktprinzip, einem System allseitiger Abhängigkeit, dem Wimmeln der Willkür, einer Not- und Verstandesgemeinschaftung und zweitens von ersten Strukturen der ,Aufhebung‘ des Marktprinzips, von dessen Respektierung und der Überwindung des willkürlichen und zufälligen Wimmelns der Besonderheit. Die Marktstruktur – so der Kerngedanke – kann sich 7 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts [im Folgenden: Rph], in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff. [im Folgenden: TWA], Bd. 7. Hier: Rph § 238. 8 Ebd., § 523. 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter Henrich, Frankfurt am Main, 1983, § 184. 10 Vgl. auch Enz § 523. 11 Hegel, Philosophie des Rechts, § 183.
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nicht zulänglich selbst regulieren und verwalten, sie tendiert zum Marktfundamentalismus, letztlich zur Beschädigung und Vernichtung des Marktes durch sein eignes Prinzip. Wie im Verstand, so sind auch im Verstandesstaat die Strukturen ,an sich haltlos und wankend, und das auf denselben errichtete Gebäude stürzt [ohne vernünftige Regularien] in sich zusammen‘.12 Der Hegelsche Staat respektiert die kapitalistische Marktordnung und lässt sie in bestimmten Grenzen gewähren, muss diese Sphäre jedoch zugleich vor den ihr immanenten Selbstdestruktionskräften schützen. Seine Aufgabe besteht darin, sie zu regulieren, sie vernünftig einzurichten, sie zu beaufsichtigen und ihr einen Ordnungsrahmen zu geben. Er hat die Verpflichtung, die ,in ihre Extreme verlorene Sittlichkeit‘ wiederherzustellen und den Verstand so zur Vernunft zu bringen. Der Staat wird aber wesentlich nicht vom Marktprinzip bestimmt. Die Gesamtstruktur der modernen Gesellschaft kann in ihrer Ganzheit eben nur insofern als ,Kapitalismus‘ beschrieben werden, als die ökonomische Sphäre als kapitalistische Wirtschaftsordnung bestimmt ist. Die bürgerliche Gesellschaft verkörpert das Auseinanderfallen des Sittlichen in seine Extreme, die zerrissene oder entfremdete Sittlichkeit, ein System der in ihre Extreme auseinandergelegten Sittlichkeit, nur die ,Erscheinungswelt des Sittlichen‘. Insofern die Erscheinung den Grund nicht in sich selbst, sondern in einem Anderen hat, kann es, eine bürgerliche Gesellschaft für sich nicht geben, weil sie nicht ein wahrhaft Sittliches, Selbständiges ist‘.13 Sie kann nicht als Institution oder Gestalt der Sittlichkeit beschrieben werden. Sie ist ein tendenziell globaler Bereich menschlichen Zusammenlebens in einer Form, auf die hin sich die Sittlichkeit […] in begriffliche Extreme verloren hat, so dass sie sich aus ihnen wiedergewinnen kann.14
Dieses ,Verlieren der Sittlichkeit in ihre Extreme‘ erläutert Hans Friedrich Fulda in prägnanter Weise: Sittlichkeit wurde bestimmt als wechselseitige Durchdringung von je besonderer Subjektivität und substantieller Allgemeinheit. Nun entwickelt sich die Besonderheit […] innerhalb der angegebenen Grenzen bis zum Äußersten und befindet sich in eigener Perspektive dabei zu dem andern Moment, d. h. zur Allgemeinheit, nur noch in einem Abhängigkeitsverhältnis äußerer Notwendigkeit – also mit ihm gerade nicht mehr in der Einheit wechselseitiger Durchdringung.15
Am Anfang konstituiert sich im System der Bedürfnisse, in der industriellen Marktordnung, eine Partikularisierung der konkreten Personen, in einem zweiten Schritt dann eine allgemeine Verbindung dieser Besonderen. Dabei gründet sich die Besonderheit in den differenten physischen und geistigen Bedürfnissen der Ein12
Enz § 38, Z. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. Nachschrift der Vorlesung von 1822/23 von Karl Wilhelm Ludwig Heyse, hrsg. von Erich Schilbach, Frankfurt am Main, 1999, S. 33. 14 Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München, 2003, S. 215. 15 Ebd., S. 216. 13
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zelnen. Anlässlich der konkreten Person finden sich im Weiteren die Bezeichnungen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, konkrete Privatperson. Auf der an diese erste Stufe anschließenden zweiten Stufe der bürgerlichen Gesellschaft muss die entfremdete, äußerliche Sittlichkeit partiell wieder überwunden werden, durch Aufsicht, Regulation des Systems der Bedürfnisse, soziale Hilfe, Rechtspflege, bürgerschaftliches Engagement oder korporativ-genossenschaftliche Zusammenschlüsse. Die drei Momente der bürgerlichen Gesellschaft 1 Heutige Terminologie:
Hegels Terminologie:
logische Grundlage:
Ökonomik
System der Bedürfnisse
Schluss der Reflexion B – E – A a) Schluss der Allheit b) Schluss der Induktion c) Schluss der Analogie
Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen Vermittlung der Bedürfnisse und deren Befriedigung in einem System der Bedürfnisse aller Sphäre der Ungleichheit 2 Rechtsverfassung
Rechtspflege
kategorischer Schluss
Wirklichkeit des Allgemeinen der Freiheit und der Schutz der Rechte Gleichheit der Rechtspersonen 3 Aufsicht und Regulation
Polizei, Korporation, soziale Sorge und Vorsorge
hypothetischer und disjunktiver Schluß
Vorsorge gegen die in jenen Systemen zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen, Grundlagen für einen sozialen Staat, allgemeine Vorsorge für das Wohl der Einzelnen und für das Dasein des Rechts, Fundament für die Herstellung von Gerechtigkeit II. Die Domänen der Besonderheit – Die allseitige Abhängigkeit in der ,Not- und Verstandesgemeinschaft‘ Die vielen einzelnen Personen haben ,ihre eigene Besonderheit und ihr Fürsichsein in ihrem Bewusstsein und zu ihrem Zwecke – das ,System der Atomistik‘ – in Hegels Worten: das Prinzip der selbständigen Besonderheit, der „selbständigen, in
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sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen“.16 Darin liegt eine Schlüsselsignatur von Modernität: das Recht der Besonderheit des Subjekts, das Recht der subjektiven Freiheit. Nur in der modernen Welt tritt Hegel zufolge diese Gestalt zwischen Familie und Staat. Die Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft gehört ausschließlich der modernen Zeit an. Die Besonderheit der Akteure, ihrer Interessen und Zwecke zählt zu den unabweislichen Seiten ihrer Freiheit. Dieses, die bürgerliche Gesellschaft prägende Prinzip der Besonderheit der Einzelnen und dessen relative und unzulängliche Vereinigung mit der Allgemeinheit, repräsentiert eine unabdingbare Konstituente einer freien Gemeinschaft und das Prinzip der Modernität, dessen Verwerfen in den unterschiedlichen Varianten die Destruktion von Freiheit implizierte. Hegel kann nicht als Kritiker dieser bürgerlichen Gesellschaft, die ihm als conditio sine qua non einer freien Gemeinschaft gilt, oder gar als Kritiker der Moderne gelesen werden – im Gegenteil: Er hat entscheidende Fundamente für eine Philosophie der Moderne, einer Philosophie der Freiheit gelegt. Zu den Konstituenten der Modernität gehört aber notwendig auch das Moment der Besonderheit mit seinem gewaltigen Gefahrenpotential. Hegels Entwurf liefert eine theoretische Analyse der Selbstbedrohung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vernünftigen Aufhebung im Staat als ihrem Grund. Angesichts der Diagnose der Zerrissenheit, der Entfremdung, einer Büchse der Pandora und der möglichen Selbstdestruktion gewinnen manche Kritiken an der modernen Ordnung (von Rousseau bis Marx) zwar eine gewisse begrenzte Plausibilität, aber keine theoretische Kraft. Die Civil Society als ein System zerrissener Sittlichkeit gehört so aufs theoretische Tableau. Die konkrete Person als ein Ganzes von Interessen und Bedürfnissen hat nur sich selbst zum Zweck, sie steht aber in wechselseitigen Beziehungen auf andere Besondere, in einer Gemeinschaft konkreter Personen, somit sollen die konkreten Personen gleich sein. Sie sind dies aber auch nicht, sondern eben auch unterschieden davon. Auf der einen Seite steht der selbstsüchtige Zweck der Gewinnung von Subsistenz, auf der anderen erweisen sich Recht und Wohl als mit der Subsistenz, dem Recht und dem Wohl Aller verbunden. Die Privatperson zielt auf die Befriedigung ihrer bloß partikularen Bedürfnisse und Neigungen, braucht jedoch die anderen Besonderen. Sie hängen voneinander ab, sie haben sich nötig, stehen in äußerlicher Notwendigkeit zueinander, in einer Lage der ,Not als zufälliger Notwendigkeit‘. In diesem Sinne verwendet Hegel anlässlich der bürgerlichen Gesellschaft die Termini „System allseitiger Abhängigkeit“ und „Not-Staat“. Die Diagnose „äußerer Staat“17 rückt die Herstellung einer äußeren Einheit der selbstsüchtigen Zwecke und der Verflochtenheit der konkreten Personen ins Zentrum, die Einheit ist keine vernünftige, nicht diejenige Einheit des Begriffs. Die Rede vom Verstandesstaat bezieht sich auf den logischen Status, auf die Allseitigkeit, somit auf eine formelle Allgemeinheit, die Verstandes-Allgemeinheit, auf eine sich auf den Verstand gründende
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Vereinigung. Der Verstand ist hier die (mangelhafte) Form, in der die Allgemeinheit erscheint. Vom Notstaat wird gesprochen, weil die Sicherung der Bedürfnisse der Hauptzweck ist, diese Bedürfnisse machen die ,Not‘ aus, die ,gewendet‘ werden soll, diese Bedürfnisse finden nur im allgemeinen Zusammenhang ihre Befriedigung. „Es ist hier die Sphäre, worin alles Besondere sein Ergehen und sein freies Spiel hat; wohlwollende und übelwollende Neigungen finden hier auf gleiche Weise ihren Platz.“18 Zur Gemeinsamkeit des Handelns werden die Akteure durch das Band blinder Notwendigkeit getrieben, die als invisible hand vorgestellt wird. Auf der einen Seite positioniert sich das umfassende, uneingeschränkte Geltendmachen der Besonderheit – als logische Konsequenz des Denkens der Freiheit, nicht als antiegalitärer Affekt Hegels. Die Besonderheit hat das Recht, sich universell Existenz zu geben, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen. Alle Möglichkeiten des Menschen können sich entfalten, auch alle Zufälligkeiten und Ungleichheiten der Geburt und des Glücks. Auf der anderen Seite haben wir eine notwendige Kontextualität in Gestalt einer Gemeinschaft der Abhängigkeit, in Gestalt eines Gemeinwesens der bloßen Notwendigkeit. Die unbegrenzte Befriedigung der Bedürfnisse, die Willkür und das subjektive Belieben führen in den unendlichen Progress, in die schlechte Unendlichkeit, der logischen Crux des Verstandes überhaupt, führen zur Maßlosigkeit: Begierde, Willkür, Meinung und Not sind maßlos. Die bürgerliche Gesellschaft vermag allein aus sich kein vernünftiges Maß zu definieren und leidet in vieler Hinsicht am Maßlosen. Ein hervorstechendes Indiz hierfür kann in der permanenten Instabilität und Krisenhaftigkeit der industriellen Marktordnung gesehen werden, die jedoch vom allgegenwärtigen Mythos der Stabilität und Selbstheilung begleitet wird. Die eigentliche Conditio für die Maßlosigkeit kommt der Besonderheit zu, einem die Moderne prägenden Prinzip. Die Befriedigung der Bedürfnisse der besonderen Person wird im System allseitiger Abhängigkeit und Willkür selbst zufällig, von den Individuen als geheime, verborgene Macht, als Schicksal, als Lotterie mit glücklicher oder verhängnisbringender Ziehung vorgestellt.19 In dieser Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft kommt auf die mannigfaltigste Weise die Zufälligkeit der Befriedigung der Bedürfnisse zum Ausdruck: diese Befriedigung und Wohl können gelingen oder scheitern, das Besondere kann identisch mit dem Allgemeinen sein, als auch unterschieden von ihm. Der Schein des Gelingens für Alle resultiert in der logischen Defizienz der Schlüsse der Induktion und der Analogie. Die vermeintliche Freiheit endigt letztlich im Fatalismus, im Glauben an eine äußere Notwendigkeit, womit die bürgerliche Gesellschaft Merkmale eines Aggregats der Notwendigkeit trägt.
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Hegel, Philosophie des Rechts, S. 149. Der Markt, der „mit unsichtbarer Hand Glück und Unglück an die Menschen verteilt, Reiche stiftet und Reiche zertrümmert, Völker entstehen und verschwinden macht“. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 35. 19
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Mit dieser Mechanik des Notwendigen, dieser ,blinden Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse‘ ist auf die mannigfaltigste Weise die Zufälligkeit der Befriedigung vorhanden. Einzelne Teile des Räderwerkes und das ganze Räderwerk können in Unordnung geraten und so die Realisierung der Bedürfnisse be- oder verhindern. Die beständige Möglichkeit ökonomischer Krisen ist Hegel zufolge ein Wesenszug dieser kapitalistischen Maschinerie.20 Die bürgerliche Gesellschaft beinhaltet so das Frei-Werden der Besonderheit und erscheint als „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“,21 als Schaubühne der ,Ausschweifung und des Elends‘, als Sphäre des Selbständig-Werdens der konkreten Person und als ,Entfremdung der Sittlichkeit‘ und schließlich als partielle Überwindung dieser Zerrissenheit. Das Allgemeine sinkt zum bloßen Mittel für die Zwecke der atomisierten Besonderen herab. Letztere können ihre Zwecke aber nur erreichen, wenn sie ihr Wissen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und somit sich zu einem Gliede der Kette des Zusammenhangs machen. Die Civil Society erscheint nur als das notwendige Mittel für den besonderen Wohlstand der Einzelnen, die Vereinigung hat lediglich das Wohl der Einzelnen zum besonderen Inhalt seines Zwecks. In eine gelungene sittliche Identität, in welcher die Gemeinschaft nicht mehr bloßes Mittel, sondern Zweck ist, vermag die Entzweiung von Besonderheit und Allgemeinheit daher nicht gebracht zu werden. Die konkreten Personen können sich nur zur formellen Freiheit und zur formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens erheben, sich im Sinne der Reflexion und des Verstandes bilden, Bildung erlangt unendlichen Wert, in ihrer „absoluten Bestimmung“ ist sie der einzige Weg zur Freiheit. Die Bildung der konkreten Personen stellt somit eine fundamentale Instanz auf dem Weg zur Freiheit dar, nur der gebildete und erst dadurch selbstbestimmte, freie Bürger vermag den Bestand einer freien Gemeinschaft zu garantieren. Die moderne bürgerliche Gesellschaft muss so nicht nur Markt- und Wohlfahrtsgemeinschaft, sondern besonders auch eine Bildungsgemeinschaft sein. III. Nationalökonomie und regulierte Marktordnung: Die Grenzen der invisible hand Im Zentrum der von Adam Smith inaugurierten Nationalökonomie steht der homo oeconomicus, das ,Arbeitswesen‘ dieser Sphäre.22 Das Individuum realisiert seine subjektiven Zwecke, indem es mit Absicht eine besondere Sphäre des Tätigseins, des Arbeitens und darin seine besondere Lebensform und sein besonderes Glückskalkül wählt. Damit steht jeder Besondere in Konkurrenz zu anderen Besonderen, die sich bis zum bellum omnium contra omnes steigern kann, als Ausdruck der Selbst20
Neben Mihm und Roubini zeigt Joseph Stiglitz in seiner Studie: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft, München, 2010, ebenfalls überzeugend die Hintergründe von Krisen und der großen Weltwirtschaftskrise von 2008 auf. 21 Hegel, Philosophie des Rechts, § 289. 22 Ebd., § 251.
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sucht, der unersättlichen, andauernden, allgemein verbreiteten Begierde, Sachen und Besitz für sich zu erlangen. Die bezweckte Befriedigung der subjektiven Besonderheit steht von vornherein im Verhältnis zu derjenigen Anderer und so in einem allgemeinen Kontext. Das ,Wimmeln der Willkür‘ halten allgemeine, den Personen gemeinsam zukommende Bestimmungen zusammen. Diesen Konnex des Verstandes, der Abstraktion bringt die Nationalökonomie in wissenschaftliche Form. Ein besonderes Verdienst für die Aufhellung dieser Sachverhalte erwarben die Nationalökonomen, speziell Adam Smith, James Steuart, Jean-Baptiste Say und David Ricardo.23 Auf diese Erkenntnisse stützt sich die Hegelsche Darstellung – mit diesem gesetzesförmigen Wissen (korrespondierend mit dem Übergang vom Mechanismus zum Gesetz)24 zeige die vom Prinzip des Kapitals und des Marktes geprägte Nationalökonomie „wie der Gedanke […] aus der unendlichen Menge von Einzelheiten […] die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet.“25 Speziell bei Adam Smith sieht Hegel wesentliche Bestimmungselemente des Systems der Bedürfnisse entfaltet: industrielle Arbeitsteilung, allseitige Abhängigkeit der Akteure, die Anerkennung der abstrakten Tätigkeit, der abstrakten Allgemeinheit der Arbeit als Grundlage des wealth of nation, das Paradigma des Mechanismus. Es handelt sich bei diesem auf empirischen Analysen und Gesetzeswissen fußenden System der politischen Ökonomie um Analysen von Strukturen, die „in ihren unendlichen Verwicklungen einer Notwendigkeit gehorchen“, es geht um „ein System der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit in Ansehung der physischen Bedürfnisse und der Arbeit“.26 Das Funktionieren der Märkte garantiert Smith zufolge eine geheimnisvolle Kraft, die invisible hand. Wir hätten demnach einen Prozess in dem die egoistischen und oft widerstreitenden Interessen der einzelnen wirtschaftlichen Akteure zu einem stabilen und sich selbst regulierenden Wirtschaftssystem zusammenfinden. Aus dem Chaos unzähliger individueller Entscheidungen entsteht Ordnung.27
Daraus erwuchs Joseph Stiglitz und Michael Roubini zufolge der Marktfundamentalismus, der Mythos von dem sich selbst im Gleichgewicht haltenden, sich selbst heilenden, effizienten Markt – „die Überzeugung, dass freie Märkte von selbst wirtschaftlichen Wohlstand und Wirtschaftswachstum hervorbringen“ oder „dass 23
Vgl. dazu Riedel, Manfred: Die Rezeption der Nationalökonomie, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt, 1969; Waszek, Norbert: The Scottish Enlightenment and Hegel’s Account of ,Civil Society‘, Dordrecht, 1988; Rozsa, Erzsebet: Hegels Konzeption praktischer Individualität, Paderborn, 2007, speziell der Abschnitt: Das Prinzip Besonderheit in Hegels Wirtschaftsphilosophie, S. 182 – 213. 24 Vgl. den Übergang vom Mechanismus zum Gesetz in Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. 25 Hegel, Philosophie des Rechts, § 189. 26 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften (1802/1803), TWA 2, S. 482. 27 Mihm/Roubini, Das Ende der Weltwirtschaft, S. 61.
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sich Märkte von selbst regulieren und dass das eigennützige Verhalten der Marktteilnehmer die Funktionstüchtigkeit der Märkte garantiere“.28 Schon Hegels Darlegungen beinhalten eine unmissverständliche implizite Kritik an Smith: Gegen den Glauben an die Selbstregulation finden sich deutliche Argumentationen, so dass Hegel als einer der ersten Kritiker des ,Marktoptimismus‘ gelesen werden kann. In dieser Rücksicht ist in neueren Zeiten zum Grundsatz gemacht, man solle alles gehen lassen wie es wolle, sobald ein Bedürfnis da sei würden sich auch die Mittel finden, dieß mache sich von selbst.29
Hegel respektiert zwar den Markt als Grundlage modernen Wirtschaftens, sieht in ihm aber keine selbstregulatorische Struktur, es handelt sich im Gegenteil um eine Sphäre der Willkür und der Zufälligkeit, um einen Raum des Waltens des bloßen Verstandes, um einen Zusammenhang, welcher der vernünftigen Gestaltung (durch den Staat) bedarf und nicht aus eigener Kraft richtig funktionieren kann.30 Hegel hatte auf das krisenanfällige Räderwerk der Marktordnung hingewiesen und die Ursachen dafür erklärt. Als Form der Erscheinung hat diese Struktur den Grund und Halt nicht in sich selbst und kann diese nur in einem Anderen haben.31 Laut Roubini ist es klar, dass „der Kapitalismus alles andere als ein reibungslos schnurrendes, sich selbst regulierendes Gefüge ist. Im Gegenteil, es handelt sich um ein äußerst instabiles System.“32 Entgegen dem besonders in den letzten Jahrzehnten verbreiteten Irrglauben an die Stabilität und Rationalität von Märkten und den damit einhergehenden Heilsbotschaften von der Deregulierung, Privatisierung oder Liberalisierung erweist sich die Marktstruktur als fragiles, prekäres, risikobeladenes und Krisen generierendes System. Hegels Lösungsvorschläge und das von ihm eingeführte kategoriale Instrumentarium erweisen sich, wie es die heutige wirtschaftswissenschaftliche Debatte belegt, als gewichtiger Beitrag für das Verständnis weltökonomischer Zusammenhänge. Stichworte hierfür wären: Regulation contra Deregulation, Aufsicht contra Willkür und Chaos, rechtlicher Ordnungsrahmen contra ,freiwilliger‘ Selbstkontrolle, natural und sozial nachhaltiger Staat contra Marktfundamentalismus, vernünftige internationale Gestaltung der Marktordnung contra Ausplünderung der Erde und Verarmung von Milliarden. Die Grundlinien entwerfen Grundzüge einer Konzeption einer regulierten Marktverfassung, eines vernünftig und sozial gestalteten Kapitalismus. In Anknüpfung an die Nationalökonomie und an entsprechende Überlegungen aus dem abstrakten Recht und der Moralität wird eine Konzeption der Besonderheit und ihrer sich wandelnden Beziehung zur Allgemeinheit entfaltet, ein Konzept einer philoso28
Stiglitz, Im freien Fall, S. 11. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818 – 1831, hrsg. und kommentiert von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1973 ff., Bd. 4: Philosophie des Rechts, nach der Vorlesungsnachschrift K.G. v. Griesheims 1824/24, S. 696. 30 Vgl. Stiglitz, Im freien Fall, S. 10 f. 31 Enz § 131. 32 Mihm/Roubini, Das Ende der Weltwirtschaft, S. 66. 29
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phischen Ökonomik. Dieses Hauptcharakteristikum der Civil Society beinhaltet die Bedingungen der Möglichkeit ihres zureichenden Funktionierens, im ersten Schritt eine Theorie des Systems der Bedürfnisse. Beide Positionierungen – das Aufnehmen gesetzesförmigen Wissens33 – und die eigenständige philosophische Sicht im Anschluss an Hegel wären für eine heutige praktische Philosophie von erheblichem Gewicht. Besonders nach dem offenkundigen Scheitern der angelsächsischen Version des Kapitalismus verdient eine elaborierte und konsistente Theorie der bürgerlichen Gesellschaft extraordinäre Aufmerksamkeit, Hegels Überlegungen liefern hierfür den Grundstock. Jedenfalls sollten die Deregulierungsideologie und die Mär über die Wunder liberalisierter Märkte wegen ihrer desaströsen Folgen verabschiedet werden, jedoch ohne den Markt als ein Fundament der modernen Welt in Frage zu stellen. Ein moderner Markt ist nur mit wohldurchdachten Regulativen zu haben, nur so kann er als Markt überhaupt funktionieren. Plakativ: Mit Hegel wäre die Marktkonzeption vor den Markfundamentalisten zu schützen, denn deren Heilsbotschaften führen gerade zur Zerstörung der Marktstrukturen. Programmatisch und ganz im Sinne Hegels trägt Roubnis Buch den Titel: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. IV. Regulation und soziale Gestaltung Die relative Vereinigung der Prinzipien Besonderheit und Allgemeinheit vollzieht sich in verschiedenen Ordnungs- und Regulierungsinstitutionen. Weiterhin sind Formen von ,öffentlicher Wohlfahrtspflege‘ sowie die auf verschiedene Berufszweige und Interessen basierenden Vereinigungen und durch die Lebensorte thematisiert. Nicht nur dem formellen Recht, sondern auch dem Recht auf Wohl der besonderen Subjekte muss zur Geltung verholfen werden. Dieser Weg stellt sich als der logischkonsistente dar, keineswegs als Ergebnis philanthropischer oder sozialromantischer Träumereien Hegels. Die bürgerliche Gesellschaft als Versammlung Freier muss beides sein, eine Markt- und Solidargemeinschaft wie auch eine Leistungs- wie Wohlfahrtsgemeinschaft, eine Verbindung des Solitären und des Solidarischen. Nur in dieser Synthese kann sie gedeihen, d. h. eine Gemeinschaft von Freien darstellen, Freiheit garantieren. Ein sinnvolles Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft impliziert das Solidarisch-Soziale. Bereits hier werden entscheidende Fundamente für Hegels Theorie eines sozialen Staates gelegt, die diametral gegen marktradikale Auffassungen stehen, nach denen das Staatsziel der Wohlfahrt letztlich zur Zerstörung des Marktes führt und soziale Gerechtigkeit ein Irrglaube sei. Die einem Hurrikan gleichende, gewaltige Weltfinanzkrise von 2008 wurde nicht nur von Hasardeuren der Wall Street und ihren in ,Frankensteinschen Laboren‘ gezüchteten, halsbrecherischen Finanz- und Kreditspekulationen verursacht, sondern auch durch unzulängliche Beaufsichtigung der Banken und der klaren und strengen Regelung der internationalen Finanzordnung. Hier haben wir ein mustergültiges 33 Die National- oder Staatsökonomie gilt Hegel als empirische Wissenschaft, die gesetzesförmiges Wissen zu generieren vermag.
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Lehrstück einer völlig unzulänglichen Formierung der bürgerlichen Gesellschaft. Zur allgemeinen Verblüffung verfallen sogar eingefleischte Gralshüter der Deregulation zu Krisenzeiten in staatssozialistische Entscheidungen und Positionen: Mit Steuermitteln sollen die Spekulationsverursacher, besonders große ,systemrelevante‘ Banken und Unternehmen, mittels Verstaatlichung gerettet werden, was dem Konkurrenz- und Bankrottprinzip zuwiderläuft. Die Ironie der Krise liegt darin, dass aus dem Bemühen der Marktradikalisten, den staatlichen Einfluss weitgehend zu beschränken, das Gegenteil, nämlich die bislang größte Macht des Staates über die Wirtschaft erwuchs. Die Staatsgarantien haben den Banken und großen Unternehmen das Risiko abgenommen, das jetzt die Steuerzahler tragen. In den Mittelpunkt treten so die von Hegel begründeten Gedanken der Aufsicht, der Regulierung und der sozialen Hilfe. Sie sollen als Funktionsbedingungen moderner Gesellschaften, als konstitutiv verschränkte, essentielle kategoriale Bestandteile der Hegelschen Theorie der Modernität herausgestellt werden, hier allerdings nur in wenigen Grundzügen. Bislang wird jedoch der erhebliche Beitrag Hegels für diesen Kontext vergessen oder missachtet. Gerade hier liegt aber eine wichtige Leistung seiner praktischen Philosophie: die Konzipierung einer regulierten und sozial gestalteten Gemeinschaft der Moderne, das Fundament für einen auf der Marktordnung fußenden Rechts- und Sozialstaat. Hegel insistiert auf die Einheit von Recht und Wohl und forciert hier den Gedanken, dass mit Recht nicht ein bloß Formelles angesprochen ist, sondern dass Recht einen Inhalt haben muss und dies ist das Wohl aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Die Subsistenz und das Wohl jedes Einzelnen waren auf der Ebene des Systems der Bedürfnisse nur als eine Möglichkeit hervorgetreten, deren Verwirklichung von natürlicher Besonderheit und zufälligen Bedingungen abhing.34 Diese Zufälligkeiten gegen den Zweck des Wohls müssen überwunden werden, das besondere Wohl muss als Recht für alle behandelt und verwirklicht werden. V. Aufsicht und äußerliche Regulation Eine erste Dimension der Aufsicht umschließt eine rechtliche Beaufsichtigung und Intervention in Gestalt der Gewährleistung von Sicherheit sowie eine bestimmte Kontrolle und Verwaltung des gemeinsamen öffentlichen Tuns, wie etwa der Gewerbetätigkeit oder die Regelung des Marktes als eine erste Aufsicht über diesen. Es geht um „allgemeine Geschäfte […], die eine öffentliche Macht haben müssen“,35 eben weil diese Gesamtheit von Verhältnissen und Vermittlungen von den Einzelnen nicht überblickt und beherrscht werden können. Diese notwendig sachgerechten und angemessenen Eingriffe beziehen sich erstens auf die Zulassung von Waren im Sinne der technischen und gesundheitlichen Prüfung, wie etwa Gesundheitsämter, Bauämter, Einrichtungen für technische Sicherheit, Lebensmittelsicherheit und 34
Hegel, Philosophie des Rechts, § 230. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22, hrsg. von Hansgeorg Hoppe, Frankfurt am Main, 2005, S. 217. 35
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Verbraucherschutz. Die zweite Intervention zielt auf Regularien des Marktes – eine Aufsicht über alle Bereiche des Erwerbs wie Industrie- Markt-, Banken- und Börsenaufsicht. In beiden Fällen des Eingreifens geht es darum, sinnvolle Verfahrensregeln festzuschreiben und bestimmte Weisen von gravierenden Verstößen und Unrecht zu verhindern. Auch das Gesundheitssystem und die Gestaltung der Infrastruktur gehören in diesen Kontext. Die Begrenztheit dieser internen Form von Aufsicht verweist einerseits auf die nötige staatliche Legitimation der intern-immanenten Aufsicht (als einer Selbstkontrolle) und andererseits auf die Unabdingbarkeit einer höheren öffentlichen Regulation und Steuerung, auf den Staat. Ein markantes Beispiel bleibt das heute oft zahnlose Kartellamt, das große Fusionen von Unternehmen genehmigen muss, weil der nicht-regulierte Markt, eben gerade ,die Freiheit der Gewerbe‘ zum unberechtigten Monopol führen könnte und damit zur Selbstauflösung der Konkurrenz und des Marktes. Die substantiellen gemeinschaftlichen Angelegenheiten wie etwa das Gesundheitswesen, der Schutz der Umwelt und die Infrastruktur sind wesentlich dem Marktprinzip zu entziehen, was durch den heutigen Privatisierungswahn kontrastiert wird. Das Recht auf die Möglichkeit der Teilnahme am allgemeinen Vermögen muss für alle Einzelnen garantiert werden, jeder konkreten Person kommt das Recht auf Mitgliedschaft an der bürgerlichen Gesellschaft zu, jeder Ausschluss ist Rechtsbruch. VI. Soziale Sorge und Vorsorge – Grundlagen für Hegels Konzeption eines sozialen Staates Im Blick auf den Umgang mit der Natur hat Hegel den Gedanken der Sorge und Fürsorge entwickelt, im Sinne der naturalen Nachhaltigkeit, jetzt bewegen wir uns auf dem Terrain der sozialen Sorge und Fürsorge, der sozialen Nachhaltigkeit. Als Exempel sollen hier nur die drei Formen der sozialen Hilfe und ihr Zusammenspiel kurz umrissen werden: Die subjektive Hilfe als eine erste Form erwächst aus der von den Individuen empfundenen moralischen Verpflichtung der Individuen, die sich in der Benevolenz, der Wohl- oder Mildtätigkeit, der individuellen Solidarität als moralischer Pflicht zum sozialen Beistand im Notfall äußert. Eine zweite Art des subjektiven Helfens liegt in der gemeinnützigen, nicht-staatlichen Hilfe durch Zusammenschlüsse von Individuen, in einer Art kollektiver Wohltätigkeit und Solidarität, eine Tätigkeitssphäre des bürgerschaftlichen, zivilgesellschaftlichen Engagements. Das Wort ,gemeinnützig‘ ist ganz im Sinne Hegels – es geht um den allgemeinen Nutzen, man ist der Allgemeinheit zu Nutzen, dient dem Gemeinwohl. Dabei steht diese Hilfe nicht unter der Ägide der Marktprinzipien, ist aber auch keine Form staatlicher Hilfe. Aber diese außerordentlich bedeutsamen und keineswegs gering zu schätzenden Formen subjektiver Hilfe bleiben immer zufällig, ohne Gewähr einer Kontinuität und bietet so keine ausreichende Garantie für das Wohl der Betroffenen. Das Helfen bleibt prinzipiell kontingent, es kann auch ausbleiben.
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Deshalb haben die Einzelnen in Notlagen auch das Recht auf allgemeine, öffentliche Hilfe, woraus sich ein Ganzes von Hilfsformen und Fürsorgeinstitutionen ergibt, was die Möglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft übersteigt (Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Altenhilfe, Behindertenhilfe als Formen öffentlich-staatlicher Solidarität). Heute sind oft bestimmte Kombinationen der subjektiven und öffentlichen Hilfe zu registrieren, getragen von Engagement der Beteiligten und von der Unterstützung der Wohlfahrtsverbände durch öffentliche, staatliche Institutionen. Entscheidend für die Steuerung und Ressourcenbereitstellung bleibt für Hegel das Instrument der Steuer und der Steuerordnung, heute besonders das Modell der progressiven Einkommenssteuer, wodurch die konkrete Teilhabe am gemeinschaftlichen Vermögen festgelegt und auf deren Basis die Hilfe als gemeinschaftliche Verpflichtung gerecht organisiert werden kann. Alle die genannten Formen der sozialen Hilfe bilden Grundpfeiler eines sozialen Staates, der wohl entscheidenden Instanz und Bedingung für eine funktionierende Marktordnung, für eine moderne Gesellschaft – „der gut konzipierte Wohlfahrtsstaat wurde zur Stütze einer innovativen Gesellschaft“36, zur conditio sine qua non der Freiheit in der Moderne. VII. Der Übergang von der bürgerlichen Gesellschaft zum Staat, zum freien Bürger-Sein Die präzise und stringente Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat wie die Begründung des Primats des Politischen als wahrhafte Sphäre des Allgemeinen sind ein Angelpunkt von Hegels politischer Philosophie. In der bürgerlichen Gesellschaft liegen die Fundamente freier Besonderheit ihrer Mitglieder, die Grundlage der Dynamik und der innovativen Kraft der modernen Gesellschaftung. Allerdings würde sie ohne vernünftige Regulierung und Gestaltung an ihrem eigenen Prinzip zugrunde gehen, sich selbst unterminieren und destabilisieren. Auf allen Stufen der bürgerlichen Gesellschaft macht sich zwar das Allgemeine geltend, aber noch unzulänglich: Die Industrie kann sich nicht selbst beaufsichtigen, braucht allgemeine überparteiliche Instanzen (nationale und internationale Regulierungsinstitutionen); die Rechtspflege muss allgemein, d. h. unabhängig sein, bezieht sich aber nur auf formelles Recht; die caritative, wohltätig-gemeinnützige Hilfe kann die öffentlich-staatliche Hilfe nicht ersetzen, nicht-marktgestützte und nicht-staatliche Institutionen liefern wichtige integrative Beiträge, allerdings nicht ohne die Stützung im Politischen; die für eine moderne Gesellschaft unverzichtbaren beruflichen und kommunalen Gemeinschaften ermöglichen nur partielle Partizipation. Die drei aufsteigenden Formen der Verbindung der Prinzipien Besonderheit und Allgemeinheit könnten wie folgt fixiert werden: a) der Marktakteur, der Produzent und Konsument steht mit seiner egoistisch-atomistischen Weltsicht im System der Bedürfnisse dem fremden, nur bedingt steuerbaren Marktmechanismen gegenüber, findet sich in einem Konnex allseitiger Abhängigkeit; b) das durch allgemeine rechtliche Gesin36
Stiglitz, Im freien Fall, S. 256.
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nung bestimmte Rechtssubjekt erfährt in der Rechtspflege Verwirklichung der Gesetze des formellen Rechts und universelle Anerkennung als konkrete Person sowie c) die Mitglieder der Civil Society mit am Gemeinwohl orientierter, solidarischer Einstellung engagieren sich für eine angemessene Gestaltung der Marktordnung und für soziale Hilfe. Die in einem Berufsstand, in kommunalen Gemeinschaften und heute in neuen Formen des Korporativen mit Anderen verbundenen Akteure mit dem Bewusstsein einer corporate identity konstituieren die Voraussetzung zur Überwindung der entfremdeten Sittlichkeit. Das Doppelwesen bürgerliche Gesellschaft, die in ihre Extreme auseinandergelegte Sittlichkeit, fußt auf den beiden, in dieser Sphäre nicht voll zu vereinigenden Prinzipien der partikularen Besonderheit und der Verstandesallgemeinheit. Diese zunächst von Privateigentum, Konkurrenz und Markt geprägte bürgerliche Gesellschaft repräsentiert das bewegende, innovative Element, den Motor für eine moderne und freie Ordnung und zugleich eine Sphäre der Unvernunft,37 die nach vernünftiger Gestaltung verlangt. Die Verstandesallgemeinheit muss in der Vernunftallgemeinheit aufgehoben werden, das System der Atomistik in einem System der politischen Anerkennung und freien Partizipation der politischen Akteure, der Bürger. Die Not- und Verstandesgemeinschaft muss in der Vernunft-Gemeinschaft des Staates als dem realisierten, verwirklichten Begriff des freien Willens aufgehoben werden. Der Staat wird sich dann als der ,wahrhafte Grund‘ der bürgerlichen Gesellschaft erweisen, als Voraussetzung ihres Bestehens. Dies steht diametral sowohl zur These von Marx von der bürgerlichen Gesellschaft als Basis und dem Staat als Überbau als auch zum ökonomistischen Credo der marktfundamentalistischen Chicago Boys, gegen die Allmachtsphantasien von Wall Street und gegen den deregulierten Kapitalismus der größten People’s Republic, also gegen Konzepte, die das Grundprinzip der Modernität, die individuellen Freiheit aller bedrohen. Hegels Position muss nicht, wie Marx es einst forderte, vom Kopf auf die Füße gestellt werden, Hegels Konzeption steht auf den festen Füßen des Kopfes, nämlich auf dem einzig festen Fundament des begreifenden Denkens. Und Hegel kann auch nicht, wie es die Markt- und Kapitalfundamentalisten und selbst ernannte Liberalisten tun, als Beschränker individueller Freiheit oder gar Vorläufer des Totalitarismus denunziert werden. Der Gedanke des Staates als Gemeinschaft freier Citoyen, des freien Bürgerseins steht im Zentrum seiner praktischen Philosophie als Denken der Freiheit. Das Prinzip der Besonderheit kristallisierte sich als Triebfeder des Systems der Bedürfnisse, als ein wesentliches Movens und zugleich als das Fundament für die bedrohliche und instabile Seite der bürgerlichen Gesellschaft heraus.
37
Eine Sphäre des zufälligen Wohlwollens, Übelwollens, des Bösen, der Zufälligkeit, der Not, der äußerlichen Notwendigkeit, der Verderbnis, der fürchterlichen Verworfenheit, der entfremdeten Sittlichkeit, vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, Berlin 1819/1820, nachgeschrieben von J.R. Ringier, hrsg. von Emil Angehrn, Martin Bondeli und H. N. Seelmann, Hamburg, 2000, S. 114.
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Klaus Vieweg In gewisser Hinsicht sind Krisen fester Bestandteil des kapitalistischen Genoms. Just die Faktoren, die dem Kapitalismus seine Vitalität verleihen, nämlich seine Innovationskraft und seine Risikotoleranz, können andererseits Auslöser für Anlage- und Kreditkrisen sowie katastrophale Zusammenbrüche sein.38
Aber ohne das Gewährenlassen, das Entfalten dieser Besonderheit, der konkreten Personen – mit all ihren doppelten Gesichtern, speziell des Gegensatzes von Innovations- und Zerstörungspotenz und des Kontrastes von Fortschritt und Unsicherheit – kann der Gedanke einer freien Gemeinschaft nicht hinlänglich begründet werden. Die Willkür erweist sich als notwendiges, immanentes Moment von Freiheit. Verständliche Versuche, diesen Schatten (der zum Menschsein gehört) abzuwerfen, implizieren inakzeptable Kosten. Ein Sinnbild hierfür bleibt Adelbert von Chamissos Geschichte des Peter Schlemihl, der seinen Schatten abwerfen wollte, aber damit kein Glück gewann. Die beschriebene Negativität inhäriert der Moderne, sie kann Hegel zufolge nicht überwunden werden, sie muss sich, da sie eine Ermöglichungsbedingung von Freiheit darstellt, stets selbst reproduzieren. Die von Zerrissenheit und Entfremdung mitgeprägte moderne Welt ist eine „brüchige Schönheit“, sie muss domestiziert‘, vernünftig gestaltet werden. Die Crux der Konzepte eines Gemeineigentums oder gemeinschaftlichen Eigentums liegt stets in den daraus folgenden, aber immer scheiternden Versuchen der Elimination der beschriebenen Besonderheit. „Die Ungleichheit des Vermögens ist ein Recht der Natur, der Besonderheit, denn diese ist die Verschiedenheit“.39 Die durchaus verführerischen Träume von einer solchen Gleichheit gehen immer zu Lasten der Zerstörung der subjektiven Freiheit des Einzelnen, einher mit gravierenden Einschränkungen substantieller Rechte. Aber mit dieser Entfesselung der Besonderheit allein muss eine angemessene Fundierung der Freiheit ebenfalls Schiffbruch erleiden. Die Protagonisten des Marktradikalismus feiern den Markt als wahren Gral der Freiheit. Aber offensichtlich handelt es sich um einen willkürlich-zufälligen Zusammenhang, um ein ,Wimmeln der Willkür‘, dessen eindrucksvollste Institutionalisierung wohl die Börse, Wall Street darstellt. Somit werden Willkür und Zufälligkeit (unabsichtlich oder absichtlich) mit Freiheit verwechselt und es wird beim Ver38
Mihm/Roubini, Das Ende der Weltwirtschaft, S. 13. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818 – 1831, hrsg. und kommentiert von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973 ff., Bd. 1: Der objektive Geist, aus der Heidelberger Enzyklopädie 1817, Naturrecht und Staatswissenschaft nach der Vorlesungsmitschrift von C.G. Homeyer, mit Hegels Vorlesungsnotizen 1818 – 1819, S. 315. „Die Natur der Besonderheit ist die, wo gerade die Ungleichheit ihr Recht hat, so wäre gerade die Gleichheit hier Unrecht.“ Ilting, Bd. 3: Philosophie des Rechts, nach der Vorlesungsnachschrift von Heinrich Gustav Hotho 1822/23, S. 218; „Alle haben gleiche Rechte, indem jeder gleiches abstraktes Recht an der Welt hat, aber das abstrakte Recht muß sich realisieren, und das Recht tritt in seiner Realisierung in die Sphäre der Zufälligkeit, z. B. des Beliebens, des Bedürfnisses, und so in die Sphäre [der] Ungleichheit.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19, nachgeschrieben von P. Wannenmann, hrsg. von C. Becker et al., eingeleitet von Otto Pöggeler, Hamburg, 1983, S. 20. 39
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stand, bei einem unzulänglichen Allgemeinen stehengeblieben. Inzwischen sind Wachstumsverherrlicher und Marktfundamentalisten mit ihrer Verheißung von den sich selbst regulierenden Märkten angesichts der unübersehbaren ,Kapitalverbrechen‘ im Finanzsystem in einen eklatanten Erklärungsnotstand gestolpert. Spätestens seit Hegel konnte und kann man doch verstehen, dass der Markt – obschon er eine der unverzichtbaren Grundlagen für eine freie Gemeinschaft bildet – von seiner Bestimmtheit her eben nicht allein eine vernünftige Struktur generieren kann, sondern reguliert und vernünftig gestaltet werden muss, dass er einen angemessenen Ordnungsrahmen benötigt. Das marktradikale Mantra „Regulierung tötet Innovation“ hat seine Attraktion verloren.40 Der Markt ist weder zu verteufeln noch zu beweihräuchern. Obwohl er eine wichtige Ermöglichungsbedingung von Freiheit ist, kann dem Markt in keiner Weise das Charakteristikum frei zugeschrieben werden. Sowohl ein deregulierter Wall-Street-Kapitalismus als auch eine bürokratisch-sozialistische People’s Republic oder gar die explosive Mischung beider Formationen gefährden und unterminieren das die Moderne prägende Prinzip der individuellen Freiheit aller Besonderen. Nicht hilfreich sind ebenfalls apokalyptische Untergangsszenarien wie auch theoretisch unhaltbare Gemeineigentumsphantasien, deren Realisierung eine Gemeinschaft der Freiheit verhindert: Der Schiffbruch des deregulierten Kapitalismus bedeutet nicht das Scheitern des Weges zu einer freien Gesellschaft. Jedenfalls scheint die Unzulänglichkeit und Unhaltbarkeit beider Muster – sozialistisches Gemeineigentum und Marktfundamentalismus – als zwei gegensätzliche Plädoyers für die Partizipation am wealth of nation offenkundig. *** In seiner Monographie Hegel’s practical Philosophy artikuliert Robert Pippin das Erfordernis der Fortführung von Hegels Projekt: Dabei geht es m. E. im Kern um eine neue Konzeption einer sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltigen und gerechten Gesellschaft und einer entsprechenden Weltordnung, um das Fortführen von Hegels Philosophie der Freiheit. An der Zeit ist eine fundamentale Transformation im Denken, nicht mehr und nicht weniger als der hegelian turn in der Philosophie.
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Stiglitz, Im freien Fall, S. 40.
Ein Maß für alles? Ansätze einer Kritik der Seelenführung nach Hegel Andreas Gelhard Die Psychologie des 20. Jahrhunderts hat eine große Vielfalt von Psychotechniken hervorgebracht, die anfangs ganz auf die Selektion geeigneter Arbeiter, begabter Schüler und talentierter Führungskräfte ausgerichtet waren, bevor sie im Laufe der 1970er Jahre immer konsequenter auf die selbstgesteuerte Optimierung des individuellen Verhaltens ausgerichtet wurden.1 Während die Pioniere der Psychotechnik noch nach „psychischen Eigenschaften“ fahndeten, an denen sich die individuelle Eignung für die schulischen und beruflichen Aufgaben des Lebens ablesen lassen sollten, fassten ihre Nachfolger diese Eigenschaften immer weitergehend als manipulierbare Größen auf, die durch geeignete Übungen modifiziert und gesteigert werden können. Der Trend ging vom Test zum Training und es entstand so etwas wie eine neue Asketik auf psychologischer Grundlage. Dabei spielten „weiche“ Parameter wie persönliche Motivation, soziales Geschick, kommunikative Fähigkeiten und emotionale Anpassungsfähigkeit eine immer wichtigere Rolle. Emblematisch für diese sehr folgenreiche Entwicklung der 1970er Jahre ist David McClellands Aufforderung, nicht mehr Intelligenz, sondern Kompetenzen zu messen.2 McClelland verabschiedete nicht nur den Primat der psychotechnischen Selektion, indem er letztlich jede menschliche Eigenschaft für modifizierbar und trainierbar erklärte;3 er formulierte auch den bis heute wirksamen Anspruch der angewandten Psychologie, „weiche“ Größen wie Motivation und soziales Verhalten mit „harten“ wissenschaftlichen Methoden zu messen und zu verbessern.4 Was auf den ersten Blick wie ein Generalangriff auf das Kerngeschäft der angewandten Psychologie aussah, hatte daher letztlich nur eine spektakuläre Erweiterung ihres Einsatzfeldes zur Folge: 1
Ausführlicheres Material zu diesen sehr skizzenhaften Bemerkungen findet sich in Gelhard, Andreas: Kritik der Kompetenz, Berlin/Zürich, 2011 und Gelhard, Andreas: Das Dispositiv der Eignung. Elemente einer Geschichte der Prüfungstechniken, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 1, 2012, S. 44 – 60. 2 McClelland, David C.: Testing for competence rather than for ,intelligence‘, in: American Psychologist, 28, 1973, S. 1 – 14. 3 „It is difficult, if not impossible, to find a human characteristic that cannot be modified by training or experience“. Ebd., S. 8. 4 Vgl. McClellands programmatischen Anspruch: „to be tough-minded (i. e., experimental) about a tender-minded subject (i. e., human motivation)“. McClelland, David C.: Motives, Personality and Society. Selected Papers, New York u. a., 1984, S. 12 f.
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Wo zuvor nur Instrumente zur Auswahl der Geeigneten entwickelt wurden, eröffnete sich nun der gesamte Bereich der Erziehung und Bildung, der Unternehmens- und Eheberatung als Absatzmarkt für psychotechnische Lebenshilfen. Ohne allzu grobe Verallgemeinerungen kann man sagen, dass die angewandte Psychologie um 2000 das Feld des Erbaulichen besetzt hatte, das um 1800 noch fest in der Hand der christlichen Theologie war. Der entscheidende Unterschied zwischen den Prüfungs- und Übungspraktiken der christlichen Frömmigkeit und den zeitgenössischen Test- und Trainingstechniken liegt in ihrer normativen Ausrichtung: Die moralischen Kategorien, in denen um 1800 die Ziele der schriftgestützten Verhaltensoptimierung formuliert wurden, sind um 2000 Kategorien der beruflichen Eignung gewichen, die nur schwach modifiziert auch in der Erziehung, der Schulausbildung und Alltagsberatung zum Einsatz kommen. Innerhalb dieses Rahmens finden sich aber erstaunliche Parallelen in der Konstruktion der Prüfungs- und Übungsformate, die zur Absicherung des erwarteten Verhaltens dienen. Das betrifft vor allem die zentrale Bedeutung von Techniken der Selbstprüfung, die das entscheidende Gelenk zwischen reinen Tests und zielgerichtetem Training darstellen. Leitend für die Frömmigkeitspraktiken um 1800 waren Programmschriften wie Johann Arndts Bücher Von wahrem Christenthumb, die Theologie nicht als „blosse Wissenschafft und Wortkunst“ auffassten, sondern ganz auf „lebendige thetige Ubung“ setzten.5 In diesem Zusammenhang dienten Verfahren der Selbstprüfung nicht nur der Beurteilung des eigenen Verhaltens, sondern immer auch dem „Training“ für künftige Gelegenheiten.6 Ganz ähnlich verhält es sich mit den psychologischen Techniken der Selbstkontrolle und Selbststeuerung, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Klassische Selektionsinstrumente wie der IQ-Test und die verschiedenen Methoden der beruflichen Eignungsprüfung wurden nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern so modifiziert, dass sie in das Training eingebaut und als Verfahren der Selbstprüfung verwendet werden können. Die Grundfrage der folgenden Seiten ist, ob Hegels Kritik der christlichen Selbstprüfungspraktiken auch Ansatzpunkte für eine Kritik zeitgenössischer Psychotechniken liefert. Sie sind Teil eines umfassenderen Versuchs eine genuin philosophische Kritik derzeit wirksamer Selbstprüfungstechniken zu formulieren. Die Betonung seines philosophischen Charakters ist dabei dem Umstand geschuldet, dass die Psychologie bereits ihre eigenen Formen der Psychologiekritik hervorgebracht hat. Unter den derzeitigen Kritiken des Test- und Trainingswahns bringen es in der Regel die5 Arndt, Johann: Vier Bücher Von wahrem Christenthumb (1610), Buch 1, hrsg. von Johann Anselm Steiger, Hildesheim, 2007, S. 7. Arndts Bücher waren bis ins späte 18. Jahrhundert hinein ein Grundtext der pietistischen Frömmigkeit. Vgl. Gleixner, Ulrike: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen, 2005, S. 32 – 34. 6 Heinz Kittsteiner schreibt mit Blick auf die puritanischen Vorläufermodelle der pietistischen Gewissensprüfung, die „nachträgliche Gewissenseinkehr“ sei nie nur „Rückschau auf bereits Geschehenes“, sie diene immer auch als „Training für künftiges Verhalten“. Kittsteiner, Heinz: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt am Main, 1995, S. 188.
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jenigen Positionen zu einiger Popularität, die psychologische Intuitionen bedienen („das erschöpfte Selbst“), populär-psychologisches Vokabular verwenden („Burnout“) und Lösungen des Problems vorschlagen, die eher auf Gesundheit als auf Freiheit ausgerichtet sind („Simplify your life“). Angesichts dessen bietet sich der Rekurs auf Autoren wie Kant und Hegel vor allem deshalb an, weil sie philosophische Konzepte der Selbstprüfung entwickelt haben, die sich von sehr erfolgreichen, alltäglich wirksamen Praktiken der Selbstkontrolle und Selbstverbesserung absetzen mussten, wie sie vor allem die pietistische Pädagogik in Umlauf gebracht hatte. Die einleitenden Bemerkungen zu Kant können dabei im Rahmen der vorliegenden Skizze nur einige Stichworte liefern, die für die weitere Auseinandersetzung mit Hegel wichtig sind. I. Kants Kritik der christlichen Asketik Kant und Hegel konnten (mussten) während ihrer Schul- und Universitätszeit eingehende Erfahrungen mit den Techniken der pietistischen Verhaltenskontrolle sammeln. So tiefgreifend die politischen Unterschiede zwischen den Spielarten des Pietismus in Preußen und Württemberg waren,7 so unangefochten waren die Grundprinzipien seines pädagogischen Programms, das konsequent bei den Individuen und vorzugsweise an ihren „Hertzen“ ansetzte. Die pietistischen Schulprogramme machten sich die Einsicht zunutze, dass sich jede alltägliche Handlung immer auch zum Einüben von normgerechtem Verhalten nutzen lässt, weshalb sie großen Wert darauf legten, dass sich die Schüler möglichst selten dem Schulalltag entziehen. Das gilt auch für das Königsberger Collegium Fridericianum, das Kant als Schüler besuchte. Im Jahr 1741 publizierte Christian Schiffert einen Bericht über das Kollegium, der als ein exemplarisches Dokument der pietistischen Pädagogik angesehen werden kann.8 Den äußeren Rahmen dieses Programms bildet ein Netz von Informatoren, Inspicienten und Inspectoren, die dafür zu sorgen haben, dass die Kinder „allzeit unter der Aufsicht“ sind.9 Innerhalb dieses Rahmens zielt dann alles darauf ab, die Kinder nicht einfach zu beherrschen, sondern zur Selbstbeherrschung anzuhalten, und sie nicht durch äußeren Zwang zu lenken, sondern zur Einsicht zu bewegen – zumindest so lange sie sich durch bloße Ermahnungen „regieren lassen“.10 Selbst die Bestrafung der schwer Regierbaren folgt dem Prinzip, dass man die Schüler „mehr mit Vorstellungen und Ueberzeugungen, als Strafe“ zu disziplinieren sucht; 7 Der preußische Pietismus unterstützte aktiv die absolutistischen Regierungen, während der württembergische Pietismus ihnen – passiv – ablehnend gegenüberstand: Vgl. Fullbrook, Mary: Piety and Politics. Religion and the Rise of Absolutism in England, Württemberg and Prussia, Cambridge, 1983. 8 Schiffert, Christian: Nachricht von den jetzigen Anstalten des Collegii Fridericiani (1741), in: Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum, hrsg. von Heiner F. Klemme, Hamburg, 1994, S. 61 – 116. 9 Ebd., S. 100. 10 Ebd., S. 111.
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sie sind nach Schiffert erst dann zu bestrafen, wenn man sie „genugsam überzeuget, daß sie eine Beahndung verdienet haben“.11 Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, weshalb Techniken der systematischen Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung für die pietistische Pädagogik von zentraler Bedeutung waren. Die Lehrer unterrichteten und prüften nicht nur, sondern übten mit den Schülern auch Techniken der Selbstprüfung ein. Einen guten Eindruck von diesem Teil des Unterrichts vermitteln Schifferts Ausführungen über die paränetische Stunde, in der moralische Grundsätze in Form von Sprüchen, Ermahnungen, Geboten vermittelt wurden: In der paränetischen Stunde wird ihnen nicht allein die eine Erweckung gegeben, sondern der Inspector hält auch, den Montag darauf, an dieselbige Ermahnung, darinnen er ihnen eine Anleitung gibt, wie sie eine wahre Prüfung ihres Hertzens desto sorgfältiger untersuchen und ihre Erkäntniß prüfen, vornehmlich aber ihnen, zu der höchstnöthigen und in den Worten Gottes anbefohlene Prüfung ihrer selbst, die allernächste Gelegenheit geben möge: so muß ein jeder Schüler, der zum H. Abendmahl gehet, von dem Zustande seiner Seele selbst einen Bericht aufsetzen, und dem Inspectori schriftlich übergeben.12
Die Art, in der hier äußere Anleitung und selbstständige Ausführung ineinander greifen, ist paradigmatisch für Techniken der Subjektivierung, die auf den Erhalt von Herrschaft ausgerichtet sind. Die Schüler werden zur Prüfung ihres Herzens nicht nur ermahnt, sondern in konkrete Techniken eingeführt, die es erlauben, die Prüfung auch allein ordnungsgemäß durchzuführen. Was die Prüfung des Herzens zu Tage fördert, ist keine bloße Frage der individuellen Besinnung, sondern stark davon abhängig, wonach mit welchen Mitteln gesucht wird. Daher das Bemühen, nicht nur die Inhalte, sondern vor allem die Verfahren der Selbstprüfung zu vermitteln, die den Zielen der Erziehung am besten entgegenkommen. Im Pietismus hat das vor allem die charakteristischen Formen der schriftlichen Selbstprüfung hervorgebracht. Die schriftliche Fixierung der Selbstbetrachtung soll den Lehrer in die Lage versetzen, nicht nur das Ergebnis der Prüfung zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch ihren Verlauf zu beurteilen und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. Zudem erhöht die Aufforderung zur Niederschrift den Druck auf die schwer Regierbaren, die Prüfung überhaupt vorzunehmen: Wenn sie aber die Feder ansetzen sollen, so werden sie dadurch veranlasset, was sie sonst noch nicht gethan, doch anjetzo zu thun, und auf ihren Zustand, den sie beschreiben sollen, zu gedencken.13
Ein auch literaturgeschichtlich bedeutsames Faktum ist die an pietistischen Schulen verbreitete Praxis, die Schüler Selbstberichte in Form von Tagebüchern verfassen zu lassen.14 Die Vorstellung, dass man seine „wahre Gemüths-Beschaffenheit“ nicht einfach kennt, sondern durch schriftliche Exerzitien kennen lernen muss,15 haben 11
Ebd., S. 102. Ebd., S. 97. 13 Ebd., S. 98. 14 Vgl. das Kapitel über Tagebücher in Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 124 – 145. 15 Vgl. Schiffert, Nachricht, S. 98.
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viele Schüler der pietistischen Anstalten in ihr schriftstellerisches Erwachsenenleben übernommen und so neben einer großen Zahl von historisch verwertbaren Selbstzeugnissen auch Selbstberichte mit literarischem Anspruch hervorgebracht. Prominentestes Beispiel ist Johann Caspar Lavaters Geheimes Tagebuch, das Kant an verschiedenen Stellen seiner Anthropologie-Vorlesungen kritisch erwähnt.16 Der Untertitel von Lavaters Schrift lautet Von einem Beobachter seiner selbst. In der gedruckten Fassung der Anthropologie spielt Kant offenbar auf diesen Titel an, wenn er im § 4 „Von dem Beobachten seiner selbst“ handelt. Der Paragraph beginnt wie folgt: Das Bemerken (animadvertere) ist noch nicht ein Beobachten (observare) seiner selbst. Das letztere ist eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den Stoff zum Tagebuch eines Beobachters seiner selbst abgibt und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt.17
Kants Argumente gegen diese Form von Praktiken sind in ihrem Kern erkenntniskritisch. Er muss daher auch innerhalb der Anthropologie den Rahmen pragmatischer Argumente überschreiten, um zwischen methodisch angemessenen und unangemessenen Formen der Selbstbeobachtung zu unterscheiden. Die Distanzierung der für anthropologische Fragen unverzichtbaren und unbedenklichen Formen der Selbstbeobachtung von ihren „schwärmerischen“ Doubles stützt sich auf eine Unterscheidung zwischen empirischer und reiner Apperzeption, die sich nur transzendentalphilosophisch begründen lässt und die daher „eigentlich nicht zur Anthropologie gehört“.18 Die kurze erkenntniskritische Anmerkung, mit der Kant den Einzugsbereich der Anthropologie überschreitet, um ihr gleichsam von außen einen Rahmen zu setzen, beginnt mit der klaren Feststellung, dass sich das Ich als beobachtetes prinzipiell nicht von anderen Gegenständen der empirischen Erkenntnis unterscheidet und ebenso wenig „an sich“ betrachtet werden kann wie die äußeren Gegenstände der Erfahrung: Der Gegenstand der Vorstellung, der nur die Art enthält, wie ich von ihm affiziert werde, kann von mir nur erkannt werden, wie er mir erscheint, und alle Erfahrung (empirische Erkenntnis), die innere nicht minder als die äußere, ist nur Erkenntnis der Gegenstände, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie (für sich allein betrachtet) sind.19
Die „Schwärmerei“ der Selbstbeobachtung hat hier also denselben strengen Sinn, den Kant diesem Begriff auch in seiner Erkenntniskritik zuweist: Der Schwärmer hält Erscheinungen des inneren Sinnes für eine unmittelbare Anschauung des eigenen Seelenlebens, und macht so „vermeinte Entdeckungen“ von Dingen, die er „selbst in uns hineingetragen“ hat.20 Darüber hinaus richtet er sich aber auch gegen die pathologischen Folgen des pietistischen Trauergebots, das die Erreichung 16
Vgl. Klemme, Die Schule Immanuel Kants, S. 44 f. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 07: 132. 18 Ebd., S. 142. 19 Ebd., S. 141. 20 Ebd.,S. 133.
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des Gnadenstandes an die Einsicht in die eigene Verworfenheit bindet. In der gedruckten Fassung seiner Anthropologie nennt Kant daher nicht Lavaters Tagebuch als Beispiel der „schwärmerischen“ Selbstbeobachtung, sondern das postum publizierte Tagebuch Albrecht von Hallers, dessen düstere Grundstimmung ihm wohl besser geeignet schien, seiner „Warnung“ Nachdruck zu verleihen, „sich mit der Ausspähung und gleichsam studierten Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle durchaus nicht zu befassen“.21 Die absurde Situation des Sünders, der um die eigene Zerknirschung bitten muss und „sich darüber grämt, dass er sich nicht genug grämen kann“, legt es nicht nur aus heutiger Sicht nahe, den Praktiken der pietistischen Frömmigkeit ihre psychologischen Kosten vorzurechnen.22 Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die religiös erzeugte Melancholie ein bevorzugter Gegenstand psychopathologischer Untersuchungen. Karl Philipp Moritz sammelte einschlägige Fälle in seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde und zeigte in seinem Anton Reiser, wie man durch geeignete Erziehungsmaßnahmen „ein völliger Hypochondrist“ werden kann.23 Situiert man sie in diesem Zusammenhang, so erscheint Kants Darstellung der frommen Zerknirschung als eine zeittypische Form der Religionskritik, die sich gegen jegliche Form von „Mystik“, „Fanatismus“ und „Schwärmerei“ richtet.24 Blickt man von den Schriften der späten 1790er Jahre zurück auf Kants Ethik, so wird aber deutlich, dass schon deren Architektur darauf abgestimmt ist, sich gegen die autoritären Formen christlicher Verhaltenslenkung zu immunisieren. Das kann im Rahmen dieser kurzen Skizze nicht im Detail gezeigt werden, ich muss aber zumindest die wichtigsten Stichworte erwähnen, weil der Einsatzpunkt von Hegels kritischer Weiterführung des Kantischen Projekts sonst undeutlich bleibt. Formalismus. – Kants Philosophie ist insgesamt eine Philosophie der Form. Dabei war vor allem der Formalismus seiner Ethik von Anfang an dem Verdacht ausgesetzt, nicht an die konkreten Erfordernisse einzelner Handlungssituationen heranzureichen. Für Kant ist der Formbegriff aber zunächst ein unverzichtbares Mittel, um seine Ethik von autoritären Gesetzesethiken christlicher Provenienz abzusetzen. 21
Ebd. Albrecht von Hallers Tagebuch ist eine quälende Lektüre. Als empirisch arbeitender Naturforscher litt Haller gerade nicht an der „Kopfverwirrung vermeinter höherer Eingebungen“, vor der Kant warnt; als guter Christ konnte er seine Unempfänglichkeit für höhere Eingebungen aber nur als Zeichen seiner moralischen Verworfenheit werten und – 40 Jahre lang – um den vorschriftsmäßig empfundenen Glauben bitten. Wenn Kant im Streit der Fakultäten schreibt, das Grundgefühl der pietistischen Frömmigkeit sei ein „Gram (maeror animi), um welchen der Mensch selbst bitten müsse, indem er sich selbst darüber grämt, daß er sich nicht genug grämen […] kann“ (AA 07: 56), dann liest sich das wie eine Zusammenfassung von Hallers Tagebüchern. 23 Vgl. Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, 1977, S. 52 und 81. 24 Nach Schings ist das „Thema Schwärmerei […] vielleicht das aufklärerische Thema par excellence“. Ebd., S. 203. 22
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Wenn das Sittengesetz keine inhaltlich bestimmten Gebote und Verbote beinhaltet, sondern nur ein einfaches Prüfungsverfahren für Maximen liefert, das feststellt, ob sie die Form eines allgemeinen Gesetzes haben, dann ist es ausgeschlossen, die Ethik auf eine Liste gegebener Gesetze zu gründen. Rigorismus. – Während das Stichwort des Formalismus vor allem die Differenz zwischen formaler Maximenethik und inhaltlich gehaltvoller Gesetzesethik betont, grenzt der Rigorismus die Maximenethik von allen Spielarten der Gefühlsethik ab. Das ist der Punkt in Kants praktischer Philosophie, der wohl den gravierendsten Missverständnissen ausgesetzt war. Denn üblicherweise wird ihm hier eine Neigung zur überstrengen Reglementierung des alltäglichen Handelns unterstellt, obwohl er sich durch den rationalistischen Zuschnitt seiner Ethik gerade gegen solche Neigungen zu sichern suchte. Wo man heute gern danach fragt, wann denn das Gefühl aus der rationalistischen – „cartesianischen“ – Umklammerung befreit und in seinem Eigenrecht anerkannt wurde, begegnete Kant die Emphase des Gefühls in der Ethik vor allem in den Ansprüchen der pietistischen Asketik, die echte Selbstund Gotteserkenntnis nur gelten ließ, wenn sie sich in Zerknirschung oder Zuversicht realisiert hatte: Authentische Erkenntnis war tief empfundene Erkenntnis. Es spricht daher vieles für Manfred Kühns Vermutung, dass Kant „gerade deshalb, weil er mit dem Pietismus vertraut war“, „jede Rolle des Gefühls in der Sittlichkeit fast völlig verwarf“.25 Urteilskraft. – Schiller hat Kants moralphilosophische Schriften als Zeugnisse einer „mönchischen Asketik“ gelesen, die moralisches Handeln zu einem Akt der permanenten Anstrengung macht, weil sie die „Ansprüche der Sinnlichkeit“ konsequent zurückweist und zumindest implizit dazu auffordert, die „Stimme des Triebes“ nicht nur bei ausgewählten Gelegenheiten, sondern „jedesmal“ dem moralischen Urteil zu unterwerfen.26 Diese Sorge ist nicht unbegründet, es spricht aber Vieles dafür, dass Kant selber sich des Problems klar bewusst war. Da das Verfahren der Maximenprüfung nicht seine eigene Anwendung regeln kann, ist es nicht von vornherein sichergestellt, dass nur moralisch relevante Handlungsregeln einem moralischen Test unterzogen werden. Formalismus und Rigorismus bieten keinen zureichenden Schutz gegen die von Kant so genannte „Mikrologie“ der Moral, die potentiell jedes Alltagsdetail als moralisch relevant behandelt und so genau die „Tyrannei“ der Tugend begründet, der Kant zu entgehen sucht.27 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Entscheidungsspielraum, den die konkrete Anwendung geprüfter Maximen offen lässt, und der, wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt, „durch Erfahrung geschärfte“ Urteilskraft verlangt.28 Kant umreißt an dieser 25
Kühn, Manfred: Kant. Eine Biographie, München, 2003, S. 72. Schiller, Friedrich: Über Anmut und Würde, in: Theoretische Schriften. Text und Kommentar, hrsg. von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt am Main, 2008, S. 330 – 394, hier: S. 366 f. und 370. 27 Kant, Metaphysik der Sitten, AA 06: 409. 28 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 04: 389. 26
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Stelle genau die Spanne zwischen der Reinheit des Sittengesetzes und der Notwendigkeit, die Ergebnisse der Maximenprüfung in concreto wirksam werden zu lassen, die es ihm später erlaubt, sich zum moralischen Rigorismus zu bekennen und zugleich vor der moralisierenden Normierung jeder Lebensregung zu warnen. Dass er dieses Zugleich in seinen gedruckten Schriften nie deutlich artikuliert hat, kann den Nachvollzug des Gedankens anfangs erschweren. Nähert man sich dem Feld von Seiten der Religionsschrift, so stößt man zunächst auf die klare Aussage, es könne in der Sittenlehre „keine moralischen Mitteldinge“ geben. Kant benennt diese Mitteldinge mit dem vor allem aus der stoischen Ethik bekannten Begriff der adiaphora und betont, im Einzugsbereich des Sittengesetzes könne es keine adiaphora geben.29 Die Metaphysik der Sitten bildet in diesem Punkt das Komplement zur Religionsschrift, weil sie genau den Bereich markiert, in dem es Adiaphora geben muss, wenn man „phantastisch-tugendhafte“ Verwirrung vermeiden will: den Bereich der konkreten Anwendung der Maximen in einzelnen Handlungsfällen. Um die hier drohende moralische „Tyrannei“ zu vermeiden, bedarf es einer „Affektlosigkeit“, die nach Kant ausdrücklich „von der Indifferenz zu unterscheiden ist“.30 In diesem Zusammenhang ist es die Aufgabe der erfahrungsgeschärften Urteilskraft, moralisch relevante von moralisch irrelevanten Situationen zu unterscheiden und darüber zu entscheiden, ob es unter den bestehenden Umständen überhaupt angemessen ist, ein moralisches Urteil zu fällen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass es nicht nur pragmatisch, sondern auch moralisch geboten sein kann, kein Urteil zu fällen, weil uns dazu das Recht oder die Kenntnisse fehlen. II. Hegels Kritik der christlichen Asketik Hegel hat seine nachdrücklichste Kritik der christlichen Asketik in einer Schrift formuliert, die noch sehr weitgehend den Grundlinien von Kants Ethik folgt: in dem Berner Manuskript über Die Positivität der christlichen Religion.31 Die erste Fassung des Textes von 1795/96 bestimmt als wichtigstes Merkmal einer positiven Religion, dass sie nicht auf die „Autonomie des Willens“, sondern auf die „Abhängigkeit von der Gottheit“ gegründet ist, weshalb sie moralische Vorschriften als ein „Gegebenes“
29 Da nach Kant nur die beiden Möglichkeiten bestehen, dass der Mensch entweder „das moralische Gesetz“ oder „die Abweichung vom moralischen Gesetze“ in seine Maxime aufnimmt, „ist seine Gesinnung in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent“. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 06: 22 f., Hervorh. A.G. 30 Kant, Metaphysik der Sitten, AA 06: 408. 31 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Positivität der christlichen Religion (1795/96), in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 1, S. 104 – 229. Ich beschränke mich in diesem Abschnitt auf die Berner Fassung des Textes; die fragmentarische Frankfurter Neufassung von 1800 kommt im nächsten Abschnitt zur Sprache. Da diese Seiten des Manuskripts, die für meine Argumentation von entscheidender Bedeutung sind, noch nicht im Rahmen der Gesammelten Werke zugänglich sind, zitiere ich durchgehend nach dieser Ausgabe.
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voraussetzen und ihren politischen Machtanspruch „auf Autorität“ gründen kann.32 Ausgangspunkt für Hegels Überlegungen ist dabei vor allem Kants Religionsschrift, deren herrschaftskritische Argumente sich auf die aufklärerische Unterscheidung zwischen Vernunft- und Kirchenglauben stützen. Kants Adaption dieser Unterscheidung ist schon ganz darauf ausgelegt, die pietistische Emphase der Empfindung und der Innerlichkeit zu konterkarieren, indem er weder nach dem „ersten Ursprunge“ noch nach der „inneren Möglichkeit“ von Religion fragt, sondern danach, was „sie der äußeren Mitteilung fähig macht“.33 Legt man dieses Kriterium an, so kann man Religion vor allem in zwei Hauptformen einteilen: Die „gelehrte Religion“, die auf dem Anspruch beruht, dass die Gläubigen durch eingeweihte Lehrer „geleitet werden müssen“ und die „natürliche“ Religion, von der „jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann“.34 Gemäß den Kategorien von Kants praktischer Philosophie markiert das den Unterschied zwischen einer moralischen Religion, die auf die Selbstgesetzgebung des Einzelnen setzt und einer rein rechtsförmigen, „statutarischen“ Religion, die bloßen Gehorsam gegenüber äußeren Gesetzen fordert. Wenn Hegel in seinem Manuskript über die Positivität der christlichen Religion davon ausgeht, dass Jesus ursprünglich mit dem Anspruch angetreten war, den moralischen Charakter der Religion gegen ihre Verfestigung zur positiven Gesetzesreligion zur Geltung zu bringen, so folgt er darin ganz Kants Religionsschrift, in der es heißt, die christliche Religion sei „aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen“.35 Anders als Kant begnügt sich Hegel aber nicht mit der Feststellung, dass weite Teile der kirchlichen Lehre und der alltäglichen Frömmigkeitspraxis nicht mehr mit dem Geist der ursprünglichen christlichen Botschaft übereinstimmen. Schon die erste Fassung seines Textes überschreitet die Unterscheidung zwischen zeitlosem Vernunft- und zeitgebundenem Kirchenglauben in Richtung einer Problemgeschichte der christlichen Religion, die untersucht, inwiefern schon „in der Art“, wie die christliche Lehre „aus Jesu Mund und Leben entsprang“ eine erste „Veranlassung zur Positivität“ lag.36 Nach Hegel gab es nie eine „reine“ christliche Lehre, die durch äußere Einflüsse von ihrer ursprünglichen Bestimmung abkam; er verwandelt die dichotomische Struktur der aufklärerischen Religionskritik von vornherein in eine dialektische, indem er historisch danach fragt, woran Jesus „scheiterte“.37 Leitend für diese Rückfrage in die Religionsgeschichte ist auch bei Hegel die Auseinandersetzung mit den christlichen Techniken der moralischen Selbstkontrolle. Kennzeichen dieser Techniken ist nach Hegel der Anspruch, möglichst viele – 32
Ebd., S. 179, 189 und 108. Kant, Religion, AA 06: 155. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 167. 36 Hegel, Positivität, S. 223. 37 Ebd., S. 107. 33
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und in letzter Konsequenz jede – Regung menschlichen Verhaltens zu regulieren. Was die „jugendliche Seele“ durch die christliche Erziehung schon mit den „ersten Eindrücken“ eingeprägt bekommt, ist eine Form von „Asketik“, die gar keinen Gedanken mehr zollfrei, keine Handlung, keinen unwillkürlichen Anblick, keinen Genuß, welcher Art er sei, Freude, Liebe, Freundschaft, Geselligkeit unkontrolliert läßt, sondern jede Regung der Seele, jede Gedankenassoziation, jeden der Gedanken, die von Sekunde zu Sekunde den Kopf des Menschen durchfliegen, jede Empfindung des Wohlseins in Anspruch nimmt.38
Schon in dieser kurzen Passage deutet sich die spezifische Perspektive von Hegels früher Kritik des Christentums an: Wichtigstes Kennzeichen der christlichen Asketik ist der Anspruch, alle menschlichen Regungen zu regeln und letztlich keinen Bereich des menschlichen Verhaltens als moralisch irrelevant zu betrachten. Damit haben seine Überlegungen schon in der frühen Fassung der Positivitätsschrift einen deutlich anderen Akzent als Kants erkenntnistheoretisch fundierte Argumente. Nach Kant überschreiten die christlichen Askesetechniken nicht nur die Möglichkeiten unserer Erkenntnisvermögen, indem sie die intellektuelle Anschauung der eigenen Seele mit einer unmittelbar empfundenen Gotteserfahrung verbinden; sie verfehlen auch das angestrebte Ergebnis, indem sie Furcht und Hoffnung zu den wichtigsten Handlungsmotiven erheben und dem Gläubigen einen pathologischen „Gram“ über die eigene Unvollkommenheit einimpfen. Ähnliche Bedenken formuliert auch Hegel, wenn er es als eine Eigenheit der christlichen – und insbesondere pietistischen – Asketik herausstreicht, nicht nur Handlungen, sondern auch „Empfindungen gebieten zu wollen“.39 Das Resultat der entsprechenden Selbstprüfungsformate ist nach Hegel nicht Selbsterkenntnis, sondern „Selbstbetrug“.40 Der Gläubige hat die Wahl zwischen der „falschen Beruhigung“ dessen, der sich selbst vormacht, „die vorgeschriebenen Empfindungen zu haben“ und der „Verzweiflung“ des Sünders, „der mit allem guten Willen und aller möglichen Anstrengung doch seine Empfindungen noch nicht auf die Höhe getrieben zu haben glaubt, die von ihm erfordert wird“. Dabei bedient auch Hegel die gängigen Topoi der Schwärmerkritik, indem er beklagt, die Überforderung durch die Ansprüche der pietistischen „Empfindungssatzungen“ führe unweigerlich „in Wahnsinn und Verrücktheit“.41 Bis zu diesem Punkt lassen sich Hegels Analysen noch als Vorläufer derzeitiger Burnout-Diskurse lesen, die die allgemeine Erschöpfung des zur beständigen Selbstoptimierung verdammten „Selbst“ beklagen. Da er auf Kants erkenntniskritische Überlegungen verzichtet, bleibt zunächst nur der Hinweis auf die seelischen Kosten einer umfassenden Selbstkontrolle, die den Einzelnen in einen Prozess der endlosen Selbststeigerung gefangen hält, der „nie zu einem festen Maßstab seiner Vollkom38
Ebd., S. 176 und 179. Ebd., S. 180; vgl. Hegels Bemerkung zu dem „System von Empfindungssatzungen“, das „am konsequentesten von den Pietisten behauptet und geübt wird“. Ebd., S. 186. 40 Ebd., S. 185. 41 Ebd., S. 185 f. 39
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menheit gelangen kann“.42 Aber auch Hegels Polemik hat eine spezifisch philosophische Pointe, die nicht individuelle Einbußen von Lebensglück beklagt, sondern – in letzter Konsequenz – die systematische Zerstörung der Möglichkeit von Erfahrung kritisiert. Anders als in den typischen zeitgenössischen Diagnosen einer religiös induzierten Melancholie werden die pietistischen „Empfindungssatzungen“ dabei deshalb als problematisch eingestuft, weil sie Teil einer unlauteren Erweiterung moralischer Maßstäbe auf nicht moralisierbares Gebiet bedeuten. Nach Hegel hat man das Scheitern des christlichen Projekts einer ganz auf Moralität gegründeten Religion noch nicht in seinem vollen Ausmaß begriffen, wenn man feststellt, dass auch das Christentum Riten und Gesetze ausgebildet hat, die erlauben, es als eine bloß äußerliche Praxis des kirchlichen Gehorsams aufzufassen. Eine Gesetzesreligion, wie er sie im Judentum vermutet, ist zumindest konsequent legalistisch und gebietet „nur Handlungen“, wo der christliche „Kursus“ der Gesinnungsbildung mit dem deutlich weiter gehenden Anspruch auftritt, auch „Empfindungen zu gebieten“.43 Dieser Anspruch ist aber nicht nur der Grund für die fromme Neigung zum Selbstbetrug, sondern auch eine wichtige Voraussetzung für den umfassenden Leitungsanspruch der christlichen Übungs- und Selbstprüfungsformate, die letztlich keine Seelenregung mehr „unkontrolliert“ lassen.44 Die christliche Asketik begnügt sich nicht damit, bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen vorzuschreiben, sondern etabliert einen „weitläufigen moralischen Kodex“, der „teils enthält, was der Mensch tun, teils was er wissen und glauben, teils was er empfinden soll.“45 Ganz gleich also, ob es sich um Glauben oder Wissen, um Tun oder Empfinden handelt, die christliche Asketik lehrt, jede Frage als eine moralische Frage zu behandeln, die folglich nach den Geboten Gottes entschieden werden muss. Das zeigt sich nicht nur darin, dass den Techniken der moralischen Selbstprüfung eine nahezu unbegrenzte Reichweite zugeschrieben wird, sondern auch in dem spezifischen Stil der Überlieferung, mit dem die christliche Lehre ihre Herrschaft generationenübergreifend zu sichern sucht. Nach Hegel ist dieser Stil nur Ausdruck der christlichen Basisoperation, die schon Jesus im Kreis seiner Jünger praktizierte: der Reduktion auf Eins. Schon die strategische Entscheidung, den alten Autoritäten eine neue entgegenzusetzen führte zu der Zentrierung auf einen Lehrer, eine Lehre und einen exklusiven Kreis von Schülern, die die spätere Neigung zu autoritären Herrschaftsformen präfiguriert.46 Die dialektische Pointe von Hegels Darstellung besteht hier in dem Aufweis, dass das Spiel reversibler Machtbeziehungen, in dem sich die Gruppe der Jünger um Jesus konstituierte, bereits den Keim der Verwandlung in ein System irrever-
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Ebd., S. 185. Ebd., S. 184. 44 Ebd., S. 180. 45 Ebd., S. 189. 46 Vgl. ebd., S. 113.
