150 69 1MB
German Pages 192 [186] Year 2012
TSEG Reihe b/4 ISBN 978-3-402-15989-7
Schwaetzer/Vannier (Hrsg.) • Zum Intellektverständnis
Der Intellektbegriff im Übergang zwischen Mittelalter und früher Neuzeit ist von einer systematischen Tragweite, die sowohl das umfasst, was man Mystik zu nennen gewohnt ist, wie auch den Bereich, welcher als Vorläufer der modernen Naturwissenschaft bezeichnet wird. An der Entwicklung des Intellektverständnisses von Meister Eckhart zu Nikolaus von Kues wird deutlich, dass aufgrund des Intellekts Mystik keine Spiritualität ohne Rationalität ist und Naturwissenschaft sich nicht auf die rationale oder mathematische Verarbeitung quantitativer Phänomene beschränken muss. Zudem ist es für Eckhart und Cusanus der Intellekt, welcher es dem Menschen ermöglicht, sich in Freiheit selbst zu konstituieren. Die Beiträge des Bandes zeigen die Bedeutung des Intellektverständnisses der beiden Denker für Vorbereitung und Ausbildung der Anthropologie und des Wissenschaftsverständnisses der frühen Neuzeit.
Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte reihe b • band 4
Zum Intellektverständnis von Meister Eckhart und Nikolaus von Kues Herausgegeben von Harald Schwaetzer und Marie-Anne Vannier
I Zum Intellektverständnis bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues
II
TEXTE UND STUDIEN ZUR EUROPÄISCHEN GEISTESGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON JOHANN KREUZER, KLAUS REINHARDT UND HARALD SCHWAETZER REIHE B BAND 4
III
Zum Intellektverständnis von Meister Eckhart und Nikolaus von Kues
Herausgegeben von Harald Schwaetzer und Marie-Anne Vannier
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© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster, 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier oo ISBN 978-3-402-15989-7
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort .................................................................................................................. 7 Harald Schwaetzer Zum Intellektverständnis bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues ................... 9 Harald Schwaetzer
Augustinus’ Frage nach der Zeit ............................................................................ 17 Johann Kreuzer
Intellekt bei Meister Eckhart ................................................................................. 39 Marie-Anne Vannier Der Intellekt in den lateinischen Predigten Meister Eckharts ................................ 49 Jean Devriendt Die Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart ................................................... 65 Maxime Mauriège Cognitio et amor. Interpretation im Gleichnis: Eckharts Auslegung von Johannes 20, 3-8 ............................................................. 81 Yves Meessen Die problematische Natur des Intellekts bei Meister Eckhart: ungeschaffen und ungeschöpflich? ........................................................................ 93 Isabelle Raviolo
Der Intellekt als Künstler. Geist als Ichlichkeit bei Nikolaus von Kues ................ 107 Harald Schwaetzer Die Blindheit des Verstandes und die Sehkraft des Intellektes ............................. 117 Jean-Marie Nicolle Der Technikbegriff des Nikolaus von Kues und seine Bedeutung für die Gegenwart .............................................................. 123 Jürgen H. Franz
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Inhaltsverzeichnis
Die Auffassung der Mathematik bei Cusanus und das daraus entstehende Gewissheitsproblem ................................................. 157 Cecilia Rusconi Der Begriff des Intellektes in Sermo CLXXXVII „Spiritus autem Paraclitus“ (Jo 14,26) ................................................................. 169 Klaus Reinhardt Warum Cusanus zufolge der Intellekt Hilfe braucht ........................................... 177 Jean-Claude Lagarrigue
Vorwort Der vorliegende Band versammelt die Beiträge eines Kolloquiums zu dem Thema „Das Intellektverständnis bei Meister Eckhart und bei Nikolaus von Kues‘‘. Es fand am 9. und 10. Februar 2011 in Metz statt. Es wurde verantwortlich von Frau Prof. Dr. Marie-Anne Vannier organisiert und durchgeführt. Ihr und ihren Mitarbeitern gilt ein sehr herzlicher Dank für die wie stets wunderbare Ausrichtung der Tagung. Dem mit diesem Band dokumentierten Kolloquium ging eines, in der gleichen Buchreihe publiziertes, über den Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nicolaus Cusanus voraus. Gefolgt wird es von einem weiteren zum Bildbegriff bei beiden Denkern. Diese Trias hat die Maison des sciences de l’homme Lorraine, die das Projekt finanziell unterstützt, bereits nach zwei Tagungen um eine weitere verlängert, so dass sich ein viertes, den Themenkomplex von Subjekt, Intellekt und Bild im Ganzen angehendes Kolloquium 2013 anschließen wird. Dieses wird wie auch dasjenige zum Bildbegriff gleichfalls in schriftlicher Form vorgelegt werden. Das Projekt „Subjekt, Intellekt und Bild bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues“ wird von Marie-Anne Vannier (Universität Metz) und von Harald Schwaetzer (Alanus Hochschule, Alfter) verantwortet. Die Kolloquien finden in Metz unter der Leitung von Marie-Anne Vannier statt; federführend für die Publikation ist Harald Schwaetzer. Das Projekt ist Teil eines größeren Vorhabens, zu dem die Realisation einer Enzyklopädie zur Rheinischen Mystik und Cusanus gehört, deren französische Fassung Ende 2011 auf einer Tagung in Paris vorgestellt worden ist; eine weitere Tagung im April 2012 in Bernkastel-Kues wird ihr gewidmet sein. Dem Verlag CERF gebührt Dank für die Realisierung des Vorhabens. An dem Projekt der Enzyklopädie ist auch das Institut für Cusanus-Forschung mit seinem emeritierten Direktor Prof. Dr. Klaus Reinhardt und seinem gegenwärtigen Leiter Prof. Dr. Walter Andreas Euler verantwortlich beteiligt. Involviert ist ferner die Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte mit ihrem Geschäftsführer Dr. Matthias Vollet sowie die an ihr angesiedelte Gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung der Alanus Hochschule und der Universitäten von Mainz, Oldenburg und Trier. Ein besonderer Dank geht an Dr. Tom Müller von der Kueser Akademie für seine Übersetzung der Beiträge von Jean-Marie Nicolle und Jean-Claude Lagarrigue. Für redaktionelle Unterstützung sei Frau Jenny Detro, M.A. gedankt. Ein weiterer Dank geht an Herrn Dr. Dirk Paßmann vom Aschendorff Verlag. Alfter, im März 2012 Harald Schwaetzer
HARALD SCHWAETZER
Zum Intellektverständnis bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues Inzwischen ist die Ansicht, es habe vor Kant noch keine Transzendentalphilosophie gegeben, einer angemesseneren Würdigung der Philosophie des Spätmittelalters und 1 der frühen Neuzeit gewichen; auch ist die innere Differenziertheit der verschiedenen Positionen des Spätmittelalters innerhalb einer transzendentalen Position deutlicher geworden. Dabei ist die Spanne zwischen nominalistischen Konzepten und den Ideen der Rheinischen Mystik beträchtlich. Insbesondere die Mystik steht unter dem Verdacht, dass sie keineswegs auf der Höhe der transzendentalen Reflexion sei. In dieser Debatte kommt häufig der vielleicht markanteste Zug dieser Strömung zu kurz. Betont man, dass das Denken Eckharts und anderer mystisch sei, so meint man damit zwar keinen unmittelbaren Gegensatz zum Intellekt, aber man zielt doch sehr leicht auf eine Dimension, welche denselben übersteigt. Man spielt dann den „lebemeister“ gegen den „lesemeister“ aus. Aber auch das Umgekehrte kann der Fall sein: Gerade eine Verteidigung der Transzendentalität des mystischen Erkennens kann über das Ziel hinausschießen und es 2 zu einer rein intellektuellen Angelegenheit werden lassen. Was in der Strömung von Eckhart von Hochheim bis Nikolaus von Kues auf dem Spiele steht, dürfte beides umfassen. Man kann es, ausgehend von der Frage nach dem Intellektverständnis, mit einem Ausdruck, den Heinrich Barth für seine Philosophie prägte, „transzendentale Transzendenz“ nennen. Das Intellektverständnis in dieser Strömung zielt ganz wesentlich darauf, die transzendentale Reflexion als Mittel eines 3 4 anagogischen Weges zur Transzendenz zu begreifen. Mystik ist Tat. Aber diese Praxis 5 ist zugleich eine Theorie. Das Zusammengehen von theoretischer und praktischer Philosophie als einem reflektierten intellektuellen Übungsweg auf Transzendenz hin ist ein wesentlicher Grundzug im Denken von Eckhart und Cusanus. Der Zusammenfall von Theorie und Praxis im Intellektverständnis zieht nach sich, dass auch Intellekt und Subjekt auf diese Weise miteinander verbunden sind. Haas hat in diesem Sinne Meister Eckharts Analyse der Selbsterkenntnis „das wohl 6 radikalste Zeugnis christlicher Introversionsmystik“ genannt. Im Kern geht es einem solchen Intellektverständnis bei Eckart und Cusanus um die Möglichkeit einer „in7 tellektuellen Selbsterkenntnis als Anähnlichung an Gott“. Damit steht die Frage 1
Vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten von Aertsen sowie den ihm dedizierten Band: Pickavé (Hg.): Die Logik des Transzendentalen. 2 Zum Versuch einer ausgewogenen Bestimmung vgl. z.B. Mieth: Meister Eckhart, 78ff. (3. Lese- und Lebensmeister zugleich). 3 Eine „mystische“ Betrachtung würde denselben Gedanken als Frage nach der Gottesgeburt in der menschlichen Seele thematisieren, vgl. Vannier (Hg.): La naissance. 4 Vgl. Haas: Meister Eckhart als normative Gestalt, 70ff. 5 Vgl. Bocken: Imitatio und cratio. 6 Vgl. Haas: Nim din selbes war, 15. 7 Vgl. Mandrella: Intellektuelle Selbsterkenntnis.
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Harald Schwaetzer
nach dem Intellektverständnis als einem Weg der Seele in einer wesentlich durch Augustinus bestimmten Tradition; insbesondere ist es die Idee der „speculatio“ bzw. 8 des „speculum“, die hier bestimmend ist. Die Idee eines „lebendigen Spiegels“, der sich selbst begradigen und reinigen kann, dessen intellektuelle und moralische 9 Selbstveränderung maßgeblichen Einfluss auf die Möglichkeiten des Erkennens hat, führt zu einer methodischen gewendeten aenigmatischen Erkenntnispraxis, die durch 10 die Entwicklung einer visio intellectualis bestimmt ist. Die visio intellectualis ist ein aenigmatisches Bild; sie ist Verwirklichung des Bildseins des menschlichen Geistes selbst. Insofern sind die drei Problemkreise von Subjekt, Intellekt und Bild unlöslich ineinander verschränkt. Akzentuiert man sie von Seiten des Intellektes aus, so wird als Fragestellung deutlich, wie ein transzendentales Verständnis des Intellekts in Rückbindung an das endliche Bewusstsein mit einem zugleich transzendenten in Verbindung gebracht werden kann. Auf einen Punkt gebracht: der Intellekt ist für Meister Eckhart wie für Cusanus ein Vermögen der 11 Engel. Er ist aber zugleich ein Vermögen des endlichen Bewusstseins. Im Sinne des transzendentalen Ansatzes bildet das letztere den unumgänglichen und unhintergehbaren Ausgangspunkt der Theorie wie der Praxis. Wie kann aber unter dieser Voraussetzung ein transzendentes Intellekt-Konzept eingeholt werden? Von seiner praktischen Seite der Intellektentwicklung her kann man bei Cusanus von einem intellektuell-meditativen Weg sprechen, durch den die Seele sich selbst so verwandelt, dass eine reine Intellekttätigkeit, für welche die Seele wohl Genesebedeutung, aber keine 12 Geltungsrelevanz besitzt, möglich wird. Marie-Anne Vannier hat in ihrem Beitrag in dem ersten Band dieses Projektes „Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues“ auf eine für das Verständnis des Intellekts im Verhältnis zur Seele zentrale Stelle bei Eckhart hinge13 wiesen. Es handelt sich um die zweite Pariser Quaestio. Dort heißt es: „Wenn das Erkenntnisbild etwa ein Seiendes ist, so ist es ein Akzidens; denn es ist nicht Substanz. Nun ist aber das Erkenntnisbild kein Akzidens, weil das Akzidens ein Subjekt hat, welches ihm das Sein gibt. Das Erkenntnisbild aber hat ein Objekt und kein Subjekt, weil Ort und Subjekt etwas Verschiedenes sind. Nun ist das Erkenntnisbild in der Seele nicht als seinem Subjekt, sondern als seinem Ort. Denn die Seele ist der Ort der Erkenntnisbilder, das heißt nicht die Seele als Ganzes, sondern der Intellekt. Es steht aber fest, daß, wenn das Erkenntnisbild überhaupt ein Subjekt hätte, nur die Seele dieses 14 Subjekt sein könnte. Daher ist das Erkenntnisbild kein Seiendes.“ 8
Vgl. Kreuzer: Der Geist als lebendiger Spiegel. Ders.: Der Geist als imago Dei. Vgl. Schwaetzer: Viva imago Dei; Mandrella: Viva imago. 10 Vgl. Schwaetzer: Die intellektuelle Anschauung; ders.: Die methodische Begründung. 11 Vgl. Schwaetzer: „Motus intellectualis, qui est motus angelicus“. 12 Vgl. Schwaetzer: Spiritualisierung des Intellekts. 13 Vgl. Vannier: Eckhart und die Frage nach dem Subjekt, 18f. 14 Magister Echardus: Quaestio Parisiensis II n.5 (LW V, p. 51): „Si species sit ens, est accidens; non enim est substantia. Sed species non est accidens, quia accidens habet subiectum, a quo habet esse. Species autem habet obiectum et non subiectum, quia differunt locus et su9
Zum Intellektverständnis bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues
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In der Passage fällt der Einschub auf: „Es steht aber fest, daß, wenn das Erkenntnisbild überhaupt ein Subjekt hätte, nur die Seele dieses Subjekt sein könnte“. Er wäre für die Argumentation unnötig. Das folgende „Daher“ des letzten Satzes bezieht sich 15 nicht auf ihn, sondern auf den Satz zuvor. Eine Idee ist ihrem Wesen nach für Eckhart objektbezogenen. Die Seele ist nicht Subjekt, sondern Ort, an dem sie sich ausspricht. Wäre die Idee nicht ganz und gar von ihrem Objekt her konstituiert, so wäre nicht gewährleistet, dass sie ihm adäquat ist. Ideen sind also nichts weniger als subjektive Gebilde. Diese Position erinnert an ältere Standpunkte wie etwa denjenigen Eriugenas. Die Zufügung lautet, dass, wenn es ein Subjekt gäbe, dieses die Seele wäre. Daran ist zunächst bedeutsam, dass das Subjekt der Ideen nicht mehr Gott oder das Eine ist – das ist eine deutliche Änderung gegenüber dem Neuplatonismus. Nikolaus von Kues wird sie einlösen, wenn er den menschlichen Geist als denjenigen bestimmt, der die Begriffe erschafft. Weiter und entscheidender für die vorliegende Fragestellung ist die folgende Perspektive: Wenn es denkbar wäre, dass die Seele Subjekt der Ideen wäre, dann müsste das so geschehen, als wäre sie nur Ort der Ideen. Denn würde die Seele Ideen subjektiv erzeugen, bestünde die Gefahr, dass der Objektbezug der Idee verloren ginge. In dem Fall aber wäre die Idee keine Idee mehr. Die Seele muss also die Begriffe so hervorbringen, dass sie selbst sich in einem geltungsrelevanten Sinne nicht einmischt, sondern nur den Denkvorgang als Genese zur Verfügung stellt. Subjektivität wird also in einem solchen Falle erforderlich, weil die Seele und nur sie die Tätigkeit ausüben kann, die zur Erzeugung von Ideen führt. Diese bei Eckhart nur im Konjunktiv angedachte Lösung wird Nikolaus in den Indikativ überführen. Damit konturiert sich aber auch der Weg, den die Reflexion des Verhältnisses von Intellekt und Subjekt nimmt. Eckhart wie Cusanus geht es darum, zu zeigen, wie der Intellekt nicht nur transzendentes Vermögen eines Engels ist, sondern durchaus ein persönliches des jeweiligen menschlichen Subjektes. Doch nehmen beide dazu die alte Idee der „Reinigung“ als erste Stufe auf dem mystischen Weg auf. Diese Reinigung bezieht sich bei ihnen auf die Klärung zwischen der Vorstellung und dem Begriff. Zur Erkenntnis, so Nikolaus in De mente, bedarf es der Anregung durch die Sinne. Aufgrund dieser Anregung wird das Denken tätig. Der von ihm gebildete Begriff geht in die Wahrnehmung, und das erkannte Gebilde aus Wahrnehmung und Begriff wird bewusst. Damit ist aber nicht der Begriff selbst geschaut, sondern er wird nur in seiner Verbindung mit der Wahrnehmung erfahren. Das Ziel der cusanischen Reinigung mit Blick auf eine visio intellectualis besteht deswegen darin, zur Schau des biectum. Species autem est in anima non sicut in subiecto, sed sicut in loco. Anima enim est locus specierum, non tota, sed intellectus. Constat autem, si haberet subiectum species, quod anima esset eius subiectum. Quare species non est ens.“ Zu: „Anima enim est locus specierum, non tota, sed intellectus“ vgl. Aristoteles: De anima III c.4 (429a 27). Der Begriff des Seins wird in dieser Passage im Sinne der ersten Kategorie bzw. des Verhältnispaares Substanz – Akzidenz gebraucht; das ist wichtig zu notieren, damit man nicht denkt, das Sein der Ideen wäre in Frage gestellt. Zur Diskussion vgl. Vannier: Eckhart und die Frage nach dem Subjekt. 15 Eckhart hat den fraglichen Satz wohl mit Rücksicht auf Thomas eingefügt, der eine solche Position (als Individualisierung des intellectus agens) ja vertreten hat.