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sibler Herrschaftsverhältnisse enthält, wie sie später im „moralischen System der Kirche“ begegnen.47 Dass das nicht notwendig der Fall sein muss, zeigt er im Vergleich zweier Stile, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern zu organisieren: Zwischen der konsequent geschlossenen Gruppenbildung im frühen Christentum und der Lehre des Sokrates, die „nie zur öffentlichen Religion gediehen“ ist.48 Dabei vermeidet er die naive Vorstellung, Lehrer und Schüler könnten – obwohl ihr Kenntnis- und Erfahrungsstand faktisch ungleich verteilt ist – einfach „auf Augenhöhe“ kommunizieren. Nach Hegel handelt es sich vor allem dann um ein reversibles – lebendiges, nicht positives – Machtverhältnis, wenn es die Schüler nicht auf die Gefolgschaft gegenüber einem einzigen Meister festlegt: wenn nicht nur der Lehrer mehrere Schüler, sondern auch der Schüler mehrere Lehrer haben kann. Der entscheidende Unterschied zwischen den Schülern des Sokrates und den Jüngern Jesu besteht für ihn darin, dass erstere „meist schon andere Philosophen, andere Lehrer gehabt“ hatten, während letztere ganz „auf die Person Jesu eingeschränkt“ waren.49 Die Schüler des Sokrates waren nicht geübt in der konsequenten Reduktion auf Eins, die für die ersten christlichen Gemeinden konstitutiv war; sie waren nicht gewohnt, „ganz und gar nur an einer Person zu hängen“ und waren daher in der Lage, „das gelernte zu bearbeiten und ihm den Stempel eigener Originalität aufzudrücken“, während es in der christlichen Traditionsbildung von Anfang an darum ging, die Lehre „getreu aufzufassen und aufzubewahren und sie ebenso getreu, ohne Zusatz, […] anderen zu überliefern“.50 III. Hegels Kritik an Kant Die tiefgreifende Verschiebung zwischen Hegels Berner Manuskript von 1795/96 und der fragmentarischen Frankfurter Neufassung von 1800 lässt sich an seiner Suche nach einem complementum des bloßen Gesetzesgehorsams nachzeichnen. In der Berner Fassung des Textes wird der eigentliche „Sinn“ der Religion, den Jesus wieder zur Geltung bringen wollte, noch konsequent Kantisch in dem „Geist, aus Achtung für die Pflicht zu handeln“ gesucht und als „moralische Gesinnung“ jeder Form von Religiosität entgegengesetzt, deren Gebote sich „zu bürgerlichen Gesetzen“ verfestigt haben. Entsprechend sieht Hegel das entscheidende Gegengewicht gegen das Erstarren zur bloßen Gesetzesreligion – „das complementum der Gesetze“ – in der „Moralität“.51 – Diese Einschätzung ändert sich grundlegend, 47 Vgl. ebd., S. 179. Die Unterscheidung zwischen reversiblen Machtverhältnissen und irreversiblen Herrschaftszuständen entleihe ich Michel Foucault. Vgl. Gelhard, Andreas: Dispositive der Subjektivierung. Eine terminologische Notiz, in: Techniken der Subjektivierung, hrsg. von Andreas Gelhard, Thomas Alkemeyer und Norbert Ricken, Paderborn, 2013, S. 107 – 129. 48 Hegel, Positivität, S. 119. 49 Ebd., S. 120. 50 Ebd., S. 119 f. 51 Ebd., S. 139.
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nachdem Hegel seine Kritik der bloßen Gesetzestreue auch auf Kants Ethik ausgedehnt hat. In dem zwischen 1798 und 1800 entstandenen Manuskript über den Geist des Christentums verfällt nicht nur die bürgerlich-rechtliche Auffassung des Gesetzes, sondern auch Kants Begriff des Sittengesetzes dem Verdacht, ein bloßes Herrschaftsverhältnis zu errichten: in diesem Fall ein Verhältnis der Herrschaft des Subjekts über sich. Entsprechend bedarf auch die Moralität noch eines Komplements, dessen „Triumph“ es ist, „über nichts zu herrschen“: „Wie die Tugend das Komplement des Gehorsams gegen die Gesetze ist, so ist die Liebe das Komplement der Tugenden“.52 Von der Kritik äußerer Herrschaftsverhältnisse zur Kritik innerer Herrschaftsverhältnisse – das ist die Grundlinie, der die Standarderzählung von Hegels Kantkritik seit Dilthey folgt.53 Unabhängig davon, ob man diese Kritik für triftig hält, bietet sie aber nicht das interessanteste und anschlussfähigste Kriterium zur Unterscheidung zwischen autonomen und autoritären Formen der Selbstprüfung. Aufschlussreicher als der Geist des Christentums ist in diesem Zusammenhang die erwähnte Frankfurter Neufassung der Positivitätsschrift, in der Hegel seine Kritik an der christlichen Kirche um die Einsicht erweitert, dass die autoritäre Reduktion auf Eins auch auf Seiten der aufklärerischen Religionskritik zu finden ist. Während die positive Religion ihre gesamte Überlieferung auf eine Erlöserfigur und die ihr zugeschriebenen Glaubenssätze zentriert, stützen sich ihre Kritiker auf die Vorstellung einer invarianten „Natur“ oder „Bestimmung“ des Menschen. Oberflächlich betrachtet läuft dieser Einwand auf eine Kritik der aufklärerischen Arroganz hinaus, die die religiösen Überzeugungen zahlloser Generationen als bloßen „Unsinn“ oder gar als „Immoralität“ abtut.54 Die eigentlich philosophische Pointe von Hegels Argument liegt aber in dem Nachweis, dass die Kantische Unterscheidung zwischen natürlicher (moralischer) und historischer (positiver) Religion auf der bedenklichen Voraussetzung beruht, „daß es nur eine natürliche [Religion] gebe, weil die menschliche Natur nur eine ist, daß aber der positiven Religionen viele sein können“.55 Dieses Argument ist philosophisch nicht nur überzeugender, sondern auch weit folgenreicher als die Kritik an der inneren Herrschaft des Sittengesetzes. Denn der Primat des Praktischen in Kants Philosophie steht und fällt mit der Annahme einer „Bestimmung“ des Menschen (freies Vernunftwesen), die als Norm der Kritik auch im Begriff der „natürlichen Religion“ wirksam ist, ohne selber noch einmal hin52 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798 – 1800), in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 1, S. 274 – 418, hier: S. 362 f. Anders als es an dieser Stelle scheinen könnte, läuft dieses Argument nicht auf eine Gefühlsethik hinaus. Auch die Liebe bedarf noch einmal eines Komplements – des Religiösen –, in dem „Reflexion und Liebe vereint“ sind. Ebd., S. 370. 53 Vgl. Dilthey, Wilhelm: Die Jugendgeschichte Hegels, in: Gesammelte Schriften, Stuttgart, 1990, Bd. IV, S. 56 und 94. 54 Hegel, Positivität, S. 221. 55 Ebd., S. 217.
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terfragt zu werden. Entsprechend zielt Hegels Kritik auf die Vorstellung, man sei „mit dem Begriff der Bestimmung des Menschen so weit im Reinen“, dass man „nun mit demselben als Maßstab an das Sichten der Religion selbst gehen“ könne.56 Dieser Einwand ist schon deshalb von Bedeutung, weil er zeigt, dass nicht bestimmte Inhalte religiöser oder aufklärerischer Provenienz, sondern ein Strukturprinzip – Ein Maß für alles – über die „Positivität“ einer Bewusstseinsgestalt entscheidet. Zudem handelt es sich um eine der frühesten Stellen, an denen Hegel die für das Programm der Phänomenologie des Geistes zentrale Frage nach dem philosophisch angemessenen Umgang mit historisch gegebenen „Maßstäben“ stellt. Dabei geht er mit Kant davon aus, dass man ein „Ideal der menschlichen Natur“ benötigt, das der menschlichen Freiheit Rechnung trägt, insistiert aber gegen Kant auf der Geschichtlichkeit des Ideals: Ein Ideal der menschlichen Natur ist aber ganz etwas anderes als allgemeine Begriffe über die menschliche Bestimmung und über das Verhältnis des Menschen zu Gott. Das Ideal läßt sehr wohl Besonderheiten, Bestimmtheit zu und fordert sogar eigentümlich religiöse Handlungen, Gefühle, Gebräuche, einen Überfluß, eine Menge von Überflüssigem, was vor dem Laternenlicht der allgemeinen Begriffe nur als Eis und Stein erscheint. Nur wenn das Überflüssige die Freiheit aufhebt, wird es positiv.57
Mit dieser Rehabilitierung historischer Kontingenzen ist die Kantische Unterscheidung zwischen „natürlicher“ und „gelehrter“, zwischen „moralischer“ und „statutarischer“ Religion zwar nicht vollständig aufgehoben, aber doch so weit dynamisiert, dass sie nicht mehr als zeitlos gültiger Maßstab taugt. Die Beurteilung einer Religion muss die konkreten Praktiken, in denen sich die menschliche Freiheit realisiert, berücksichtigen, wenn sie nicht mit einem abstrakten „Maßstab allgemeiner Begriffe“ operieren soll, an dem die historischen Gestalten des Religiösen „abgeurteilt“ werden.58 Mit Blick auf die systematischen Grundlagen von Kants Religionskritik heißt das vor allem, dass die Frage nach der Mitteilbarkeit religiöser Inhalte ihren Sinn verfehlt, solange man davon ausgeht, dass sich Menschen als Vernunftwesen a priori der Einstimmung anderer versichern können. Nichts anderes sagt Kant, wenn er bestimmt, was die natürliche Religion „der äußeren Mitteilung fähig macht“: Sie ist so beschaffen, „daß die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können“.59 Die darin Vorausgesetzte Vorstellung einer prinzipiellen Mitteilbarkeit von Gedanken, die nicht auf die Auseinandersetzung mit real geäußerten Gedanken angewiesen ist, gehört zu den wichtigsten Ansatzpunkten von Hegels Kritik. Denn einerseits betont Kant von seinen vorkritischen Schriften bis zu den spätesten Texten der 1790er Jahre, dass die Berücksichtigung der Urteile anderer eine unverzichtbare Bedingung des Denkens ist, die nicht durch Einschränkungen 56
Ebd. Ebd., S. 220. 58 Ebd., S. 225. 59 Kant, Religion, AA 06: 155.
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der Redefreiheit beschnitten werden darf;60 andererseits geht er aber davon aus, dass jedes Vernunftwesen prinzipiell in der Lage ist, die möglichen Urteile anderer zu antizipieren und gleichsam im Gedankenexperiment selbst zu erzeugen, weshalb ein realer Austausch oder ein Aufgreifen tatsächlich geäußerter Urteile nicht nötig ist. Die bekannteste Formulierung dieser Lehre findet sich in der dritten Kritik unter dem Titel des sensus communis. Nach dieser Lehre ist das angemessene Urteilen zwar auf das Abwägen verschiedener Urteile, aber nicht auf die Auseinandersetzung mit historisch vorfindlichen Urteilen und Urteilsmaßstäben angewiesen, weil jedes Vernunftwesen in der Lage ist, von den „subjektiven Privatbedingungen“ seines eigenen Urteils zu abstrahieren und „a priori“ auf die Urteile anderer Rücksicht zu nehmen, „um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten“.61 Schon Hegels Frankfurter Neufassung des Anfangs der Positivitätsschrift zielt dagegen auf den Nachweis, dass sich dieser Versuch, die „Menschenvernunft“ zum Maßstab einer „apriorischen“ Berücksichtigung der Urteile anderer zu erklären, nicht halten lässt. Seine Reformulierung von Kants Maxime der erweiterten Denkungsart, die es uns ermöglichen soll, unser Urteil „an“ die möglichen Urteile anderer und auf diesem Wege an „die gesamte Menschenvernunft“ zu „halten“, geht konsequent von einem Prüfungsgeschehen in Handlungsvollzügen aus, das sich nicht durch das Setting eines Gedankenexperiments ersetzen lässt.62 In der Phänomenologie fungiert das Bewusstsein nicht bloß als dem Spiel entzogener Maßstab, der zu prüfen erlaubt, was Wahrheit ist, sondern es muss sich seinerseits als Maßstab bewähren. Der erste Grundsatz der Selbstprüfung des Bewusstseins lautet: „der Maßstab der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht“.63 Für die Bildung und Überprüfung von Handlungsmaximen heißt das zum Beispiel, dass die entsprechenden Regeln nur in einem sehr spezifischen Sinne „subjektiv“ sind. Sie sind subjektiv, sofern ich immer nur meine Handlungen an ihnen ausrichten kann, ohne dass ich dadurch berechtigt wäre, sie real als Regeln für alle durchzusetzen. Sie sind aber nicht subjektiv in dem Sinne, dass ich sie beliebig und nur dem freien Spiel meiner Einbildungskraft folgend bilden könnte. Das Reservoir, aus dem ich eigene Maximen schöpfen und variierend bilden kann, sind die Regeln faktisch vollzogener Praktiken, an denen ich teilnehmen und die ich mir zu eigen machen kann,64 indem ich ihre Regeln als vernünftig einsehe und anerkenne.65 Für 60
Ein vorkritisches und ein spätes Zeugnis sind die Träume eines Geistersehers (AA 02: 349), und die Anthropologie (AA 07: 128 f.). 61 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA05: 293 f. 62 Das entspricht einer Einsicht, die Christoph Menke als Hegels „sittlichkeitstheoretische Grundthese“ bezeichnet: „Nur […] in einer Welt von Praktiken kann das Subjekt autonom sein“. Menke, Christoph: Autonomie und Befreiung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58, 2010, S. 675 – 694. Hier: S. 680. 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 66. 64 Zur Dialektik von Teilnahme und Aneignung vgl. Menke, Autonomie und Befreiung, S. 682 f.
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den Begriff der Maxime bedeutet das, dass das Annehmen einer Maxime für meine Handlung nur als Eintritt in eine soziale Praxis verstanden werden kann, deren Regeln ich als meine anerkenne.66 Das hat zur Folge, dass die Kriterien der Beurteilung einer Handlungsmaxime nur demselben Zusammenhang von Praktiken entnommen werden können, aus dem auch die zu beurteilende Regel selber stammt.67 Das Ergebnis der Prüfung sagt daher nicht nur etwas über die einzelne Maxime, sondern über den gesamten Handlungszusammenhang aus, dem die Maxime und ihr Maßstab entstammen. Eben darauf zielt der zitierte Grundsatz der Phänomenologie, dass der sich ändert, wenn das, was er messen sollte, in der Prüfung nicht besteht.
IV. Prüfung und Bewährung Der Unterschied zwischen Kant und Hegel lässt sich vor diesem Hintergrund als Unterschied ihrer philosophischen Selbstprüfungsprogramme erläutern. Sowohl Kants Kritik der reinen Vernunft als auch Hegels Phänomenologie des Geistes sind als komplexe Selbstprüfungsprozeduren angelegt, die nicht Individuen, sondern die strukturelle Verfasstheit des menschlichen Denkens untersuchen.68 Beide folgen dabei der Einsicht, dass sich Denken nur in Handlungsvollzügen freier Wesen realisieren kann, weshalb die erste Kritik die Freiheit als Bestimmung des Menschen postuliert, während die Phänomenologie den Prozess der Selbstprüfung selbst als Handlungsvollzug darstellt. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Ansätzen. Kant sieht in der Möglichkeit freien Handelns die Bedingung für eine angemessene Selbstprüfung der Vernunft, zieht daraus aber nur die Konsequenz, dass es neben den erkenntniskritischen Prüfungsverfahren auch ethische Verfahren geben muss, die nicht der Prüfung unserer Vermögen, sondern unserer Maximen dienen. Beide Sphären bleiben dabei aber insofern ohne Einfluss aufeinander als es sich immer um Testverfahren handelt, die potentiell von einem einzelnen Individuum als Gedankenexperiment durchführbar sind. Unter Test verstehe ich hier ein Geschehen, das einen erkennbaren Anfang, ein erkennbares Ende und eine wiederholbaren Ablauf hat. Um diese Form von Verlässlichkeit sicherzustellen, operieren Tests prinzipiell im Modus des „als ob“ und erlauben es, zwischen den „bloß“ zu Prüfungszwecken vollzogenen Handlungen und „realen“ Handlungen zu unterscheiden. In den einfachsten Fällen wie dem klassischen Examen gehört zu diesem Setting auch die klare Festschreibung der Rollen von Prüfer und Prüfling. Der Prüfer beurteilt den Prüfling, und es ist nicht vorgesehen, dass sich dieses Verhältnis im Laufe desselben Tests umkehrt oder dass es auch nur in Frage gestellt wird. Diese Unumkehrbarkeit der Situation gilt a fortiori für Tests, die von einer einzigen Person im Gedankenexperiment durchgeführt werden. Wer 65
Ebd., S. 682. Ebd., S. 680, Anm. 16. 67 Ebd., S. 683. 68 Vgl. Kant, KrV , B 739 und Hegel, Phänomenologie, S. 65. 66
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im Geiste Argumente und Gegenargumente durchspielt oder sich vorstellt, was geschähe, wenn eine subjektive Maxime zum allgemeinen Gesetz würde, operiert grundsätzlich im Modus des Tests. Eine Selbstprüfung im Format des Tests kann prinzipiell allein vollzogen werden. Die Bewährung dagegen findet nicht im Modus des „als ob“ statt, sondern in Handlungsvollzügen, die nicht ausschließlich dem Zweck der Prüfung dienen. Sie beruht auf der Möglichkeit, jede Handlung immer auch als einen Beweis von Fähigkeiten, Charakterzügen oder moralischen Einstellungen zu betrachten. Eine Bewährungsprobe hat folglich weder eine definierbare Dauer noch eine wiederholbare Struktur. Auch die Rollenverteilung zwischen Prüfer und Prüfling ist nicht festgeschrieben. Die paradigmatische Bewährungsprobe ist dyadisch strukturiert, wobei beide Partner einander gegenseitig prüfen oder, wenn man so will, auf die Probe stellen. Ein guter Test liefert dem Prüfer eine haltbare Prognose über künftige Handlungen des Prüflings; und er konfrontiert den Prüfling nur mit Erwartungen, die möglichst klar formuliert und folglich auch erfüllbar sind. Die Herausforderung im Geschehen der Bewährung hingegen liegt gerade in der Unvorhersehbarkeit des Anderen und in der Möglichkeit, dass Erwartungen auch enttäuscht werden können. In ihr muss erst geleistet werden, was der Test als Bedingung voraussetzt: die Reduktion von Ungewissheit auf ein erträgliches Maß und die Herausbildung verlässlicher Handlungsmuster. Die interne Grenze von Kants Kritik der christlichen Asketik kann man vor diesem Hintergrund als Strategie bezeichnen, Selbstprüfungstechniken, die im Modus des Tests operieren, andere Selbstprüfungstechniken entgegenzusetzen, die zwar gegen die ideologischen Zumutungen der pietistischen Empfindungssatzungen immunisiert sind, das Paradigma des Tests aber nicht verlassen. Die Bedeutung der „erfahrungsgeschärften Urteilskraft“ als der Berücksichtigung der Urteile anderer lässt sich adäquat aber nur in Prozessen der Bewährung realisieren, in denen Individuen real der Unvorhersehbarkeit der Anderen ausgesetzt sind. Die Selbstprüfung im Modus der Bewährung ist, nur scheinbar paradox, Selbstprüfung zu mehreren. V. Kritik der Seelenführung Hegels Terminus für diesen zweiten Typ von Selbstprüfung ist Erfahrung. Seine frühe Kritik der christlichen Asketik ließe sich aus Sicht der Phänomenologie daher auch auf die Formel bringen, dass sie durch den flächendeckenden Einsatz von Testformaten Erfahrung verhindert. Das Prinzip Ein Maß für alles ist in dieser Perspektive nicht nur deshalb bedenklich, weil es Können, Glauben, Wissen und Empfinden unterschiedslos dem moralischen Maß des Gebotenen und Verbotenen unterwirft (das sieht auch Kant in seinen Überlegungen zur moralischen „Mikrologie“), es schließt auch gleichsam strukturell aus, dass das Maß selber auf die Probe gestellt und bei negativem Ausgang korrigiert wird (das sehen weder die christlichen Ethiken noch die Kantische vor). Nach Hegel verlangt ein gehaltvoller Begriff von Erfahrung
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aber, den Prozess der Bestätigung und Enttäuschung impliziter und expliziter Erwartungen zu berücksichtigen, der sich in keinem klar umrissenen Prüfungssetting einfangen lässt. Diese Einsicht ist in Bezug auf die eingangs erwähnten Psychotechniken des zwanzigsten Jahrhunderts, die unseren derzeitigen Testformaten zugrunde liegen, von großem diagnostischem Wert, weil sich einige der wichtigsten psychologischen Innovationen der zweiten Jahrhunderthälfte als Versuch beschreiben lassen, die klassischen Eignungstests für eine Dynamik der Bewährung zu öffnen – die dann ihrerseits in einen Test zweiter Stufe übersetzt werden muss, wenn sie psychologisch operabel bleiben soll. Das ließe sich an dem von Kurz Lewin in die Psychologie eingeführten Begriff des Feedback ebenso zeigen wie an dem von David McClelland entwickelten Konzept der Kompetenz. Im Unterschied zu Pionieren der Psychotechnik wie Stern oder Münsterberg geht es Lewin und McClelland nicht mehr in erster Linie darum, „psychische Eigenschaften“ einzelner Probanden festzustellen, um über deren Eignung für weiterführende Schulen, berufliche Verwendung oder Ähnliches zu entscheiden, sondern um die Änderung und Entwicklung solcher Eigenschaften in eine zuvor definierte Richtung. Dabei stoßen sie schnell auf die Schwierigkeit, dass nur die Bewährung in konkreten Situationen und die Auseinandersetzung mit anderen Beteiligten dazu geeignet sind, den Prozess der angestrebten Verhaltensänderung oder des erwünschten Kompetenzaufbaus zu beurteilen. Das ist der anfangs erwähnte Punkt, an dem Selbstprüfungsformate in den Ablauf von Lern- und Trainingsprozessen integriert werden, um einen geordneten Fortschritt zu ermöglichen. Dabei klingen viele der einschlägigen theoretischen Überlegungen so, als gehe es den Autoren um genau den Prozess der Bestätigung und Enttäuschung von Erwartungen, der Konfrontation mit dem Urteil anderer und der Selbstprüfung zu mehreren, die Hegel im Begriff der Erfahrung zusammenfasst. Lewin betont, dass nach der Überprüfung eines Handlungsschrittes nicht nur die Mittel zur Erreichung des Handlungszieles, sondern auch das Ziel selber der Korrektur offen stehen müssen; McClelland weist darauf hin, dass man Kompetenzen, anders als Intelligenz, nur in offenen Prüfungsformaten ohne vorgegebene Verhaltenserwartung feststellen kann. Betrachtet man aber den tatsächlichen Einsatz psychologischer Feedback- und Kompetenzkonzepte, so kann man feststellen, dass die programmatische Betonung der Bedeutung von Bewährungsdynamiken in der Praxis nur zu einer Flut von neuen Testformaten geführt hat, die „operante“, „selbstgesteuerte“ und „autonome“ Prozesse durch klare Vorgaben rahmen und an vorab gesetzten Zielen abgleichen. Das eine Maß, das all diesen Tests zugrunde liegt, folgt dabei nicht mehr der theologischen Leitvorstellung moralischer Geboten und Verbote, sondern der psychotechnischen Leitvorstellung beruflicher Eignung. Was sie von den alten Techniken der christlichen Asketik unterscheidet ist aber letztlich nichts anderes als die Simulation von Erfahrung im Modus des Tests.
Recht ohne Recht Hegel als Theoretiker universaler Empörung Frank Ruda Die Armut ist in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch der menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird. (Karl Marx)
Zwischen seinem 33. und 36. Lebensjahr notierte Hegel einmal Folgendes in sein so genanntes Wastebook: Originelle ganz wunderbare Werke in der Bildung gleichen einer Bombe, die in eine faule Stadt fällt, worin alles beim Bierkrug sitzt und höchst weise ist und nicht fühlt, daß ihr plattes Wohlsein eben das Krachen des Donners herbeigeführt.1
Man kann, entgegen der immer noch verbreiteten Meinung, wohl sagen, dass Hegels Rechtsphilosophie2 einer ähnlichen Bombe in ihrer Zeit in Preußen glich. Nicht nur, wie etwa Domenico Losurdo nachdrücklich gezeigt hat,3 weil er in dieser eine Theorie der Korporation entwickelt, die sich als ein Organisationsmodell und politisches Instrument einer sich in der Formierung befindenden Arbeiterklasse verstehen lässt, d. h. als eine Art Skizze einer Proto-Gewerkschaft, die es dem Arbeiterstand ermöglichen könnte, einerseits von den verknöcherten Strukturen mittelalterlichen Gilden- und Zunftwesens Abstand zu nehmen und dadurch andererseits auf ökonomische Faktoren wie Arbeitszeitregelungen, Arbeitslöhne und weitere allgemeine Bestimmungen, die die Besorgung der Interessen der Arbeiter betreffen, Einfluss zu nehmen. Allein aufgrund einer solchen expliziten Skizze erschiene es gerechtfertigt, mit Bezug auf die Rechtsphilosophie von einer metaphorischen 1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Aphorismen aus Hegels Wastebook (1803 – 06), in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 2, S. 550. 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 7. 3 Vgl. Losurdo, Domenico: Zwischen Hegel und Bismarck. Die achtundvierziger Revolution und die Krise der deutschen Kultur, Berlin, 1993, v. a. S. 157 – 234.
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Bombe zu sprechen. Denn Hegel formuliert mit seiner Konzeption der Korporation unter anderem einen Vorschlag, wie jede Sphäre dessen, was er bürgerliche Gesellschaft4 nennt, sich in einer Weise zu organisieren hat, die der Instabilität der ökonomischen Dynamik, die sie bestimmt, etwas Stabiles entgegenzusetzen hat. Im Falle der Korporation etwa ein kollektives Eigentum, gemeinschaftlich eingerichtete finanzielle Anlagen, die dann in Arbeitslosigkeit gefallene Mitglieder der Korporation substistentiell auffangen vermochten. Hegel beschreibt aber überdies in eben diesem Werk neben der Korporation auch die u. a. marktregulierende, überwachende und begrenzende, und in mancher Hinsicht bio-politisch operierende Intervention der Polizei5 als für die Aufrechterhaltung eines jeden modernen Gemeinwesens notwendig. Nun hat ihm gerade dieses Werk, die Rechtsphilosophie, und dies, wie sollte es anders sein, aufgrund der in ihm versammelten Argumente und Vorschläge, wie ich vorsichtig sage, nicht wenig Kritik, nicht wenig Kritiker eingebracht. Der explosive Charakter dieses Buchs lässt sich so bereits leicht an den Reaktionen, die es hervorgerufen hat, ablesen. Und man mag sagen: Diese hätten schlimmer und empörter nicht ausfallen können. So findet sich in dem einflussreichen – wenngleich als HegelLektüre unhaltbaren – 1857 veröffentlichten Buch Rudolf Hayms mit dem Titel „Hegel und seine Zeit“6 etwa der berühmte Angriff auf die Rechtsphilosophie, dass in ihr Hegel nichts anderes denn eine Apologie des Preußischen Staates formulierte. Dies ist übrigens eine Kritik, die der Rechtsphilosophie und Hegel noch bis heute – vielleicht gerade heute wiederum weniger überraschend7 – anheftet und in ebenso wenig überzeugender Weise vor ein paar Jahren von Ernst Tugendhat reformuliert wurde.8 Haym-Tugendhat, man mag vielleicht sogar noch Hegelianer wie Theunissen9 oder Adorno10 dazwischen schalten, der ebenfalls dann und wann die
4 Vgl. dazu u. a. Riedel, Manfred: Der Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. von Manfred Riedel, Frankfurt am Main, 1969, S. 135 – 167. 5 Dazu Ruda, Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Konstanz, 2011. 6 Vgl. Haym, Rudolf: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Wert der Hegelschen Philosophie, Hildesheim, 1973. 7 Man denke nur an die in allen politischen Lagern verbreitete doxa, dass man die ökonomische Bewegung nicht regulieren oder durch künstliche und die Freiheit der freien Marktwirtschaft beschränkende (äußere) staatliche Operationen einengen darf. Links wie rechts sind sich heute – und das nicht nur in Deutschland – scheinbar einig, dass die Ökonomie schlicht ihren eigenen Willen hat, diesem nicht zu folgen – so heute die Marktoptimisten und -beschöniger – generiert eben solche Krisen, wie wir sie erleben. 8 Tugendhat, der nie ein Fan Hegels war, formuliert diese Kritik in Tugendhat, Ernst: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main, 2005. 9 Dazu: Theunissen, Michael: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: Hegels Philosophie des Rechts, hrsg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart, 1982, S. 317 – 281.
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Rechtsphilosophie wie Hegels reaktionärstes Werk behandelte. Solche – doch reichlich unüblichen und erstaunlichen – Bündnisse lassen sich konstruieren, wenn man von den empörten Kritiken der Rechtsphilosophie ausgeht und sieht, wen diese zusammenbringen. Zurück zu Haym: Wie Losurdo gezeigt hat,11 ist es nicht verwunderlich, dass derselbe seine Kritik an Hegels reaktionärer Position in Begriffen einer Apologie des Staates formuliert hat. Denn Haym war ein politischer Vertreter der liberal-bürgerlichen Position, einer Position, der jeder Nachweis einer Notwendigkeit der Beschränkung individueller Freiheit und dann auch noch auf dem Markt, schon immer Grausen bereitet hat. Eine stark auf individuelle Verwirklichung setzende Interpretation der Freiheit, die das liberale Bürgertum von damals bis zur heutigen FDP schon immer vorgebracht hat und deren Realisierungsstätte schon immer der Markt und der ökonomische Wettbewerb war, eine solche Interpretation der Freiheit wird gerade durch die Rechtsphilosophie Hegels in ihren widersprüchlichen, gar selbstzerstörerischen Effekten, und dies wiederum gerade in ihrem Erscheinen in den bürgerlichen Marktdynamiken vorgeführt.12 Hegel fasst diese Widersprüchlichkeit in einer einfachen, aber fundamentalen These zusammen. Man kann diese These in folgender Weise wiedergeben: in modernen Gesellschaften, die sich einerseits durch die mit der Reformation in die Welt gekommene, freie, zunächst innere Selbstbestimmung aller Subjekte bestimmt sehen13, wie andererseits durch die ihnen allen zukommende rechtliche Gleichheit, d. h. das Recht auf eben die Realisierung derselben Selbstbestimmung, die ihren geschichtlichen Ursprung in der Französischen Revolution hat;14 dass also in den so bestimmten modernen Gesellschaften Armut ist. Armut ist, wie Hegel vorführt, ein Phänomen, das wie die Gesellschaften, die mit ihr konfrontiert sind, eine spezifische moderne Qualität gewinnt. Sie ist gerade mit dem spezifisch Modernen der Moderne, wie Hegel es fasst, verbunden: nämlich der allen rechtlich zugesicherten Möglichkeit der je selbstbestimmten Realisierung der eigenen Freiheit – zumindest in minimalem Maße als Besorgung der eigenen Subsistenz – und dies zunächst auf dem Niveau der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. in dem was er das „System der allseitigen Abhängigkeit“15 nennt, und d. h. u. a. auch auf dem Markt. Wie Hegel in seiner Vorlesung zur Geschichtsphilosophie festhält, galt etwa vor Luther noch 10
Vgl. dazu Adornos Urteil über die Rechtsphilosophie als „ungeschickt ideologische[m]“ Text. Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Vorname Nachname und Vorname Nachname, Bd. 5, Frankfurt am Main, 1970, S. 361. 11 Vgl. erneut Losurdo, Zwischen Hegel und Bismarck. 12 Darin gleicht Hegels Rechtsphilosophie meines Erachtens nahezu keinem anderen Buch derselben Zeit. 13 Dazu: Hegel und die Reformation, in Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main, 2003. 14 Vgl. dazu das wohl beste Buch zu Hegel und der Französischen Revolution: Comay, Rebecca: Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford, 2010. 15 Hegel, Grundlinien, S. 340.
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Frank Ruda Armut […] für höher als Besitz und von Almosen zu leben für höher als von seinen Händen Arbeit sich redlich zu nähren; jetzt aber [d. h. einerseits nach der Reformation, aber ebenfalls in der Moderne überhaupt] wird gewußt, daß nicht Armut als Zweck das Sittlichere ist, sondern von seiner Arbeit leben und dessen, was man vor sich bringt, froh zu werden.16
Und deswegen kann er in der veröffentlichten Version der Grundlinien der Philosophie des Rechts schließen: „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“17 Armut bewegt und quält die Moderne, die Modernen und es empört eben diejenigen, die dies nicht hören und einsehen wollen. Oder auch diejenigen, die, wie Hegel einmal süffisant bemerkt, für das „beste Mittel mit der Armut umzugehen“ optieren, d. h. „sie ihrem Schicksal zu überlassen.“18 Es fällt nicht sonderlich schwer, diese Lösung dem sich formierenden liberalen Bürgertum zuzuschreiben.19 Hegel ist mit seiner These, und dies motiviert auch die angeführten Kritiken seiner Rechtsphilosophie, selbst ein konziser und sehr grundlegender Kritiker derjenigen Effekte und Voraussetzungen, die in modernen Gesellschaften durch die Hypostasierung der Konzeption individueller Freiheit – zur einzig wirklichen Form der Freiheit – allererst hervorgebracht werden. Hegel erschrickt nicht vor der so gefassten Widersprüchlichkeit der Moderne. Vielmehr versuchen seine rechtsphilosophischen Überlegungen gerade zu zeigen, dass man mit dieser umgehen muss, sie zumindest bändigen kann, es dafür aber eines dezidiert nicht-liberalen Ansatzes bedarf. Um diesen Punkt noch etwas anders zu konturieren: Es ist allgemein bekannt und entspricht ein wenig einem Einführungskurs in die Philosophie, festzuhalten, dass Hegel seine systematischen Argumente zumeist so aufbaut, dass er zeigt, inwiefern gerade die impliziten Prämissen einer bestimmten Position oder Annahme, dieselbe dahinführen, explizit – im Prozess ihrer Verwirklichung – etwas sich selbst Wiederlegendes behaupten zu müssen. Hinsichtlich der Widersprüchlichkeit, die sich aus der Hypostase der Idee freier und rein individueller Selbstverwirklichung, die allen rechtlich garantiert wird, ergibt, kann man sagen, dass Hegel in seiner Rechtsphilosophie genau so verfährt: er weist nach, inwiefern sich in dem geschichtlichen Prozess der Verwirklichung dieses Anspruchs auf individuelle Freiheitsrealisierung, und das meint in dem Anspruch, dass Gleichheit nur als rechtliche Gleichheit sich realisierender Freiheitsbestimmungen gedacht wird, sich grundlegende Widersprü16 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 12, S. 49. 17 Hegel, Grundlinien, S. 390. 18 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Philosophie des Rechts. Vorlesung von 1821/22, hrsg. von Hansgeorg Hoppe, Frankfurt am Main, 2005, S. 391. 19 Man denke in diesem Kontext nur an das Preußische Staatslexikon (und deren Herausgeber Rotteck und Welcker), die etwa behaupten, dass der Krieg ein nützliches Instrument sei, um die Gesellschaft von den Armen zu reinigen. Vgl. den Eintrag „Krieg“ in: Das StaatsLexikon. Enzyklopädie der sämmtlichen Staatwissenschaften aller Stände. In Verbindung mit vielen angesehenen Publizisten Deutschlands, hrsg. von Karl von Rotteck und Karl Welcker, Leipzig, 1864, Bd. 9, S. 330 – 353.
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che nicht verhindern lassen,20 sondern vielmehr wirklich werden. Er weist damit nach, um hier wie Robert Brandom zu sprechen, dass gerade das Explizit-machen,21 d. h. die geschichtliche Verwirklichung einer solchen Freiheitsbestimmungen, die unter dem Primat einer sich selbst bestimmenden Individualität steht, zugleich das Explizit-Werden einer immanenten und d. h. vorab nur impliziten Widersprüchlichkeit einer solchen Interpretation von Freiheit bedeutet. Hegel wäre aber Brandom und nicht Hegel, wenn er dort bereits stehen bliebe. Denn die Hegelsche Theorie ist – und das macht sie der Psychoanalyse ähnlich22 – in ihrem Vorgehen vor allem eine Theorie der Widerstände gegen sie selbst, eine Theorie über die Widerstände gegen Theorie und deren unterschiedliche Gestalten ist. Hegel antizipiert so in seinen Darlegungen in gewisser Weise bereits vorab den symbolischen Ort all der empörten Kritiker, all der Hayms, die ich angeführt habe. Genauer noch kann man sagen, dass er zeigt, warum die Kritik an der Kritik rein individueller Freiheitsrealisierung23, warum die Empörung, die auftaucht, wenn man diese Freiheiten einzuschränken sucht, ein notwendiger Abwehrmechanismus24 ist, der sich – und zwar konstitutiv – mit einem solchen Verständnis der Freiheitsrealisierung verbunden findet. Hegel gerade als Kritiker des liberal-bürgerlichen Freiheitsverständnisses weist so nach, wieso die Abwehr gegen seine Kritik wesentlich zu der Position gehört, die er kritisiert (und keineswegs von deren interner Widersprüchlichkeit unabhängig ist). Er kritisiert antizipierend seine liberalen Kritiker dafür, dass sie obwohl das Faktum der Armut nicht verleugnet werden kann, dennoch beständig gezwungen sind, so zu tun als beträfe es ihr Verständnis von Freiheit nicht (und dies noch in der Kritik an Hegel). Die Empörung seiner Kritiker ist somit selbst ein Symptom der Widersprüchlichkeit, die die Beschränktheit ihrer Position markiert, wie man Hegel hier verteidigen könnte. Man kann auch sagen, dass Hegel deswegen von der Armut als Faktum – als vorzüglich die moderne Gesellschaft bewegende Frage – aber auch in Begriffen einer dieselbe Gesellschaft quälenden Frage spricht. Denn, was die Gesellschaft quält, wie Hegel zeigen kann, ist, dass alle Abwehrmechanismen, u. a. die Kritik an Hegels rechtsphilosophischem Aufweis der notwendigen Einschränkung individueller Freiheiten, ein immanenter Bestandteil
20 Vgl. dazu auch Menke, Christoph: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main, 1996. 21 Vgl. dazu Brandom, Robert: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main, 2002. 22 Freud etwa statuiert, dass „die Überwindung dieser Widerstände die wesentliche Leistung der Analyse“ ist. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und neue Folge, Frankfurt am Main, 2000, S. 289. 23 Hiermit antizipiert Hegel zudem, das, was Marx und Engels die „kritische Kritik“ nennen werden. Vgl. Engels Friedrich/Marx, Karl: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, Berlin, 1971. 24 Der Begriff des Abwehrmechanismus wurde – in Anlehnung an Freud – wieder durch Eric Santner in die Diskussion gebracht. Vgl. Santner, Eric: Zur Psychotheologie des Alltagslebens, Zürich, 2010.
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des Problems sind, das sich in modernen Gesellschaften, nach der Reformation und der Französischen Revolution unabwendbar hervorgebracht findet. Hegels These ist aber nicht allein, dass es Armut unabdingbar und notwendig in modernen Gesellschaften gibt, sondern überdies, dass alle Mittel, die die Gesellschaft zur Verfügung wähnt, genau dieses sie beständig heimsuchende Problem nicht lösen können. Hegel weist folglich nach, dass noch die Kritiker seiner Position sich auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Lösungsvorschläge bewegen. Denn es ist gerade das strukturelle Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft, das mit ihrem Freiheitsverständnis das Problem der Armut generiert. Ich werde mich daher nicht auf den Pfaden der genannten Kritiker bewegen – wie kritisiert man auch eine Position, die gerade eine Theorie darüber anbietet, wie die Kritik an ihr, eine notwendige Abwehrreaktion gegen sie ist25 –, ich werde folglich kein Bündnis mit den Kritikern eingehen, sondern vielmehr folgenden Gedanken eher in experimenteller Weise nachgehen. Dazu sei aber noch angemerkt, dass schon Adorno in einem seiner großartigen Texte über Hegel davon gesprochen hat, dass man Hegel überhaupt nur experimentell lesen könne.26 Das Experiment, das ich hier unternehmen möchte, ist folgendes: Hegels Rechtsphilosophie gleicht nicht nur genau aufgrund der genannten Punkte einer metaphorischen Bombe in Preußen, sondern in ihr wird auch etwas explizit – ohne, dass es wiederum Hegel selbst übermäßig explizit formulieren würde – das explosiven und zugleich überaus aktuellen Charakter hat. Heute ist – von Stephane Hessel27 bis zu den spanischen Indignados – das Wort der Empörung in aller Munde und an allen Orten und auf allen Straßen der Welt wahrzunehmen. Empörung ist zu einem, wenn nicht dem, politischen Wort der Stunde geworden. Nun findet sich – vielleicht überraschend – gerade bei Hegel, wenn auch implizit, und zwar in seiner Rechtsphilosophie eine Theorie, wie ich sie nennen möchte, universaler Empörung. Eine Theorie der Empörung, die gerade heute aktueller ist als man mit Blick auf die Rechtsphilosophie gewohnt ist, zu denken. Diese Aktualität ergibt sich daraus, dass es sich nicht nur um eine Theorie der Empörung handelt, die sich bei Hegel aufweisen lässt, sondern diese überdies einen universalen Anspruch – der auch für die Praxis gilt – mittransportiert. Ich werde im Folgenden dieser Verbindung von Theorie und Praxis unter dem Namen „Empörung“ nachgehen, um so Anhaltspunkte und Indizien zu liefern, wieso gerade der rechtsphilosophische Hegel heute von gesteigerter und nicht von verminderter politischer Relevanz ist oder sein sollte. Die Frage, die das Experiment folglich beantworten soll, lautet demgemäß: wie fasst – explizit wie im25 Hegel – wie später auch immer wieder die Psychoanalyse – wurde genau dafür dann wiederum als ein totalitärer und sich immunisierender Denker kritisiert. So etwa die Position von Popper. Vgl.: Was ist Dialektik?, in: Popper, Karl Raimund: Vermutungen und Widerlegungen, Tübingen, 2009, S. 501 ff. 26 Vgl. für die These, dass Hegel Lesen immer ein „experimentierendes Verfahren ist“: Adorno, Drei Studien, S. 373. 27 Vgl. Hessel, Stéphane: Empört Euch!, Berlin, 2011.
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plizit – Hegel seine Theorie eines universalen, politischen Affekts, der den Namen „Empörung“ trägt? Noch ein Wort vorab zu den Konturen dieses Experiments, eine Erweiterung der experimentellen Anordnung: Jacques Lacan hat einmal denjenigen Affekt, den er als universalen ansah, und dies in gewisser Weise im Anschluss an Heidegger,28 als den Affekt der Angst bestimmt. Dieser ist (zumindest) über vier Merkmale charakterisiert.29 1. Angst hat man nicht, das unterscheidet wie bei Heidegger (und ebenso bei Freud)30 die Angst von der Furcht vor einem Objekt. Ich kann wegen eines Hundes, eines Tigers in der S-Bahn oder eines Manns mit Eishockey-Maske und Machete Furcht empfinden, aber Angst habe ich nicht im gleichen Sinne ,vor‘ etwas, das mir in der Welt begegnet. Angst bezieht sich vielmehr auf die grundlegenden Koordinaten dessen, was mir überhaupt Objekte als Objekte, etwa die Wirklichkeit als Wirklichkeit usw. erscheinen lässt. Angst betrifft also mich in einer Weise, die fundamentaler ist als die der Furcht.31 2. Deswegen ist die Angst mit einer Einsicht in die Nicht-Notwendigkeit der Dinge, der Welt, so wie sie für mich ist, verbunden. Die Angst lässt mich etwas erfahren, was gerade an der Konsistenz meines Bezugs zur Welt und Wirklichkeit als solcher rüttelt. Furcht hat man in Beziehung vor etwas, das in den bereits etablierten Beziehungen (zur Welt) auftaucht (Tiger, usw.). Angst richtet sich hingegen auf die Beziehungshaftigkeit überhaupt. Sie verweist darauf, dass keine Beziehung notwendig, unabänderlich ist, d. h. dass sie nicht so sein muss, wie sie eben ist. Angst geht einher mit einer Erfahrung von Nicht-Notwendigkeit und Inkonsistenz. 3. Ist die Angst genau deswegen, weil ihr jegliche objektive, Objekt-gebundene Dimension abgeht, ein Affekt, der niemals täuscht. Sie täuscht niemals, weil man sie nicht objektiv falsifizieren oder verifizieren könnte. Angst hat man, wenn man Angst hat.32 Deswegen ist sie nicht zu kommunizieren, denn was man kommuniziert, wenn man Angst Ausdruck verleiht, ist nichts anderes als ein rein subjektiver und dennoch absolut gewisser Affekt, der objektiv nicht zu verifizieren ist. Dies ist wiederum bei der Furcht verschieden, ganz gleich wie irrational diese auch sein mag.
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Vgl. dazu: Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen, 1963, S. 184 ff. Ich entnehme diese Bestimmungen Lacan, Jacques: Die Angst. Das Seminar, Buch X. Wien, 2011. 30 Vgl. etwa: Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und neue Folge, Frankfurt am Main, 2000, S. 380 – 397. 31 Freud konturiert diese Unterscheidung so, dass er zeigt, inwiefern die Furcht immer mit einem Fluchtimpuls verbunden ist (Flucht vor dem Tiger etwa), die Angst, weil sie in intimerer Weise mich betrifft, den gleichen Impuls teilt, jedoch im gleichen Moment die Flucht verunmöglicht. 32 Diese scheinbare Tautologie ist keine. Denn sie bestätigt eine nahezu Cartesianische Einsicht in die absolute Gewissheit der Angst im affektiven Zustand der Angst. 29
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4. Ist die Angst, wie Lacan dialektisch spitzfindig beobachtet, dennoch nie ohne Objekt.33 Das Objekt der Angst ist aber kein Objekt der Welt, sondern gerade die Beziehung zur Welt überhaupt und damit ist das Objekt der Angst das Subjekt der Angst selbst: ich habe Angst nicht ,vor‘ mir, sondern um mein Subjekt-Sein überhaupt, d. h. Angst betrifft Beziehung als solche. Ich führe diese Bestimmungen hier an, weil ich im Folgenden aufweisen möchte, dass die Hegelsche Theorie der Empörung eine der Lacanschen Bestimmung der Angst vergleichbare Struktur hat. Hegel bestimmt Empörung so, dass sie nicht Empörung über etwas ist, d. h. über eine besondere Ungerechtigkeit, eine objektive Gegebenheit der Welt, sondern über die Art und Weise, wie sich die Welt überhaupt eingerichtet und aufgerichtet findet. Genauer gesagt: Empörung ist für Hegel immer eine über eine Welt, in der es überhaupt Empörung gibt. Er bestimmt überdies Empörung so, dass sie deswegen die Nicht-Notwendigkeit der Welt, wie sie ist, markiert, denn wäre die Welt notwendig, so wie sie ist, wäre in derselben keine Empörung. Empörung wird aber damit zu einem Affekt, der nie täuscht, denn sobald Empörung ist, empört sich Empörung über die Existenz ihrer selbst (Empörung ist ein reflexiver Affekt) und damit letztlich über die Position, genauer: über die Existenz der Position desjenigen, der sich empört. Ich beginne hier das Experiment. Zu diesem Zwecke möchte ich auf etwas zurückkommen, das mich lange beschäftigt hat und immer noch tut. Hegel gibt diesem „etwas“ den Namen „Pöbel“.34 Hegel weist in seiner Rechtsphilosophie nach, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft ab einem bestimmten geschichtlichen Moment ihrer ökonomischen Entwicklung nicht länger in der Lage ist, ihr eigenes Prinzip widerspruchsfrei aufrechtzuhalten. Gilt für jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, dass es seine eigene Subsistenz durch je eigene Arbeit zu erwerben hat, dann lässt sich Hegels Diagnose grundsätzlich so verstehen, dass die bürgerliche Gesellschaft in den Widerspruch gerät, dass sich in ihr alle durch eigene Arbeit erhalten können sollen oder mehr noch: müssen, sie jedoch zugleich verunmöglicht, dass sich alle durch Arbeit erhalten können. Kurz: die bürgerliche Gesellschaft bringt Armut hervor. Armut bestimmt Hegel als Zustand in dem alle Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft verloren gegangen sind, alle Bedürfnisse aber weiterhin Bestand haben. Obgleich Hegel eine Reihe von unterschiedlichen Vorschlägen zur Lösung der modernen Armutsfrage anbietet (zu nennen wären die Versorgung der Armen durch die bürgerliche Gesellschaft, die Bettelei, das Notrecht, die Kolonisation, die öffentliche Arbeit, die Korporation und 33
Im Französischen kann man dies in die Formulierung „l’angoisse n’est pas sans objet“ fassen. Diese impliziert nicht nur den Verweis auf das französische Wort für Schritt „pas“, sondern ebenso auf die phonetische Nähe zwischen „pas sans objet“ und „passant objet“, zwischen dem „nicht-ohne Objekt“-Sein der Angst und dem eigentümlichen Status dieses Nicht-Ohne-Objekts, welches einem passierenden, einem flüchtigen Objekt gleicht (Lacans Beispiele dafür sind u. a. der Blick oder die Stimme). Dazu auch das herausragende Buch von Dolar, Mladen: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt am Main, 2007. 34 Eine ausführliche Untersuchung des Pöbels in der Rechtsphilosophie habe ich vorgelegt in: Ruda, Frank: Hegels Pöbel.
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die Polizei),35 führen sie alle, und dies ist Hegels Einsicht, nicht zur prinzipiellen Behebung des Armutsproblems, sondern bringen vielmehr das noch größere Problem zu Tage, welches Hegel unter einem ungewöhnlich scheinenden, aber sehr präzisen Namen, nämlich dem des „Pöbels“ zu fassen sucht. Schlägt er etwa vor, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie auf den öffentlichen Bettel anzuweisen, dann bemerkt er kurz darauf, dass jeder Mensch, der einmal gebettelt hat, bald die Gewohnheit zu arbeiten verliert und einen Anspruch zu haben glaubt, ohne solche zu leben.36 Der Arme würde auf diese Weise zum Pöbel. Der Pöbel ist damit, in einer ersten Bestimmung, der Arme, der mehr verloren hat als nur sein Eigentum, nämlich auch noch die Einsicht in die Notwendigkeit der Arbeit und die Ehre, seine Subsistenz durch eigene Tätigkeit zu besorgen. Armut als notwendiges Produkt der ökonomischen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft stellt somit die konstant gegebene Bedingung der Möglichkeit der Emergenz des Pöbels, einer faulen, ehrlosen Existenz dar. Obwohl Hegel den Pöbel durch eine Reihe weiterer Verluste kennzeichnet, die zur Armut hinzukommen – etwa ist er arbeitsscheu, schamlos, faul und ehrlos – ist er doch zugleich keine notwendig ableitbare Konsequenz aus dem Zustand der Armut. Man muss hier eine Bestimmung absolut ernst nehmen, die Hegel dem Pöbel gibt. Denn dieser, wie Hegel sagt, macht sich anders als der Arme, ich zitiere Hegel: „von selbst.“37 Armut ist ein notwendiges Produkt der geschichtlich sich spezifizierenden und ausdifferenzierenden Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft – und damit nicht individuellem Verschulden geschuldet, auch wenn sie dies im Einzelfall sein kann. Armut gibt es, so Hegels weitreichende Pointierung, weil die Gesellschaft eben so funktioniert, wie sie funktioniert. Fredric Jameson hat kürzlich – in einer genauen Lektüre des ersten Bands von Marx’ Kapital – nachgewiesen, dass Hegel damit recht hat, indem er gezeigt hat, dass das Problem kapitalistischer Gesellschaften gerade das der Arbeitslosigkeit ist,38 d. h. ein Problem, das sich daraus ergibt, nicht die Subsistenzsicherung aller sichern zu können, obwohl dies ihr expliziter Anspruch ist. Dies ist bereits Hegels Einsicht. Entscheidend ist aber, dass, wenn Armut ein Produkt der Gesellschaft ist und der Pöbel sich selbst macht, die Armen und der Pöbel unterschieden sind.39 Denn der Pöbel emergiert allererst, wenn zufällig zur notwendig gegebenen Bedingung, d. h. der Armut, eine subjektive Gesinnung, 35
Dazu ebd., S. 37 – 60. Hegel fasst das wie folgt: „Ein Mensch, der einmal gebettelt hat, verliert bald die Gewohnheit zu arbeiten, und er glaubt einen Anspruch darauf zu haben, ohne Arbeit zu leben.“ Hegel, Die Philosophie des Rechts, S.220. 37 Hegel, Grundlinien, S. 389. 38 Vgl. Jameson, Fredric: Representing Capital. A Reading of Volume One, London/New York, 2011. 39 Man kann sagen, dass Hegel hier die häufig von orthodoxen Marxisten geleugnete – und dennoch vorhandene – Unterscheidung von Arbeiterklasse und Proletariat bei Marx antizipiert. Zu letzterer vgl. Ruda, Frank: Humanism Reconsidered, or: Life Living Life, in: Filozofski Vestnik, Vol. XXX, No. 2, 2009, S. 175 – 193. 36
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die den Pöbel auszeichnet, hinzukommt. Diese Gesinnung bezeichnet Hegel mit dem Namen „Empörung“. Bevor ich aber zu dem eigentümlichen Inhalt oder vielleicht genauer: der eigentümlichen Form dieser Gesinnung komme, kann man hier bereits festhalten: Ist für Hegel die Armut notwendiges Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und d. h. ist Armut nicht von individuellem Verschulden abhängig, dann ist in ihr jedes ihrer Mitglieder latent arm. Das soll heißen: Wenn jeder arm werden kann, ohne dass er es selbst verschuldet, ist ein jeder latent arm. Geht nun aber der Pöbel zufällig durch die hinzukommende Gesinnung am Armen hervor, so kann man ableiten, dass sich ebenso jeder Arme zum Pöbel machen kann. Jeder Beliebige, jeder, der in der bürgerlichen Gesellschaft ist, ist damit latent arm und latent Pöbel oder besser: wird latent arm und latent Pöbel gewesen sein. Wieso aber diese eigentümliche Zeitlichkeit des Futur II? Dies hat einen simplen Grund: Denn die logische Einsicht, dass es diese Latenz gibt, die erste Latenz, dass jeder arm und die zweite, dass jeder Pöbel gewesen sein wird, ergibt sich erst dann und nur dann, wenn man von dem Erscheinen, oder genauer: der Emergenz des Pöbels ausgeht. Sie ist eine retroaktive Einsicht und die Zeitlichkeit der Retroaktivität ist die des Futur II. Diese Einsicht in die universale Pöbelhaftigkeit eines jeden, einer jeden in der bürgerlichen Gesellschaft fasse ich kurz als Logik der doppelten Latenz. Sie ist verknüpft mit der Emergenz des Pöbels und diese Emergenz ist gebunden an das, was Hegel Empörung nennt. Nun qualifiziert Hegel, vorsichtig formuliert, den Inhalt der empörten Pöbelgesinnung, die latent die eines jeden ist, wie folgt: Der Pöbel spricht dem Staat und allen seinen Institutionen die Legitimität ab. Der Pöbel disqualifiziert die bestehenden Verhältnisse in ihrer Vernünftigkeit. Diese Bemerkung kann man so verstehen, dass sie eine Unterscheidung zweier Pöbelmodalitäten ermöglicht. Auch Hegel statuiert dies. Denn er hält fest, dass es auch reichen Pöbel gibt.40 Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel ständisch organisiert und die Partizipation an einem Stand ist für einen jeden notwendig, anders lässt sich die jeweilige Subsistenz nicht besorgen. So wird für Hegel aber jeder, der außerhalb des Standes steht, zu einer bloßen Privatperson. Die Privatpersonen unterscheiden sich nun in zwei Kategorien: es gibt Arme und es gibt Spieler.41 Jeder Beliebige kann unwillkürlich arm werden, Spieler hingegen kann nur derjenige werden, der aufgrund einer willkürlichen Entscheidung seine selbstsüchtigen Interessen nicht durch Arbeit befriedigen will, sondern sich gänzlich auf die zufällige Bewegung der bürgerlichen Ökonomie verlässt und dabei erhofft, ebenso zufällig – etwa durch einen Gewinn an der Börse – seine Subsistenz sichern zu können. Wenn sich nun zufällig ein solcher Gewinn einstellt, so wird der Spieler notwendig zu dem, was ich den Luxus-Pöbel nenne. „Luxus“ ist Hegels Name42 in der Rechtsphilosophie für folgende weitreichende These: Jeder Reichtum außerhalb der Korporation und des Standes ist Eigentum des reichen Pöbel. Dass dem Luxus40
Vgl. Hegel, Die Philosophie des Rechts, S. 222. Dazu ausführlich: Ruda, Hegels Pöbel, S. 65 – 95. 42 Vgl. dazu Hegel, Die Philosophie des Rechts, S. 229. 41
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Pöbel, der auch allen bestehenden Institutionen das Recht und die Legitimität abspricht, außer der einen, auf der seine Existenz beruht, nämlich gerade der willkürlichen Dynamik des Marktgeschehens, die ihn zu dem gemacht hat, was er ist; dass ihm Hegels These nicht gefallen kann, liegt in der Natur der Sache. Der Luxus-Pöbel ist damit grundsätzlich durch das bestimmt, was ich die Logik der doppelten Zufälligkeit nenne, die jeden Beliebigen betrifft, der sich 1. Willkürlich außerhalb des Standes stellt und auf das Glückspiel der Ökonomie verlässt und 2. zufällig in diesem einen Gewinn erheischt. Betrifft die Logik der doppelten Latenz, die für den armen Pöbel gilt, latent jeden Beliebigen, so die Logik der doppelten Zufälligkeit immer nur denjenigen, dessen willkürliche Gesinnung in das Spiel der Zufälligkeiten treibt und der in diesem zufällig sich einen Gewinn sichern kann. Diese betrifft folglich nur diejenigen, die sich willkürlich für das zufällige Spiel entschieden, zufällig gewinnen und nur so lange sie gewonnen haben und ihren Gewinn nicht wieder verlieren. Nun formuliert Hegel eine Kritik an sowohl reichen wie armen Pöbel, ich aber möchte, ein Wort von Slavoj Zˇizˇek aufnehmend, behaupten, dass man an dieser Stelle hegelianischer sein sollte als Hegel dies selbst war. Denn will Hegel die Position des Pöbels überhaupt als Position einer unvernünftigen Partikularität kritisieren, die ihre bloß besonderen Interessen gegen das bestehende und vernünftig organisierte Allgemeine selbstsüchtig geltend macht und dabei in Widersprüche gerät, dann kann man zeigen, dass es allein der reiche Pöbel ist, über den Hegel zu Recht urteilt, ein bloß partikularer zu sein, der arme hingegen enthält, gegen Hegels Einschätzung, als Partikularität eine latent universale Dimension, die noch der Allgemeinheit der Hegelschen Sittlichkeitskonzeption, die er anführt, um die Widersprüche der bloßen Partikularitäten zu überwinden, nicht nur in nichts nachsteht, sondern diese übertrifft. Aber ausgehend von dieser Unterscheidung zweier Pöbeltypen kann man nun auch die inhaltliche Seite der Gesinnung des armen Pöbels, die Hegel als Empörung beschreibt, in den Blick nehmen. Als kurze Anmerkung: Obwohl es scheint als würde Hegel dem reichen Pöbel ebenfalls Empörung zuschreiben, so reserviert er ihr jedoch eine andere Bestimmung, nämlich die der Verdorbenheit. Ich lasse deswegen hier die Gesinnung des reichen Pöbels außer Acht und wende mich der des armen Pöbels zu, da nur mit diesem die universale Dimension verbunden ist, um die es mir hier zu tun ist. Nur der arme Pöbel ist empört. Einerseits empört er sich über die eigene Bedingung der Möglichkeit, d. h. er empört sich über die Armut, um daraus andrerseits die Konsequenz zu ziehen, dass ein sittliches Gemeinwesen, welches die Hervorbringung dieser Bedingung nicht unterbindet, selbst nichts anderes als ein unrechtmäßiger Verbund selbstsüchtiger Interessen ohne vernünftige, d. h. wirkliche Allgemeinheit ist. Der weitere und vertiefende Verlust, der den Pöbel gegenüber der Armut markiert, führt dazu, dass deswegen, wie Hegel schreibt, voller „innere[r] Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung, usw.“43 ist – und dieses „usw.“ am Ende von Hegels Reihung ist entscheidend, da es eine unbestimmt-endlose Reihe der, sagen wir für den Mo43
Hegel, Grundlinien, S. 389.
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ment, „Gegenstände oder Ziele“ der Empörung markiert: Warum aber der Pöbel sich empört, sollte auch deutlich sein, nämlich wie Hegel formuliert, weil er sich „in einem Zustand der Rechtlosigkeit“44 zu befinden dünkt, der dennoch als ein Zustand des Rechts ausgegeben wird. Markiert also Hegel einerseits deutlich, dass die bürgerliche Gesellschaft notwendig zur widersprüchlichen Produktion von Armut getrieben ist und wird, so kann Hegel – und hier sollte man hegelianischer sein, als er selbst es war – diesen Widerspruch zugleich nicht so verstehen, wie Hegels eigener Beschreibung zufolge der Pöbel ihn deutet, nämlich als ein Unrecht. Hegel stellt einerseits fest, dass Armut einen Zustand des Mangels an Möglichkeiten zur Verwirklichung der eigenen Freiheit bezeichnet – er hatte etwa früh die Armut als „Unmöglichkeit, etwas vor sich zu bringen“45 bestimmt. Dass dieser Mangel, die Unmöglichkeit (der Realisierung der Freiheit) sowohl unabdingbar, d. h. notwendig ist, als auch künstlich hervorgebracht, müsste ihn, nach Hegels Kategorien eigentlich zu einem Unrecht machen. Diese Konsequenz kann Hegel andrerseits jedoch nicht ziehen. Er kann Armut nicht als Unrecht verstehen, da er ansonsten zugestehen müsste, dass die bürgerliche Gesellschaft, die „Erscheinungswelt des Sittlichen“46 in toto nicht anderes, denn ein gigantischer Unrechtszusammenhang ist; ein Zusammenhang, der beständig die Unmöglichkeit produziert, das Prinzip, auf dem er aufruht, in allgemeiner Weise, d. h. für alle aufrecht zu halten. Der Pöbel aber scheut sich nicht vor der Konsequenz, die Hegel scheut, und folgert aus der Empörung über die bestehenden Verhältnisse, aus der Unmöglichkeit gerade ein Recht beanspruchen zu können, ohne Arbeit zu subsistieren, weil er de facto nicht arbeitend subsistieren kann. Ein solches Recht aber kann nun wiederum Hegel nur unvernünftig erscheinen, da er den Begriff des Rechts mit dem des freien Willens verbindet, der nur ein solcher sein kann, wenn er sich selbst durch Tätigkeit objektiv gegenständlich wird. Ein Recht auf Subsistenz ohne Tätigkeit zu beanspruchen und zugleich dieses Recht für sich allein in Anspruch zu nehmen, bedeutet für Hegel demgemäß ein Recht zu beanspruchen, das weder die Allgemeinheit noch die objektive Geltung eines Rechts haben kann. Das Recht, das der Pöbel beansprucht, ist für Hegel daher ein Recht ohne Recht – d. h. es besitzt für ihn weder den Charakter der Allgemeinheit noch der Vernünftigkeit – und er bestimmt in der Folge den Pöbel als diejenige Partikularität, die sich damit auch noch vom wesentlichen Zusammenhang von Recht und Pflicht entbindet.47 Jedoch ist aufgrund der angeführten Logik der doppelten Latenz deutlich, was Hegel dem Pöbel nicht zugestehen will: dass das von ihm 44
Hegel, Die Philosophie des Rechts, S. 222. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805 – 1806, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Berlin, 1969, S.232. 46 Hegel, Grundlinien, S. 338. 47 Vgl. Hegels Bemerkung: „[M]acht der Mensch sich selber rechtlos und hält sich auch der Pflichten entbunden, […] dies ist dann der Pöbel.“ Hegel, Die Philosophie des Rechts, S. 222. 45
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angerufene Recht ohne Recht eine latent universale Dimension enthält und keineswegs bloß partikular bleibt. Es ist damit als partikular artikuliertes, ein Recht, das jeden Beliebigen latent betrifft, und gibt so den Blick frei auf eine Forderung nach Gleichheit jenseits der bestehenden, objektiven staatlichen Verhältnisse. Mit dem Pöbel emergiert damit eine Forderung eines Rechts ohne Recht, die Hegel widersprüchlicher nicht erscheinen könnte, da sie sich unmittelbar auf die Gleichheit eines jeden Beliebigen richtet und noch von der Dimension des Rechtlichen und Staatlichen abtrennt. Was meint aber all dies für die Bestimmung der Empörung, die Hegel gibt? Zunächst ist sie nicht Ausdruck von Frustration, etwa eines Mangels an Selbstrespekt.48 Sondern genau im Gegenteil: Empörung ist vielmehr Ausdruck von Selbstrespekt. Da der Pöbel notwendig als Teil des sozialen Prozesses der (Re-)Produktion des Reichtums und der Subsistenzen produziert wird, ist es die Gesellschaft selbst, die ihm das Recht zur Teilnahme am sozialen Universum der Freiheiten und Recht verwehrt – ihm wird das Recht, Rechte zu haben, verwehrt; sein Recht ohne Recht ist eigentlich eine Art Meta-Recht oder zumindest ein Reflexiv-Werden des Rechts, ein, wie Zˇizˇek formuliert hat, universales Recht, Rechte zu haben, in der Position zu sein, als ein freies autonomes Subjekt zu handeln. Die Forderung, ein Leben ohne Arbeit ermöglicht zu bekommen, ist folglich eine (möglicherweise oberflächliche) Form der Erscheinung der grundlegenderen und in keiner Weise ,unvernünftigen‘ Forderung, eine Chance zu bekommen, als ein autonomes, freies Subjekt zu handeln, in das Universum der Freiheiten und Verpflichtungen eingeschlossen zu sein.49
Der Pöbel misst die bürgerliche Gesellschaft an dem allgemeinen Anspruch, der aus ihrer eigenen Natur erwächst, den sie aber zugleich aufgrund des ihr eingeschriebenen Mangels nicht aufrechterhalten kann. Wenn die Hervorbringung der armen Massen unausweichlich und unabstellbar zur Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft gehört, dann geht mit ihrer Existenz die Möglichkeit der Empörung über diese Existenz einher. Der Pöbel empört sich über die exzessiven widernatürlichen Effekte der ökonomischen Bewegung der Gesellschaft, da in und an ihnen deutlich wird, dass der Rechtsanspruch auf Subsistenz aller Einzelnen sich nur aufrechterhalten lässt unter der rückwirkend sichtbar werdenden Voraussetzung der konstanten Entrechtung großer Massen verarmter Einzelner. Die Möglichkeit, das Recht auf Subsistenz aller zu erhalten, bedeutet innerhalb der Gesellschaft zugleich die Unmöglichkeit, das Recht auf Subsistenz für alle zu gewährleisten. Diese kontingente Einsicht in die Widernatur ist es, die den Pöbel und seine ihm eigene Empörung generiert.
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tun. 49
Man hat es hier also nicht bloß mit einer Form sozio-politischer „Versagung“ (Freud) zu Zˇizˇek, Slavoj: Die Politik der Negativität. Vorwort, in: Ruda, Hegels Pöbel, S. 15.
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Die Empörung ist, wie Hegel in seinen Vorlesungen festhält, eine „rechtlose Gesinnung“,50 deswegen verbinde ich sie mit einem Recht ohne Recht. Das meint, das sich die dialektische Struktur des Pöbelproblems wie folgt beschreiben lässt: Wahrhaft existiert in der bürgerlichen Gesellschaft nur, was durch Arbeit und Tätigkeit vermittelt ist; dennoch bringt ihre eigene Dynamik etwas hervor, das unmöglich durch Arbeit und Tätigkeit vermittelt sein kann; die Empörung, die über diesen strukturellen Mangel entstehen kann und Empörung über ihre eigene Widernatur ist, kann ihr selbst nur als widernatürlich erscheinen. In der anklagenden Empörung des Pöbels vernimmt die bürgerliche Gesellschaft nichts als die widernatürliche Stimme, die sie selbst erzeugt, oder genauer: entbunden hat. Der Pöbel wird somit zur widernatürlichen Entbindung der und von der bürgerlichen Gesellschaft und erscheint ihr als widernatürliche Empörung. Doch ist diese Empörung, die sich gerade gegen die Natur der bürgerlichen Gesellschaft richtet, wie gerade die Logik der doppelten Latenz zeigt, selbst gekoppelt an eine universale Dimension; jeder ist latent arm und jeder Arme kann sich zum Pöbel machen: er wird für Hegel dann zum (armen) Pöbel, wenn er sich empört. Die Pöbel-Empörung ist also (latent) universale Empörung und sie ist gerade in dieser Dimension gebunden an das Recht ohne Recht, das sich in dieser Empörung ausspricht, das der Inhalt und die eigentümliche Form der Empörung darstellt. Hier gilt es erneut festzuhalten, dass die Empörung, diese scheinbar rechtlose, weil in den bestehenden Kategorien des Rechts nicht zu fassende Gesinnung, sich auf die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit richtet. Empörung ist so Empörung über die Empörung,51 über die Bedingung der Möglichkeit, sich überhaupt empören zu können. Damit richtet sie sich nicht auf ein Objekt der Welt, sondern auf die Welt, wie sie ist, d. h. auf die Welt, die es möglich macht, dass es in ihr Empörung gibt. Empörung ist damit eine Form der Subjektivierung eines Unrechts, das als solches durch die objektiv bestehenden Kategorien des Rechts nicht zugestanden wird, weil es die Konstitution der Welt überhaupt betrifft. Hier ist es wichtig daran zu erinnern, dass sich der Pöbel von selbst macht, d. h. seine Emergenz radikal kontingent ist. Denn werden arme Massen notwendig durch die allgemeine Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft erzeugt, dann generiert sich die Empörung über diese Armut, die 50 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie, 1818 – 1831, hrsg. und kommentiert von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973 ff., Bd. 3: Philosophie des Rechts. Nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Hotho 1822/1823, S. 703. 51 Wenn die Rede von politischen Affekten überhaupt einen Sinn haben mag, dann nur – so möchte ich hier nahelegen –, wenn jeglicher politischer Affekt eine solche reflexive Struktur hat. Ansonsten spricht man nicht von einem (politischen) Affekt, sondern von einem Gefühl – und Hegel hat zurecht bemerkt: „Wenn ein Mensch sich über etwas nicht auf die Natur und den Begriff der Sache oder wenigstens auf Gründe, die Verstandesallgemeinheit, sondern auf sein Gefühl beruft, so ist nichts anderes zu tun, als ihn stehenzulassen […].“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 10, S. 248.
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den Grund des armen Pöbels angibt, zufällig. Man kann deswegen, wie ich behaupten möchte, von der Empörung als dem sprechen, was Adorno einmal ,das Hinzukommende‘ genannt oder was man in einer anderen Diktion als Subjektivierung einer Unmöglichkeit – der Unmöglichkeit, etwas vor sich zu bringen – beschreiben kann: Subjektivierung einer in dem Falle, den Hegel in der Rechtsphilosophie mit dem Namen Pöbel beschreibt, Unmöglichkeit, die eigene Freiheit unter den gegebenen Bedingungen zu realisieren. Empörung ist somit als der notwendige Inhalt oder genauer: die notwendige Form einer kontingenten Gesinnung bestimmt, die sich auf die Notwendigkeit der eigenen Möglichkeit richtet. Und genau dieses Ineinander von notwendiger Möglichkeit der Empörung, d. h. Armut, und kontingenter Genese der Gesinnung sichert deren Universalität. Empörung ist, zumindest latent, die Empörung jedes Beliebigen. Wer empört ist, ist, um es Kantisch zu sagen, deswegen auch bei Hegel Stellvertreter der ganzen Menschheit. Deswegen täuscht sie einerseits nie und kann andererseits zu einer wichtigen Kategorie eines politischen Universalismus werden. Sie kann dies aber nur, wenn man, anders als Hegel denkt, sie nicht nur rein negativ bestimmt, sondern gerade ihre latent universelle Dimension betont, deren positive Formulierung das Recht ohne Recht beschreibt. Hegel ist, wie sich aus dem expliziten Gang der Argumentation der Rechtsphilosophie entwickeln lässt, ein Theoretiker universaler Empörung. Interessant ist dabei noch zu bemerken, dass er das Wort „Empörung“ in zweierlei Weise verwendet. So nutzt er es sowohl als affektive Bestimmung der Pöbelgesinnung – und das macht sie der Lacanschen Bestimmung der Angst vergleichbar – und aber auch, etymologisch unrichtig, in der Bedeutung von Aufstand, Aufruhr. Etwa wenn er schreibt: „Wenn in einer im Kriege eroberten Provinz ein Aufstand geschieht, so ist dies etwas anderes als eine Empörung in einem wohlorganisierten Staat.“52 Er macht in der Folge deutlich, dass gerade Letzteres ein veritables „Staatsverbrechen“53 darstellt. Ein Verbrechen gegen die Konsistenz der sozialen Bindungen – Pflichten und Rechte –, die den Staat zum Staat machen, ein Angriff auf die Welt, so wie sie ist. Das zeigt aber an, dass gerade die Empörung nicht, wie man zunächst denken könnte, einfach eine Bestimmung der innerlichen Gesinnung bliebe und ohne äußerliche Effekte. Der Pöbel empört sich über den Staat und die bestehende Ordnung affektiv. Dies führt ihn dazu, ein Recht ohne Recht zu beanspruchen, das das Moment einer absoluten und vollständigen Entbindungsbewegung von dem Begriff des Rechts, dem sozialen Band usw. darstellt und in letzter Konsequenz kann man so gerechtfertigter Weise von der „Empörung über“ (die Bedingungen der Möglichkeit der Empörung) zur „Empörung gegen“ (die Reproduktion und Aufrechterhaltung derselben) übergehen. Die Empörung über die Welt hebt sich – Münchhausens Befreiung aus dem Sumpfe gleich – empor zur Empörung gegen die Welt, die diese in Aufruhr versetzt. Die Empörung-gegen richtet sich gegen den Staat, die Ordnung, die Welt, wie sie ist. Empörung ist bei Hegel so ein anti-staatlicher, ein wortwörtlich a-sozialer und 52 53
Hegel, Grundlinien, S. 454. Ebd.
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(nur) deswegen: ein politischer Affekt. Das ist, was Hegel mit seinem zweideutigen Gebrauch der Empörung aufzeigt: Man kann auch sagen, dass der wahrhafte empörte Aufstand des Pöbels die empörte Entbindung von der scheinbaren Notwendigkeit der Welt, so wie ist, ist. Oder anders, Empörung geht ganz wie die Lacansche und in gewisser Weise auch wie die Heideggersche Angst mit einem Effekt der De-naturalisierung alles Bestehenden einher.54 Alles, was uns so scheint als könnte es nicht anders sein, zeigt sich in seiner Nicht-Notwendigkeit und Kontingenz, deren Ausdruck gerade die Unmöglichkeit ist, die die Empörung subjektiviert. Denn die Empörung des Pöbels drückt, um es in klassischeren Begriffen zu sagen, den Widerspruch zwischen Begriff und Realität, etwa zwischen dem Begriff des Rechts und der Realität des Rechts und der ihm eingetragenen Entrechtung der Armen, zwischen dem Begriff des freien Willens und der Realität seiner Realisierung aus. Hegel hatte schon in der Realphilosophie die innere Empörung als die durch die „Ungleichheit des Reichtums und der Armut“ hervorgebrachte „höchste Zerrissenheit des Willens, innere Empörung und Hass“55 bestimmt. Damit bezeichnet die Empörung aber nicht bloß die subjektive Ansicht der sich verpöbelnden Armen gegenüber den Reichen, sondern gerade überhaupt die Möglichkeit der Spaltung, der Trennung von Armut und Reichtum selbst. Empörung ist nicht der Hass der Armen auf die Reichen, sondern das, was sich generiert findet, wenn diese Spaltung in Arme und Reiche zu einem die Welt strukturierenden Prinzip wird. Empörung wird so in ihrer universalen Dimension zum Namen eines Affekts, der für das Zerreißen des sittlichen Bandes steht. Warum? Weil es, wenn es solche Trennungen gibt, bereits zerrissen ist. Deswegen beschreibt Hegel die Empörung auch als höchste Zerrissenheit – als Scheitern des Sozialen, das aber zugleich einhergeht mit einer Einsicht in eine fundamentale und universale Dimension, die nicht mehr im Sozialen gründet, sondern in einer Unmöglichkeit (und damit in einer Politik). Um an dieser Stelle – plötzlich – mit einer Frage zu enden: Lacan beschreibt den Affekt der Angst als notwendige Bedingung von Veränderung (als Einsicht in die Nicht-Notwendigkeit der Welt) und bestimmt diese so, dass die Unfähigkeit, die mit dem Affekt der Angst einhergeht,56 zu einem Punkt der Unmöglichkeit gebracht werden muss. Das ist genau die Lacansche Bestimmung der psychoanalytischen Kur. Alain Badiou hat diesen Übergang ebenfalls in Begriffen des Affektes einmal so for54 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Strukturanalogien zwischen Hegels Bestimmung der Empörung und der Lacanschen Bestimmung der Angst. Eine ausführliche Untersuchung dieses Verhältnisses, das weniger den objektiven Geist, sondern vielmehr die Logik betrifft, ist Teil eines gemeinsamen Projektes mit Rebeca Comay, das den Titel: „The Dash“ trägt. Erste Ergebnisse dessen habe ich vorgelegt in Ruda, Frank: Hegel’s First Words / Heglove prve besede, in: Problemi 3 – 3 / 2013, S. 29 – 83. 55 Hegel, Jenaer Realphilosophie, S. 232 f. 56 In einem Zustand der Angst ist jedes Subjekt handlungsunfähig, d. h. Angst destituiert das Subjekt der Angst, wie schon Freud festgehalten hat. Vgl. dazu Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst, in: Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt am Main, 2000, S. 227 – 310.