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Harald Schwaetzer
reinen Begriffs zu gelangen. Doch wird dazu nicht einfach in einem falsch verstandenen mystischen Raptus das Bewusstsein überstiegen, sondern der reine Begriff erscheint im Modus der Vorstellung. Nikolaus von Kues hat diese Idee beispielsweise 16 im Kosmographen-Gleichnis aus dem Compendium entwickelt. Dass das Verhältnis von Intellekt und Subjekt so bestimmt wird, dass die Vorgängigkeit des Intellekts in der Geltung bei gleichzeitiger Notwendigkeit des Subjektes in der Genese als Möglichkeit einer Entwicklung eben des Subjektes verstanden wird, erlaubt der Strömung von Meister Eckhart bis zu Nicolaus Cusanus einen Ansatz, der nicht in eine Subjekt-Objekt-Spaltung hineingehen muss. Dadurch unterscheidet sich der Ansatz nachdrücklich von den weiteren neuzeitlichen Erkennt17 nislehren, wie sie vor allem im Gefolge von Descartes entstanden sind. Systematisch gesehen, bietet diese Gestalt nicht nur eine Nähe zum Marburger 18 Neukantianismus , sondern auch und vor allem zu den aus dem Neukantianismus stammenden, erkenntnistheoretisch reflektierten Existenzphilosophien, wie es etwa 19 diejenige von Heinrich Barth ist. Gerade diese systematische Alternative, die historisch als Möglichkeit bereits in der Wiege der Neuzeit grundgelegt ist, darf gegenwärtig in ihrer Aktualität besonderes Interesse beanspruchen. Freilich fußt ein solches Konzept auf der Einsicht, dass es in der Freiheit des Menschen liegt, einen solchen Weg zu gehen oder auch nicht; Theorie will durch Praxis erworben sein. Die mit diesem Band vorgelegten Beiträge stellen diesen Erkenntnisweg des Subjektes hin auf einen zugleich transzendental und transzendent verstandenen Intellekt, von verschiedenen Seiten aus dar. Aufgrund der geschilderten historisch-systematischen Verankerung ist es sinnvoll, mit einem Beitrag zu Augustinus und seinem Verständnis von Zeit zu beginnen. Denn nirgendwo anders zeigt sich die Grundlage eines Denkens, welches das endliche Bewusstsein selbst intellektfähig zur Erfahrung einer transzendentalen Transzendenz machen will, prägnanter und folgenreicher als eben bei Augustinus. Johann Kreuzer untersucht deswegen in dem Eingangsbeitrag „Augustinus’ Frage nach der Zeit“ das Verhältnis von Zeitlichkeit und kreativ-produktiver Erkenntnisleistung. Endliches Bewusstsein erschöpft sich nicht in bloßer Reflexivität, sondern gerade in und durch diese Reflexivität wird ein Raum eröffnet, der zugleich transzendentale wie transzendente Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis erschließt. Die folgenden Beiträge gehen auf Meister Eckhart ein. Den Auftakt bildet die grundlegende Skizze von Marie-Anne Vannier „Intellekt bei Meister Eckhart“. Sie zeigt in ihrem Beitrag, wie Eckhart zugleich als spekulativer und mystischer Denker verstanden werden kann. Dabei wird deutlich, wie dieses „zugleich“ in der Spannung der Auffassung von Intellektualität liegt, welche bei Eckhart auf der einen Seite ein 16
Dieser Gedanke ist an verschiedenen Stellen entwickelt worden; außerdem geht mein Beitrag auf diese Fragestellung nochmals ein. Deswegen mag es hier genügen, nur so knapp darauf zu verweisen. Vgl. ferner z.B. Schwaetzer: „... quia naturae similitudo“; ders.: Ineinsfall der Begegnung. 17 Vgl. Zeyer: Cusanus und Descartes; dies.: Grundlagen und Formen der Naturerkenntnis. 18 Vgl. Zeyer: „Willst Du ins Unendliche schreiten, Geh im Endlichen nach allen Seiten“. 19 Vgl. zu Barth: Graf: Ursprung und Krisis.
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unpersönliches Vermögen ist, auf der anderen Seite aber gerade die Basis einer Theorie der Subjektivität bildet. Jean Devriendt nimmt diesen Gedanken in seinen Überlegungen „Der Intellekt in den lateinischen Predigten Meister Eckharts“ auf. Er zeigt den Entwicklungsweg auf, der vom geschaffenen Intellekt bis zur visio beatifica gegangen werden muss. Die lateinischen Predigten Eckharts, die ihm als Grundlage dienen, weisen, im Querschnitt betrachtet, nachdrücklich auf die Wandlungsmöglichkeiten (und für Eckhart im Sinne seiner Anagogik auch -notwendigkeiten) des Intellekts hin. „Die Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart“ von Maxime Mauriège geht die Frage nach dem Verhältnis von Intellekt und Seele von Eckharts Gottesbegriff her an. Er will zeigen, dass der je und je zu gehende Entwicklungsweg bereits im Akt der Selbsterkenntnis Gottes enthalten ist. An ihm partizipiert der jeweilige Akt eines endlichen Bewusstseins. Yves Meessen führt mit „Cognitio et amor. Interpretation im Gleichnis: Eckharts Auslegung von Johannes 20, 3-8“ vor, wie Eckhart inhaltlich einen Primat der Erkenntnis verficht, aber beide Vermögen Erkenntnis und Liebe bzw. Willen doch immer zusammendenkt. Darüber hinaus will er darstellen, wie Eckhart (wie nach ihm Cusanus) einen eigenen bildartigen, parabelhaften Stil entwickelt, der nach Eckharts Auffassung eher geeignet ist, dasjenige, was er sagen möchte, präzise und 20 vollständig zum Ausdruck zu bringen. „Die problematische Natur des Intellekts bei Meister Eckhart: ungeschaffen und ungeschöpflich?“ von Isabelle Raviolo bietet eine weitere Perspektive auf den Entwicklungsweg, welchen der Intellekt nehmen kann. Die Frage nach dem Verhältnis von Transzendentalität und Transzendenz wird bei ihr anhand des Problems erörtert, ob der Intellekt von Eckhart geschöpflich oder ungeschöpflich gedacht werde. Das sich ergebende „Sowohl – als auch“ erfordert wiederum, eine Entwicklungsdynamik anzunehmen. Mit Harald Schwaetzers „Der Intellekt als Künstler. Geist als Ichlichkeit bei Nikolaus von Kues“ beginnen die Beiträge zu Nikolaus von Kues. Er versucht zu zeigen, dass das endliche Bewusstsein sich aus dem ihm vorgängigen Intellekt heraus nicht nur geistig einsichtsfähig macht, sondern sich selbst eben dadurch zu einem individuellen geistigen Wesen bildet. Jean-Marie Nicolles „Die Blindheit des Verstandes und die Sehkraft des Intellektes“ führt aus, wie schon in der Behandlung der Mathematik bei Cusanus die grundlegende Unterscheidung von ratio und intellectus deutlich wird. Worum es Nikolaus zuletzt geht, ist die Möglichkeit einer intellektuellen Mathematik. Wohl erstmalig, und darum nimmt der Aufsatz auch einen gewissen Raum ein, untersucht Jürgen H. Franz den „Technikbegriff des Nikolaus von Kues und seine Bedeutung für die Gegenwart“. Wenngleich Cusanus erst im Beginn der neuzeitlichen Technikentwicklung lebte, kommt ihm doch unter systematischen Aspekten 20
Vgl. dazu auch Mieth: Meister Eckhart, 76: „Zu glühen ohne zu brennen ist ein anschauliches Bild, aber andererseits ist es auch höchst abstrakt. Ausdrücke wie ‚feuerförmig sein‘ gehören in den Gehalt philosophischen Denkens, sie müssen daher nicht nur vorgestellt, sondern sie müssen auch gedacht werden.“
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Harald Schwaetzer
eine Relevanz zu, die Teile seines diesbezüglichen Ansatzes aktuell erscheinen lässt. Insbesondere hebt Franz die cusanische Begründung der Technik als freie, kreative und schöpferische Handlung hervor, die wesentlich auf dem Intellekt (und weniger auf der ratio) basiert. Dass Cusanus gerade in dieser grundsätzlichen Dimension ein Gesprächspartner für die Gegenwart ist, gibt seinem Intellektverständnis insgesamt eine qualitativ bedeutsame Note für dessen systematische Tragweite. Von einer ganz anderen Seite widmet sich Cecilia Rusconi dem cusanischen Mathematikverständnis. In „Die Auffassung der Mathematik bei Cusanus und das daraus entstehende Gewissheitsproblem“ versucht sie zu zeigen, dass die einzige Gewissheit, die das Subjekt hat, diejenige über die eigenen Begriffe, insonderheit die mathematischen, ist. Diese Begriffe trügen zwar das Versprechen in sich, auch die Realität zu erreichen, aber da höre die Gewissheit auf. Rusconi sieht bei Cusanus die Einsicht einer Transzendentalphilosophie kantischer Prägung vorgezeichnet, die aus dem Rückbezug der Dinge auf den vom Subjekt abhängigen Intellekt nicht zu den Dingen an sich gelangt. Mit „Der Begriff des Intellektes in Sermo CLXXXVII „Spiritus autem Paraclitus“ (Jo 14,26)“ beleuchtet Klaus Reinhardt von der anderen, theologischen Seite her das cusanische Verständnis des Intellekts. Er arbeitet heraus, dass Cusanus sich in seiner Analyse der Dynamik des Intellekts von der Trinitätslehre zumindest mit leiten lässt. Das intellektive Geschehen bildet auf seine Weise bei Cusanus (darin Augustinus verwandt) den trinitarischen Prozess ab. Damit verbunden ist für Cusanus, so Reinhardt, die Idee, den Akt der intellektiven Einsicht als sozial-kommunikatives Geschehen zwischen Gott und Mensch zu begreifen. Das Erkenntnisgeschehen des Intellekts ist eine Einladung Gottes an Menschen, die aufnahmewillig sind und sich dazu befähigt haben. Jean-Claude Lagarrigue thematisiert in seinem Beitrag, dass die Verwandlung des Intellekts bei Cusanus eine christologische Nachfolge beinhaltet. Der endliche Intellekt als solcher geht durch einen Todesprozess, um einen Übergang von einer änigmatischen Schau zu einer Schau „im Geiste und in der Wahrheit“ zu werden. Damit steht der cusanische Erkenntnisweg bei all seiner Modernität, die durch die Verbindung des Intellekts mit dem Subjekt gegeben ist, in der Tradition der anagogischen Praxis seit der Antike: der Einzuweihende geht in der Einweihung immer durch ein Todeserlebnis hindurch, welches sein endliches Bewusstsein verwandelt. Für Cusanus ist das neue, geistige Bewusstsein jedoch im Gegensatz zur Antike ein Individualbewusstsein, in dem sich Intellekt und Subjekt geistig neu verbinden.