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muliert, dass es darum ginge, von der Angst zum Mut zu kommen.57 Von dem Moment, der Einsicht in die Nicht-Notwendigkeit zur Affirmation einer bestimmten Forderung oder vielleicht genauer: zur Bejahung einer Präskription. Hegel vereint beides unter der Empörung, die mit dem Recht ohne Recht auf Subsistenz verbunden ist. Die Frage, die sich hier aber dennoch stellt ist die folgende: wenn Empörung, wie Hegel sie denkt, eine latent universale, aber nicht aktual universale Dimension hat, wird es dann nicht nötig, den Übergang von der Latenz in die Aktualität zu denken? Und zwar als einen Übergang, der nicht einfach nur eine Möglichkeit realisiert – denn die Empörung entspringt ja einer Unmöglichkeit? Anders gefragt: Wenn es einen Übergang von Angst zu Mut geben kann oder sogar geben muss, um nicht in Handlungsunfähigkeit zu verharren, welcher Affekt könnte (logisch) auf die Empörung folgen? Ohne dies an dieser Stelle weiter ausführen zu können, möchte ich mit einer Vermutung enden: der Affekt, der ein guter Kandidat dafür zu sein verspricht, ist wohl kein anderer als der des Enthusiasmus. Der Übergang, den es mit Hegel dann zu denken gälte, um eine Veränderung der Welt zu denken, wäre dann der von Empörung zu Enthusiasmus. Dieser Übergang – diese Passage – wäre dann nicht allein Indikator von Veränderung, sondern wäre zugleich mit dem Erscheinen eines neuen Subjekts verbunden, das mutig bereit wäre, die Angst zu durchqueren. Von der Empörung zum Enthusiasmus könnte dann auch eine Formel dafür sein, was es mit Hegel bedeuten könnte, denen Angst zu machen, die die Welt so einrichten, wie sie jetzt gerade ist.
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Vgl. Badiou, Alain: Wofür steht der Name Sarkozy?, Berlin/Zürich, 2008.
Eine unsittliche Sittlichkeit Hegels Kritik an der indischen Kultur Vittorio Hösle In dankbarer Erinnerung an meinen verehrten Lehrer Herrn Prof. Dr. Paul Thieme (1905 – 2001)
Dass das Begriffspaar „Moralität“ und „Sittlichkeit“ auf Hegel zurückgeht, ist allgemein bekannt. Gegen Kants abstrakt-ungeschichtliche, an formalen Sollensprinzipien orientierte Moralität habe Hegel – so kann man häufig lesen1 – auf das faktische Ethos bestehender Sozialsysteme verwiesen, das der inhaltsleeren moralischen Reflexion unendlich überlegen sei, da es an den gegebenen Sitten2 einen der Beliebigkeit des eigenen Räsonierens enthobenen Anhaltspunkt habe. In dieser Perspektive stellt sich Hegel als Überwinder der Naturrechtstradition der frühen Neuzeit – wie sie in Kants und Fichtes transzendental begründeten Rechtsphilosophien einen gewissen Höhepunkt erklommen hat – und als Vater des Historismus dar: Der Verzicht auf eine Erkenntnis von Normen, die für alle Kulturen und alle Zeiten verbindlich sein könnten, wie ihn die Mehrzahl der Philosophien in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert fordert, sei in einem Diktum wie „Philosophie (ist) ihre Zeit in Gedanken erfaßt“3 deutlich ausgesprochen. In Anbetracht dieser verbreiteten Interpretation von Hegels Sittlichkeitsbegriff nimmt es nicht wunder, dass die transzendental-pragmatische Neubesinnung in der Ethik zunächst einmal zu Kant zurückkehren möchte: Eine ethische Theorie, die eine Letztbegründung anstrebt, muss zweifelsohne den transzendentalen Gedan1 Siehe etwa: Marquard, Odo: Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch 72, 1964/65, S. 103 – 119. 2 Auf die nicht bloß etymologischen Beziehungen zwischen „Sittlichkeit“ und „Sitten“ spielt Hegel schon im Naturrechtsaufsatz an (Hegel, 2.504; s. auch R. § 151, Hegel, 7.301). – Hegel wird i. f. zitiert nach Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., und zwar mit Angabe der Band- und Seitenzahl; bei Werken mit Paragraphenzählung (also der „Enzyklopädie“ – abgekürzt: Enz – und der „Rechtsphilosophie“ – abgekürzt: R –) wird außerdem noch der Paragraph angegeben, um das Nachschlagen in anderen Ausgaben zu erleichtern. – Bei den „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ habe ich auch auf die Edition von J. Hoffmeister bzw. G. Lasson zurückgegriffen (Bd. I: Hamburg 51980; Bd. II-IV: Hamburg 2 1976); ich kürze sie mit „GPh“ ab. – Weitere Ausgaben, die ich benutzt habe, habe ich jeweils eigens angegeben. 3 Hegel, 7.26.
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ken gegen jene Bewegung wieder zur Geltung bringen, die ihn am energischsten unterhöhlt hat – und das ist sicher der Historismus gewesen; wenn Hegel aber sein Vater ist, muss ihr der Grundbegriff seiner praktischen Philosophie – der Begriff der Sittlichkeit also – suspekt sein. So schreibt K.-O. Apel in seinem wichtigen Aufsatz „Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht“4, die immer wieder erneuerten Rückwendungen von Hegel zu Kant seien berechtigt;5 gleichzeitig bemüht sich Apel allerdings darum, auch Hegelsche Momente in die eigene zweistufige Konzeption der praktischen Philosophie zu integrieren, die eine „kritische Vermittlung zwischen transzendentaler Ethik und historischer Hermeneutik“ anstrebt, die „an die Stelle des Gegensatzes zwischen formalistischem Kantianismus und spekulativ-historizistischem Hegelianismus“ treten solle.6 Das formale Moment identifiziert Apel dabei mit seinem letztbegründeten Prinzip eines normativ ausgezeichneten Verfahrens der Konsensbildung, das geschichtliche mit dem konkreten Prozess der dialogischen Meinungsbildung über materiale Streitfragen. Ich teile die Auffassung der Transzendentalpragmatik, dass es die dringlichste Aufgabe der Gegenwartsphilosophie ist, eine verbindliche praktische Philosophie zu entwickeln, dass dies nur möglich ist auf der Basis eines durch transzendentale Reflexion freigelegten Fundaments und dass daher die Rehabilitierung der transzendentalen forma mentis gegen die historistische Denkweise ein unabdingbares Desiderat ist. Auch mir scheint ferner offenkundig, dass eine Überwindung des Historismus nicht möglich ist durch seine abstrakte Negation, sondern nur durch seine Integration in eine transzendentale Philosophie. (Konkret heißt das u. a.: durch den Versuch, in der Geschichte eine Entwicklungslogik zu erkennen, die scheinbar blinde Faktizität des Geschehenen, wenn auch nur partiell, der Vernunft zu vindizieren. In diesem Sinne scheinen mir Habermas’ und Apels Versuche, etwa das Kohlberg-Schema auf die phylogenetische Geschichte des ethischen Bewusstseins anzuwenden,7 obgleich in manchem korrekturbedürftig,8 doch wegweisend zu sein für
4 Apel, Karl-Otto: Kant, Hegel und das Problem der normativen Grundlegung von Moral und Recht, in: Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, hrsg. von Dieter Henrich, Stuttgart, 1983, S. 597 – 624. 5 Ebd., S. 597. 6 Ebd., S. 624. 7 Vgl. Habermas, Jürgen: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt am Main, 1976, S. 63 – 91. Vgl. die drei Aufsätze von Apel, Karl-Otto: Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft. Die konventionelle Moral der Institutionen und die Entwicklungsstufen des moralischen Bewusstseins; Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie I. Die Infragestellung der Konventionen und Institutionen in der griechischen Aufklärung und die Begründung der philosophischen Ethik; Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie II. Die Herausforderung der ethischen Vernunft in der Neuzeit, in: Funk-Kolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, 2 Bde., hrsg. von Karl-Otto Apel, Dietrich Böhler und Gerd Kadelbach, Frankfurt am Main, 1984, S. 70 – 136.
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eine Philosophie, die, bei Berücksichtigung des Wissensstandes unserer Zeit, die transzendentale Fragestellung erneuern möchte.) Im Gegensatz zur Transzendentalpragmatik meine ich allerdings, dass – nicht trotz, sondern gerade wegen des Interesses an einer verbindlichen Begründung ethischer und politischer Normen, die sich nicht auf die Deskription eines tradierten Ethos beschränken kann – es durchaus lohnt, etwas länger bei Hegel zu verweilen, als dies bisher von der Transzendentalpragmatik getan wurde; ich denke, dass von Hegels Theorie des objektiven Geistes mehr zu lernen ist, als in der Tat zu lernen wäre, wenn sie nur oder in erster Linie den Historismus inaugurierte. In Wahrheit kann nämlich Hegels Sittlichkeitsbegriff sehr wohl als normativ intendiert verstanden werden; nicht ohne ein tiefes Recht sind die „Grundlinien“ „die vollkommenste Gestalt einer materialen Naturrechtslehre“ genannt worden.9 Hegels praktische Philosophie ist, so will mir scheinen, gerade unter begründungstheoretischem Aspekt das Ehrgeizigste und Niveauvollste, was es bisher gibt; und ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen, auch späteren Ansätzen besteht auch heute noch, auch und gerade gegenüber der Transzendentalpragmatik. Deren Grundproblem beruht nämlich gerade auf der Zweistufigkeit ihrer Normenbegründung, die nicht zu einer Synthese von Kant und Hegel führt, sondern letztlich den Kantischen Dualismus von Form und Inhalt nur perenniert. Letztbegründet wird ja nur das formale Verfahren; die konkreten materialen Normen herauszufinden, bleibt einem Diskurs überlassen, der in Wahrheit notwendig scheitern muss, wenn bei dieser Suche die Faktizität der Bedürfnisse, die es zu vermitteln gilt, den einzigen Orientierungspunkt ausmacht.10 Gerade die Herleitung überzeitlicher materialer Normen ist daher der Gesichtspunkt, unter dem der „Vater des Historismus“, Hegel, den Transzendentalpragmatikern ent8 Das Misslichste an diesem Versuch ist, dass die Einteilungskriterien aus der empirischen Psychologie bezogen werden, ohne selbst philosophisch legitimiert zu werden. – Ich selber habe in Hösle, Vittorio: Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1984, eine strenger a priori vorgehende Theorie der Philosophiegeschichte entworfen, die übrigens in vielem mit der Apelschen übereinstimmt, die ich seinerzeit noch nicht kannte. 9 Welzel, Hans: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen, 41962, S. 175. 10 Das Grundproblem der Diskursethik zeigt sich m. E. in folgender Alternative: Entweder soll der Konsens vernünftig sein – dann aber muss die Vernunft a priori material expliziert werden können; ansonsten kommt man zur zirkelhaften Erklärung: Vernünftig ist, wenn man vernünftig miteinander redet. Oder aber jeder Konsens ist als solcher schon zu akzeptieren – dann aber läuft die Diskursethik auf einen Dezisionismus der Intersubjektivität hinaus, den sie doch gerade überwinden wollte. Auch die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft hilft hier nicht weiter: Denn da sie nicht gegenwärtig ist, kann sie nicht zur Bestimmtheit einer Entscheidung verhelfen – es sei denn, wir haben schon ein Kriterium, um a priori über die Vernünftigkeit materialer Normen zu entscheiden. Die Ansprüche und Bedürfnisse der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft sind jedenfalls nicht etwas, das jetzt schon antizipiert werden könnte, eben weil Ansprüche und Bedürfnisse zum Kontingentesten gehören, was es gibt. – Zur näheren Kritik des transzendentalpragmatischen Formalismus in der Ethik vgl. Hösle, Vittorio: Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40, 1986, S. 235 – 251.
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schieden vorzuziehen ist – ihr Anspruch, nur die Verfahrensnorm letztbegründen zu können, wäre gerade Hegel als ein voreiliger Verzicht der Vernunft auf ihre Autonomie erschienen, wäre ihm nicht – wie den meisten unserer heutigen Zeitgenossen – vermessen, sondern allzu kleinmütig vorgekommen. In der Tat stellt die ganze Hegelsche Philosophie, philosophiehistorisch wie systemtheoretisch, in Wahrheit die Vollendung der durch Kant eingeleiteten transzendentalphilosophischen Besinnung dar; das transzendentale Potential des Kantischen Kritizismus wird von ihr nicht unter-, sondern überboten. Allerdings liegt es in der Dialektik von Vollendung, dass dem Hegelschen System eine merkwürdige Ambivalenz und Janusköpfigkeit eignet: Gerade als Höchstform von Transzendentalphilosophie scheint Hegels Denken bei oberflächlichem Hinsehen von der historistischen Ausrichtung der auf es folgenden Strömungen ununterscheidbar zu sein (wie es übrigens auch zum ungebrochenen Ontologieverständnis der Wolffschen Schule zurückzukehren scheint). Freilich trügt dieser Schein; und das Spezifikum von Hegels Philosophie ist nur zu begreifen, wenn man als ihr generierendes Prinzip das unhintergehbare, sich selbst und alles Seiende, u. a. auch die Geschichte, begründende Denken des Denkens erfasst, das freilich nicht als psychologischer Akt des endlichen Geistes, sondern, wie bei Platon, als absoluter Vollzug gedeutet werden muss, der Natur wie endlichen Geist konstituiert. Dennoch meine ich nicht, dass Hegels Philosophie – und zumal seine praktische Philosophie – ohne weiteres in die aktuelle Debatte eingebracht werden kann. Obgleich Hegels Philosophie in ihrem Grundgedanken als Transzendentalphilosophie gedeutet werden muss, ist ihr Hauptproblem, dass sie in ihrer Durchführung – und zwar gerade in ihrer Theorie des objektiven Geistes – immer wieder von ihrem Grundgedanken abweicht und an manchen Stellen tatsächlich auf ein historistisches Niveau zurückfällt. Diesen Fehler muss eine rationale Interpretation des absoluten Idealismus vermeiden, und sie kann dazu von Kant und von Fichte manches lernen, auch wenn sie deren subjektivistische Begrenzung der Transzendentalphilosophie als inkonsequent ablehnen wird. Darüber hinaus aber muss m. E. eine zeitgemäße transzendentale Rekonstruktion des absoluten Idealismus die Forderung der Transzendentalpragmatik sehr ernst nehmen, die bisherige Transzendentalphilosophie der Subjektivität müsse zu einer Transzendentalphilosophie der Intersubjektivität umgestaltet werden. Für diese Forderung spricht u. a. die ganze nachhegelsche Philosophie, die in mannigfaltigen Formen um die Probleme von Sprache, Sozialität, Intersubjektivität kreist; für sie spricht aber auch, dass eine immanent-systemtheoretische Analyse des Hegelschen Systems, wie ich sie an anderer Stelle versucht habe,11 gerade am Problem des Verhältnisses von Subjektivität und Intersubjektivität die härtesten Inkonsistenzen in Hegels Philosophie ersichtlich machen kann.
11 Hösle, Vittorio: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde., Hamburg, 1987. – Der erste Abschnitt vorliegender Abhandlung stellt im Wesentlichen eine knappe Zusammenfassung von Überlegungen dar, die ich in Kap. 7 jener Arbeit näher entwickelt habe.
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Im Folgenden will ich nun einerseits die im Titel meines Vortrags angedeutete Ambivalenz in Hegels Sittlichkeitsbegriff herausarbeiten, andererseits belegen, dass die primäre Bedeutung von „Sittlichkeit“ bei Hegel eine normative ist, an die daher in erster Linie anzuknüpfen ist. Nach allgemeinen einführenden Bemerkungen zu Hegels Sittlichkeitsbegriff in den frühen Entwürfen und der „Rechtsphilosophie“ (I.) will ich mich auf die Geschichtsphilosophie konzentrieren und Hegels Kritik der indischen Kultur analysieren (II.). In einer abschließenden Wertung werde ich zeigen, dass Hegels Theorie des objektiven Geistes mit dem späteren historistischen Kulturrelativismus nicht nur nichts zu tun hat, sondern ihm geradezu diametral entgegengesetzt ist, dass diese Gegenstellung positiv gesehen werden muss, dass freilich eine aktuelle Diskussion der ethisch-politischen Fragen, die das Verhältnis zu anderen Kulturen betreffen, zwar auf Hegel aufbauen kann, in einem entscheidenden Punkt jedoch über ihn hinausgehen muss (III.). I. Das Irritierende und Verwirrende an Hegels Sittlichkeitsbegriff ist zugegebenermaßen, dass sich bezüglich seiner normativen oder deskriptiven Bedeutung bei Hegel selbst widersprüchliche Aussagen finden. So wohnt ihm von den Anfängen in Jena an eine gewisse antinormative Stoßrichtung inne: Nicht ein jenseitiges Sollen, sondern die reale Gegenwart eines politischen Systems soll als das Absolute begriffen werden.12 Dennoch ist es wichtig zu begreifen, dass diese antinormative Pointierung selbst einer normativen Option entspringt, die verblüffenderweise gerade mit dem Grundanliegen der Transzendentalpragmatik übereinstimmt: Hegel polemisiert gegen Kant und Fichte, weil er in ihren Systemen eine fundamentale Vernachlässigung der Intersubjektivität erkennt. So zeigt sich die Unwahrheit der beiden unvermittelten Grundkategorien der praktischen Philosophie der beiden subjektiven Idealisten – also von Recht und Moral – nach Hegel gerade darin, dass in keiner der zwei Sphären eine als Selbstzweck erfahrene Intersubjektivität ausgebildet werden kann:13 Im Recht herrscht bei Kant und Fichte ein berechnender Egoismus allein auf ihren Eigennutz kalkulierender Teufel,14 ein totales Misstrauen gegen den ande-
12 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Sittlichkeit, in: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hrsg. von Georg Lasson, Leipzig 21923, S. 461. 13 Dies ist die Pointe von Theunissen, Michael: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, in: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, hrsg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart, 1982, S. 317 – 381. Obgleich Theunissen in den „Grundlinien“ zu Recht eine Verdrängung der Intersubjektivitätsproblematik erkennt, hebt er doch an ihnen positiv hervor, dass sie eine Kritik der neuzeitlichen Rechts- und Moralphilosophie unter dem Gesichtspunkt enthielten, diese würden nur einen präsozialen Freiheitsbegriff zugrunde legen, nach dem Freiheit auch ohne Bezug zum anderen denkbar sei. 14 Vgl. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, B 61/A 60.
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ren,15 der nur als Grenze der eigenen Freiheit erfahren werden kann; das Grundgesetz des rechtlich geordneten Staates ist nach Fichte ausdrücklich: „[L]iebe dich selbst über alles, und deine Mitbürger um dein selbst willen“.16 Diese Konzeption geißelt Hegel in der Differenzschrift als „System der Atomistik der praktischen Philosophie“;17 der Staat erinnere hier mehr an eine Maschine als an einen Organismus. Bei Fichte fehle „die vollständige lebendige Gemeinschaft der Individuen in eine(r) Gemeinde“;18 gerade darum gehe es aber, „die Gemeinschaft der Personen mit anderen […] wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben“19 anzusehen. Aber nicht nur das Recht, auch die Moralität, in die sich nach Fichtes ausdrücklicher Hoffnung einst der Staat aufheben wird,20 vermag nach Hegel nicht ein positives Verhältnis zum anderen zu entwickeln; und liest man zumal Fichtes „Sittenlehre“ von 1798, die als Ziel der Moral die Erlangung absoluter Freiheit des Ichs bestimmt, die nur durch die Negation des Nicht-Ich möglich sei, fällt es schwer, Hegel nicht zuzustimmen. Zwar verwirft Fichte eine aktive Absonderung von den Mitmenschen21 und erklärt es zur Pflicht, Moralität zu verbreiten;22 er betont aber zur gleichen Zeit, dass diese Pflicht nur schon bestehenden Bekanntschaften gegenüber gelte: „Es ist uns nicht aufgetragen, Gesellschaft zu suchen und selbst hervorzubringen: wer in einer Wüste geboren wäre, dem wäre es wohl erlaubt, darin zu bleiben.“23 Ausdruck dieser asozialen, tendenziell solipsistischen Ausrichtung der KantischFichteschen Ethik ist nach Hegel auch ihr gesinnungsethischer Ansatz, den er als Ausdruck eines hemmungslosen intellektuellen Egoismus begreift: Nicht darum geht es dieser Moralität primär, etwas für alle Beteiligten Affirmatives zu erreichen; höchstes Ziel ist es, dass ich mir gut vorkommen kann. In diesem Sinne hat Hegel das von Kant wie von Fichte24 aufgestellte kategorische Lügenverbot – auch wo es die Tötung eines Unschuldigen zur Folge hat – mit scharfen Worten zurückgewiesen:
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Vgl. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts, Werke 3.244. – Fichte wird zitiert nach der „Werke“-Ausgabe von Immanuel Hermann von Fichte (Berlin 1834 – 1846, Nachdruck Berlin 1971), mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 16 Fichte, 3.273. 17 Hegel, 2.87. 18 Ebd., S. 90. 19 Ebd., S. 82. 20 Vgl. Fichte, 10.542. 21 Vgl. Fichte, 4.234. 22 Ebd., S. 205, 313 ff., 348. 23 Ebd., S. 235. 24 Kant, Immanuel: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen AA VIII, S. 423 – 430; Fichte, 4.287 ff., 11.99.
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Diese Gleichheit mit mir, die ich durch das Sagen der Wahrheit erreicht habe, wäre nichts als eine hochmütige, läppische Treue gegen die Wahrheit, ich hätte bloß mich als dieses Übereinstimmende gesetzt.25
Und in der „Phänomenologie des Geistes“ gipfelt die Moralität in der schönen Seele, die im Vollgefühl der eigenen gesinnungsethischen Vortrefflichkeit die eigene kraftlose Subjektivität hegt und pflegt und sich gleichzeitig besser vorkommt als diejenigen Individuen, die Verantwortung auf sich nehmen, auch wenn sie sich dabei in ihrem Handeln notwendig beflecken.26 Wenn Hegel dieser Moralität die Sittlichkeit überordnet, so ist also damit zunächst nichts anderes gesagt, als dass ein Zustand rein subjektiver Selbstbestimmung nicht die affirmativste Struktur des objektiven Geistes ausmachen kann, sondern dass ihm die Objektivierung der Freiheit in Institutionen entschieden vorzuziehen ist – und zwar erstens, weil Institutionen ein Medium stabiler Intersubjektivität darstellen, Intersubjektivität aber etwas Höheres ist als Subjektivität, und zweitens, weil allein auf diese Weise die Wirklichkeit des Rechts garantiert ist, die im Zustand der Moralität der immer neu zu fällenden Entscheidung einer Subjektivität anheimgestellt ist, einer Subjektivität, der umso weniger zu trauen ist, als ihrem Bedürfnis nach Herausstellung der eigenen Partikularität, der Hervorhebung des eigenen Ichs in höchstem Maße zentrifugale Kräfte eignen. Der tiefste Sinn von Hegels Sittlichkeitslehre scheint mir also zu sein, dass eine Theorie des normativ Verbindlichen in einer Theorie von Institutionen gipfeln muss, die als Selbstzweck gedeutet werden und deren Aufhebung in einer utopischen Zukunft nicht nur unmöglich, sondern auch nicht wünschenswert wäre. Verglichen mit diesem Standpunkt stellt die Transzendentalpragmatik m. E. einen Rückfall dar – gerade was ihren Anspruch angeht, Philosophie der Intersubjektivität zu sein. Denn insofern sie es bisher nicht zu einer Institutionenlehre gebracht hat, hat sie noch nicht jenes Medium erfasst, das allein intersubjektiven Relationen Stabilität und Würde geben kann. Aus dem Gesagten folgt, dass der dritte Teil von Hegels „Grundlinien“ nicht als Deskription eines faktischen Ethos verstanden werden darf, sondern als normative Institutionenlehre, die die abstrakten zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen des ersten Teils und die formalen moralischen Grundsätze des zweiten Teils insofern vollendet, als sie deren Realisierung konzipiert. Dabei will dieser dritte Teil eine bestimmte Form des Zusammenlebens von Mann und Frau – die Monogamie –, eine bestimmte Form der wirtschaftlichen Ordnung – eine auf den Prinzipien der Arbeits25
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter Henrich, Frankfurt am Main, 1983, S. 119. 26 Hegel, 3.464 ff. Auch hier ist eine Konvergenz zur Transzendentalpragmatik zu konstatieren: Apel will Kants Gesinnungsethik durch eine Verantwortungsethik überwinden. Vgl. Apel, Karl-Otto: Kann der postkantische Standpunkt von Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit „aufgehoben“ werden? Das geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression, in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, hrsg. von Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt am Main, 1986, S. 217 – 264.
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teilung und einer formalrechtlichen Gleichheit basierende Marktwirtschaft, die maßvollen staatlichen Interventionen ausgesetzt ist – und eine bestimmte Staatsform – die konstitutionelle Monarchie – als verbindlich auszeichnen. Es ist hier nicht der Ort, zu entscheiden, ob Hegels Optionen unter einem sachlichen Gesichtspunkt wirklich akzeptabel sind; unbestreitbar scheint mir aber, dass Hegels Intentionen mit dem eben Gesagten philologisch einigermaßen zutreffend erfasst sind. Allerdings nur einigermaßen. Zwei Einschränkungen müssen gemacht werden. Aus Gründen, die hier nicht weiter zu erörtern sind, die aber im Wesentlichen mit der Überordnung des absoluten Geistes über den objektiven Geist zusammenhängen, geht Hegel erstens davon aus, dass die philosophische Erkenntnis des normativ Verbindlichen nur nach dessen Realisierung stattfinden kann – und zwar obwohl das Kriterium für normative Geltungsansprüche nicht die Faktizität, sondern die Selbstbewegung des reflexiv letztbegründeten Begriffs ist. Aufgrund dieser in besonders prägnanter Form in der Vorrede zu den „Grundlinien“ exponierten geschichtsphilosophischen These – die m. E. falsifizierbar ist, auch wenn ihr eine gewisse Wahrheit nicht abgesprochen werden kann – nimmt Hegel daher an, dass das normativ Verbindliche im kulturellen Kontext, dem er als Philosoph entstammt, auch schon wirklich sein muss; er ist daher bemüht, in seinen normativen Erörterungen die Gegenwart nicht zu transzendieren. Ohne dass ihm das selbst bewusst gewesen sein dürfte, passen sich daher seine Deduktionen in den „Grundlinien“ immer wieder an die Gegenwart an, akkommodieren sich also an die Faktizität; ja, Hegel widerspricht dabei sogar eigenen kategorialen Optionen, wie sie etwa in der „Wissenschaft der Logik“ zu finden sind.27 Der zweite Punkt ist in unserem Kontext wichtiger. Hegel ordnet dem zweiten und dritten Teil der „Grundlinien“ nicht nur bestimmte Normeninhalte zu – also der „Moralität“ Normen, die das Verhältnis eines Subjekts zu sich selbst betreffen, der „Sittlichkeit“ Normen, die sich aus institutionalisierten Subjekt-Subjekt-Relationen ergeben –, sondern zugleich bestimmte ethische Bewusstseinsformen. Moralisch ist demnach eine Reflexionshaltung, die alles Geltende auf die Subjektivität zurückführt, es hinterfragt und, da sie über kein verbindliches Kriterium verfügt, Normen zu begründen, schließlich nur zersetzen kann, während sittlich eine Attitüde ist, die sich in gläubigem Zutrauen an den tradierten Institutionen orientiert.28 Diese Zuordnung ist deswegen recht überraschend, weil auch für Hegel klar ist, dass das „thetische“ sittliche Bewusstsein, auch wenn es unter bestimmten Umständen der Beliebigkeit moralischen Räsonierens vorzuziehen ist, doch eine einfachere und primitivere Stufe darstellt als das moralische. In der „Phänomenologie des Geistes“ ist ja Sittlichkeit im ersten Teil des „Geist“-Kapitels thematisch, während die Moralität erst im dritten Teil abgehandelt wird; und in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Phi27
So stülpt Hegel in § 275 die in § 273 angegebene Ordnung der drei Gewalten um (die allein seiner Begriffslogik entspricht), um auf diese Weise die Monarchie legitimieren zu können. Siehe dazu etwa Ilting, Karl-Heinz: Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. von Manfred Riedel, Frankfurt am Main, 1975, Bd. 2, S. 52 – 78, 69 f. 28 Vgl. R. § 140 zur Moralität und § 147 zur Sittlichkeit.
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losophie erkennt Hegel es als Neuerung von Sokrates an, dass mit ihm die moralische, d. h. reflektierende Betrachtung sittlicher Gegenstände eingeführt wurde: „Die Athenienser vor Sokrates waren sittliche, nicht moralische Menschen; sie haben das Vernünftige ihrer Verhältnisse getan, ohne Reflexion, ohne zu wissen, daß sie vortreffliche Menschen waren.“29 Es ist nun erstaunlich, dass Hegel in den „Grundlinien“ keine dritte ethische Bewusstseinsstufe außer dem zu seiner historisch gewachsenen Gemeinschaft sich bekennenden naiven Ethos und der auflösenden Reflexion anzuerkennen scheint – nämlich das vernünftig betrachtende Bewusstsein, das verbindlich Normen begründet und das daher die stabile Zuverlässigkeit der „thetischen“ Stufe mit dem formalen Moment selbständigen Nachdenkens der „antithetischen“ Stufe verbindet. Dies ist umso verblüffender, als dies Hegels eigener Standpunkt ist – die „Grundlinien“ entstammen, wenn sie als normative Theorie verstanden werden, offenbar einem ethischen Bewusstsein, das weder von gläubigem Zutrauen noch von der Bodenlosigkeit herumtaumelnder Reflexion gekennzeichnet ist.30 Auf die Thematisierung einer solchen kritischen, reflektierten Sittlichkeit glaubt aber Hegel wohl deswegen verzichten zu können, weil er ja voraussetzt, dass die Wirklichkeit im Großen und Ganzen vernünftig ist: Eine Kritik der Institutionen kommt demnach auch für den Philosophen nicht in Frage, so dass seine Position letztlich, wenigstens inhaltlich, auf dasselbe hinausläuft wie diejenige gläubigen Vertrauens. Der Gedanke, dass das Subjekt unter bestimmten Bedingungen sich zu Recht gegen die faktische Sittlichkeit wenden könne (wenn es auch natürlich immer danach wird streben müssen, die eigenen moralischen Ideen zu objektivieren und d. h. zu versittlichen), hat in Hegels „Rechtsphilosophie“ keinen Platz. Wir sehen somit, dass Hegel mit dem Wort „Sittlichkeit“ zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet: Einerseits ist sittlich nur eine soziale Welt, die in ihren Institutionen bestimmten, in den „Grundlinien“ ausgezeichneten normativen Standards entspricht, andererseits ist sittlich das unbefangene Ethos einer jeden Kultur, die nicht durch Reflexion gestört ist. Eine unsittliche Sittlichkeit31 ist somit eine Kultur, die ihr eigenes Ethos ohne weiteres kritisches Nachdenken lebt, deren Institutionen aber nicht dem Begriff entsprechen; und eine solche Kultur ist nach Hegel die indische. 29
Hegel, 18.445. Ähnlich will auch Platons ethisch-politischer Standpunkt in der „Politeia“, wie besonders aus dem Anfang des ersten Buches erhellt, eine Synthese kephalischer Sittlichkeit und sophistischer Negativität sein. 31 Diese Wendung findet sich zwar bei Hegel nicht ausdrücklich, aber folgende Stelle aus dem Indienkapitel der „Geschichtsphilosophie“ kommt ihr doch recht nahe: „Alles Sittliche hält sich auf diesem Standpunkte und breitet sich auf ihm aus. Bei dieser Selbstlosigkeit des konkreten Lebens können Staat, Vernunftgesetze, Sittlichkeit nicht vorhanden sein.“ (GPh 369) Vgl. auch GPh 390: „Was den sittlichen Zustand der Inder betrifft, so kann das indische Volk in dieser Knechtschaft des Äußerlichen durchaus keine Sittlichkeit haben.“ Analog heißt es bezüglich der Religion: „Religion ist genug da, aber nicht genug Religiosität.“ (GPh 370) 30
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II. Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ thematisieren den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit in der universalhistorischen Entwicklung der Menschheit.32 Obgleich man aufgrund des systematischen Ortes der Weltgeschichte in Hegels System – am Ende der Philosophie des objektiven Geistes33 – vermuten müsste, jene Vorlesungen beschränkten sich auf die Darstellung der Entwicklung von Recht, Moralität und Sittlichkeit, ist in ihnen auch von der Geschichte des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Philosophie) die Rede;34 zu Recht meint Hegel, dass es nicht möglich ist, etwa die Rechtsentwicklung einer Kultur zu verstehen, wenn man von der Entfaltung ihres religiösen Bewusstseins abstrahiert. Den Inbegriff der Prinzipien der Kultur – und d. h. des objektiven und absoluten Geistes – eines Volkes nennt Hegel „Volksgeist“; die Philosophie der Weltgeschichte hat daher erstens die Aufgabe, aus den Grundbestimmungen eines gegebenen Volksgeistes dessen reale Erscheinung als ein organisches Ganzes zu deduzieren.35 Zweitens aber hat die Geschichtsphilosophie die Prinzipien der verschiedenen Volksgeister selbst in einen Ordnungszusammenhang zu bringen. Ihre Abfolge gehorcht nämlich nach Hegel einer inneren Logik, nach der ein späterer Volksgeist die inneren Widersprüche des vorangegangenen aufhebt, freilich selbst neue hervorbringt, die erst in einer späteren Stufe aufgehoben werden; und der Prozess der Ablösung der Volksgeister durch einander konstituiert den weltgeschichtlichen Fortschritt. Die wichtigsten Stufen in dieser Bewegung betitelt Hegel „Reiche“, deren es bei ihm vier gibt: das orientalische, griechische, römische und germanische Reich.36 In der patriarchalischen Welt des Orients ist die Grundkategorie die der Substanz; die Individuen sind noch nicht zu Selbstbewusstsein erwacht und haben noch nicht so etwas wie Subjektivität entfaltet; sie gehen völlig in der Gemeinschaft auf, die sich um einen absoluten Herrscher als Mittelpunkt dreht.37 In der griechischen Welt entzündet sich die Subjektivität; das Subjekt entwindet sich der Einheit mit der Substanz, ohne aber doch schon die moderne Innerlichkeit auszubilden: Das Individuum ge32
Vgl. Hegel, 12.32. Vgl. Enz §§ 548 ff., 10.347 ff.; R. §§ 341 ff., 7.503 ff. 34 Vgl. nur 12.68 ff. – Ob daraus nicht folgt, dass die Geschichte bei Hegel einen systematisch inakzeptablen Ort einnimmt, kann hier nicht weiter verfolgt werden; erinnert sei nur daran, dass der Hegelschüler C.L. Michelet in seinem „System der Philosophie als exacter Wissenschaft“ (1876 – 1881) die Geschichte ganz am Ende der Geistphilosophie einordnet. 35 Vgl. Hegel, 12.73. 36 Aus der Geschichtsphilosophie gliedert Hegel Afrika und Amerika aus – jenes, weil es „das Geschichtslose und Unaufgeschlossene“ sei, „das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste“ (Hegel, 12.129), dieses, weil es als „das Land der Zukunft“ die Philosophie nichts angehe (Hegel, 12.114). – Wichtig ist, dass „orientalisch“ und „germanisch“ Strukturtypen politischkultureller Ordnung sind und nicht notwendig mit bestimmten Völkern und geographischen Gegenden etwas zu tun haben: „Der Mohammedanismus“ ist bei Hegel ein Kapitel des Teils über die germanische Welt (vgl. Hegel, 12.428 – 434). 37 Vgl. Hegel, 12.135 f. 33
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langt einerseits zu Fürsichsein, setzt sich aber andererseits in unbefangener Sittlichkeit für die Polis ein, aus der es noch nicht in sich reflektiert ist; die Sittlichkeit ist hier noch nicht durch die Moralität vermittelt.38 Die liebenswürdige Grazie der griechischen Welt löst sich in der abstrakten Allgemeinheit des römischen Weltreiches auf, dessen kennzeichnendstes Resultat die Ausbildung der privatrechtlichen Person ist, die sich aus der Verantwortung für das öffentliche Leben zurückzieht, das, zumal im Kaiserreich, der Despotie eines einzelnen Individuums untersteht. Der Bruch, der sich hier zwischen Individuum und Gemeinschaft anbahnt, führt zum ungeheuersten Bedürfnis nach Versöhnung; und diese Versöhnung ist nur möglich, indem das aus der Sittlichkeit zurückgestoßene Subjekt sich als absolut erfasst, was in der Sprache der Vorstellung in der Überzeugung ausgedrückt wird: Gott ist Mensch geworden.39 Das Christentum eröffnet das germanische Reich mit dem härtesten Gegensatz, der sich zunächst aus dem christlichen Prinzip ergibt: dem mittelalterlichen Dualismus von Kirche und Staat. Ziel der Geschichte ist aber die Überwindung dieses Dualismus: Die individuelle Freiheit als die wichtigste Entdeckung des Christentums hat sich der Wirklichkeit einzubilden, und das geschieht, durch den Protestantismus ermöglicht,40 in der Neuzeit.41 Diese ist somit durchaus die Vollendung des Christentums, dessen angemessene Verwirklichung Hegel im Zustand der europäischen Staaten des frühen 19. Jahrhunderts erkennen zu können glaubt. Innerhalb dieser vier Reiche ist die wichtigste Zäsur zweifelsohne zwischen dem ersten und dem zweiten anzusetzen. Der entscheidende Unterschied zwischen der orientalischen Welt und der griechisch-römisch-germanischen besteht darin, dass nur die Übergänge jenseits der orientalischen Welt als eigentlich historisch zu bezeichnen sind – nur hier wird eine Kultur auf reale Weise durch eine andere abgelöst, die, auch wenn ihr Träger im allgemeinen ein neues Volk ist, doch kontinuierlich aus der vorangegangenen hervorwächst und deren Erbe übernimmt. Der Übergang von der orientalischen zur griechischen Welt und zumal die Binnenübergänge innerhalb der orientalischen Welt sind aber keine historisch nachprüfbaren Ereignisse: Griechenland geht nicht aus Ägypten, Indien nicht aus China hervor. Und auch innerhalb der einzelnen orientalischen Hochkulturen gibt es nach Hegel keine eigentliche Geschichte, keine eigentliche Entwicklung. Während die griechische und römische Welt verschiedene Gestalten durchlaufen und auch in ihrem Untergang etwas Höherem den Weg bereiten, bleiben die orientalischen Staaten, bei allen chaotischen Umwälzungen, im Grunde dieselben: 38
Vgl. Hegel, 12.137 f. Vgl. Hegel, 12.138 ff. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass Hegels „Religionsphilosophie“ etwa beweisen wolle, dass Gott Mensch geworden sei. Sie will vielmehr zeigen, warum es zu einem bestimmten Zeitpunkt der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit notwendig und sinnvoll war, dass diese den Glauben an die Menschwerdung Gottes ausbildete, der in der Philosophie Hegels schließlich seine adäquate Übersetzung in die Sprache des Begriffs erfährt. 40 Vgl. Hegel, 12.539. 41 Vgl. Hegel, 12.140 f. 39
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Vittorio Hösle Die Staaten, ohne sich in sich, oder im Prinzip, zu verändern, sind in unendlicher Veränderung gegeneinander, in unaufhaltsamem Konflikte, der ihnen schnellen Untergang bereitet […]. Auch diese Geschichte ist selbst noch überwiegend geschichtslos, denn sie ist nur die Wiederholung desselben majestätischen Untergangs.42
Dennoch hält Hegel es für legitim, den Orient gegenüber Griechenland und dann die einzelnen orientalischen Kulturen linear derart zu ordnen, dass die (in seiner Reihenfolge) spätere Stufe auch wertmäßig höher steht als die erste. Die wertmäßige Ordnung, die er zugrunde legt, kann sich Hegel zufolge freilich durchaus an einem äußeren Parameter orientieren – zwar nicht, wie die Geschichtsphilosophie ab dem griechischen Reich, an der Zeit, aber doch an dem Raum: Die synchronen Hochkulturen des Orients unterliegen einem Ost-West-Gefälle, nach dem die östlichsten Kulturen den ersten Grad in der Realisierung der Freiheit einnehmen. „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang.“43 Wenn wir die beiden Grundthesen Hegels bezüglich der orientalischen Welt auf ihre Wahrheit hin überprüfen – also seine Bestreitung eines Fortschritts innerhalb der einzelnen Kulturen und seine Behauptung einer Entwicklung von Osten nach Westen über die einzelnen Kulturen hinweg –, so lässt sich die erste als einigermaßen sinnvoll begreifen: Auch wenn Hegel die interne Entwicklung Chinas oder Indiens durchaus unterschätzt,44 so spricht es doch letztlich für seine These, dass die wichtigsten Veränderungen in der Verfassung des indischen und chinesischen Staates sich dem 19. und 20. Jahrhundert verdanken – und zwar offenbar europäischen Einflüssen. Wenn etwa K. F Leidecker in seinem Aufsatz „Hegel and the Orientals“45 behauptet, die moderne Geschichte habe Hegels Orientdeutung völlig widerlegt, sei doch China auf dem Wege zu einem gerechten sozialistischen Staat und Indien die volksreichste Demokratie der Welt, so übersieht er, dass weder das sozialistische System noch die parlamentarische Demokratie eine originäre Erfindung Chinas bzw. Indiens sind;46 42
Hegel, 12.136 f. Hegel, 12.134. 44 Zu Recht tadelt etwa Glasenapp, Hegel übersehe sowohl geographische als auch zeitliche Differenzen innerhalb der indischen Kultur, die er zu einseitig als einheitliches Phänomen fasse. Vgl. Glasenapp, Helmuth von: Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart, 1960, S. 47, 59. Ähnlich kritisiert Leuze, Hegel vernachlässige historische Entwicklungen in Indien. Vgl. Leuze, Reinhard: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975, S. 81. – Dennoch, scheint mir, muss zugestanden werden, dass, während etwa die Geschichte der römischen Republik entscheidend von Fortschritten in der Rechtsstellung der Plebejer geprägt ist, Indien zumindest in seiner Sozialgeschichte insofern geschichtslos ist, als trotz der zahllosen Umwälzungen eine durch die Inder selbst bedingte langfristige Verbesserung der Lage der S´udras kaum stattgefunden hat. 45 Leidecker, Kurt F.: Hegel and the Orientals, in: New Studies in Hegel’s philosophy, hrsg. von Warren E. Steinkraus, New York u. a., 1971, S. 156 – 166, 158. 46 Ähnlich hat Chi-Lu-Chung, A.: A Critique of Hegel’s Philosophy of History, in: Chinese Culture, 5, 1964, Heft 4, S. 60 – 77 Hegels Orientdeutung einer heftigen Kritik unterzogen und darauf verwiesen, die Völker des Ostens hätten sehr wohl einen Fortschritt im Bewusstsein der 43
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die staatliche Einigung des indischen Subkontinents ist eine Leistung der Briten und nicht der Inder gewesen.47 Fragwürdiger ist allerdings das zweite Prinzip Hegels, nach dem von Osten nach Westen ein kontinuierlicher Fortschritt stattfinde. Ganz allgemein dürfte es von vornherein unwahrscheinlich sein, dass Hochkulturen, die im Wesentlichen nebeneinander bestehen, in ihrer Totalität eine der anderen übergeordnet werden können: Auch wenn klare Maßstäbe zur Verfügung stünden, wäre nicht gesagt, dass eine Kultur in allen ihren Erscheinungen einer anderen vorzuziehen ist. Es ist vielmehr von der trivialen Annahme auszugehen, dass unter einigen Aspekten die eine Kultur der anderen überlegen, unter anderen ihr jedoch unterlegen ist; eben diese Annahme vermisst man aber bei Hegel, der die – an sich unleugbare – organische Einheit der verschiedenen Ausdrucksformen einer Kultur eindeutig überschätzt und daher die Volksgeister auf eine eindimensionale Wertskala projizieren zu können glaubt. Dagegen wird man durchaus der Ansicht sein können, dass etwa die ägyptische Kultur in ihrer sozialen Struktur der indischen vorzuziehen ist, wenn auch ihre Religion der indischen nachsteht, die ja sogar eine Basis für philosophische Überlegungen abgeben konnte.48 Freiheit zu verzeichnen. Da aber auch er vornehmlich die marxistische Revolution in China anführt, muss er sich denselben Einwand gefallen lassen wie Leidecker. 47 Auch die nationalistische indische Bewegung wäre ohne britischen Einfluss undenkbar gewesen. Griffiths nennt drei Faktoren, die zum indischen Nationalbewusstsein führten und die sich alle der britischen Präsenz verdankten: erstens eine einheitliche Regierung, die eine bisher unbekannte Homogenität des Rechtssystems in allen indischen Staaten einführte; zweitens die Vermittlung englischer Bildung, die den höheren Mittelstand unter den Einfluss westlichen Gedankenguts gerade zu einem Zeitpunkt brachte, als in Europa der Nationalismus die mächtigste Ideologie war, sowie die Einführung der englischen Sprache, die sich als das geeignetste Medium der Kommunikation erwies; drittens die Institution der Presse, die den Indern die Möglichkeit gab, ihre politischen Ziele allgemein zu verbreiten. Vgl. Griffiths, Percival: The British Impact on India, London, 1952, S. 481; vgl. auch S. 237 – 244: „Indian nationality“. 48 Auf Hegels Deutung der indischen Philosophie kann hier nicht eingegangen werden. Auch wenn Hegel natürlich nur wenige Quellen kennen konnte – er erwähnt nur das Sa¯nkhya und die Nya¯ya-Vais´esika-Philosophie; gerade zum Veda¯nta wären aber Äußerungen seinerseits von besonderem˙ Interesse gewesen –, enthalten doch seine Ausführungen einige bemerkenswerte Beobachtungen: So verweist er auf die gleitenden Grenzen zwischen Philosophie und Religion (vgl. Hegel, 18.147 f.), gibt allerdings durchaus zu, dass zahlreiche indische Texte eindeutig zur Philosophie gerechnet werden müssen (vgl. Hegel, 11.142 f.); er kritisiert das Chaos in den Grundprinzipien der philosophischen Systeme (vgl. Hegel: 18.152 f.; vgl. allerdings sein Lob der Triade der gun. a¯s, ebd., S. 157) und die ideologisch-weltanschauliche Zielsetzung der Philosophie (vgl. ebd., S. 164 f.); besonders bemängelt er die Abstraktheit des indischen Absoluten und das Fehlen einer Freiheit des Denkens (vgl. ebd., S. 167 ff.). Man wird Hegel sicher zugeben, dass eine Loslösung des Denkens von den Prinzipien der Tradition in Indien nie stattgefunden hat – eine Aufklärungsphilosophie ist Indien versagt geblieben, das nur phantasievolle Metaphysiken und empiristisches Räsonieren, nicht aber eine radikale kulturkritische Philosophie gekannt hat, die übrigens die Voraussetzung für die Ausbildung transzendentaler, also wirklich stringenter Argumente in der praktischen Philosophie gewesen wäre. – Zu Hegels Interpretation der indischen Philosophie vgl. Ruben, Walter: Hegel über die
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Aber auch unabhängig davon ist unmittelbar klar, dass Hegels konkrete These einer „Westbewegung“ der orientalischen Kulturen nicht aus apriorischen Gründen hergeleitet werden kann, auch wenn Hegel das allen Ernstes zu suggerieren scheint. Allerdings wäre auch nicht auszuschließen, dass sie faktisch einen gewissen Wahrheitsgehalt hat – nur fragte man sich dann, ob sie nicht zu den vielen Richtigkeiten gehörte, die den Begriff nichts angehen. Doch auch auf rein empirischer Ebene lässt sich leicht feststellen, dass sie falsch ist. Sie ergibt sich nämlich ausschließlich deswegen, weil Hegel nur einige wenige der alten Hochkulturen abhandelt – aufgrund des Wissensstandes seiner Zeit ignoriert er etwa die mesoamerikanischen und andinen Hochkulturen, die vom Typ her ebenfalls zur orientalischen Welt zu rechnen wären; Japan ist nicht einmal erwähnt; von Mesopotamien ist nur im Zusammenhang mit Persien die Rede: Hegel behandelt die Babylonier nach der awestischen Religion.49 Ähnlich irritierend ist die Einordnung Ägyptens, das Hegel nach der Ausgabe von Karl Hegel am Ende des persischen Reichs als dessen Bestandteil abhandelt,50 obgleich natürlich auch er weiß, dass das ägyptische Reich wesentlich älter ist als das persische; und auch unter wertenden Gesichtspunkten ist schwerlich zu bestreiten, dass der persische Vielvölkerstaat administrativ-politisch eine höhere Kulturleistung darstellt als das ägyptische Reich. Hegels These von einem kontinuierlichen Fortschritt in Richtung Westen ist, so können wir abschließend festhalten, nicht akzeptabel. Ein sehr partieller Sinn lässt sich mit ihr allerdings insofern verbinden, als die orientalischen Kulturen, die näher an Europa grenzen, tatsächlich eher in den Sog der historischen Bewegung geraten, der von der nicht-orientalischen Welt ausgeht. In der Tat ist nach Hegel die Entwicklung über die drei Stufen hinweg, in die er die orientalische Welt gliedert, zugleich ein Weg hin zur Geschichtlichkeit, die mit Griechenland erst richtig einsetzt. Diese drei Stufen sind China, Indien und Persien. Dabei hängen China und Indien insofern enger zusammen,51 als sie in ganz anderem Maße geschichtslos sind als Persien: Die Perser sind das erste geschichtliche Volk, Persien ist das erste Reich, das vergangen ist. Während China und Indien statarisch bleiben und ein natürliches vegetatives Dasein bis in Philosophie der Inder, in: Asiatica, Festschrift Fr. Weller, Leipzig, 1954, S. 553 – 569, der freilich nur referiert bzw. seine aus seinen Büchern zur indischen Philosophiegeschichte bekannten materialistischen Überzeugungen wiederholt. 49 Vgl. Hegel, 12.225 – 232. 50 Vgl. ebd., S. 245 – 271. Lasson hat in seiner Ausgabe Westasien und Ägypten aus Persien ausgegliedert, so dass er zu einer Fünfteilung kommt. Wenn auch seine Begründung sachlich einleuchtend ist – es sei nicht sinnvoll, jene Kulturen „darum, weil sie schließlich nach dem Verfall der eigenen Blüte dem persischen Reiche einverleibt worden sind, gleichsam nur für Bestandteile dieses Reiches auszugeben“ (GPh II, X) –, so ist seine Einteilung freilich damit noch nicht philologisch legitimiert. 51 In seinem ausgezeichneten Buch Hulin, Michel: Hegel et l’Orient. Suivi de la traduction annotée d’un essai de Hegel sur la Bhagavad-Gîtâ, Paris, 1979, spricht Hulin daher von einem „schéma dualiste“ (Hinterasien-Vorderasien) und einem „schéma ternaire“ (China-IndienVorderasien) in Hegels Orienteinteilung (S. 64 – 69).
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die Gegenwart fristen, ist dieses Land den Entwicklungen und Umwälzungen unterworfen, welche allein einen geschichtlichen Zustand verraten.52
Während sich also Vorderasien durch die hellenistische Kultur und dann den Islam wenigstens temporär53 der orientalischen Welt zu entwinden vermag, bleiben China und Indien in den Fängen der Substanz. Dabei besteht zwischen China und Indien folgender entscheidender Unterschied: China verweilt in seinem ruhigen patriarchalischen Zustand ohne Störung, seine Geschlossenheit wird nicht von außen bedroht;54 Indien hingegen ist ein Land, das stets von fremden Völkern heimgesucht wird – ist es doch seit der Antike „das Land der Sehnsucht“,55 das immer wieder gesucht, ja erobert wird: „Es ist fast keine große Nation des Ostens noch des neueuropäischen Westens gewesen, die sich nicht dort einen kleineren oder größeren Fleck erworben hätte.“56 Die Tragik Indiens besteht also darin, dass es einerseits nicht wie China den gemächlichen Weg einer statarischen Kultur gehen konnte,57 dass es aber andererseits nicht wie Vorderasien den Anschluss an die geschichtliche Welt der Freiheit gewann; und diese Tragik ist der tiefste Grund für die innere Zerrissenheit Indiens.58 52
Hegel, 12.215. Obgleich Hegel den Islam innerhalb der germanischen Welt abhandelt (vgl. oben Anm. 36), ihn also einer hohen Kulturstufe zuordnet, geht er von dessen allmählichem Rückfall auf die Ebene der orientalischen Welt seit dem Ende des Mittelalters aus: „Der Orient selbst aber ist, nachdem die Begeisterung allmählich geschwunden war, in die größte Lasterhaftigkeit versunken, die hässlichsten Leidenschaften wurden herrschend […]. Gegenwärtig nach Asien und Afrika zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europas durch die Eifersucht der christlichen Mächte geduldet, ist der Islam schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten.“ (Hegel, 12.434) 54 Allerdings vermutet Hegel, dass auch China einst den Europäern unterworfen werden wird: „Denn es ist das notwendige Schicksal der asiatischen Reiche, den Europäern unterworfen zu sein, und China wird auch einmal diesem Schicksale sich fügen müssen.“ (Hegel, 12.179) – Die Ausbeutung Chinas durch die europäischen Mächte, wie sie seit den Opiumkriegen einsetzte, kann übrigens nicht scharf genug von der britischen Kolonialpolitik in Indien abgesetzt werden; beide Vorgänge analog zu bewerten, zeugt nur von mangelnden historischen Kenntnissen und/oder verqueren normativen Maßstäben. 55 Hegel, 12.174. 56 Hegel, 12.178. 57 Roetz hat kürzlich in seinem Buch Roetz, Heiner: Mensch und Natur im alten China, Frankfurt/Bern/New York, 1984, S. 23 – 26, eine „Kritik des Klischees vom chinesischen Universismus“ vorgelegt, das, von Hegel energisch vertreten, aber auch bei Sinologen verbreitet, im Wesentlichen besagt, dass es bei den Chinesen keinen Subjekt-Objekt-Gegensatz gebe. Zwar vermag Roetz in seiner sehr informativen und differenzierten Studie nachzuweisen, dass jener Gegensatz auch in der chinesischen Philosophie, zumal im Daoismus, eine wichtige Rolle spielt – aber man wird wohl trotzdem daran festhalten müssen, dass jener Gegensatz in China doch weniger stark als im Abendland ausgebildet wurde, und darauf kommt es ja in einer kulturvergleichenden Geschichtsphilosophie primär an. 58 Treffend schreibt Hulin, Hegels Orientdeutung habe sich anhand Indiens gebildet: „Cette figure est essentiellement tragique. L’Extrême-Orient forme un monde paisible et sans stance … l’Inde apparaît comme une figure maudite, un nouvel avatar de la ,conscience malheureuse.‘“ (Hulin, Hegel et l’Orient, S. 112) 53
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Diese geographische wie kulturelle Zwischenstellung Indiens ist nun gewissermaßen das Prinzip, das Hegel seiner Indiendeutung zugrunde legt und aus dem er die mannigfaltigen Aspekte dieser Kultur abzuleiten versucht. Während China das Land des prosaischen Verstandes ist und in Griechenland der Durchbruch zu begrifflicher Erkenntnis stattfindet, ist Indien gekennzeichnet durch die Negation unmittelbarer Sinnlichkeit, die aber nur den gegebenen sinnlichen Eindruck, nicht die Sphäre der Sinnlichkeit als solche transzendiert – also durch die Phantasie, die, wie Hegel ausdrücklich sagt, durch die tropische Vegetation mitangeregt wird.59 Die indische Kunst wird in der „Ästhetik“ unter dem Titel „Die phantastische Symbolik“ abgehandelt, und die indische Religion heißt in den religionsphilosophischen Vorlesungen „Religion der Phantasie“. Ihr ist die göttliche Welt „ein Reich der Einbildung“;60 und da die Religion das Zentrum des menschlichen Bewusstseins ist, ist auch die Art und Weise, die endlichen Dinge aufzufassen, bei den Indern durch die Phantasie imprägniert. Trefflich fasst Hegel die indische Anschauungsweise als „Pantheismus der Einbildungskraft, nicht des Gedankens“.61 Das ist sowohl ein Lob als auch eine Kritik. Denn als Pantheismus ist die indische Weltanschauung ein „Idealismus des Daseins“62 : Sie nimmt dem Unmittelbaren seine Schwere, bezieht es auf etwas Höheres und Allgemeineres; allein mit dieser Einstellung ist so etwas wie Philosophie denkbar. Gleichzeitig aber ist dieser Idealismus „begrifflos“63 – statt die Dinge auf ihr klar umrissenes Wesen zurückzuführen, beschränkt er sich auf die Negation des Faktischen; dies führt zu einer völligen Unfähigkeit, ein einzelnes als solches objektiv zu fassen; das Vermögen, scharf zwischen Wahrnehmung und Einbildung, Sinneseindruck und Assoziation zu unterscheiden, ist kaum vorhanden. Hegel fasst das indische Bewusstsein daher als kollektiven Traum – dessen Inhalt allerdings das Absolute ist. „Es ist Gott im Taumel seines Träumens, was wir hier vorgestellt sehen.“64 Die zahllosen Wundergeschichten65 der Inder deutet Hegel daher zu Recht nicht als Lüge oder Betrug der Priester – überhaupt hält Hegel die aufklärerischen Vorstellun59 Vgl. Hegel, 16.337. Vgl. Hegel, 12.203: „Dieser Zug (sc. der phantastischen Maßlosigkeit) ist absolut charakteristisch, und durch ihn allein ließe sich der indische Geist in seiner Bestimmtheit auffassen und aus ihm alles Bisherige entwickeln.“ – Hegel nennt in den einleitenden Ausführungen zur orientalischen Welt (Hegel, 12.144; vgl. Hegel, 12.180) als Prinzip der indischen Kultur allerdings die Auflösung der Einheit des Staates (wie sie in China zu finden war) und das Heraustreten von Unterschieden (nämlich der Kasten); freilich ergänzen beide Prinzipien einander, insofern sie gleichermaßen zur antithetischen Stellung Indiens passen. 60 Hegel, 16.337. 61 Hegel, 12.176. 62 Ebd., S. 175. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Allerdings meint Hegel, man könne eigentlich gar nicht von Wundern reden – „denn alles ist ein Wunder, alles ist verrückt und nichts durch einen vernünftigen Zusammenhang der Denkkategorien bestimmt.“ (Hegel, 16.353; vgl. ebd., S. 415, Hegel, 17.63 und GPh 399)
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gen von der Religion als einem Betrug der Priester für absurd;66 die Inder sind nach ihm unfähig, „einen Gegenstand in verständigen Bestimmungen festzuhalten, denn dazu gehört schon Reflexion.“67 Diese Zwischenstellung zwischen Substantialität und Idealität ist nach Hegel ferner einer der Gründe für die Tatsache, dass die Inder, anders als die Völker der späteren Reiche, aber auch anders als die Chinesen, keine Geschichtsschreibung haben: Alles Geschehene verflüchtigt sich bei ihnen zu verworrenen Träumen. Was wir geschichtliche Wahrheit und Wahrhaftigkeit, verständiges, sinnvolles Auffassen der Begebenheiten und Treue in der Darstellung nennen – nach allem diesen ist bei den Indern gar nicht zu fragen.68
Hegel hat hiermit ein sehr wichtiges Spezifikum der indischen Kultur erfasst69 – ihr (schon von al-Biruni gerügtes) Unvermögen, zwischen Mythos und Geschichte eine Trennungslinie zu ziehen; man lese nur das (von den buddhistischen Kirchengeschichten auf Ceylon abgesehen) einzig wirklich historische Werk Indiens – Kalhan. as kas´mı¯rische Königschronik aus dem 12.]ahrhundert –, und man wird feststellen, dass selbst dieses Buch die Phantasie in einer Weise mit der Historie verquickt, die selbst den bescheidensten historischen Standards nicht genügt. Aber immerhin ist die Ra¯jataram . gin. ¯ı als Quelle für die Geschichte Kas´mı¯rs benutzbar – für die Geschichte des restlichen Indiens sind wir, für Antike und Mittelalter, primär auf griechische, chinesische und arabische Quellen angewiesen.70 Der Pantheismus der Phantasie hat nach Hegel ferner zur Folge, dass die indische Religion71 zwei ganz verschiedene, unversöhnte Bestandteile hat – einerseits lässt 66
Hegel, 18.83. Hegel, 12.197; vgl. Hegel, 16.334 ff. 68 Hegel, 12.203; vgl. Hegel, 13.432. 69 Mit dem Fehlen verständigen Denkens passt allerdings schlecht die Tatsache zusammen, dass die Inder eine sehr bemerkenswerte Astronomie, Mathematik und besonders Grammatik haben, was Hegel durchaus weiß und anerkennt (Hegel, 12.202), auch wenn er die zu seiner Zeit verbreiteten Ansichten von einem dem der Griechen überlegenen Stand der indischen Wissenschaften bestreitet: „Die Vorstellungen von den Wissenschaften der Inder und Chinesen sind falsch.“ (Hegel, 19.138) Immerhin wird man jedoch sagen können, dass selbst die bedeutendste wissenschaftliche Schöpfung der Inder – eine synchrone Analyse der Sprache, deren Niveau in Europa erst im 19. Jahrhundert erreicht wurde – eine Leistung des indischen Altertums ist (das wohl allgemein die größte Zeit Indiens darstellt) und dass nach Pa¯n. inis genialem Wurf zwar durchaus noch Fortschritte erzielt wurden, jedoch kein Paradigmenwechsel mehr stattfand; ferner, dass in Mathematik und Astronomie praktische Interessen dem strengen theoretischen Interesse etwa der Griechen an einer konsistenten axiomatisierten Theorie übergeordnet waren. 70 Vgl. Hegel, 12.204 f., der zudem auf die zahllosen Interpolationen in indischen Werken verweist (Hegel, 12.205; vgl. Hegel, 11.132). 71 Ein Mangel an Hegels Ausführungen zur indischen Religion ist sicher, dass sie diese als einheitliches Phänomen fassen und nicht zwischen Vedismus, Brahmanismus und Hinduismus unterscheiden. Vgl. die Kritik von Schoeps, Hans-Joachim: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 7, 1955, S. 1 – 34, hier: S. 5. 67
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ihre Mythologie an Bizarrheit nichts zu wünschen übrig, die Phantasie verzerrt alle Gestalten ins Maßlose und Fratzenhafte; andererseits führt das pantheistische Moment zur Entwicklung eines abstrakten Gottesbegriffs. Was jenen ersten Punkt angeht, so ordnet Hegel in der „Ästhetik“ die indische Kunst der symbolischen Kunstform zu, deren Hauptmerkmal – im Gegensatz zur allein wahrhaft schönen klassischen Kunstform – das Suchen des absoluten Inhalts ist.72 Denn da in den Kulturen, die symbolische Kunstwerke hervorbringen, der Geist noch nicht sich selbst als das Absolute erfasst hat, sondern ein ihm externes, teils naturhaftes, teils abstrakt-unsinnliches Wesen als Gottheit verehrt, kann er noch nicht den geistdurchdrungenen menschlichen Leib als den vollkommensten Ausdruck des Ideals begreifen; und da er seinen abstrakten Gott in natürlichen Formen nicht adäquat zu versinnlichen vermag, versucht er ihm durch Steigerung, Überhöhung alles Vertrauten gerecht zu werden: Das Absolute ist zwar nicht in einem Elefanten angemessen dargestellt, aber doch in einem großen Elefanten; nicht in einem gewöhnlichen Menschen, aber doch in einem Menschen mit sechs Armen usf. Hier ist es denn vornehmlich die verschwenderischste Übertreibung der Größe, in der räumlichen Gestalt sowohl als auch in der zeitlichen Unermesslichkeit, und die Vervielfältigung ein und derselben Bestimmtheit, die Vielköpfigkeit, die Menge der Arme usf., durch welche das Erreichen der Weite und Allgemeinheit der Bedeutungen erstrebt wird.73
Das Sinnliche soll etwas Geistiges darstellen; doch die indische Kunst pendelt nur zwischen Symbol und Bedeutung, ohne deren Versöhnung anders erreichen zu können als durch Verzerrung.74 Obgleich Hegel die Sikhs als eigene Religionsgruppe aufführt (Hegel, 12.179 f.), ignoriert er ferner nicht-hinduistische Religionen Indiens wie den Jainismus; auch vom Buddhismus hat er höchst vage und konfuse Vorstellungen – was freilich dem Wissensstand der Zeit entspricht. Da Hegel den Buddhismus (den er in einigen Vorlesungskursen vor, in anderen nach Indien einordnete) vornehmlich in Gestalt des Maha¯ya¯na-Buddhismus und Lamaismus kennt und daher primär als Religion Chinas und der Mongolen behandelt (vgl. GPh 332 – 342, 411 – 413; 12.209 – 214; 16.374 – 390), braucht hier nicht näher auf seine diesbezüglichen Erörterungen eingegangen zu werden. Erwähnt sei nur, dass er ihn dem Hinduismus entschieden vorzieht – jene Religion sei „menschlicher als die brahminische (GPh 412). – Trotz Hegels mangelnder Differenzierungen innerhalb der indischen Religion muss jedoch anerkannt werden, dass Hegel gegen das allgemeine Gerede von indischer Religion und Philosophie überhaupt immer wieder darauf verweist, es gebe massive Unterschiede z. B. zwischen den einzelnen indischen Kosmogonien (vgl. Hegel, 11.133, 12.200, 13.444, 16.345). „In so vielen deutschen Schriften, in welchen indische Religion und Philosophie ausdrücklich oder gelegentlich dargestellt ist, wie auch in den vielen Geschichten der Philosophie, wo sie ebenfalls aufgeführt zu werden pflegt, findet man eine aus irgendeinem Schriftsteller geschöpfte partikuläre Gestalt für indische Religion und Philosophie überhaupt ausgegeben.“ (Hegel, 11.133 f.) Hegel begrüßt daher Humboldts Forderung, die einzelnen indischen Werke zunächst für sich zu studieren, bevor man sie vergleicht und allgemeine Bestimmungen herausarbeitet (vgl. Hegel, 11.133). 72 Vgl. Hegel, 13.107 f. 73 Ebd., S. 437. 74 Vgl. ebd., S. 431 f.; vgl. Hegel, 16.338. Phantastischen Vorstellungen wie den im ersten Buch des Ra¯ma¯yan. a geschilderten vermag Hegel keinen poetischen Reiz abzugewinnen (vgl. Hegel, 13.444 ff.); kennzeichnend für die indische Anschauung ist nach ihm die „unbe-
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Dieser Mangel der Form entspricht, wie gesagt, einem Mangel des Gehalts: Als gärende Phantasie kann das menschliche Bewusstsein das Absolute noch nicht als Geist wissen. Zu Recht erkennt Hegel in indischen Lehren wie derjenigen der Metempsychose eine völlige Bewusstlosigkeit von der Zäsur, die den Geist von der Natur scheidet;75 auch die Tierverehrung hält er nur für denkbar in einer Kultur, die vom Gedanken der Menschenwürde nichts weiß.76 Selbst in Mythen, die bei oberflächlichem Hinsehen an christliche Glaubensinhalte erinnern, sieht Hegel spezifische Differenzen, die sie deutlich als Produkte der orientalischen Welt ausgeben: Wenn Visn. u sich im Menschen inkarniert, so ist das vor dem Hintergrund richtig ˙ zu würdigen, dass er sich auch in einem Eber, einer Schildkröte usf. inkarniert; der christliche Gedanke der Menschwerdung kann davon nicht scharf genug abgegrenzt werden. Bei dieser allgemeinen Vergöttlichung alles Endlichen und eben damit Herabwürdigung des Göttlichen ist die Vorstellung der Menschwerdung, der Inkarnation Gottes nicht ein besonders wichtiger Gedanke. Der Papagei, die Kuh, der Affe usf. sind ebenfalls Inkarnationen Gottes […].77
Ähnlich distanziert bewertet Hegel die indische Trimu¯rti, die zwar durchaus das Auffallendste und Größte in der indischen Mythologie sei,78 der christlichen Trinität jedoch klar untergeordnet werden müsse: Erstens fehle ihr „die geistige Subjektivität als Grundbestimmung“, sodass es nicht berechtigt sei, bei ihr von Personen zu reden,79 und zweitens sei die dritte Gestalt, S´iva, nicht ein Prinzip der Rückkehr, ein Prinzip, das geistige Einheit stifte, sondern ein Gott der Zerstörung: „Jenes dritte Prinzip ist seiner Bestimmung nach das Auseinanderfahren der substantiellen Einheit in ihr Gegenteil, nicht die Rückkehr derselben zu sich, – das Geistlose vielmehr, nicht der Geist.“80 „Man muß sich deshalb sehr hüten,“ mahnt Hegel, in solchen ersten Ahnungen der Vernunft schon die höchste Wahrheit wiederfinden und in diesem Anklange, der dem Rhythmus nach allerdings die Dreiheit enthält, welche eine Hauptvorstellung des Christentums ausmacht, bereits die christliche Dreieinigkeit erkennen zu wollen.81
Dieser wilden Phantasie, die durchaus von Prolepsen des Begriffs durchzogen ist, die jedoch nicht überschätzt werden dürfen, da der Kontext, in dem sie stehen, sie . unmittelbar entwertet, dieser exaltierten Mythologie, die im Linga-Yoni-Kult schwichtigte Versöhnungslosigkeit“ (Hegel, 13.447). – Freilich kennt Hegel von der indischen Kunst nur manches aus der Poesie (vgl. Hegel, 15.396 ff., 464, 535); von Architektur und Skulptur weiß er nur vom Hörensagen, Malerei und Musik sind ihm nicht zugänglich gewesen. 75 Vgl. Hegel, 16.388 f. 76 Vgl. Hegel, 16.372 f. 77 Hegel, 12.177; vgl. ebd., S. 277. 78 Vgl. Hegel, 16.343. 79 Ebd. 80 Hegel, 5.389; vgl. Hegel, 16.351, 18.158. 81 Hegel, 13.443.
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ihren sinnlichen Charakter deutlich manifestiert,82 steht auf der anderen Seite der Brahman-Kult gegenüber. In ihm negiert der Geist nicht nur das einzelne Sinnliche, sondern die Sinnlichkeit überhaupt. In der Konzeption Brahmans als eines abstrakt Allgemeinen sieht Hegel eine Tendenz, den Polytheismus der Vorstellung zu überwinden; immer wieder betont er ferner, dass auch der Pantheismusvorwurf in seiner gewöhnlichen Fassung Brahman gegenüber nicht zutreffe. Überhaupt sei die Vorstellung absurd, irgendjemand sei je der Ansicht gewesen, Gott sei Alles; gerade bei morgenländischen und zumal indischen Dichtern könne man deutlich erkennen, dass das Absolute nur als das Wesen von allem konzipiert werde. In der langen Anmerkung zu § 573, unmittelbar vor den drei Schlüssen der Philosophie, am Ende der „Enzyklopädie“ erklärt Hegel, selbst in den sinnlichsten Schilderungen der Bhagavadgı¯ta¯ gebe sich Krischna (und man muß nicht meinen, außer Krischna sei hier noch sonst Gott oder ein Gott; wie er vorhin sagte, er sei Schiwa, auch Indra, so ist von ihm nachher […] gesagt, daß auch Brahma in ihm sei) nur für das Vortrefflichste von Allem, aber nicht für Alles aus; es ist überall der Unterschied gemacht zwischen äußerlichen, unwesentlichen Existenzen und einer wesentlichen unter ihnen, die er sei.83
Nicht zu Unrecht meine daher Colebroke, dass die indische Religion in ihrem Wesen Monotheismus sei84. So wie im Brahman-Gedanken anerkennt Hegel auch in der Brahman gewidmeten Meditation zunächst einmal etwas Positives: „Diese Konzentration des Sichselbstbestimmens enthält den Anfang der Geistigkeit.“85 Freilich ist dies nur ein Anfang; Hegel kann daher genauso gut bestreiten, dass Brahman wirklich ein Objekt des reinen Gedankens sei: Denn zum Denken gehört das Selbstbewußtsein, das sich einen Gegenstand setzt, um darin sich zu finden […] Die indische Art der Vereinigung aber des menschlichen Selbsts mit Brahman ist nichts als das stets gesteigerte Hinaufschrauben zu dieser äußersten Abstraktion selber, in welcher nicht nur der gesamte konkrete Inhalt, sondern auch das Selbstbewußtsein untergegangen sein muß, ehe der Mensch zu derselben hinzugelangen vermag. Deshalb kennt der Inder keine Versöhnung und Identität mit Brahman in dem Sinne, daß der Menschengeist sich dieser Einheit bewußt werde, sondern die Einheit besteht ihm darin, daß gerade das Bewußtsein und Selbstbewußtsein und damit aller Weltinhalt und Gehalt der eigenen Persönlichkeit total verschwinde.86
Hegel leugnet zwar nicht, dass dem Ertränken des Partikulären in der allgemeinen orientalischen Substanz eine reinigende Wirkung zukomme – in den philosophiehistorischen Vorlesungen betont er im Kapitel über den orientalischen Philosophen par excellence der neueren Philosophie, über Spinoza, das Denken müsse sich auf den 82
Vgl. Hegel, 12.196, Hegel, 13.435, Hegel, 16.351. Hegel, 10.38 f. 84 Ebd., S. 385. 85 Hegel, 16.331. 86 Hegel, 13.433. 83
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Standpunkt der morgenländischen Anschauung bzw. des Spinozismus einmal gestellt haben: Die Seele muß sich baden in diesem Äther der einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist diese Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muß; es ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage.87
Dennoch hält Hegel es für eine absolute Unmöglichkeit, in diesem Denken der Substanz die Subjektivität auszuschalten; es gehe vielmehr darum, das Allgemeine mit der Subjektivität zusammenfallen zu lassen, und d. h.: es als konkrete Subjektivität zu denken. Dazu aber ist der indische Geist nicht in der Lage: Er bestimmt mit aller Kraft das Absolute als das Bestimmungslose88 und verfällt daher in seinen Meditationen in ein „Vereinsamen der Seele in die Leerheit“, in eine „Verstumpfung, die vielleicht selbst den Namen Mystizismus gar nicht verdient und die auf keine Entdeckung von Wahrheiten führen kann, weil sie ohne Inhalt ist.“89 Hegel zieht interessante Parallelen zwischen dieser „abstrakte(n) Andacht“,90 die mit aller Kraft die Reflexion ausschließen möchte, und der zeitgenössischen Unmittelbarkeitsideologie eines Jacobi;91 und mit großer Klarheit zeigt er, dass das Bedürfnis, das eigene Denken auszuschalten, auch wenn es von einem Schmachten nach Objektivität geprägt ist, in Wahrheit dem hemmungslosesten Subjektivismus Tür und Tor öffnet: Dagegen muß dies, was der Hindu in und zu sich selbst sagt: ,Ich bin Brahman‘,seiner wesentlichen Bestimmung nach mit der modernen, subjektiven und objektiven Eitelkeit, mit dem als identisch erkannt werden, zu was das Ich durch die oft erwähnte Behauptung, daß wir von Gott nicht wissen, gemacht wird.