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JOHANN KREUZER
Augustinus’ Frage nach der Zeit 1) Augustinus’ Frage nach der Zeit ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zur Referenz zeitphilosophischer Überlegungen geworden. Edmund Husserl hat in originärer Weise auf Augustinus’ Überlegungen zu „Kraft und Natur der Zeit“ hinge1 wiesen. Martin Heidegger hat zwar in Sein und Zeit auch Augustinus eines „vulgären 2 Zeitbegriffs“ geziehen. Doch genügt ein kurzer Blick in Sein und Zeit (etwa in den § 72), in die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie oder in die Beiträge zur Philosophie, um deutlich werden zu lassen, dass Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit des Daseins über die verbale Kritik und das summarische Urteil hinaus Augustinus’ 3 Frage nach der Zeit wesentlich verpflichtet sind. Neben Aristoteles und Kant stelle 4 sie die „bahnbrechende Besinnung auf das Wesen der Zeit“ dar. Ernst Cassirer hat Augustinus’ Analyse „einen geschichtlichen Wendepunkt und einen geschichtlichen Höhepunkt der phänomenologischen Erfassung und Deutung des Zeitbegriffs“ 5 genannt. Und zu denken gibt auch, dass Theodor W. Adorno „mehrfach“ sagte, „er 6 wolle einmal eine Augustinus-Vorlesung halten.“ Es wäre hier wohl um die ge7 schichtsphilosophischen Aspekte der augustinschen Zeitüberlegungen gegangen. Worin gründet diese Hochschätzung? Augustinus hat als erster die Frage nach der Zeit im Kontext des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit gestellt. Sie ergibt sich aus der Einsicht, dass das Zeitliche das ist, was „zum Nichtsein eilt.“ Keine Theorie über Zeit, sondern Selbstexplikation des Daseins in der Zeit ist der Gegenstand 8 seiner Frage(n). Es ist kein Zufall, dass das in einer geschichtlichen Umbruchs1
Zu „uim naturamque temporis (ego scire cupio)“ vgl. Confessiones XI.23.30 (hg. v. L. Verheijen, Turnhout 1981, 209). – Bekanntlich beginnt E. Husserl seine Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins mit dem Hinweis, dass es „unsere wissensstolze Neuzeit […] in diesen Dingen (nicht) erheblich weiter gebracht (hat) als“ Augustinus (vgl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 368). – Vgl. auch den Hinweis von Bernet auf Husserls aufmerksame Lektüre von Confessiones XI, deretwegen „man geradezu von Husserlschen „Randbemerkungen“ zu Augustinus sprechen möchte.“ (Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, XI). 2 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, 427. 3 Vgl. z.B. ebd., 329 ff., 375; Grundprobleme der Phänomenologie, 372-388 („Gespanntheit der Zeit, Übergangscharakter des Jetzt“, usw.); Beiträge zur Philosophie, 371ff.; vgl. auch: Der Begriff der Zeit, 10/11. – Zum Ganzen vgl. auch von Herrmann: Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit. 4 Vgl. Heidegger: Des hl. Augustinus Betrachtungen über die Zeit, 1. 5 Vgl. Cassirer: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931), 108. 6 Vgl. Flasch: Nicolaus Cusanus, 163. 7 Vgl. Adornos Aufsatz „Fortschritt“. 8 „[…] non uere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse […]“ (Confessiones XI.14.17, aaO, 203). – „Die Zeit dieses Lebens ist nichts anderes als ein Lauf zum Tod“, heißt es in De
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situation geschieht. Der philosophiegeschichtliche Ort von Augustinus ist das Ende 9 der Antike. Hier vollzieht sich ein paradigmatischer Wechsel von Sinn und Bedeutung philosophischer Reflexion – ein Wechsel, der über die üblich gewordene Schematisierung Antike-Mittelalter-Neuzeit hinausreicht und in dem die quer zu dieser Epochen10 einteilung stehende Aktualität verschiedener Denkmotive von Augustinus gründet. Der Ort von Buch XI im Gesamtaufbau der Confessiones ist hier signifikant. Nach Kraft und Natur der Zeit fragt Augustin, nachdem a) der im eigentlichen Sinne autobiographische Bericht (in den Büchern I-IX) abgeschlossen ist, nachdem b) die memoria (in Buch X) als Gegenstand und Konstituens dessen, was auf sich selbst besinnendes Bewusstsein von sich weiß und nicht weiß, analysiert wurde und nachdem schließlich c) die Frage exponiert ist, wie etwas, was der Bedingung der Endlichkeit nicht unterliegen soll, als schöpferisches Prinzip eben dieser Endlichkeit und ihrer Zeitbedingung gedacht werden kann. Augustinus entwickelt, anders gesagt, die Frage nach der Zeit aus lebensweltlichen Zusammenhängen: Denn a) hat sie mit der Schilderung der faktischen Geschichte eines Individuums zu tun – b) mit der Darstellung der Erinnerung als eines Vermögens, das Zeitliches in seiner Verschiedenheit verbindet (dadurch bildet sich die Identität der exemplarisch erzählten Lebensgeschichte) und c) schließlich damit, dass sich die Frage nach der Zeit gerade deshalb stellt, weil die Endlichkeit dessen, was in der Zeit ist, die Wirklichkeit jener kreativen Instanz bezeugt, die der Mythos von Gen. 1.1 nennt. Zeit ist die Bedingung sich in ihrer Endlichkeit begreifender ‚Schöpfung‘. Diese Bedingung kreatürli11 cher Endlichkeit gilt dabei auch für das über Zeit reflektierende Bewusstsein selbst. Worin findet sich der ‚Geist‘, wenn er begreift, dass er keine privilegierte zeittranszendente Position innehat – worin finden wir uns, wenn wir uns unserer Endlichkeit im Vorübergehen von Zeit erinnern? „Denn blieben die Zeiten“ (d.h. das, was in der Zeit erscheint), „wären sie nicht Zeiten“. Das ist der Punkt, an dem Augustinus zunächst fragt: „Was nämlich ist Zeit?“, worauf dann die oft zitierten Sätze folgen: „Was also ist Zeit? Wenn niemand es von mir erfragt, weiß ich es. Soll ich es 12 einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“
civitate dei: „nihil (aliud sit) tempus huius uitae, quam cursus ad mortem“ (De civitate dei 13.10, hg. v. B. Dombart/ A. Kalb, Turnhout 1955, 392). In diesem Wissen um die Endlichkeit bewussten Daseins gründet der Gedanke der Geschichte (vgl. die Hinweise am Schluss). 9 Vgl. Marrou: S.Augustin et la fin de la culture antique; Brown: Augustinus von Hippo; Fuhrer: Augustinus. 10 Vgl. Kreuzer: Augustinus zur Einführung; ders.: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, 721, und Kap. I: Zeit, Erinnerung, Geschichte: Augustinus, 23-54. 11 Ein Geist, der der Bedingung der Endlichkeit nicht unterläge, wäre „außerordentlich wundersam und Schrecken machend erstaunlich“: „animus, cui cuncta praeterita et futura […] nota sint, […] nimium mirabilis est […] atque ad horrorem stupendus“ (Conf. XI.31.41, aaO, 215). Vgl. auch den Schlussteil dieser Überlegungen. 12 Conf. XI.14.17: „tempora […] si permanerent, non essent tempora. […] Quid est enim tempus? […] Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio […]“ – Vgl. zum Ganzen ausführlicher Kreuzer: Pulchritudo.
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2) Doch zunächst einige Hinweise zu den Voraussetzungen, aus denen diese Frage abgeleitet wird. Augustinus beginnt Buch XI der Confessiones mit einer Genesis13 auslegung. Er will den Mythos von Gen. 1.1 deuten und rational erläutern. Die Frage, wie die dort behauptete kreative Instanz gedacht werden kann, führt zu der 14 Einsicht in die Zusammengehörigkeit von Ewigkeit und Zeit. Diese Einsicht, dass ‚Ewigkeit‘ (das ‚Unveränderliche‘ etc.) und ‚Zeit‘ (das Veränderliche etc.) einander nicht entgegengesetzt sind, macht (gerade auch in Augustinus’ Werk) die singuläre 15 Bedeutung von Buch XI der Confessiones aus. In ihm geht er über die verbal behauptete Entgegensetzung zwischen Ewigkeit und Zeit hinaus, indem er beide als Gegenstände der Erfahrung analysiert. Es ist die Veränderlichkeit der Dinge in der Zeit (die mutabilitas rerum), in der sich die Wirklichkeit dessen zeigt, was als schöpferisches Prinzip Ewigkeit gedacht wird. Denn soll dieses kreative Prinzip gedacht werden (können), dann kann seine Wirklichkeit in keiner Parallelwelt ‚Ewigkeit‘ neben der realen Zeit der Schöpfung bestehen – sonst gäbe es die Zeit des Kreativen 16 auf der einen und die Zeit des Kreatürlichen auf der anderen Seite. In diesem Zusammenhang wird eine Passage aus Buch VII der Confessiones relevant. Augustinus hält dort fest, dass der schlussfolgernde Verstand in einem Akt der Selbsteinsicht „an das gelangte, was ist im Blitz eines erzitternden Blicks. […] Aber die Sehkraft vermochte ich nicht festzuhalten […] und mit mir trug ich nichts denn 17 die liebende und […] wiederbegehrende Erinnerung.“ Die Augenblicke schöpferisch gedachter Ewigkeit lassen sich (mag das auch paradox klingen) erinnern. Sie bedeuten keine Vernichtung, sondern eine Intensivierung der
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Conf. XI.3.5: „Audiam et intellegam, quomodo in principio fecisti caelum et terram.“ Gen. 1,1 wird kurz darauf mit dem Beginn des Johannes-Evangeliums zusammengebracht (vgl. Conf. XI.5.7). 14 Gerade bei Augustinus zeigt sich, dass ohne das Orientierungswissen, das mit dem (mag sein altmodischen) Begriff Ewigkeit gedacht wird, der Erfahrungsgegenstand Zeit sich nicht zureichend auslegen lässt (vgl. Poser: Zeit und Ewigkeit, 17-50). 15 Im Unterschied vor allem auch zu Boethius, dessen Unterscheidung zwischen dem nunc aeternitatis und dem nunc temporis die Dichotomie zwischen Ewigkeit und Zeit für die weitere Tradition fixiert hat (vgl. De trinitate I.4 und den Schluss der Philosophiae consolatio: V.6.9 ff.). – Es ist in erster Linie diese Tradition gewordene und im positiven wie negativen Sinn vorurteilsbeladene Dichotomie, rücksichtlich der es heute „kaum noch möglich sein (dürfte), philosophierend mir nichts dir nichts von Ewigkeit zu sprechen, so als wäre uns die Bedeutung des Wortes auch nur im mindesten vertraut.“ (Theunissen: Negative Theologie der Zeit, 60). Der Begriff der Ewigkeit steht vielmehr für die „Anzeige eines Problems“ (vgl. ebd., 64). 16 Vgl. Conf. XI.4.6: „[…] clamant quod facta sint“. Zur „mutabilitas rerum, in qua sentiri et dinumerari possunt tempora“ vgl. XII.6.6-8.8. Vgl. auch die Feststellung, dass die „rapacitas temporum“ das „testimonium Creatori“ sei: „[…] ipse cursus frequens usitatusque naturae, quo temporum rapacitas uoluitur, in rerum quarumque generibus, quamuis temporalibus atque mortalibus […] perhibet testimonium Creatori.“ (Enarratio in Ps. 118. 26.1, ed. Dekkers/Fraipont, Turnhout 1956, 1756/57). 17 Conf. VII.17.23: „[…] ratiocinan(s) potentia[…] […] erexit se ad intellegentiam suam […] et peruenit ad id, quod est in ictu trepidantis aspectus. (S)ed aciem figere non eualui et […] non mecum ferebam nisi amantem memoriam et […] desiderantem […]“
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Erfahrung von Zeit. Es sind Augenblicke einer gesteigerten, die Zeitlichkeit selbst 18 vertiefenden Zeiterfahrung. In Conf. XI.11.13 wird erläutert, wie diese im Augenblick vorübergehende und nicht gegenständlich fixierbare ‚immer stehende Ewigkeit‘ zum Ursprung der Erfahrung von Zeit wird. Will man der logischen Forderung genügen, dass mit Ewigkeit etwas gemeint ist, was der Bedingung der Zeit nicht unterliegt, so kann das ‚Ist‘ dieser kreativen Wirklichkeit weder in einem ‚Vor‘ noch in einem ‚Nach‘ noch in einer nicht-endend langen Zeit bestehen. Was der Bedingung der Zeit – der Bedingung irreversiblen Vorübergehens – nicht unterworfen ist, ist vielmehr als etwas, was mit allem, was in der Zeit vorübergeht, zugleich erscheint, zu denken. Was wir als Zeit erfahren, zeigt sich dergestalt, „daß alles Vergangene vom Zukünftigen fortgestoßen wird und alles Zukünftige aus Vergangenem folgt, daß alles Vergangene und Zukünftige von dem, was immer gegenwärtig ist, geschaffen wird und hervorläuft, daß die stehende, weder zukünftige noch vergangene Ewigkeit die zukünftigen und vergan19 genen Zeiten bestimmt.“ Indem die Zeiten (das, was in der Zeit entsteht und vergeht) vorübergehen, zeigt sich, was wir als zeitloses Jetzt der Ewigkeit denken. Im Vorübergehen des Zeitlichen – und solange es vorübergeht – ist die Ewigkeit des zeitfrei Gegenwärtigen kreativ und wirklich. Auch eine zukünftige Zeit wird so in der Zeit sein, dass sie durch die zeitlose Gegenwart dessen, was als Ewigkeit gedacht wird, immer schon hindurchgegangen ist. Sie ‚ist‘, indem sie gewesen sein wird. Alles, was in der Zeit ist, geht durch diesen Augenblick des Immer-Gegenwärtigen hindurch vorüber und wird von ihm „bestimmt“. Der Abschnitt Conf. XI.13.16 bestimmt die Gegebenheitsweise dieses schöpferischen ‚Ist‘ von Ewigkeit in der Zeit näher. Von ihm gilt – soll es als zeitlos und zeitfrei gedacht werden können –, dass es „allem Vergangenen vorausgeht durch die Erhabenheit der immer gegenwärtigen Ewigkeit und daß (es) alles Zukünftige über20 ragt, weil es zukünftig ist und, wenn es gekommen sein wird, vergangen sein wird.“ Für die Zeiten – die durch das kreative Ist dieses ihres Ursprungs hindurchgehen – 21 gilt, dass sie so gewesen sein werden wie sie als vergangene schon gewesen sind. In 18
Vgl. Ricœur: Temps et récit; dt. Zeit und Erzählung, insbes. 16, 52/53. – Vgl. auch Levinas: Die Zeit und der Andere, 8. 19 Vgl. Conf. XI.11.13: „Quis tenebit illud et figet illud, ut paululum stet et […] comparet cum tempor propelli ex futuro et omne futurum ex praeterito consequi et omne praeteritum ac futurum ab eo, quod semper est praesens, creari et excurrere […] et uideat, quomodo stans dictet futura et praeterita tempora nec futura nec praeterita aeternitas?“ 20 Conf. XI.13.16: „Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura, quia illa futura sunt, et cum venerint, praeterita erunt […]“ 21 Das hat Augustinus bereits im ersten Buch der Confessiones festgehalten, vgl. Conf. I.6.10: „Und da deine Jahre nicht schwinden, sind deine Jahre dein heutiger Tag. Und wie viele schon unserer und unserer Väter Tage sind durch dein Heute vorübergegangen […] und es werden noch andere (durch es) vorübergehen […] Du aber bleibst derselbe selbst, und alles Morgige und das danach und alles Gestrige und das vorher: Heute wirst du es tun, heute hast du es getan.“ – „Et quoniam anni tui non deficiunt, anni tui hodiernus dies: et quam multi iam dies nostri et patrum nostrorum per hodiernum tuum transierunt […] et transibunt
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dieser Übergängigkeit der Zeiten gelangt zur Erscheinung, was als kreative Instanz der Ewigkeit gedacht wird. Augustinus nennt sie (mit Ps. 2.7) das „Heute der Ewig22 keit Gottes“. Die logische Nähe dieses Heute der Ewigkeit Gottes zum platoni23 schen ἐξαίφvης liegt auf der Hand. Was wir als ‚Heute der Ewigkeit Gottes’ denken, wird in den Augenblicken bewusst, in denen das Vorübergehen der Zeiten stillzustehen scheint. Denn in ihm hält das Vorübergehen der Zeit an – im Doppelsinn der Formulierung: Es wird unterbrochen und setzt sich fort. In den Augenblicken, in denen das Vorübergehen des Zeitlichen stillzustehen scheint, ist deshalb beides: dieses Vorübergehen und das im Vorübergehen des Zeitlichen stillstehende „Heute der Ewigkeit“. In ihm wird das anhaltende Vorübergehen der Zeiten bewusst. Das Vorübergehen der Zeiten ist die kreatürliche Erscheinungsweise schöpferisch gedachter Ewigkeit. Denn hätte das Vorübergehen des in der Zeit Veränderlichen, des Endlichen, aufgehört, so hätte, was wir als Ewigkeit denken, seine Wirklichkeit verloren. Das ist der Ort, an dem Augustinus zunächst fragt: „Was nämlich ist Zeit?“ Deshalb stellt er die berühmte Frage: „Was also ist Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Will ich es 24 einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Und deshalb bekennt er, dass er „Kraft und Natur der Zeit zu wissen begehre“ (s.o.). 3) Diese Frage nach der Zeit – die Frage nach der Wirklichkeit desjenigen, was als schöpferischer Ursprung von Zeit selbst und als Grund des Vorübergehens des in der Zeit Veränderlichen gedacht wird – widerspricht dem Denkmodell, dass Ewigkeit der – mit dem Makel des Vorübergehenden (Veränderlichen usw.) behafteten – ‚Zeit‘ entgegenzusetzen ist. Augustinus hat dieses – im Sinne des, wenn man so will, klassischen Vorurteils: ‚platonische‘ – Vorverständnis zur äußeren Klammer der Confessiones gemacht: „Unruhig ist das Herz, bis es ruht in dir“ – das ist der berühmte Ausgangspunkt in Buch I. Unruhig ist unser Herz (in der Zeit), bis wir – und damit klingen die Bekenntnisse aus – „am Sabbat des ewigen Lebens ruhen werden in Dir“, 25 d.h. in einer auf die (Zeit der) Zeit folgenden Ewigkeit. Es ist evident, dass eine so verstandene Ewigkeit ein Gedankenkonstrukt ist – ein Gedankending. Ein Verständnis der Ewigkeit, das diese sowohl ‚vor‘ wie ‚nach‘ der Zeit als Gegensatz von
adhuc alii […]. Tu autem idem ipse es et omnia crastina atque ultra omniaque hesterna et retro facies hodie fecisti.“ 22 Conf. XI,13,16: „Deine Jahre sind ein Tag, und dein Tag ist nicht Tag für Tag, sondern heute, weil dein heutiger Tag keinem morgigen weicht; nicht nämlich folgt er einem gestrigen (nach). Dein Heute ist die Ewigkeit.“ – „Anni tui dies unus, et dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hesterno. Hodiernus tuus aeternitas.“ 23 Vgl. insbesondere Parmenides, 156d-e. 24 Vgl. Anm. 12. – Zur Vor- und Nachgeschichte vgl. Flasch: Was ist Zeit?, 109-195. 25 Vgl. Conf. I.1.1; XIII.36.51. – Zum begriffslogischen Oxymoron einer ‚aeternitas futura‘ vgl. bei Augustinus z.B.: De diversis quaestionibus LXXXIII, qu. 57; De trinitate IV.18.24; De civitate Dei 8.4 („beata vita post mortem futura”); 10.22.