Denn auch wenn dieses Unbestimmte das eigentliche Sein sein soll, so ist doch „Sein“ eine zu vage Kategorie, um ihm Gestalt und Konturen zu verschaffen: Es heißt leeres Stroh dreschen, jenes Negative meiner, das Außer oder Über mir, für eine behauptete oder wenigstens geglaubte, anerkannte Objektivität ausgeben zu wollen […] – denn vielmehr ist eben die inhaltslose Form der Objektivität, [da] ohne Inhalt, eine leere Form, ein bloß subjektiv Gemeintes.92
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Hegel, 20.165. Immerhin lobt Hegel (Hegel, 11.190) die Tatsache, dass die Inder ihr abstraktes Absolutes nicht als Sein bestimmen (was sofort den Gegensatz zum Nichtsein und damit Bestimmtheit mit sich führen würde), sondern sowohl als Sein als auch als Nichtsein. Hegel bezieht sich dabei auf Bhagavadgı¯ta¯ IX 19 und Humboldts Erklärung hierzu. Humboldt, Wilhem von: Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gîtâ bekannte Episode des Mahâ-Bhârata. I (1825) und II (1826), in: W. v. Humboldts Gesammelte Schriften, Erste Abtheilung: Werke, hrsg. von A. Leitzmann, Bd. V, Berlin 1906, Nachdruck Berlin 1968, S. 190 – 232; S. 325 – 344; hier: S. 203, erwähnt freilich, dass sich der Gedanke auch sonst finde (vgl. in der Tat Bhagavadgı¯ta¯ XI 37 und XIII 12; meines Wissens zuerst in R. g-Veda X 129,1). 89 Hegel, 11.161. 90 Ebd., S. 151. 91 Ebd., 181 f. 92 Hegel, 16.348 f.; vgl. Hegel, 18.168. 88
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Besonders bemerkenswert ist an diesen Ausführungen, dass Hegel die durch die Indomanie der Romantik belegte Affinität zwischen Subjektivismus und indischem Substantialismus – scheinbar diametral entgegengesetzten Positionen – durchschaut: Im Gewande der Treue zur Objektivität kann die Romantik ihre Partikularität und Subjektivität umso ungestörter ausleben. Doch dieser Zusammenhang zwischen Abstraktheit und Willkür gilt auch für Indien selbst: Mit tiefem Blick erkennt Hegel, dass die bunte Wildheit des indischen Polytheismus und die auf Abtötung von Fleisch und Geist zielende Meditation Brahmans zwei Seiten desselben sind. An der oben zitierten Stelle aus der „Enzyklopädie“ heißt es, die indische Religion sei zwar ein Monotheismus – aber diese Einheit Gottes […] ist so wenig konkret in sich, sozusagen so kraftlos, daß die indische Religion die ungeheure Verwirrung ist, ebensosehr der tollste Polytheismus zu sein […]. Der indische Monotheismus ist übrigens selbst ein Beispiel, wie wenig mit dem bloßen Monotheismus getan ist, wenn die Idee Gottes nicht tief in ihr selbst bestimmt ist. Denn jene Einheit, insofern sie abstrakt in sich und hiermit leer ist, führt es sogar selbst herbei, außer ihr das Konkrete überhaupt, sei es als eine Menge von Göttern oder von empirischen, weltlichen Einzelheiten, selbständig zu haben.93
Da Brahman, wie Hegel prägnant schreibt, nur das Eine, nicht der Eine ist94 – und auch Brahma¯ ist nach Hegel nur eine Personifikation ohne jede Persönlichkeit95 –, kann von ihm nichts Bestimmendes ausgehen; denn wenn das Höchste bestimmungslos ist, kann die Welt nicht durch es gestaltet sein: Sie ist daher dem unvernünftigen Chaos einer bizarren Phantasie überlassen. In unausgeglichener Weise pendelt somit die indische Kultur zwischen der unkontrolliertesten Sinnlichkeit und der grausamsten Askese, zwischen der Ausschweifung und der Selbstpeinigung;96 beides soll das Bewusstsein auslöschen, in dem der Inder nicht für sich sein kann. Einen analogen Widerspruch sieht Hegel in der Bhagavadgı¯ta¯ – nämlich zwischen der Aufforderung zum Handeln einerseits und der Hochschätzung der starren und bewegungslosen Kontemplation andererseits. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist nach Hegel Indien deshalb nicht gelungen, weil das Höchste des indischen Bewußtseins, das abstrakte Wesen, Brahman, in ihm selbst ohne Bestimmung ist, welche daher nur außer der Einheit und nur äußerliche, natürliche Bestimmung sein kann. In diesem Zerfallen des Allgemeinen und des Konkreten sind beide geistlos, – jenes die leere Einheit, dieses die unfreie Mannigfaltigkeit; der Mensch, an 93
Hegel, 10.385 f. Vgl. Hegel, 16.347. 95 Vgl. Hegel, 11.186. 96 Vgl. Hegel, 12.196 f. Dieses unvermittelte Nebeneinander von Erotik und Askese zeigt sich auch darin, dass zu den vier Lebenszielen der Inder ka¯ma (Eros) und moksa (Erlösung) ˙ erotischer gehören. In diesem Sinne zitiert das Ka¯masu¯tra bei seiner langweiligen Abhandlung Positionen immer wieder aus heiligen Schriften. – Pisanis indischer Literaturgeschichte (Pisani, Vittore: Storia delle letterature antiche dell’India, Milano, 21959, S. 250) entnehme ich, dass 1524 Ra¯macandra ein poetisches Werk mit dem Titel „Rasikarañjana“ verfasste, in dem jede Strophe sowohl im erotischen als auch im asketischen Sinne gelesen werden kann. 94
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diese verfallen, ist nur an ein Naturgesetz des Lebens gebunden; zu jenem Extrem sich erhebend, ist er auf der Flucht und in der Negation aller konkreten, geistigen Lebendigkeit.97
Allgemeinheit und Besonderheit, Einheit und Vielheit werden von den Indern nicht versöhnt; „ihr Geist ist deswegen nur der haltungslose Taumel von dem einen zu dem anderen und zuletzt die Unglückseligkeit, die Seligkeit nur als Vernichtung der Persönlichkeit […] zu wissen.“98 Aus der Abstraktheit Brahmans lässt sich nichts ableiten99 – auch keine Normen; im Gefühl der Identität mit ihm verschwinden alle Tugenden und Laster.100 Da das geistige Prinzip leer ist, können die konkreten Bestimmungen, deren ein soziales und politisches Dasein auch in Indien bedarf, nur aus der Äußerlichkeit, aus der Natürlichkeit entnommen werden. „Was nur innerlich, nur abstrakt ist, ist nur äußerlich; dies nur Abstrakte ist nun also unmittelbar das Sinnliche, sinnliche Äußerlichkeit.“101 Konkret führt dies nach Hegel zum Kastensystem – der beherrschenden Institution Indiens. Hegels Argumentation ist zwar nicht völlig überzeugend: Statt das Kastensystem als Folge der Leerheit Brahmans zu deuten, muss man wohl eher davon ausgehen, dass jenes System Ausdruck eines Bewusstseins ist, das der Natürlichkeit verhaftet bleibt und das in der Brahman-Religion ansatzweise überwunden wird. Allerdings nur ansatzweise – Hegel ist sicher darin zuzustimmen, dass ein abstraktes Absolutes nicht die Kraft hat, eine vernünftige soziale Ordnung zu etablieren, ja auch nur eine unvernünftige in Frage zu stellen. Es ist jedenfalls kennzeichnend für Hegels politischen Sinn, dass er in seiner Abhandlung zur Bhagavadgı¯ta¯ mit Nachdruck darauf verweist, „daß auch in diesem Gedichte, welches dies große Ansehen indischer Weisheit und Moral genießt, die bekannten Kastenunterschiede ohne die Spur einer Erhebung zur moralischen Freiheit zugrunde liegen“,102 während Humboldt das ganze Kastenproblem, das in jenem Gedichte offenbar eine große Rolle spielt, um-
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Hegel, 11.158. Ebd., S. 183. Treffend schreibt Halbfass, nach Hegel finde das indische Denken durchaus den Weg zum Allgemeinen und Einen – „jedoch findet es den Weg nicht zurück zur konkreten Besonderheit der Welt.“ (Halbfass, Wilhelm: Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart, 1981, S. 110). „Einheit und Ordnung werden nicht in der Welt gesucht; das Eine wird nicht zum Prinzip der Erklärung und des Begreifens des Endlichen und Mannigfaltigen. Es gibt hier nichts, das dem Grundsatz der „Rettung der Phänomene“, diesem Leitmotiv europäischer Wissenschaft und Philosophie, entspräche.“ (ebd., S. 111) 99 Überzeugend erklärt Hegel damit die Monotonie der indischen Aussagen über das Absolute, z. B. über Kr. sn. a in der Bhagavadgı¯ta¯. Da alles, was von ihm prädiziert wird, ohne jede Regel und Ordnung˙aufeinanderfolgt, so bleibt „dieses Aufzählen […], welch ein Reichtum der Phantasie sich zunächst auch darin auszubreiten scheint, […] eben dieser Gleichheit des Inhalts wegen höchst monoton und im Ganzen leer und ermüdend.“ (Hegel, 13.473; vgl. Hegel, 11.192, 204) 100 Vgl. Hegel, 16.364. 101 Ebd., S. 366. 102 Hegel, 11.154. 98
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geht.103 Hegel dagegen wird nicht müde, das Kastensystem als eine der unsittlichsten, begriffswidrigsten Institutionen der Weltgeschichte, die „durchaus wider das Recht schlechthin“104 ist, zu verurteilen. Zwar ist Hegel der Ansicht, dass eine Differenzierung in Stände sinnvoll und unvermeidlich ist; was ihn aber am Kastensystem empört, ist erstens, dass diese Unterschiede nicht aus Freiheit stammen, sondern aus Natur.105 Bei Platon – dessen Vorstellungen in der „Politeia“ Hegel in der „Rechtsphilosophie“ bei Behandlung der Frage der freien Berufswahl scharf kritisiert und in die Nähe des indischen Systems rückt106 – ist es immerhin ein Vorsteher, der die Zuordnung der einzelnen zu ihren Ständen besorgt; in Indien aber ist – gemäß dem allgemeinen Prinzip des Orients, der die subjektive Wahl noch nicht anerkennt107 – „die Natur dieser Vorsteher“.108 Zweitens aber stehen diese Unterschiede nicht nur im weltlichen Leben fest – sie gelten auch und gerade unter religiösem Aspekt. Im mittelalterlichen Feudalsystem, meint Hegel, konnten sich alle wenigstens vor Gott gleich wissen – in Indien ist es die wichtigste Aufgabe der Religion, die prinzipielle Ungleichheit aller zu lehren.109 Es gibt keine Rechte und Pflichten, die dem Menschen als Menschen zukommen; jede Kaste hat ihre Rechte und ihre Pflichten.110 Zumal die Sonderstellung der Brahmanen und die Benachteiligung der S´u¯dras und Kastenlosen erregen Hegels Abscheu. Seine Ausführungen zum indischen Recht zeugen von beachtlichen Kenntnissen – Hegel hat die Manusmr. ti genau gelesen. Mag auch einiges an seinen Aussagen tendenziös sein111 – es ist ihm sicher zuzustimmen, dass der Begriff formaler Gleichheit, wie er in klassischer Weise im römischen Recht ausgebildet wurde, in Indien völlig fehlt; und mag auch jener Begriff durchaus kritikwürdig und seine weitere Entwicklung wünschenswert sein – vergleicht man ihn mit den Rechtsvorstellungen der Inder, begreift man, welch große weltgeschichtliche Leistung er darstellt. Hegel verweist u. a. auf den verschiedenen Zinsfuß, der für die verschiedenen Kasten gilt,112 und besonders auf die verschiedenen Strafen, die den einzelnen Kasten bei demselben Vergehen drohen113 – in der Tat lesen wir bei Manu, dass etwa die Tötung eines Brahmanen eine Todsünde ist,114 103 Vgl. dazu Kreis, Friedrich: Hegels Interpretation der indischen Geisteswelt, in: Zeitschrift für Deutsche Kulturphilosophie, 7, 1941, S. 133 – 145, hier: S. 138. 104 GPh 396. 105 Hegel, 12.181. 106 Hegel, 7.358, R. § 206 A. 107 Das zeigt sich nach Hegel auch darin, dass in Indien der Vater oft genug die Tochter verheiratet, ohne sie zu fragen (GPh 386). 108 Hegel, 12.184. 109 Ebd., S. 184 f. 110 Ebd., S. 185. 111 Immerhin hat Leuze die meisten von Hegels Kritikpunkten mit Stellen aus Manu genau belegt. Vgl. Leuze, Reinhard: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, S. 97 – 104. 112 Hegel, 12.191 mit Bezug auf Manusmr. ti, VIII 142. 113 Hegel, 12.193. 114 IX 235.
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während ein Brahmane für die (vorsätzliche!) Tötung von Menschen aus anderen Kasten je nach deren Stellung verschiedene Geldstrafen zu bezahlen hat;115 die Strafe für die Tötung eines S´u¯dra entspricht dabei genau derjenigen für die Tötung eines Frosches, einer Katze usf.116 In derartigen Bestimmungen sieht Hegel eine völlige Missachtung der Würde des menschlichen Lebens: „Die Brahmanen sind von Hause aus zweimal geboren, und ihnen widerfährt die ungeheure Verehrung; wogegen alle anderen Menschen keinen Wert haben.“117 Aber nicht nur die Ca¯n. da¯las gel˙ ten dem Brahmanen wie Tiere;118 die Witwenverbrennung119 und der Kindermord120 zeigen ganz allgemein, dass bei den Indern „das Moralische, das in der Achtung eines Menschenlebens liegt“,121 nicht vorhanden ist. Typisch für den Inder ist nach Hegel, daß er kein Tier tötet, reiche Hospitäler für Tiere, besonders für alte Kühe und Affen, stiftet und unterhält, daß aber im ganzen Lande keine einzige Anstalt für kranke und altersschwache Menschen zu finden ist.122
Dieselbe Menschenverachtung zeigt sich in den barbarischen Strafformen, die Manu festlegt.123 Als besonders grausam empfindet Hegel z. B. die Strafen für mangelnde Ehrerbietung eines S´u¯dra gegenüber dem Angehörigen einer höheren Kaste – wenn ein S´u¯dra einen solchen schmäht, soll ihm ein zehn Finger langer, glühend heißer Eisenstab durch den Mund gestoßen werden usf.124 Die Sonderstellung der Brahmanen findet Hegel um so merkwürdiger, wenn er ihre Würde an den Vorschriften misst, die ihnen Manu gibt – einer Unsumme äußerlicher Rituale, in deren Beachtung der Brahmane seinen ganzen Ehrgeiz setzen muss; sarkastisch verweist Hegel auf die höchst detaillierten Bestimmungen über die Verrichtung der Notdurft.125 Wichtig ist, dass Hegel in der Äußerlichkeit derartiger Vorschriften einen maßgeblichen Grund sieht für die Unsittlichkeit der Inder: Sie haben keine Sittlichkeit, weil sie keine Innerlichkeit haben126 – und d. h. weil sie keine Moralität haben. Das Kastensystem zerstört nicht nur jede Humanität und Rechtlichkeit; das Kastensystem zerstört auch den Staat: Hegel erkennt, dass die tiefgreifenden Kastenun-
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XI 127 ff. XI 132. Übrigens besitzt Hegel die Objektivität, die einzige Ausnahme zu dieser Regel zu erwähnen: Bei Diebstahl sind die Strafen für die höheren Kasten strenger (Hegel, 12.193 mit Bezug auf VIII 337 f.). 117 Hegel, 16.367. 118 Vgl. GPh 381. 119 Ebd., S. 392. 120 Ebd., S. 409. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 391. 123 Ebd., S. 380. 124 Hegel, 12.191, Hegel, 16.367 mit Bezug auf VIII 271 ff. 125 Hegel, 11.173; Hegel, 12.189 f. mit Bezug auf IV 45 ff. 126 GPh 393. 116
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terschiede jede staatliche Einigung aufs höchste erschweren.127 Weder die subjektive Freiheit des Okzidents noch die patriarchalische Macht des chinesischen Kaisers ist hier die beherrschende Bestimmung, sondern die Differenzen zwischen den Kasten – „es kann also gar kein eigentlicher Staat vorhanden sein.“128 Ist China ganz Staat, so ist Indien ganz Volk; die politische Ordnung ist instabil, despotisch, ohne dass ein Selbstgefühl vorhanden wäre, das sich gegen die Tyrannei auflehnte.129 In der Tat belegt etwa ein Werk wie das Kautilı¯ya Arthas´a¯stra (das Hegel noch nicht kannte), dass ˙ die Politik sich in Indien nicht als Realisierung des Rechts verstanden hat; der Dharma betrifft die religiös fundierte Kastenordnung, und die Politik ist ein Spiel von Machtverhältnissen mit nur schwacher sittlicher Grundlage. Dass Indien zu keiner staatlichen Einigung gefunden hat, erwähnt Hegel mit Nachdruck;130 und es spricht letztlich für ihn, dass auch der größte Monarch Indiens, As´oka, dem erstmals eine weitgehende Einigung des Subkontinents gelang, zum Buddhismus konvertierte, wohl weil er (wie später in analoger Weise Konstantin) in dieser Universalreligion eine staatstragendere Macht erkannte als im Brahmanismus. Für das Fehlen eines effektiven, zentralen Staates – wie ihn etwa China und Persien ausgebildet haben – führt Hegel ferner als Grund die schon erwähnte Tatsache an, dass die Inder kein Geschichtsbewusstsein haben. Denn nur durch die Historie wird sich ein Volk seiner geschichtlichen – und d. h. immer auch: staatlichen – Aufgaben bewusst; nur durch das Bewusstsein von so etwas wie Fortschritt kann es überhaupt realen Fortschritt verwirklichen. Denn nur die Geschichtsschreibung fixiert das Vergangene; sie ist daher ein wesentliches Mittelglied in der Entwicklung und Bestimmung der Verfassung, d. h. eines vernünftigen, politischen Zustandes; denn sie ist die empirische Weise, das Allgemeine hervorzubringen, da sie ein Dauerndes für die Vorstellung aufstellt. – Weil die Inder keine Geschichte als Historie haben, um deswillen haben sie keine Geschichte als Taten (res gestae), d.i. keine Herausbildung zu einem wahrhaft politischen Zustande.131
Ohne Historie musste also Indien, bei allem Wechsel, allen Eroberungen, allen Umwälzungen, in seinem Grundbestand – seiner Religion und seinem Kastensystem
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Dies wird selbst von einem Kritiker Hegels wie Glasenapp anerkannt (vgl. Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, S. 43); und auch ein von Hegel völlig unbeeinflusster Autor wie P. Griffiths betont, das Kastensystem sei das größte Hindernis auf dem Wege zum Nationalstaat gewesen: „Unfortunately, the operative part of the tradition was based mainly on the caste system, so that the emphasis was always on division rather than on unity. Hinduism was essentially not a collection of doctrines but a social code; and since religion was a dividing force, social tradition could not be otherwise. It could not, therefore, provide a foundation for a Hindu nationality.“ (Griffiths, The British Impact on India, S. 242) 128 Hegel, 12.201. 129 Ebd., S. 201 f. 130 Ebd., S. 180. 131 Ebd., S. 204; vgl. ebd., S. 83.
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– unverändert bleiben: „Alle politischen Revolutionen gehen […] gleichgültig an dem gemeinen Inder vorüber, denn sein Los verändert sich nicht.“132 III. Hegels Indienkritik – wie ich sie eben dargestellt habe – kann heute nahezu geschlossener Ablehnung sicher sein. Das dumpfe, selten auf genauen Kenntnissen der realen geschichtlichen Entwicklung beruhende, dennoch aber sehr verbreitete Schuldgefühl des durchschnittlichen europäischen Intellektuellen gegenüber dem Vorgang der Kolonisation und dem Kolonialismus ist der tiefste wissenssoziologische Grund dafür, dass eine der Hegelschen affine Position sofort mit dem Prädikat des Eurozentrismus belegt und mit einem ironischen Lächeln oder ärgerlichem Kopfschütteln abgetan wird. Dennoch, scheint es mir, lohnt es, der (zugegebenermaßen europäischen!) Tradition kritischer Prüfung treu zu bleiben und zu untersuchen, ob „Eurozentrismus“ mehr als ein modisches Schlagwort ist, das zwar die ideologische Funktion der Absicherung einer bestimmten Richtung der öffentlichen Meinung trefflich wahrzunehmen weiß, aber noch nicht deswegen einen Erkenntniswert beanspruchen darf. Denn auch wenn jenes Schuldgefühl partiell berechtigt ist, ist doch nicht gesagt, dass die aus ihm abgeleitete Schlussfolgerung, „eurozentrisches“ Denken (was auch immer das sei) sei zu verwerfen, wirklich die sinnvollste Reaktion darstellt, mit ihm fertig zu werden.133 Versuchen wir, um ihn überhaupt analysieren zu können, jenen Vorwurf des Eurozentrismus genauer zu explizieren. Soweit ich sehe, kann er Hegels Indienkritik gegenüber auf dreifache Weise zur Geltung gebracht werden. Man kann erstens behaupten, in Hegels Darstellung fänden sich aufgrund seiner vorgefassten Meinungen faktische Unrichtigkeiten. Zweitens kann man Hegel vorwerfen, seine Konstatierung einzelner Phänomene sei zwar richtig, ihre Deutung aber aus dem von ihm zugrunde gelegten Prinzip des indischen Volksgeistes sei unsinnig und gewaltsam. Drittens kann grundsätzlicher bemängelt werden, dass Hegel überhaupt werte; dies sei nicht legitim, da Wertungen über Kulturen hinweg prinzipiell nicht möglich seien. Wir wollen unter diesen drei Gesichtspunkten rückblickend zu Hegels Indienkritik Stellung beziehen. 132
Ebd., S. 194. Einen Hinweis, dass dies in der Tat der falsche Weg sein dürfte, gibt folgende Überlegung: Motiviert ist die Kritik am Eurozentrismus durch den Wunsch nach Wiedergutmachung von Unrecht, das die Europäer fremden Kulturen angetan haben. In Wahrheit beraubt sich aber der Eurozentrismuskritiker auch der Möglichkeit, das Verhalten der Europäer gegenüber ihren Kolonien zu verurteilen – denn es ist schlicht und einfach nicht einzusehen, mit welchem Recht derjenige, der etwa die Menschenopfer der Azteken für prinzipiell nicht kritisierbar hält, sich anmaßt, das (in der Tat höchst tadelnswerte) Verhalten der Spanier gegenüber den Azteken zu bemängeln, zumal ja das katholische Spanien des 16.Jahrhunderts für den heutigen Intellektuellen eine fast genauso fremde Welt darstellt wie die mesoamerikanischen Kulturen. Vgl. auch Anm. 160. 133
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1. Was die faktische Richtigkeit von Hegels Behauptungen angeht, so ist zunächst festzustellen, dass Hegel über beeindruckende Kenntnisse der indischen Kultur verfügte – ihres sozialen und politischen Lebens, ihrer Kunst und ihrer Religion. Nicht nur hat sich Hegel über keine orientalische Kultur so umfassend geäußert wie über Indien134 – auch im Vergleich mit anderen Philosophen lässt sich durchaus sagen, dass kein Denker von Rang so viele Informationen über Indien verarbeitet hat wie Hegel. Das gilt selbst im Verhältnis zu Schopenhauer – Hegels Gegenpol, auch und gerade was die Indiendeutung angeht –, da dieser nahezu keine indische Kunst und Literatur rezipiert, „in seinem Zugang zur indischen Tradition viel stärker selektiv verfährt als Hegel“, ja „sich nur auf solche Materialien ernsthaft einläßt, die seinen systematischen Intentionen entgegenkommen.“135 Die Primärquellen, die Hegel eingesehen hat, umfassen dagegen zahlreiche literarische, religiöse, philosophische und auch rechtliche Texte. Besonders scheint mir Hegels gründliche Analyse der Manusmr. ti bemerkenswert – während seine romantischen Zeitgenossen sich an indischer Poesie und Philosophie berauschten und so etwas Profanes wie rechtliche Texte ignorierten, hält Hegel es für eine der wichtigsten Pflichten eines Historikers, das Studium von Gesetzbüchern bei der Analyse einer Kultur nicht unberücksichtigt zu lassen. Dass er auch die für uns ungewöhnlichsten Bestimmungen der Manusmr.ti philologisch korrekt exponiert, kann ja wohl schwerlich als Eurozentrismus verbucht werden, sondern belegt im Gegenteil nur eine beeindruckende Nicht-Selektivität im Umgang mit einer fremden Kultur. Wegen seines Interesses am öffentlichen Leben greift Hegel bei den Sekundärquellen, aus denen er sich über Indien informiert, meist auf Berichte britischer Offiziere zurück, zu denen er ein weitaus größeres Vertrauen hat als zu den indologischen Werken deutscher Philosophen wie Schlegel und Humboldt.136 Dies ist ihm öfters vorgehalten worden – aber Hegel hat gute Gründe für seine Präferenzen. Erstens lagen, trotz der zugegebenermaßen propagandistischen Tendenz mancher britischer Informanten, hier – und nur hier – Berichte von Personen vor, die das Land aus eigener Anschauung meist sehr gründlich kannten; und zweitens sind Hegels Vor-
134 So zu Recht Schulin, Ernst: Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke, Göttingen, 1958, S. 76. 135 Halbfass, Indien und Europa, S. 135. Vgl. auch S. 123. 136 Vgl. Viyagappa, Ignatius: G.W.F. Hegel’s concept of Indian philosophy, Rom, 1980, S. 60: „He (sc. Hegel) was sharply critical of certain authors, especially his own countrymen, who hoped to discover a pristine and unsullied Urreligion in the distant past. But at the same time, he was not equally censorious over some other sources, such as, for instance, the reports of British military officials.“ – Allgemein meint Viyagappa, von den zwei Strömungen in Hegels Quellen – einer älteren, z. T. von Missionaren getragenen, und einer neueren, enthusiastischen – favorisiere Hegel die erstere: „Now between this hesitation and fervour Hegel appears rather a ‘conservative’, who falls in with the traditional mode of thinking and treats Indian philosophy … and the whole of the Oriental ‘wisdom’ only as ‘preliminary’ to the actual history of philosophy.“ (ebd., S. 246)
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behalte gegenüber der romantischen Indomanie137 – als der alternativen Sekundärquelle – durchaus berechtigt. Ihr wirft er vor, erstens äußerst unklare begriffliche Kategorien zu verwenden und zweitens ebendaher nicht einmal wahrhaft historisch, sondern willkürlich und selektiv vorzugehen: Die Indomanen versuchen krampfhaft, in indischen Texten und Mythologemen – wie der Trimu¯rti – eigene, vermeintlich tiefe Gedanken wiederzufinden, reißen jene zu diesem Zwecke aus ihrem Kontext und unterstellen ihnen eine Bedeutung, die sie nicht haben.138 Um ein Beispiel anzuführen: Während etwa Humboldt der Ansicht ist, nie sei „die Nothwendigkeit und die Schuldlosigkeit des Handelns, des Kämpfens, ja des Mordens (sic!) […] mit grösseren, mehr umfassenden, und zur tiefsten Ansicht des Seyns und Nicht-Seyns hinab137 Paradigmatisch steht für sie Schlegel, Friedrich: Über die Sprache und Weisheit der Indier, in: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. 8, Studien zur Philosophie und Theologie, eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler und Ursula Struc-Oppenberg, München u. a., 1975, S. 105 – 433 mit der Hoffnung, das Studium der orientalischen Kultur werde neue Quellen der Weisheit erschließen (vgl. ebd. S. 309 ff.). Abschätzig heißt es bei Hegel zu diesem Werk, das 1808 erschien, und seinem Autor: „Er ist einer der ersten Deutschen, der sich mit indischer Philosophie beschäftigt hat; indessen hat dies nicht viel gefruchtet, denn er hat eigentlich nichts weiter gelesen als das Inhaltsverzeichnis zum Ramajana.“ (Hegel, 18.149) Übrigens ist auch die Rezension von Humboldts Bhagavadgı¯ta¯-Abhandlung in Wahrheit, trotz aller Bezeugungen von Hochschätzung für den „höchstverehrte(n) Herr(n) Verfasser“ (z. B. Hegel; 11.131), eine scharfe Kritik – wie gerade Humboldt nicht entgehen konnte, der sich zwar bei Hegel artig bedankte (W. v. Humboldt an Hegel, 25. 1. 1827, in: Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Bd. III, Hamburg, 31969, S. 152), aber Gentz verärgert schrieb: „Die ganze Rezension ist aber auch gegen mich, wenngleich versteckt, gerichtet und geht deutlich aus der Überzeugung hervor, daß ich eher alles als ein Philosoph bin.“ (ebd., S. 406) 138 Symptomatisch ist in diesem Sinne Schopenhauers Umgang mit der indischen Philosophie. Auch methodisch unterscheidet sich Schopenhauer, wie Halbfass zu Recht bemerkt (vgl. Halbfass, Indien und Europa, S. 129), dadurch völlig von Hegel, dass er oft seine eigene Lehre mit derjenigen Buddhas und diese mit derjenigen Eckharts vergleicht, während für Hegel „ein von den geschichtlichen Besonderheiten absehendes Vergleichen und Parallelisieren abstrakt und nichtig ist.“ (In der Tat zeugen auch Schopenhauers enthusiastische Äußerungen über die Oupnekhats (Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena, II, § 184, in: A. Schopenhauer. Sämtliche Werke, hrsg. von Arthur Hübscher, Bd. 6, Wiesbaden, 1947, S. 422) von einer völlig unhistorischen Auseinandersetzung mit der indischen Philosophie: Schopenhauer geht es nicht darum, anhand des Originals zu verstehen, was der Verfasser jener Texte ursprünglich sagen wollte, sondern darum, durch „das Persisch-Latein dieses unvergleichlichen Buches“ „rein gewaschen“ zu werden „von allem […] früh eingeimpften jüdischen Aberglauben und aller diesem fröhnenden Philosophie.“) – In der Gegenwart finden sich solche undifferenzierten Vergleiche indischer und europäischer Lehren in manchen Arbeiten, die sich als Beiträge zur „comparative philosophy“ ausgeben, sowie in Werken indischer Gelehrter. Bezeichnend ist in diesem Sinne S. Radhakrishnans M. Gandhi gewidmete kommentierte Ausgabe der Bhagavadgı¯ta¯ (deutsch: Wiesbaden, 1970), die in der Einleitung wie in den Anmerkungen bei beliebigen Anlässen auf Stellen aus der Bibel, Plotin oder Emerson verweist. – Mir selbst scheint (auch wenn dies Ergebnis durchaus enttäuschend ist), dass die europäische Philosophie von der indischen nicht allzuviel zu lernen hat – gemeint ist: unter systematischer Perspektive; für die historische Betrachtung ist dagegen das Studium der Philosophie einer anderen Kultur sehr fruchtbar. Bisher ist es jedenfalls m. W. niemandem gelungen zu zeigen, inwiefern die Begegnung mit einem indischen Philosophen in gleicher Weise sachlich stimulierend sein kann wie etwa die Auseinandersetzung mit einem griechischen Philosophen.
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steigenden Argumenten geschehen“ als in der Bhagavadgı¯ta¯,139 schreibt Hegel sarkastisch, das erste Argument, das Kr. sn. a am Anfang des Werkes140 anführe, um Ar˙ juna davon zu überzeugen, es sei rechtens, in den Kampf gegen seine Verwandten zu ziehen, führe „nicht sogleich zu jener Höhe fort“, die man von der Rede Kr. sn. as er˙ warte, der sich, wie es einige Zeilen vorher heißt, gerade anschicke, „die höhere, alles 141 überfliegende Metaphysik loszulegen“; denn bei jenem Argument – man würde ohnehin nur Leiber töten, während die Seelen unsterblich seien – fänden wir „ohne Zweifel, daß, was zuviel beweist (aus dem Töten überhaupt wird in solcher Vorstellung nicht viel gemacht), gar nichts beweist.“142 Und auch Humboldts Lob der reinen Gesinnung der Bhagavadgı¯ta¯, die dazu auffordere, die Pflicht um der Pflicht willen zu tun, hält Hegel entgegen, es komme wesentlich darauf an, als was diese Pflicht bestimmt sei.143 Mit Bezug auf die Schlegelsche Übersetzung der Stelle I 40 erklärt Hegel, der Satz „religione deleta per omnem stirpem gliscit impietas“ klingt nach unserem europäischen Sinne so im allgemeinen genommen sehr gut. Nach den gemachten Bemerkungen aber heißt religio Kuchenopfer und Wassersprengungen, und die impietas heißt teils das Unterbleiben von solchen Zeremonien, teils das Heiraten in niedrigere Kasten, – ein Gehalt, vor dem wir weder religiöse noch moralische Achtung haben.144
Vergleicht man also Humboldts und Hegels Bhagavadgı¯ta¯-Abhandlungen, wird man sagen müssen, dass trotz der unvergleichlich größeren indologischen Kenntnisse Humboldts Hegel objektiver vorgeht: Wir erfahren von ihm Genaueres über die moralischen Grundüberzeugungen dieses Werkes als von Humboldt, der, insofern er den Indern ohne weiteres europäische Moralvorstellungen und philosophische Kategorien des Abendlands unterstellt, eher den Tadel verdient, ”eurozentrisch“ vorzugehen. 2. Was den zweiten möglichen Vorwurf betrifft, Hegel würde Phänomene der indischen Kultur zwar adäquat erfassen, unter ihnen aber unsinnige Zusammenhänge herstellen, so ist zunächst anzuerkennen, dass es ein berechtigtes Anliegen ist, die zahlreichen Momente einer Kultur aus einem Grundbegriff zu erklären zu versuchen. Hinter die Einsicht Vicos und Montesquieus, dass Kulturen Ganzheiten sind, dass etwa ihr Rechtswesen und ihre Religion zusammenhängen, kann man schwerlich zurück; Hegels Intention ist daher im Prinzip positiv zu sehen. Aber auch im Einzelnen scheinen mir viele der Zusammenhänge, die er aufdeckt, tatsächlich zu bestehen, ja selbst sein Versuch, Indien vom Prinzip des träumenden Geistes her zu verstehen, ist m. E. hermeneutisch fruchtbarer, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Hegel fühlt sich durchaus in den indischen Volksgeist ein – er bemüht sich, ihn als Ganzheit 139
Vgl. Humboldt, Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gîtâ, S. 159. II 11 ff. 141 Hegel, 11.140. 142 Ebd., S. 141. 143 Ebd., S. 136 f., 152. 144 Ebd., S. 139 f. 140
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zu erfassen und ernst zu nehmen. Hegel kritisiert z. B. nicht einfach das Kastensystem – er zeigt vielmehr, wie eng dieses mit der indischen Religion verwoben ist. Allerdings wird man monieren müssen, dass erstens einige Bezüge, die Hegel herstellt, wenig plausibel sind und dass zweitens Hegel den „Organizitätsgrad“ der indischen Kultur (wie auch anderer Kulturen) überschätzt. In jeder Kultur, auch in denen der orientalischen Welt, sind Momente am Werk, die sich nicht bruchlos dem Prinzip der Kultur fügen, sondern einerseits historisch erklärbare Relikte früherer Formen darstellen, andererseits über die betreffende Kultur hinausweisen (man denke etwa an das moralische Potential der sog. Achsenzeit). Das ist eine Grundeinsicht, die sich gerade aus Hegels Deutung der Geschichte als eines dialektischen Prozesses der Entfaltung von Widersprüchen ergibt – und die übrigens auch von einem Transzendentalpragmatiker leicht nachvollzogen werden kann. Denn wenn die Grundnormen vernünftiger Argumentation immer schon implizit anerkannt sind, dann muss in jeder Kultur, als einem Werk des Geistes, die höchste Stufe der rationalen Erfassung der Gesetze verbindlicher Argumentation irgendwie schon da sein. So kann man darauf verweisen, dass auch schon in der Brahman-Religion (wie dann im Jainismus und Buddhismus, die ja aus ihr hervorgegangen sind) durchaus ein Ansatzpunkt zur Überwindung des Kastensystems steckt – freilich ein so abstrakter und schwacher, dass er nicht zufälligerweise nicht zum Tragen kommen konnte. Zur gerechten Würdigung einer Kultur gehört jedenfalls beides: die Einsicht, dass sie in nuce den Keim des Wahren und des Rechts immer schon enthält, ebenso wie das Zugeständnis, dass sie actualiter diesen Keim nur bis zu einem bestimmten Entwicklungsgrad gebracht hat; und es ist kein Zufall, dass Hegel, der Geschichtsphilosoph der Vergangenheit, nur auf das aktuell Erreichte, das, was sich real intersubjektiv durchgesetzt hat, achtet und auf eine geschichtsphilosophische Deutung des Noch-nicht-Vorhandenen, aber Angelegten verzichtet.145 3. Was den dritten und grundsätzlichen Vorwurf angeht, so ist zunächst klar, dass Hegel wertet – und zwar ausdrücklich und energisch. Gerade dadurch unterscheidet sich sein Vorgehen von dem des historistischen Kulturrelativismus des 19. und 20. Jahrhunderts, den er zugleich, in der umfassenden Analyse der Ganzheit einer Kultur, vorwegnimmt. Doch ist für Hegel nicht wie für Ranke jede Zeit unmittelbar zu Gott – es gibt Maßstäbe einer überzeitlichen normativen Institutionenlehre, die er in seiner Geschichtsphilosophie bei den verschiedensten Kulturen anlegt. Und vor diesen Maßstäben schneidet die familiäre,146 soziale und staatliche Ordnung der Inder – wie überhaupt der orientalischen Welt – sehr schlecht ab. 145 Eine sinnvolle Geschichtsphilosophie muss dagegen auch und gerade die Momente hervorheben, die in einer Kultur als über sie hinausweisend hervortraten, aber unterdrückt wurden – etwa Echnatons religiöse Reform in Ägypten, die in vielem die Religiosität der orientalischen Hochkulturen sprengt. Freilich ist es kein Zufall, dass sich diese Reform nicht durchgesetzt hat; es wäre daher unsinnig, dies übersehend zu sagen, dass im Grunde die ägyptische Kultur das gleiche Niveau habe wie etwa das christliche Mittelalter. 146 Auf die indische Familie geht Hegel kaum ein; doch kritisiert er scharf die indische Polygynie und gelegentliche Polyandrie (GPh 386 f.). – A.L. Basham verweist darauf, dass für
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Vittorio Hösle Personne n’avait ainsi arraché l’Orient à l’exotisme en le faisant apparaître comme l’humble point de départ d’une aventure spirituelle dont l’Occident représenterait l’aboutissement triomphal […]. Mais, aussi bien, aucun penseur n’a davantage contribué à détruire l’image à la fois traditionelle et romantique de l’Orient comme source de la sagesse et de la science.147
Rückblickend wirft dieses entschiedene Werten noch einmal Licht auf Hegels Sittlichkeitsbegriff – dieser hat mit demjenigen gegenwärtiger neoaristotelischer Strömungen nicht nur nichts zu tun; er ist vielmehr von seitdem kaum je wieder erreichter normativer Potenz. Freilich ist gerade dieser normative Impetus Hegel von einem der bekanntesten deutschen Indologen sehr übel genommen worden; obgleich er Hegel kaum konkrete Fehler nachzuweisen vermag, hat Helmuth von Glasenapp in seinem Buch über „Das Indienbild deutscher Denker“ Hegels Indienbild ein „Zerrbild“148 genannt, das daraus resultiere, dass Hegel bei seiner Kritik etwa am Kastensystem „von der willkürlichen Anschauung“ ausgehe, „daß jede Gesellschaftsordnung, die nicht seinen vorgefaßten Meinungen entspricht, notwendig schlecht sein müsse“,149 während man umgekehrt gerade den durch das Kastensystem geförderten statarischen Charakter Indiens als etwas Positives ansehen könne.150 Überhaupt habe Hegels ungerechte Würdigung Indiens seinen letzten Grund darin, dass er als Prototyp des Abendländers im Denken des Westens das Maß aller Dinge sah und außerstande war, sich zu einer wirklich die ganze Erde umfassenden Universalität zu erheben. Trotz seiner weltumspannenden Bildung und seines bohrenden Scharfsinns blieb er stets dem engräumigen und kurzfristigen mittelalterlichen Weltbild verhaftet.151
Sicher, Hegel habe recht: Die Metaphysiken der Inder seien Träume. Sind denn aber die Philosopheme des Westens von Thales bis Hegel selbst etwa keine Begriffsdichtungen, in denen der Mensch versucht, sich über das Wesen der unerkennbaren Wirklichkeit klar zu werden? Der Unterschied besteht nur darin, daß der Vedânta, das Sânkhya, das Nyâya-Vaisheshika, die Buddhalehre große Träume sind, die seit zwei Jahrtausenden den indischen Geist beschäftigen, während die Systeme des Westens […] alle nur ein kurzes Dasein hatten […].152
Trotz der pathetischen, gestelzten Rhetorik Glasenapps ist es freilich nicht schwer zu erkennen, dass seine Räsonnements schlicht und einfach inkonsistent sind. Nicht nur übersieht Glasenapp, dass er in seiner Hegelkritik immer schon voraussetzt, dass die Inder bei Sterilität der Ehefrau Polygamie geradezu religiöse Pflicht ist. Vgl. Basham, Arthur Llewellyn: The wonder that was India, London, 31967, S. 175 – es sind ja Nachkommen für die Weiterführung der Ahnenopfer erforderlich. 147 Hulin, Hegel et l’Orient, S. 139. 148 Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, S. 40. 149 Ebd., S. 43. 150 Ebd., S. 44. 151 Ebd., S. 59. 152 Ebd., S. 60.
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wenigstens eine philosophische Richtung – offenbar ein kulturrelativistischer Agnostizismus Diltheyscher Provenienz – mehr als ein Traum, nämlich wahr ist (ebenso wie auch die zugehörige Philosophiegeschichtsphilosophie, die, was ihre Differenziertheit angeht, an die Vorstellungen des Histomat erinnert: während nach diesem im 19. Jahrhundert auf den Idealismus mit seinem Geisterglauben der wissenschaftliche Materialismus gefolgt ist, ist nach Glasenapp mit der Rezeption östlicher Kulturen in der Gegenwart an die Stelle der Engstirnigkeit des mittelalterlich-Hegelschen Weltbildes eine weltumspannende philosophische Universalität getreten); der krasseste Widerspruch in Glasenapps Reflexionen besteht vielmehr darin, dass sein Kulturrelativismus ein genuin westliches Produkt ist, ja, dass es gar nichts Westlicheres geben kann als die Überzeugung, die Kulturen des Westens und des Ostens seien gleichberechtigt: Nichts läge einem Inder ferner als die Annahme, Kulturen mit entgegengesetzten Wertvorstellungen könnten trotzdem beide recht haben. Die prinzipielle Inkonsistenz in jedem Kulturrelativismus läuft darauf hinaus, dass das von ihm Behauptete dem von ihm Getanen absolut widerspricht: Die Methode des Kulturvergleichs ist Kulturen, die, wie die indische, nicht durch die Aufklärung hindurchgegangen sind, so wesensfremd, dass derjenige, der sich ihrer befleißigt, immer schon, auch wenn er sich darüber keine Rechenschaft abgibt, die Überlegenheit westlicher Methoden präsupponieren muss.153 Wäre es ihm wirklich ernst mit seiner These von der indischen Welt als einer Alternative zur europäischen, dann würde er, wie jeder Inder, loyal und ohne weitere Reflexionen zu der angestammten Kultur stehen müssen.154 Aber auch weitere Argumente, die unabhängig von Glasenapp angeführt werden könnten, um den Eurozentrismusvorwurf zu stützen, erweisen sich leicht als inkonsistent. So könnte – in Anlehnung an P. Winchs Übertragung von Kategorien des späten Wittgenstein auf die Sozialwissenschaften155 – die These vertreten werden, wir könnten das Wesen fremder Kulturen prinzipiell nicht erfassen und sie daher a fortiori nicht beurteilen. Aber, so muss man hier kritisch fragen, wie soll man denn wissen können, dass das Wesen einer Kultur bisher nicht adäquat dargestellt wurde, wenn wir nicht zumindest feststellen können, dass und warum eine Interpretation falsch ist? Und wie soll das möglich sein, ohne zumindest Einblicke in das Wesen einer Kultur in Anspruch zu nehmen? Kurz, die These von der absoluten Inkommen153 Vgl. die analoge Kritik bei Putnam, Hilary: Why reason can’t be naturalized, in: Synthese 52, No. 1, 1982, S. 3 – 23, bes. 10 ff. Nach Putnam ist der Kulturrelativismus im Grunde nur eine Form des Kulturimperialismus. 154 Ein ganz analoger Widerspruch eignet auch der Position jener konservativen Verfechter einer unreflektierten Sittlichkeit, wie sie in jeder Krisenzeit auftreten, um gegen die zersetzende moralische Reflexion zu polemisieren: Der Einsatz für die Sittlichkeit mit dem ausdrücklichen Argument, sie sei in ihrer Unbegründetheit völlig in Ordnung, widerspricht jedem natürlichen sittlichen Empfinden, das selbstverständlich eine „Begründung“ seiner Lebensform – etwa durch Gott, durch die Autorität der Väter usf. – für möglich hält, und ist selbst nur Produkt einer kranken Moralität. 155 Vgl. Winch, Peter: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie (englisch 1958), Frankfurt, 1966.
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surabilität der Kulturen ist pragmatisch widersprüchlich und daher notwendig falsch. – Doch wie steht es mit der vorsichtigeren These, man müsse zwar zugeben, dass eine fremde Kultur erkennbar sei, doch bedeute dies noch nicht, dass man sie auch verurteilen dürfe? Diese Behauptung ist sicher schwerer zu widerlegen, und zwar ist dies gründlich nur möglich, wenn nachgewiesen werden kann, dass a priori Normen als allgemein verbindlich ausgezeichnet werden dürfen. Dies zu zeigen ist nun sicher nicht Aufgabe der Geschichtsphilosophie, sondern einer normativen Theorie des objektiven Geistes; und eine solche ist im Rahmen dieser Abhandlung nicht thematisch.156 Ich muss mich daher hier mit der (an anderer Stelle näher ausgeführten) Versicherung begnügen, dass es einerseits durchaus Normen gibt, zu deren Geltungsbedingungen ein bestimmter historischer Rahmen gehört – so sind z. B. Gesetze gegen Wasserverschwendung in wasserarmen Regionen gerecht, in Ländern, in denen langfristig die Wasserversorgung gesichert ist, hingegen überflüssig und als unbegründete Einschränkung der Freiheit daher ungerecht. Aber die Existenz derartiger Normen schließt auf der anderen Seite nicht aus, sondern setzt in Wahrheit voraus die Existenz von Normen, die a priori allein aus dem Begriff des Menschen als Geistwesen folgen und deren logische Geltung daher keinen historischen Rahmenbedingungen unterliegt,157 auch wenn natürlich die Erkenntnis ihrer Wahrheit und erst recht ihre Realisierung nur in der Geschichte möglich ist. Aber ebenso wenig wie der Satz des Pythagoras (im euklidischen Universum) im Paläozoikum falsch war, nur weil er noch nicht bekannt war, ebenso wenig sind die Sklaverei oder das Kastensystem je rechtens gewesen, nur weil sie in bestimmten Kulturen soziale Akzeptanz genossen – und zwar auch und gerade bei den Opfern. Denn letzter Geltungsgrund von Normen ist nicht, ob sie Zufriedenheit erzeugen oder nicht, sondern ihre Verträglichkeit mit Prinzipien der praktischen Vernunft.158 156 Ich verweise dazu auf Ch. Jermanns und meine kritische Rekonstruktion der Hegelschen „Grundlinien“ in: Anspruch und Leistung von Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. von Ch. Jermann, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1987. 157 Gegen den Versuch, selbst allgemeinste Metanormen auf kulturspezifische Kontexte zu relativieren, vgl. Kuhlmann, Wolfgang: Reflexive Letztbegründung, Freiburg/München, 1985, S. 231 ff. 158 Hegels (letztlich auf Kants deontologische Ethik zurückgehende) Auffassung, die Perioden des Glücks einer Kultur seien die historisch uninteressantesten (Hegel, 12.42; vgl. Hegel, 4.327), mag brutal erscheinen; in Wahrheit ist sie allein in der Lage, fortschrittliche Bewegungen zu legitimieren, während eine Ethik des Glücks nur einen Beitrag zum Neokonservativismus darstellt. Denn natürlich kann man nie a priori wissen, ob etwa die Sklaven in der Antike unglücklicher waren als die modernen Massenmenschen; ja, es ist sogar wahrscheinlich, dass in Zeiten des Umbruchs, bei historischen Neuerungen, in denen notwendig eine alte Geborgenheit verlorengeht, zumindest vorübergehend ein Glücksverlust selbst bei den früher Unterdrückten stattfindet. (Man denke an das Los jener ersten indischen Witwen, die nicht verbrannt werden durften und die wahrscheinlich ein trauriges Leben zu verbringen hatten.) Aber daraus folgt nur, dass Glück kein letztes Kriterium für geschichtlichen Fortschritt ist – eben weil Glück etwas so Vages ist, dessen Vorhandensein oder Fehlen intersubjektiv (und oft genug auch subjektiv) nicht präzise auszumachen ist. (Was die leichter objektivierbare Kategorie des physischen Wohls angeht, kann man freilich durchaus davon ausgehen, dass die Verbrennung bei lebendigem Leib auch von den indischen Witwen, trotz des
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Wenn nun Normen existieren, deren Geltung a priori einzusehen ist, so folgt unweigerlich, dass ihnen widersprechende Zustände mit dem Prädikat des Unrechts versehen werden müssen.159 Nicht folgt jedoch, dass man die Menschen, die in diesen Zuständen leben, in dem Sinne verurteilen darf, dass sie eine Schuld an jenen Zuständen hätten – Unrecht und Schuld sind, wie wir auch aus dem Strafrecht wissen, zweierlei; Schuld setzt ja Unrechtsbewusstsein voraus. Aber eben wegen der Differenz von Unrecht und Schuld impliziert Fehlen von Schuld umgekehrt keineswegs Rechtmäßigkeit des Handelns.160 Wie soll nun gegenüber Kulturen gehandelt werden, die sich in diesem Zustande kollektiven und daher schuldlosen Unrechts befinden? Ja, ist überhaupt die Aufhebung dieses Unrechts ein legitimes geschichtsphilosophisches Ziel? Bezeichnenderweise lässt uns Hegel bei der Beantwortung dieser Fragen im Stich. Denn da nach ihm die orientalische Welt notwendig geschichtslos ist, müsste etwa Indien immer so bleiben, wie es zu seiner Zeit war – seine Unsittlichkeit müsste perennieren. Das hieße aber, dass ihm die Sittlichkeit Europas nie vermittelt werden könnte, obgleich sie nach objektiven Maßstäben die überlegene ist. Hegel lobt in diesem Sinne folgendes Verhalten der Engländer in Indien: „Sie sehen dem Verbrennen der Witwen ruhig zu und liefern Waffen zu den einheimischen Kriegen.“161 Hiermit aber suggeriert paradoxerweise auch und gerade Hegel relativistische Schlussfolgerungen im Sinne inkommensurabler Sprachspiele, wie Hulin zu Recht moniert: A la limite, nous sommes confrontés à l’absurdité de trois humanités incapables, par principe, de communiquer entre elles. De plus, seuls les Occidentaux sont ›sauvés‹, puisque les Africains et les autres primitifs paraissent définitivement murés dans l’état de nature et les Asiatiques à jamais prisonniers de l’esprit substantiel.162
verschiedenen kulturellen Kontextes, in dem sie lebten, nicht als Vergnügen empfunden wurde.) 159 Ferner folgt daraus, dass allein ein evolutionistisches Geschichtsmodell akzeptabel ist, zu dem die Alternative entweder ein Kulturrelativismus ist, der zwar Unterschiede zwischen den einzelnen Kulturen anerkennt, deren Bewertung jedoch für unzulässig erklärt, oder aber ein nicht gerade durch Konkretheit ausgezeichneter Standpunkt, nach dem es zwar durchaus verbindliche Werte gibt, diese aber eigentlich und an sich bei allen Völkern verwirklicht sind. Will man diese beiden gleichermaßen inkonsistenten und unfruchtbaren Positionen vermeiden, so bietet sich wohl nur ein wie auch immer modifizierter Evolutionismus an. 160 Auf einer schlichten Verwechslung von Unrecht und Schuld basiert die verbreitete Auffassung, wir dürften eine Kultur nur dann verurteilen, wenn in ihr selbst schon Kritik an ihr laut geworden sei – so sei es etwa legitim, die Spanier in ihrem Verhalten zu den Indianern zu kritisieren, weil schon Bartolomé de Las Casas dies getan habe; eine Verurteilung der Azteken sei aber nicht möglich, weil die Praxis der Menschenopfer bei ihnen prinzipiell nicht in Frage gestellt worden sei. Diese Auffassung hat freilich das merkwürdige Resultat zur Folge, dass eine Kultur umso höher steht, je weniger kritische Geister sie in ihren eigenen Reihen hat; ohne Las Casas wäre demnach Spanien ein rechtlicheres Land gewesen! 161 GPh 365. 162 Hulin, Hegel et l’Orient, S. 139 f.
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Offenbar rächt sich hier Hegels oben berührte Auffassung von den orientalischen Kulturen als tendenziell geschlossenen Einheiten. Man wird dagegen darauf beharren, dass in jeder Kultur, allein schon insofern sie eine Religion hat, noch so bescheidene universalistische Momente stecken, an die daher anzuknüpfen ist, um über die unrechtlichen Institutionen in ihr hinauszuführen, die ohnehin nur dann wirklich beseitigt werden können, wenn ihre Unrechtlichkeit auch von allen Betroffenen als solche eingesehen wird. Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht die Entwicklung Indiens: Das englische Verbot der Witwenverbrennung und der Kindestötung in Indien konnte nur durchgesetzt werden, weil es den Briten – über äußeren Druck hinaus, der freilich auch erforderlich und daher legitim war – gelang, zahlreiche Brahmanen davon zu überzeugen, dass diese Bräuche den Prinzipien ihrer eigenen Religion widersprachen;163 und die zentrale Symbolfigur Indiens im 20. Jahrhundert, Gandhi, verdankte ihren Erfolg bei den eigenen Landsleuten u. a. der geglückten Internalisierung westlicher Normen, wie etwa der Ablehnung der schlimmsten Auswüchse des Kastensystems, in dem Louis Dumont in „Homo hierarchicus“ etwas für Indien Wesentliches sieht. In der Tat lässt sich geschichtsphilosophisch über Hegel hinaus sagen, dass die geschichtliche Bewegung Europas nicht zufällig schließlich auch auf die geschichtslosen Länder übergreifen und die eigene historische Kraft damit unter Beweis stellen musste, dass sie diese aus dem Banne der Substanz befreite, sie aus ihrer ahistorischen Versteinerung zu sittlicherem Leben erweckte. Dieser geschichtliche Übergriff Europas war a priori zu fordern – und er fand auch real statt im Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem eine aktuelle Geschichtsphilosophie einen der wichtigsten historischen Vorgänge der nachhegelschen Zeit erblicken muss. Dieses Ereignis – dessen verbrecherische Schattenseiten nicht bestritten werden sollen164 – muss m. E., trotz allen mit ihm verbundenen Unrechts, in seiner universalhistorischen Bedeutung positiv gewertet werden, stellt es doch den energischsten Schritt zu so etwas wie einer Weltkultur dar. Sicher hat die totale Verflechtung der Welt im 20. Jahrhundert auch desolate Folgen – die Wirren einer Weltwirtschaft, deren Einflusssphären nicht mit denen staatlicher Macht zusammenfallen, auch Weltkriege hat erst das 20. Jahrhundert kennengelernt. Aber das alles ändert nichts daran, dass der Weg in Richtung auf eine universale Solidargemeinschaft der Menschheit nicht nur ein irreversibler Prozess ist, dessen Umkehrung nicht mehr möglich ist, sondern auch ein unabdingbares Erfordernis einer Vernunft, die sich – wie im deutschen Idealismus – als absolut, als 163
Vgl. dazu Griffiths, The British Impact on India, S. 210 – 225. Ich nenne hier nur die rücksichtlose Zerstörung sinnvoller und bewährter Institutionen, die – nicht notwendig! – mit der Beseitigung naturrechtswidriger Sitten Hand in Hand ging. Im Falle Indiens ist besonders an die Auflösung der historisch gewachsenen Dorfstruktur zu erinnern, die einer übersteigerten Zentralisierung zum Opfer fiel. Ohnehin ist übrigens klar, dass der Export kontingentester Konsumgüter des Westens in die Entwicklungsländer zum Zwecke der Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit – die sog. „Coca-Colonisation“ – abzulehnen ist; aber es zeugt von einem merkwürdigen Verständnis der Menschenrechte, wenn ihr „Export“ auf die gleiche Stufe gestellt wird wie derjenige von Nestlé-Babymilch. 164
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universal begriffen hat. Dieser Prozess der Vereinheitlichung von Grundwerten in der Welt stellt jedoch nicht nur unter formalen Gesichtspunkten etwas Positives dar – positiv ist auch, dass die Normen, die wenigstens auf dem Papier nahezu aller Verfassungen der Welt stehen, von inhaltlichen Vorstellungen geprägt sind, die sich der europäischen Philosophie verdanken, in der sich die Vernunft, zum ersten Mal in der Geschichte des uns bekannten Kosmos, als letzte Instanz aller Normen erfasst hat. Dass Japan nach seiner (relativ autonom erfolgten) Öffnung gegenüber dem Westen deutsches und französisches Recht rezipiert hat, darf ohne Weiteres positiv bewertet werden, auch und gerade für das Land selbst (dasselbe gilt für die Tatsache, dass die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Japan eine liberale, demokratische Verfassung aufgezwungen haben); dass in der Türkei durch die kemalistischen Reformen die Scharia durch Gesetze aus dem Schweizer Zivil-, dem italienischen Strafund dem deutschen Handelsrecht ersetzt wurde, dass durch sie Frauen Wahlrecht erhielten und ihnen die Berufswelt geöffnet wurde, sollte ohne Hemmungen als Fortschritt gewürdigt werden – wie umgekehrt die Regressionen im Gefolge z. B. gewisser Revitalisierungen des Islams als das bezeichnet werden sollten, was sie sind: Barbarei.165 Wer hierin einen illegitimen Eurozentrismus sieht, vergisst, dass die Grundlage, von der aus er ungerechtfertigte Übergriffe Europas auf fremde Kulturen verwerfen könnte, durch zutiefst europäische Werte bestimmt ist – die Kategorie der Selbstbestimmung ist ein Gedanke, der sich einer mehrere Jahrtausende währenden europäischen Tradition verdankt, die in der Philosophie des deutschen Idealismus ihre bisher umfassendste theoretische Klärung gefunden hat. Wer also z. B. 1985 sagte, der Iran dürfe nicht durch die westliche Verwerfung von Folter, Todesstrafe, religiöser Intoleranz usf. diffamiert werden, sondern müsse seinen eigenen, ihm nicht von außen vorgeschriebenen Weg frei finden, argumentierte, auch in der Negation der Allgemeingültigkeit europäischer Werte, noch mit inkonsistenten Restbeständen europäischer Ethik.166 Sollte sich freilich diese Argumentations- und Betrachtungsweise in Europa noch weiter durchsetzen – was das Ausscheiden Europas aus der Weltgeschichte endgültig besiegeln würde –, wäre freilich wirklich zu wünschen, dass auf andere Länder möglichst wenig europäischer Einfluss ausgeübt würde. Denn gegenüber dem verzweifelten Räsonier-Relativismus einer zerfallenden Kultur hat in der Tat selbst jede noch 165 Aufgrund des unbestreitbaren Zusammenhanges von Religion und Rechtssystem wird man davon ausgehen können, dass auch die Christianisierung Lateinamerikas und eines großen Teils von Schwarzafrika (wie seinerzeit die der Kelten und Germanen) etwas universalgeschichtlich Positives darstellt – zumal vor dem Hintergrund der Bekehrung zum Islam als der nächstliegenden Alternative. 166 Die Forderung nach Anerkennung fremder, gegen den eigenen ordre public verstoßender Rechtssysteme als gleichberechtigt mit dem eigenen mag fortschrittlich klingen – sie beinhaltet freilich u. a. die Legitimation der Auslieferung von Kriminellen oder auch politisch Verfolgter an Staaten mit Folter, Todesstrafe usf. Hier zeigt sich, wie die in der Gegenwart von allen möglichen Lagern propagierte Kritik am Eurozentrismus in Wahrheit einen der energischsten Beiträge zur Gegenaufklärung darstellt, die immer dort eintritt, wo die Aufklärung sich selbst eines verbindlichen, ihre eigene Kritik letztbegründenden Fundaments beraubt hat.
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so barbarische unsittliche Sittlichkeit ein überlegenes Recht: Ihrem Weg haben wir daher Glück zu wünschen. Postskript 2013 Den vorliegenden Text habe ich 1986 als 24jähriger nach Abschluss von „Hegels System“ geschrieben167 und er gibt nur teilweise meine heutigen Überzeugungen wieder – zumal stilistisch würde ich heute meine heftige Polemik gegen die Kritik am Eurozentrismus modifizieren, weil diese Kritik durchaus der korrekten Wahrnehmung objektiver Gefahren des Eurozentrismus entspringen kann. Ich habe aber seinem Wiederabdruck, mit nur wenigen Korrekturen, zugestimmt, weil ich weiterhin der Ansicht bin, dass es zu einer selbstbewussten Verteidigung des ethischen Universalismus, ungeachtet seines westlichen Ursprungs, und zum Evolutionismus in der Geschichtsphilosophie keine Alternative gibt und dass kein Denker eine so plausible Verbindung von Naturrecht und Geschichtsphilosophie vorgelegt hat wie Hegel. Die Vermengung historischer und systematischer Untersuchungen habe ich erst in den 1990er Jahren überwunden. Wer meine heutige, differenzierendere Position zur Kenntnis nehmen möchte, sei auf mein systematisches Hauptwerk „Moral und Politik“ verwiesen, zumal Kap. 3.5.1.168 Was die philologische Rekonstruktion von Hegels Indienbild betrifft, habe ich sie in dem Aufsatz „The Search for the Orient in German Idealism“ einerseits auf den ganzen Orient, andererseits auf Hegels Zeitgenossen Friedrich Schlegel, Schelling und Schopenhauer erweitert.169 Einen philosophischen Überblick über die Geschichte der Geschichtsphilosophie biete ich in „Der Ort von Kants Geschichtsphilosophie in der Geschichte der Geschichtsphilosophie“.170
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Er erschien in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, hrsg. von Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt am Main, 1986, S. 136 – 182. 168 Hösle, Vittorio: Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München, 1997. 169 Hösle, Vittorio: The Search for the Orient in German Idealism, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 163, 2013, S. 431 – 454. 170 Hösle, Vittorio: Der Ort von Kants Geschichtsphilosophie in der Geschichte der Geschichtsphilosophie, in: Grundlagen des Rechts. Festschrift für P. Landau, hrsg. von R. H. Helmholz, P. Mikat, J. Müller und M. Stolleis, Paderborn u. a., 2000, S. 997 – 1012.
Fliegen oder Springen? Kierkegaards Hegel-Kritik – und ihre Folgen in der französischen Phänomenologie Jens Bonnemann Dass philosophische Ideen mitunter leichter den Atlantik überqueren als den Rhein, gilt auch für das Denken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Während sich bereits im 19. Jahrhundert in den USA ein Hegelianismus etabliert – so unterscheidet man etwa einen Ohio-Hegelianismus von einem St. Louis-Hegelianismus – und von einigem Einfluss z. B. auf den Pragmatismus von John Dewey und George Herbert Mead gewesen ist,1 gelingt es dieser Philosophie erst ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch in Frankreich allmählich Wurzeln zu schlagen. Die ersten Leser, die Hegel hier nicht nur studiert, sondern seine Gedanken auch bei der Entwicklung ihrer eigenen Positionen verarbeitet haben, sind zugleich die französischen Phänomenologen der ersten Stunde. Hier sind in erster Linie Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961) und Emmanuel Levinas (1906 – 1995) zu nennen. Die folgenden Überlegungen geben einen Einblick in eine ungewöhnliche Rezeptionsgeschichte der Philosophie Hegels: Aufgrund des verzögerten Studiums von Hegel und Sören Kierkegaard (1813 – 1855) erfolgt deren Kenntnisnahme in Frankreich in einem engen Diskurszusammenhang mit den Lehren Edmund Husserls (1859 – 1938) und Martin Heideggers (1889 – 1976). Dies führt zu eigenwilligen, aber sehr einflussreichen inhaltlichen Verschiebungen: In den Augen ihrer Leser plädieren alle die genannten Denker gegen die Vorherrschaft der Epistemologie und für den Rückgang auf eine subjektive Erfahrung, die sich nicht einfach mit Erkenntnis gleichsetzen lässt. Hierbei ist für die genannten französischen Phänomenologen der Bezugspunkt der Hegel-Lektüre – dies soll in diesem Beitrag u. a. nachgewiesen werden – von Anfang an die Existenzphilosophie Kierkegaards. Das bedeutet, der frühe Hegel wird entweder selbst als Existenzphilosoph verstanden oder der späte Hegel von dieser Position aus kritisiert. Man bekommt den Eindruck, dass Kierkegaard hier wie ein Sieb funktioniert, um von Hegel dasjenige herauszufiltern, das für das eigene Denken fruchtbar gemacht werden kann. Es lässt sich daher in einem weiteren Schritt zeigen, dass die Kritik, die Kierkegaard gegen Hegel im Besonderen, das objektive Denken 1 Vgl. The American Hegelians. An Intellectual Episode in the History of Western America, hrsg. von William H. Goetzman, New York, 1973.
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im Allgemeinen formuliert, deutliche Spuren in den Hauptgedanken dieser drei Philosophen hinterlassen hat – bei Sartre springt dies ins Auge, bei Merleau-Ponty und Levinas ist der Einfluss hingegen eher vermittelt und untergründig. Der erste Teil dieses Aufsatzes bereitet den Boden für die darauffolgende Gedankenführung, indem er Kierkegaards Hegel-Kritik in der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“ (1846) erläutert. In dieser Schrift wird gegen das Primat der Erkenntnis ein bestimmtes Verständnis von Subjektivität entwickelt, das vor allem im 20. Jahrhundert seine Kreise ziehen wird. Als Gegenbegriff zur Erkenntnis bezieht sich der Begriff der Existenz auf einen Wirklichkeitsbereich, dem man sich nicht durch einen objektivierenden Zugriff nähern kann. Kierkegaard erweist sich als richtungsweisend, insofern er auf die Grenzen der Epistemologie aufmerksam macht. Jeweils auf ihre Weise verfolgenden die drei Phänomenologen die Spuren von Kierkegaards Hegel-Kritik, auch wenn keiner von ihnen sich tatsächlich als ein Kierkegaard-Schüler bezeichnen würde (I). Im Anschluss daran bietet der Beitrag zunächst einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte Hegels, indem er vor dem Hintergrund der französischen Universitätsphilosophie, innerhalb derer jene drei Autoren ihre theoriegeschichtliche Sozialisation erfahren haben, auf die Pioniere der französischen Hegelforschung zu sprechen kommt. Es sollen in den Grundzügen die insgesamt wohl eher exzeptionellen Lesarten von Jean Wahl (1888 – 1974), Alexandre Kojève (1902 – 1968) und Jean Hyppolite (1907 – 1968) skizziert werden, die nichtsdestotrotz das Hegel-Bild in Frankreich mit großer Nachhaltigkeit geprägt haben (II). Im letzten Teil dieser Untersuchung soll schließlich gezeigt werden, dass Sartre, Merleau-Ponty und Levinas in ihrem Philosophieverständnis maßgeblich von Kierkegaards Grundgedanken beeinflusst sind, demzufolge die Perspektive einer objektivierenden Erkenntnis bestimmte grundlegende Phänomene unweigerlich aus dem Blick verlieren muss. Dieser Gedanke findet auf recht unterschiedliche Weise seinen Niederschlag, sobald ab etwa der Mitte der dreißiger Jahre die produktive Phase dieser Philosophen einsetzt. Von hier aus lässt sich wiederum der Nachweis erbringen, dass sich die Hauptwerke von Sartre, Merleau-Ponty und Levinas zugleich auch als kritische Kommentare zur Philosophie Hegels lesen lassen – und dies gilt selbst dann, wenn die Referenz auf diesen klassischen deutschen Denker gar nicht explizit vorgenommen wird (III). Allerdings kann eine ausführliche Klärung der Frage, inwieweit diese Autoren, wenn sie Hegel würdigen oder kritisieren, nicht eher ein durch Jean Wahl und Alexandre Kojève verzerrtes Hegel-Bild im Auge haben, an dieser Stelle nicht geleistet werden. Diese nahe liegende Frage würde eine ausführliche Berücksichtigung der Schriften Hegels erforderlich machen und daher den Rahmen dieses Beitrags sprengen. I. Um einen Einstieg in Kierkegaards Einspruch gegen das Primat des Denkens zu gewinnen, bietet sich jene für den vorliegenden Aufsatz titelgebende Metapher an,
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die er anführt, um sein eigenes Denken von einem objektiven Denken abzugrenzen, das seine Gegenstände zu abgeschlossenen Objekten fixiert. So unterscheidet er in einem anschaulichen Bild zwischen einem Denken, das springt, und einem Denken, das fliegt, aber letztlich an seinem eigenen Absolutheitsanspruch scheitern muss. Wenn man in diesem Bild bleibt, dann begreift jede Form des Denkens offenbar seine Objekte aus der Luft. Aber der springende Denker weiß, dass er situiert ist und sein Blick auf die Objekte selbst noch in der Luft ein ganz und gar irdischer bleibt, während der fliegende Denker beansprucht, die Welt von einem absoluten Gesichtspunkt aus erkennen zu können: Das Springen bedeutet, daß man wesentlich der Erde angehört und die Gesetze der Schwere respektiert, so daß der Sprung nur das Momentane ist; aber das Fliegen bedeutet, daß man von den Erdgegebenheiten befreit ist, was nur den mit Flügeln ausgestatteten Geschöpfen vorbehalten ist; vielleicht auch dem Bewohner des Mondes, vielleicht – vielleicht findet das System auch dort erst seine wahren Leser. Man hat das Menschsein abgeschafft.2
Ein fliegendes Denken erfolgt also von einem Gesichtspunkt des Absoluten, von dem aus die Wirklichkeit in den Begriff aufgelöst werden soll. Hegel würde diese Deutung auch gar nicht in Abrede stellen, denn nach ihm besteht die einzige Aufgabe der Wissenschaft wie auch der Philosophie in der Überwindung aller realen Gegensätze im Denken, wodurch alles Andere auf das Eigene zurückgeführt wird: Beim Erkennen ist es überhaupt darum zu tun, der uns gegenüberstehenden objektiven Welt ihre Fremdheit abzustreifen, uns, wie man zu sagen pflegt, in dieselbe zu finden, welches ebensoviel heißt, als das Objektive auf den Begriff zurückzuführen, welcher unser innerstes Selbst ist.3
Das anschauliche Bild vom fliegenden und springenden Denken bietet sich an, um schon einmal vorwegnehmend die Haltung der drei Phänomenologen zu umreißen: Sartre, Merleau-Ponty und Levinas fühlen sich von der Phänomenologie wie auch der Existenzphilosophie angezogen, gerade weil es sich hierbei um ein sozusagen ,erdverbundenes‘, wie Kierkegaard eben sagen würde: ,springendes‘ Denken handelt. Ihre Skepsis gegenüber Idealismus und Szientismus beruht wiederum darauf, dass hier ,geflogen‘ wird – also von einem absoluten Gesichtspunkt, der seine eigene Situiertheit nicht berücksichtigt, das Reale auf das Denken zurückgeführt wird. Bei aller anfänglichen Faszination versagen sie Hegel – aber mit ganz ähnlichen Gründen auch dem Marxismus4 – eben genau dann die Gefolgschaft, wenn er vom Springen zum Fliegen übergeht. Merleau-Ponty ist selbst ganz nahe an Kierkegaards Bild,
2 Kierkegaard, Sören: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken. Erster Teil, München, 1994, S. 117 (VII 102). 3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 8, S. 351. 4 Vgl. hierzu Sartres Marxismus-Kritik in Sartre, Jean-Paul: Fragen der Methode, Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 27 – 42.
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wenn er dem Idealismus wie auch dem Szientismus grundsätzlich ein „überfliegendes Denken“5 vorhält. Im Zusammenhang mit der Fragestellung gilt es nun, die wesentliche Argumentation hervorzuheben, auf die sich Kierkegaards Ablehnung von Hegels idealistischer Metaphysik stützt. Die wichtigsten Argumente gegen Hegel finden sich vor allem in der umfangreichen Schrift mit dem sperrigen Titel „Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken“ (1846), die vielfach als Kierkegaards philosophisches Hauptwerk angesehen wird und in der sich – wie etwa Konrad Liessmann hervorgehoben hat – „die vielleicht radikalste Apologie von Subjektivität [findet], die die Moderne entwickelt hat“.6 Wie bereits deutlich geworden ist, wird das so harmlose Alltagswort ,Existenz‘ hier zu einem philosophischen Kampfbegriff, der gegen Hegels System des absoluten Idealismus gerichtet ist. Kierkegaard will nun zeigen, aus welchem Grund das objektive Denken die schlichte Existenz des einzelnen Menschen nicht verdauen kann. Die Aufgabe des objektiven Denkens wird ganz genauso wie später bei Merleau-Ponty beschrieben: Seine Strategie besteht darin, fertiges Wissen hervorzubringen, indem es seine Themen als fixierbare Erkenntnisobjekte behandelt. In Kierkegaards Beispiel des Christentums fragt das objektive Denken etwa, was dieses sei und wie es um seinen Wahrheitsgehalt oder die Authentizität seiner historischen Dokumente bestellt ist. Das subjektive Denken fragt dagegen nicht nach der Wahrheit von etwas, sondern nach dessen Bedeutung für das Subjekt und seine Lebensführung. Das Problem ist also „nicht die Frage nach der Wahrheit des Christentums […], sondern die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Christentum“.7 Gemeint sind also Fragen wie: Was heißt es für mich, ein Christ zu sein? Wie werde ich ein Christ? Im Unterschied zum objektiven Denken, dem es um Erkenntnisse geht, steht beim subjektiven Denken die Frage der Aneignung im Vordergrund: „Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert und existiert in ihm“.8 Kierkegaard wählt bewusst das Beispiel des Christseins, um zu zeigen, warum das subjektive Denken nicht neutral sein kann. Denn bei der Frage, wie man Christ wird, stehe meine eigene ewige Seligkeit auf dem Spiel,9 und deshalb versucht ein solches Denken so subjektiv wie möglich zu werden, d. h. „sich gerade existierend in die Subjektivität zu vertiefen“.10 Das objektive Denken kann, wie Kierkegaard fortfährt, noch so viele Wahrheiten über das Christentum herausgefunden haben, daraus folgt noch nicht mit logischer 5
Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1994, S. 103. Liessmann, Konrad Paul: Kierkegaard zur Einführung, Hamburg 2006, S. 110. 7 Kierkegaard, Brocken, Erster Teil, S. 15 (VII 7 f.). 8 Ebd., S. 65 (VII 55). 9 Ebd., S. 15 (VII 6). 10 Ebd., S. 182 (VII 159 f.). 6
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Notwendigkeit, dass ich nun ein Christ geworden bin – selbst wenn das objektive Denken auch der Ansicht ist, dass sich eine Entscheidung eben genau auf diese Weise vollzieht: Wenn ein solcher Denker die Auffassung vertritt, dass es nur auf das Wissen und die Argumente ankommt und nun die Frage danach aufwirft, wie jemand zu einem Christen wird, so bleibt ihm nichts übrig, als von einem allmählichen „Sich-in-eine-qualitative Entscheidung-Hineinquantitieren“11 auszugehen. Ein solches Hineinquantitieren besteht etwa darin, dass das Subjekt durch zählbare argumentative Schritte in den Glauben hineinkommt. Wenn die Entscheidung aber auf eine solche Weise zustande käme, dann wäre sie nichts weiter als ein bestimmter Wissensstand. Wie Kierkegaard geltend macht, lässt sich jedoch niemals angeben, an welcher Stelle ich so viel Wissen erworben habe, dass sich das Christ-sein logisch von selbst ergibt. Der Glaube beruht seiner Ansicht nach eben nicht auf dem Wissen – man kommt nicht durch „das verstandesmäßige Quantitieren“12 hinein –, sondern auf einer Entscheidung, d. h. durch einen qualitativen Sprung, der sich aus keiner Erkenntnis ableiten lässt. Auf diesen Gedanken legt Kierkegaard das volle Gewicht: Wenn es keinen approximierenden Übergang von der Erkenntnis zur Entscheidung gibt, dann ist der existierende Einzelne, der sich entscheidet, gerade eine Wirklichkeit, die sich nicht in Erkenntnis überführen lässt. Und damit bekommt das absolute System des Wissens unübersehbare Risse: Denn während der Idealismus Hegels von einer Identität von Denken und Sein ausgeht, so zeigt sich doch am Beispiel des einzelnen Menschen, der eine Entscheidung trifft: „Existenz scheidet Denken und Sein“.13 Die Entscheidung lässt sich im Übrigen ebenso wenig von der Zukunft aus, auf die sie sich richtet, wie von der Vergangenheit aus, die der Entscheidung vorausgeht, in Erkenntnis überführen. Wenn das Resultat des Handelns zuverlässig prognostiziert werden könnte, so würde das Handeln zu einem Tausch werden. Denn ein völlig kalkulierbares Ergebnis würde das Handeln sozusagen von der Zukunft her in Wissen verwandeln. Aber tatsächlich schließt, wie Kierkegaard insistiert, jedes Handeln immer auch Ungewissheit ein und bleibt insofern ein Wagnis – selbst wenn der Handelnde alles daran setzen mag, einen sicheren Ausgang zu antizipieren.14 Damit glaubt Kierkegaard nun dasjenige gefunden zu haben, wonach auch Sartre, Merleau-Ponty und Levinas auf ihre Weise suchen werden: Ein Sein, das sich dem Gedacht- und Erkannt-werden entzieht, aber dennoch in der Erfahrung aufgewiesen werden kann. Dies ist für Kierkegaard eben der existierende Einzelne, der sich nicht in der Erkenntnis, sondern in seiner Entscheidung verwirklicht, die aus der Erkenntnis nicht abgeleitet werden kann: „Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, daß 11
Ebd., S. 88 (VII 76). Ebd., S. 225 (VII 196). 13 Kierkegaard, Brocken, Zweiter Teil, S. 35 (VII 287). 14 Ebd., S. 132 f (VII 368 f.).
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das Leben nach rückwärts verstanden werden muß. Dabei vergißt man aber den anderen Satz, daß es vorwärts gelebt werden muß“.15 Wenn es nun gilt, darüber Rechenschaft abzulegen, „was es heißt, Mensch zu sein“,16 so ist nach Kierkegaard das objektive Denken schon deshalb aus dem Spiel, weil eine solche Frage nicht auf argumentativ-diskursive Weise bewältigt werden kann. Denn was immer auf diesem Wege herauskommt, kann immer nur für Allgemeines gültig sein. Ganz im Gegenteil führt der Weg, den es hier einzuschlagen gelte, vielmehr zur Betrachtung des individuellen Lebens, das der Einzelne führe: Aber Existenz bedeutet vor allem, ein Einzelner sein, und daher kommt es, daß das Denken von der Existenz absehen muß, weil das Einzelne sich nicht denken läßt, sondern nur das Allgemeine.17
Die Existenz des Einzelnen zeichnet sich nach Kierkegaard nun dadurch aus, dass sie, solange dieser Einzelne noch lebt, nichts fix und fertiges ist, sondern sich in einem unaufhörlichen Werden verwirklicht. Die Erkenntnis scheitert am Einzelnen, aber sie scheitert ferner auch an dessen Nicht-Fixierbarkeit. Um zum Objekt eines Systems des Wissens werden zu können, muss etwas sich durch Abgeschlossenheit auszeichnen. Insofern jedoch nach Kierkegaard „der Existierende […] beständig im Werden“18 und daher unabgeschlossen ist, entzieht er sich der Objektivierbarkeit. Selbst wenn der Einzelne sich vor Augen hält, dass „in jedem Augenblick die Möglichkeit des Todes vorhanden“19 ist, so lässt sich doch niemals einMoment angeben, in dem seine Existenz als vollendet angesehen werden kann. Deshalb kann es zweifellos ein logisches System geben, aber die Existenz des Einzelnen wird dort keinen Platz finden.20 Dort, wo das objektive Denken an die Grenzen seiner Berechtigung stößt, übernimmt sozusagen das subjektive Denken, das nicht danach fragt, was der Einzelne ist und welches Wissen sich über ihn gewinnen lässt, sondern vielmehr versucht, seine Situation als Wählender deutlich zu machen.21 Aber schon deswegen, weil der Einzelne sich in seinen Entscheidungen verwirklicht, kann dieses adäquate Selbstverständnis keine kontemplative Betrachtung sein, die am Primat der Erkenntnis festhalten würde: Dies Selbstbewußtsein ist nicht Betrachtung, denn wer das glaubt, hat sich selbst nicht verstanden, sintemal er sieht, daß er selbst zu gleicher Zeit im Werden ist, und mithin nichts für
15
Zit. nach Gardiner, Patrick: Kierkegaard, Freiburg/Basel/Wien, 2001, S. 116. Kierkegaard, Brocken, Zweiter Teil, S. 3 (VII 259). 17 Ebd., S. 29 (VII 281). 18 Kierkegaard, Brocken, Erster Teil, S. 78 (VII 67). 19 Ebd., S. 74 (VII 63). 20 Ebd., S. 101 (VII 88). 21 Ebd., S. 123 (VII 108). 16
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die Betrachtung Abgeschlossenes sein kann. Dies Selbstbewußtsein ist daher Handlung, und diese Handlung wiederum ist die Innerlichkeit.22
Im Unterschied zum Selbstbewusstsein im Deutschen Idealismus macht Kierkegaard hier also ein praktisches Selbstverhältnis geltend, das sich selbst nicht erkennt, sondern hervorbringt:23 es ist eine Besinnung auf sich selbst, die selber eine Handlung ist, und darum habe ich statt des Ausdrucks ,sich selbst erkennen’ mit Fleiß den Ausdruck ,sich selbst wählen’ gebraucht […]. Durch den Umgang des Individuums mit sich selbst wird das Individuum mit sich selbst geschwängert und gebiert sich selbst.24
Vor allem Jean Wahl aber auch Jean Hyppolite scheinen die kritischen Einwände Kierkegaards gegen die Metaphysik Hegels ausgesprochen ernst zu nehmen, was auch in ihrer eigenen Position gegenüber dem deutschen Philosophen ersichtlich wird. Dennoch verfolgen sie, wie sich im Folgenden herausstellen wird, das Bestreben, die strikte Differenz zwischen diesen Philosophen einzuebnen, indem sie Hegel an Kierkegaard annähern. II. Im zweiten Teil dieses Beitrags soll nun ein Blick auf die Eigenart der französischen Hegel-Rezeption geworfen werden, in deren Folge Sartre, Merleau-Ponty und Levinas jeweils auf ihre Weise das Projekt Kierkegaards umzusetzen versuchen. Eine eher oberflächliche Vermittlung Hegels erfolgt bereits in den Vorlesungen, die der Philosoph Victor Cousin (1792 – 1867) in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gehalten hat. Bei seinem Versuch, eine Brücke zwischen französischer und deutscher Philosophie zu schlagen, spielen vor allem die allgemeine Idee eines umfassenden philosophischen Systems sowie der Begriff des Absoluten eine gewichtige Rolle. Es erfolgt in dieser Epoche wohl eine Cousin zu verdankende Popularisierung, aber keineswegs ein ernsthaftes Studium des Hegelschen Idealismus.25 Insgesamt lässt sich feststellen, dass lediglich einzelne Gedanken zusammenhangslos und recht plakativ aufgenommen werden, so dass Hegel im französischen 19. Jahrhundert vor allem als eine Art Schlagwort in philosophischen und politischen Debatten existiert. Hieran ändert sich auch im Grunde 100 Jahre lang nichts Wesentliches. 22 Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst, München, 1991, S. 149 (IV 409). Siehe hierzu auch die Erläuterung von Tilo Wesche: „Kierkegaard verlegt damit die Vergewisserung von der Wahrheit in die Erfahrung: Wahrheit hat ihren ursprünglichen Ort in der Praxis“. Wesche, Tilo: Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart, 2003, S. 100. 23 Siehe hierzu noch einmal Wesche: „Das Kierkegaardsche ,Denken in Existenz‘ geht aus sich selbst, d. h. aus Vernunftgründen über sich hinaus, und zwar in existentielle Praxis, die dagegen vom reinen Denken marginalisiert wird“. Wesche, Kierkegaard, S. 155. 24 Kierkegaard, Sören: Entweder-Oder. Zweiter Teil, Band 2, Köln, 1987, S. 276 (II 232). 25 Das Urteil der Forschung über das Hegel-Verständnis von Victor Cousin ist im Übrigen eher vernichtend: „Es läßt sich immer nachweisen, daß Cousin nichts von Hegel verstanden hat“. Vermeren, Patrice: Victor Cousins Hegel, in: Der französische Hegel, hrsg. von Ulrich J. Schneider, Berlin, 2007, S. 33 – 48, hier: S. 47.