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Zeit denkt, steckt voller aporetischer Bestimmungen. Der Glauben an ein solches Gedankenkonstrukt ist Augustinus verloren gegangen. Am Ende der Analysen in Buch XI der Confessiones hält er fest: „Ich aber zersplittere in den Zeiten, deren Ord27 nung ich nicht kenne.“ Was also ist Zeit, wenn in der Zeit nichts zu bleiben vermag – auch wir nicht, die wir über Zeit reflektieren und dabei über keine Zuschauerperspektive verfügen? Was ist es, was uns im Sprechen über Zeit und Zeiten so fraglos vertraut und im alltäglichen Umgang selbstverständlich ist? Das ist der Ausgangs28 punkt der Frage nach der Zeit in Buch XI der Confessiones. Dabei greift es zu kurz, wenn man die Antwort auf diese Frage nach der Zeit als 29 ein ‚psychologisches‘ Modell klassifiziert. Augustinus geht es nicht um eine ‚innere‘ im Gegensatz zu einer ‚äußeren‘, ‚physikalischen‘ Zeit. Seine Frage nach der Zeit setzt die physikalische (die Objektivität der) Zeit und deren Chronologie nicht außer Kraft, sondern voraus. Zu erklären ist, weshalb diese äußere Zeit nicht in beziehungslose Jetztatome zerfällt. Unsere ganz gewöhnliche Erfahrung von Zeit, dasjenige, was alltäglich gelingt und vertraut und gewiss erscheint, soll verstanden und erklärt werden. Wir verfügen über Zeit, indem wir über die Gegenwart hinweg von Vergangenheit auf Zukunft schließen. Aber: Das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige noch nicht und das Gegenwärtige schon nicht mehr – weder das Vergangene noch das Zukünftige noch 30 das Gegenwärtige kann so die Referenz unseres Redens über ‚Zeit‘ bilden. Worüber sprechen wir also, wenn wir über Zeit sprechen – und verstehen und verstanden 31 werden wollen? Was sind die unausgesprochenen Voraussetzungen dieses Verstehens und Verstandenwerdens? Wie lässt sich erklären und begründen, was uns über eine Ordnung der Zeiten sprechend verfügen lässt – denn diese „Ordnung“ ist eine 32 Hinzufügung, sie betrifft nicht den „Ablauf“ der Zeit? 26
Augustinus selbst widerlegt die ‚Scherzfrage‘ nach einer ‚Ewigkeit vor der Zeit‘ – „Was tat Gott, ehe er Himmel und Erde erschuf?“ – mit dem Hinweis, dass diese Frage falsch gestellt ist, da nach der Ewigkeit mit der Bestimmung antequam selbst zeitlich und wie nach der Vergangenheit als einer Dimension der Zeit gefragt würde (vgl. Conf. XI.12.14) – Ebenso wenig wie Ewigkeit der Zeit vorhergeht, kommt sie nach der Zeit: „so würde die Ewigkeit zur Zukunft, einem Momente der Zeit, gemacht“ (Hegel: Enzyklopädie § 258, 50). 27 Conf. XI.29.39: „[…] at ego in temporibus dissilui quorum ordinem nescio […]“. 28 Conf. XI.14.17: „Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? Et intellegimus utique, cum id loquimur, intellegimus etiam, cum alio loquente id audimus.“ 29 ‚Psychologisch‘ ist eher Plotins Deduktion, die Zeit durch eine „unruhige Kraft in der Seele“, durch die sich diese verzeitliche, entstehen lässt (vgl. Enneade III 7,11,20-30; vgl. Plotin: Über Ewigkeit und Zeit, 126/27). 30 Die pointillisierende Infragestellung unseres ebenso natürlich fungierenden wie funktionierenden (vgl. die folgende Anm.) Umgehens mit Zeit hat ihr Vorbild bei Aristoteles (vgl. Physik IV 10, 218a8-30). 31 Conf. XI.22.28: „Dicimus haec et audimus haec et intellegimur et intellegimus. Manifestissima et usitatissima sunt, et eadem rursus nimis latent et nova est inventio eorum.“ 32 Es ist der Verstand, der „die Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt, indem er jeder derselben als Folge eine, in Ansehung der vorhergehenden Erscheinungen, a priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt […]“ (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft,
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Augustinus’ Theorie der Zeit ist die Frage nach den unausgesprochenen Leistungen und ‚verborgenen‘ Bewusstseinsakten, die so vertraut erscheinen, dass sie uns nicht mehr eigens bewusst werden. „Wir sprechen von langer und kurzer Zeit und werden verstanden“. Kann eine „gegenwärtige Zeit lang“ (länger oder kürzer) sein? Kann etwas in der Zeit sich zu einer Dauer, sich zu „längerer oder kürzerer Präsenz“, ausspannen? Die Antwort lautet: Nein, „das Gegenwärtige hat keinen Raum, eine gegenwärtige Zeit kann nicht lang sein“. Gleichwohl ist es „der menschlichen Seele gegeben, Zeiträume 33 wahrzunehmen und zu messen“. Wie lässt sich das Verstehen einer ‚Länge‘ von Zeit begründen, wenn eine solche Länge bzw. Dauer nicht heißen kann, dass das Vorübergehen von Zeit sozusagen eine Zeit lang aufhören würde? Wodurch dehnt sich etwas zu einem Zeitraum oder einer zeitlichen Erstreckung? – eine Dehnung, die sich dann auch noch messen lässt? „Wie also messen wir die gegenwärtige Zeit, da sie doch keine Ausdehnung hat?“ Woraus ergibt sich für uns, die wir selbst in der Zeit sind, was wir im Vorübergehen des Zeitlichen als Dehnung wahrnehmen und messen? Denn „von woher und wo hindurch und wohin vergeht die Zeit, wenn sie gemessen wird? Von woher, wenn nicht aus der Zukunft? Wo hindurch, wenn nicht durch das Gegenwärtige? Wohin, wenn nicht ins Vergangene? Aus dem also, was noch nicht ist, durch dasjenige, was des Raumes entbehrt, 34 in dasjenige, was nicht mehr ist.“ Kann hier eine ‚Dehnung‘ erklärt werden, dann lässt sich auch jene Dimensionalität 35 plausibel machen, die wahrzunehmen und zu messen ‚der Seele gegeben ist’. Entschieden wehrt Augustinus die Ansicht ab, Zeit sei Bewegung von Körpern: „Befiehlst du, daß ich zustimme, wenn jemand sagt, Zeit sei Bewegung des 36 Körpers? Du befiehlst es nicht.“ B 245. Dabei hat man es „auf die Ordnung der Zeit, und nicht auf deren Ablauf“ abgesehen, vgl. ebd., B 248). Vgl. Anm. 67. 33 Conf. XI.15.20: „[…] praesens autem nullum habet spatium. […] clamat praesens tempus longum se esse non posse“; Conf. XI.15.19: „[…] datum enim est (anima humana) sentire moras atque metiri.“– Zu behaupten, Augustin würde die ‚Objektivität’ von Zeit bestreiten, wird seiner Frage nicht gerecht. Er bestreitet die Objektivität von Zeit keineswegs. Nur ist die objektive Zeit in der Regel nicht das, was wir als Zeit erfahren. 34 Conf. XI.21.27: „Praesens uero tempus quomodo metimur, quando non habet spatium? […] Sed unde et qua et quo praeterit, cum metitur? Unde nisi ex futuro? Qua nisi per praesens? Quo nisi in praeteritum? Ex illo ergo, quod nondum est, per illud, quod spatio caret, in illud, quod iam non est.“ – Vgl. Anm. 37, 74. 35 Messen beruht auf Zählbarkeit. Schon Platons Bestimmung der Zeit enthält den Aspekt zahlhafter Messbarkeit, wenn es heißt, Zeit sei ein „gemäß der Zahl fortschreitendes unvergängliches Bild des im Einen verharrenden Ewigen (des ἀιώv)“ (vgl. Timaios 37d). Mit der Definition der Zeit als Zahl der Bewegung gemäß dem Früher und Später (vgl. Physik IV 11, 219b1/2) knüpft Aristoteles daran an und fügt hinzu, dass es die Seele ist, die zählt (vgl. Physik IV 14, 223a-29; vgl. Wieland: Die aristotelische Physik, 316 ff.). – Zum Ganzen vgl. auch Kreuzer: Von der erlebten zur gezählten Zeit. 36 Gleichsam mit höchster Autorität wird Conf. XI.24.31 Aristoteles’ Definition der Zeit (und vielleicht auch Platons Bild?) als „Messzahl der Bewegung“ (vgl. die vorige Anm.) zurückgewiesen, vgl. Conf. XI.24.31: „Iubes ut approbem, si quis dicat tempus esse motum corporis? Non iubes. […] Non est ergo tempus corporis motus.“
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Das ist kein Plädoyer für eine innere (subjektive oder nicht-physikalische) Zeiterfahrung. Daran, dass die Bewegung und Veränderung äußerer Körper in Beziehung zur Identität des eigenen – wie diese je individuelle Identität selbst als aus dem Fluss von Veränderungen resultierende – wahrgenommen wird, bemerken wir das reale Vorübergehen von Körpern. Verglichen wird die dabei die Relation zwischen Zeitpunkten in Beziehung auf quantitative Skalen. Erklärt ist dadurch aber nicht, was zwischen zwei verschiedenen Zeitpunkten sich vollzieht. Was hier ‚inzwischen‘ geschieht, ist der Transport der Erfahrung, den wir mit (der Erfahrung von) Zeit meinen. Dabei kommen vor allem drei Aspekte ins Spiel: - Die Frage nach der Wahrnehmung einer ‚Länge der Zeit‘ wird zu der Frage danach, wie etwas in der Zeit gegenwärtig und was Gegenwärtigkeit selbst ist. - Die Frage nach der Zeit wird zur Frage nach dem Grund der Wahrnehmung 37 von Gegenwärtigkeit. - Die Frage nach dem Grund der Wahrnehmung von Gegenwärtigkeit entspricht der Frage, weshalb die eigene Lebenszeit nicht in atomisierte Jetztpunkte zerfällt. Es ist das Sein von Zeit für uns, dem die Frage nach jener ‚Dehnung des Geistes‘ gilt, die Augustinus stellt: „Von daher scheint mir, daß Zeit nichts anderes ist als eine gewisse Dehnung; aber welcher Sache, das weiß ich nicht, und es wäre nicht verwunderlich, 38 wenn nicht (einer Dehnung) des Geistes selbst.“ Diese Definition ist nicht originär – mit ihr wird allein Plotins „διάστασις ζωῆς“ 39 übersetzt. Originär aber ist, wie Augustinus sie von der Selbsterfahrung endlicher, der Bedingung der Zeit unterworfener Wesen her entwickelt. Wie lässt sich die distentio animi gleichsam zeitphänomenologisch ausweisen? Um dieses Ausweises willen nennt und analysiert Augustinus das Er- und Vertönen einer Stimme (XI.27.34), den Vers Deus creator omnium (XI.27.35-28.37) und das ‚Singen eines Liedes, das man kennt’ (XI.28.38). Die Ästhetik des Hörens verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Zeitsinn Erinnerung und seiner Erscheinung in zeitlich bestimmten Formen der Äußerung. Sie verdeutlicht den Transport der Erfahrung von Zeit im 40 Prozess sich auf sich selbst beziehenden Erinnerns. Auf diesen m.E. entscheidenden Punkt in Augustinus’ Analysen wird sich die folgende Darstellung seiner Frage nach der Zeit beschränken. 41 Die Nähe der augustinschen Analysen zu Husserl liegt auf der Hand. Gerade deshalb gilt es, auf einen Unterschied hinzuweisen. Er wird deutlich, wenn man 37
Diese Frage nach dem Grund der Wahrnehmung von Gegenwärtigkeit drängt im Verlauf der Überlegungen die Frage nach dem Messen (der Länge) einer gegenwärtigen Zeit freilich immer stärker in den Hintergrund. 38 Conf. XI,26,33: „Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi.“ 39 Vgl. Plotin, Enn. III 7,11,41 (hg. v. W. Beierwaltes, 126; vgl. ebd., 70, 219 ff., 265 ff.). 40 In der Erinnerung ergibt sich die Dehnung, die im Geist als 'Zeit' reflektiert wird, vgl. Anm. 50. – Zur Verbindung der Zeitanalyse(n) von Buch XI mit der Analyse der memoria in Buch X der Confessiones vgl. Kreuzer: Pulchritudo, insbes. 49-83, 173-203. 41 Verwiesen sei nur auf die Erläuterung der „doppelten Intentionalität der Bewußtseinsflüsse“ (vgl. Husserliana X, 297 ff.) oder die §§ 50 und 54 der Krisis-Schrift.
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Augustinus’ Analysen der Zeit nicht vom ‚naiven‘ Erinnerungsbegriff, der Erinnern an die Zeitdimension Vergangenheit bindet – wie Augustinus gelegentlich in Conf. XI 42 selbst –, her auslegt und versteht, sondern vom vollen Erinnerungsbegriff, wie er ihn in Conf. X entfaltet. Dann braucht der Akt der Retention – und darin besteht in der Tat Augustinus’ Leistung, wenn man die Analysen von Conf. XI mit dem Begriff der Erinnerung in Buch X zusammenbringt – auf keine, gleichsam extramemoriale Urimpression zurückgeführt zu werden. Liest man Augustinus’ Analyse unserer Zeiterfahrung vor dem Hintergrund des unverkürzten Erinnerungsbegriffs von Conf. X, der die Retention des Vergangenen vom Vermögen der Erinnerung des Gegenwärtigen her erklärt, erübrigt sich die Annahme eines zeitüberhobenen „letzten Bewusstseins“. Die Vorstellung, „es walte über allen Bewußtsein im Fluß noch das letzte 43 Bewußtsein“, ist eine reflexionstheoretische Notlösung. Sie entspringt der Trennung von ego – cogito – cogitatum, in der ein zur Voraussetzung gemachtes ‚Ich‘ es ist, das (Objekte) erinnert. – Über diese Vorstellung geht Augustinus in Conf. X hinaus. Die Analyse der memoria beginnt gerade an dem Punkt, dass mit einem in allen Akten der Wahrnehmung (und des Erinnerns) vorausgesetzten Ich – „Ich bin es, der durch 44 die Sinne tätig ist, einer, ich, der Geist“ – nicht erklärt werden kann, was Erinnern bedeutet. Dieser egologischen (ex post formuliert: cartesianischen) Voraussetzung setzt Augustinus die Forderung entgegen: „Hinausschreiten will ich also auch über diese Kraft meiner Natur (das allem Erinnern vorausgesetzte Ich)“. Erst im Hinausgehen über die Vorstellung eines „inneren Ich (ego interior, ego, ego animus)“ als Agens der Erinnerung, gelangt man „in die Felder und weiten Hallen der Erinne45 46 rung“ . Augustinus setzt an die Stelle des Ich, das erinnert, das sich erinnernde Ich. Das transzendentale ist (so könnte man sagen) das sich erinnernde Ich. Das soll im Folgenden skizziert werden. 42
Vgl. z.B. Conf. XI,20,26 und 28,37, wo die Erinnerung dem Vergangenen wie spiegelbildlich die Erwartung dem Zukünftigen zugeordnet wird. Dass Erinnern aber nicht bloß einen retrospektiven Sinn hat – nicht nur eine (jetzige) Gegenwart auf eine (vergangene) Gegenwart zurückführt –, sondern zwei Gegenwärtigkeiten verbindet, ist der phänomenologische Befund dessen, was es heißt, Vergangenes zu erinnern (vgl., wenn auch mit ganz anderer Perspektive, Kersting: Selbstbewußtsein, Zeitbewußtsein und zeitliche Wahrnehmung, 70-72). 43 Vgl. Husserliana X, 382. Mit der Annahme eines urimpressionalen Datums gelangt „die phänomenologische Analyse Husserls an eine unüberwindliche Grenze“ (vgl. Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie, 237; vgl. auch Held: Lebendige Gegenwart, 21 ff.; Bernet: Die ungegenwärtige Gegenwart, insbes. 36-56; ders., Einleitung zu: Husserl: Texte zur Phänomenologie, XLII-XLIV, LIVff.; Sommer: Lebenswelt und Zeitbewußtsein, insbes. 154170). Vgl. auch Anm. 76. 44 Vgl. Conf. XI.8.11: „quae diuersa per eos ago unus ego animus.“ 45 Conf. X.6.12: „transibo ergo et istam naturae meae (quae diuersa per eos ago unus ego) […] et uenio in campos et lata praetoria memoriae“; zum ego interior vgl. X.6.9, ebd., 160. – Augustinus’ Analyse des Bewusstseins und seiner in der memoria gründenden Tätigkeit besteht also keineswegs in einem ‚Proto-Cartesianismus’, auf den C. Taylor Augustinus „auf dem Weg, der von Platon zu Descartes“ führe, reduziert, vgl. Taylor: Quellen des Selbst, 235-261. Die memoria ist kein Instrument, dessen sich ein vorausgesetztes Ego bedient, stattdessen wird, was Identität des Bewusstseins heißt, umgekehrt durch das Vermögen des Erinnerns erst konstituiert. 46 Vgl. Kreuzer: Pulchritudo, 16-100, 207-223.
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4) Das ‚Rätsel‘, das „implicatissimum aenigma“ von „Kraft und Natur der Zeit“ 47 führt zu der Einsicht, dass sie „irgendeine Art von Dehnung“ ist. Sie scheint, so Augustinus vorsichtig, eine „Dehnung des Geistes selbst zu sein. […] Ich messe die Zeit, das weiß ich. Aber ich messe nicht die zukünftige, weil sie noch nicht ist, ich messe nicht die gegenwärtige, weil sie sich zu keinem Zeitraum ausdehnt, ich messe nicht die vergangene, weil sie nicht mehr ist. Was also messe ich? Etwa die vor48 übergehenden Zeiten, nicht die vergangenen?“ Wodurch bezieht sich der Geist auf sich und erfährt eine Dehnung (distentio)? Wohl dadurch, dass uns dasjenige, was vorübergehend in der Zeit ist, in seiner vorübergegangenen Gegenwärtigkeit bewusst wird. Das aber heißt Erinnern. Die Semantik oder ‚Natur‘ des Erinnerns ist der springende Punkt in Augustinus’ Analyse der Erfahrung von Zeit. Zeit wird zur distentio animi auf Grund der Erinnerung – so könnte man Augustinus’ Theorie der Zeit thetisch zusammenfassen. Freilich müsste man sogleich hinzufügen, dass man den Ertrag dieser Analysen verfehlt, wenn man dabei bloß die übliche (restringierte) Auffassung von Sinn und Vermögen der Erinnerung im Sinn hat. Augustinus’ Überlegungen zur Erfahrung von Zeit haben qua Erinnerung eine Theorie des Bewusstseins zur Konsequenz, in der Erinnern nicht darauf beschränkt ist, so etwas wie ein Instrument der ‚Verinwendigung‘ zu sein, mit dem Bewusstsein äußere Daten von draußen nach drinnen schafft. Augustinus’ erinnerungstheoretische Entdeckungen nötigen vielmehr dazu, das Vermögen der Erinnerung als ‚Subjekt‘ des sich in seiner zeitlichen Verfasstheit erkennenden (sich ‚erinnernden‘) Bewusstseins selbst zu thematisieren. Auf die intellekttheoretischen Folgerungen, die das hat – und die über Dietrich von Freiburg, der Aristoteles’ intellectus agens-Lehre mit Augustinus’ Theorem vom abditum mentis als Grund im Bewusstsein verbindet, nicht nur zu Eckhart von Hochheim, sondern der Sache nach ins Zentrum der Diskussionen in der Epoche des Deutschen Idealismus im Anschluss 49 an Kant reichen –, kann hier nur hingewiesen, nicht jedoch eingegangen werden. Was also nehmen wir zeitlich in seinem Vorübergehen wahr? „Was also ist es, was ich messe? Wo ist die kurze Silbe, mit der ich messe? Wo ist die lange, die ich messe? Beide haben getönt, sind verflogen, vergangen, sie sind nicht mehr. Und ich messe. […] Das kann ich nur, weil sie vergangen und beendet sind. Nicht sie selbst also, die nicht mehr sind, messe ich, sondern etwas in meiner Erinnerung, das ihr eingeprägt bleibt. – In dir, mein 50 Geist, messe ich die Zeiten.“ 47
Conf. XI.22.28: „Exarsit animus meus nosse istuc implicatissimum aenigma.“ – ebd. XI.23.30: „Video igitur tempus quandam esse distentionem.“ 48 Conf. XI.26.33: „Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem […] ipsius animi. […] Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est, non metior praesens, quia nullo spatio tenditur, non metior praeteritum, quia iam non est. Quid ergo metior? An praetereuntia tempora, non praeterita?“ 49 Vgl. überblickshaft Kreuzer: Einleitung zu: Augustinus: De trinitate, LIX-LXVII. 50 Conf. XI.27.35-36: „Quid ergo est, quod metior? Ubi est qua metior breuis? Ubi est longa, quam metior? Ambae sonuerunt, auolauerunt, praeteriunt, iam non sunt: et ego metior. […] Neque hoc possum, nisi quia praeterierunt et finitae sunt. Non ergo ipsas, quae iam non sunt,
Augustinus’ Frage nach der Zeit