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Wenn man nun dem späten Sartre Glauben schenken will, dann liegt der Grund für die verzögerte Hegel-Rezeption schlichtweg in den Vorbehalten der französischen Universitätsphilosophie gegenüber dem Marxismus: 1925, als ich 20 Jahre alt war, gab es an der Universität keinen Lehrstuhl für Marxismus, und die kommunistischen Studenten vermieden es, sich auf den Marxismus zu berufen oder ihn gar in ihren schriftlichen Arbeiten zu erwähnen; sie wären bei allen Prüfungen durchgefallen; der Horror vor der Dialektik war derart groß, daß wir selbst Hegel nicht kennen lernten.26
Ob für diese Ablehnung Hegels schlussendlich nur ein tief verwurzelter Antikommunismus verantwortlich ist, wie Sartre hier unterstellt, ist zumindest zweifelhaft, wenn man etwa an die scharfe Äußerung von Henri Bergson (1959 – 1941) in einer Rede in der Académie des sciences morales et politiques denkt: Hegels Philosophie, so heißt es dort, artikuliert nichts weiter als die Verworfenheit der deutschen Kultur; sie ist „ganz einfach die intellektuelle Übertragung seiner Brutalität, seiner Begehrlichkeiten und Laster“. Deutschland seinerseits ist, wie Bergson fortfährt, „eine sich auf Hegel berufende Beutemachernation“.27 Abgesehen von ideologischen Barrieren – sei es Antikommunismus, sei es der Deutsch-Französische Krieg von 1870 oder schließlich der Erste Weltkrieg – steht aber das geistige Klima der französischen Universitätsphilosophie selbst einer Hegel-Rezeption im Wege. Vorherrschend ist in dieser Zeit ein epistemologisches Denken, das Descartes und Kant, aber auch Spinoza miteinander zu verbinden versucht. Wichtige Namen sind in diesem Zusammenhang Léon Brunschvicg (1869 – 1944) und Émile-Auguste Chartier (1868 – 1951), genannt Alain, die als Lehrer von Sartre, Merleau-Ponty und Levinas in Erscheinung getreten sind und in der Tradition des Wissenschaftstheoretikers Jules Lachelier (1832 – 1918) stehen. Das kritizistisch-rationalistische Denken dieser Philosophen ist vor allem von epistemologischen, bei Alain auch von moralischen Fragestellungen bestimmt. Jedenfalls tut es sich in inhaltlicher Hinsicht eher schwer mit der von Hegel zugemuteten Identität zwischen logischem und historischem Werden. Sartre selbst schreibt über das Verhältnis der Philosophieprofessoren zu Hegel: Ein anderes Beispiel ist Lachelier, der sagte: ,Solange ich Präsident der Prüfungskommission für die Agrégation bin, wird jeder durchfallen, der in seiner Arbeit Hegel erwähnt.‘ Und tatsächlich hat Lachelier einige Jahre lang verhindert, daß die Philosophie Hegels in Frankreich Eingang fand, während sie sich in England und Italien ausbreitete. Genauso hat Brunschwicg – wir hörten seine Vorlesungen an der Sorbonne, weil wir ihn für schlauer hielten als die anderen – nicht einmal die Namen von Hegel und Marx in seinen ersten beiden Büchern
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Sartre, Methode, S. 23. Zit. nach Fischbach, Franck: Der französische Neo- und Anti-Hegelianismus als Quietismus, in: Der französische Hegel, hrsg. von Ulrich J. Schneider, Berlin, 2007, S. 113 – 128, hier: S. 115. (Fischbach seinerseits zitiert Bergson aus: Losurdo, Domenico: Hegel et la catastrophe allemande, Paris, 1994, S. 111). 27
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zitiert, Hegel gerade acht Seiten in seinem dritten gewidmet und weiterhin kein Wort zu Marx verloren.28
Wenige Jahre später ist jedoch die jahrzehntelange Ablehnung geradezu einer Euphorie gewichen. Dieser Wandel, der sich in kurzer Zeit innerhalb der Generation Sartres vollzieht, ist unverkennbar in der Einschätzung, die Maurice MerleauPonty 1946 vornimmt: In Hegel hat all das seinen Anfang, was sich seit einem Jahrhundert an Großem in der Philosophie ereignet hat, beispielsweise der Marxismus, Nietzsche, die Phänomenologie und der deutsche Existentialismus, die Psychoanalyse.29
Aber so schlagartig diese Begeisterung aufkommt, so plötzlich ebbt sie auch wieder ab. Während Sartre etwa entschieden der Ansicht ist, dass seine Generation zu wenig Hegel kennt, beschwert sich Michel Foucault (1926 – 1984) ganz im Gegenteil, dass der Einfluss Hegels viel zu groß sei. Als er 1970 am Collège de France die Nachfolge von Jean Hyppolite, dem bedeutenden französischen Hegel-Forscher, antritt, erklärt er in seiner Inauguralvorlesung, daß unsere gesamte Epoche, sei es in der Logik oder in der Epistemologie, sei es mit Marx oder mit Nietzsche, Hegel zu entkommen trachtet. […] Aber um Hegel wirklich zu entkommen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgesamt vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen
28
Vgl. Die Schützengraben von Raymond Aron in Sartre, Jean-Paul: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950 – 1973, Reinbek bei Hamburg, 1995, S. 190 – 203, hier: S. 201 f. Bernhard-Henry Lévy spricht von einem „Cordon sanitaire“, den die französische Universität gegen Hegel aufgerichtet hat (vgl. Lévy, Bernhard-Henry: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München/Wien, 2002, S. 518). 29 Vgl. Der Existentialismus bei Hegel in Merleau-Ponty, Maurice: Sinn und Nicht-Sinn, München, 2000, S. 83 – 93, hier: S. 83. Bereits in der Einleitung der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) wird Hegel gemeinsam mit Kierkegaard als Wegbereiter der phänomenologischen Schule genannt: „Sie ist seit langem schon auf dem Wege, überall vermögen Anhänger ihre Anfänge zu entdecken: bei Hegel und Kierkegaard ganz gewiß, aber auch bei Marx, bei Nietzsche, bei Freud“ (Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, S. 4). Die Auseinandersetzung mit Hegel bedeutet darüber hinaus für Merleau-Ponty, „zu allen philosophischen, politischen und religiösen Problemen unseres Jahrhunderts Stellung“ (Merleau-Ponty, Der Existentialismus bei Hegel, S. 84) zu beziehen. Damit teilt er die Auffassung von Alexandre Kojève: „Denn es kann sein, daß die Zukunft der Welt und damit der Sinn der Gegenwart und die Bedeutung der Vergangenheit letztlich von der heutigen Interpretation der Hegelschen Schriften abhängen“ (Kojève, Alexandre: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Anhang: Hegel, Marx und das Christentum, Frankfurt am Main, 1996, S. 298). Ganz ähnlich schreibt in der gegenwärtigen Philosophie Klaus Vieweg, dass Hegels Philosophie von fundamentaler Relevanz sei, um „die Zeit noch gründlicher denkend zu erfassen, den Zustand des sittlichen Universums der Moderne, die Verfassung der modernen Welt-Polis neu auf den Begriff zu bringen, besonders den Gehalt des Begriffs Freiheit präziser zu bestimmen“ (Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Paderborn, 2012.).
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Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muss ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn eine List ist, hinter der er uns auflauert“.30
Die Generation vor Sartre hat kaum etwas über Hegel gewusst, aber die Generation nach Sartre, zu der Foucault selbst gehört, soll bereits so von diesem Denken durchdrungen sein, dass sie selbst dann hegelianisch denkt, wenn sie es gar nicht will. Halbwegs zu verstehen sind diese rasanten Entwicklungen wohl nur, wenn die Wirkmächtigkeit der Hegel-Interpretationen von Jean Wahl und vor allem von Alexandre Kojève vor dem Hintergrund einer verbreiteten Unzufriedenheit mit der französischen Philosophie der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Rechnung gestellt wird. Es herrscht eine gewisse Aufbruchstimmung, in dem die philosophischen Importe aus Deutschland mit Enthusiasmus aufgenommen werden, weil offenbar, wie Bernhard Waldenfels es beschreibt, ein geistiges Klima entstanden ist, „das bestimmte Erwartungen weckte, ohne sie zu erfüllen“.31 Offenbar ist die Einschätzung von Ludwig Landgrebe (1902 – 1991) an dieser Stelle sehr erhellend, demzufolge die Generation der zu Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Philosophen von einem „Hunger nach Realität“32 getrieben ist. Sartre bestätigt Landgrebes Diagnose, wenn er gegen seine Philosophielehrer gerichtet 1939 die folgende plakative Erklärung abgibt: Wir haben alle Brunschvicg, Lalande und Meyerson gelesen, wir haben alle geglaubt, daß der Spinnen-Geist die Dinge in sein Netz locke, sie mit einem weißen Seidenfaden überziehe und langsam verschlucke, sie auf seine eigene Substanz reduziere […]. Die mächtigen Kanten der Welt wurden von jenen eifrigen Diastasen zerfressen: Assimilation, Vereinheitlichung, Identifikation.33
In diesem Klima wirkt die Phänomenologie von Husserl und Heidegger wie ein Befreiungsschlag, denn sie erschließt eine Perspektive, in der das Erkennen kein Verdauen, sondern – wie es heißt – ein „Bersten“ des Innenlebens des Bewusstseins34 in Richtung auf die Welt ist. So heißt es über die Philosophie von Husserl und Heidegger: „Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen“.35 Mit ganz ähnlichen Worten beschreibt auch Levinas 1959 im Rückblick die Phänomenologie als einen Ausbruch aus der idealistischen Universitätsphilosophie: 30
Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France 2. Dezember 1970, Frankfurt am Main, 1993, S. 45. 31 Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main, 1987, S. 19. 32 Landgrebe, Ludwig: Philosophie der Gegenwart, Bonn, 1952, S. 14. 33 Vgl. Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität in Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931 – 1939, Reinbek bei Hamburg, 1982, S. 33 – 37, hier: S. 33. 34 Wenn Sartre gegen das Innenleben des Subjekts polemisiert, so bezieht er sich wohl auf Brunschvicg, Léon: Vie intérieure et vie spirituelle, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 31, 1925. 35 Sartre, Eine fundamentale Idee, S. 37.
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Das Subjekt verharrt nicht länger in der Unbeweglichkeit des idealistischen Subjekts, sondern findet sich in Situationen fortgerissen, die sich nicht in Vorstellungen, die es sich von diesen Situationen machen könnte, auflösen. […] Das Ich bleibt nicht in sich, um alles Andere in der Vorstellung zu absorbieren. Es transzendiert sich wirklich.36
Auf den ersten Blick scheint es daher recht befremdlich, dass sich die vom Intellektualismus ihrer Hochschullehrer enttäuschten Philosophen ausgerechnet für Hegel begeistern konnten, der bekanntlich wie kaum ein anderer vor und nach ihm eine Lehre des absoluten Idealismus vertreten hat. Genauere Auskunft gibt hier jedoch ein Blick auf jene Pioniere der französischen Hegel-Rezeption, die das Studium dieses Philosophen in Frankreich auf den Weg gebracht haben. Als erstes ist hier Jean Wahl und sein Buch „Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel“ von 1929 zu nennen. Während bis dahin nur der Hegel-Artikel von Lucien Herr in Marcelin Berthelots „La Grande Encyclopédie“ erhältlich gewesen ist,37 bildet Wahl mit seiner Monografie den Startschuss für die Auseinandersetzung der französischen Philosophie mit Hegel. Wahl will Hegel gegen den Vorwurf des Panlogismus verteidigen, wobei sich sein eigenes Denken maßgeblich an Kierkegaard orientiert, dem er zeitgleich mit Hegel in Frankreich zu größerer Bekanntschaft verhilft.38 Auf der Grundlage der erst lange nach Hegels Tod veröffentlichten religionsphilosophischen Frühschriften, die Kierke-gaard nicht gekannt hat,39 will Wahl zeigen, dass der Vorwurf des Panlogismus zwar auf den Autor der „Wissenschaft der Logik“, aber eben nicht auf den frühen Hegel zutrifft. Wenn man Hegels Philosophie von ihrem Anfang aus interpretiert, dann wurzelt das absolute System des Idealismus, wie Wahl meint, in einer lebendigen Erfahrung, auf die es eine theoretische Antwort zu geben versucht.40 Hegels Spekulation soll deshalb eine Transformation derselben existentiellen Erfahrungen sein, die Kierkegaard umgekehrt dazu verwendet, um jeglichen Versuch eines spekulativen Denkens entschieden in Abrede zu stellen. Beide Philosophen teilen nach Wahl also dieselbe Erfahrung, aber Kierkegaard will sie nach ihrer inneren Dialektik durchleben, während Hegel sie begrifflich sublimieren will. Angelika Pillen fasst die Einschätzung von Jean Wahl folgendermaßen zusammen: 36 Vgl. Intentionalität und Metaphysik in Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 1992, S. 140 – 153, hier: 148. 37 Vgl. Herr, Lucien: Hegel, in: La Grande Encyclopédie, XIX, Paris (nicht datiert), S. 997 – 1003. Der erste Band der Grande Encyclopédie ist 1886 mit dem Buchstaben A erschienen; der 21. Band, in dem sich der Hegel-Artikel von Herr findet, ist zwischen dem Dezember 1893 und dem März 1894 erschienen (vgl. hierzu Pillen, Angelika: Hegel in Frankreich. Vom unglücklichen Bewusstsein zur Unvernunft, Freiburg/München, 2003, S. 7). 38 Vgl. Wahl, Jean: Etudes kierkegaardiennes, Paris, 1938. 39 Die Frühschriften sind erstmals 1907 veröffentlicht worden: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Theologische Jugendschriften, hrsg. von Hermann Nohl, Berlin, 1907. 40 Wahl, Jean: Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel, Paris, 1929, S. 12.
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In den frühen Texten sieht Jean Wahl vieles von dem, was Kierkegaard später gegen Hegel vorgetragen hat, bereits vorweggenommen. Die dort skizzierten Ideen werden, so lautet seine These, nicht im späteren System, sondern im Denken von Kierkegaard weiterentwickelt. Bei Kierkegaard kämen demnach Denkansätze wieder zum Vorschein, die bei Hegel selber zunächst angelegt, dann jedoch der Verdrängung anheim gefallen sind […]. In der Verlängerung, die er durch Kierkegaard erfährt, stellt sich der frühe Hegel, wenn man Wahl folgen will, als Kritiker des reifen Hegel dar. Durch Kierkegaard würde demnach eine Spannung Kontur gewinnen, die ihren ursprünglichen Ort innerhalb des Hegelschen Denkens selber hat.41
Es ist nicht zu übersehen, dass Wahl sich mit seiner Interpretation um eine Angleichung von Hegel und Kierkegaard bemüht. Kierkegaard wird zu einer möglichen Weiterentwicklung des frühen Hegel, die allerdings im Widerspruch zum späten Hegel steht. Während Kierkegaard den Rationalismus von Hegels System kritisiert, erhebt der frühe Hegel auf ganz analoge Weise Einspruch gegen die Verabsolutierung des Rationalismus, wie sie sich in der Aufklärungsphilosophie ereignet.42 Bei Wahl wird also Kierkegaards Philosophie zum Maßstab, um einen ,guten‘ von einem ,schlechten‘ Hegel zu unterscheiden. Solidarisch ist er mit Hegel dort, wo er noch als Existenzphilosoph gelesen werden kann, der die Subjektivität der Erfahrung gegen jegliche epistemische Engführung verteidigen will. Eine solche Deutung bringt Hegel zweifellos in die Nähe eines antiidealistischen Denkens, wie es Sartre, Merleau-Ponty und Levinas gegen die akademische Philosophie ihrer Zeit in Stellung bringen. Die schillerndste Figur der französischen Hegel-Rezeption ist ohne Frage Alexander Kojevnikov, der unter dem Namen Alexandre Kojève die Nachfolge von Alexandre Koyré an der Ecole pratique des Hautes Etudes antritt. Sein Seminar zu Hegel, das er von 1933 bis 1939 anbietet, findet enormen Anklang bei den Studenten, zu denen Merleau-Ponty und Levinas, aber auch weitere namhafte Autoren wie George Bataille, Raymond Aron, André Breton und Jacques Lacan – allerdings nicht Sartre – gehören. Sartre selbst hat diese aufsehenerregende Veranstaltung zwar verpasst, aber man darf wohl vermuten, dass er mit ihren Inhalten in Gesprächen mit dem befreundeten Merleau-Ponty vertraut geworden ist.43 Wenn man aus heutiger Sicht auch der Ansicht sein kann, dass diese Veranstaltung etwas in Gang setzt, das man „eine surrealistische Hegel-Rezeption nennen kann“,44 so scheint doch Bernhard-Henry Lévys Urteil zutreffend zu sein: „Wichtig ist, daß diese Vorlesung von Kojève, wie verschroben, possenhaft, mystifizierend sie auch 41
Pillen, Hegel in Frankreich, S. 65. Um seine Interpretation aufrechterhalten zu können, spielt Wahl allerdings die Nähe zur Aufklärung herunter, der Hegel keineswegs so ablehnend gegenübersteht wie Kierkegaard dem spekulativen Denken. 43 1947 werden die Nachschriften der Vorlesungen schließlich von Raymond Queneau unter dem Titel „Introduction à la lecture de Hegel“ veröffentlicht. 44 Ebeling, Knut: Alexandre Kojève. Ein Snobismus sans réserve, in: Der französische Hegel, hrsg. von Ulrich Johannes Schneider, Berlin, 2007, S. 49 – 64, hier: S. 49. 42
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erscheinen mag, […] als verbindliche Meinung, als orthodoxe Auslegung galt“.45 Während Wahl Hegel mit Kierkegaard in Zusammenhang bringt, beruht Kojèves Popularität wohl darauf, dass er – wenn auch auf recht halsbrecherische Weise – Verbindungslinien zwischen Hegel und phänomenologischen sowie marxistischen Strömungen knüpft, die die französische Philosophie dieser Zeit ohnehin in Bewegung halten. Man könnte sagen, dass Hegel durch Wahl eine existenzphilosophische Deutung erfahren hat und dieser existenzphilosophisch gedeutete Hegel nun bei Kojève auch noch zum Verbündeten der Phänomenologie gemacht wird. Ohne Umschweife wird dabei die Vermittlungsleistung aus der „Phänomenologie des Geistes“ mit jenen unmittelbaren Evidenzerlebnissen jener ,anderen Phänomenologie‘, eben der Husserls, gleichgesetzt, wenn es etwa heißt: Die Hegelsche Methode ist also keineswegs ,dialektisch’, sondern rein kontemplativ und deskriptiv, oder phänomenologisch im Husserlschen Sinne. In der Vorrede und in der Einleitung zur PhG betont Hegel ausführlich den passiven, kontemplativen und deskriptiven Charakter der ,wissenschaftlichen‘ Methode.46
In Heideggers „Sein und Zeit“ wird, wie Kojève fortfährt, eine „phänomenologische Anthropologie“ entwickelt, und diese (zweifellos bemerkenswerte und echt philosophische) Anthropologie fügt im Grunde der Anthropologie der PhG nichts Neues hinzu (welch letztere man im übrigen wahrscheinlich niemals verstanden hätte, hätte Heidegger nicht sein Buch veröffentlicht.47
So wie Wahl alle Differenzen und Unvereinbarkeiten zwischen Hegel und Kierkegaard begradigt, ist auch Kojève mit noch größerer Verve bemüht, alle Widersprüche zwischen Hegel, Marx, Husserl und Heidegger unter den Tisch fallen zu lassen,48 so dass diese vier Philosophen schließlich in dem Moment als Kombattanten dastehen, in dem Sartre, Merleau-Ponty und Levinas den Grundstein für ihr eigenes Denken legen.49 45
Lévy, Sartre, S. 520. Kojève, Hegel, S. 136. 47 Ebd., S. 326, Anm. 44. 48 Vgl. Pillen, Hegel in Frankreich, S. 98. 49 In einem späteren Brief von Kojève wird deutlich, dass seine Haltung zu Hegels Werk nicht gerade von intellektueller Redlichkeit geprägt gewesen ist: „[E]s war mir relativ gleichgültig zu wissen, was Hegel selbst in seinem Buch sagen wollte; ich habe eine Vorlesung zur phänomenologischen Anthropologie gehalten und mich dabei des Hegelschen Textes bedient, allerdings habe ich nur das gesagt, was ich als Wahrheit angesehen habe, und das beiseite gelassen, was mir als Irrtum bei Hegel erschien. So habe ich mich, indem ich auf den Hegelschen Monismus verzichtet habe, bewusst von diesem großen Philosophen entfernt. Andererseits war meine Vorlesung wesentlich ein Werk der Propaganda, das darauf zielte, die Geister zu beeindrucken. Aus diesem Grund habe ich bewusst die Rolle der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft verstärkt und den Inhalt der Phänomenologie in allgemeiner Weise schematisiert“ (Kojève, Alexandre: Brief an Tran-Duc-Thao vom 7. 10. 1948, in: De Kojève á Hegel. 150 ans de pensée hégélienne en France, hrsg. von Jarczyk Gwendoline und Pierre-Jean Labarrière, Paris, 1996, S. 64, zit. nach Pillen, Hegel in Frankreich, S. 98). 46
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Verglichen mit dem Gewaltstreich von Kojève ist Jean Hyppolites Umgang mit Hegel weitaus vorsichtiger und besonnener. Hyppolite, der nicht zur Schar der Besucher von Kojèves Seminar gehört, legt 1939 und 1941 eine zweiteilige Übersetzung der „Phänomenologie des Geistes“ vor und verfasst schließlich einen umfangreichen Kommentar zu diesem Buch, der 1946 veröffentlicht wird.50 Auffallend ist, dass Hyppolite dem Moment der Differenz gegenüber der Versöhnung ein Schwergewicht zugestehen will, so dass Hegel zu einem Denker der Ambivalenz und des Tragischen wird. Im Zentrum steht wiederum das unglückliche Bewusstsein, wobei es sich Hyppolite zufolge hierbei um eine Gedankenfigur handelt, welche von der für die Moderne charakteristischen Erfahrung der Vereinzelung herrührt.51 So verwundert es nicht, wenn auch bei diesem Autor Hegels Selbstbewusstsein schließlich am Ursprung dessen steht, was in der Philosophie der Gegenwart als Existenz bezeichnet wird.52 Da Hyppolite in diesem Zusammenhang ausschließlich als Wegbereiter für das Hegel-Verständnis von Sartre, Merleau-Ponty und Levinas von Interesse ist, können seine späteren Hegel-Forschungen, die noch einmal andere Wege beschreiten, unberücksichtigt bleiben.53 III. 1. Das Für-Andere-sein – Sartre Im dritten Teil dieser Untersuchung soll nun aufgezeigt werden, inwiefern Kierkegaards Hegel-Kritik konstitutiv für die philosophischen Positionen von Sartre, Merleau-Ponty und Levinas ist. Den Anfang macht hier Jean-Paul Sartre, denn in der Konzeption und der Terminologie seines philosophischen Hauptwerks „Das Sein und das Nichts“ (1943) sind erstmals innerhalb der französischen Philosophie die Spuren der Hegel-Renaissance erkennbar. Die Hochschätzung, die Sartre Hegel entgegenbringt, tritt klar hervor in einer Textpassage aus seinen „Entwürfen für eine Moralphilosophie“ (1947/1948), deren Telegrammstil dem fragmentarischen Charakter dieses, erst später aus dem Nachlass veröffentlichten Textes geschuldet ist:
50 Hyppolite, Jean: Genèse et structure de la phénoménologie de l’esprit de Hegel, Paris, 1946. Nachdem Hegel lange Zeit nur vom Hörensagen bekannt ist, setzen im Anschluss an Hyppolites Pionierleistung nach und nach die Übersetzungen von Hegels Werken ins Französische ein: 1939 erscheint die von Henri Lefebvre veröffentlichte Textsammlung Morceaux choisis, die vor allem Sartre als Quelle für seine Zitate in „Das Sein und das Nichts“ verwendet hat. 1940 werden dann die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ und 1949 die „Wissenschaft der Logik“ ins Französische übertragen. 51 Vgl. Pillen, Hegel in Frankreich, S. 124. 52 Vgl. L’existence dans la Phénoménologie de Hegel in: Hyppolite, Jean: Figures de la pensée philosophique, Paris, 1972; siehe auch: Hegel et Kierkegaard dans la pensée française contemporaine, in ebd. 53 Vgl. hierzu Hoth, Sabina: Jean Hyppolite: Logik et Existence, in: Der französische Hegel, hrsg. von Ulrich Johannes Schneider, Berlin, 2007, S. 91 – 104.
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sieht man die Dinge unvoreingenommen, so stellt Hegel einen Gipfel der Philosophie dar. Nach ihm Rückschritt: Marx ergänzt, was er nicht vollständig gegeben hatte (Ausdehnung auf die Arbeit). Es fehlen jedoch viele große Hegel’sche Ideen. Von geringerem Rang. Danach marxistische Verkümmerung. Post-Hegel’sche Verkümmerung in Deutschland. Heidegger und Husserl kleine Philosophen. Französische Philosophie bedeutungslos.54
Weitaus kritischere Töne schlägt er hingegen in den „Fragen der Methode“ (1960) an, wenn er für Kierkegaard Partei ergreift. So würdigt er zwar zunächst, dass Hegel nicht nur die epistemische Erfahrung, sondern vielmehr die gesamte Realität der Erfahrung berücksichtigen will.55 Aber all die Konflikte und Widersprüche, die das Unglück des Einzelnen ausmachen, tauchen dann am Ende doch nur auf, um in Erkenntnisobjekte verwandelt und zu unvollständigen Momenten eines Systems des Wissens zu werden. Kurz und bündig: „Das Erlebnis löst sich im Wissen auf“.56 Selbst wenn Kierkegaards Subjektivismus einerseits für Sartre einen „Gipfel des Idealismus“ darstellt, so bedeutet er andererseits im Vergleich zu Hegel dennoch „einen Fortschritt in Richtung Realismus“.57 Als realistisch stuft Sartre die Position von Kierkegaard deshalb ein, weil sie „die Irreduzibilität eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs auf das Denken“ und damit das „Primat dieses Wirklichen“58 geltend machen will. Für eine solche „Inkommensurabilität von Wirklichkeit und Wissen“59 spricht, wie Sartre fortfährt, schon der Umstand, dass eine Erkenntnis der Ursachen einer Leidenschaft allein nicht ausreichend ist, um sich von dieser Leidenschaft befreien zu können. Dies scheint Hegel aber zu unterstellen, wenn er vom Standpunkt des Absoluten aus subjektive Konflikte versöhnen will. Hier gilt es nun Kierkegaard gegenüber Hegel Recht zu geben, denn der Schmerz, das Bedürfnis, die Leidenschaft, die menschliche Mühsal sind nackte Realitäten, die durch das Wissen weder überschritten noch verändert werden können. […], man muß sie durchleben, […] andere Leidenschaften entgegensetzen, sie hartnäckig bekämpfen, kurz sich abarbeiten.60 54
Sartre, Jean-Paul: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 119. 55 Vgl. Sartre, Methode, S. 15. 56 Ebd., S. 15. 57 Ebd., S. 18. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 17 f. Siehe hierzu auch die Leseeindrücke, die Simone de Beauvoir in ihren Memoiren schildert: „Ich las weiterhin Hegel, den ich allmählich besser verstand. In den Einzelheiten blendete mich seine Fülle. Das System als Ganzes verwirrte mich. Ja, es war verlockend, sich überwachsen zu lassen, vom Universellen, sein eigenes Leben unter der Perspektive des Ziels der Geschichte zu betrachten, mit jener Unpersönlichkeit, die auch den Aspekt des Todes einbezieht. Wie lächerlich erschien dann dieser winzige Augenblick in der Weltzeit, ein Individuum, ich! Warum mich sorgen um das, was mir zustieß, was mich umgab, hier und jetzt? Doch die geringste Regung meines Herzens strafte diese Spekulation Lügen: Hoffnung, Zorn, Erwartung, Angst behaupteten sich gegen jede Überschreitung. Die Flucht ins Universelle war im Grunde nur eine Episode in meinem subjektiven Abenteuer. Ich be-
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Die Ambivalenz im Verhältnis zu Hegel, die sich im Grunde ganz an der Grenzlinie orientiert, die Wahl mit Kierkegaard zwischen dem frühen und dem späten Hegel gezogen hat, zeichnet sich schließlich auch in Sartres philosophischem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (1943) unübersehbar ab. So ist bereits die zentrale Terminologie – das Für-sich-Sein und das An-sich-Sein – unverkennbar der Philosophie Hegels entnommen, so wie auch die Gedankenführung in diesem Buch wesentliche Momente des dialektischen Denkens übernimmt. Aber wie schon bei Kierkegaard ist diese Dialektik ,geköpft‘, weil jegliche abschließende Synthese, die die Gegensätze von Für-sich und An-sich miteinander vermitteln und versöhnen würde, rigoros ausgeschlossen wird.61 Die beiden von Hegel übernommenen Begriffe Für-sich und An-sich bekommen bei Sartre paradoxerweise eine antihegelianische Stoßkraft, denn sie dienen dazu, die Nichtreduzierbarkeit des Seins auf das Erkennen – sowohl für das Sein des Bewusstseins (Für-sich) wie auch für das Sein der Dinge (An-sich) – geltend zu machen. Das Für-sich ist ein präreflexives Sein, weil es nicht die Selbsterkenntnis, also die Reflexion benötigt, um zu existieren.62 Aber auch das An-sich ist mehr als nur ein Erkenntnisobjekt für Sartre: So ist es zwar nicht wie Kants Ding an sich unerkennbar, aber ebenso wenig wie das Für-sich ist es in seinem Sein der Bedingung der Erkenntnis unterworfen: Das Sein ist nicht hinter der Erscheinung; es ist aber auch nicht nur Erscheinung.63 Diese Zurückweisung des Idealismus, die in der Einleitung von „Das Sein und das Nichts“ begründet werden soll, wendet sich explizit gegen Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion, implizit ist damit aber auch Hegel mitgemeint, denn Für-sich und An-sich sind, wie es heißt, „unverdaulich“64 für ein System des absoluten Idealismus. Explizit hat sich Sartre innerhalb seiner Schriften mit Hegel am ausführlichsten in seiner Intersubjektivitätstheorie im dritten Teil von „Das Sein und das Nichts“ auseinandergesetzt. Daher soll in diesem Abschnitt auch der Schwerpunkt auf dieses Kapitel gelegt werden. Bevor Sartre seine eigene Position entwickelt, wendet er sich an schäftigte mich wieder mit Kierkegaard, der mich so sehr begeistert hatte“ (Beauvoir, Simone de: In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 402). 61 Bei Sartre führt dies – wie bereits Walter Biemel festgestellt hat – „zu einer eigentümlichen ,Ehe’ zwischen Phänomenologie und Dialektik“ (Biemel, Walter: Das Wesen der Dialektik bei Hegel und Sartre, in: Tijdschrift voor Philosophie, 20, 1958, S. 269 – 300, hier: S. 300). 62 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 18. Sartre kann sich an dieser Stelle auf Husserl berufen: „Das jeweilig wirklich erlebte Erlebnis gibt sich, neu in den reflektierenden Blick tretend, als wirklich erlebtes, als ,jetzt’ seiend; aber nicht nur das, es gibt sich auch als soeben gewesen seiend; und sofern es unerblicktes war, eben als solches, als unreflektiert gewesenes“ (Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Den Haag/Boston/Lancaster, 1976, S. 162 f). 63 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 16. 64 Sartre, Jean-Paul: Wahrheit und Existenz, Reinbek bei Hamburg, 1996, S. 84.
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dieser Stelle kritisch den Lösungsversuchen von Hegel selbst sowie von Husserl und Heidegger zu – wobei allerdings einzuräumen ist, dass seine eigene Position bei allem Widerspruch deutliche Spuren all dieser kritisierten Ansätze zeigen wird. Wie ein roter Faden lässt sich auch in diesen Passagen jene zwiespältige Haltung ausmachen, die offenbar von Wahls Hegel-Deutung herrührt: Als Fortschritt wird Hegel gefeiert, wenn er gegen jegliche epistemische Engführung – wie sie sich bei Jules Lachelier oder Léon Brunschvicg findet65 – dem Erfahrungsbegriff in seiner ganzen Vielschichtigkeit wieder zu seinem Recht verhilft. Während Sartre Husserl vorhält, dass er sich auf erkenntnistheoretische Fragestellungen beschränkt, wird Hegel gerade dafür gewürdigt, dass er die Intersubjektivität auf einer fundamentaleren Ebene erschließt, indem er sie nicht als Erkenntnis-, sondern als Seinsbeziehung in den Blick nimmt. Hegel wird damit wie bereits vorher bei Wahl – sozusagen temporär – zu einem Mitstreiter im Kampf gegen den Idealismus erklärt. Die Gefolgschaft wird ihm jedoch wiederum dort versagt, wo er schließlich – und hier meint man deutlich Kierkegaards Stimme zu vernehmen – das eigene Bewusstsein vergisst und den Standpunkt des Absoluten einnimmt. Ein kurzer Blick auf Husserl dient dazu, einen Einstieg in diese Debatte zu finden: Bei Husserl ist der Andere zunächst ein Objekt der Wahrnehmung wie ein Tisch oder ein Baum. Die Frage stellt sich dann, wie es dazu kommt, dass dieses körperliche Ding von mir als ein Subjekt aufgefasst wird, das so wie ich selbst die Welt wahrnimmt und konstituiert. Ausschlaggebend ist für Husserl die Ähnlichkeit des wahrgenommenen Körpers mit meinem eigenen Leib, durch die es zu einer Sinnüberschiebung kommt, dank derer jener Körper den Sinn ,Leib eines anderen Bewusstseins‘ erhält. Ich konstituiere also, dass dieses Objekt selbst ein konstituierendes Subjekt ist. Damit ist selbst die Subjektivität eines Anderen noch ein Erkenntnisobjekt für die eigene Subjektivität.66 Demgegenüber würdigt Sartre nun Hegels Ausführungen zum Herr-Knecht-Verhältnis als einen im Vergleich zu Husserl weitaus gelungeneren Beitrag zur Frage der Fremderfahrung: Wenn wir die Regeln der Chronologie außer acht lassen und dafür denen einer Art von zeitloser Dialektik folgen, scheint uns die Lösung, die Hegel dem Problem im ersten Teil der Phänomenologie des Geistes gibt, ein erheblicher Fortschritt gegenüber Husserl zu sein.67
65 Vgl. Sartre, Eine fundamentale Idee, S. 36: „[D]ie französische Philosophie, die uns geformt hat, kennt kaum mehr als die Epistemologie. Für Husserl und die Phänomenologie jedoch beschränkt sich das Bewußtsein, das wir von den Dingen gewinnen, keineswegs auf deren Erkenntnis. Die Erkenntnis oder reine ,Vorstellung [représentation]‘ ist nur eine der möglichen Formen meines Bewußtseins ,von‘ diesem Baum; ich kann ihn auch lieben, fürchten, hassen“. 66 Vgl. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag, 1950, §§ 50 – 54. 67 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 429.
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Das intersubjektive Verhältnis, wie es im Herr-Knecht-Kapitel in der „Phänomenologie des Geistes“ erläutert wird, ist keine bloße Erkenntnisbeziehung wie bei Husserl, sondern vielmehr eine Seinsbeziehung, weil der Andere hier notwendig ist „für die Existenz meines Bewußtseins als Bewußtsein von sich“.68 Hegel hat, wie Sartre schreibt, die „geniale Intuition“,69 dass ich in meinem Sein von einem Anderen abhängig bin: „Das Selbstbewußtsein ist sich nach dieser seiner wesentlichen Allgemeinheit nur real, insofern es seinen Widerschein im anderen weiß (ich weiß, daß andere mich als sich selbst wissen)“.70 Mein Verhältnis zu mir ist durch den Bezug zum Anderen vermittelt, und dieser Bezug ist in den Passagen, die dem Herr-Knecht-Verhältnis gewidmet sind, ein konflikthafter. Die Anerkennung wird dem Anderen in einem Kampf abgetrotzt, der zumindest der Möglichkeit nach ein Kampf um Leben und Tod ist: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“.71 Der Andere ist damit nicht nur ein Erkenntnisobjekt, sondern die Begegnung mit ihm wird, wie Sartre erläutert, „ein notwendiges Stadium der Entfaltung des Selbstbewußtseins“.72 Die Kritik, die Sartre dennoch für angebracht hält, konzentriert sich auf „einen doppelten Optimismusvorwurf“.73 So wird genauer zwischen einem epistemologischen und einem ontologischen Optimismus unterschieden, die beide natürlich mit den Höhen des „Idealismus“74 zusammenhängen, zu denen Hegel sich aufschwingt. Während Sartre wie auch nach ihm Merleau-Ponty und Levinas die Überzeugung hat, dass eine Phänomenologie des Anderen auf eine Erfahrung rekurrieren muss, in der der Andere gerade kein Objekt ist, steht hingegen für Hegel von Anfang an fest, dass jede Erfahrung immer nur die Erfahrung von Objekten sein kann: „Hegel kann nicht einmal denken, daß es ein Für-Andere-Sein geben kann, das nicht letztlich auf ein ,Gegenstand-sein’ reduzierbar ist“.75 Insofern deshalb jedes Sein immer nur als ein Erkannt-sein auftaucht, fallen Erkenntnis und Sein nach wie vor zusammen. Das andere Bewusstsein ist für mein eigenes Bewusstsein ein Objekt, und offenbar ist dieses Objekt ebenso gut erkennbar wie jedes andere Objekt. Dies nennt Sartre den „epistemologischen Optimismus“.76
68
Ebd. Ebd., S. 432. 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Bewußtseinslehre für die Mittelklasse (1809 ff.), in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Bd. 4, S. 111 – 123, hier: S. 122. 71 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1988, S. 127. 72 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 430 f. 73 Ebd., S. 436. 74 Ebd., S. 433. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 436. 69
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Um tatsächlich erfahren zu können, wie der Andere mich sieht, müsste ich jedoch das fremde Bewusstsein so erfahren, wie es sich selbst erfährt. Dies hält Sartre aber schlichtweg für ausgeschlossen: [D]er Andere ist nicht für sich, wie er mir erscheint, ich erscheine mir nicht, wie ich für den Andern bin; ich bin ebenso unfähig, mich für mich zu erfassen, wie ich für den Andern bin, wie das, was der Andere für sich ist, von dem Gegenstand-Andern aus zu erfassen, der mir erscheint.77
Schon aufgrund der „reinen Interiorität“78 eines jeden Bewusstseins kann es also kein allgemeines Selbstbewusstsein geben. Ich weiß zwar, dass ich ein Objekt für den Anderen bin, aber ich werde niemals wissen können, was für ein Objekt ich für ihn bin: „Keinerlei allgemeine Erkenntnis kann aus der Beziehung der Bewußtseine hergeleitet werden. Wir nennen das ihre ontologische Trennung“.79 Neben diesem epistemologischen gibt es außerdem noch einen „ontologischen Optimismus“,80 der mit jenem ersten eng zusammenhängt: Genauso wenig wie das einzelne Bewusstsein zu einem allgemeinen Selbstbewusstsein werden kann, indem es sich in einem anderen Bewusstsein erkennt, ist der Philosoph imstande, die eigene Individualität zu transzendieren, um von einem „Gesichtspunkt des Absoluten“81 aus Erkenntnisse zu gewinnen. Hegel tut aber genau dies: Denn er stellt sich ja nicht die Frage der Beziehungen seines eigenen Bewußtseins zu dem des Andern, sondern von dem seinen völlig abstrahierend untersucht er ganz einfach den Bezug der Bewußtseine der Anderen untereinander, das heißt den Bezug von Bewußtseinen, die für ihn schon Gegenstände sind, deren Natur für ihn gerade darin besteht, ein besonderer Gegenstandstypus zu sein – der Subjekt-Gegenstand –, und die von seinem totalitären Gesichtspunkt aus einander streng äquivalent sind.82
Die Andersheit und die Pluralität der Bewusstseine ist nach Sartre jedoch durch keinerlei epistemologischen oder ontologischen Optimismus zu überschreiten. Gegen ein solches Überfliegen wird nun darauf insistiert, dass der Ausgangspunkt der Philosophie notwendigerweise das eigene Bewusstsein bleiben muss. Nachdem Sartre Hegel also zunächst lobt, weil er im Vergleich zum Erkenntnistheoretiker Husserl der Lebenswirklichkeit des Zwischenmenschlichen ein großes Stück näher kommt, wird schließlich explizit Kierkegaard gegen jeglichen Versuch ins Spiel gebracht, das einzelne Bewusstsein in Richtung auf einen absoluten Gesichtspunkt zu überschreiten: Hier wie überall muß man gegen Hegel Kierkegaard ins Feld führen, der die Ansprüche des Individuums als solchen vertritt. Das Individuum verlangt seine Erfüllung als Individuum, 77
Ebd., S. 440. Ebd., S. 438. 79 Ebd., S. 441. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 441 f.
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die Anerkennung seines konkreten Seins und nicht das objektive Auseinanderlegen einer allgemeinen Struktur.83
In Sartres eigener Intersubjektivitätstheorie ist der Andere schließlich nicht derjenige, den ich erkenne, sondern derjenige, der mich erkennt. Mit anderen Worten, er ist kein Objekt für mich, sondern er ist das Subjekt, für das ich Objekt werde. Darum kann ich ihn nicht in der Erkenntnis erfahren, die immer nur Objekte erfasst. Was ich in einer solchen Situation erfahre, ist nicht das Sich-richten zweier Augen auf mich, sondern mein eigenes Angeblicktsein. Für Sartre ist deshalb die Scham genau das Erlebnis, in dem ich mich selbst als Objekt für ein anderes Subjekt erfahre. Es handelt sich bei der Scham also nicht einfach nur um einen subjektiven Zustand, sondern um eine Form der intentionalen Erfahrung, die sich von der Erkenntnis unterscheidet.84 Von Hegel übernimmt Sartre den Gedanken, dass die Begegnung mit dem Anderen mich in meinem Sein verwandelt: Ich erhalte, wie es heißt, eine „neue Existenzdimension“.85 Im Unterschied zu Hegel kann ich diese neue Existenzdimension jedoch nicht zu einem Objekt der Erkenntnis machen, und deshalb bleibt die Vermittlung zwischen den Subjekten mit dem Ziel, ein allgemeines Selbstbewusstsein hervorzubringen, schließlich zum Scheitern verurteilt. Ich bin vielmehr ein Objekt, das von einem anderen Subjekt einen Sinn erhält, den es nicht erkennen kann, weil dieses Subjekt eben ein Anderer ist: „erblickt werden heißt sich als unerkanntes Objekt von unerkennbaren Beurteilungen, insbesondere von Wert-Beurteilungen, erfassen“.86 Während das Für-sich in Sartres phänomenologischer Ontologie zunächst als Freiheit und Wahl bestimmt ist, fügt ihm das Für-Andere-sein nun eine Identität zu: „Ich, der ich, insofern ich meine Möglichkeiten bin, das bin, was ich nicht bin, und nicht das, was ich bin, jetzt bin ich also jemand“.87 Was für jemand ich jedoch in den Augen des Anderen bin, werde ich niemals endgültig wissen. Die eigene Objektivität, der ich in der Scham gewahr werde, ist nichts was ich erkenne, sondern eher die Intuition, dass ich eine Außenseite habe, die mir entgeht, insofern sie für einen Anderen ist, dessen Bewusstsein mir notwendig verschlossen ist. Sartre nimmt also Hegels Gedanken, dass das intersubjektive Verhältnis eine Seinsbeziehung ist, in modifizierter Weise auf: Mein Verhältnis zu mir selbst ist durch die Erfahrung der Scham von Grund auf verwandelt. Denn für mich allein wäre ich niemals sympathisch oder unsympathisch, unterhaltsam oder langweilig, hässlich oder schön, geistreich oder dumm. Sobald ich mich selbst also frage, was für ein Mensch ich bin, habe ich den Anderen schon vorausgesetzt und versuche mich so zu sehen, wie ein Anderer mich sehen würde. Der Andere, insofern er mich erkennt, und nicht selbst ein Objekt meiner Erkenntnis ist, ist also ein Sein, 83
Ebd., S. 435. Vgl., ebd., S. 516. 85 Ebd., S. 483. 86 Ebd., S. 481. 87 Ebd., S. 475. 84
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das sich der Erkenntnis entzieht – und damit wie der existierende Einzelne bei Kierkegaard eine Lücke im Identitätssystem, das das Sein mit dem Erkannt-sein zusammenfallen lassen will. Obwohl er nicht erkannt wird, lässt sich der Subjekt-Andere durch eine von der Erkenntnis dezidiert unterschiedene Erfahrungsweise – nämlich die Scham – phänomenologisch aufweisen. Der Andere wird hier erlebt, ohne zum Objekt einer Erkenntnis zu werden. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass sich das Beispiel der Intersubjektivität auch bei Merleau-Ponty, aber noch mehr bei Levinas anbietet, um zu illustrieren, wie sich diese Philosophen in ihrem Selbstverständnis gegenüber Hegel positionieren. 2. Der Leib als Existenz – Merleau-Ponty Offensichtlich ist auch Maurice Merleau-Ponty deutlich von Wahls Hegel-Interpretation beeinflusst, wie schon der Titel seines Aufsatzes – „Der Existentialismus bei Hegel“ – verrät. Wie für Wahl gibt es auch für Merleau-Ponty „mehrere Hegel“.88 Beim frühen Hegel tritt die Philosophie noch nicht an die Stelle der Erfahrung, sondern es ist die Erfahrung selbst, die sich philosophisch begreifen will. So betrifft zwar alles, was über das Leben gesagt werden kann, das Bewusstsein des Lebens, weil wir bewusst sind, wenn wir darüber sprechen. Aber, wie Merleau-Ponty hervorhebt, das Bewusstsein nimmt hier etwas in Besitz, das ihm vorausgeht und sein Ursprung ist also sozusagen „ein Leben vor dem Bewußtsein“.89 Der Mensch in der „Phänomenologie des Geistes“ ist deshalb kein Bewusstsein, das bereits alle seine Gedanken in völliger Klarheit vor sich hat. Insofern geht es hier noch nicht um das epistemologische, sondern um das menschliche, existierende Subjekt, das sein eigenes Leben in Begriffen zu denken versucht, die es im Kontakt mit seiner Erfahrung gewinnt. „Die gesamte Phänomenologie des Geistes beschreibt diese vom Menschen unternommene Anstrengung, sich selbst in Besitz zu nehmen“.90 Besonders gewürdigt wird an dieser Stelle der Umstand, dass der frühe Hegel keinerlei Primat der wissenschaftlichen Erfahrung wie etwa Kant geltend macht: Hier ist die Erfahrung (expérience) nicht mehr nur wie bei Kant unsere ganz auf das Schauen beschränkte Berührung mit der sinnlichen Welt; das Wort nimmt den tragischen Widerhall
88
Merleau-Ponty, Der Existentialismus bei Hegel, S. 84. Ebd., S. 88. 90 Ebd., S. 87. Merleau-Ponty würdigt Hegel als einen der ersten Denker, der die Vernunft erweitert, damit auch das Irrationale Gegenstand philosophischer Untersuchungen sein kann (vgl. ebd., S. 83). Michel Foucault schließt sich offenbar dieser Hegel-Lesart von Wahl und Merleau-Ponty an, wenn er in „Wahnsinn und Gesellschaft“ die folgende Einschätzung der neuzeitlichen Vernunft abgibt: „Plötzlich steht der Wahnsinn in einem Gebiet des Ausschlusses, aus dem er erst mit der Phänomenologie des Geistes befreit wird“ (Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main, 1993, S. 70. 89
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auf, den es in der gewöhnlichen Sprache hat, wenn ein Mensch von dem spricht, was er erlebt hat. Es ist nicht mehr das Experiment (expérience) im Labor, es ist die Prüfung des Lebens.91
Insofern es daher ein Sein vor der Erkenntnis gibt, lässt sich von einem „Existentialismus Hegels“92 sprechen. Mit anderen Worten, das Subjekt bei Hegel erkennt nicht einfach nur, sondern es setzt sich mit seiner Welt liebend, hassend, zweifelnd und kämpfend auseinander – und diese Erfahrungen versucht es im Nachhinein zu erkennen. Hegels Philosophie gilt auch bei Merleau-Ponty als eine Befreiung vom Idealismus, weil die Wirklichkeit bei ihm nicht nur das Objekt einer kontemplativen Erkenntnis ist, sondern von Widersprüchen und Konflikten umgetrieben wird. Wenn Merleau-Ponty hingegen kritisiert, dass der späte Hegel in den Idealismus zurückfällt, weil er diese Widersprüche in einer gedanklichen Synthese versöhnen will, so schließt er sich explizit der Kritik Kierkegaards an: Der Hegel vom Ende hat alles begriffen, außer seiner eigenen historischen Situation; er hat allem Rechnung getragen, außer seiner eigenen Existenz, und die Synthese, die er uns anbietet, ist eben deshalb keine wahre Synthese, weil sie so tut, als wüßte sie nicht, daß sie die Tat eines bestimmten Individuums und einer bestimmten Zeit ist. Kierkegaards Einwand – der zutiefst mit dem von Marx übereinstimmt – besteht darin, den Philosophen an das Bewußtsein seiner historischen Inhärenz zu erinnern; Sie, der Sie über die Entwicklung der Welt urteilen und ihre Vollendung im preußischen Staat verkünden, von woher sprechen Sie, und wie können Sie so tun, als hätten Sie einen Platz außerhalb jeder Situation?93
Offenbar ist der späte Hegel in Merleau-Pontys Augen also wohl auf eine andere Weise Idealist als Kant: Kant ist Idealist, weil die Erfahrung bei ihm völlig distanziert ist und keine existentiellen Konflikte kennt. Hegel ist Idealist, weil seine Erfahrung zwar existentielle Konflikte kennt, diese aber in einer gedanklichen Synthese versöhnt werden. Kurz, bei Kant kommt das Leiden gar nicht vor, bei Hegel wird es vom Standpunkt des Absoluten objektiviert.94 Im Vergleich zu Sartre ist der Hegel-Bezug in Merleau-Pontys Hauptwerk „Phänomenologie der Wahrnehmung“ (1945) weitaus versteckter und eine ausführliche Diskussion seiner Philosophie sucht man überhaupt in seinen Schriften eher vergebens. Dennoch ist Hegel – wie sich einigen zentralen Stellen entnehmen lässt – auch in Merleau-Pontys Denken sozusagen unterschwellig präsent. So wird der Hauptgegner in der Phänomenologie der Wahrnehmung wie bei Kierkegaard als das ,objektive Denken‘ charakterisiert. Gemeint ist auch hier damit ein weit verbreitetes Wissenschaftsideal, demzufolge die Wirklichkeit in absoluter Durchsichtigkeit und Klarheit 91
Merleau-Ponty, Der Existentialismus bei Hegel, S. 87. Ebd., S. 86. 93 Ebd., S. 85. Die Nähe zwischen Kierkegaard und Marx wird auch von Liessmann angesprochen (vgl. Liessmann, Sören Kierkegaard zur Einführung, S. 8). 94 Merleau-Pontys Sicht auf die Erfahrung bei Kant und Hegel macht wohl nur Sinn, wenn man die Erfahrungsbegriffe von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Hegels „Phänomenologie des Geistes“ einander gegenüberstellt. 92
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völlig von der Erkenntnis durchdrungen werden kann. Eine solche Tendenz, die Wirklichkeit in eine Idee, also in etwas Gedachtes zu überführen, erblickt Merleau-Ponty in der philosophischen Tradition – gerade auch in der französischen Universitätsphilosophie95 – aber vor allem in den empirischen Wissenschaften und schließlich sogar im außerwissenschaftlichen Alltagsdenken.96 Der Verdacht, dass dieser Begriff von Kierkegaards Hegel-Kritik beeinflusst ist, wird bestätigt, wenn Merleau-Ponty in seiner Erläuterung des objektiven Denkens Kierkegaard explizit erwähnt, obwohl dies so beiläufig geschieht, dass es sich leicht überlesen lässt. In Anbetracht dessen, dass Merleau-Pontys Ziel gerade auch eine Kritik an diesem objektiven Denken ist, ist der Schluss dann nicht zu gewagt, dass sich die „Phänomenologie der Wahrnehmung“ indirekt auch als eine Kritik an Hegel lesen lässt: Ich spreche nur mehr in der Idee von meinem Leib, in der Idee vom Universum, von der Idee des Raumes und der Idee der Zeit. So bildet sich ein ,objektives‘ Denken (im Sinne Kierkegaards) aus – das des gemeinen Verstandes und das der Wissenschaft – , in dem wir endlich jede Berührung mit der perzeptiven Erfahrung verlieren, deren Resultat und natürliche Folge jenes Denken ist und bleibt.97
Merleau-Ponty sucht nach einem Gegenpol zum objektiven Denken; dies ist gerade nicht der „Rückgang auf eine universale Vernunft“,98 sondern vielmehr eine wirklich radikale Reflexion, der es gelingt, „die unreflektierte Welterfahrung wiederzuentdecken“.99 Diese unreflektierte und grundlegende Welterfahrung, auf die die Reflexion zurückgehen soll, ist nach Merleau-Ponty unsere Wahrnehmung selbst, in der ursprünglich unser Leib, die Dinge und die anderen Menschen in Erscheinung treten. Jede Erkenntnis ist im Vergleich hierzu eine nachträgliche Intentionalität, die das fundamentale Weltverhältnis der Wahrnehmung bereits voraussetzt. Die Analogie zu Kierkegaards Hegel-Kritik ist kaum zu überhören, wenn Merleau-Ponty schreibt, es sei der Irrtum des objektiven Denkens, „das meditierende Subjekt vermöge seinerseits den Gegenstand seiner Meditation gänzlich zu absorbieren und restlos zu erfassen, unser Sein also in Wissen aufzulösen“.100 Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Wahrnehmung lediglich „eine pure Erkenntnisoperation fortschreitenden Registrierens von Qualitäten und ihres gewöhnlichen Ablaufs, das wahrnehmende Subjekt steht der Welt gegenüber wie der Wissenschaftler seinen
95 Merleau-Ponty nennt hier Jules Lachelier, der „das Erfahrungssystem als Geflecht mathematisch-physikalischer Korrelationen“ zu begreifen versucht (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 401). 96 Siehe hierzu auch Good, Paul: Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf/ Bonn, 1998, S. 33 – 61. 97 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 95 f. 98 Ebd., S. 85. 99 Ebd., S. 282. 100 Ebd., S. 87.
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Experimenten“.101 Für ein solches Primat der Erkenntnis ist das Wahrnehmen, wie Merleau-Ponty fortfährt, nichts weiter als „Wahrzunehmen-denken“:102 Demzufolge zeichnete sich das Wahrgenommene durch „die Durchsichtigkeit eines gleichsam faltenlosen Objekts“ aus und korrelativ fände sich auf Seiten des Wahrnehmenden „die Durchsichtigkeit des Subjekts, das nichts anderes ist, als was es zu sein denkt“.103 Als diejenigen, die bereits mit mehr oder weniger Erfolg nach einem Ausweg aus diesem Primat der Erkenntnis gesucht haben, werden Henry Bergson, Maurice Blondel, Alain, Benedetto Croce und Edmund Husserl genannt. Ihr gemeinsamer Zug soll darin bestehen, dass sie „unser tatsächliches Dasein und die Existenz der Welt zu einer Dimension neuer Forschung“104 erhoben haben. So kennt die Existenzphilosophie, die an dieser Stelle als ein weiteres Beispiel für diese Tendenz genannt wird, nicht mehr nur das bloße Erkenntnissubjekt, sondern den existierenden Menschen. Es wäre jedoch, wie Merleau-Ponty fortfährt, allzu einseitig, wenn man die Existenzphilosophie auf einen bloßen Subjektivismus reduzieren wollte, denn sie erlaubt gleichzeitig auch die philosophische Wiederentdeckung der Welt: Die Existenz enthüllt angesichts der Freiheit eine ganz neue Gestalt der Welt, die Welt als Versprechen und Bedrohung der Existenz, die Welt, die ihr Fallen stellt, sie verführt oder ihr nachgibt, nicht mehr die flache Welt der kantischen Gegenstände der Wissenschaft, sondern eine Landschaft aus Hindernissen und Wegen, letztlich die Welt, die wir ,existieren‘, und nicht nur der Schauplatz unserer Erkenntnis und unseres freien Willens.105
Im Vergleich zu Kierkegaard entkommt bei Merleau-Ponty also nicht nur der existierende Einzelne dem Erkenntnissystem, sondern dies gilt auch für die Objekte der Welt, insofern sie phänomenal gegeben sind, bevor der Versuch unternommen werden kann, sie als Erkenntnisobjekte zu fixieren: Keine Reflexion kann etwas daran ändern, daß ich an einem Nebeltag die Sonne in nur zweihundert Schritt Entfernung sehe, daß die Weisen meines Denkens ihre ,Bildung‘ durch meine Erziehung, meine vorangegangenen Bemühungen und meine Geschichte erfahren haben.106
Während die Existenz des Einzelnen bei Kierkegaard aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit in kein System des Wissens integriert werden kann, verwendet Merleau-Ponty im Grunde dasselbe Argument, um gegen die Reduzierbarkeit auf ein Erkenntnisobjekt die Unabgeschlossenheit des Wahrnehmungsgeschehens zu unterstreichen: 101
Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 60. 103 Ebd., S. 234. 104 Vgl. Überall und nirgends, in Merleau-Ponty, Maurice: Zeichen, Hamburg, 2007, S. 181 – 231, hier: S. 226. 105 Ebd. 106 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 85. 102
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ein jeder Aspekt des Dinges, der in unsere Wahrnehmung fällt, bleibt eine Einladung noch über ihn hinaus wahrzunehmen, und ein bloßer momentaner ,Anhaltspunkt‘ im Prozeß des Wahrnehmens. Wäre je das Ding selbst erreicht, so wäre es ohne jedes Geheimnis vor uns ausgebreitet. So aber hörte es im gleichen Augenblick, in dem wir glaubten, ganz in seinem Besitz zu sein, als Ding zu existieren auf. Was die ,Realität‘ des Dinges ausmacht, ist eben dasselbe, das es unserem Besitz entzieht.107
Kurz, das Wahrgenommene lässt sich nicht in Erkenntnis auflösen, weil seine Wahrnehmung notwendig unabschließbar bleibt.108 Im Unterschied zu meinem Körper als Objekt der physiologischen und anatomischen Lehrbücher findet auch mein Leib, der für Merleau-Ponty das Subjekt der Wahrnehmung ist, keinen Platz im objektiven Denken, das allenfalls „den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in der Wirklichkeit“109 erfassen kann. Wenn das objektive Denken meinen Leib, der die Welt erschließt und mich in eine Situation versetzt, zum Thema machen will, so gerinnt er zum Erkenntnisobjekt und übrig bleibt eben nur noch jener materielle Körper. Um die Besonderheit des Leibes im Unterschied zum Körper zu entdecken, kommt es nach Merleau-Ponty vielmehr darauf an, den Leib so zu beschreiben, wie er erlebt wird, „d. h. das Drama, das durch ihn hindurch sich abspielt, auf sich zu nehmen und in ihm selber aufzugehen“.110 Nach den bisherigen Ausführungen wundert es nicht, wenn nun auch MerleauPonty wie Kierkegaard explizit die Kategorie der Existenz – wenn auch in deutlich modifizierter Form – als Gegenpol zur Erkenntnis ins Spiel bringt. So heißt es: „der Leib [ist] geronnene oder verallgemeinerte Existenz, die Existenz unaufhörliche Verleiblichung“.111 Mit Existenz will Merleau-Ponty außerdem den Sachverhalt beschreiben, daß der Leib nicht eine Summe nebeneinandergesetzter Organe, sondern ein synergisches System ist, dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassen-
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Ebd., S. 273. Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Wahrnehmung nach Merleau-Ponty der „,Fehler‘ in diesem ,großen Edelstein‘“ des objektiven Denkens ist (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 244). Möglicherweise liegt hier eine Anspielung auf den trotzigen Schreibfehler bei Kierkegaard vor: „Es ist, um es im Bilde zu beschreiben, wie wenn einem Schriftsteller ein Schreibfehler unterliefe, und dieser würde sich seiner als eines solchen bewußt – vielleicht war es eigentlich doch kein Fehler, sondern in einem weit höheren Sinne etwas, was zur ganzen Darstellung wesentlich mit dazu gehörte – es ist, wie wenn nun dieser Schreibfehler gegen den Verfasser Aufruhr machen wollte, aus Haß wider ihn ihn zurechtweisen wollte, und in wahnwitzigem Trotz zu ihm sprechen: nein, ich will nicht ausgestrichen werden, ich will stehen bleiben als Zeugnis wider dich, ein Zeugnis davon, daß du ein mäßiger Schriftsteller bist“ (Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, Köln, 1985, S. 74). 109 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 234. 110 Ebd. Vgl. hierzu: Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty in Waldenfels, Bernhard: Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt am Main, 1980, S. 29 – 54. 111 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 199. 108
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den Bewegung des Zur-Welt-seins, dadurch, daß er die geronnene Gestalt der Existenz selbst ist.112
Zwar erfüllt der Existenzbegriff wie bei Kierkegaard die Aufgabe einer Abgrenzung gegenüber der Erkenntnis, aber im Unterschied zum dänischen Philosophen fällt die Existenz bei Merleau-Ponty gerade nicht mit der Subjektivität zusammen. Die Kategorie der Existenz stellt in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ vielmehr den Versuch dar, „diesem Dritten zwischen Psychischem und Physiologischem, zwischen Für-sich und An-sich einen Namen“113 zu geben. Damit wird der Wechsel von einer transzendentalen Phänomenologie, die sich letztlich noch einem idealistischen Denken zuordnen lässt, zu einer existentiellen Phänomenologie vollzogen, welche an die zentrale Stelle des Bewusstseins „die Existenz, d. h. das Zur-Weltsein-durch-einen-Leib“114 setzt. Das Primat der Erkenntnis, wie es charakteristisch für das objektive Denken ist, scheitert nach Merleau-Ponty aber auch im Fall der Intersubjektivität, weil es dort aufgrund seines idealistischen Bewusstseinsbegriff zu unlösbaren Problemen führt.115 Wenn mein Leib und der des anderen tatsächlich nichts weiter wären als ein Objekt für das denkende und konstitutive Bewusstsein, dann kommt man an der Frage nicht vorbei, wie es möglich ist, in dieses Objekt ein Subjekt hineinzudenken. Ähnlich wie Sartre am Beispiel Husserls gezeigt hat, führt der idealistische Umgang mit der Frage des anderen Menschen immer dazu, dass selbst die Subjektivität des Anderen noch ein Produkt meiner eigenen Konstitution ist – „wiederum bliebe letztlich ich allein konstituierend“.116 Für Merleau-Ponty ist der Leib jedoch weder nur Subjekt noch nur Objekt, sondern er stellt „eine dritte Seinsweise“117 dar. Eine solche Neubestimmung führt schließlich dazu, dass die Fremderfahrung ihren rätselhaften Charakter verliert. Phänomenal gegeben ist mir mein eigener Leib zunächst gerade nicht als materielles Objekt mit bestimmten Eigenschaften, sondern als Vermögen eines Verhaltens (comportement). Ein solches Verständnis des Leibes verringert die Kluftzwischen den Subjekten, denn von jetzt an geht es nicht mehr um die Frage, wie ich als ein reines denkendes Bewusstsein ein materielles Objekt sehen kann, das ebenfalls von einem für mich unsichtbaren reinen denkenden Bewusstsein bewohnt ist. Wenn mein perzeptives Bewusstsein mit einem Körper verflochten ist, warum soll dann dieser Körper vor mir umgekehrt nicht auch mit einem Bewusstsein verflochten sein?
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Ebd., S. 273. Ebd., S. 149. 114 Ebd., S. 358, Fußn. 19. 115 Vgl. Ebd., S. 400. 116 Ebd., S. 401. 117 Ebd. 113
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Das Gesicht eines anderen Menschen ist, wie Merleau-Ponty ausführt, „Träger einer Existenz“,118 so wie auch meine eigene Existenz von einem Leib getragen ist. Wir sind füreinander „Verhaltungen“:119 „Ich nehme den Anderen als Verhalten wahr“.120 Indem mein Leib den Leib eines Anderen wahrnimmt, entdeckt er darin nach Merleau-Ponty seine eigene vertraute Weise des Umgangs mit der Welt – sozusagen eine „Fortsetzung seiner eigenen Intentionen“.121 Die von Merleau-Ponty vorgeschlagene Revision des Leibverständnisses soll begreiflich machen, wie der Träger eines Verhaltens einen anderen Träger eines Verhaltens wahrzunehmen vermag. Wie Kierkegaard konfrontiert Merleau-Ponty das objektive Denken also mit Phänomenen, die es nicht bewältigen kann und zeigt auf diese Weise, dass sich weder der Leib noch das wahrgenommene Ding oder der Leib des Anderen auf bloße Erkenntnisobjekte zurückführen lassen. 3. Das Antlitz des Anderen – Levinas Für Levinas gilt, was auch für Merleau-Ponty gilt: Zwar haben beide Philosophen die Vorlesungen von Kojève besucht,122 aber die direkten Bezugnahmen auf Hegel fallen in ihren Texten eher spärlich aus. Dennoch besitzt für Levinas wie auch für Merleau-Ponty Hegel eine zentrale Bedeutung – und zwar als der konsequente Vertreter einer Denkweise, von dem sich der eigene Ansatz dezidiert abzugrenzen versucht. So wie bei Merleau-Ponty Hegel den Fluchtpunkt eines bis zu Ende getriebenen ,objektiven Denkens‘ darstellt, ist bei Levinas – obwohl die Referenzen auf Heidegger weitaus häufiger anzutreffen sind – Hegels absoluter Idealismus das wohl deutlichste Beispiel für jenes in der europäischen Tradition vorherrschende Denken der Totalität. Das Hauptziel, das Levinas in seinem gesamten Denken, vor allem auch in seinem philosophischen Hauptwerk „Totalität und Unendlichkeit“ (1961) verfolgt, ist die Suche nach einem Ausweg aus dieser Totalität, die er folgendermaßen charakterisiert:
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Ebd., S. 403. Ebd., S. 404. 120 Ebd., S. 407. 121 Ebd., S. 405. 122 Vgl. hierzu Malka, Salomon: Emmanuel Levinas. Eine Biographie, München, 2004, S. 140. Das Verhältnis zwischen Hegel und Levinas ist bisher zwar weitaus besser untersucht worden als dasjenige zwischen Hegel und Merleau-Ponty, aber die Forschung steckt auch hier noch in den Anfängen, so dass die zwei folgenden Bücher als Pionierleistungen angesehen werden können: Hegel und Levinas. Kreuzungen, Brüche, Überschreitungen, hrsg. von Brigitta Keintzel und Burkhard Liebsch, Freiburg im Breisgau, 2010; Herrmann, Steffen: Symbolische Verletzbarkeit. Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Levinas, Bielefeld, 2013. 119
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Vom Beginn an ist die Philosophie vom Entsetzen vor dem Anderen, das Anderes bleibt, ergriffen, von einer unüberwindbaren Allergie. […] Die Philosophie Hegels stellt den logischen Zielpunkt dieser tiefsitzenden Allergie der Philosophie dar.123
Dieselbe bereits bei Jean Wahl anzutreffende Trennung zwischen einem inspirierenden jungen Hegel und einem zu kritisierenden späten Hegel klingt auch hier wieder an, denn Levinas lehnt zwar das späte System ab, aber er äußert doch eine große Bewunderung für die „Phänomenologie des Geistes“.124 Dennoch formuliert Hegel bereits in dieser Schrift den Grundgedanken der Totalität, der Levinas entrinnen will: „Das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein, dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft oder das Wissen im Allgemeinen“.125 Das Erkennen, das einen Gegenstand auf einen Begriff bringt, ist für Levinas keineswegs unschuldig, sondern ein Akt der Aneignung und der Unterwerfung. Ein solches Verständnis legt Hegel selbst natürlich schon dadurch nahe, dass er „das Begreifen als ein Durchbohren des Gegenstandes“ versteht, „der nicht mehr mir gegenübersteht und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte“.126 Bereits die Begriffszuweisung erscheint so für Levinas von Anfang an als ein Herrschaftsinstrument, durch das das Gegenüber erst zum Objekt und dann zum Opfer wird: Erkennen heißt, in dem entgegenstehenden Individuum, in diesem Stein, der verletzt, in dieser Kiefer, die in den Himmel ragt, in diesem Löwen, der brüllt, dasjenige überraschen, wodurch es nicht dieses Individuum hier, dieses Fremde hier ist, sondern wodurch es sich ver-
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Vgl. Die Spur des Anderen in Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 1992, S. 209 – 235, hier: S. 211 f. Vgl. Levinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, 1993, S. 121: „Für die philosophische Tradition des Abendlandes gilt, daß jede Beziehung zwischen dem Selben und dem Anderen, wenn sie nicht mehr die Vorherrschaft des Selben bejaht, auf eine unpersönliche Beziehung in einer universalen Ordnung zurückgeführt wird. Ja, die Philosophie ist identisch mit dem Vorgang, an die Stelle der Personen die Ideen, des Gesprächspartners das Thema, des äußeren Verhältnisses des Anrufs das interne Verhältnis der logischen Beziehung zu setzen. Die Seienden werden auf das Neutrum der Idee, des Seins, des Begriffs zurückgeführt“. Siehe hierzu Peperzak, Adriaan: Unendlichkeit zwischen Hegel und Levinas, in: Das Endliche und Unendliche in Hegels Denken, hrsg. von Francesca Menegoni und Luca Illeterati, Stuttgart, 2004, S. 186 – 207, hier: S. 193: „Dass Emmanuel Levinas mit dem Wort ,Totalität‘ im Titel seines programmatischen Buches ,Totalité et Infini‘ Hegel mitgemeint hat, kann nicht bezweifelt werden“. 124 Vgl. Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, hrsg. von Peter Engelmann, Wien, 1986, S. 26; Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg, 1989, S. 131. Herrmann vertritt ebenfalls in diesem Sinne die Auffassung, dass Levinas kein durchweg kritisches, sondern ein ambivalentes Verhältnis zu Hegel einnimmt (vgl. Herrmann, Symbolische Verletzbarkeit, S. 122). 125 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 19. 126 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 47.
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rät, wodurch es dem freien Willen, der in jeder Gewissheit waltet, eine Angriffsfläche bietet, wodurch es erfasst und begriffen wird, in einen Begriff eingeht.127
Insofern sich das Erkennen als eine Rückführung des Anderen auf das Selbe verstehen lässt – „so sagt der Geist, dies ist Geist von meinem Geist, und die Fremdheit ist verschwunden“128 – ist der „Solipsismus […] die eigentliche Struktur der Vernunft.“129 Einen Ausweg aus dem System der Identität kann es nur geben, wenn das Andere erfahren werden kann, ohne es in seiner Andersheit aufzuheben. Und genau eine solche Erfahrung will Levinas aufsuchen. Wie Kierkegaard sucht er also nach einem Ausweg aus der Vorherrschaft der Objektivierung, aber dieser Ausweg ist für ihn nicht die einzelne Existenz, nicht „der egoistische Schrei der kierkegaardschen Subjektivität […], die noch um ihr Glück oder ihr Heil besorgt ist“.130 Die übereinstimmende Tendenz zwischen Kierkegaard und der eigenen Philosophie ist Levinas aber selbst offensichtlich deutlich geworden, wenn er explizit erklärt, dass nicht ich selbst, sondern der andere Mensch im Identitätssystem keinen Platz findet und dessen Absolutheitsanspruch in die Schranken verweist: „Nicht ich bin es, der sich dem System verweigert, wie Kierkegaard dachte, sondern der Andere“.131 Nichtsdestotrotz bleibt die Stoßrichtung gegen Hegel dieselbe; und es besteht zudem auch dieselbe Lösungsstrategie in der Suche nach einem Nicht-Gegenständlichen, das sich der Vergegenständlichung entzieht. Mit Sartre stimmt Levinas wiederum darin überein, dass jeder Versuch, den Anderen wie auch immer als ein Erkenntnisobjekt zu konstituieren, grundsätzlich in die Irre gehen muss: Die Absichten des Anderen stellen sich mir nicht wie die Gesetze der Dinge dar […]. Der Andere kann nicht in mir enthalten sein, wie groß auch immer der Umfang meiner Gedanken sei […]. Der Andere ist undenkbar.132
Die ursprüngliche Gegebenheitsweise des Anderen wäre damit analog zur Entscheidung bei Kierkegaard, zur Scham bei Sartre oder zur Wahrnehmung bei Merleau-Ponty. Allerdings sind all jene genannten Beispiele, in denen das Primat der Erkenntnis vermieden werden soll, für Levinas immer noch dem Primat des Selben untergeordnet.
127 Vgl. Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 1992, S. 185 – 208, hier: S. 190. 128 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 47. 129 Levinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, Hamburg, 1989, S. 38. 130 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 444. 131 Ebd., S. 46 f. 132 Ebd., S. 336.
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Levinas zufolge begegnet mir der Andere in derjenigen Erfahrung, die ihn nicht in das Selbe verwandelt, als ein Gesprächspartner.133 Auf eine solche Weise taucht er dann auf, wenn ich nicht über ihn, sondern mit ihm spreche, insofern er nicht das Thema, sondern der Adressat meiner Rede ist: Der Andere hält und bestätigt sich in seiner Andersheit, sobald man ihn anruft, sei es auch nur, um ihm zu sagen, daß man mit ihm nicht sprechen kann, sei es, um ihn als Kranken einzustufen, um ihm sein Todesurteil anzukündigen. Während er ergriffen und verletzt wird, während ihm Gewalt geschieht, wird er gleichzeitig ,geachtet‘. Der Angerufene ist nicht Gegenstand meines Verstehens: Er steht unter keiner Kategorie. Er ist der, mit dem ich spreche.134
Zweifellos geschieht das Erscheinen des Anderen zunächst in derselben Weise, in der nach Levinas alle Bedeutung in der Welt hervortritt: Er ist präsent in seinem kulturellen Kontext, von dem aus er verständlich ist und einen Sinn erhält.135 Mit dem so genannten Antlitz meint Levinas jedoch, dass der Andere auch von sich her bedeutet und damit einen Widerstand gegen meine konstitutiven Vermögen leistet.136 Damit durchbricht das Antlitz als Ausdruck und unabhängige Quelle des Sinns den kulturellen Kontext. In diesem Sinn ist der absolute Andere nackt, d. h. unbekleidet von irgendeiner konstitutiven Bedeutung bzw. von irgendeiner subjektiven Sinngebung, die ihm von einem größeren Zusammenhang her zukommt.137 Im Antlitz wird das Andere also in seiner Andersheit erfahrbar, weil es ein von sich her bedeutender Ausdruck und kein Phänomen ist, das seinen Sinn ausschließlich vom Horizont des Miterscheinenden erhält: Während das Phänomen bereits Bild ist, Manifestation, die gefangen ist in ihrer plastischen und stummen Form, ist die Epiphanie des Antlitzes lebendig. Sein Leben besteht darin, die Form aufzulösen, in der sich jedes Seiende, sobald es in die Immanenz eintritt, d. h. sobald es sich als Thema darstellt, bereits verbirgt.138
Keineswegs darf das Antlitz daher nach Levinas mit der plastischen Form des Gesichts verwechselt werden.139 Diese Beziehung zum Anderen einzugehen, zu der ich durch das Antlitz aufgefordert werde, bedeutet keineswegs, sie zu thematisieren, denn eine solche Thematisierung würde schon wieder den Verlust der Andersheit darstellen. Sobald sich das Subjekt dieses Verhältnis zum Anderen als Korrelation vorstellt, reflektiert es sich bereits aus dem Geschehen der sozialen Beziehung heraus. Wenn der Andere nur ge133 Vgl. Levinas, Emmanuel: Ist die Ontologie fundamental?, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 1992, S. 103 – 119, hier: S. 111. 134 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 93. 135 Vgl. Levinas, Ist die Ontologie fundamental?, S. 117. 136 Vgl. Levinas, Die Spur des Anderen, S. 220 f. 137 Vgl. ebd., S. 222. 138 Ebd., S. 221. 139 Vgl. Lévinas, Die Philosophie und die Idee des Unendlichen, S. 199.
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sehen wird, so bleibt er Noema innerhalb meiner Intentionalität; insofern er hingegen tatsächlich innerhalb seiner Andersheit begegnet, ist er ein Sich-Sagen, ein SichAusdrücken, auf das ich antworte.140 Das Antlitz gibt sich also zunächst nicht als Gesehenwerden, sondern es spricht – und dieser Widerstand gegen die Objektivierung stellt mein Können in Frage und macht mich verantwortlich, indem meine Antwort erwartet wird: Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zur Antwort.141
Sicher kann ich mich weigern, die Bitte des Anderen zu erfüllen, aber der Tatsache, dass ich aufgefordert werde, kann ich mich nicht entziehen. Der andere Mensch ist für Levinas daher das einzige Seiende, dem ich nicht begegnen kann, ohne ihm diese Begegnung gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen. Bei Levinas wird die Ethik also zu einer Optik, in der allein ich den Anderen als Anderen erfahre: [D]ie Ethik ist eine Optik. Aber sie ist ein bildloses ,Sehen‘, ein ,Sehen‘ ohne die dem Sehen eigenen Vermögen der synoptischen und totalisierenden Objektivation; sie ist eine Beziehung oder eine Intentionalität, die ganz anderer Art ist.142
Indem der Ausdruck des Anderen, der sich in seinem Antlitz manifestiert, von sich her bedeutet und sich dadurch meinen sinnstiftenden Vermögen entzieht, empfange ich den Anderen, ich konstituiere und begreife ihn nicht. Damit wird das Eigene nicht mehr allein durch sein konstituierendes Ergreifen und Mit-sich-Identifizieren des Anderen definiert, sondern offen für ein nicht-intentionales Bedeuten, für das Vernehmen eines nicht-konstituierten Anspruchs. Das Mich-Anrufen des Antlitzes ist damit grundsätzlich etwas, das sich der objektivierenden Erkenntnis entzieht. Wenn das Antlitz also ein Bedeuten bzw. das Sich-Bedeuten schlechthin ist, bei dem das Andere nicht zum Selben wird, erfüllt der Andere bei Levinas dieselbe konzeptionelle Aufgabe wie die existierende Subjektivität bei Kierkegaard: „Das Antlitz sprengt das System“.143 Schon die recht zuspitzenden Formulierungen, die Levinas wählt, wenn er den seiner Ansicht nach gewalttätigen Zugriff der Erkenntnis analysiert, unterstreichen noch einmal, dass er wie Sartre und Merleau-Ponty das Unbehagen gegenüber einem umfassenden System des Erkennens teilt, welches schon Kierkegaards philosophische Tätigkeit in Atem hält. Es hat sich in den vorangegangenen Erläuterungen herausgestellt, dass nicht zuletzt durch die Deutung, die Jean Wahl vornimmt, Hegel und Kierkegaard zunächst als Verbündete wahrgenommen werden, die nicht in einem 140
Vgl. Taureck, Bernhard: Lévinas zur Einführung, Hamburg, 1991. S. 65. Lévinas, Die Spur des Anderen, S. 224. 142 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 23. 143 Vgl. Ich und Totalität, in: Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, Wien, 1995, S. 24 – 55, hier: S. 51. 141
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Verhältnis des Widerspruchs, sondern der Ergänzung stehen. Die genannten Phänomenologen – vor allem bei Sartre und Merleau-Ponty wird dies ganz deutlich – hegen eine deutliche Sympathie für Hegels Überwindung des subjektiven Idealismus, weil sie darin auch die Epistemologie der französischen Universitätsphilosophie ihrer Zeit getroffen sehen. Sie kritisieren jedoch den Schritt zum absoluten Idealismus, indem sie wie Kierkegaard die Nichtreduzierbarkeit von subjektiven Erfahrungen auf Wissen und Erkenntnis geltend machen. Das Verständnis von Existenz, das Kierkegaard gegen Hegel entwickelt, erweist sich grundsätzlich als wegweisend für ein Denken, welches die Auffassung vertritt, dass der epistemische Gesichtspunkt nicht zuletzt auch die Gefahr einer Phänomenblindheit mit sich bringt. Sowohl für Kierkegaard, wie auch für Sartre, MerleauPonty und Levinas gilt, dass im Zentrum ihrer philosophischen Forschung ein Nicht-Gegenständliches steht, das unter einem konsequent epistemischen Gesichtspunkt aus dem Blick verloren wird. Wenn die genannten Philosophen sich gegen Hegels Idealismus im Besonderen und den Primat der Erkenntnis im Allgemeinen wenden, so stehen sie vor der Frage, wie etwas philosophisch entdeckt werden kann, ohne dass es hierdurch zum Objekt der Erkenntnis gemacht wird. Nicht-objektivierende Erfahrungen sind bei Kierkegaard die Erhellung der Entscheidungssituation des einzelnen existierenden Menschen, bei Sartre die Scham, bei Merleau-Ponty die unreflektierte Wahrnehmung und bei Levinas schließlich die Beziehung zum Anderen, in der ich ihn nicht erkenne, sondern ihm antworte. Obwohl Kierkegaard selbst dem Idealismus zugerechnet werden kann, wird sein gegen Hegel gerichtetes Existenzdenken aufgenommen und fungiert in umgewandelter Form wie ein Lackmustest, um den Idealismus aus der Phänomenologie zu vertreiben.
Hegel und die Demokratie Tilo Wesche Welche Einsichten Hegels können für die heutige Demokratietheorie wiedergewonnen werden? Man kann diese Frage auf zwei Arten behandeln. Die erste Möglichkeit widmet sich der demokratischen Anschlussfähigkeit von Hegels Philosophie. Hier werden in Hegels politischer Philosophie versteckte Spuren eines Demokratieansatzes freigelegt, der aus Gründen der damaligen Zensurgefahr nur chiffriert ausgesprochen werden konnte. Unter den niederschmetternden Eindrücken der Karlsbader Beschlüsse sah sich Hegel in seinen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie und für die Publikation der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ zu Zugeständnissen gezwungen, ohne die er mit Denunziationen rechnete.1 Hegel spricht der Demokratie „alle vernünftige Form“ ab und befürwortet eine konstitutionelle Monarchie ohne allgemeines Wahlrecht und Gewaltenteilung.2 Sein strategisches Verhalten mag eine Erklärung für die Kluft sein, die zwischen der ausdrücklichen DemokratieSchelte in den Grundlinien und der Tatsache klafft, dass er demokratische Grundrechte zwischen den Zeilen verteidigt. So ist noch 1831 in der Schrift „Über die englische Reformbill“ geradezu beiläufig zu lesen, dass in dem Wahlrecht das Recht des Volkes liegt, an den öffentlichen Angelegenheiten, den höchsten Interessen des Staats und der Regierung teilzunehmen, und daß die Ausübung desselben eine hohe
1 Hegel äußert seine Befürchtungen im Brief vom 30. Oktober 1819 an Creuzer; Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Briefe, Band 2, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg, 1969, S. 213, bes. S. 219. Dass Hegel sich von den Karlsbader Beschlüssen bedroht sah, rekonstruiert Ilting in der Einleitung von: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Rechtsphilosophie 1818 – 1831, Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1973, Band 1, S. 23 – 26. Siehe dazu auch: Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, in: Hegels Philosophie, hrsg. von Herbert Schnädelbach, Band 2, Frankfurt am Main, 2000, S. 314, 335. 2 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main, 1986, § 308, S. 477 (im Original kursiv). Im Folgenden zitiert als „Rph“. Die Momente, die der Demokratie bei Hegel entgegenstehen, werden erläutert in: Maluschke, Günther: Philosophische Grundlagen des Verfassungsstaates, Freiburg, 1982, bes. S. 256 – 316; Siep, Ludwig: Die Aktualität der praktischen Philosophie Hegels, in: Das Interesse des Denkens. Hegel aus heutiger Sicht, hrsg. von Wolfgang Welsch und Klaus Vieweg, München, 2003, S. 191 – 204; Kervégan, Jean-Françoise: Jenseits der Demokratie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2008, S. 223 – 243.
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Pflicht sei, […], da dies Recht und seine Ausübung im französischen Stile der Akt der Souveränität des Volkes, und zwar sogar der einzige sei.3
Der Graben zwischen Hegels Kritik und Theorie der Demokratie wird erst dann überbrückt, wenn es gelingt, die Rechtsphilosophie aus den Grundoperationen von Hegels Logik zu rekonstruieren. Erstmals wurde dieser Versuch von Dieter Henrich unternommen, der die logische Bedeutungsebene über den Aufbau der Grundlinien schiebt.4 Spätestens seit dem großangelegten Unterfangen von Klaus Vieweg, die Rechtsphilosophie gemäß der begriffslogischen Struktur der Urteilslehre nachzuzeichnen, kann es keinen Zweifel mehr an Hegels Demokratietheorie avant la lettre geben.5 Die zweite Möglichkeit einer fruchtbaren Hegelrezeption für die heutige Demokratietheorie besteht darin, Problemstellungen und Denkmöglichkeiten, die in Hegels Grundlinien angelegt sind, in eine tragfähige Theorie der Demokratie zu übersetzen. Sie kann sich von der Frage nach Hegels eigener Demokratiekonzeption entlasten. Stattdessen wird die Blickrichtung umgekehrt und untersucht, durch welche Einsichten Hegels die Demokratietheorie der Gegenwart vor Herausforderungen gestellt wird. Im ersten Teil wird deshalb zunächst ein Demokratieverständnis eingeführt, das heutzutage in der politischen Philosophie als ein Mindeststandard für Demokratie gilt (I.). Demokratische Entscheidungen gehen aus einer Meinungs- und Willensbildung hervor, die vier Voraussetzungen erfüllt: Gleichheit, Inklusion, Zwanglosigkeit und Rationalität. Im zweiten Teil wird allein die Rationalitätsvoraussetzung aufgegriffen und als eine erste Schnittstelle zwischen Hegel und den heutigen Demokratietheorien erörtert (II.). Der demokratische Prozess der Meinungs- und Willensbildung erzielt rationalisierende Effekte, die in der Lage sein sollen, bestimmte Täuschungen auszuschließen, die die Ergebnisse ansonsten verzerren würden. Im dritten Teil wird Hegels Theorie der Anerkennung als ein Ansatz nachgezeichnet, auf dessen Grundlage die Rationalitätsvoraussetzung eingelöst werden kann (III.). Mit dem vierten Teil wird die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit eingeführt und die Auffassung vertreten, dass demokratische Freiheit sich allein als positive Freiheit begreifbar machen lässt (IV.). Der fünfte Teil widmet sich dem lebensweltlichen Hintergrund, aus dem sich die rationalisierende Kraft letztlich speist (V.).
3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Über die englische Reformbill, in: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff., Band 11, Berliner Schriften 1818 – 1831, S. 112. 4 Henrich, Dieter: Logische Form und reale Totalität. Über die Begriffsform von Hegels eigentlichem Staatsbegriff, in: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihrer Logik, hrsg. von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart, 1982, S. 428 – 519. 5 Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, München, 2012, bes. S. 366 – 434.
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I. Demokratische Teilhabe Demokratie wohnt ein Freiheitsversprechen inne. Sie verdankt ihren überragenden Wert der Freiheit und geht in der Selbstbestimmung von Staatsbürgern auf, die zugleich Adressat und Autor der Gesetze sind. Herrschaft und Freiheit kommen zum Einklang in einer Regierungsform, in der die Bürgerinnen und Bürger selbst die Gesetze bestimmen, die ihr Zusammenleben regeln. Die Betroffenen der Gesetze geben sich ihre Gesetze selbst. Das Freiheitsversprechen der Demokratie wird demnach durch politische Teilhabe eingelöst. Bürgerinnen und Bürger müssen sich an der Gesetzgebung beteiligen können. Die demokratische Teilhabe erfolgt dabei auf zwei Arten: in Gestalt des Wahlaktes und der politischen Öffentlichkeit. Die unwiderstehliche Legitimationskraft des Wahlaktes besteht darin, dass mit minimalem Aufwand eine maximale Wirkung erzielt wird. Minimal ist der Aufwand, weil die Teilhabe an der Meinungs- und Willensbildung nicht mehr voraussetzt als die Beteiligung an der regelmäßig stattfindenden Wahl des Parlaments. Maximal ist die Wirkung, weil man bei der Wahl der gesetzgebenden Versammlung beteiligt ist und dabei keine andere Stimme mehr zählt als die eigene. Der Wahlakt mutet den Bürgerinnen und Bürgern allerdings zu, dass der Volksvertreter unter Berufung des freien Mandats anders entscheiden kann, als es sich seine Wähler vorgestellt haben. Im Gegenzug verleiht der Wahlakt dem Bürger die Macht, den Volksvertretern die Zustimmung zu entziehen. Plebiszitäre Elemente wie Bürgerentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerhaushalte verstärken die Legitimationskraft zusätzlich. Und zwar verschaffen sie der politischen Macht eine größere Legitimation nicht deshalb, weil sie zwangsläufig zu anderen Ergebnissen führten, sondern deshalb, weil sie bei den Bürgerinnen und Bürgern das Vertrauen in die Effektivität ihrer Beteiligung und damit in die Demokratie insgesamt stärken. Die zweite Art der demokratischen Teilhabe findet über die politische Öffentlichkeit statt.6 Politische Partizipation nimmt hier die Formen der Bildung von Bürgerinitiativen, Mitwirkung an Bürgerforen, Organisation einer Versammlung oder Pflege eines Internet-Blogs an. Bürgerinnen und Bürger nehmen über die politische Öffentlichkeit zweifach Einfluss auf die staatlichen Institutionen. Zum einen üben sie mittels der Bildung öffentlicher Meinungen einen informellen Druck aus. Durch das zivilgesellschaftliche Engagement von Nichtregierungsorganisationen, Advokaten und Intellektuellen werden Themen und Probleme in die öffentliche Debatte eingebracht, die durch ihre Relevanz und Stichhaltigkeit die staatlichen Organe zu einer Stellungnahme zwingen. Zum anderen strahlt die öffentliche Debatte auf die Wählerschaft zurück, so dass die öffentlich verhandelten Themen und Probleme mentalitätsbildend auf die Meinungen und Präferenzen der Wähler zurückwirken. Die öf-
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Ich orientiere mich hier an Habermas’ Bestimmung der politischen Öffentlichkeit.
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fentliche Beratschlagung leistet somit einen Beitrag zur Formierung der Einstellungen von Wählern, die wiederum über den Wahlakt direkten Einfluss nehmen.7 Damit die demokratische Teilhabe kein leeres Versprechen bleibt, sondern als effektive Einwirkungsmöglichkeit auf den Prozess der Gesetzgebung ausgeübt werden kann, muss sie bestimmten Ansprüchen gerecht werden. Demokratische Teilhabe findet unter vier Voraussetzungen statt: Gleichheit, Inklusion, Zwanglosigkeit und Rationalität. Zunächst zur Gleichheit. Politische Gleichheit ist das zentrale Merkmal von Demokratie als der gleichen Einwirkungsmöglichkeit auf den Gesetzgebungsprozess. Gleichheit ist das herausstechende Merkmal bereits der ersten Demokratie der Geschichte, in der Teilhabe durch das Losverfahren garantiert wurde. Von 508 bis 322 v. Chr. wurden im antiken Athen Bürger durch das Los gewählt und in die Regelung der politischen Angelegenheiten einbezogen. Das Losverfahren soll eine isonomische Ordnung unter Gleichen gewährleisten, sofern das Los blind gegenüber Herkunft, Vermögen und sozialer Stellung ist. Es stellt deshalb sicher, dass jeder die gleiche Chance besitzt, an der Selbstregierung teilzunehmen. In heutigen Demokratien wird Gleichheit in Bezug auf den Wahlakt durch das Prinzip „eine Person, eine Stimme“ verwirklicht, dem zufolge jede Stimme gleich viel zählt. Dagegen liegt die gleiche Teilhabe hinsichtlich der politischen Öffentlichkeit weniger auf der Hand. Denn offenkundig ist durch die mediale Kommerzialisierung, Monopolisierung und Personalisierung der tatsächliche Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung erheblich ungleich verteilt.8 Im Gegenzug aber bleibt die gleiche Möglichkeit gewahrt, seiner Stimme durch Schaffung einer Gegenöffentlichkeit Ausdruck zu verleihen. Im Lichte des Gleichheitsanspruchs erscheint das Internet, selbst bei ernüchterter Betrachtung, als ein Instrument, um tatsächlichen Ungleichheiten in der öffentlichen Einflussnahme entgegenzuwirken. Demokratische Gleichheit schließt zudem die Chancengleichheit mit ein, dass jeder Bürger die rationalen Kompetenzen erlernen können muss, die für eine effektive Beteiligung am Wahlakt und der politischen Öffentlichkeit erforderlich sind. Zu den Voraussetzungen für eine demokratische Teilhabe gehören deshalb gleiche Bildungschancen und der freie Zugang zu Bildungsinstitutionen. Ansprüche auf Bildungsgerechtigkeit und Bildungsfinanzierung leiten sich demnach aus dem Demokratieverständnis einer Gesellschaft ab. Demokratische Teilhabe setzt zweitens die Inklusion voraus, der zufolge jede Bürgerin und jeder Bürger die gleichen Teilhaberechte wahrnehmen darf. Von der Teilhabe an dem Prozess der Gesetzgebung darf niemand ausgeschlossen werden, der von den demokratisch legitimierten Gesetzen betroffen ist. Wer zu den Betrof7 Dass der Einfluss, den die politische Öffentlichkeit auf die Bildung von Meinungen ausübt, nicht nur im Zentrum von diskursethischen Demokratietheorien, sondern auch des Demokratiemodells der Social-choice-Theorie steht, erläutert Miller, David: Deliberative Democracy and Social Choice, in: Political Studies, 1992, S. 54 – 67. 8 Siehe dazu: Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie, in: Habermas, Jürgen: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt am Main, 2008, S. 138 – 191.
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fenen und damit zu den Anspruchsberechtigen von Partizipationsrechten zählt, hängt von der Staatsbürgerschaft ab. Allerdings gerät die Staatsbürgerschaftskonzeption in modernen Gesellschaften zunehmend unter den Druck, durchlässig für einen weiteren Kreis von Betroffenen zu werden.9 Denn zum einen leitet sich aus der Inklusion in Gesellschaften mit hoher Migration ein Anspruch von Fremden ab, demokratische Teilhabe ausüben zu dürfen. Der Anspruch auf Inklusion stellt zum anderen Demokratien in einer globalisierten Welt vor besondere Herausforderungen. Denn von einer Gesetzgebung – und insbesondere in Bezug auf Wirtschaft, Finanzen und Steuern – sind in einer eng vernetzten Welt weitaus mehr betroffen als nur die Staatsbürger des einen Staates. In der Geschichte von Demokratien, in denen zunächst Sklaven, Frauen und ökonomisch Benachteiligte von der Teilhabe ausgeschlossen waren, fand ein bemerkenswerter Fortschritt statt. Unter den Bedingungen der globalisierten Welt besteht jedoch nach wie vor ein Aufholbedarf. Drittens ist Zwanglosigkeit ein Bestandteil der demokratischen Teilhabe. Die Ausübung des Wahlrechts und der öffentlichen Meinungsäußerung muss frei von der Furcht vor nachteiligen Folgen sein. Partizipationsrechte werden deshalb stets von Freiheitsrechten flankiert. Schutz vor Restriktionen durch staatliche Institutionen, den Arbeitgeber oder Interessengruppen bieten die Freiheitsrechte, zu denen das Recht auf freie Meinungsäußerung, freien Informationszugang und Pressefreiheit gehören. Einen Meilenstein in der Geschichte der Freiheitsrechte stellt die „Bill of Rights“ dar, die der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zur Seite gestellt wurde.10 Zu den Voraussetzungen für demokratische Teilhabe zählt viertens die Rationalität der Meinungs- und Willensbildung. Für eine Klärung, wie Demokratien ihr Freiheitsversprechen einzulösen vermögen, muss unter anderem erklärt werden, wie eine Meinungs- und Willensbildung unter Bedingungen der Rationalität stattfinden kann. Denn Selbstbestimmung schließt mit ein, dass die Ergebnisse der Meinungs- und Willensbildung nicht dem Zufall überlassen werden, dem durch Irrtümer und Irrationalität Tür und Tor geöffnet wird. Die selbstbestimmte Meinungs- und Willensbildung wird aus der Hand gegeben, wenn über sie die Launen von Irrtümern und Irrationalitäten entscheiden. Freiheit wird also mitunter durch ein rationales Verfahren der Meinungs- und Willensbildung verwirklicht, das in der Lage ist, Irrtümern – so weitgehend wie möglich – einen Riegel vorzuschieben und irrationale Überzeugungen einzudämmen. Statt die Ergebnisse einer Meinungs- und Willensbildung dem Zufall des Irrtums und der Willkür irrationaler Überzeugungen anheimzustellen, setzen demokratische Gesellschaften voraus, dass Ergebnisse aus einem Prozess hervorgehen, der für die Betroffenen nachvollziehbar und kontrollierbar ist. Diese Nachvollziehbarkeit und Kontrollierbarkeit wird durch das Geben und Fordern von Gründen verbürgt. Die Betroffenen bestimmen die Ergebnisse selbst, indem die Ergebnis9 Siehe dazu: Miller, David: Democracy’s Domain, in: Philosophy and Public Affairs, 2009, S. 201 – 228. 10 Siehe dazu Keane, John: The Life and Death of Democracy, London, 2009, S. 273 – 373.
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se allein von Gründen abhängen und die Gründe, die in die Waagschale geworfen werden, einsehbar sind. Allein durch das Geben und Fordern von Gründen wird bewerkstelligt, dass Irrtümer und Irrationalität eingehegt werden, deren Zufälligkeit und Willkürlichkeit dem Anspruch auf Selbstbestimmung widersprechen. In der Demokratietheorie werden zwei Ansichten über die Voraussetzung der Rationalität vertreten. Aus der Sicht des Liberalismus stellt Rationalität keine eigenständige Voraussetzung dar. Denn der Anspruch auf Rationalität wird unter den Bedingungen der Gleichheit, Inklusion und Zwanglosigkeit bereits eingelöst. Gleichheit, Inklusion und Zwanglosigkeit sind notwendige und zugleich hinreichende Bedingungen, unter denen ein Prozess der Meinungs- und Willensbildung rationale Ergebnisse erzeugt. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger unter der Bedingung von Chancengleichheit sich am Prozess der Meinungs- und Willensbeteiligung zwanglos beteiligen, dann gehen aus diesem Prozess rationale Ergebnisse hervor. Rationalität muss also nicht zusätzlich erzeugt werden und stellt demnach keine eigenständige Voraussetzung dar (siehe unten Seite 149). Nach einer anderen Ansicht, die etwa Jürgen Habermas vertritt, stellen Gleichheit, Inklusion und Zwanglosigkeit zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen der demokratischen Teilhabe dar.11 Denn aus ihnen allein gehen noch keine rationalen Entscheidungen hervor. Es bedarf vielmehr zusätzlich einer rationalisierenden Kraft, die den Entscheidungen Legitimation verschafft. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass von Hegels politischer Philosophie entscheidende Impulse für diesen Demokratieansatz ausgehen.
II. Die kognitive Dimension der Demokratie Das demokratische Verfahren der Meinungs- und Willensbildung erzeugt Entscheidungen, denen die Bürgerinnen und Bürger ihre Zustimmung geben können müssen. Die Zustimmungsfähigkeit hängt dabei mit von einem Prozess der Rationalisierung ab. Ihm ist es mit zu verdanken, dass Entscheidungen Zustimmung verdienen. Unter Rationalisierung ist ein Prozess zu verstehen, der Irrtümer und sonstige Täuschungen einzudämmen hilft, die ansonsten die Meinungs- und Willensbildung beeinträchtigen. Je weniger Täuschungen unterlaufen, desto erfolgreicher ist die Beratschlagung über gemeinschaftliche Zielsetzungen und desto mehr verdienen die aus ihr erwachsenen Entscheidungen unsere Zustimmung. Das Arrangement einer demokratischen Rationalisierung geht von dem realistischen Bild aus, dass Menschen nicht immer aus Impulsen und mit Zielen urteilen, die von guten Gründen flankiert sind und in einer besten Lösung konvergieren. 11
Die diskurstheoretische Demokratiekonzeption von Jürgen Habermas und ihr rationalitätstheoretischer Unterschied zur liberalen Demokratietheorie werden erörtert in Wesche, Tilo: Habermas’ Theorie ,Radikaler Demokratie‘. Über den Zusammenhang von Demokratie und Rationalität, in: Menschenrechte und Demokratie, hrsg. von Falk Bornmüller, Thomas Hoffmann und Arnd Pollmann, Freiburg, 2013, S. 181 – 204.
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Nicht minder wichtig ist jedoch die Unantastbarkeit der Gleichheit, Inklusion und Zwanglosigkeit. Rationalisierung darf nicht durch eine „Epistokratie“ (David Estlund) erkauft werden, in der die Meinungsfreiheit beschnitten, Unbequemen das Wort verboten oder das Wahlrecht graduiert wird. Andersdenkende dürfen aufgrund eines Pluralstimmrechts nicht weniger zählen, das, wie Mill vorschlug, Wählern gemäß Intelligenz, Wissen und Urteilskraft zwei oder mehr Stimmen verleiht. Demokratische Rationalisierung bewegt sich in den Bahnen der gleichen, inklusiven und zwanglosen Urteilsfindung. Damit die demokratische Beratschlagung rationalisierende Effekte erzielen kann, muss sie in der Lage sein, zwei Formen von Täuschungen zu vermeiden. Zum einen hilft sie, Irrtümern zu entkommen, die den Beteiligten im Prozess der Meinungs- und Willensbildung unterlaufen können. Insbesondere durch die Pluralität der Perspektiven möglichst vieler Wähler und die Stellungnahmen, die von Experten und GegenExperten eingebracht werden, wächst der Beratschlagung eine zunehmende Kraft zu, Irrtümer aufzudecken und auszuräumen. Zum anderen wird der Einfluss von trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen vermindert, die sich nicht kurzerhand mit Irrtümern verrechnen lassen. Damit die demokratische Meinungsund Willensbildung alles in allem als ein Prozess der Rationalisierung gelten kann, müssen in ihr rationale Überzeugungen stärker zum Zuge kommen als andere Überzeugungen. Hier zeigt sich die erste Schnittstelle zwischen Hegel und den Demokratietheorien der Gegenwart. Die kognitive Dimension wird von Hegel als eine Eigenschaft der Vernunft beschrieben, die der Staat, „ein in sich Vernünftiges“, besitzt.12 Nach Hegel gewährleistet der Staat einen Prozess der Meinungs- und Willensbildung, der unter wahrheitsverbürgenden Bedingungen stattfindet und dessen rationalisierende Effekte mögliche Täuschungen ausschließt. Diese Rationalisierungsleistung macht „das an und für sich Vernünftige“ des Staates aus.13 Der Staat weiß […], was er will, und weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen, die es nicht nur an sich, sondern fürs Bewußtsein sind; und ebenso, insofern seine Handlungen sich auf vorhandene Umstände und Verhältnisse beziehen, nach der bestimmten Kenntnis derselben.14
Um die Rationalitätsstandards, unter deren Bedingung der Meinungs- und Willensbildungsprozess Täuschungen zu vermeiden hilft, näher bestimmen zu können, müssen wir zuvor einen Zwischenschritt einlegen und untersuchen, was hier unter Täuschung zu verstehen ist. Denn die Frage lautet doch wohl: Zur Vermeidung welcher Täuschungen muss die demokratische Meinungs- und Willensbildung in der Lage sein? Hegel unterscheidet zwei Grundformen der Täuschung: Irrtümer und 12
Rph, S. 26 (im Original kursiv); vgl. § 258, S. 399. Ebd., § 258, S. 399. 14 Ebd., § 270, S. 415.
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Selbsttäuschungen. Entscheidungen wird also Legitimation von Bedingungen verschafft, die imstande sind, sowohl Irrtümer als auch Selbsttäuschungen zu vermeiden. Den Begriff der Selbsttäuschung führt Hegel in seiner berühmten Unterscheidung zwischen dem Bekannten und dem Erkannten ein: Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt voraus zu setzen, und es sich ebenso gefallen zu lassen.15
In Selbsttäuschungen gibt man sich ohne Not oder Zwang mit einfachen Antworten zufrieden. Im Unterschied zu Irrtümern, die unwillkürlich unterlaufen, gehen Selbsttäuschungen auf Freiheit zurück. Solche kognitiven Entlastungen durchziehen die „Phänomenologie des Geistes“ wie ein roter Faden. Sie werden als die Gestalten des Bewusstseins ausgeführt, in denen am Bekannten als dem (vermeintlich) Sicheren festgehalten und einer Erkenntnis ausgewichen wird, in deren Licht vermeintliche Gewissheiten verloren zu gehen drohen. Diese „Furcht“ oder „Angst vor der Wahrheit“ ist das Grundmerkmal des vorwissenschaftlichen Bewusstseins.16 Selbsttäuschungen sind strukturell erstens durch eine kognitive Entlastung und zweitens durch Freiheit gekennzeichnet. (1.) Die auffälligste Eigenschaft der Selbsttäuschung ist die kognitive Entlastung. In Selbsttäuschungen gibt man sich ohne Not oder Zwang mit einfachen Antworten zufrieden. Wer sich selbst täuscht, hält bequeme Wahrheiten für begründeter, als sie sind, und entlastet sich von einer näheren Erkenntnis. Selbsttäuschungen dienen allgemein dem Versuch, beunruhigende Unübersichtlichkeiten kraft vermeintlich gesicherter Weltbilder zu bannen. Nicht aus der Unübersichtlichkeit der Welt an sich, sondern aus deren Vereinfachung erwachsen Selbsttäuschungen. Mit dem Wegfall autoritativer Deutungshoheiten der Religion und traditionalistischer Ethiken geht ein Verlust sicherer Weltbilder und ein zunehmender Legitimationsdruck einher. Auf die wachsende Komplexität wird mit der Restauration vereinfachter Weltbilder reagiert, die vom Legitimationsdruck entlastet. Die kognitive Entlastung ist zunächst einmal kein verwerflicher Wunsch. Sie fällt mit einem Ziel des Täuschens um der Täuschung willen keineswegs zusammen, sondern ist Ausdruck eines Interesses an Gewissheit, das nicht von vornherein unvernünftig ist. In Selbsttäuschungen wird das Bedürfnis nach gesichertem Wissen indes voreilig befriedigt. Mit dem Wegfall traditionalistischer Deutungshoheiten wächst nicht nur das emanzipatorische Potential, sich durch Rechtfertigungen der Lebens- und Weltdeutungen zu vergewissern. Mit dem Legitimationsdruck wächst auch die Neigung, sich von ihm zu entlasten. Statt Ambivalenzen der modernen Welt anzuerkennen, werden sie kurzerhand
15 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1988, S. 25. Im Folgenden zitiert als „PhG“. 16 Ebd., S. 58 f., S. 63.
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aufgelöst mittels politischer Vorstellungen einer Welt, in der das simple EntwederOder regiert. (2.) Das unverwechselbare Hauptmerkmal der Selbsttäuschung ist zweitens die Freiheit. Dass in Selbsttäuschungen ohne Not oder Zwang mit einfachen Weltbildern vorliebgenommen wird, drückt einen Akt der Freiheit aus. Vereinfachte Sichtweisen gehen auf Freiheit zurück. Ihre Freiheit zeigt sich im Verhältnis zur Möglichkeit eines besseren Urteils, das ohne Not oder Zwang zugunsten eines schlechteren preisgegeben wird. Hinsichtlich dieser Freiheit unterscheiden sich Selbsttäuschungen von Irrtümern und Zwangsvorstellungen. Irrtümer sind durch Unverschulden, Informationsmangel und Irregularität gekennzeichnet: Sie widerfahren unverschuldet, insofern sie das unbeabsichtigte Verfehlen eines Erkenntnisziels sind. Sie sind Ausdruck eines Informationsmangels (Not im Sinne von Mangel), indem der beurteilte Sachverhalt komplexer ist, als angenommen. Und sie gehen aus Irregularitäten hervor, sofern eine berechtigte Erwartungshaltung durch unvorhersehbare Kontingenzen durchkreuzt wird. Bei Zwangsvorstellungen liegen die Dinge wiederum anders. Hier ist man sehenden Auges blind aufgrund eines inneren Zwangs, unter dem Vorstellungen abgewehrt werden, die ein verletztes Selbst bedrohen. Die Ursache für Zwangsvorstellungen liegt in der schützenden Abwehr einer psychischen Realität, die ein intaktes Persönlichkeitsbild gefährdet. Der Abwehrmechanismus dient dem „Schutz des Ichs“ (Freud) vor der bedrohlichen Bewusstmachung von bestimmten Wünschen und Triebansprüchen. Im Unterschied dazu gehen Selbsttäuschungen von einer entscheidungsfähigen Person selbst aus, die ohne Informationsmangel oder Zwang mit vermeintlichen Gewissheiten vorliebnimmt. Trotzdem lassen sie sich nicht auf eine intentionale Absicht zurückführen. Sie haben ihren Ort zwischen der Intentionalität absichtlichen Täuschens – etwa der Lüge oder Intrige – und dem unwillentlichen Erleiden von Irrtümern und Zwangsvorstellungen. Selbsttäuschungen kennzeichnet eine aktive Passivität, mit der wir sie geschehen machen. Als kognitive Entlastungen, die aus Freiheit hervorgehen, charakterisiert sie eine Urheberschaft vereinfachter Selbst- und Weltbilder, für die man verantwortlich zeichnet. Die Diagnose von Selbsttäuschungen ist für die Demokratietheorie zunächst aus Gründen der Anerkennung von Faktoren wichtig, die den rationalisierenden Effekten der politischen Öffentlichkeit entgegenwirken. Anstatt idealisierende Erwartungen an die Bereitschaft, sich als informierte, reflektierte und kritische Bürger einzubringen, in die Höhe zu schrauben, gilt es zunächst, gegenläufige Entlastungsbestrebungen anzuerkennen. Solche Entlastungen dürfen nicht verwechselt werden mit einer oftmals und zu Unrecht beschriebenen Apathie, Politikverdrossenheit oder alteuropäischen Ermüdung. Denn sie sind nicht Ausdruck der Passivität. Entlastung ist nicht gleichbedeutend mit Enthaltung. Im Unterschied zur Meinungsenthaltung wird in der Entlastung übertrieben eine Meinung für wahr gehalten. Hartnäckig wird hier ein bequemes Weltbild verteidigt, das man sich bezüglich Gerechtigkeitsfragen zurechtgelegt hat. Man mag die Diagnose von Selbsttäuschungen theoretisch bedauern.
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Sie ist freilich kein Wunschergebnis, aber das Festhalten an einer starken These, nur weil sonst der Boden dünner wird, kann wohl kaum eine Alternative sein. Die Annahme von Selbsttäuschungen ist nicht unumstritten. Die Philosophie von Aristoteles und Kant kann geradezu als Versuch aufgefasst werden, die Möglichkeit der Freiheit, auf die Selbsttäuschungen zurückgehen, zu widerlegen.17 Fähigkeiten ist hier nämlich ihre Ausübung als ein inneres Ziel eingeschrieben. Die Ausübung rationaler Fähigkeiten kann deshalb nur durch äußere Umstände gewaltsam blockiert werden. Täuschungen werden so vollständig als Dysfunktion oder Defekt einer rationalen Fähigkeit begreiflich gemacht, die als Selbstbewegung (Aristoteles) oder Spontaneität (Kant) durch sich selbst zur Ausübung strebt. Täuschungen werden demnach hinreichend als ein Mangel – beispielsweise des Erlernens – beschrieben, der durch äußere Umstände verursacht wird. Selbsttäuschungen stellen dagegen den Fall dar, dass aus Freiheit die Ausübung einer Vernunftfähigkeit unterbleibt. Es liegen weder Mängel noch andere Umstände vor, die jemanden daran hinderten, zur Welt ein offenes Verhältnis einzunehmen und die Dinge so zu sehen, wie sie allem Anschein nach sind. Dass triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen für wahr gehalten werden, ist hier keine Frage von Fähigkeiten und Hindernissen, sondern des Willens. Man hätte besser urteilen können und will insoweit sein Urteil für begründeter halten, als es ist. Es liegt nicht an einer Unübersichtlichkeit oder einem Unvermögen, sondern an der Verweigerung, drohende Krisen nicht sehen zu wollen, wenn ohne Not oder Zwang die Augen vor den Risiken von Technologien verschlossen werden, die den Lebensstandard geringfügig anheben; wenn man den Preis nicht anzuerkennen bereit ist, den ein ungebremstes Wachstum hat; oder wenn man dank beschwichtigender Neuverschuldungseuphemismen sich in Sicherheit davor wiegt, dass man über seine Verhältnisse lebt. Demokratien müssen sich demnach auch daran messen lassen, ob sie einer Rationalisierung gerecht werden, die imstande ist, solche politischen Lebenslügen einzuhegen. Mit dieser Behauptung ist zunächst nicht mehr erreicht, als dass ein Problem benannt ist. Denn sind Demokratien überhaupt zu einer solchen Rationalisierung von Haltungen in der Lage, in denen man sich aus freien Stücken mit trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen begnügt? III. Anerkennung und deliberative Demokratie Hegel greift seine Diagnose der Selbsttäuschung in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ auf und bettet sie hier in einen politischen Bedeutungskontext ein: Ein großer Geist [Hegel bezieht sich auf Friedrich II.] hat die Frage zur öffentlichen Beantwortung aufgestellt, ob es erlaubt sei, ein Volk zu täuschen. Man mußte antworten, daß ein Volk über seine substantielle Grundlage, das Wesen und bestimmten Charakter seines Geis17 Dies wird ausführlicher dargelegt in Wesche, Tilo: Wahrheit und Werturteil. Eine Theorie der praktischen Rationalität, Tübingen, 2011, S. 135 – 195.
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tes sich nicht täuschen lasse, aber über die Weise, wie es diesen weiß und nach dieser Weise seine Handlungen, Ereignisse usf. beurteilt, – von sich getäuscht wird.18
Dass sich im kollektiven Prozess der Meinungs- und Willensbildung die Beteiligten mit zurechtgelegten Urteilen zufrieden geben können, scheint Hegel als ein Argument gegen die demokratische Option der Volkssouveränität und für die konstitutionelle Monarchie ins Feld zu führen. Für Demokratietheorien der Gegenwart stellt sich vielmehr die Herausforderung, Selbsttäuschungen unter Bedingungen der gleichen, inklusiven, zwanglosen und rationalen Teilhabe an der Gesetzgebung Rechnung zu tragen. Nun bietet Hegel selbst mit seiner Theorie der Anerkennung einen Lösungsvorschlag an, wie diese demokratietheoretische Herausforderung zu meistern ist. Politische Institutionen verdanken laut Hegel ihre rationalisierende Kraft, auch Selbsttäuschungen die Stirn zu bieten, ihrem Anerkennungsverhältnis. In der „Phänomenologie des Geistes“ verwendet Hegel einen dreigliedrigen Begriff der Anerkennung. Untersuchen wir nun die Wahrheit des Wissens, so [hat das Wissen selbst] das Wesen oder d[en] Maßstab […] notwendig anzuerkennen. […] An dem also, was das Bewußtsein innerhalb seiner für das an sich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen.19
Anerkennung setzt sich demnach erstens aus Wissen, zweitens aus Wahrheit und drittens aus der Einheit von Wissen und Wahrheit zusammen. Im Folgenden sollen diese Elemente je für sich betrachtet werden. 1. Das „Bekannte“ – Wissen oder das Für-sich-sein Als Wissen beschreibt Hegel die Einstellung der Rechtfertigung, die er auch als Für-es-sein bezeichnet und auf die sich das Bekannte bezieht. Ein Wissen gilt für eine Person als wahr, wenn sie sich aus der Perspektive der Ersten Person von seiner Richtigkeit überzeugen kann. Rechtfertigung bedeutet das auf Gründe gestützte Fürwahrhalten. Rechtfertigungen sind jedoch anfällig für Täuschungen. Die Ursache hierfür ist die gemeinhin als Holismus bekannte Struktur: Für die Prüfung, ob eine Überzeugung tatsächlich gerechtfertigt ist, muss auf dieselbe Gesamtheit von Überzeugungen zurückgegriffen werden, der auch die zu prüfende Überzeugung entstammt. In der Folge bleibt man blind für Widersprüche in der Gesamtheit von Überzeugungen, auf deren Grundlage sich jede weitere Prüfung vollzieht. Täuschungen, die in der Rechtfertigung unterlaufen, werden deshalb in der epistemischen Einstellung der Ersten Person nicht als Täuschungen erkannt. Wir können uns nicht außerhalb unseres Wissens aufstellen und uns bei der Begründung über die Schulter schauen,
18 Rph, § 317, S. 485. Siehe zur Selbsttäuschung auch: Vieweg, Das Denken der Freiheit, S. 447. 19 PhG, S. 64 f.
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um Fehler zu erkennen, die uns in der Begründung unterlaufen. In der Prüfung einer Begründung sehen wir nicht mehr, als wir ohnehin sehen, wenn wir etwas begründen. 2. Das „Erkannte“ – Wahrheit oder das An-sich-sein Ein Wissen erscheint zwar für eine Person als wahr, jedoch ohne die Gewissheit, dass es von ihr nicht fälschlich für wahr gehalten wird. Diese Möglichkeit der Täuschung unterscheidet gerechtfertigte von wahren Überzeugungen. Wahrheit kommt einer Überzeugung erst zu, wenn als gewiss gelten kann, dass in ihr Täuschungen erkannt und vermieden sind. Diese Gewissheit nennt Hegel das An-sich-sein oder Außer-sich-sein. Sie ist die Gewissheit, dass das, was für wahr gehalten wird, auch wahr ist. Hegels Wahrheitsbegriff zielt also keineswegs darauf, Täuschungen schlechthin zu beseitigen, als ob Wahrheit jenseits jedweder Rechtfertigung stünde und jemand die Wahrheit pachten könnte. Der Maßstab, an dem nun „die Wahrheit des Wissens“ untersucht wird, meint soviel wie die Standards, an deren Erfüllung sich Wissen messen lassen muss, um als wahr zu gelten. Solche wahrheitsverbürgenden Standards oder Rationalitätsstandards sind in der Lage, rechtfertigungsbedingte Täuschungen zu vermeiden, die sich innerhalb der Rechtfertigungseinstellung nicht vermeiden lassen. 3. Das „Anerkannte“ – Die Einheit von Wissen und Wahrheit oder das An-und-für-sich-sein Es stellt sich nun folgende Anschlussfrage: Welche wahrheitsgarantierenden Standards bewerkstelligen tatsächlich, was sie zu leisten versprechen? Entscheidend dabei ist Hegels Betonung, dass das Wissen selbst die Standards „notwendig anzuerkennen“ habe. Die Rationalitätsstandards werden also nicht vom Theoriestandpunkt unbeteiligter Beobachter aus und über die Köpfe der Akteure hinweg festgelegt. Berechtigt sind vielmehr nur diejenigen Standards, denen die Akteure selbst zustimmen können. Die Standards müssen sich in den Augen der Beteiligten als anerkennungswürdig erweisen. Anerkennung bedeutet demnach, dass die Betroffenen selbst den Standards, denen sie ihr wahres Wissen verdanken, zustimmen können müssen. Das Kardinalproblem, auf das Hegels Anerkennungstheorie stößt, besteht nun darin, dass die Anerkennung nicht für dieselben teilnehmerbedingten Täuschungen anfällig sein darf, die in den jeweiligen Rechtfertigungseinstellungen unterlaufen. Denn ansonsten träte das Problem, wie sich rechtfertigungsbedingte Täuschungen vermeiden lassen, durch die Hintertür wieder ein. Um den Fallstricken eines Begründungszirkels zu entkommen, darf die Anerkennung nicht nochmals Standards voraussetzen, mit deren Hilfe Täuschungen nunmehr in der Anerkennung vermieden werden müssten. Die Anerkennung erstreckt sich vielmehr über einen Prozess zuneh-
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mender Bewährung. Wahrheitsverbürgende Standards werden anerkannt, indem sich in der Praxis ihre Effizienz bewährt, Täuschungen auszuschließen, die in den jeweiligen Akteurseinstellungen unerkannt bleiben. Die elementarste Struktur der Einheit von Wissen und Wahrheit wird somit von Hegel als ein Anerkennungsverhältnis beschrieben. Wo Hegel ihre Einheit erstmalig einführt, hebt er sogleich auf ihre Anerkennung ab. „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“20 Wissen gilt nur dann als wahr, wenn es im Lichte eines anderen Standpunktes anerkannt wird. Die Wechselseitigkeit der Anerkennung besteht darin, dass der andere Standpunkt ebenso sehr für jenes Wissen als gerechtfertigt gelten können muss; er muss von diesem als legitime Autorität anzuerkennen sein. „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend.“21 Bei Hegel sind demnach zwei Bedeutungen von Anerkennung zu unterscheiden. Anerkennung hat erstens die passivische Bedeutung des Anerkanntwerdens, kraft dessen ein Wissen, wie Hegel sich ausdrückt, „zur Wahrheit wird“. Die Besonderheit dieser Anerkennung liegt in ihrer Passivität. Man kann den eigenen Überzeugungen nicht selbst Wahrheit verleihen. Sie gelten vielmehr erst dann als wahr, wenn sie im Lichte allgemeiner Standards als wahr anerkannt werden. Diese Standards definiert jedoch nicht der Betroffene; so wie man sich überhaupt eine Regel oder einen Maßstab nicht selbst geben kann. Wenn Wissen mehr als ein bloßes Fürwahrhalten sein soll, dann muss es vielmehr der Autorität allgemeiner Standards unterworfen sein. Die zweite Bedeutung von Anerkennung bezieht sich auf das aktive Anerkennen des Maßstabs und steht für ihre Wechselseitigkeit ein. Ebenso wie das Wissen durch seine Einhaltung von Standards anerkannt wird, muss es diese Standards anerkennen können. Denn Wissen wird als wahr anerkannt nicht deshalb, weil es beliebige Standards erfüllt, sondern aufgrund seines Anerkanntseins durch eine legitime Autorität. Obwohl also die Standards, denen man unterworfen ist, nicht von einem selbst definiert werden, muss man sie dennoch selbst anerkennen können. Beide Anerkennungsbedeutungen stehen potentiell im Konflikt zueinander. Dieser wird von Hegel als der Konflikt zwischen Herr und Knecht beschrieben. Herr und Knecht sind „als Extreme sich entgegengesetzt, und das eine [ist] nur Anerkanntes, [das] andre nur Anerkennendes.“22 Die Standards kommen zunächst als eine Autorität zur Geltung, die einem die Möglichkeit verwehrt, wahresWissen allein auf das eigene Fürwahrhalten zu stützen. Insoweit erscheinen sie für den Urteilenden zunächst als Gefährdung seines Fürwahrhaltens und damit als Bedrohung. Der Konflikt besteht nun darin, dass etwas anerkannt werden soll, das zunächst als Bedrohung widerfährt. Der Urteilende versucht deshalb, an dem ihm Bekannten festzuhalten und jedes Anzeichen einer besseren Erkenntnis, die sein Fürwahrhalten erschüttern könn20
PhG, S. 127. Ebd., S. 129. 22 Ebd.
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te, zu unterdrücken. Der Anerkennungsprozess der Standards hat diesem Widerstand, der in Selbsttäuschungen ausgeübt wird, eigens Rechnung zu tragen. Sozialphilosophie und Erkenntnistheorie bilden bei Hegel kein Entweder-Oder. Weder dient das Bild von Herr und Knecht lediglich als illustrative Unterfütterung der erkenntnistheoretischen Anerkennung, noch darf verschwiegen werden, dass der Konflikt zwischen Herrschaft und Knechtschaft als ein Kampf um die Anerkennung von Wahrheitsansprüchen ausgetragen wird. Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie sind bei Hegel zwei Seiten derselben Medaille. Der Abschnitt über das Verhältnis von Herr und Knecht stellt uns zunächst vor eine erhebliche Verständnisschwierigkeit. Wie kann es sein, dass inmitten eines Kapitels, das eigentlich nur dem reinen Selbstbewusstsein gewidmet ist, ein Abschnitt vorkommt, in dem so Fernliegendes verhandelt wird wie das Verhältnis zwischen Herr und Knecht? Auffällig sind gleich zwei Vorgehensweisen Hegels. Erstens übersetzt Hegel Formen des Wissens in Praktiken des Politischen und Sozialen. Zweitens werden diese Praktiken unter dem Vorzeichen von Herrschaft erläutert. Zum ersteren. Hegels Transformation von Wissensformen in politische und soziale Praktiken benennt ein Programm. Wenn wir verstehen wollen, was Wahrheit heißt, dann müssen wir die politischen, sozialen und kulturellen Gestalten der Sittlichkeit betrachten. Denn politische Institutionen, soziale Interaktionen und kulturelle Praktiken verkörpern Standards, die in der Lage sind, Täuschungen zu vermeiden. Sie besitzen deshalb stets eine kognitive Dimension. Sie stehen unter dem Anspruch, Personen dazu zu verhelfen, einen individuellen, moralischen und politischen Willen unter wahrheitsverbürgenden Bedingungen auszubilden. Diese kognitive Dimension wohnt dem Politischen, Sozialen und Kulturellen als ein immanenter Anspruch inne, der nicht als äußerer Maßstab an sie herangetragen wird. Denn erst diese kognitive Dimension verschafft ihnen Legitimation. Die legitimationsstiftende Funktion einer Willensbildung unter wahrheitsgarantierenden Bedingungen verschafft beispielsweise dem Staat seine Anerkennung seitens der Bürgerinnen und Bürger. Darüber hinaus stattet Hegel, zweitens, Rationalität mit Herrschaft aus. Mit der Verknüpfung von Rationalität und Herrschaft hebt Hegel das hervor, was er häufig als die Gewalt, Kraft oder Macht der Vernunft beschreibt. Dieses machttheoretische Rationalitätsverständnis erklärt sich aus der Funktion, insbesondere Selbsttäuschungen ins Visier zu nehmen. Selbsttäuschungen sind keine akzidentiellen Verfehlungen einer Vernunft, die von sich aus zur Ausübung strebt und nur durch äußere Umstände gehemmt werden kann. Selbsttäuschungen werden deshalb nicht durch das Entfernen äußerer Blockaden behoben, als müsste ein Vernunftvermögen nur entriegelt werden, damit es von sich aus zur Wahrheit drängt. Selbsttäuschungen, die aus Freiheit hervorgehen, bilden vielmehr eine eigenständige Kraft, die der Vernunft gegenüber steht. Ihre Kritik und Revision muss deshalb die Macht besitzen, eine solche Gegenkraft auszuhebeln und letztlich zu bezwingen (siehe unten).
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Die deliberative Demokratie verkörpert damit genau diejenigen wahrheitsverbürgenden Standards, die Hegel in seiner Anerkennungstheorie entwickelt.23 Auf der Ebene des Bekannten bilden Bürgerinnen und Bürger je für sich aus ihrer individuellen Einstellung einen eigenen Willen aus. Auf der Ebene des Erkannten werden durch die Einhaltung bestimmter Standards triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen aussortiert, die für begründeter gehalten werden, als sie sind. Auf der Ebene des Anerkannten müssen Bürgerinnen und Bürger diese Standards anerkennen können, die deshalb nicht von oben herab ihnen aufgezwungen werden. Das heißt, die Legitimation eines jeweiligen Staates hängt von der Zustimmungsfähigkeit der von ihm verkörperten Bedingungen ab, unter denen die Willensbildung stattfindet. Hegels Theorie der Anerkennung leistet demnach zweierlei. Einerseits rekonstruiert sie diejenigen Standards, die in der Lage sind, Selbsttäuschungen zu vermeiden. Andererseits erfolgt die Legitimation dieser Standards aus der Teilnehmerperspektive von Beteiligten. Die Aufgabe, Selbsttäuschungen im politischen Prozess der Meinungs- und Willensbildung einzuhegen, wird unter der Bedingung der demokratischen Teilhabe der Betroffenen gelöst. Hegels Anerkennungstheorie führt demnach die Kritik an Selbsttäuschungen mit Demokratie zusammen. IV. Demokratische Freiheit Hegels Freiheitsbegriff markiert die zweite Schnittstelle, in der er sich mit heutigen Demokratietheorien berührt. Er vertritt die Auffassung, dass Familie, bürgerliche Gesellschaft und der Staat – also das, was er Sittlichkeit nennt – Sphären der Freiheit sind. Mit der rationalen Dimension der Politik wird demnach Freiheit verwirklicht. „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisierung der Freiheit nach deren wesentlichen Bestimmungen.“24 Diese Freiheit nimmt nun die Gestalt einer positiven Freiheit an, die über eine bloß negative Freiheit hinausgeht. Hegels Begriff der positiven Freiheit erlaubt einen Erkenntnisgewinn für die heutige Demokratiedebatte. Denn er bietet eine Korrektur 23 In Hinsicht auf die deliberative Demokratiekonzeption tritt eine Übereinstimmung zwischen Hegels und Honneths Anerkennungstheorien ans Licht. Anerkennung nimmt in der politischen Handlungssphäre, laut Honneth, die Gestalt der demokratischen Öffentlichkeit und des demokratischen Rechtsstaates an. Beide werden je von einer zivilgesellschaftlichen Hintergrundkultur flankiert. „Der moderne Staat [wird] von der ihm gedanklich vorauszuschaltenden Bedingung einer sozialen Freiheit der sich wechselseitig in ihrer Urteilsfähigkeit anerkennenden Gesellschaftsmitglieder her gedacht.“ Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin, 2011, S. 570. 24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, Band 1, Frankfurt am Main, 1986, S. 136. „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt am Main, 1986, S. 32; „[D]ie Weltgeschichte ist nichts als die Entwicklung des Begriffs der Freiheit.“ Ebd., S. 539 f. Eine alternative Deutung bietet Frederick Neuhouser an, dem zufolge der Staat vernünftig ist, sofern er Freiheit realisiert; Neuhouser, Frederick: Foundations of Hegel’s Social Theory. Actualizing Freedom, Cambridge, 2000, S. 208 – 212.
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an der vorherrschenden Tendenz liberaler Demokratietheorien, demokratische Freiheit auf negative Freiheit zu verkürzen. Wichtiger als die Diagnose von Selbsttäuschungen selbst sind die konzeptuellen Folgerungen, die sich aus ihr für die Demokratietheorie ergeben. Denn sie zieht ein spezifisches Rationalitätsmodell nach sich, das dem posthegelschen Demokratieverständnis zugrunde liegt und den Hauptunterschied zum Liberalismus markiert. Die liberale Demokratietheorie setzt ein Rationalitätsverständnis voraus, in dem demokratische Freiheit als negative Freiheit konzeptualisiert wird. Demnach wäre die Freiheit von Zwängen und Mängeln eine notwendige und zugleich hinreichende Bedingung, unter der die Rationalisierung ihre Effekte erzielt. Das Modell übernimmt die Aristotelische und Kantische Vorstellung einer Rationalität, die kraft ihrer Selbstbewegung (Aristoteles) oder Spontaneität (Kant) von sich aus zur Ausübung drängt. Frei von hemmenden Umständen verwirklicht sich die Vernunft selbst. Die Bedingungen, die ihre Ausübung ermöglichen, fallen in das Vernunftvermögen selbst. Triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen widerfahren demnach ausschließlich als fremdverursachte Täuschungen. Eine solche Rationalität entspricht der negativen Freiheit (Unabhängigkeit) von behindernden Ursachen, die die Ausübung der Vernunft gewaltsam hemmen. Der Begriff der negativen Freiheit setzt sich aus zwei Bedeutungskomponenten zusammen: Zwanglosigkeit (Nicht-Beherrschtwerden) und Mangelfreiheit. Zwanglosigkeit bezieht sich auf den Schutz vor Einschränkungen im Meinungs- und Willensbildungsprozess. Rationale Ergebnisse setzen voraus, dass sie einem ungehinderten Meinungs- und Willensbildungsprozess entstammen, der in den Bahnen garantierter Grund- und Freiheitsrechte verläuft. Die Garantie von Grundrechten wie Rede- und Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit sowie von Rechtssicherheit vor Willkürherrschaft und schließlich des freien und gleichen Wahlrechts sind dafür eine notwendige Bedingung. Demokratische Ergebnisse verdanken ihre Rationalität mitunter auch der Abwesenheit von Beschränkungen, die im Lichte der Zwanglosigkeitsanforderungen als Willkür, Hegemonie und Paternalismus erscheinen. Negativer Freiheit entspricht eine Rationalität, die sich selbst verwirklicht, sobald sie frei von Zwang und Mangel ist. Mangelfreiheit ist demnach eine Zusatzbedingung für einen Prozess, aus dem rationale Ergebnisse hervorgehen. Rationale Fähigkeiten setzen günstige Umstände voraus, die das Erlernen ihrer Ausübung ermöglichen. Auch wenn willkürliche, hegemoniale oder paternalistische Einschränkungen fehlen, können Vernunftfähigkeiten trotzdem an ihrer Ausübung durch einen Mangel gehindert werden. Rational ist ein demokratisches Ergebnis, wenn es einer Meinungs- und Willensbildung entstammt, in der – neben der Zwanglosigkeit – die Chancen garantiert sind, Kompetenzen zu erlernen, deren Mangel ansonsten das Ergebnis verzerrt. Mangelfreiheit drückt sich als epistemische Fairness in der Ausbildung rationaler Kompetenzen aus. Die unterschiedlichen Varianten der epistemischen Fairness von Joshua Cohen, Henry Richardson, Fabienne Peter oder Thomas
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Christiano kommen darin überein, dass neben den Rechten auch die Chancen zur effektiven Partizipation am öffentlichen Austausch von Gründen garantiert sein müssen.25 Denn demokratische Teilhabe wird effektiv ausgeübt, wenn die Beteiligten von Urteilsfähigkeiten, deren zwanglose Ausübung garantiert wird, auch tatsächlich Gebrauch machen können. Allein die Rechte zur zwanglosen Teilnahme an der öffentlichen Deliberation reichen nicht aus, wenn nicht zudem die erforderlichen Lernmöglichkeiten genutzt werden können, deren Mangel die Urteilsbildung blockiert, verzerrt oder erschwert. Zu solchen Bedingungen zählen Bildungsinstitutionen, die mit den entsprechenden Anspruchsrechten versehen und mit den ökonomischen Grundlagen ausgestattet sind, moralische Erziehung und der durch Privatheit geschützte Kommunikationsraum der Familie. Wenn solche Lernbedingungen in einem hinreichenden Maße vorliegen, dann wird, Zwanglosigkeit vorausgesetzt, die gute Ausübung der Vernunftfähigkeit sehr wahrscheinlich durch sich selbst zu einer festen Haltung habitualisiert. Im liberalen Demokratiekonzept stellen Zwanglosigkeit und Mangelfreiheit notwendige und hinreichende Bedingungen für ein legitimationsstiftendes Verfahren dar.26 Rationalität bildet deshalb in liberalen Demokratietheorien keine eigenständige Bedingung, die den Ergebnissen Legitimation verschafft (siehe oben Seite 138). Deshalb hat die Diagnose von Selbsttäuschungen, die aus Freiheit hervorgehen, im liberalen Demokratiemodell keinen Raum. Wenn Zwanglosigkeit und Mangelfreiheit hinreichende Bedingungen für die Legitimität demokratischer Entscheidungen sind, dann schlagen Überzeugungen, die ohne Zwang oder Not (im Sinn von Mangel) für begründeter gehalten werden, als sie sind, scheinbar nicht zu Buche. Triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen werden – sofern als Selbsttäuschungen verstanden – ohne Not oder Zwang fälschlicherweise für wahr gehalten, obwohl die Bedingungen der Zwanglosigkeit und Mangelfreiheit erfüllt sind. Vermeintliche Gewissheiten werden aus freien Stücken einer besseren Erkenntnis vorgezogen und sind keine Frage einer Fähigkeit, die durch Zwänge oder Mängel an 25 „The ideal deliberative procedure provides a model for institutions, a model that they should mirror, so far as possible. […] The key point about the institutional reflection is that it should make deliberation possible. Institutions in a deliberative democracy do not serve simply to implement the results of deliberation, as thought free deliberation could proceed in the absence of appropriate institutions. Neither the commitment to nor the capacity for arriving at deliberative decisions is something that we can simply assume to obtain independent from the proper ordering of institutions. The institutions themselves must provide the framework for the formation of the will.“ Cohen, Joshua: Deliberation and Democratic Legitimacy, in: Philosophy, Politics, Democracy. Selected Essays, Cambridge, 2009, S. 16 – 37, hier: S. 29. Richardson, Henry: Democratic Autonomy. Public Reasoning about the Ends of Policy, New York, 2002, S. 88 – 90. Der reine epistemische Prozeduralismus „defines legitimacy exclusively with respect to the fairness of democratic procedures, but interprets political fairness as including conditions of epistemic fairness.“ Peter, Fabienne: Democratic Legitimacy, New York, 2009, S. 6; vgl. S. 126, 132 – 134. Christiano, Thomas: The Constitution of Equality. Democratic Authority and Its Limits, Oxford, 2008. Unter der Gleichheitsbedingung werden laut Christiano für ein legitimes Ergebnis hinreichend effektiv Vorurteile abgebaut. 26 Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy, S. 21.
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ihrer Ausübung gehindert wird. Dass Urteilsfähigkeiten ausgeübt werden, geht vielmehr auf den freien Entschluss zur deliberativen Partizipation zurück. Zwanglosigkeit und Mangelfreiheit sind hier zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen. Sie werden durch den Entschluss zur Vernunfttätigkeit ergänzt, der eine positive Freiheit ist. Positive Freiheit nimmt die Gestalt des Entschlusses an, der Vernunft einen Vorrang gegenüber der kognitiven Entlastung einzuräumen und Gründe wichtig zu nehmen. Der freie Entschluss zur deliberativen Partizipation ist neben der Zwanglosigkeit und der Mangelfreiheit ein drittes Element der demokratischen Freiheit und kann als Ethos der Demokratie bezeichnet werden. Positive Freiheit drückt sich im demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess als die Bereitschaft aus, aus freien Stücken reflektierte und kritische Anliegen einzubringen. Diese Bereitschaft wird jedoch nicht allein deshalb schon mobilisiert, weil sie zwanglos und frei von Mängeln zustande kommt, sondern auch deshalb, weil sich eine Person zu ihr entschließt. Dieser Entschluss, Gründe wichtig zu nehmen, ist ebenso wenig eine Absicht wie die Entscheidung, sich von Gründen zu entlasten (siehe oben Seite 141). Er geht allen absichtsvollen Einstellungen voraus und ist dennoch Ausdruck der Freiheit, sich für oder gegen eine Orientierung an Gründen zu entscheiden. Wir stehen hier in der Theoriebildung vor einer Weggabelung und müssen uns entscheiden, welche von zwei Richtungen wir einschlagen wollen. Der eine Weg führt zu einem posthegelschen Demokratieverständnis, das der Diagnose von trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen demokratietheoretisch Rechnung trägt. Der andere führt zur liberalen Demokratietheorie. Demokratietheorien müssen sich dem Praxistest unterziehen und sich nicht nur die Frage gefallen lassen, ob sie für die Praxis taugen und die Kluft zwischen normativer Theorie und politischer Wirklichkeit überbrücken, sondern auch, inwieweit sie einer illusionslosen Betrachtung gerecht werden. Die Stärke der posthegelschen Demokratietheorie beruht darauf, mit der Beschreibung von Selbsttäuschungen, die Teil der politischen Welt sind, ein unverkürztes Bild von der Praxis zu geben. Dass Akteure sich nicht einfach in das Bild vernünftigen Abwägens von Interessen fügen, stellt eine Beobachtung dar, auf die man, statt sie weg zu argumentieren, Antworten finden sollte. Im Licht der größeren Reichweite der Wirklichkeitsbeschreibung tritt die diagnostische Reduktion am liberalen Demokratiemodell zutage. Welcher Demokratietheorie auch immer man einen Vorzug gibt, eine Theorie der Rationalität kann durchaus darüber Aufschluss geben, dass hier zumindest Alternativen vorliegen, die gute Gründe für sich haben. V. Demokratisches Ethos Aus unterschiedlichen Rationalitätskonzeptionen leiten sich also konkurrierende Demokratiemodelle her. Der Begriff einer Rationalität, die sich selbst verwirklicht, führt zu einem liberalen Demokratieverständnis. Die Bedingungen, unter denen rationale Fähigkeiten zur Ausübung kommen, fallen hier in die rationale Fähigkeit selbst, die nur durch äußere Umstände an ihrer Ausübung gehindert werden kann. Eine posthegelsche Demokratietheorie teilt diese rationalitätstheoretische Prämisse
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nicht. Aus ihrer Sicht gelten kollektiv verbindliche Entscheidungen nicht allein deshalb schon als legitim, weil sie unter Bedingungen der Mangelfreiheit und Zwanglosigkeit zustande kommen, sondern auch deshalb, weil zusätzlich der freie Entschluss hinzutritt, Gründe wichtig nehmen zu wollen. Dieses Wollen ist weder ein moralisches Sollen noch eine unüberschreitbare Natur, sondern, so die folgende Annahme, Ausdruck eines demokratischen Ethos, das von lebensweltlichen Sprachpraktiken mobilisiert wird. Die Rede vom demokratischen Ethos zieht unweigerlich den Verdacht auf sich, der Entschluss werde allem Anschein nach beliebig getroffen. Der Dezisionismusverdacht wird jedoch ausgeräumt, wenn es gelingt, die Entstehungsbedingungen auszuweisen, die eine Person zum Entschluss befähigen. Indem die Bedingungen angegeben werden, unter denen grundsätzlich ein solcher Entschluss zur deliberativen Partizipation möglich wird, muss er nicht auf gut Glück herbeigewünscht werden. Von einem blinden Dezisionismus unterscheidet das Ethos der Demokratie, dass der Entschluss zur deliberativen Teilnahme sich den ausweisbaren Bedingungen einer lebensweltlichen Hintergrundkultur verdankt.27 Ebenso wenig wie das Institutionengefüge oder die politische Öffentlichkeit trägt sich die Zivilgesellschaft selbst. Damit sich in der Zivilgesellschaft eine Bereitschaft zur gemeinsamen Deliberation ausbildet, muss sie sich aus lebensweltlichen Sprachpraktiken speisen. Der lebensweltliche Hintergrund ist dem Ethos der Demokratie noch einmal vorgelagert, sofern die Bereitschaft zur deliberativen Teilnahme selbst von einem vorinstitutionellen Geflecht informeller Praktiken ermöglicht wird. Die Hintergrundkultur muss dabei ohne Anleihen bei vorgängig eingeübten Solidaritätstugenden auskommen. Die Unterstellung, dass Bürger die gemeinschaftliche Beratschlagung als ein Gut anerkennen, dem ein Vorrang gegenüber selbstbezogenen Wertorientierungen gebührt, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch zirkulär. Wir drehen uns im Kreis, wenn die Bereitschaft, sich auf eine deliberative Kooperation einzulassen, von eingespielter Kooperationsbereitschaft mobilisiert werden würde. Den motivbildenden Hintergrund füllen vielmehr bestimmte Sprachpraktiken aus, die sich zu einem lebensweltlichen Gewebe vormoralischer wie auch vorpolitischer Motivationskräfte vernetzen. Was können wir unter diesem lebensweltlichen Hintergrund verstehen? Er setzt sich aus den Elementen der Macht, Realität, Sprache, des Sinns und der Kontingenz zusammen. Zumindest für die ersten beiden – Macht und Realität – können wir Anleihen bei Hegel machen. Selbsttäuschungen gehen aus Freiheit hervor und bilden deshalb eine eigenständige Größe, die unabhängig von rationalen Fähigkeiten für sich besteht und nicht bloß deren Defekt darstellt. Sie sind Ausdruck nicht eines Man27
Hans Jörg Sandkühler rehabilitiert zwar in seiner Hegel-Deutung die individuelle Urteilsfähigkeit, lässt aber die Grundlagen außer Betracht, die eine solche Urteilsfähigkeit erst ermöglichen; Sandkühler, Hans Jörg: Subjekt als Substanz. Gründe einer Philosophie der Demokratie für die Inversion eines Hegelschen Denkbildes, in: Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaft, Heft 3, 1995, S. 51 – 66.
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gels, sondern eines Widerspruchs, in dem sich Selbsttäuschungen und Rationalität als eigenständige Kräfte gegenüber stehen, die in gegensätzliche Richtungen ziehen. Zur Kritik an Selbsttäuschungen ermächtigt deshalb eine Kraft, die sich erstens als Macht manifestiert. Unvertretbaren Urteilen muss im Widerstreit mit einer eigenständigen Gegenkraft der Entlastung zum Durchbruch verholfen werden. Dazu verhelfen Machtpraktiken, die in der Lage sind, Selbsttäuschungen auszuhebeln und an ihre Stelle eine unverzerrte Sicht der Dinge treten zu lassen. Macht drückt sich hier als die rationalisierende Kraft aus, die sich gegen Selbsttäuschungen durchzusetzen vermag und auf die Hegels Bestimmung der Vernunft als Macht, Gewalt und Kraft zurückverweist. Deliberative Partizipation verdankt sich also bestimmten Machtpraktiken. Diese Machtpraktiken wohnen zweitens der Realität inne. Die Macht, Wahrnehmungsverweigerungen aufzubrechen, hängt nicht in der Luft. Sie ist in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet und wird dort von konkreten Praxisformen verkörpert. Der Entschluss, reflektierte und kritische Anliegen in die Öffentlichkeit einzubringen, wird nicht freischwebend in der Luft getroffen, sondern verdankt sich konkreter Entstehungsbedingungen. Er ist demnach keine voluntaristische Entscheidung und setzt materielle Praktiken voraus, die zu ihm erst befähigen. Die Macht, Selbsttäuschungen auszuhebeln, objektiviert sich in den materiellen Praktiken der Kunst, (Populär-) Kultur und Kommunikation. Diese Praktiken besitzen, drittens, einen ausgeprägten Sprachcharakter; wobei ich unter Sprache Symbole verstehe, die innerhalb einer Sprachgemeinschaft die Möglichkeit identischer Bedeutungen erzeugen. Praxisformen insbesondere der Sprache verkörpern die Macht, Selbsttäuschungen auszuhebeln und eine unbefangene Wahrnehmung anzustoßen. Der zivilgesellschaftliche Hintergrund setzt sich aus dem vorinstitutionellen Geflecht kommunikativer, (populär-)kultureller und künstlerischer Sprachpraktiken zusammen.28 Wird der Eigensinn dieser vorpolitischen und vormoralischen Grundlage nicht anerkannt, so wird die Demokratietheorie um ihre illusionslose Diagnose von Selbsttäuschungen verkürzt. Positive Freiheit hängt demnach nicht voluntaristisch freischwebend in der Luft. Denn zur Entscheidung, als wer man sich verstehen will, befähigen im günstigen Fall lebensweltliche Sprachpraktiken, indem sie kognitive Entlastungen aushebeln, die der Offenheit für Gründe weichen. Sprache erzeugt die Offenheit für Gründe, viertens, auf einer vorprädikativen Ebene des Sinns. Im performativen Akt der Sprachpraktiken ereignet sich ein Sinnüberschuss als das Verstehen eines Ansprechens, das zum unbefangenen Erkenntnisakt bewegt und der propositionalen Aussage zuvorkommt. In ihm erschließt sich nicht eine Aussage oder ein Inhalt, sondern das Angesprochenwerden. Korrelat des Ansprechens ist kein propositionaler Gehalt – der Inhalt einer Überzeugung –, sondern das Sichöffnen für das Ansprechen. Sinn widerfährt in der performativen 28 Siehe ausführlich zum Sprachcharakter selbst und den Sprachpraktiken in Kunst, Kultur und Kommunikation: Wesche, Wahrheit und Werturteil, S. 325 – 354.
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Spracherfahrung als dieses Angesprochensein und steht insoweit für das ein, was Adorno – wenn auch auf Kunstwerke beschränkt – als Sprachähnlichkeit, Sprachcharakter oder Beredtheit beschreibt. Die Lebenswelt ist somit ein dreidimensionaler Raum der Gründe. In ihr werden Intentionen erschlossen, zur argumentativen Ja/ Nein-Stellungnahme aufgefordert und eine Zugänglichkeit für diese Forderung mit erzeugt, also dafür gesorgt, dass die Forderung ihren Adressaten auch erreicht und von ihm ernst genommen wird. Sinn nimmt weder die verbale Gestalt expliziter Nennung von Gründen an, noch liegt er jenseits des Raums der Gründe. Auch nichtverbale Werke wie Instrumentalmusik und nichtverbale Handlungen wie Tanz und Schweigemärsche verkörpern Sinn, sofern sie auf Seiten des Adressaten zu einer verbalen Stellungnahme bewegen, indem sie ihm etwas sagen, ihn ansprechen. Indem er auf der Sinnebene sozusagen eingeladen wird, in den Raum der Gründe einzutreten, bildet Sinn das tragende Fundament für den Raum der Gründe. Als vorprädikative Grundlage des rationalen Raums besitzt Sinn weder eine prädikative noch non-prädikative Gestalt. Der lebensweltliche Hintergrund kann fünftens nur kontingente Effekte erzielen. Er kann zwar zur Freiheit, Gründe wichtig nehmen zu wollen, grundsätzlich befähigen. Er kann diese aber nicht erzwingen. Ob sich jemand neuen Argumenten öffnet, sich auf Denkanstöße einlässt und fremde Sichtweisen übernimmt, liegt letzten Endes in seiner Hand. Dem Entschluss zur reflexiven und kritischen Beratschlagung wohnt ein Rest von Kontingenz inne, der sich durch keine erkenntnistheoretische Aufklärung weg argumentieren lässt. Es bleibt ein kontingenter Akt der Freiheit, sich auf öffentliche Deliberation einzulassen oder sich ihr zu entziehen.
Plato, Descartes, Hegel Three philosophers of event Slavoj Zˇizˇek I don’t much like hearing that we have gone beyond Hegel, the way one hears we have gone beyond Descartes. We go beyond everything and always end up in the same place.1
This apercu by Lacan can serve as our guiding principle: beware of all too easy attempts at “overcoming” metaphysics! There are three (and only three) key philosophers in the history of (Western) metaphysics: Plato, Descartes, Hegel. The proof of their privileged status is their extra-ordinary position in the series of philosophers: each of the three not only designates a clear break with the past, but also casts his long shadow on the thinkers who follow him – they can all be conceived as a series of negations/oppositions of/to his position. It was already Foucault who noted that the entire history of Western philosophy can be defined as the history of rejections of Platonism: in a homologous way, the entire modern philosophy can be conceived as the history of rejections of Cartesianism, from subtle corrections (Malebranche, Spinoza) to outright dismissals. With Hegel, things are, if anything, even more obvious: what united all that comes after Hegel is the opposition to the specter of Hegel’s “panlogicism.” The notion of Event seems especially incompatible with Plato for whom our constantly-changing reality is grounded in the eternal order of Ideas. Are, however, things as simple as that? Plato is the first in the series of philosophers who had bad luck in the 20th century, being blamed for all our misfortunes – Alain Badiou enumerated six main (partially intertwined) forms of the 20th-century anti-Platonism: 1 – the vitalist anti-Platonism (Nietzsche, Bergson, Deleuze): the assertion of the real of life-becoming against the intellectualist sterility of Platonic forms – as Nietzsche already put it, “Plato” is the name for a disease… 2 – the empiricist-analytic anti-Platonism: Plato believed in the independent existence of Ideas; but, as Aristotle already knew, Ideas do not exist independently of sensuous things whose forms they are. The main counter-Platonic thesis of analytic empiricists is that all truths are either analytic or empirical.
1
Lacan, Jacques: Seminar. Book II, New York, 1991, S. 71.
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3 – the Marxist anti-Platonism (for which Lenin is not without blame): the dismissal of Plato as the first Idealist, opposed to pre-Socratic materialists as well as to the more “progressive” and empirically oriented Aristotle. In this view (which conveniently forgets that, in contrast to Aristotle’s notion of the slave as a “talking tool”, there is no place for slaves in Plato’s Republic), Plato was the main ideologist of the class of slave owners … 4 – the existentialist anti-Platonism: Plato denies the uniqueness of singular existence and subordinates the singular to the universal. This anti-Platonism has a Christian version (Kierkegaard: Socrates versus Christ) and an atheist one (Sartre: “existence precedes essence”). 5 – the Heideggerian anti-Platonism: Plato as the founding figure of “Western metaphysics” the key moment in the historical process of the “forgetting of Being”, the starting point of the process which culminates in today’s technological nihilism (“from Plato to NATO …”). 6 – the “democratic” anti-Platonism of political philosophy, from Popper to Arendt: Plato as the originator of “closed society”, as the first thinker who elaborated in detail the project of totalitarianism. (For Arendt, at a more refined level, the original sin of Plato is to subordinate politics to Truth, not seeing that politics is a domain of phronesis, of judgments and decisions made in unique unpredictable situations.) “Plato” is thus the negative point of reference which unites otherwise irreconcilable enemies: Marxists and anti-Communist liberals, existentialists and analytic empiricists, Heideggerians and vitalists … And does exactly the same not hold for Descartes? Here are the main versions of anti-Cartesianism: 1 – the Heideggerian notion of the Cartesian subjectivity as the radical step in metaphysical nihilism which finds its fulfillment in modern technology. 2 – the ecological rejection of Cartesian dualism as opening up the way to ruthless exploitation of nature – here is Al Gore’s version: the Judeo-Christian tradition, in establishing mankind’s “dominion” over the earth, also charged mankind with environmental stewardship; Descartes remembered “dominion”, but breezed past the idea of stewardship, thereby yielding to the “great temptation of the West” and placing the idealized world of rational thought on a higher plane than nature.2 3 – the cognitivist rejection of Descartes’s privileging of rational mind over emotions (see Antonio Damasio’s “Descartes’s Error”), as well as his notion of the Self as a single autonomous agent which controls psychic life in a transparent way (see Daniel Dennett’s critique of the “Cartesian theatre”). 4 – the feminist claim that the Cartesian cogito, while appearing gender-neutral, effectively privileges male subject (only the masculine mind deals with clear and dis-
2 Quoted from: http://www.slate.com/articles/news_and_politics/chatterbox/2000/08/plato_ aristotle_and_the_2000_election.html.
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tinct thought, while the feminine mind is under the swell of confused sensual impressions and affects). 5 – the proponents of the “linguistic turn” deplore the “monological” character of the Cartesian subject to whom intersubjectivity comes afterwards, as a secondary feature; in this way, Descartes cannot see how human subjectivity is always embedded in an intersubjective linguistic context. 6 – vitalists point out that, in the Cartesian dualism of res cogitans and res extensa, there is no place for the life in its full sense, a life which cannot be reduced to the interaction of mechanic nuts and bolts; this is why Descartes claims that, since animals do not have souls, they don’t really suffer – their cries have the status of mechanic squeaks of a malfunctioning machine. This brings us to Hegel, the ultimate bête noire of the last two centuries of philosophy: 1 – proponents of the “philospophy of life (Lebensphilosophie)” claim that the life of the Hegelian dialectical process is not the actual organic life, but an artificial shadowy realm of arbitrary intellectual gymnastics: when Hegel says that a notion passes into its opposite, he should have said that a living thinking being passes from one to another thought. 2 – existentialists from Kierkegaard onwards deplore Hegel’s subordination of the individual, singular existence to the universality of a notion: in this way, concrete and unique individuals are reduced to mere dispensable paraphernalia of the movement of the abstract Notion. 3 – materialists predictably reject Hegel’s idea that external material nature is just a moment in the self-deployment of the Spirit: in an unexplained way, the Idea posits nature as its free self-externalization. 4 – historicists reject Hegel’s metaphysical teleology: instead of opening up to the plurality and contingency of the historical process, Hegel reduces actual history to the external face of the notional progress – for him, a single and all-encompassing Reason rules in history. 5 – analytic philosophers and empiricists make fun of Hegel as the hyperbole of the speculative madness, playing conceptual games which can in no way be experimentally tested: Hegel moves in a self-relating loop. 6 – Marxists advocate the (in)famous reversal of the Hegelian dialectical process from its head to its feet: ideas and notions are just the ideological superstructure of the material process of production which overdetermines entire social life. 7 – for traditional liberals, Hegel’s “divinization” of the State as the “material existence of God” makes him (together with Plato) one of the main forerunners of the “closed society” – there is a straight line from Hegelian totality to political totalitarianism.
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8 – for some religious moralists, the Hegelian dialectical “coincidence of the opposites” as well as his historicism lead to a nihilistic vision of society and history in which there are no transcendent and stable moral values and in which a murderer is perceived as equal to his victim. 9 – for (most of) the deconstructionists, the Hegelian “sublation (Aufhebung)” is the very model of how metaphysics, which acknowledging difference, dispersal, otherness, again subsumes it into the One of the self-mediating Idea – it is against Aufhebung that deconstructionists assert an irreducible excess or remainder which cannot ever be reintegrated into the One. 10 – for the Deleuzian thought of productive difference, Hegel cannot think difference outside the frame of negativity – however, negativity is the very operator of subsuming difference under the One; the Deleuzian formula is thus that Hegel should not even be criticized but outrightly forgotten. Each of the three philosophers stands not only for an Event – the shattering encounter of an Idea; the emergence of a purely evental cogito, a crack in the great chain of being; the Absolute itself as an evental self-deployment, as the result of its own activity. It also stands for a moment of negativity, cut – the normal flow of things is interrupted, another dimension breaks in. And it also stands for the moment of madness: the madness of being captivated by an Idea (like falling in love, like Socrates under the spell of his daimon), the madness at the heart of cogito (the “night of the world”), and, of course, the ultimate “madness” of the Hegelian System, this Bacchanalian dance of concepts. So one can say that philosophies which follow Plato, Descartes, or Hegel, are all attempts to contain/control this excess of madness, to renormalize it, to inscribe it into the normal flow of things. If we stick to the textbook version of Plato’s idealism as asserting the immutable eternal order of Ideas, he effectively cannot but appear to deny event as something that belongs to our unstable material reality and doesn’t concern Ideas – but there is another reading possible: to conceive “Ideas” as the event of the appearing of the suprasensible. Recall well-known descriptions of Socrates caught in a hysterical seizure when struck by an Idea, standing frozen for hours, oblivious to reality around him – is this not an evental encounter par excellence? In Phaedrus, Plato himself compares love to madness, to being possessed – and is this not how it is when we find ourselves passionately in love? Is love not a kind of permanent state of exception? All proper balances of our daily life are disturbed, everything we do is colored by the underlying thought of “that.” The situation is “beyond Good and Evil”: we feel a weird indifference towards our moral obligations with regard to our parents, children, friends – even if we continue to meet them, we do it in a mechanical way, in a condition of “as if”; everything pales with regard to our passionate attachment. In this sense, falling in love is like the striking that hit Saul/Paul on the road to Damascus: a kind of religious suspension of the Ethical, to use Kierkegaard’s terms. An Absolute intervenes which derails the balanced run of our daily affairs: it is not so much that the standard hierarchy of values is inversed – much more radically, another dimension
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enters the scene, a different level of being. Alain Badiou has deployed the parallel between today’s search for a sexual (or marital) partner through the appropriate dating agencies and the ancient procedure of arranged marriages: in both cases, the risk of “falling in love” is suspended, there is no contingent “fall” proper, the risk of the real called the “love encounter” is minimized by prior arrangements which take into account all the material and psychological interests of the concerned parties. Robert Epstein pushes this idea to its logical conclusion, providing its missing counterpart: once you choose your appropriate partner, how can you arrange things so that you will both effectively love each other? Based on the study of arranged marriages, Epstein developed “procedures of affection-building” – one can “build love deliberately and choose whom to do it with”… Such a procedure relies on self-commodification: through internet dating or marriage agencies, each prospective partner presents themselves as a commodity, listing his or her qualities and providing photos. If we marry today, it is more and more in order to re-normalize the violence of falling in love – in Basque, the term for falling in love is maitemindu which, literally translated, means “to be injured by love”. And, of course, the same holds for an authentic political engagement. In his “Conflict of Faculties” written in the mid 1790s, Immanuel Kant addresses a simple but difficult question: is there a true progress in history? (He meant ethical progress in freedom, not just material development.) Kant conceded that actual history is confused and allows for no clear proof: think how the 20th century brought unprecedented democracy and welfare, but also holocaust and gulag … But he nonetheless concluded that, although progress cannot be proven, we can discern signs which indicate that progress is possible. Kant interpreted the French Revolution as such a sign which pointed towards the possibility of freedom: the hitherto unthinkable happened, a whole people fearlessly asserted their freedom and equality. For Kant, even more important than the – often bloody – reality of what went on on the streets of Paris was the enthusiasm that the events in France gave rise to in the eyes of sympathetic observers all around Europe (but also in Haiti!): The recent Revolution of a people which is rich in spirit, may well either fail or succeed, accumulate misery and atrocity, it nevertheless arouses in the heart of all spectators (who are not themselves caught up in it) a taking of sides according to desires which borders on enthusiasm and which, since its very expression was not without danger, can only have been caused by a moral disposition within the human race.3
This dualism is the “materialist truth” of the dualism of Ideas and material things, and it is against this background that one should envisage the true dimension of Plato’s philosophical revolution, so radical that it was misinterpreted by Plato himself: the assertion of the gap between the spatio-temporal order of reality in its eternal movement of generation and corruption, and the “eternal” order of Ideas, i. e., the notion that empirical reality can “participate” in an eternal Idea, that an eternal 3 Kant, Immanuel: The Conflict of Faculties, in: Political Writings, Cambridge, 1991, S. 182.
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Idea can shine through it, appear in it. Where Plato got it wrong is in his ontologization of Ideas (strictly homologous to Descartes’s ontologization of cogito): as if Ideas form another, even more substantial and stable order of “true” reality. What Plato was not ready (or, rather, able) to accept was the thoroughly virtual, “immaterial” (or, rather, “insubstantial”) status of Ideas: like sense-events in Deleuze’s ontology, Ideas have no causality of their own, they are virtual entities generated by material spatio-temporal processes. Let us take an attractor in mathematics: all positive lines or points in its sphere of attraction only approach it in an endless fashion, never reaching its form – the existence of this form is purely virtual; it is nothing more than the shape towards which lines and points tend. However, precisely as such, the virtual is the Real of this field: the immovable focal point around which all elements circulate – one should give here to the term “form” its full Platonic weight, since we are dealing with an “eternal” Idea in which reality imperfectly “participates”. One should thus fully accept that spatio-temporal material reality is “all there is”, that there is no other “more true” reality: the ontological status of Ideas is that of pure appearing. The ontological problem of Ideas is the same as the fundamental problem of Hegel’s: how is meta-physics possible, how can temporal reality participate in the eternal Order, how can this order appear, transpire, in it. It is not “how can we reach true reality beyond appearances,” but “how can appearance emerge in reality.” The conclusion Plato avoids is implied in his exercise: the suprasensible Idea does not dwell beyond appearances, in a separate ontological sphere of fully constituted Being; it is appearance as appearance. So why a return to Plato? Why do we need a repetition of Plato’s founding gesture? In his “Logiques des mondes”, Badiou provides a succinct definition of “democratic materialism” and its opposite, “materialist dialectics”: the axiom which condenses the first one is “There is nothing but bodies and languages […],” to which materialist dialectics adds “[…] with the exception of truths.”4 One should bear in mind the Platonic, properly metaphysical, thrust of this distinction: prima facie, it cannot but appear as a proto-idealist gesture to assert that material reality is not all that there is, that there is also another level of incorporeal truths. Badiou performs here the paradoxical philosophical gesture of defending, as a materialist, the autonomy of the “immaterial” order of Truth. As a materialist, and in order to be thoroughly materialist, Badiou focuses on the idealist topos par excellence: how can a human animal forsake its animality and put its life in the service of a transcendent Truth? How can the “transubstantiation” from the pleasure-oriented life of an individual to the life of a subject dedicated to a Cause occur? In other words, how is a free act possible? How can one break (out of) the network of the causal connections of positive reality and conceive an act that begins by and in itself? Again, Badiou repeats within the materialist frame the elementary gesture of idealist anti-reductionism: human Reason cannot be reduced to the result of evolutionary adaptation; art is
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Badiou, Alain: Logiques des mondes, Paris, 2006, S. 9.
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not just a heightened procedure of providing sensual pleasures, but a medium of Truth; and so on. This, then, is our basic philosophico-political choice (decision) today: either repeat in a materialist vein Plato’s assertion of the metaphysical dimension of “eternal Ideas, or continue to dwell in the postmodern universe of “democratic-materialist” historicist relativism, caught in the vicious cycle of the eternal struggle with “premodern” fundamentalisms. How is this gesture possible, thinkable even? Let us begin with the surprising fact that Badiou does not identify as the “principal contradiction”, the predominant antagonism, of today’s ideological situation the struggle between idealism and materialism, but the struggle between two forms of materialism (democratic and dialectical). This same struggle assumes a new dimension with Descartes: cogito as his starting point may appear as the very model of asserting the primacy of thinking subjectivity; however, the first thing that should draw our attention is the echo that Descartes’s thought found from the very beginning among women – “cogito has no sex,” was the reaction of an early feminine reader. The one who first deployed this feminist potential of Cartesianism was Francois Poullain de la Barre, a follower of Descartes who, after becoming a priest, converted to Protestantism. When the Edict of Fontainebleau revoked the Edict of Nantes, he was exiled in Geneva, where he applied Cartesian principles to the question of women and denounced injustice against women and the inequality of the female condition, championing the social equality between women and men. In 1673, he published anonymously “Equality of the two sexes, speech physical and moral where it is seen the importance to demolish itself prejudge”, showing that the inequality and the treatment that women undergo does not have a natural base, but proceeds from cultural prejudice. He recommends that women receive a true education and also says all the careers should be open to them, including scientific ones.5 What one should always bear in mind when talking about cogito, about the reduction of a human point to the abyssal point of thinking without any external object, is that we are not dealing here with silly and extreme logical games (“imagine that you alone exist”…), but with the description of a very precise existential experience of the radical self-withdrawal, of suspending the existence of all reality around me to a vanishing illusion, which is well-known in psychoanalysis (as psychotic withdrawal) as well as in religious mysticism (under the name of so-called “Night of the World”). After Descartes, this idea was deployed in the basic insight of Schelling, according to which, prior to its assertion as the medium of the rational Word, the subject is the “infinite lack of being/unendliche Mangel an Sein”, the violent gesture of contraction that negates every being outside itself. This idea also forms the core of Hegel’s notion of madness: when Hegel determines madness to be a withdrawal from the actual world, the closing of the soul into itself, its “contraction”, the cutting-off of its 5 One should nonetheless add that a couple of years later, he refuted systematically his own argument and advocated the excellence of men.
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links with external reality, he all too quickly conceives of this withdrawal as a “regression” to the level of the “animal soul” still embedded in its natural environs and determined by the rhythm of nature (night and day, etc.). Does this withdrawal, on the contrary, not designate the severing of the links with the Umwelt, the end of the subject’s immersion into its immediate natural environs, and is it, as such, not the founding gesture of “humanization”? Was this withdrawal-into-self not accomplished by Descartes in his universal doubt and reduction to cogito, which also involves a passage through the moment of radical madness? Are we thus not back at the well-known and often-quoted passage from Jenaer Realphilosophie, where Hegel characterizes the experience of pure Self, of the contraction-into-self of the subject, as the “night of the world”, the eclipse of (constituted) reality? The human being is this night, this empty nothing, that contains everything in its simplicity – an unending wealth of many representations, images, of which none belongs to him – or which are not present. This night, the inner of nature, that exists here – pure self – in phantasmagorical representations, is night all around it, in which here shoots a bloody head – there another white ghastly apparition, suddenly here before it, and just so disappears. One catches sight of this night when one looks human beings in the eye – into a night that becomes awful.6
And the symbolic order, the universe of the Word, logos, can only emerge from the experience of this abyss. As Hegel puts it, this inwardness of the pure self must enter also into existence, become an object, oppose itself to this innerness to be external; return to being. This is language as name-giving power. […] Through the name the object as individual entity is born out of the I.7
What we must be careful not to miss here, is how Hegel’s break with the Enlightenment tradition can be discerned in the reversal of the very metaphor for the subject: the subject is no longer the Light of Reason opposed to the non-transparent, impenetrable Stuff (of Nature, Tradition…); his very kernel, the gesture which opens up the space for the Light of Logos, is absolute negativity, the “night of the world”, the point of utter madness in which fantasmatic apparitions of “partial objects” err around. Consequently, there is no subjectivity without this gesture of withdrawal; which is why Hegel is fully justified in inverting the standard question of how the fall-regression into madness is possible: the true question is rather how the subject is able to climb out of madness and to reach “normalcy”. That is to say, the withdrawalinto-self, the cutting-off of the links to the environs, is followed by the construction of a symbolic universe which the subject projects onto reality as a kind of substituteformation, destined to recompense us for the loss of the immediate, pre-symbolic 6 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Jenaer Realphilosophie, in: Frühe politische Systeme, hrsg. von Gerhard Göhler, Frankfurt am Main, 1974, S. 204; Übersetzung zitiert nach: Verene, Donald Phillip: Hegel’s Recollection, Albany, 1985, S. 7 f. – In Encyclopaedia also, Hegel mentions the “night-like abyss within which a world of infinitely numerous images and presentations is preserved without being in consciousness” (Encyclopaedia, § 453). Hegel’s historical source is here Jacob Böhme. 7 Hegel, Jenaer Realphilosophie, S. 204; Verene, Hegel’s Recollection, S.7 f.
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real. However, as Freud himself asserted in his analysis of Daniel Paul Schreber’s paranoia, the manufacturing of a substitute-formation that recompenses the subject for the loss of reality, is the most succinct definition of the paranoiac construction as an attempt to cure the subject of the disintegration of his universe. In short, the ontological necessity of “madness” resides in the fact that it is not possible to pass directly from the purely “animal soul”, immersed in its natural environs to “normal” subjectivity, dwelling in its symbolic virtual environs – the “vanishing mediator” between the two is the “mad” gesture of radical withdrawal from reality, which opens up the space for its symbolic (re)constitution. This brings us back to Schelling: following Kant, Schelling deployed the notion of the primordial decision-differentiation (Ent-Scheidung), the unconscious atemporal deed by means of which the subject chooses his eternal character which, afterwards, within his conscious-temporal life, he experiences as the inexorable necessity, as “the way he always was”: The deed, once accomplished, sinks immediately into the unfathomable depth, thereby acquiring its lasting character. It is the same with the will which, once posited at the beginning and led into the outside, immediately has to sink into the unconscious. This is the only way the beginning, the beginning that does not cease to be one, the truly eternal beginning, is possible. For here also it holds that the beginning should not know itself. Once done, the deed is eternally done. The decision that is in any way the true beginning should not appear before consciousness, it should not be recalled to mind, since this, precisely, would amount to its recall. He who, apropos of a decision, reserves for himself the right to drag it again to light, will never accomplish the beginning.8
With this abyssal act of freedom, the subject breaks up the rotary movement of drives, this abyss of the Unnamable – in short, this deed is the very founding gesture of naming. Therein resides Schelling’s unheard-of philosophical revolution: he does not simply oppose the dark domain of the rotary movement of pre-ontological drives, this unnamable Real which cannot ever be totally symbolized, to the domain of Logos, of articulated Word which cannot ever totally “force” it (like Badiou, Schelling insists on how there is always a remainder of the unnamable Real – the “indivisible remainder” – which eludes symbolization); at its most radical, the unnamable Unconscious is not external to Logos, it is not its obscure background, but, rather, the very act of Naming, the very founding gesture of Logos. The greatest contingency, the ultimate act of abyssal madness, is the very act of imposing a rational Necessity onto the pre-rational chaos of the Real. The true point of “madness” is thus not the pure excess of the Night of the World, but the madness of the passage to the Symbolic itself, of imposing a symbolic order onto the chaos of the Real. (Recall Freud who, in his analysis of the paranoiac judge Schreber, points out how the paranoiac “system” is not madness, but a desperate attempt to escape madness – the disintegra-
8 Schelling, Friedrich Wilhem Joseph von: Ages of the World. Ann Arbor, 1997, S. 181 f. For a more detailed reading of this notion, see Chapter 1 of Zˇizˇek, Slavoj: The Indivisible Remainder, London, 1997.
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tion of the symbolic universe – through an Ersatz-universe of meaning.9) If madness is constitutive, then every system of meaning is minimally paranoiac, “mad”. Recall Brecht’s slogan “What is the robbing of a bank compared to the founding of a new bank?” – therein resides the lesson of David Lynch’s Straight Story: what is the ridiculously-pathetic perversity of figures like Bobby Peru in Wild at Heart or Frank in Blue Velvet compared to deciding to traverse the US central plane in a tractor to visit a dying relative? Measured with this act, Frank’s and Bobby’s outbreaks of rage are the impotent theatrics of old and sedate conservatives… In the same way, we should say: what is the mere madness caused by the loss of reason compared to the madness of reason itself? This step is the properly “Hegelian” one – which is why Hegel, the philosopher who made the most radical attempt to think the abyss of madness at the core of subjectivity, is also the philosopher who brought to its “mad” climax the philosophical System as the totality of meaning. This is why, for very good reasons, “Hegel” stands in the eyes of the common sense for the moment at which philosophy gets mad, explodes into a crazy pretense at “absolute knowledge”. However, Hegel’s point is here a much more refined one: not that everything is madness, but that “normality”, the reign of reason, is a self-sublation of madness, in the same way that the rule of law is the self-sublation of crime. Recall G. K. Chesterton’s religious thriller “The Man Who Was Thursday”, in which a mysterious chief of a super-secret Scotland Yard department who is convinced that “a purely intellectual conspiracy would soon threaten the very existence of civilization”: He is certain that the scientific and artistic worlds are silently bound in a crusade against the Family and the State. He has, therefore, formed a special corps of policemen, policemen who are also philosophers. It is their business to watch the beginnings of this conspiracy, not merely in a criminal but in a controversial sense. […] The work of the philosophical policeman […] is at once bolder and more subtle than that of the ordinary detective. The ordinary detective goes to pot-houses to arrest thieves; we go to artistic tea-parties to detect pessimists. The ordinary detective discovers from a ledger or a diary that a crime has been committed. We discover from a book of sonnets that a crime will be committed. We have to trace the origin of those dreadful thoughts that drive men on at last to intellectual fanaticism and intellectual crime.10
Would not thinkers as different as Popper, Adorno and Levinas, also subscribe to a slightly changed version of this idea, where actual political crime is called “totalitarianism” and the philosophical crime is condensed in the notion of “totality”? A straight road leads from the philosophical notion of totality to political totalitarianism, and the task of “philosophical police” is to discover from a book of Plato’s dialogues or a treatise on social contract by Rousseau that a political crime will be committed. The ordinary political policeman goes to secret organizations to arrest revo9 Vgl. Freud, Sigmund: Psychoanalytic Notes Upon an Autobiographical Account of a Case of Paranoia, in: Three Case Histories, New York, 1996. 10 Chesterton, Gilbert Keith: The Man Who Was Thursday, Harmondsworth, 1986, S. 44 f.
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lutionaries; the philosophical policeman goes to philosophical symposia to detect proponents of totality. The ordinary anti-terrorist policeman tries to detect those preparing to blow up buildings and bridges; the philosophical policeman tries to detect those about to deconstruct the religious and moral foundation of our societies… This provocative analysis demonstrates the limitation of Chesterton, his not being Hegelian enough: what he doesn’t get is that universal(ized) crime is no longer a crime – it sublates (negates/overcomes) itself as crime and turns from transgression into a new order. He is right to claim that, compared to the “entirely lawless” philosopher, burglars, bigamists, murderers even, are essentially moral: a thief is a “conditionally good man”, he doesn’t deny property as such, he just wants more of it for himself and is then quite ready to respect it. However, the conclusion to be drawn from this is that crime as such is “essentially moral”, that it wants just a particular illegal reordering of the global moral order which should remain. And, in a truly Hegelian spirit, one should bring this proposition (of the “essential morality” of the crime) to its immanent reversal: not only is crime “essentially moral” (in Hegelese: an inherent moment of the deployment of the inner antagonisms and “contradictions” of the very notion of moral order, not something that disturbs moral order from outside, as an accidental intrusion); but morality itself is essentially criminal – again, not only in the sense that the universal moral order necessary “negates itself” in particular crimes, but, more radically, in the sense that the way morality (in the case of theft, property) asserts itself is already in itself a crime – “property is theft,” as they used to say in the 19th century. That is to say, one should pass from theft as a particular criminal violation of the universal form of property to this form itself as a criminal violation: what Chesterton fails to perceive is that the “universalized crime” that he projects into “lawless modern philosophy” and its political equivalent, the “anarchist” movement that aims at destroying the totality of civilized life, already exists in the guise of the existing rule of law, so that the antagonism between Law and crime reveals itself to be inherent to crime, the antagonism between universal and particular crime. It is in this sense that Chesterton asserted the truly subversive, revolutionary even, character of orthodoxy – in his famous “Defense of Detective Stories”, he remarked how the detective story “keeps in some sense before the mind the fact that civilization itself is the most sensational of departures and the most romantic of rebellions. […] The police romance is based on the fact that morality is the most dark and daring of conspiracies.”11 Therein resides the elementary matrix of the Hegelian dialectical process here: the external opposition (between law and its criminal transgression) is transformed into the opposition, internal to the transgression itself, between particular transgressions and the absolute transgression which appears as its opposite, as the universal law. This point was clearly made by none other than Richard Wagner who, in his draft of the play Jesus of Nazareth, written somewhere between late 1848 11 Chesterton, Gilbert Keith: A Defense of Detective Stories, in: The Art of the Mystery Story, hrsg. von Howard Haycraft, New York, 1946, S. 6.
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and early 1849, attributes to Jesus a series of alternate supplementations of the Commandments: The commandment saith: Thou shalt not commit adultery! But I say unto you: Ye shall not marry without love. A marriage without love is broken as soon as entered into, and who so hath wooed without love, already hath broken the wedding. If ye follow my commandment, how can ye ever break it, since it bids you to do what your own heart and soul desire? – But where ye marry without love, ye bind yourselves at variance with God’s love, and in your wedding ye sin against God; and this sin avengeth itself by your striving next against the law of man, in that ye break the marriage-vow.12
The true adultery is not to copulate outside marriage, but to copulate in marriage without love: the simple adultery just violates the law from outside, while marriage without love destroys it from within, turning the letter of the law against its spirit. So, to paraphrase Brecht yet again: what is a simple adultery compared to (the adultery that is a loveless) marriage! It is not by chance that Wagner’s underlying formula “marriage is adultery” recalls Proudhon’s “property is theft” – in the stormy 1848 events, Wagner was not only a Feuerbachian celebrating sexual love, but also a Proudhonian revolutionary demanding the abolition of private property; so no wonder that, later on on the same page, Wagner attributes to Jesus a Proudhonian supplement to “Thou shalt not steal!”: This also is a good law: Thou shalt not steal, nor covet another man’s goods. Who goeth against it, sinneth: but I preserve you from that sin, inasmuch as I teach you: Love thy neighbour as thyself; which also meaneth: Lay not up for thyself treasures, whereby thou stealest from thy neighbour and makest him to starve: for when thou hast thy goods safeguarded by the law of man, thou provokest thy neighbour to sin against the law.13
This is how the Christian “supplement” to the Book should be conceived: as a properly Hegelian “negation of negation”, which resides in the decisive shift from the distortion of a notion to a distortion constitutive of this notion, i. e., to this notion as a distortion-in-itself. Recall again Proudhon’s old dialectical motto “property is theft”: the “negation of negation” is here the shift from theft as a distortion (“negation”, violation) of property to the dimension of theft inscribed into the very notion of property (nobody has the right to fully own means of production, their nature is inherently collective, so every claim “this is mine” is illegitimate). As we have just seen, the same goes for crime and Law, for the passage from crime as the distortion (“negation”) of the law to crime as sustaining law itself, i. e., to the idea of the law itself as universalized crime. One should note that, in this notion of the “negation of negation”, the encompassing unity of the two opposed terms is the “lowest”, “transgressive”, one: it is not crime which is a moment of law’s self-mediation (or theft which is a moment of property’s self-mediation); the opposition of crime and law is inherent to crime, law is a subspecies of crime, crime’s self-relating negation (in the same way that property is theft’s self-relating negation). And does ultimately 12 13
Wagner, Richard: Jesus of Nazareth and Other Writings, Lincoln/London, 1995, S. 303. Ebd., S. 303 f.
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the same not go for nature itself? Here, “negation of negation” is the shift from the idea that we are violating some natural balanced order to the idea that imposing on the Real such a notion of balanced order is in itself the greatest violation… which is why the premise, the first axiom even, of every radical ecology is “there is no Nature”. Chesterton wrote: “Take away the supernatural and what you are left with is the unnatural.” We should endorse this statement, but in the opposite sense, not in the sense intended by Chesterton: we should accept that nature is “unnatural”, a freaky show of contingent disturbances with no inner rhyme. It is only against this background that we can grasp what Hegel intended with his notion of “absolute knowing” – the formula here is: take away the illusion and you lose the truth itself – a truth needs time to make a journey through illusions to form itself. One should put Hegel back into the series of Plato-Descartes-Hegel which corresponds to the triad of Objective-Subjective-Absolute: Plato’s Ideas are objective, Truth embodied, the Cartesian subject stands for the unconditional certainty of my subjective self-awareness… and Hegel, what does he add? If “subjective” is what is relative to our subjective limitation, and if “objective” is the way things really are, what does “absolute” add to it? Hegel’s answer: the “absolute” does add some deeper, more substantial, dimension – all it does is to include (subjective) illusion into (objective) truth itself. The “absolute” standpoint makes us see how reality includes fiction (or fantasy), how the right choice only emerges after the wrong one: absolute knowing is the point at which consciousness reflexively assumes the fact that the share of illusion or fantasy is constitutive of the progress of truth. The truth is not located outside fantasy, since fantasy is the key element of its deployment. This insight compels us to conceive of absolute knowing as the point of traversing the fantasy. […] absolute knowing is to be seen as the point at which fantasy acquires its place in philosophy. […] If fantasy first appeared as a negativum, i. e., as the point of failure of a specific philosophical wager, it is now conceived as a positive moment of the deployment of truth.14
Hegel thus enjoins us to turn around the entire history of philosophy, which constitutes a series of efforts to clearly differentiate doxa versus true knowledge: for Hegel, doxa is a constitutive part of knowledge, and this is what makes truth temporal and evental. This evental character of truth involves a logical paradox deployed by Jean-Pierre Dupuy in his admirable text on Hitchcock’s “Vertigo”: An object possesses a property x until the time t; after t, it is not only that the object no longer has the property x; it is that it is not true that it possessed x at any time. The truth-value of the proposition ‘the object O has the property x at the moment t’ therefore depends on the moment when this proposition is enunciated.15
14 Krecic, Jela: Philosophy, Fantasy, Film, Doctoral thesis (in Slovene), University of Ljubljana, 2008. 15 Dupuy, Jean-Pierre: Quand je mourrai, rien de notre amour n’aura jamais existe, unpublished manuscript of the intervention at the colloquium Vertigo et la philosophie, Ecole Normale Superieure, Paris, October 14 2005.
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One should note here the precise formulation: it is not that the truth-value of the proposition “the object O has the property x” depends on the time to which this proposition refers – even when this time is specified, the truth-value depends on the time when the proposition itself is enounced. Or, to quote the title of Dupuy’s text, “when I’ll die, nothing of our love will ever have existed.” Think about marriage and divorce: the most intelligent argument for the right to divorce (proposed, among others, by none other than the young Marx) does not refer to common vulgarities in the style of “like all things, love attachments are also not eternal, they change in the course of time”, etc.; it rather concedes that indissolvability is in the very notion of marriage. The conclusion is that divorce always has a retroactive scope: it does not only mean that marriage is now annulled, but something much more radical – a marriage should be annulled because it never was a true marriage. And the same holds for Soviet Communism: it is clearly insufficient to say that, in the years of Brezhnev “stagnation”, it “exhausted its potentials, no longer fitting new times”; what its miserable end demonstrates is that it was a historical deadlock from its very beginning. This paradox provides a clue for the twists and turns of the Hegelian dialectical process. Let us take Hegel’s critique of the Jacobin revolutionary Terror as an exercise in abstract negativity of the absolute freedom, which cannot stabilize itself in a concrete social order of freedom, and thus has to end in the fury of self-destruction. However, one should bear in mind that, insofar as we are dealing here with a historical choice (between the “French” way of remaining within Catholicism and thus being obliged to engage in the self-destructive revolutionary Terror, and the “German” way of Reformation), this choice involves exactly the same elementary dialectical paradox as the one, also from “The Phenomenology of Spirit”, between the two readings of “the Spirit is a bone” which Hegel illustrates by the phallic metaphor (phallus as the organ of insemination or phallus as the organ of urination): Hegel’s point is not that, in contrast to the vulgar empiricist mind which sees only urination, the proper speculative attitude has to choose insemination. The paradox is that the direct choice of insemination is the infallible way to miss it: it is not possible to choose directly the “true meaning”, i. e. one has to begin by making the “wrong” choice (of urination) – the true speculative meaning emerges only through the repeated reading, as the aftereffect (or by-product) of the first, “wrong”, reading. And the same goes for social life in which the direct choice of the “concrete universality” of a particular ethical lifeworld can only end in a regression to pre-modern organic society that denies the infinite right of subjectivity as the fundamental feature of modernity. Since the subjectcitizen of a modern state can no longer accept his immersion in some particular social role that confers on him a determinate place within the organic social Whole, the only way to the rational totality of the modern State leads through revolutionary Terror: one should ruthlessly tear up the constraints of the pre-modern organic “concrete universality” and fully assert the infinite right of subjectivity in its abstract negativity. In other words, the point of Hegel’s analysis of the revolutionary Terror is not the rather obvious insight into how the revolutionary project involved the unilateral direct assertion of abstract Universal Reason, and was as such doomed to perish in self-de-
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structive fury, since it was unable to organize the transposition of its revolutionary energy into a concrete stable and differentiated social order; Hegel’s point is rather the enigma of why, in spite of the fact that revolutionary Terror was a historical deadlock, we have to pass through it in order to arrive at the modern rational State. This is why Hegelian dialectics is not a vulgar evolutionism claiming that a phenomenon was justified in its own time, but deserves to disappear when its time passes: the “eternity” of dialectics means that the delegitimization is always retroactive, what disappears “in itself” always deserved to disappear. Recall also the paradox of the process of apologizing: if I hurt someone with a rude remark, the proper thing for me to do is to offer him a sincere apology, and the proper thing for him to do is to say something like “Thanks, I appreciate it, but I wasn’t offended, I knew you didn’t mean it, so you really owe me no apology!” The point is, of course, that, although the final result is that no apology is needed, one has to go through the entire process of offering it: “you owe me no apology” can only be said after I do offer an apology, so that, although, formally, “nothing happens”, the offer of apology is proclaimed unnecessary, there is a gain at the end of the process (perhaps, even, the friendship is saved). This paradox is sustained by the distinction between the “constative” and the “performative” dimensions, between “subject of the enunciated” and “subject of the enunciation”: at the level of the enunciated content, the whole operation is meaningless (why do it – offer an apology, go through terror – when it is superfluous?); however, what this common sense insight forgets is that it is only the “wrong” superfluous gesture which creates the subjective conditions which made it possible for the subject to really see why this gesture is superfluous. It only becomes possible to say that my apology is not necessary after I offer it; it only becomes possible to see how Terror is superfluous and destructive after one goes through it. The dialectical process is thus more refined than it may appear; the standard notion is that, in it, one can only arrive at the final truth through the path of errors, so that these errors are not simply discarded, but “sublated” in the final truth, preserved in it as its moments. What this standard notion misses is how the errors are “sublated” (negated-preserved-elevated) precisely as superfluous. How is this circle of changing the past possible without recourse to travel back in time? The solution was already proposed by Henri Bergson: of course one cannot change the past reality/actuality, but what one can change is the virtual dimension of the past – when something radically new emerges, this new retroactively creates its own possibility, its own causes/conditions.16 A potentiality can be inserted into (or withdrawn from) past reality. Falling in love changes the past: it is as if I always-already loved you, our love was destined, “answer of the real”. My present love causes the past which gave birth to it – and in “Vertigo”, it is the opposite that occurs: the past is changed so that it loses objet a. What Scottie first experiences in Vertigo is the loss of Madeleine, his fatal love; when he recreates Madeleine in Judy and then discovers 16 For a more detailed elaboration of this line of thought of Bergson, see Chapter 9 of Zˇizˇek, Slavoj: In Defense of Lost Causes, London, 2007.
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that the Madeleine he knew already was Judy pretending to be Madeleine, what he discovers is not simply that Judy is a fake (he knew that she is not the true Madeleine, since he recreated a copy of Madeleine out of her), but that, because she is not a fake – she is Madeleine –, Madeleine herself was already a fake – objet a disintegrates, the very loss is lost, we get a “negation of negation”. Scottie’s discovery changes the past, deprives the lost object of objet a. The same temporal paradox characterizes all events proper, inclusive of the political ones – Rosa Luxembourg was wellaware of it when, in her polemic against Edouard Bernstein, she provides two arguments against the revisionist fear that proletariat will take power prematurely, before the circumstances are ripe: In the first place, it is impossible to imagine that a transformation as formidable as the passage from capitalist society to socialist society can be realized in one happy act. […] The socialist transformation supposes a long and stubborn struggle, in the course of which, it is quite probable the proletariat will be repulsed more than once so that for the first time, from the viewpoint of the final outcome of the struggle, it will have necessarily come to power ,too early’. In the second place, it will be impossible to avoid the ,premature‘ conquest of State power by the proletariat precisely because these ,premature‘ attacks of the proletariat constitute a factor and indeed a very important factor, creating the political conditions of the final victory. In the course of the political crisis accompanying its seizure of power, in the course of the long and stubborn struggles, the proletariat will acquire the degree of political maturity permitting it to obtain in time a definitive victory of the revolution. Thus these ,premature‘ attacks of the proletariat against the State power are in themselves important historic factors helping to provoke and determine the point of the definite victory. Considered from this viewpoint, the idea of a ,premature‘ conquest of political power by the labouring class appears to be a polemic absurdity derived from a mechanical conception of the development of society, and positing for the victory of the class struggle a point fixed outside and independent of the class struggle. Since the proletariat is not in the position to seize power in any other way than ,prematurely,‘ since the proletariat is absolutely obliged to seize power once or several times ,too early‘ before it can maintain itself in power for good, the objection to the ,premature‘ conquest of power is at bottom nothing more than a general opposition to the aspiration of the proletariat to possess itself of State power.17
There is no meta-language: no outside-position from which the agent can calculate how many „premature“ attempts are needed to get at the right moment – why? Because this is a case of truth which arises out of misrecognition (la verite surgit de la meprise, as Lacan put it) where the “premature” attempts transform the very space/ measure of temporality: the subject “jumps ahead” and takes a risk in making a move before its conditions are fully met.18 The subject’s engagement in the symbolic order 17 Luxemburg, Rosa: Reform or Revolution, Chapter VIII. Quoted from: (http:// www.marxists.org/archive/luxemburg/1900/reform-revolution/ch08.htm). 18 This is what, perhaps, makes problematic the practice of short session introduced by Lacan. The idea is clear: Lacan noticed that, in the standard 50 minutes session, the patient is just going on with his/her bla-bla, and that it is only in the last minutes, when the shadow of the
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coils the linear flow of time in both directions: it involves precipitation as well as retroactivity (things retroactively become what they are, the identity of a thing only emerges when the thing is in delay with regard to itself) – in short, every act is by definition too early and, simultaneously, too late. One has to know to wait, not to lose one’s nerves: if one acts too fast, the act turns into a passage a l’acte, a violent forward-escape to avoid the deadlock. If one misses the moment and acts too late, the act loses its quality of the act, of a radical intervention as a consequence of which “nothing remains the way it was”, and becomes just a local change within the order of being, part of the normal flow of things. The problem is, of course, that an act always occurs simultaneously too fast (the conditions are never fully ripe, one has to succumb to the urgency to intervene, there is never enough time to wait, enough time for strategic calculations, the act has to anticipate its certainty and risk the wager that it will retroactively establish its own conditions) and too late (the very urgency of the act signals that we come too late, that we always should have already acted; every act is a reaction to circumstances which arose because we were too late to act). In short, there is no right moment to act – if we wait for the right moment, the act is reduced to an occurrence in the order of being. It is because of this temporal complication that, in Hegel, everything becomes evental: a thing is the result of the process (event) of its own becoming, and this processuality de-substantializes it. Spirit itself is thus radically de-substantialized: it is not a positive counter-force to nature, a different substance which gradually breaks and shines through the inert natural stuff, it is nothing but this process of freeing-itselffrom. Hegel directly disowns the notion of Spirit as some kind of positive Agent which underlies the process: Spirit is usually spoken of as subject, as doing something, and apart from what it does, as this motion, this process, as still something particular, its activity being more or less contingent […] it is of the very nature of spirit to be this absolute liveliness, this process, to proceed forth from naturality, immediacy, to sublate, to quit its naturality, and to come to itself, and to free itself, it being itself only as it comes to itself as such a product of itself; its actuality being merely that it has made itself into what it is.19
The materialist reversal of Hegel in Ludwig Feuerbach and young Marx rejects this self-referential circularity, dismissing it as a case of idealist mystification, and returns to the Aristotelian ontology of substantial entities endowed with essential qualities: for Marx, man is a Gattungswesen (being-of-genus) which asserts its life by way of realizing its “essential forces”. Robert Pippin exemplifies in what end, of being cut off by the analyst, is close that s/he gets into a panic and produces some valuable material; so the idea came to him: why not simply skip the long period of lost time and limit the session to the (last) when, under time pressure, something really happens? The problem here is: can we really get only the productive final part without the preceding 45 minutes of lost time during which nonetheless functions as the time of gestation of the content exploding in last 5 minutes? 19 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des subjektiven Geistes, Dordrecht, 1978, S. 6 f.
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sense the Hegelian Spirit is “its own result” by the finale of Proust’s Recherche: how does Marcel finally “become what he is”? By way of breaking with the Platonic illusion that his Self can be “secured by anything, any value or reality that transcends the wholly temporal human world”: It was […] by failing to become ‘what a writer is’, to realize his inner ‘writer’s essence’ – as if that role must be some transcendentally important or even a definite, substantial role – that Marcel realizes that such a becoming is important by not being secured by the transcendent, by being wholly temporal and finite, always and everywhere in suspense, and yet nonetheless capable of some illumination. […] If Marcel has become who he is, and this somehow continuous with and a product of the experience of his own past, it is unlikely that we will be able to understand that by appeal to a substantial or underlying self, now discovered, or even by appeal to successor substantial selves, each one linked to the future and past by some sort of self-regard.20
It is thus only by way of fully accepting this abyssal circularity in which the search itself creates what it is looking for, that the Spirit “finds itself”. This is why the verb “failing” used by Pippin is to be given all its weight: the failure to achieve the (immediate) goal is absolutely crucial to, constitutive of, this process – or, again, as Lacan put it: la verite surgit de la meprise. If, then, “it is only as a result of itself that it is spirit”,21 this means that the standard talk about the Hegelian Spirit which alienates itself to itself and then recognizes itself in its otherness and thus reappropriates its content, is deeply misleading: the Self to which spirit returns is produced in the very movement of this return, or, that to which the process of return is returning to is produced by the very process of returning.
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Pippin, Robert: The Persistence of Subjectivity, Cambridge, 2005, S. 332 ff. Hegel, Philosophie des subjektiven Geistes, S. 6 f.
Warum Hegelianer (nicht) lügen können Georg Sans Ich untersuche im Folgenden die Bedingungen, unter denen es möglich ist zu lügen. Dabei geht es mir weniger um die praktische oder normative als um die theoretische Seite des Problems. Ich beschäftige mich also weder mit der moralischen Verwerflichkeit des Lügens, noch interessiere ich mich beispielsweise für die Frage, ob eine besondere Kunst der Verstellung erforderlich ist, um falsche Aussagen glaubhaft vorzubringen. Stattdessen gilt mein Augenmerk der auf den ersten Blick vielleicht nebensächlich erscheinenden Frage, auf welche Art von Wahrheitsauffassung jemand festgelegt ist, der den Ausdruck ,lügen‘ sinnvoll gebrauchen will. Denn nur wenn feststeht, dass „lügen“ ein sinnvoller Begriff ist und wir somit überhaupt lügen können, kann Lügen als etwas sittlich Verwerfliches angesehen werden. Wäre hingegen der Begriff der Wahrheit zum Beispiel so schwach, dass zwischen einer Behauptung und ihrem Gegenteil kein echter Unterschied besteht, verlöre auch das Gebot, die Wahrheit zu sagen, seinen Sinn. Die Bezugnahme gerade auf Hegel erklärt sich erstens aus dem Umstand, dass er wie kein anderer Philosoph über den Zusammenhang zwischen der Unwahrheit und einer falschen Auffassung von Moralität nachgedacht hat. Im Vernunft-Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ wendet sich Hegel gegen eine rein formalistische Deutung des Lügenverbots, indem er die Instabilität des dabei vorausgesetzten Wahrheitsbegriffs aufzeigt. Im Moralitäts-Kapitel der „Rechtsphilosophie“ greift er den Gedanken der unbedingten Autonomie des Gewissens an, weil er der Heuchelei Vorschub leiste. Hegels Erörterung des Lügenverbots einerseits und der Heuchelei andererseits sind nicht nur maßgeblich für sein eigenes Verständnis von Sittlichkeit, sondern schärfen auch die Aufmerksamkeit für die ihnen zugrunde liegende Theorie der Wahrheit. Der zweite Anlass, mich mit Hegel zu befassen, ist seine in der „Wissenschaft der Logik“ vorgetragene Unterscheidung zwischen Wahrheit und Richtigkeit. Während Aussagen über einzelne Gegebenheiten nie mehr beanspruchen können als Richtigkeit, bedeutet Wahrheit für Hegel die Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit im Allgemeinen. Meine These lautet nun, dass nur ein holistisches Verständnis von Wahrheit hinreichend komplex ist, um die Möglichkeit des Lügens zu erklären. Des Näheren möchte ich zeigen, dass die Möglichkeit zu lügen, das heißt wissentlich etwas Falsches zu behaupten, die Annahme wenigstens einiger Sachverhalte voraussetzt, hinsichtlich derer wir nicht sinnvollerweise unterstellen können, dass jemand
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lügt. Pointiert gesagt: Hegelianer können deshalb lügen, weil sie einräumen, dass es Wahrheiten gibt, hinsichtlich derer sie nicht lügen können. I. Was heißt lügen können? Unter Lüge verstehe ich eine Behauptung, die, gemessen am Kenntnisstand und an den epistemischen Standards dessen, der sie aufstellt, falsch ist. Würde ich beispielsweise ernsthaft behaupten: „Ich habe noch nie einen Vortrag über Hegel gehalten“, so wäre diese Aussage, gemessen an meinem Kenntnisstand und meinen eigenen epistemischen Standards, zweifellos falsch. Lügen zu können bedeutet demnach, dass es wenigstens einige Sätze gibt, die zu behaupten, gemessen am Überzeugungssystem des Sprechers, falsch wäre. Der Satz: „Ich habe noch nie einen Vortrag über Hegel gehalten“, ist ein solcher Satz. Ein anderes Beispiel ist der Satz: „An meinem rechten Handgelenk befindet sich eine Uhr“. Von beiden Sätzen lässt sich im Fall der meisten Sprecher leicht entscheiden, ob sie zutreffen oder nicht. Wenn der Satz falsch ist, der Sprecher darum weiß und dennoch ernsthaft das Gegenteil behauptet, lügt er oder sie.1 Zunächst scheint es einleuchtend anzunehmen, dass die Menge möglicher Lügen beliebig groß ist. Jedweder für wahr gehaltene Satz kann durch seine Verneinung oder durch die Behauptung des Gegenteils in eine Lüge verkehrt werden. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass draußen gerade die Sonne scheint, brauche ich bloß die Behauptung aufzustellen, dass es regnet oder der Himmel von Wolken verhangen ist, und schon habe ich zwei mögliche Lügen. Angesichts dessen sollte eigentlich kein Grund bestehen, die Annahme, wir könnten nicht lügen, ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es spricht nichts für die Ansicht, dass wir nicht lügen können, das heißt dass es keine Sätze gibt, die zu behaupten, gemessen an den Überzeugungen des Sprechers, falsch wäre. Ganz anders verhält es sich mit der Frage, ob nicht zumindest einige Sätze von der Art sind, dass sie an den Standards des Sprechers gemessen nicht nur falsch sind, sondern dass der Sprecher sie nicht einmal ernsthaft behaupten kann. Man denke etwa an Aussagen wie „Ich existiere nicht“ oder „Ich bin nicht hier“. In bestimmten Situationen mögen diese Sätze einen metaphorischen Sinn besitzen oder ironisch gemeint sein. Wer sich von anderen übergangen fühlt, sagt vielleicht in gereiztem Tonfall: „Ich existiere nicht!“, oder wer sich am Telefon von jemandem verleugnen lässt, ruft ihm leise zu: „Ich bin nicht hier!“. Sieht man von derartigen Sonderfällen ab, ist kein Überzeugungssystem vorstellbar, an dem gemessen jemand ernsthaft von 1 Einen interessanten Sonderfall bilden die sogenannten knowledge lies, bei denen der Hörer weiß, dass der Sprecher die Wahrheit kennt, aber dieser offensichtlich unsinnige Behauptungen aufstellt, um sein Wissen zu verbergen. Man denke zum Beispiel an eine Gruppe rebellierender Sklaven, von denen jeder einzelne erklärt: „Ich bin Spartacus“, um auf diese Weise ihren Anführer zu schützen. Da keiner der Sklaven den Feldherrn Crassus tatsächlich glauben machen will, er selbst sei Spartacus, handelt es sich um Lügen im uneigentlichen Sinn (vgl. Sorensen, Roy: Knowledge-lies, in: Analysis, 70, 2010, S. 608-615).
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sich selbst behaupten könnte, er existiere nicht oder er sei nicht hier. Demzufolge wären „Ich existiere“ und „Ich bin hier“ Kandidaten für Sätze, die sich nicht zum Lügen eignen. Meine Titelfrage „Warum Hegelianer (nicht) lügen können“ zielt nicht auf die starke These, dass es für Anhänger der Philosophie Hegels ganz und gar ausgeschlossen ist, Behauptungen aufzustellen, die an ihren eigenen Standards gemessen falsch sind, sondern auf die schwächere, aber meines Erachtens ungleich interessantere These, dass es unter hegelschen Voraussetzungen wenigstens einige Behauptungen gibt, bei denen es sich unmöglich um bewusste Falschaussagen handeln kann. Das Adverb ,nicht‘ steht in Klammern, um anzuzeigen, dass es einige Sätze gibt, mit denen Hegelianer, indem sie sie aussprechen, lügen können, während andere Sätze so beschaffen sind, dass Hegelianer mit ihnen nicht lügen können. Bisher haben wir eine Art von Beispielen kennengelernt, auf die das Letztere zutrifft. Es handelte sich um Sätze, in denen der Sprecher seine eigene Existenz oder Anwesenheit behauptet. Solche Aussagen sind immer wahr, denn es sind keine Situationen vorstellbar, in denen jemand eine Äußerung tut, der selbst nicht existiert oder nicht da ist. Man könnte fragen, ob nicht bezüglich unmittelbar gewisser Wahrnehmungen etwas Ähnliches gilt. Laut George Edward Moore beispielsweise ist für jemanden, der gerade seine rechte Hand wahrnimmt, der Satz „Dies ist eine menschliche Hand“ unzweifelhaft gewiss.2 Trifft Moores Annahme zu und ist die Möglichkeit des Irrtums ausgeschlossen, eignen sich Wahrnehmungssätze dieser Art nicht zum Lügen. Wenn jemand den rechten Arm hebt, auf seine Hand blickt und ausruft: „Dies ist ein menschlicher Fuß“, wird niemand auf den Gedanken verfallen, es handle sich um eine Lüge. Stattdessen dürfte eine Sinnestäuschung, ein sprachliches Missverständnis oder ein Scherz vorliegen. Dennoch wäre es falsch zu glauben, dass immer dann, wenn sich ein Sprecher hinsichtlich seiner Wahrnehmungen nicht irren kann, auch die Möglichkeit des Lügens entfällt. Das gilt sowohl für Sätze, die körperliche Zustände, als auch erst recht für solche, die innere Erlebnisse beschreiben. Zweifel an Behauptungen wie „Ich habe Kopfschmerzen“ sind allen Eltern und Erziehern nur allzu vertraut. Es besteht daher ein gewichtiger Unterschied zwischen ,sich selbst nicht täuschen (das heißt irren) können‘ und ,andere nicht täuschen (das heißt lügen) können‘. Es mag sein, dass ich mich hinsichtlich der Wahrnehmung der Hand vor meinen Augen unmöglich irren kann; aber daraus folgt nicht, dass jemand nicht ernsthaft und ohne metaphorischen Hintersinn behaupten könnte, er sehe die Hand vor dem Gesicht nicht. Deshalb wird man von Fall zu Fall entscheiden müssen, ob Wahrnehmungssätze den nötigen Spielraum lassen, dass jemand lügen kann. Eine andere Art von Aussage, die gegen den Versuch zu lügen immun erscheint, lautet: „Dies ist ein wahrer Satz“. Die Behauptung, die man den Satz des Wahrsagers 2 Vgl. Moore, George Edward: A Defence of Common Sense, in: Philosophical Papers, London, 1959, S. 32-59, sowie dazu Coliva, Annalisa: Moore e Wittgenstein. Scetticismo, certezza e senso comune, Padova, 2003.
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nennen könnte, bildet gleichsam die Umkehrung der Paradoxie des Lügners.3 Sobald eine Sprecherin das Gegenteil behauptet, nämlich: „Dieser Satz ist nicht wahr“, verstrickt sie sich in die bekannte Antinomie: Ist die Behauptung unwahr, dann ist ihre Aussage wahr, der Satz also richtig; ist der Satz aber richtig, dann ist die Aussage unwahr, der Satz also falsch. Wenn der Satz des Wahrsagers nichts anderes als wahr sein kann, dann ist die Aussage „Dieser Satz ist nicht wahr“ zum Lügen ungeeignet, denn niemand kann ernsthaft von ihrer Wahrheit überzeugt sein.4 Aufgrund des bisher Gesagten lässt sich der Begriff des Lügenkönnens genauer fassen. Entgegen dem ersten Anschein genügt es meines Erachtens nicht zu sagen, der Lügner behaupte etwas, von dessen Gegenteil er überzeugt ist. Wie die gerade beschriebenen Fälle deutlich machen, handelt es sich bei einer unwahren Aussage in der Regel nur dann um eine Lüge, wenn theoretisch denkbar ist, die Behauptung sei ernst gemeint. Das ist normalerweise bei Sätzen wie „Ich existiere nicht“, „Ich bin nicht hier“ oder „Dieser Satz ist falsch“ nicht der Fall. Vielmehr setzen die genannten Beispiele jeweils etwas Unmögliches voraus: Es ist weder möglich, dass ich, während ich etwas behaupte, nicht existiere oder nicht hier bin, noch ist es möglich, dass dieser Satz nicht wahr ist. Ferner widerspricht es dem Common Sense anzunehmen, dass jemand auf seine eigene Hand blickt und dabei einen menschlichen Fuß zu sehen glaubt. In keinem der Fälle hat die Unmöglichkeit der Lüge etwas mit der Täuschungsabsicht des Sprechers zu tun, sondern ergibt sich aus den epistemischen Standards, an denen seine Behauptungen gemessen werden. Damit jemand tatsächlich lügen kann, muss er eine gemäß seinen eigenen Standards theoretisch zumindest mögliche Behauptung aufstellen.5 Diese Einschränkung ist von äußerster Wichtigkeit, um sowohl Hegels Kritik des kantischen Lügenverbots als auch seine Abhandlung über die Heuchelei richtig zu verstehen. In den beiden Texten geht es unter anderem um die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Verhalten als Lüge oder Heuchelei angesehen werden kann. Dabei spielt, wie sich zeigen wird, 3 Mike Stange leitet den „Satz des Wahrsagers“ aus dem Umstand ab, dass selbst die These des allgemeinen Wahrheitsnihilismus die Annahme ihrer eigenen Richtigkeit impliziert.Vgl. Stange, Mike: Antinomie und Freiheit. Zum Projekt einer Begründung der Logik im Anschluss an Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, Paderborn, 2010, S. 139-146. 4 Dabei ist ohne Belang, ob der Wahrsager bzw. die Lügnerin eine zweiwertige oder eine dreiwertige Logik vertritt. 5 Dabei wäre noch genauer zwischen der Perspektive des Lügners und der des Belogenen zu unterscheiden. Man stelle sich beispielsweise den Teilnehmer an einem Intelligenztest vor, der die Aufgabe erhält, von mehreren vorgegebenen Lösungen die einzig logisch mögliche anzukreuzen. Da er mit der Aufgabe nicht zurechtkommt, bittet er seinen Tischnachbarn um Hilfe. Dieser tippt mit dem Finger auf eine Lösung, von der er weiß, dass sie falsch ist. Offenbar lügt der Nachbar, obwohl er etwas gemäß seinen eigenen Standards Unmögliches behauptet. Die Täuschung gelingt, weil der Lügner weiß, dass aus der Sicht des Belogenen alle Antworten gleich möglich sind. (Auf diesen Fall hat mich Anton Friedrich Koch hingewiesen.)
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die dem Lügner oder Heuchler zugeschriebene Wahrheitsauffassung eine entscheidende Rolle. Nur wer sich auf die Annahme einiger allgemeiner Wahrheiten festlegen lässt, kann überhaupt lügen. Bei der Reflexion auf die theoretischen Bedingungen des Lügenkönnens ergibt sich nicht nur eine holistische Sicht des Wahren als eines Ganzen, sondern es tritt auch die unhintergehbare soziale Dimension der Wahrheit klar hervor. II. Hegels Vernunftkritik Im dritten Teil des Vernunft-Kapitels der „Phänomenologie des Geistes“ erörtert Hegel die maßgeblich von Kant und Fichte vorgeschlagene Ableitung der Moral aus Prinzipien des reinen Denkens. Danach sind alle diejenigen moralischen Gesetze gerechtfertigt, die sich als allgemeine Regeln der Vernunft ausweisen lassen. Gleichzeitig wird jedem Individuum die Fähigkeit zugeschrieben, in seinem sittlichen Bewusstsein die Übereinstimmung bestimmter Handlungen mit den Grundsätzen der Moral zu beurteilen. Hegels Absicht besteht darin zu zeigen, dass sich eine derartige Vernunftmoral nicht konsistent darstellen lässt, sondern dass sie letztlich zu Widersprüchen führt. Um die Widersprüche aufzulösen, bedarf es einer veränderten Sicht der Moralität bzw. des Übergangs zu dem, was Hegel selbst Sittlichkeit nennt. In dem Abschnitt der „Phänomenologie“ über die gesetzgebende Vernunft untersucht er zwei Beispiele solcher angeblich unmittelbar gewisser Pflichten, nämlich das Gebot der Wahrheit und das Gebot der Nächstenliebe. Hegels Kritik wird häufig so verstanden, dass die Vernunftmoral in einen leeren Formalismus münde. Da das einzige Kriterium der Pflicht die Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst sei, blieben ihre Gebote ohne Inhalt. Es könne ihnen „nur die formale Allgemeinheit oder dies, dass es sich nicht widerspreche, zukommen“.6 Statt selbst Gesetze zu geben, prüfe die vermeintlich autonome Vernunft die sittlichen Normen allenfalls auf ihre Widerspruchsfreiheit. Ohne diese Deutung grundsätzlich in Frage zu stellen, scheint sie mir ihrerseits zu abstrakt und zu formal, um dem Argument gerecht zu werden, mit dem Hegel das unbedingte Gebot, die Wahrheit zu sagen, als widersinnig hinstellt. Seine Überlegung wird meines Erachtens erst verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des theoretischen Problems des Erwerbs von Wissen durch das Zeugnis anderer betrachtet. Sprachliche Äußerungen verfolgen im Allgemeinen den Zweck, anderen gewisse Überzeugungen mitzuteilen. Dabei mag zunächst offen bleiben, ob die Aussagen irgendwelche objektiv bestehenden Sachverhalte oder die geistigen Zustände des Sprechers betreffen. Gäbe es nichts, was der Sprecher dem Hörer mitteilen und wovon er ihn überzeugen wollte, bräuchte er nichts zu sagen. Umgekehrt bräuchte niemand einem anderen zuzuhören, wenn die Aussagen des Sprechers ohnehin nichts mit dessen Überzeugungen zu tun hätten.
6 Hegel, Georg Friedrich: Gesammelte Werke, Bd. 9, Hamburg, 1968, S. 231. Diese Ausgabe ist im Folgenden unter der Angabe von Band- und Seitenzahl mit der Sigle „GW“ zitiert.
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In diesem sehr weiten Sinn zielt sprachliche Kommunikation auf den Erwerb von Wissen durch das Zeugnis anderer, sei es Wissen über die objektive Außenwelt, sei es Wissen über die subjektive Innenwelt. Verglichen mit dem Regelfall der Kommunikation bildet die Lüge den Sonderfall, in dem der Sprecher den Hörer von etwas überzeugen will, das gerade nicht seiner eigenen Ansicht entspricht. Wenn ich mich von jemandem am Telefon verleugnen lasse, während ich gerade neben ihm stehe, wird er dem Anrufer entgegen besseren Wissens mitteilen, ich sei abwesend. Die Täuschungsabsicht des Lügners besteht darin, den Hörer glauben zu machen, der Sprecher sei von dem überzeugt, was er sagt, obwohl in Wirklichkeit das Gegenteil zutrifft. Hegels Diskussion des Lügenverbots geht von der Annahme aus, dass es jedermanns Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen. Seine Zurückweisung des formalen Vernunftgebots beruht auf der Unterscheidung zwischen der Mitteilung dessen, was wahr ist, und der Mitteilung dessen, wovon ich wahrhaft überzeugt bin. Tatsächlich ist beides nicht dasselbe. Nehmen wir beispielsweise an, ich sei fest überzeugt, am linken Arm wie immer meine Uhr zu tragen, und behaupte: „An meinem Handgelenk befindet sich eine Uhr“, obwohl ich die Uhr vorhin abgelegt und im Badezimmer vergessen habe. In diesem Fall habe ich meiner Überzeugung gemäß gesprochen und dennoch die Unwahrheit gesagt. Aber habe ich deshalb auch schon gelogen? Hegel beginnt seine Ausführungen mit der harmlos klingenden Bemerkung, der Imperativ „Jeder soll die Wahrheit sprechen!“ sei offenbar so zu verstehen, dass jeder die Wahrheit sagen soll, „wenn er die Wahrheit weiß“.7 Das Gebot, die Wahrheit zu sagen, ist streng genommen keine unbedingte Forderung, sondern richtet sich nach dem jeweiligen Kenntnis- und Überzeugungsstand des Sprechers. Es gehört, wie wir gesehen haben, zum Wesen der Lüge, dass ich das Gegenteil dessen behaupte, was ich nach meinen eigenen epistemischen Standards für wahr halte. Solange ich guten Gewissens von etwas überzeugt sein kann, stellt eine entsprechende Behauptung selbst dann keine Lüge dar, wenn sie falsch ist.8 Die einschränkende Feststellung: „Jeder soll die Wahrheit reden, jedes Mal nach seiner Kenntnis und Überzeugung davon“, ist eine Sache des gesunden Menschenverstandes, der „gesunden Vernunft“, wie Hegel schreibt.9 In der Literatur findet sich daher der Kommentar, hier liege im Grunde eine Verwechslung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit vor. Das Gebot nicht zu lügen verpflichtet zur Wahrhaftigkeit, aber es fordert von niemandem, eine Wahrheit zu sagen, die er oder sie gar nicht kennt.10 Damit könnte die Sache ihr Bewenden haben, schöbe Hegel nicht einen 7
GW 9, S. 229 f. Natürlich wären an dieser Stelle weitere Einschränkungen fällig. Zweifellos besteht eine Art epistemischer Sorgfaltspflicht, die gebietet, nichts leichtfertig für wahr zu halten, von dessen Falschheit ich mich einfach überzeugen könnte. Das Problem soll uns hier aber nicht weiter beschäftigen. 9 GW 9, S. 230. 10 Vgl. Siep, Ludwig: Der Weg der „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zur „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt 8
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zweiten Punkt hinterher: Geht es bei dem Gebot genau genommen nicht darum, die Wahrheit zu sagen, sondern das, was ich für wahr halte, dann hätte derjenige, der ganz allgemein die Forderung aufstellt, die Wahrheit zu sagen, gemessen an dem von ihm selbst Gemeinten, gegen seine eigene Forderung verstoßen. Denn sollte er mit „die Wahrheit sprechen“ gemeint haben „wahrhaftig sein“, dann hätte er selbst gerade nicht das gesagt, was er für die Wahrheit hält. Stellen wir uns Hegels Einwand als einen Dialog zwischen zwei Personen vor: A: Jeder sollte stets die Wahrheit sagen! B: Aber was ist, wenn jemand die Wahrheit gar nicht kennt? A: Dann sollte er nach bestem Wissen und Gewissen sprechen. B: Du räumst also ein, dass es Fälle gibt, in denen ,die Wahrheit sagen‘ und ,nach bestem Wissen und Gewissen sprechen‘ nicht dasselbe sind? A: Natürlich räume ich das ein. Als ich von ,die Wahrheit sagen‘ sprach, da meinte ich natürlich ,nach bestem Wissen und Gewissen sprechen‘. B: Also hast Du am Anfang weder die Wahrheit gesagt noch nach bestem Wissen und Gewissen gesprochen!?
Wem Hegels Einwand als Wortklauberei erscheint, der erinnere sich an den erkenntniskritischen Kern des Arguments. Hegel weist auf die Schwierigkeit hin, dass eine Moral der knappen Formeln und der unmittelbaren Aussprüche des Gewissens semantisch unterbestimmt bleibt und deshalb nicht selten zu Widersinn führt. Der ausschlaggebende Gedanke ist, dass die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit keine von außen an das moralische Bewusstsein herangetragene akademische Spitzfindigkeit, sondern eine von jedermann vorausgesetzte Selbstverständlichkeit darstellt. Demnach besteht ein allgemein anerkannter Unterschied zwischen dem, was objektiv der Fall ist, und dem, was ein Subjekt gerechtfertigter Weise annimmt, dass der Fall ist. Wer also „Wahrheit“ sagt, obwohl er „was ich für wahr halte“ meint und darum weiß, der sagt weder die Wahrheit noch das, was er nach seinen eigenen Standards für wahr hält. Sobald die „gesunde Vernunft“ die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit für das rechte Verständnis des moralischen Gebots selbst in Anspruch nimmt, gibt sie aber in der Tat zu, dass sie vielmehr schon unmittelbar im Aussprechen desselben dasselbe verletzte; sie sprach: jeder soll die Wahrheit sprechen; sie meinte aber, er solle sie am Main, 2000, S. 168. – Tatsächlich weist auch Kant in dem berüchtigten Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ die Formulierung „Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht“ mit der Begründung zurück: „Auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde soviel sagen als: es komme wie überhaupt beim Mein und Dein auf seinen [sc. des Menschen] Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde.“ Richtig sei hingegen der Grundsatz: „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden“. Siehe hierzu die Akademie-Ausgabe der Schriften Kants: AA 08: 425 – 436. Auch im Paragraphen „Von der Lüge“ der „Metaphysik der Sitten“ spricht Kant von der „vorsätzlichen Unwahrheit“ und der Pflicht zur „Wahrhaftigkeit“. Siehe hierzu: AA 06: 429 – 431.
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sprechen nach seiner Kenntnis und Überzeugung davon; d. h. sie sprach anders als sie meinte; und anders sprechen, als man meint, heißt die Wahrheit nicht sprechen.11
Nun könnte man mit vollem Recht fragen, ob nicht derselbe gesunde Menschenverstand gegen Hegels Schlussfolgerung spricht. Ist es nicht überzogen, jemandem, der sich ungenau ausdrückt, zu unterstellen, er habe die Unwahrheit gesagt? Rein logisch bedeutet ,nicht die Wahrheit sprechen‘ etwas anderes als ,die Unwahrheit sprechen‘ oder ,lügen‘. Außerdem mag es gute pragmatische Gründe geben, warum eine knappe, etwas ungenaue Formel trotzdem einer längeren und komplizierteren vorzuziehen ist. Insbesondere kann es nicht darum gehen, jedes sittliche Gebot mit einer langen Liste einschränkender Bedingungen zu versehen, die seinen konkreten Gebrauch regeln. Denn um eine solche einschränkende Bedingung handelt es sich bei der Klausel „wenn er die Wahrheit weiß“. Hegels Folgerung, die moralische Norm werde dadurch „in eine völlige Zufälligkeit verkehrt“, scheint also ihrerseits verkehrt. Im Gegenteil wird man sagen können, dass es das Kennzeichen einer gesunden sittlichen Urteilskraft ist, niemanden einen Lügner zu nennen, der das Falsche sagt, weil er die Wahrheit nicht kennt.12 Während der gesunde Menschenverstand es bei der Verbesserung von „Gebot der Wahrheit“ in „Gebot der Wahrhaftigkeit“ bewenden lässt, hakt Hegel nach. Die Schwierigkeit besteht für ihn darin, dass auch die neue Formulierung nicht das ausdrückt, was ursprünglich gemeint war. Die Zufälligkeit betrifft nämlich weniger den Sprecher – dessen Pflicht ist, das zu sagen, was er nach bestem Wissen und Gewissen für wahr hält –, als den Hörer. Angenommen, ich frage eine Passantin nach dem Weg zum Bahnhof und diese antwortet mir: „Gehen Sie an der nächsten Ampel nach links!“ Soll ich nun glauben, dass die Auskunft zutrifft und sie die Wahrheit gesprochen hat? Oder hat sie vielleicht gelogen, weil sie keine Fremden mag, und mich absichtlich in die falsche Richtung geschickt? Oder muss ich am Ende davon ausgehen, dass sie sich in ihrer Überzeugung irrte und es sich bei der Auskunft um eine von der Sprecherin irrtümlich für wahr gehaltene, in Wirklichkeit aber falsche Behauptung handelte? Rein äußerlich betrachtet unterscheiden sich die drei Fälle nicht, sondern die Frau versichert jedes Mal glaubwürdig, ich müsse an der nächsten Ampel nach links gehen. Solange ich über keine zusätzlichen Anhaltspunkte verfüge, muss offen bleiben, ob der Satz „Gehen Sie an der nächsten Ampel nach links!“ wahr ist oder nicht. Stellt sich die Auskunft später als falsch heraus, ist immer noch unklar, ob die Pas-
11 GW 9, S. 230. – Man beachte, dass „in der Tat“ zugeben hier einen performativen Widerspruch anzeigt: Wer „die Wahrheit sprechen“ sagt und „nach seiner Kenntnis und Überzeugung davon“ meint, der spricht selbst anders, als er meint. 12 Wird die sittliche Pflicht, die Wahrheit zu sagen, an die Kenntnis der Wahrheit als Bedingung geknüpft, geht freilich die vermeintliche Unmittelbarkeit des sittlichen Urteils verloren. Bevor jemand, der falsch aussagt, der Lüge bezichtigt werden kann, muss jetzt geprüft werden, ob er die Wahrheit überhaupt kannte.
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santin gelogen oder sich nur geirrt hat.13 Hegels Rede vom Zufall ist so zu verstehen, dass gemäß dem Gebot der Wahrhaftigkeit „Wahres und Falsches durcheinander, wie es kommt, dass es einer kennt, meint und begreift, gesprochen werden solle“.14 Wenn die Sprecherin den richtigen Weg zum Bahnhof kennt, gebietet das Gebot der Wahrhaftigkeit, die Wahrheit zu sagen; hält sie dagegen den falschen Weg für den richtigen, gebietet dasselbe Gebot der Wahrhaftigkeit, die Unwahrheit zu sagen. Wie mehrfach betont, interessiere ich mich nicht für die ethischen oder pragmatischen Feinheiten der Situation, sondern für das darin zum Vorschein kommende erkenntnistheoretische Problem. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit setzt die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Gewissheit voraus. Ohne sie bestünde keine Möglichkeit, dass jemand aus Unwissenheit die Unwahrheit sagt. Höbe man den Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit auf, wäre man auf die Ansicht festgelegt, dass es sich bei jeder unwahren Aussage um eine Lüge handelt. Der Wegfall der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Gewissheit führt zu einem epistemisch naiven Begriff der Lüge, dem zufolge es keine irrtümlichen Falschaussagen geben kann. Schickte mich die Passantin in die falsche Richtung, müsste ich also annehmen, sie hätte mit Absicht die Unwahrheit gesagt. Durch die Klarstellung, jeder solle die Wahrheit reden „nach seiner Kenntnis und Überzeugung davon“, soll der epistemisch naive Begriff des Lügens überwunden werden. Doch unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten bedeutet die Abkehr von der Pflicht zur Wahrheit keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung. Gemäß dem Gebot der Wahrhaftigkeit kommt es allein darauf an, dass ein Sprecher das sagt, dessen er sich gewiss ist, gleichviel ob seine Überzeugung der Wahrheit entspricht oder nicht. Ist sich die Frau in dem angeführten Beispiel sicher, dass der Weg zum Bahnhof an der nächsten Ampel nach links führt, obwohl der Bahnhof in Wirklichkeit rechts liegt, antwortet sie pflichtgemäß die Unwahrheit. Aber was hieße in diesem Fall zu lügen? Aus Sicht der Sprecherin wäre eine Lüge die Behauptung des Gegenteils dessen, wovon sie innerlich überzeugt ist. Glaubt die Frau, dass sich der Bahnhof links befindet, wäre die Auskunft „Gehen Sie an der nächsten Ampel nach rechts!“ gelogen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Begriff der Lüge unter diesen Umständen zwar nicht seinen semantischen Gehalt, wohl aber seine praktische Bewandtnis verliert. Solange das subjektive Bewusstsein der Sprecherin das einzige Kriterium der Gewissheit bildet, ist es aus der Sicht des Hörers ganz gleichgültig, ob er von ihr irrtümlich oder absichtlich in die falsche Richtung geschickt wird. Denn wenn der Hörer ohnehin nicht wissen kann, ob sie zufällig die Wahrheit kennt und lügt, oder ob sie wahrhaftig ist und sich zufällig irrt, braucht er sich keine Mühe zu 13 Hier mag sich erneut der gesunde Menschenverstand zu Wort melden und zu bedenken geben, dass doch zumindest im Regelfall von der Wahrheit der Auskunft auszugehen sei. Der Einwand bleibt jedoch solange eine petitio principii, wie keine Regeln angegeben werden, nach denen sich entscheiden lässt, wann der Regelfall vorliegt. 14 GW 9, S. 230.
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geben, nicht auf Lügen hereinzufallen. Im Gegenteil, wenn es vom Zufall abhängt, ob derjenige, der das Gebot der Wahrhaftigkeit befolgt, die Wahrheit sagt, wird sich niemand mehr beim Erwerb von Wissen auf das Zeugnis anderer stützen wollen. Genau das muss am Ende auch die Sprecherin einsehen. Da ihr Zeugnis für den Hörer keinen epistemischen Wert besitzt, ist Lügen sinnlos. Allerdings ist Hegel selbst keineswegs der Ansicht, dass Irrtum und Lüge auf dasselbe hinauslaufen, so dass ein moralisches Verbot der Lüge aus logischen Gründen ausgeschlossen wäre. Mit seiner Kritik an der kantischen Moralauffassung bezweckt er im Gegenteil, die Diskussion über das Problem der Wahrhaftigkeit auf ein Niveau zu heben, wo sich das Phänomen der Lüge überhaupt angemessen beschreiben lässt. Zugespitzt könnte man sagen, Hegel entwickle einen Wahrheitsbegriff, der hinreichend komplex ist zur Darstellung dessen, was Kant sinnvollerweise gemeint haben kann. Der Sache nach zielt er gleichsam auf einen Mittelweg zwischen dem epistemisch naiven und dem praktisch nutzlosen Begriff des Lügens. Um die geschilderten Aporien zu vermeiden, muss der Unterschied zwischen Wahrheit und Gewissheit auf das Verhalten der Lügnerin bezogen werden: Obwohl es (objektiv) wahr ist, dass sich die Frau (subjektiv) gewiss ist, der Bahnhof befinde sich rechts, schickt sie mich nach links.15 Die bisherige Deutung des Wahrheitsgebots als Pflicht zur Wahrhaftigkeit krankte daran, dass sich die Zweifel an jemandes Wahrhaftigkeit durch dessen eigene Versicherungen nicht ausräumen lassen. Die Berufung der Sprecherin auf die Gewissheit ihrer Überzeugungen ist kein zureichendes Kriterium, nach dem der Hörer die Wahrhaftigkeit einer Behauptung beurteilen könnte, besteht das Wesen der Lüge doch gerade darin, etwas als mir gewiss auszugeben, von dessen Gegenteil ich innerlich überzeugt bin. Was fehlt, ist eine Art Maßstab, nach dem wenigstens einige Aussagen eines Sprechers als wahrhaftig erkannt werden können. Da sich Hegel zu dem Thema nirgends ausdrücklich geäußert hat, greife ich im Folgenden auf seine Abhandlung über das Phänomen der Heuchelei zurück. Dort listet er eine Reihe von Merkmalen auf, die es erlauben, den Begriff der Lüge genauer abzugrenzen. Das Interessante an dieser Erörterung ist, dass Hegel das Verhältnis zwischen innerer Gewissheit und äußerer Erscheinung in seine Überlegungen einbezieht. Wie der Heuchler das Böse tut und dabei als gut erscheinen möchte, so behauptet der Lügner die Unwahrheit und will dabei als Wahrsager erscheinen. Damit die Täuschungsabsicht gelingen kann, müssen der Heuchler bzw. Lügner den Gedanken eines von Hegel sogenannten „wahrhaften Allgemeinen“ in Wort und Tat anerkennen. Bezüglich dieses Allgemeinen, so wird sich zeigen, ist jeder Irrtum ausgeschlossen und infolgedessen auch die Möglichkeit zu lügen. Es stellt gewissermaßen den archimedischen Punkt dar, an dem Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Gewissheit in eins fallen.
15 Im Fall des Irrtums dagegen ist es (objektiv) wahr, dass sich die Frau (subjektiv) gewiss ist, der Bahnhof liege links.
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III. Hegel über Heuchelei Die Deutung des Gebots zur Wahrheit als Pflicht zur Wahrhaftigkeit beruhte auf dem Begriff der subjektiven Gewissheit. Er ermöglicht es, Lügen von Falschaussagen aus Unwissenheit zu unterscheiden. Da die Gewissheit etwas rein Subjektives ist, droht jedoch im selben Zug die Wahrheit des Zeugnisses anderer dem Zufall anheim zu fallen. Ob ich von einer wahrhaftigen Sprecherin die Wahrheit erfahre, hängt davon ab, ob sie die Wahrheit kennt oder nicht. Gemessen am Ziel der sprachlichen Kommunikation, nämlich dem Erwerb von Wissen, wird die moralische Pflicht selbst zu etwas Zufälligem. Hegels Argument im Vernunft-Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ richtet sich gleichermaßen gegen die formalistische Gebotsethik wie gegen die individualistische Gewissensethik. Beide scheitern an der grundsätzlichen Schwierigkeit, dass (objektive) Wahrheit und (subjektive) Gewissheit unverbunden nebeneinander stehen. Die Berufung auf die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Pflicht zur Wahrhaftigkeit krankt daran, dass für gewiss gehaltene Überzeugungen sowohl wahr als auch falsch sein können. Dasselbe gilt für die vermeintlich unmittelbare Einsicht des eigenen Gewissens, die sie sich jeder Überprüfung durch andere von vornherein entzieht.16 Programmatisch lässt sich Hegels Gedankengang meines Erachtens dahingehend zusammenfassen, dass das Gebot nicht zu lügen solange keinen wirklichen Beitrag zur Ausbreitung der Wahrheit leistet, wie Wahrheit und Gewissheit unvermittelt nebeneinanderstehen. Wie eine Vermittlung zwischen Wahrheit und Gewissheit auszusehen hat, soll nun mit Blick auf den Begriff der Heuchelei dargelegt werden. Nachdem Hegel die Heuchelei bereits in der „Phänomenologie“ als letzte Konsequenz einer Moral des reinen Gewissens geschildert hatte,17 steht sie auch in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ am Ende seiner Ausführungen über die Moralität. In einer längeren Anmerkung zum Abschnitt über das Gewissen, deren Kontext uns hier nicht zu beschäftigen braucht, bezeichnet Hegel die Heuchelei als die „letzte, abstruseste Form des Bösen, wodurch das Böse in Gutes und das Gute in Böses verkehrt wird“.18 Eine entsprechende Verkehrung nimmt auch der Lügner vor, wenn er absichtlich das Falsche als wahr und das Wahre als falsch ausgibt. Unter diesem wahrheitstheoretischen Gesichtspunkt soll das Phänomen nun betrachtet werden. Hegel unterscheidet in der besagten Anmerkung zu § 140 der „Rechtsphilosophie“ zunächst drei Momente der Heuchelei, nämlich „a) das Wissen des wahrhaften 16
Hegels Kritik der individualistischen Moral der Romantiker findet sich bekanntlich im letzten Abschnitt des Geist-Kapitels der „Phänomenologie“, auf den hier aber nicht näher eingegangen werden soll. 17 Vgl. GW 9, S. 355 – 369. 18 GW 14, S. 123. – Eine „noch höhere Spitze“ des Bösen als die Heuchelei stellt für Hegel „die sich als das Absolute behauptende Subjektivität“ dar (ebd.), das heißt ein Bewusstsein, das nur sich selbst als Maßstab anerkennt, wie er es den Romantikern unterstellt. Während sich Hegels Moralitätskritik in der Hauptsache gegen eine solche Absolutsetzung des einzelnen Subjekts richtet, geht es mir um den Nachweis, dass der Begriff der Heuchelei die Anerkennung eines intersubjektiv gültigen Allgemeinen voraussetzt.
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Allgemeinen“, „b) das Wollen des diesem Allgemeinen widerstrebenden Besonderen“, und zwar „c) als vergleichendes Wissen beider Momente, so dass für das wollende Bewusstsein selbst sein besonderes Wollen als Böses bestimmt ist“. Was das erste Moment angeht, legt sich Hegel nicht fest, welche Form das Wissen des Allgemeinen annehmen muss. Gemeint ist ein Bewusstsein der Pflicht im weitesten Sinn, „es sei in Form nur des Gefühls von Recht und Pflicht oder in Form weiterer Kenntnis und Erkenntnis davon“.19 Auch der Heuchler und die Lügnerin sind sich durchaus bewusst, dass es grundsätzlich gut ist, jemandem, der mich nach dem Weg fragt, die richtige Auskunft zu geben. Dabei ist es unerheblich, ob sich dieses „wahrhafte Allgemeine“ dem Gewissen als vages Gefühl ankündigt, oder ob es auf vernünftigen Erwägungen beruht. Worauf es indessen ankommt, ist der Gegensatz zwischen dem allgemeinen Bewusstsein davon, was gut wäre, und dem besonderen Willen. Mit dem Besonderen können sowohl bestimmte Vorlieben des Einzelnen als auch die näheren Umstände des Handelns gemeint sein. Wer einem anderen die falsche Richtung zum Bahnhof weist, tut dies vielleicht, weil er schlechte Laune hat, weil er generell keine Leute mag, die nach dem Weg fragen, oder weil er sich für ein früher erlittenes Unrecht rächen will.20 Entscheidend ist, dass der Handelnde um den Widerspruch zwischen Allgemeinheit und Besonderheit weiß und sein eigenes Tun als böse erkennt. Der Heuchler tut bewusst das Gegenteil dessen, wovon er einsieht, dass es gut ist.21 Darin liegt auch der Unterschied zwischen Lüge und Irrtum. Die Lügnerin weiß, dass sie nicht das sagt, wovon sie innerlich überzeugt ist. Dass die Beschreibung Hegels zutrifft, belegt ein Beispiel aus der Literatur. In Shakespeares Drama „Othello“ fällt der Titelheld auf die Heuchelei seines Fähnrichs Jago herein. Weil nicht wie erhofft dieser selbst, sondern der junge und unerfahrene Cassio zum Leutnant befördert wurde, sinnt Jago auf Rache.22 Er zettelt zunächst einen Streit zwischen Cassio und Othello an. Darauf rät er Cassio, sich an Othellos Frau Desdemona als Vermittlerin zu wenden. Gleichzeitig weckt er den Argwohn Othellos, Cassio betrüge ihn mit Desdemona. Zum Beweis dient Jago ein Taschentuch, das Desdemona verloren hat und das er Cassio unterschiebt. Als Othello Desdemona nach ihrem Taschentuch fragt und es schließlich bei Cassio findet, ist er von
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Ebd. Dean Moyar zufolge besteht die Heuchelei häufig in der willkürlichen Wahl der Gründe, mit denen wir unser verkehrtes Handeln rechtfertigen. Dagegen fordere Hegel einen judgmental holism, das heißt moralische Urteile, die sämtliche relevanten Faktoren berücksichtigen. Vgl. Moyar, Dean: Hegel’s Conscience, Oxford, 2011, S. 103. 21 Wie Hegel eigens bemerkt, kann der „Grad der Klarheit oder Dunkelheit“ dieses Bewusstseins verschieden sein: „Inwiefern eine böse Handlung mehr oder weniger mit förmlichem bösen Gewissen vollbracht sei, dies ist die gleichgültigere, mehr das Empirische betreffende Seite“ (GW 14, S. 124 f.). 22 Den zusätzlichen Vorwand, dass Jago Othello verdächtigt, er betrüge ihn mit seiner Frau, übergehe ich hier. 20
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beider Untreue überzeugt, und das Drama nimmt seinen Lauf, an dessen Ende Othello erst Desdemona erdrosselt und dann sich selbst erdolcht. Jago ist ein Heuchler im Sinne Hegels. Er weiß genau, dass von einem Offizier Redlichkeit erwartet wird. Der Feldherr muss sich auf sein Wort verlassen können. Zur Redlichkeit eines Offiziers gehört natürlich auch, dass er weder ein Verhältnis mit der Frau seines Feldherrn unterhält, noch einem anderen ein solches andichtet. Jago weiß das alles nicht nur, sondern es ist Teil seines perfiden Plans, der die Arglosigkeit Cassios und Othellos ausnutzt. Trotz seines Wissens lässt Jago seinen Neigungen freien Lauf. Sein Wollen und Trachten stehen ganz im Zeichen des Neids und der Eifersucht auf Cassio sowie der Wut und Enttäuschung über Othello. Auch an dem Bewusstsein des Bösen – das dritte Moment des Begriffs der Heuchelei – mangelt es Jago keineswegs. Bereits in der ersten Szene des Dramas erklärt er freimütig: Ich handle nicht aus Liebe und Pflicht, sondern zum Schein, zu meinem persönlichen Nutzen. Denn wenn mein äußeres Verhalten das wahre Handeln und Wesen meines Herzens ans Licht bringt, wird es nicht lange dauern, und ich werde mein Herz an meinem Ärmel tragen, damit die Tauben daran picken können; ich bin nicht, was ich bin.23
Mit dem Gegensatz zwischen dem äußeren Verhalten und der Gesinnung des Herzens, zwischen Sein und Schein kommt ein viertes Moment der Heuchelei ins Spiel, nämlich die Verstellung. Die drei oben genannten Bestimmungen „drücken das Handeln mit bösem Gewissen aus, noch nicht die Heuchelei als solche“. Damit eine schlechte Tat zur Heuchelei wird, muss nach Hegel „die formelle Bestimmung der Unwahrheit“ hinzukommen. Die Unwahrheit besteht darin, „das Böse zunächst für andere als gut zu behaupten und sich überhaupt äußerlich als gut, gewissenhaft, fromm u. dgl. zu stellen, was auf diese Weise nur ein Kunststück des Betrugs für andere ist“.24 Obwohl Cassio in Wahrheit ein zuverlässiger Offizier und Desdemona eine treue Ehefrau ist, gelingt es Jago, die beiden in den Augen Othellos als Lügner erscheinen zu lassen, während er sich selbst als redlichen Freund präsentiert. Die „Unwahrheit“ seines heuchlerischen Verhaltens findet ihren sprechenden Ausdruck in dem Satz „Ich bin nicht, was ich bin“ (I am not what I am). Dieselbe formelle Unwahrheit, das heißt die Behauptung des Bösen als gut, gehört wesentlich zum Begriff der Lüge. Der Lügner will notwendigerweise als Wahrsager erscheinen. Wer den Eindruck erweckt, seine Behauptung nicht ernst zu meinen, dem mag es vielleicht gelingen, Verwirrung zu stiften, aber er wird niemanden von der Wahrheit des Gesagten überzeugen können. Eine wirkliche Lüge liegt nur vor, wenn ein Sprecher glaubhaft etwas behauptet, wovon er nicht überzeugt ist.25 Betrachten wir vor diesem Hintergrund noch einmal das erste Moment des Begriffs der Heuchelei, das Wissen des wahrhaften Allgemeinen. Mit dieser knappen Formel umschreibt Hegel die Tatsache, dass ohne ein allgemein geteiltes und voraus23 Shakespeare, William: Othello, Erster Aufzug, Erste Szene, dt. Übers. hrsg. von Dieter Hamblock, Stuttgart, 1985, S. 11-13. 24 GW 14, S. 125. 25 Zur Ausnahme der sogenannten knowledge lies vgl. oben Anm. 1.
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gesetztes Wissen um die Pflicht zur Wahrheit niemand lügen könnte. Sogar der Lügner selbst muss davon ausgehen, dass unsere Behauptungen in der Regel zutreffen. Würde ein Sprecher, der glaubt, dass p, rein zufällig das eine Mal behaupten, dass p, und das andere Mal behaupten, dass nicht p, gäbe es keinen Grund zu der Annahme, dass jemand, der sagt, dass p, wirklich glaubt, dass p. Infolgedessen bestünde kein Anlass, den Behauptungen irgendeines Sprechers zu trauen, so dass niemand dem Lügner seine Falschheiten abnähme. Dieses Argument gilt unabhängig davon, ob ich die Lüge als etwas sittlich Verwerfliches ablehne oder nicht. Selbst derjenige, der sich der Lüge bedient, um die Überzeugungen anderer zu seinem eigenen Vorteil zu beeinflussen, setzt auf die von Sprechern und Hörern geteilte Grundüberzeugung, der zufolge jemand, der glaubt, dass p, im Allgemeinen sagt, dass p, und umgekehrt jemand, der behauptet, dass p, im Allgemeinen glaubt, dass p.26 Diese Grundüberzeugung, von Hegel das „wahrhafte Allgemeine“ genannt, besitzt sowohl deskriptive als auch normative Gültigkeit. Ein echter Unterschied zwischen Lügner und Wahrsager besteht nur dann, wenn es einerseits tatsächlich der Fall ist, dass unsere Behauptungen in der Mehrzahl der Fälle zutreffen und Lügen die Ausnahme bilden. Um selbst als glaubhaft zu erscheinen und daher besser lügen zu können, ist der Lügner andererseits verpflichtet, normalerweise die Wahrheit zu sagen.27 Hegels Rede vom wahrhaften Allgemeinen ist also weniger im Sinn eines moralischen Gesetzes oder kategorischen Imperativs zu verstehen, sondern zeigt eine Art pragmatischer Voraussetzung an, die Wahrsager und Lügner, Erkenntnistheoretiker und Sollensethiker miteinander teilen. Die Überzeugung, es sei im Allgemeinen richtig, zu behaupten, dass p, wenn S glaubt, dass p, ist nicht deshalb das wahrhafte Allgemeine, weil sie keine Ausnahmen zuließe, sondern weil es nicht möglich ist zu denken, das Gegenteil treffe zu. Müsste Jago davon ausgehen, dass das Wort eines Offiziers im Normalfall nichts gilt, oder hätte er durch sein heuchlerisches Verhalten in der Vergangenheit das Vertrauen Othellos bereits verspielt, wäre sein niederträchtiger Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt. Angenommen, jemand wollte tatsächlich nach dem Prinzip verfahren, dem zufolge es nicht richtig ist, zu behaupten, dass p, wenn er glaubt, dass p, dann dürfte er weder den Behauptungen anderer Glauben schenken, noch ihnen etwas mitteilen oder gar sie belügen wollen. Um überhaupt lügen zu können, muss ich anerkennen, dass es im Allgemeinen richtig ist, zu behaupten, dass p, wenn ich glaube, dass p. Aus diesem Grund gehört das wahrhafte Allgemeine zu den Sätzen, die sich nicht zum Lügen eignen. Ebenso wenig wie jemand ernsthaft von sich selbst behaupten 26 Paul Grice nennt das Prinzip, nichts zu sagen, was man selbst für falsch hält, die erste Maxime der Qualität rationaler Verständigung. Vgl. Grice, Paul: Studies in the Way of Words, Cambridge, Mass., 1989, S. 27. Don Fallis übernimmt den Grundsatz in seine Definition der Lüge. Vgl. Fallis, Don: What Is Lying?, in: Journal of Philosophy, 106, 2009, S. 29-56; Fallis, Don: Lying as a Violation of Grice’s First Maxim of Quality, in: Dialectica, 66, 2012, S. 563-581. 27 Das weiß der Volksmund: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“
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kann, er existiere nicht oder sei nicht hier, lässt sich sinnvollerweise die Überzeugung vertreten, es sei im Allgemeinen nicht richtig zu behaupten, dass p, wenn ich glaube, dass p. Sobald ich eine solche Ansicht laut ausspreche, wird niemand mehr meine Äußerungen glauben.28 Das wahrhafte Allgemeine Hegels ist demnach die Voraussetzung jeder Lüge, lässt aber selbst weder die Annahme des Gegenteils noch die Möglichkeit der Lüge zu. IV. Das Wahre ist das Ganze Halten wir fest: Um lügen zu können, müssen eine Reihe von epistemischen Voraussetzungen erfüllt sein. Dazu gehört für Hegel das Wissen des wahrhaften Allgemeinen, in Bezug auf das sich nicht sinnvoll denken lässt, dass jemand lügt, ohne dadurch die Möglichkeit des Lügens selbst in Frage zu stellen. Als wahrhaftes Allgemeines haben solche Annahmen zu gelten, deren Gegenteil nach den epistemischen Standards des Sprechers unmöglich zutreffen kann und die sich deshalb nicht zum Lügen eignen. Als Beispiele dienten uns zunächst indexikalische Sätze wie „Ich existiere“, „Ich bin hier“, „Dies ist eine menschliche Hand“ oder „Dieser Satz ist wahr“. Wie sich anhand von Hegels Beschreibung der Heuchelei zeigen ließ, gehört insbesondere der Satz „Es ist im Allgemeinen richtig, dass S behauptet, dass p, wenn S glaubt, dass p“ zu den notwendigen Voraussetzungen des Lügens. Demnach hat Hegels Moralitätskritik nicht zuletzt eine wahrheitstheoretische Pointe. Während bei der Rede vom Gebot der Wahrheit das Problem des Irrtums unterschlagen wird, droht die Forderung nach Wahrhaftigkeit die objektive Wahrheit zur subjektiven Gewissheit herabzusetzen. Der entsprechende Begriff der Lüge ist entweder epistemisch naiv oder praktisch nutzlos. Also bedarf es einer Wahrheitstheorie, die komplex genug ist, um das Phänomen der Lüge angemessen zu beschreiben. Wie ich abschließend darlegen möchte, bildet Hegels holistisches Wahrheitsverständnis mit seiner Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ den geeigneten Rahmen für ein solches Unternehmen.29 Im Verlauf meiner Überlegungen sind uns zwei Klassen wahrer Aussagen begegnet, nämlich einerseits solche, in Bezug auf die ein Irrtum oder Lügen möglich sind, andererseits solche, hinsichtlich derer ich mich weder irren noch lügen kann. Hegels Abgrenzung der „Wahrheit“ von bloßer „Richtigkeit“ hat meiner Ansicht nach mit
28 Es wäre zwar vorstellbar, dass jemand behauptet: „Im Allgemeinen ist es richtig zu sagen, dass p, wenn ich glaube, dass p“, und zugleich meint, er sei innerlich vom Gegenteil überzeugt und habe deshalb gelogen. Doch eine solche Person wird so wenig ernst genommen werden wie jemand, der sagt: „Ich bin hier“, und meint, gelogen zu haben, weil er in Wahrheit glaubt, nicht hier zu sein. 29 Von der für den weiteren Gedankengang der „Rechtsphilosophie“ entscheidenden Gegenüberstellung von Moralität und Sittlichkeit sehe ich im Folgenden bewusst ab und konzentriere mich auf die epistemischen Voraussetzungen des Lügens bzw. des Lügenverbots.
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genau diesen beiden Arten von Sätzen zu tun.30 In der „Wissenschaft der Logik“ nennt Hegel „Die Sonne ist rund“, „Cicero war ein großer Redner“ und „Jetzt ist es Tag“ als Beispiele von Urteilen, die zwar richtig, aber nicht eigentlich wahr sind.31 Sie alle beziehen sich auf Gegenstände der Anschauung oder der Wahrnehmung. Unter Richtigkeit versteht Hegel „die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstand“.32 Nach den epistemischen Standards der allermeisten Sprecher könnte der ausgesagte Sachverhalt auch nicht bestehen, denn es ist durchaus vorstellbar, dass die Sonne in Wirklichkeit oval ist, dass Cicero kein guter Redner war oder dass es jetzt gerade Nacht ist. Bei Urteilen, die bloß richtig sind, besteht daher immer die Möglichkeit, dass sich der Sprecher irrt, wie auch, dass er lügt und mit Absicht das Gegenteil dessen behauptet, wovon er eigentlich überzeugt ist. Fragt man indes, was Hegel unter Wahrheit versteht, fällt die Antwort weniger leicht. Einer der Gründe liegt darin, dass er den Begriff außer im epistemischen zugleich in einem ontischen Sinn gebraucht. Gelten im ersten Fall Begriffe oder Urteile als wahr, wenn sie der Wirklichkeit entsprechen, heißen im zweiten Sinn Gegebenheiten wahr, wenn sie ihrem Begriff vollkommen entsprechen. So könnte beispielsweise der Satz „Othello liebt seine Frau“ zwar richtig, aber Othello derart von Eifersucht zerfressen sein, dass er dennoch kein wahrhaft liebender Ehemann ist. Für Hegel sind wahre Urteile daher Sätze, bei denen beides zusammenkommt, das heißt sowohl der Satz die Tatsachen angemessen darstellt, als auch die Wirklichkeit der in ihrem Begriff behaupteten Verfassung ganz entspricht.33 Wahre Urteile stimmen nicht nur mit ihrem Gegenstand überein, sondern geben ihrerseits der Wirklichkeit das Maß vor. Ganz unabhängig von den weitreichenden metaphysischen Ansprüchen der hegelschen Logik ist leicht zu sehen, dass die beiden Dimensionen seines Wahrheitsbegriffs in unserem das Lügen ermöglichenden Prinzip enthalten sind. Der Satz „Es ist im Allgemeinen richtig, dass S behauptet, dass p, wenn S glaubt, dass p“ spricht aus, was der Fall ist und sein soll.34 Die Voraussetzung muss deskriptiv und normativ gelten, damit Lügen überhaupt möglich ist. Die Forderung, in der Regel die Wahrheit zu sagen, geht daher jeder Begründung konkreter ethischer Normen wie des Verbots zu lügen oder der Pflicht wahrhaftig zu sein voraus.
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Zur Bedeutung der Unterscheidung und zu Hegels Wahrheitstheorie insgesamt vgl. Halbig, Christoph: Objektives Denken. Erkenntnistheorie und Philosophy of Mind in Hegels System, Stuttgart, Bad Cannstatt, 2002, S. 181-217. 31 GW 12, S. 65. 32 Ebd. 33 Gängige Beispiele sind die von Hegel so genannten spekulativen Sätze „Gott ist das Sein“, „Das Wirkliche ist das Allgemeine“ (GW 9, S. 44), „Sein und Nichts ist dasselbe“ (GW 21, S. 77), „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (GW 14, S. 14). 34 Das Prinzip besitzt zwar nicht die für Hegels spekulative Sätze typische Form des prädikativen Urteils, aber der Sache nach geht es um die Übereinstimmung zwischen einem Subjekt (der Behauptung, dass p) und einen Prädikat (der Überzeugung, dass p).
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Mit Hilfe der hier lediglich angedeuteten Wahrheitsauffassung lässt sich endlich das Problem der subjektiven Gewissheit genauer eingrenzen. In Fällen wie dem, dass mir jemand den falschen Weg zum Bahnhof erklärt, sind die inneren Überzeugungen der Sprecherin das letzte Kriterium zur Unterscheidung zwischen Lüge und Irrtum. Nur wenn die Frau sicher glaubt, der Bahnhof befinde sich an der nächsten Ampel rechts, und mich dennoch absichtlich nach links schickt, lügt sie. Um das in Erfahrung zu bringen, ist der Hörer wiederum auf die Angaben der Sprecherin angewiesen. Doch wird er die fragliche Äußerung nicht isoliert betrachten, sondern zunächst klären, ob er ihren Aussagen grundsätzlich trauen kann. Ähnlich wie der Sprachforscher in Quines Gedankenexperiment einer radikalen Übersetzung wird er anhand gewöhnlicher Wahrnehmungssituationen herauszufinden versuchen, ob sie sich nach den üblichen epistemischen Standards verhält. Dabei erweist sich unter anderem, was die Frau unter „Bahnhof“ versteht und ob sie die Ausdrücke „rechts“ und „links“ richtig gebraucht. Wäre die Sprecherin eine notorische Lügnerin, so gliche ihr Verhalten dem einer Person, die nicht gelernt hat, diese Begriffe allgemeinen Regeln gemäß zu verwenden. Auf die Behauptungen einer solchen Sprecherin kann kein vernünftiger Hörer etwas geben. Haben sich die Aussagen der Frau hingegen als im Wesentlichen verlässlich erwiesen, ist die nötige Grundlage geschaffen, um der Frage nachzugehen, ob sie sich in der konkreten Situation vielleicht irrte und aus Unwissenheit eine falsche Auskunft gab, oder ob sie den richtigen Weg kannte und mit Absicht die Unwahrheit sagte. Da nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die Sprecherin abermals lügt und den Hörer über ihre wahren Gedanken täuscht, gibt es für ihn keine letzte Gewissheit. Gleichwohl erlaubt das holistische Verständnis der Wahrheit Rückschlüsse auf die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen. Zeigt das Netz der vorgeblichen Überzeugungen einer Sprecherin zu viele Risse, wird der Hörer ihre Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen beginnen. Die entscheidende von Hegel herrührende Einsicht besagt, dass die Lüge immer der Sonderfall bleibt, dessen Möglichkeit als Bedingung voraussetzt, dass die Aussagen der Sprecherin in der Regel zutreffen. Ohne ein derartiges Wissen des wahrhaften Allgemeinen kann jemand weder lügen noch einen anderen der Lüge überführen. Aus dieser Interpretation des wahrhaften Allgemeinen folgt eine bisher kaum beachtete Lesart des Slogans „Das Wahre ist das Ganze“.35 Das hegelsche Ganze bezeichnet nicht eine in allen ihren Attributen notwendig bestimmte Substanz, sondern steckt den allgemeinen Rahmen ab, innerhalb dessen unsere Aussagen richtig oder falsch und unsere Handlungen gut oder böse sind. Der Rahmen wird, wie ich im Blick auf die epistemischen Bedingungen des Lügens dargelegt habe, nicht durch das bloße Diktat des Faktischen festgelegt, sondern ist selbst ein Produkt der Vernunft. Nicht aus Erfahrung, sondern weil die Vernunft es gebietet, weiß ich, dass es im Allgemeinen richtig ist, zu behaupten, dass p, wenn ich glaube, dass p. Erst in einem zweiten Schritt ergibt sich aus diesem Prinzip die ethische Pflicht, die Wahrheit zu sagen. He35
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gels Moralitätskritik macht zugleich deutlich, dass ein auf diese Weise gewonnenes Lügenverbot keine rein mechanische Anwendung verstattet. Auch im Bereich der Sittlichkeit gilt die Losung „Das Wahre ist das Ganze“. So kann es im Einzelfall vorkommen, dass die Behauptung eines Sprechers zwar den Tatsachen widerspricht, aber trotzdem nicht als unsittlich gewertet werden kann.36 An dem Punkt ist neben praktischer Urteilskraft die theoretische Einsicht gefragt, dass ethische Gebote niemals rein formale Prinzipien der Richtigkeit darstellen. Obwohl bis zur vollständigen Lösung aller mit dem Lügenverbot zusammenhängenden ethischen Probleme noch viel zu tun bleibt, sollte der wahrheitstheoretische Aspekt hinreichend klar geworden sein. Während durch Hegels Begriff des wahrhaften Allgemeinen die theoretischen Grundlagen der ethischen Diskussion dem Zufall und der Beliebigkeit entzogen werden, eröffnet die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Richtigkeit die Möglichkeit, dass eine bestimmte Behauptung die tatsächliche Überzeugung des Sprechers wiedergibt und dennoch falsch ist (Irrtum), sowie dass der Sprecher zwar weiß, was richtig ist, aber mit Absicht das Gegenteil behauptet (Lüge). Auf eine knappe Formel gebracht lautet die Antwort auf meine Titelfrage deshalb: Hegelianer können (nicht) lügen, weil sie wissen, dass es das wahrhafte Allgemeine gibt, ohne zu glauben, dass alle ihre Meinungen richtig sind. Als das wahrhafte Allgemeine sehe ich die Annahme an, wonach es in der Regel richtig ist, dass S sagt, dass p, wenn S glaubt, dass p. Wird an diesem Wissen festgehalten, können die sonstigen Überzeugungen eines Sprechers im Einzelnen richtig oder falsch und seine Aussagen wahr oder gelogen sein. Wer dagegen das wahrhafte Allgemeine Hegels für ebenfalls der Möglichkeit des Irrtums und der Lüge ausgesetzt hält, der büßt nicht bloß die Einlösbarkeit des Anspruchs auf Wahrheit und Richtigkeit seiner Behauptungen ein, sondern kann infolgedessen auch nicht lügen.
36 Klaus Vieweg verweist zum Beispiel auf Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“. Der Protagonist stärkt die Hoffnung der Bewohner des Warschauer Ghettos, indem er Lügen über den Vormarsch der Roten Armee erfindet. Vieweg zufolge handelt es sich um „Not-Lügen“, die – in Analogie zur Notwehr – durch eine Art sittlichen Ausnahmezustand moralisch gerechtfertigt sind. Vgl. Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München, 2012, S. 199 ff.
Hegel und die moderne Ethik Ludwig Siep Für Rolf Horstmann
In diesem Beitrag soll das Verhältnis der Hegelschen Philosophie zu Fragen der gegenwärtigen Ethik erörtert werden – sowohl der Meta- wie der allgemeinen und der angewandten Ethik. Einige Perspektiven Hegels scheinen mir fruchtbar. Ich werde aber auch auf Prämissen Hegels hinweisen, die eine volle „Auswertung“ dieser Ansätze verhindern. Daraus ergibt sich am Ende die Richtung, in der man Hegels „Projekt“ transformieren oder verlassen müsste. I. Metaethik: Handeln und die Realität des Guten Die Metaethik ist bekanntlich die philosophische Disziplin, die sich mit den epistemologischen, ontologischen und auch handlungstheoretischen Prämissen der philosophischen Ethik, aber auch der Alltagsmoral beschäftigt. Es ist nicht leicht, Hegel in diese Debatten einzuordnen, weil seine Konzepte zu den meisten dort verwendeten Kategorien quer stehen. Hegels System enthält keinen unter dem Titel „Ethik“ stehenden Teil; als „ethische Pflichtenlehre“ bezeichnet er die aus dem Verhältnis der sozialen und staatlichen Institutionen für den Menschen sich ergebenden Pflichten.1 Auch unter Moralität versteht er etwas anderes als die heutigen Begriffe von Moral. Das wird noch auszuführen sein. Trotzdem enthält Hegels Philosophie des objektiven Geistes zumindest implizit Antworten auf die Frage, ob es in Bezug auf gutes und schlechtes menschliches Handeln wahre Aussagen geben kann. Sie ist auch nicht neutral in der Frage, ob sich Aussagen über Gerechtigkeit oder Freiheit auf etwas Reales, unabhängig von menschlichen Wünschen und Interessen in der Welt Vorkommendes beziehen.
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Vgl. „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (abgek. Rph) § 148. In diesem Beitrag werden Hegels Werke nach den folgenden Ausgaben zitiert: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg, 1968 ff. (Sigle: GW); Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1969 ff. (Sigle: TW); Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg, 1983 ff. (Sigle: V); sowie Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 1818 – 1831, Edition und Kommentar von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1973 f.
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Hier sollen zwei metaethische Fragen im Vordergrund stehen, erstens Hegels Beitrag zur Handlungstheorie2 und zweitens zu den Fragen des moralischen Realismus. (1) Hegels Handlungstheorie hat nicht in erster Linie die Frage zum Gegenstand, wie ich eine einzelne Handlung identifizieren und kausal oder intentional erklären kann, sondern was Handeln überhaupt von bloßem Verhalten unterscheidet, was daran dem Handelnden zuzurechnen ist und wann er selbst eine Handlung als die seine verstehen kann – beides sind Voraussetzungen einer freien Handlung. Hegel stellt dabei die traditionelle Handlungstheorie nahezu auf den Kopf. Diese war seit Aristoteles davon ausgegangen, dass die Handlung einen Plan, den es zunächst in der Seele gibt, in die „Wirklichkeit“, d. h. den natürlichen und sozialen Raum überträgt. Diese von „innen nach außen Perspektive“ hat ja auch noch die moderne Handlungstheorie, wenn sie davon ausgeht, dass aus einer „pro-attitude“ und einem „belief“ eine Handlung resultiert – also aus irgendeiner Art innerer Neigung oder Zwecksetzung und dem ebenso „inneren“ Glauben, dass die äußeren Bedingungen zur Erfüllung gegeben sind. Stattdessen versteht Hegel Handlung nahezu umgekehrt „von außen nach innen“: Handlungsziele existieren primär im öffentlichen Raum und Absichten werden erst durch die Tat festgelegt. Noch befremdlicher wird diese Perspektive, wenn es um gute Handlungen geht: Die Idee des Guten, so argumentiert Hegel gegen Kant und Fichte, besteht ebenfalls nicht in der Realisierung einer im menschlichen Geist vorhandenen Idee in der „äußeren Wirklichkeit“, und zwar stets nur annäherungsweise, sondern sozusagen in der Realisierung von Potentialen der Wirklichkeit selber.3 Die Vorstellung, nach eigenen und zugleich für alle gültigen Maßstäben des Guten zu handeln, eben das, was Hegel Moralität nennt, ist zwar nicht falsch und für das Freiheitsbewusstsein der Einzelnen auch notwendig. Sie wird aber falsch und sogar böse, wenn sie die Güte bzw. Vernunft in der Wirklichkeit verkennt und diese den eigenen Vorstellungen anpassen will. Wie kann man diesen befremdlichen Perspektivenwechsel verstehen? Ich versuche das in einer etwas modernisierten Ausdrucksweise zu verdeutlichen. Was Hegel sagen will, ist offenbar zweierlei: Zum einen, dass man nicht mit Plänen im Kopf in die Welt geht und versucht, einzelne Handlungs- oder gar Lebenspläne zu verwirklichen. Vielmehr verstehen wir weitgehend unsere Absichten, Wünsche und Ziele erst beim Handeln. Da wir uns ständig mehr oder weniger aktiv verhalten, vielfach reagieren und Gewohnheiten abspulen, bestehen unsere Absichten eher im Versuch, 2 Ich verstehe Metaethik hier als Theorie der Voraussetzungen der Ethik. Vgl. zu Hegels Handlungstheorie auch Quante, Michael: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1993. Menegoni, Francesca: Elemente zu einer Handlungstheorie in der „Moralität“ (§§ 104 – 128), in: G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Ludwig Siep, Berlin, 22005, S. 125 – 146. 3 Zum Folgenden vgl. Siep, Ludwig: Die Wirklichkeit des Guten in Hegels Lehre von der Idee, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 45 – 57.
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sich darüber klar zu werden, was man eigentlich will – und vollständig gelingt das selten. Zweitens folgt, nicht nur nach Hegel das individuelle Handeln weitgehend sozialen Mustern, Erwartungen und Konventionen. Ohne diese kann es auch gar nicht erfolgreich sein. Auch wenn wir begründen wollen, warum wir auf eine bestimmte Weise gehandelt haben, benutzen wir diese Muster: wir haben jemanden abgeholt, etwas abgegeben, etwas bestellt, gekauft, verloren etc. All diese Tätigkeiten gehören zu einem verständlichen Muster, sie nehmen Kompetenzen oder Erlaubnisse in Anspruch, erfüllen Aufgaben oder Pflichten. Diese haben wir uns gegenseitig in bestimmten sozialen Praktiken eingeräumt und die Bedingungen dafür festgelegt. Ich will nicht auf die modernen Diskussionen der wechselseitigen normativen Erwartungen und Festlegungen oder des Askriptivismus eingehen. Sie sind von Brandom, Pippin oder Quante4 teils ausgearbeitet, teils skizziert worden. Man darf sich dabei die Kooperation sicher nicht zu harmonisch vorstellen, es gehört dazu auch Distanzieren oder Kämpfen. Aber auch das ist in der Regel ein intersubjektiv verständliches, oft sogar ritualisiertes Verhaltensmuster. An die Stelle des Plan- und Ausführungsmodells tritt bei Hegel eine Art tätige Erinnerung: Die individuelle Handlung belebt sozusagen ein in der sozialen Wirklichkeit schlummerndes Potential – eine soziale Möglichkeit, einen im sozialen Muster vorgesehenen Zug, wie einen Spielzug in einem Gesellschaftsspiel. Die Möglichkeiten solcher Züge sind weitgehend durch mehr oder minder ausdrückliche Regeln, Konstellationen auf dem Spielfeld und andere äußere Umstände festgelegt. Es sind allerdings immer überraschende Spielzüge möglich, die sozusagen die konkreten Erwartungen über den Haufen werfen. Auch gibt es individuelle Interpretationen einer Rolle oder eines Handlungstyps, ohne die das soziale Spiel verknöchern und mechanisch-unmenschlich werden würde. Eine solche Auffassung des Handelns scheint die individuelle Verantwortlichkeit sehr zu reduzieren, denn entscheidend etwa für die moralische Bewertung ist dann, ob die Muster und die soziale Ordnung insgesamt zu rechtfertigen sind. Es scheint ferner auch die Möglichkeiten des Einzelnen zur Gestaltung der sozialen Welt zu minimieren. Andererseits wird die Verantwortung des Einzelnen auch erhöht, denn sie erstreckt sich nicht nur auf seinen eigenen Handlungsausschnitt, sondern auf das ganze soziale Muster und seine Regeln. Die Tat legt sie aus und wirkt damit auf die Normen, sozialen Strukturen und institutionell verkörperten Werte zurück. Wenn das Handeln in erster Linie das Entwickeln von Potentialen oder Dispositionen ist, die in der sozialen Wirklichkeit schon angelegt sind, dann kommt es auf deren sozusagen „objektive Intention“ an. Was hat eine soziale Rolle, ein Brauch, ein 4
Vgl. Brandom, Robert B.: Making it explicit. Reasoning, representing, and discursive commitment, Cambridge, 1994. Pippin, Robert B.: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life, Cambridge, 2008. Quante, Michael: Hegels kognitivistischer Askriptivismus, in: Freiheit. Internationaler Hegelkongress 2011, hrsg. von Axel Honneth und Gunnar Hindrichs, Frankfurt am Main, 2013, S. 585 – 607.
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„Alltagsritual“, eine Norm etc. für einen Sinn? Ein moderner Funktionalist würde sagen, es handelt sich um Regeln und erlaubte Spielzüge für das Funktionieren der Gesellschaft. Aber wann funktioniert eine Gesellschaft? Sicher nicht nur, wenn sie die elementaren Bedürfnisse ihrer Mitglieder nach Ernährung, Gesundheit und Sicherheit erfüllt. Sie muss auch den Erwerb, die Betätigung und den wechselseitigen Genuss von Fähigkeiten und Werken ermöglichen, auch solchen die zu einem geistig erfüllten Leben gehören. Zur Funktionsfähigkeit von Gesellschaft gehört auch, dass ihre Normen mit den angeeigneten und überprüften Vorstellungen der Individuen vom Guten zusammenpassen – statt Empörung und Abstoßung hervorzurufen. Zweifellos haben sich in der Geschichte eines Gemeinwesens die Bedeutungen von Gerechtigkeit und Freiheit, aber auch Wohlergehen und Gesundheit geändert. Wenn man diese Veränderungen nicht versteht, dann wird man mit seinen Absichten und Handlungen nichts ausrichten. Allerdings kann man sich unterschiedlich dazu verhalten: Man kann das Hergebrachte erhalten oder verändern wollen, man kann auch auf die Werte früherer Epochen zurückgreifen oder aber bessere herbeiführen wollen. Auch bei Letzterem muss man an das Gewordene anknüpfen. Wenn man die Logik eines Systems, etwa des Marktes, nicht versteht, dann riskiert man individuelle und soziale Katastrophen, wie Hegel das in der „Phänomenologie des Geistes“ analysiert hat.5 Aber welche Veränderungen sind gute, weiterführende und welche sind nur zerstörende oder „das Rad zurückdrehende“? Hegels Antwort lautet letztlich: Gut sind solche Veränderungen, die zu einem Fortschritt im Bewusstsein und den Institutionen der Freiheit beitragen. Freiheit muss aber in Termini eines Systems von Rechten und Kompetenzen in sozialen Praktiken und Institutionen verstanden werden. In diesem System muss Freiheit erstens im Sinne der inneren Balance der körperlichen, emotionalen und kognitiven Kräfte verstanden werden, wie Hegel sie in der Philosophie des subjektiven Geistes erörtert. Zweitens muss sie im Sinne der wechselseitigen Anerkennung in verschiedenen Formen und Stufen, von der Kleingruppe bis zum Völkerrecht, verwirklicht sein.6 Und drittens erfordert sie die Vereinigung in institutionell verfassten Gemeinschaften, die selber frei von den Interessen der Mächtigen von innen und außen handeln können, aber darüber hinaus in verschiedenen Hinsichten den Titel eines „Absoluten“ verdienen. Das ist beides Gegenstand der Philosophie des objektiven Geistes und ich werde im zweiten Teil des Beitrages darauf zurückkommen. Zunächst aber komme ich zur zweiten metaethischen Frage, der nach der Realität moralischer Tatsachen oder Werte. 5
Vor allem in den Kapiteln über das „Gesetz des Herzens“ sowie „Die Tugend und der Weltlauf“. Vgl. dazu auch Siep, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt, 2000, S. 152 – 161. 6 Vgl. dazu u. a. Siep, Ludwig: Anerkennung zwischen Individuen und kulturellen Gruppen, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 263 – 278.
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(2) Hegels Umkehrung der „Innen-Außen“-Perspektive oder der „direction of fit“7 hat auch Folgen für die Debatten über Objektivismus oder Realismus bezüglich moralischer Tatsachen.8 Die in sozialen Praktiken enthaltenen Werte und Normen, vom Wohlergehen über die Gerechtigkeit bis zur Freiheit, sind nämlich primär sozusagen im „sozialen Außen“ enthalten, in den Institutionen der sozialen Welt, und nicht in den subjektiven Vorstellungen, Wertungen oder Wünschen. Was Hegel in dieser Hinsicht „objektiven Geist“ nennt, können wir in der Moderne wiederfinden: Gesundheit etwa ist zwar ein Wert für den Einzelnen, aber auch für die Gesundheitspolitik und das Gesundheitssystem. Was „Krankheit“ ist, wird weitgehend dadurch festgelegt, was die Krankenkassen finanzieren und was Krankenhäuser und Ärzte behandeln können. Das Gleiche gilt für die Gerechtigkeit: Sie ist sozusagen ausbuchstabiert in den Rechten und den Einrichtungen der Rechtspflege, die jemanden zu seinem Recht verhelfen bzw. es wiederherstellen können. Selbst wenn wir ein Urteil oder ein Gesetz als ungerecht verurteilen, dann entweder im Sinne von Grundrechten, die sie verfehlt haben, oder im Lichte eines gerechteren Gesetzes, das wir uns vorstellen können. Ich will das hier nicht weiter verfolgen, es kommt zunächst nur darauf an, dass Normen und Werte für Hegel primär eine soziale und institutionelle Realität haben. Das Problem ist, wie sie adäquat in das subjektive Bewusstsein gelangen können, nicht, wie sie über dieses hinaus in die Welt gelangen oder passen. Auch ihre motivierende Kraft ist von daher nichts besonders Erklärungsbedürftiges: Rechte, Pflichten, Normen binden uns und Werte wie Freiheit oder Gerechtigkeit ziehen uns an – teilweise schon, bevor sie uns bewusst oder klar sind. Das Letztere ist die zumindest heuristische Funktion des Gerechtigkeitsgefühls oder der Freiheitsahnung. Metaethiker können aber einwenden, dass dies nur Objektivität und nicht Realität garantiere.9 Denn Institutionen und soziale Praktiken können zwar über die Präferenzen und Wertungen der Einzelnen hinausgehen, aber sie beruhen vielleicht nur auf intersubjektiven Zuschreibungen, nicht auf irgendetwas vom menschlichen Wollen und Denken gänzlich Unabhängigen in der äußeren Welt oder dem Stoff des Universums (Mackie).10 7 Also der Frage nach der Anpassung der Absichten an die Gegenstände und umgekehrt. Die Unterscheidung der beiden Richtungen (die bereits die philosophische Tradition kennt, etwa in Fichtes Grundsätzen der Wissenschaftslehre von 1794) in der jüngeren Metaethik geht auf Elizabeth Anscombe zurück. Vgl. hierzu Anscombe, Elizabeth: Intention, Oxford, 1957, S. 88 f. 8 Zum Folgenden vgl. meine ausführlicheren Überlegungen in Siep, Ludwig: Hegel über Moral und Wirklichkeit, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 211 – 228. 9 Zur Unterscheidung von Objektivität und Realität in der Metaethik vgl. Quante, Michael: Einführung in die allgemeine Ethik, Darmstadt, 2003, S. 74 – 108. 10 Vgl. Mackie, John M.: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, übers. von R. Ginters, Stuttgart 1986.
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Eine solche These beruht aber auf zwei Voraussetzungen, die Hegel nicht teilt: Die erste ist, dass „real“ primär und vor allem die naturwissenschaftlich erfassbare Natur ist, einschließlich der von Naturgesetzen bestimmten Welt des Technischen. Zweitens setzt eine solche These voraus, dass es in dieser Welt so etwas wie Werte, Wertungen, Zwecksetzungen etc. nicht gibt, oder wenigstens nicht in einem mit der Bedeutung dieser Begriffe im menschlichen Wollen, Werten und Handeln vergleichbaren Sinne. Beide Verhältnisse werden von Hegel umgekehrt: Die primäre Realität ist die des Geistes. Es gibt Wertungen und Zwecksetzungen auch in der Natur, aber sie können nur verstanden werden als Antizipationen und Bedingung des Geistes, seiner Selbsterkenntnis und seiner Freiheit. Mit dieser letzten These geht Hegel nach meiner Auffassung für unser heutiges, evolutionäres und verhaltensbiologisches Naturverständnis zu weit. Darauf komme ich im dritten Teil zurück. Hier noch einige Erläuterungen zur Realität des Geistigen und des Natürlichen bei Hegel. Ohne jetzt auf alle Schattierungen von Hegels Verständnis von Wirklichkeit und Realität einzugehen, kann gesagt werden, dass Hegel „Wirklichkeit“ zwar auch, aber nicht primär im Sinne der Unabhängigkeit vom Subjekt, seinen Meinungen, Wünschen und Täuschungen versteht. Primär versteht und verwendet Hegel „Wirklichkeit“ dagegen im Sinne des Tätigseins, des Wirkens und des Sich-verwirklichens. Höchste Realität ist im Sinne des Aristoteles und Spinozas eine sich selbst hervorbringende Tätigkeit. Obwohl Hegel sich dabei grundsätzlich der Subjektivitätsphilosophie anschließt und diese Tätigkeit primär in den sich erzeugenden und selbst reflektierenden Formen des Denkens und Wollens sieht, hält er an der Notwendigkeit fest, Wirklichkeit von allen subjektiv-willkürlichen Formen dieser geistigen Tätigkeiten zu unterscheiden. Wirklichkeit ist notwendig und gesetzlich – aber auch nur, wo Notwendigkeit und Gesetzlichkeit anzutreffen ist, kann von „Wirklichkeit“ gesprochen werden. Das ist auf den Gebieten des Denkens und Wollens für Hegel in höherem Maß der Fall als in der Natur, weil es nur im Geist zufallsfreie begrifflich-notwendige, sozusagen „material-logische“ Gesetzmäßigkeiten gibt. Daher sind Rechtsordnungen, die sich aus Prinzipien entwickeln und rechtfertigen lassen, in höherem Maße real als Naturordnungen.11 Nicht nur, weil in diesen für Hegel der Zufall eine größere Rolle spielt, sondern auch, weil sie nur für das Erkennen eine notwendige Ordnung manifestieren. Auch die für das Verständnis der Natur notwendigen Begriffe der Zweckmäßigkeit, der Selbstorganisation usw. lassen sich nur als unvollständige Antizipationen geistiger Verhältnisse des Denkens, Wollens und Handelns verstehen. In die Naturerkenntnis lässt sich zudem bei Hegel, wie bei Kant, nur eine vollständige systematische Ordnung bringen, ein System der Wissenschaften, wenn die Selbster11 Zu den folgenden Deutungen von Hegels Naturphilosophie und zum Verhältnis NaturGeist vgl. Siep, Ludwig: Natur und Freiheit. Hegelsche Perspektiven auf gegenwärtige Fragen, in: Freiheit, Internationaler Hegelkongress 2011, hrsg. von Axel Honneth und Gunnar Hindrichs, Frankfurt am Main, 2013, S. 55 – 83.
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kenntnis und das freie Wollen des Menschen als letzter Zweck der Natur verstanden werden. Wenn das so ist, dann haben auch die den sozialen Institutionen zugrunde liegenden Prinzipien, oder modern gesprochen „Werte“, der Gerechtigkeit, Freiheit usw. eine höhere Realität als die Zustände der materiellen Natur. Sie organisieren nicht nur soziale Verhältnisse sowie das Wollen und Handeln der Individuen, sondern auch die dafür verwandten natürlichen Materialien.12 Hegels Sicht auf die Natur als Antizipation geistiger Verhältnisse lässt ihn aber zugleich viel stärker als seine Vorgänger evaluative und normative Züge in der vor- und außermenschlichen Natur selber entdecken. Vor allem in der organischen Natur gibt es immanente Sollwerte, Fließgleichgewichte und teleonome Prozesse, um es ebenfalls in modernen Begriffen auszudrücken. Eine Auffassung der Natur als wertfrei ist eine Abstraktion, die allenfalls auf der Stufe des Anorganischen bedeutenden Erklärungswert besitzt. Es ist also nichts Erstaunliches, dass der Realität Werteigenschaften zukommen, die emotionale Anziehung und Abstoßung beim Menschen auslösen können. Normative Verpflichtungen enthalten natürliche Verhältnisse für den Menschen allerdings nicht. Verpflichtungen entstehen erst im sozialen Zusammenhang, unbewusst in vielen Teilen der Verhaltenskoordination, zunehmend bewusst in der darauf bezogenen sprachlichen Kommunikation. Was da konventionell gesetzt wird, ist aber nichts Beliebiges, nur Erfundenes. Wenn es sich um richtige Setzungen handelt, werden sie sowohl der natürlichen Konstitution wie der geistigen Bestimmung des Menschen zur Freiheit gerecht. Ich will diese Perspektive Hegels auf die gegenwärtige Metaethik hier nicht weiter verfolgen. Das Ergebnis einer solchen Ausarbeitung wäre nach meiner Auffassung eine Art kognitiver, non-naturaler moralischer Realismus13 – wobei die Schwierigkeit der Einordnung vielleicht auch einige Fragezeichen hinter der Vollständigkeit und Adäquatheit der gegenwärtigen metaethischen Kategorien begründen kann. Normen und Pflichten, die bei Hegel aus gerechtfertigten Sitten, Institutionen und den ihnen inhärenten Prinzipien folgen, haben sicher ein fundamentum in re. Diese Sache oder Wirklichkeit ist keine rein naturale, wenn Natur als „erste Natur“ im Sinne der Wissenschaften verstanden wird. Sie ist auch keine supranaturale im Sinne von Ideen oder Entitäten, die einem ontologisch von der raumzeitlich-materiellen Natur völlig getrennten Bereich angehören. Die praktischen Ideen müssen und können vielmehr für Hegel in dieser Natur verwirklicht werden. Über das, was in einer Einrichtung und einer Handlung dieser Verwirklichung entspricht, sind wahre Urteile möglich. 12
Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie (3. Aufl. 1830), § 248. Zu diesen Unterscheidungen in der modernen Metaethik vgl. Tarkian, Tatjana: Moralischer Realismus. Varianten und Probleme, in: Was ist wirklich? Neuere Beiträge zur Realismusdebatte in der Philosophie, hrsg. von Christoph Halbig und Christian Suhm, Frankfurt am Main, 2004, S. 299 – 336 sowie Halbig, Christoph: Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt am Main, 2007, bes. Kap. 4.6 und 4.7. 13
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Hegel einen moralischen Realisten zu nennen, fällt nur deshalb schwer, weil er die Moralität selber als eine bloß subjektive Perspektive auf das kritisiert, was erst als Sittlichkeit eigentliche Realität beanspruchen kann. Im folgenden Abschnitt möchte ich aber zeigen, dass darin kein moralischer Subjektivismus im Sinne der gegenwärtigen Ethik impliziert ist, sondern eine bestimmte Auffassung vom Verhältnis individueller Autonomie zu sozialen Gruppen, ihren Handlungssystemen, Normen und Institutionen. II. Allgemeine Ethik: Freiheit und soziale Identität Nicht weniger schwierig als die Einordnung Hegels in moderne metaethische Kategorien ist auch diejenige in die meist diskutierten Typen der allgemeinen Ethik: Deontologie, Konsequentialismus und Tugendethik.14 Es gibt für Hegel kategorische Pflichten, aber sie hängen von sozialen Rollen in Gruppen und Institutionen ab. Zu deren Beurteilung gehören aber durchaus Folgenbewertungen hinsichtlich der stabilen Erfüllung sozialer Funktionen. Das gilt nicht nur für die bürgerliche Gesellschaft und ihre Berufsstände, sondern auch für die Institutionen des Sozialstaates und die Verfassungsorgane. Die kompetente Teilnahme an der Erfüllung dieser Funktionen nennt Hegel Tugenden.15 Unbedingte Pflichten gibt es bei Hegel wie bei Kant gegenüber der Vernunft in uns. Sie haben aber bei ihm die konkrete Form der Pflichten zur Personalität sowie zur Vereinigung mit vernünftigen Institutionen, zumindest der Familie und dem Staat. Diese Pflichten sind zugleich Rechte: Jedermann hat das Recht, eine freie Rechtsperson zu sein, aber auch die Verpflichtung dazu.16 Das geht bei Hegel so weit, dass freiwillige Eigentumsgemeinschaften wie Klöster rechtswidrig sind.17 Damit begründet er das Recht des Staates zur Säkularisation ihrer Güter.18 Wie immer man solche Gütergemeinschaften heute rechtlich organisieren mag, für Hegel ist jedenfalls ein definitiver Verzicht auf das Recht, Eigentum zu erwerben und zu veräußern, rechts- und sittenwidrig – genauso wie der freiwillige Verzicht auf die persönliche Freiheit durch Selbstversklavung.
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Für eine zusammenfassende Diskussion dieser Ethik-Typen vgl. Quante, Allgemeine Ethik, S. 127 – 148. 15 Zu Hegels Pflichten und Tugendlehre vgl. Peperzak, Adriaan Th.: Hegels Pflichten und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 142 – 157), in: G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Ludwig Siep, Berlin 22005, S. 167 – 191. 16 Vgl. Rph §§ 36, 41. 17 Vgl. Rph § 46 (Anm. u. handschr. Randnotiz); GW 14.1, S. 57 f. 18 Vgl. den Zusatz zu § 46, TW 7, S. 110 sowie Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 1818 – 1831, Edition und Kommentar von Karl-Heinz Ilting, Dritter Band: Philosophie des Rechts, nach der Vorlesungsnachschrift von H. G. Hotho 1822/ 23. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1974. S. 212.
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Hegel sieht auch die übrigen weltlichen Pflichten, die an die Stelle der weltabgewandten Pflichten zu Armut, Keuschheit und Gehorsam getreten sind,19 als „heilig“ an: die Gründung einer Familie und die Vereinigung zu einer öffentlichen Rechtsgemeinschaft. Ob man auf die Gründung einer Familie verzichten kann, wenn man auf Sexualität und Fortpflanzung verzichtet, ist eine aus den Texten nicht leicht zu beantwortende Frage. Für Hegel ist es die „Bestimmung“ des „Mädchens“, Ehefrau zu werden und des Mannes, für die Erhaltung einer Familie und deren rechtliche Repräsentation zu sorgen.20 Wer darauf verzichtet, erfüllt eine menschliche Bestimmung nicht. Ähnlich steht es mit der Ergreifung eines Berufes bzw. einer Erwerbstätigkeit. Sicher sind nicht alle diese sittlichen Pflichten rechtlich erzwingbar, aber ihre Nichterfüllung kann missbilligt und damit indirekt sanktioniert werden. Die höchste Pflicht ist die, in einem souveränen Staat mit einer vernünftigen rechtlichen Verfassung zu leben. Darin erreicht das Individuum seine höchste Freiheit, sogar von seiner sterblichen Natur, denn es vereinigt sich darin mit einer notwendigen und unsterblichen Institution.21 Auf die Konsequenzen dieser Idee Hegels werden wir noch zu sprechen kommen. Die Erfüllung dieser Pflichten ist geboten, das sind die deontologischen Momente. Aber sie dienen auch dem Nutzen möglichst vieler Individuen. Der eigene Nutzen ist durchaus ein berechtigtes Motiv, sogar der Staatsloyalität.22 Der Nutzen bzw. das Wohl aller ist ein Kriterium für gute Handlungen, Handlungsregeln und Institutionen. Neben der Autonomie macht das Wohlergehen („Wohl“) das Hauptmoment der Moralität aus. Die Idee des Guten, so wie sie auch dem moralischen Individuum vorschwebt, enthält beides als Rechte.23 Diese Idee kommt aber, wie wir gesehen haben, nicht von innen und nicht aus der reinen Vernunft, sondern bezeichnet das Vernünftige an den historisch entstandenen und funktionierenden sozialen Einrichtungen. Die Familie ist vernünftig, weil sie die körperlichen, emotionalen und intellektuellen Bedürfnisse der Individuen erfüllt und sie zur Autonomie bildet. Die Berufsstände einer Marktgesellschaft sind deshalb vernünftig, weil sie den Mitgliedern stabile Lebenserhaltung nach eigenen Plänen, den Genuss der Ausübung eigener Kompetenzen und die soziale Anerkennung dafür ermöglichen. Auch für ihr Wohl bedürfen die Bürger einer staatlichen Organisation der Gewaltausübung, die neutral, 19
Vgl. Enz § 552; GW 20, S. 535. Vgl. dazu Hegels Randnotizen zu § 162 (TW 7, S. 311 – 313; Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in drei Teilbänden hrsg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg, 2009; GW 14, Band 2, S. 733 – 737). 21 Vgl. Rph §§ 258, 323, 324. 22 Vgl. Rph §§ 261, 268. 23 Das im Folgenden Zusammengefasste habe ich ausgeführt in Siep, Ludwig: Moralität und Sittlichkeit bei Hegel, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hrsg. von Reinhard Hiltscher und Stefan Klingner, Reihe Neue Wege der Forschung, Darmstadt, 2011, S. 211 – 232 sowie in Siep, Ludwig, Verfassung, Grundrechte und soziales Wohl in Hegels Philosophie des Rechts, in: Siep (Hrsg.): Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt am Main, 1992, bes. S. 285 – 306. 20
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gesetzlich und freiheitsachtend ist. Das ist der „konsequentialistische“ Aspekt der Hegelschen Konzeption. Der Nutzen bzw. das Wohl der Individuen ist aber bei Hegel viel mehr als Präferenzerfüllung oder Freude (pleasure). Zur sozialen Natur des Menschen gehört, dass er erst als anerkanntes Mitglied von Gruppen mit gemeinsamen Wertungen und Überzeugungen, „Wirklichkeit“ oder mit dem modernen Ausdruck gesagt stabile „Identität“ hat. Freiheit umfasst daher beides: einerseits die autonome Aneignung solcher Werte in der eigenen Überzeugung sowie das Recht auf ihre sozial wirksame Äußerung; andererseits den Verzicht auf bloße Meinungen gegenüber Gesetz und legitimer Autorität. Diese Prozesse können unbewusst und harmonisch, aber auch bewusst und in Auseinandersetzung zwischen eigenen und herrschenden Werten und Normen erfolgen. Am Ende dürfen die freien Bürger ihre Werte und Taten aber nicht als isolierte begreifen, sondern als Beiträge zu einem gemeinsamen Willen, der stabil institutionalisiert ist. Menschen können sich nur durch Beiträge zu konkreten Rechts- und Kulturgemeinschaften verwirklichen, erfüllen und ihre Bestimmung erreichen. Wie homogen oder pluralistisch solche Kulturen sein können und wie viel an Opfer sie von den Individuen verlangen können, wird noch zu erörtern sein. Hegels Konzeption von Moral und Sittlichkeit hat also Züge aller heute dominierenden Ethik-Typen. Das ist im Grunde nicht verwunderlich, weil Hegel aus einem Gesamtzusammenhang der Sittlichkeit die Dimensionen der Rechts-, Tugend- und Institutionenpflichten sowie die Beurteilung von Handlungen nach ihren Folgen für Wohl, Freiheit und Erfüllung begrifflich „ausdifferenziert“. Diese begriffliche Entfaltung entspricht einer – für Hegel ebenso notwendigen – historischen Ausdifferenzierung. In beiden Betrachtungsweisen dürfen dabei die Formen des Praktischen nicht von den theoretischen Überzeugungen getrennt werden. Urteile über gut und schlecht sind nicht unabhängig von solchen über wahr und falsch. Moralen hängen immer auch von Weltbildern ab. In der Regel sind sie eingelassen in umfassendere Deutungssysteme, Handlungsgewohnheiten und Sanktionen. Das umfassendste dieser Systeme ist die Religion. Und das Verhältnis von Religion zu Recht, Moral und Sittlichkeit in der ausdifferenzierten modernen Gesellschaft zeigt vielleicht am genauesten, wie individuelle Selbständigkeit und soziale Synthese gedacht und institutionalisiert werden müssen. Hegel vertritt in wesentlichen Hinsichten eine säkulare Moral-, Rechts- und Staatsauffassung. Die Rechtsphilosophie macht keinen Gebrauch von religiösen Prämissen. Moralisch gutes Handeln setzt eine gute Rechts- und Sittenordnung voraus, die an den Kriterien der Freiheit in allen ihren Aspekten gemessen werden kann. Der Handelnde muss sich nicht an einem höheren Gut orientieren, als es präsent ist in einem vernünftigen Staat und seinen Institutionen der Garantie des Rechts und der Beförderung des Wohls. Er muss nicht einen mit überweltlichen Fähigkeiten ausgestatteten Garanten endgültiger Gerechtigkeit annehmen, weder in Form der Hoffnung noch der Furcht. Gleichwohl gibt es bei Hegel eine unersetzbare religiöse Hal-
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tung bzw. Gesinnung, die im säkularen Staat zu ihrem Recht kommen muss, diesem aber auch seine letzte Stabilität gibt. Was kann das heißen, wenn Hegel die religiöse Gesinnung – selbst in einem säkularen Staat – als dessen „Grundlage“ bezeichnet?24 Gewiss hat er die Bedeutung der Religion für die Sittlichkeit in seinen Entwicklungsphasen unterschiedlich eingeschätzt. Konstant bleibt dabei aber die These, dass die Religion in zweifacher Hinsicht eine entscheidende Integrationsfunktion besitzt: Erstens stellt sie eine Werteund Überzeugungsgemeinschaft dar, die für das Zusammengehörigkeitsbewusstsein oder die soziale Identität eine kaum zu übertreffende Bedeutung hat. Zweitens sind die religiösen Überzeugungen und Motive für den Einzelnen das „tiefste integrierende Moment“. Religion ist daher zumindest im negativen Sinne faktisch die bedeutendste motivationale Kraft: Der Mensch muss nicht alles aus religiösen Gründen und Motiven tun, aber der Gläubige wird nichts gegen sie tun. Diese Einsicht, die nach Hegel in der Aufklärung und in den Revolutionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts immer wieder vergessen wurde – man könnte hinzufügen: auch in denen des 20. Jahrhunderts –, stellt eine entscheidende Herausforderung für den säkularen Staat dar. Er muss die Gewissensfreiheit und die Grundfreiheiten der Einzelnen, sowie die rationale Rechtsordnung des Staates gegen die Macht partikularer Kirchen verteidigen. Genauso gefährlich wie diese kann ihm der religiöse Fanatismus des Einzelnen und der spontanen religiösen Gruppen werden. Auf der anderen Seite muss er das Bedürfnis der Gläubigen ernst nehmen, in Übereinstimmung mit ihren religiösen Überzeugungen zu leben und zu handeln. Nur wenn sie das Bewusstsein haben, dass die Rechts-, Sitten und Institutionenordnung des Staates diesen Überzeugungen entspricht, werden sie eine stabile Staatsloyalität ausbilden. Die einzig hinreichend stabile Grundlage des Staates sind daher für Hegel Wertund Überzeugungsgemeinschaften, die inhaltlich mit den Prinzipien der Staatsverfassung übereinstimmen. Und das nicht nur im negativen Sinne der Vereinbarkeit, sondern im positiven Sinne, den gleichen Inhalt in verschiedener Form zu enthalten. Daher konzipiert Hegel eine Trias von Formen letzter Wahrheit: Die Religion in der Form der Vorstellungen, den Staat in der der Sitten und Institutionen und die Philosophie in Form der Wissenschaft. Diese ist auch in der Lage, die inhaltliche Übereinstimmung der drei Bereiche nachzuweisen. Aus dieser starken Voraussetzung zieht Hegel zwei Folgerungen: Erstens passen zu einem vernünftigen Staat der rechtlich geordneten Freiheit nur bestimmte Religionen, letztlich nach meiner Lesart nur das Christentum, in den letzten Schriften Hegels
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Zum Folgenden vgl. meine ausführlichere Darstellung in Siep, Ludwig: Ist Hegels Staat ein christlicher Staat?, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 93 – 114. Vgl. auch Jaeschke, Walter: Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat, in: Staat und Religion in Hegels Rechtsphilosophie, hrsg. von Andreas Arndt, Christian Iber und Günter Kruck, Berlin, 2009, S. 9 – 22.
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sogar nur das protestantische.25 Zweitens ist es eine „Pflicht“ des Staates „von allen seinen Angehörigen zu fordern, dass sie sich zu einer Kirchengemeinde halten“26 – „Kirchen“ im rechtlichen Sinne kennt aber nur das Christentum.27 Die Bürger haben also eine doppelte Zugehörigkeitspflicht: einmal zu einem stabilen Staat, dessen Selbsterhaltung unbedingter Endzweck ist, zum anderen sollen sie sich an eine Kirche „halten“, die eine für die Stabilität dieses Staates notwendige Stütze darstellt. Hegel mag Recht damit gehabt haben, dass nicht jede Religion mit einem freiheitlichen Rechtsstaat zusammenpasst – vermutlich auch damit, dass der Katholizismus des frühen 19. Jahrhunderts diesen Bedingungen nicht entsprach. Aber die Forderung einer inhaltlichen Übereinstimmung religiöser Wahrheiten mit Staatsgrundlagen, wie etwa der Trinitätslehre mit der Gewaltentrias, ist vor allem im Zeitalter des religiösen Pluralismus zu stark. Das Gleiche gilt für die Forderung an die Gläubigen, in den weltlichen Einrichtungen von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat eine säkulare Form ihrer eigenen religiösen Vorstellungen zu sehen – eine „Verweltlichung“ des Göttlichen im positiven Sinne.28 In der religiös-pluralen und pluralistischen Gesellschaft werden eine neutrale Moral und eine von religiösen Prämissen freie Rechtsordnung nur im Sinne eines – mit John Rawls gesprochen – „überlappenden Konsenses“ möglich sein.29 Auf Menschenrechte und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit muss man sich einigen, auch wenn jeder dafür andere Begründungen vorbringt bzw. akzeptiert, oder allenfalls solche aus übereinstimmenden historischen Erfahrungen. Man muss allerdings wechselseitig für möglich halten, dass jeder aus guten Gründen und Motiven moralisch sein und Rechte respektieren kann – auch wenn man selber über bessere zu verfügen glaubt. Menschenwürde etwa kann man mit guten und besseren Argumenten begründen – für den Christen sind Überzeugungen, dass der Mensch von Gott nach seinem Bild geschaffen und geliebt ist, oder sein Leben zumindest als göttliche Gabe 25 So in der Enzyklopädie von 1830 im § 552 (TW 10, 356; GW 20, 532 f.) und in den späten Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie (V 18, 173). Für Walter Jaeschke gilt, dass die Gesinnung „zwar religiös sein kann und oft auch sein wird, aber nicht sein muß. Vgl. Jaeschke, Walter/Arndt, Andreas: Die klassische deutsche Philosophie nach Kant, München, 2012, S. 656. Dann kann aber auch die Kirchenzugehörigkeit keine staatliche Pflicht sein. Vgl. dazu auch meinen Text Siep, Ludwig: Freiheit, soziale Identität und Natur in Hegels praktischer Philosophie (erscheint in den Akten der Leipziger Tagung Normativität und Institutionen im Jahre 2012 unter dem Titel: Normativität und Autonomie). 26 Rph § 270. 27 Für eine andere Auslegung dieser Stelle plädiert Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München, 2012, S. 465 – 474. 28 Auch diese These findet sich in § 552 der Enzyklopädie von 1830. Die Philosophie vollendet nach Hegel die Wende der Reformation, das Göttliche in der Sittlichkeit von Familie und Staat zu finden. Sie „befreit“ geradezu das Göttliche von seiner Weltabgeschiedenheit (GW 20, S. 535). 29 Zur Theorie des überlappenden Konsenses (overlapping consensus) vgl. Rawls, John: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von John Rawls, Frankfurt am Main, 1992, S. 293 – 332.
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verstehen muss,30 die besseren Gründe. Aber die noch oft geäußerten Thesen, dass es keine Moral ohne Gott geben kann oder Atheisten zum begründeten Respekt vor der Menschenwürde nicht fähig sind, bleiben inakzeptabel in einem pluralistischen Rechtsstaat. III. Angewandte Ethik: Geist und Natur Hegels Verhältnis zur modernen Ethik wäre unvollständig bestimmt, wenn nicht ein paar Worte zur angewandten Ethik gesagt würden. „Angewandte“, praktische oder konkrete Ethik hat es vor allem mit der Erarbeitung von Stellungnahmen zu ethischen Problemen der modernen technologischen Gesellschaft zu tun. Diese entstehen generell durch den enorm erweiterten Handlungsspielraum des Menschen in Bezug auf die Natur, sowohl die „innere“ des menschlichen Körpers wie die äußere, vor allem die lebendige Natur. Hegel kennt diese Probleme zum großen Teil noch nicht.31 Will man seine Vorstellungen von Sittlichkeit daher in ein sinnvolles Verhältnis zur angewandten Ethik bringen, so kann man das nur in Bezug auf einige allgemeine Gemeinsamkeiten. Die erste Gemeinsamkeit scheint mir die zu sein, dass es bei Hegel wie in der modernen angewandten Ethik nicht primär um kultur- und kontextunabhängige Kriterien für Individualentscheidungen geht. Die moralischen Urteile von und über Individuen sind vielmehr weitestgehend abhängig von gesellschaftlichen Lagen und Optionen. Beide stehen in gewisser Weise – mit Raymond Geuss gesprochen – „outside ethics“,32 es geht in ihnen nicht, oder nur indirekt, um moralische Prinzipien für individuell richtiges Handeln. Wie die moderne angewandte Ethik, vor allem die interdisziplinär betriebene und in Ethik-Kommissionen konkretisierte, trennt Hegel die Ethik nicht vom Recht und von den Gegenständen der Sozialwissenschaften. Die Philosophie des objektiven Geistes ist ja auch keine rein normative Wissenschaft, sondern bezieht die faktischen Bedingungen für die Stabilität von Institutionen und die Verlässlichkeit von Motiven und Interessen mit ein. Damit steht sie freilich auch in der Tradition der vorkantischen praktischen Philosophie, für die Ethik ein Teil der Politik war und diese es wesentlich mit Stabilitätsbedingungen von Verfassungen zu tun hatte. Die zweite Übereinstimmung besteht darin, dass auch für Hegel Freiheit und Sitten in essentieller Weise auf die Natur bezogen sind, die innere wie die äußere. Für 30 Diese Deutung der christlichen Begründung der Menschenwürde findet sich bei Joas, Hans: Die Sakralität der Person, Frankfurt am Main, 2011, S. 204 – 250. 31 Vgl. zum Folgenden auch Quante, Michael: Hegel und die biomedizinische Ethik, in: Hegel und die Lebenswissenschaften, hrsg. von Olaf Breidbach und Dietrich von Engelhardt, Berlin, 2002, S. 261 – 275, sowie Siep, Ludwig: Hegel und die Bioethik, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 279 – 292. 32 Geuss, Raymond: Outside Ethics, Princeton, 2005.
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Hegel ist das Verhältnis des freien Willens – sowohl des individuellen wie des kollektiven, institutionell verfassten – zur Natur ein dreifaches: ein Verhältnis erstens der Anverwandlung, zweitens des Bruches mit dem Natürlichen und drittens der Versittlichung des Natürlichen. Das hat mit dem Grundbegriff der Natur als „Anderssein“ und „Außersichsein“ des Geistes zu tun, der Folgen für das ganze System hat.33 Vor allem der erste Aspekt der Anverwandlung hat eine erhebliche Nähe zu postindustriellen Auffassungsweisen einer „weichen“, naturangepassten Technik. Was das Verhältnis zur inneren Natur des Menschen angeht, ist Hegel ebenfalls gegenüber dem neuzeitlichen Dualismus cartesischer Provenienz der („anti-cartesianischen“) Gegenwart näher: In seiner Anthropologie entwickelt er eine Psychosomatik, die Freiheit nicht als Beherrschung und Unterdrückung, sondern als Integration körperlicher und psychischer Kräfte versteht. Ziel ist ein von pathologischen Störungen und Hemmungen freies bei sich selbst Sein im Körper. Die zweite Stufe des Verhältnisses ist dagegen eine souveräne Befreiung des Willens von natürlichen Abhängigkeiten: Die Gewöhnung des Körpers an Techniken und Rollen befreit von natürlichen Bedürfnissen. Verfeinerung, Multiplikation und die Erzeugung künstlicher Bedürfnisse für den Markt schwächen die natürlichen Bedürfnisse. Die Freiheit des Willens von jedem natürlichen Zweck vollendet sich in der Unterordnung der Neigungen unter soziale Pflichten bis zum Selbstopfer. Sicher trägt Hegel hier den emanzipativen Wirkungen der kulturellen und technischen Naturbeherrschung Rechnung. Während er bei der Beherrschung der inneren Natur aber die Gefahren sieht, die von einer unterdrückten Natur für die psychische Gesundheit ausgeht, ist ein Rückschlag der äußeren Natur gegen den technischen Willen offenbar für ihn noch unvorstellbar. Vor allem aber ist eine Rücknahme des menschlichen Herrschaftsstrebens und eine Integration in ein in sich zweckund wertvolles Naturganzes für ihn nicht denkbar, weil er in der Natur – letztlich wie Kant – keine wirklichen Selbstzwecke erkennen kann. Mit dieser Souveränität gegenüber der Natur kontrastiert aber auf der dritten Stufe, der Versittlichung der Natur, eine indirekte Abhängigkeit. Die natürlichen Unterschiede, vor allem die geographischen, aber auch die der Geschlechter und der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, verlieren darin ihre Äußerlichkeit. Im objektiven Geist erhalten natürliche Verhältnisse sogar noch sittliche Bedeutung und begriffliche Notwendigkeit. Die Unterschiede der Geschlechter werden „vergeistigt“ durch die unterschiedliche Rolle, die sie in der Familie spielen. Die natürlichen Bedürfnisse und ausgebildeten Fähigkeiten lassen es nach Hegel zu, die ökonomische und politische Gesellschaft nach Ständen zu organisieren. Daraus ergeben sich erhebliche Standesunterschiede in verschiedenen Rechtsbereichen, vor allem dem Strafprozessrecht34 und den politischen Mitwirkungsrechten.35 Dass der Einzelne 33
Vgl. zum Folgenden meine o. in Anm. 11 (Natur und Freiheit) und 25 (Freiheit, soziale Identität und Natur) genannten Aufsätze. 34 Ich denke an Hegels Ausführungen in § 228 der „Grundlinien“, die das Zutrauen in die „Subjektivität der Entscheidungen“ im Gericht auf die „Gleichheit der Partei mit denselben
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sich durch Begabung und Bildung von seiner ursprünglichen Standeszugehörigkeit lösen kann, steht dem nicht entgegen. Sogar von einer Verwandlung der natürlichen Sterblichkeit der Individuen durch den sittlich gewollten Tod im Krieg ist die Rede – nicht nur zur Verteidigung der Rechte der Bürger, sondern zur Manifestation und Bewusstwerdung der „wirklichen Unendlichkeit“ des Staates und seiner „absoluten Macht gegen alles Einzelne und Besondere, gegen das Leben, Eigentum und dessen Rechte“.36 Zu den sittlichen Bedeutungen natürlicher Unterschiede gehören schließlich auch die geographische und klimatische Prägung der Völker, von der ihre kulturelle Entwicklungsfähigkeit abhängt – bis zu den Religionen, die sie hervorbringen können – und ihre Rolle in der Geschichte.37 Die moderne technische und politische Entwicklung hat den natürlichen Unterschieden dagegen erheblich mehr von ihrer Bedeutung genommen. Selbst die Fortpflanzung könnte bald von Geschlechtsunterschieden unabhängig sein.38 Das hat dem Einzelnen einen erheblichen Zuwachs an Unabhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten des Körpers oder der Rasse beschert. Wie weit sie getrieben werden soll, ob auch die biotechnische Verbesserung freigestellt oder gar gefördert werden soll, ist ein wichtiges Thema der angewandten Ethik. Die durchgreifenden alltäglichen Formen der Technik machen es aber auch nötig, dass die politische Mitbestimmung des Einzelnen nicht an die Kompetenzen seines Standes und seiner korporativen Vertretung gebunden sein kann. Im Zeitalter der Informationstechnologien kann ohnehin fast jeder sich alle Informationen selber besorgen, die für die Urteilsbildung nötig sind. Was für Konsequenzen haben wir aus den Stärken und Schwächen der Hegelschen Sittlichkeitslehre zu ziehen? Hegels Integration der Moral in eine Gesamtauffassung der sozialen, politischen und religiösen Existenz des Menschen scheint mir ein wichtiges Korrektiv der modernen Individualethik zu sein. In seinem Freiheitsbegriff können aber die Momente der Vereinigung als Selbstzweck und der Versittlichung der (sc. den Entscheidenden) nach ihrer Besonderheit, dem Stande“ gründen. Daraus folgt freilich nicht nur eine Standesgerichtsbarkeit, sondern auch das Recht der unteren Stände, „mit ihrem eigenen Wissen“ den Richterspruch und seine Grundlagen zu verstehen, statt ihn nur „als äußeres Schicksal“ hinnehmen zu müssen. 35 Diese sind beim Bauernstand nur indirekt durch die ihn vertretenden Grundherren in der ersten Kammer gegeben, beim Gewerbestand vermittelt durch die von den Korporationen ernannten und vom Monarchen „aufgerufenen“ Abordnungen in der Ständeversammlung (mit deutlich vor-parlamentarischen Befugnissen). Viel direkter ist zweifellos die politische Mitwirkung des „Standes der Allgemeinheit“, der Staatsbeamten in Regierung und Gesetzgebung. 36 Rph § 321. 37 Vgl. dazu Zongo, Alain C. : L’oubli hégélien de l’Afrique. Entre le paradigme de rejet et le malheur du narcissme, in: Hegel-Studien, Bd. 46, S. 65 – 77, sowie Siep, Ludwig: Toleranz und Anerkennung bei Kant und im Deutschen Idealismus, in: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, hrsg. von Ludwig Siep, München, 2010, S. 77 – 91. 38 Etwa über die Erzeugung von Keimzellen beider Geschlechter aus den reprogrammierten Stammzellen eines Menschen.
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Natur heute nicht mehr überzeugen. Befreiung von natürlicher Abhängigkeit darf nicht zur Überhöhung natürlicher Unterschiede führen. Die Lösung von ihnen ist vereinbar mit der Integration in eine Natur, die zugleich Potential der Freiheit und selbständiges Gegenüber des Willens bleibt. Die Bedeutung der Freiheit als selbstüberschreitende Vereinigung muss abgeschwächt werden zugunsten einer größeren Distanz und Wahlfreiheit der Individuen sowohl gegenüber dem Staat wie der Religion. Vielleicht kann Hegels weiter Begriff von „Verfassung“, der soziale und politische Kultur umfasst, Grundlage eines Verfassungspatriotismus sein, der die partikularen religiösen Identitäten nicht ersetzt, ihnen aber sozusagen eine Stelle in einer rechtlich-politischen Rahmenkultur einräumt. Das kann aber keine religiös oder national gefärbte Leitkultur sein. Es genügt, wie zuletzt sogar Böckenförde einräumte,39 die Loyalität zu den Prinzipien, Prozeduren und Mentalitäten der grundrechtlichen Autonomie, der Rechtsstaatlichkeit und der solidarischen Verpflichtung auf das Wohl aller. Diese Kultur muss nicht mit den absoluten Wahrheiten einer Religion übereinstimmen und sie muss auch nicht von der Philosophie in Form eines wissenschaftlichen Systems begründbar sein, das die Stringenz eines durchgehenden logischen Beweisganges besitzt. Hegel hat in der „Phänomenologie des Geistes“ ein Modell historischer Erfahrung entwickelt, das heute von seinem logisch-metaphysischen Hintergrund gelöst werden kann. Wir machen mit den internen Spannungen und mit den sozialen Folgen eines Werte-, Normen- und Institutionensystems Erfahrungen, die nicht nur zu gesetzgeberischen Korrekturen, sondern auch zu grundsätzlichen Umbrüchen führen können. In solchen Umbrüchen ist auch Hegels für endgültig vernünftig gehaltene Verfassung der konstitutionellen Monarchie inzwischen einer parlamentarischen Demokratie gewichen, die Raum für viel größere individuelle Freiheiten und robustere rechtsstaatliche Prozeduren enthält. Die Kämpfe um Anerkennung, die Hegel im Wesentlichen einer vorstaatlichen Stufe zugeordnet hat, werden weiterhin, wenn auch gewaltlos, von sozialen und ethnischen Gruppen ausgefochten40 und lassen sich von einer im Wesentlichen berufsständisch organisierten Gesellschaft nicht mehr still stellen. Es wären noch viele derartige Umbrüche aufzuzählen, die keiner notwendigen Entwicklung der Vernunft in der Geschichte folgen und daher auch keine systematisch-logische Rekonstruktion mehr zulassen. Grundlegende historische Erfahrungen, die wir zur Begründung etwa der Menschenrechte, des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung in Anspruch nehmen können, müssen zwar möglichst prinzipiell „in Gedanken erfaßt“ werden. Zu dieser Begründung gehört Hegels Freiheitsbegriff mit den angedeuteten Korrekturen. Soziale Entwicklungen, Normen und Institutionen sind aber auch daran zu messen, was sie 39 Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 20. Jahrhundert, Themenband 86 der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München, 2007. 40 Vgl. dazu Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main, 1992.
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den Menschen und der Natur an Entfaltungs-, Gedeihens- und Gerechtigkeitsperspektiven eröffnen. Man kann das zusammenfassen in einer Konzeption des Guten als Idee eines erstrebenswerten Kosmos.41 Aber das ist eine andere Geschichte.
41
Vgl. Siep, Ludwig: Konkrete Ethik, Frankfurt am Main, 2004.
Autorenverzeichnis Jens Bonnemann, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut fu¨ r Philosophie der Friedrich-Schiller-Universita¨ t Jena. Andreas Gelhard, Dr. phil., Wissenschaftlicher Leiter des Forums interdisziplinärer Forschung und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Vittorio Hösle, Prof. Dr., Paul G. Kimball Professor des College of Arts and Letters an der University of Notre Dame, Gründer und Direktor des Notre Dame Intitute for Advanced Study. Frank Ruda, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Georg Sans, Prof. Dr., Professor für Geschichte der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Ludwig Siep, Prof. Dr., Professor em. für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Senior Professoram Exzellenzcluster „Religion und Politik“ und der DFG-Kollegforschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Universität Münster. Klaus Vieweg, Prof. Dr., Professor für Philosophie am Institut für Philosophie an der FriedrichSchiller-Universita¨ t Jena. Tilo Wesche, PD Dr. phil., Professurvertretungen in Freiburg, Basel, Jena und Frankfurt am Main. Slavoj Zˇ izˇek, Prof. Dr., Professor am Department of Philosophy an der Universität Ljubljana, Professor der European Graduate School.