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Erinnern ist ein Bewusstsein zeitlicher Verschiedenheit. Es schließt (mindestens) zwei Zeitpunkte – den erinnerten vergangenen und den jetzigen des Erinnerns – in sich. Erinnern heißt, etwas im Vergangensein seiner Gegenwärtigkeit, d.h. in seiner 51 zeitlichen Verschiedenheit, zu bemerken. So wie jetzt Vergangenes erinnert wird, wird dies jetzige Erinnern als ‚dann‘ vergangenes erinnert werden können – und so weiter. ‚Zwischen‘ diesen beiden (erinnernd zusammengebrachten) Gegenwärtigkeiten ‚spannt‘ oder dehnt sich der Geist. Erinnernd werden wir darauf aufmerksam, dass das Zeitliche in seiner Verschiedenheit (d.h. Differenz und Vergangenheit) im Geist ‚ist‘. Erinnern erweist sich als ein Akt der Aufmerksamkeit, der sich auf der Zeitachse iteriert. Die distentio animi gründet in dieser praesens intentio, die das Zukünfige ins Vergangene hinüber52 schafft. Es ist eine andauernde Aufmerksamkeit auf das Vorübergehen des Zeitlichen. Denn das Zukünftige ist in der Zeit als das, was als Gegenwärtiges zu erinnern 53 ist. Wie werden wir in diesem Vorübergehen auf das Gegenwärtige aufmerksam? Der Abschnitt XI.28.37 gibt die Antwort. Augustinus geht vom einfachst ausweisbaren Fall aus, das ist konventionell verstandenes Erinnern. Das Vergangene ist nicht mehr. Dennoch ist im Geist die Erin54 nerung von Vergangenem. Was ist Bedingung dafür, was schließt die Erinnerung von Vergangenem in sich? Wenn im Geist die Erinnerung des Vergangenen ist, dann ist es eine Erinnerung vergangener Gegenwärtigkeit. Darin ist zugleich erinnert, dass das Vergangene zukünftig war und durch seine Gegenwärtigkeit hindurch Vergangenes wurde. Jedes Gegenwärtige ist das Vergangensein eines gerade noch Zukünftigen. Die Aufmerksamkeit (attentio, intentio) auf das, was gegenwärtig ist, zeigt sich in der Erinnerung des Vergangenen als des eben jetzt noch Gegenwärtigen bzw. Gegenwärtiggewesenen. Die praesens intentio ist Erinnerung eines ‚gerade noch Zukünftigen‘ als eines ‚jetzt schon Vergangenen‘. In der Erinnerung bildet sich der Faden, der sich durch das vergangene Jetzt des Erinnerten und das gegenwärtige Jetzt sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet. – 36. In te, anime meus, tempora metior.“ – In dir, mein Geist – d.h. in der Erinnerung: das ist der springende Punkt – wobei das „aliquid“, das eingeprägt bleibt, den Augenblick der (vorübergehenden) Gegenwärtigkeit meint und keine urimpressionale Zeitstelle (vgl. Anm. 43). 51 Das zeitlich Verschiedene, d.h. die Gegenstände des Erinnerns in bzw. aus ihrer zeithaften Zerstreuung zusammenzubringen, definiert für Augustinus ‚denken’. Er demonstriert das an der Etymologie von „cogitare“ (vgl. Conf. X.11.18, ebd., 164). 52 Conf. XI.27.36: „In te, anime meus, tempora metior […]: […] dum praesens intentio futurum in praeteritum traicit deminutione futuri crescente praeterito […]“ 53 Die Etymologie des Wortes „gegenwärtig“ hat diesen Sinn bewahrt: „Gegenwärtigkeit (war) lange in Gebrauch anstatt des spät auftretenden Gegenwart“ (Grimm'sches Wörterbuch, ND München 1984, Bd. 5, 2298). Für „gegenwärtig“ ist der „zeitbegriff selber […] ein zweiseitiger, denn es kommt auch vom zukünftigen vor.“ (Ebd., 2297) Der Begriff der Gegenwart hat sich erst mit dem 18. Jahrhundert „[…] wesentlich verändert. […] wenn wir (sie) uns nur als anwesenheit denken, (ist das Wort) zum kahlsten begriffe des dabeiseins eingeschrumpft […] während […] die vor augen und händen gelagerten dinge gemeint sind, die nahe wirklichkeit […]“ (ebd., 2287, 2289). 54 Conf. XI.28.37: „[…] quis negat praeterita iam non esse? Sed tamen adhuc est in animo memoria praeteritorum.“
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des Erinnerns schlingt und beide verbindet. Die Erinnerung ‚umspannt‘ zurücklaufend das vergangene Jetzt und von da vorlaufend das Jetzt des Erinnerns von Erinnertem. Sie verbindet zwischen zwei Jetzten. Worauf es dabei ankommt, ist der Akt der Verbindung – die Verspannung zweier Gegenwärtigkeiten, die zeitliche Verschiedenheit voraussetzt. Was für das vergangene Jetzt gilt, das jetzt erinnert wird, gilt auch für das jetzt gegenwärtige Erinnern, dessen ‚jetzige Gegenwärtigkeit‘ durch die Differenz zum vergangenen Jetzt überhaupt erst bewusst wird. Es wird als das jetzt Gegenwärtige wieder erinnert werden. Das zeigt Augustinus in Buch X: „Ich erinnere mich also auch, daß ich mich erinnert habe, so wie ich später, wenn ich mich erinnern werde, daß ich mich dessen jetzt entsinnen konnte, 55 dies gänzlich durch die Kraft der Erinnerung erinnern werde.“ Das jetzt Gegenwärtige lässt sich vom vergangenen Jetzt her als selbst Vergehendes, als dann zu Erinnerndes, betrachten. Im Augenblick der Erinnerung hält deshalb das Vergehen des Zeitlichen in der Zeit an. Die ‚Schleife‘ des Erinnerns, die das Zeitliche seinem Vergehen bzw. Vergangensein ‚enthebt‘, schlingt sich in das Fließen der niemals stehenden Zeiten zurück. Die Gleichzeitigkeit zweier Jetzte im anhaltenden Vorübergehen von Zeit ist dabei eine Minimalkonstruktion zum Zweck der theoretischen Erklärung. Die Augenblicke des Erinnerns sind immer von der Gleichzeitigkeit mehrerer Jetzte durchdrungen. Entscheidend ist, dass das Bemerken der (zwei oder mehr) verschiedenen Jetzte das Vorübergehen des Zeitlichen gerade voraussetzt und in sich schließt. „Und wer bestreitet, daß die gegenwärtige Zeit der Ausdehnung entbehrt, weil sie im Augenblick vorübergeht? Aber dennoch dauert die Aufmerksam56 keit, durch die hindurch dasjenige, was herankommt, fortfährt wegzusein.“ Der Beobachtung, die sich in diesem Satz ausdrückt, kommt zentrale Bedeutung zu. Die Aufmerksamkeit (attentio) auf das, was im Augenblick vorübergeht, ist die Grenze zwischen Zukünftigem und Vergangenem. Abstrakt betrachtet fallen die Dimensionen der Zeit auseinander: zu der Abstraktion des Noch-Nicht-Seienden, der des Nicht-mehr-Seienden und der eines Gegenwärtigen, das keine Ausdehnung hat und nichtig ist. Konkret betrachtet ist die erinnernde Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige als Übergang zwischen Zukünftigem und Vergangenem der Schnittpunkt des ‚Gegenwärtiggewesenseins von Zukünftigem‘. Dieser Schnittpunkt – das Gegenwärtige, das „in puncto praeterit“ – ist ausdehnungslos. Was sich dehnt, ist die Aufmerksamkeit auf seine Übergängigkeit. Uns erinnernd blicken wir auf Vergangenes zurück und werden uns zweier Gegenwärtigkeiten bewusst. Wir erinnern eine vergangene Gegenwärtigkeit. Die Gegenwärtigkeit ‚jetzt‘ begreifen wir als eine, die ‚dann‘ vergangen sein wird – und jetzt in der andauernden Aufmerksamkeit schon erinnert ist. Im Augenblick der Erinnerung durchdringen sich die Gegenwärtigkeit des Zukünftigen, die Gegenwärtigkeit 55
Conf. X.13.20: „Ergo et meminisse me memini, sicut postea, quod haec reminisci nunc potui, si recordabor, utique per uim memoriae recordabor.“ 56 Conf. XI.28.37: „Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit.“
Augustinus’ Frage nach der Zeit
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des Gegenwärtigen und die Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Die Vorstellung, die dem Zukünftigen die Erwartung, dem Gegenwärtigen die Aufmerksamkeit und dem 57 Vergangenen das Erinnern zuordnet, wird diesem Erfahrungsgehalt nicht gerecht. Denn in dieser quasi natürlichen Vorstellung wird die Sukzession der Zeitreihe (in der nie zwei verschiedene Zeitpunkte zugleich sein können) zur Sukzession einer Bewusstseinsreihe gleichsam verdoppelt. Es zeichnet aber den Erfahrungsgehalt des Erinnerns gerade aus, dass in ihm zwei verschiedene Zeitpunkte zugleich sind – und dies in der Sukzession des Zeitlichen. Ein kleiner Exkurs zu dem Augustinus-Leser Wittgenstein – der einmal bemerkt hat, dass Augustinus’ Confessiones „womöglich „das ernsteste Buch, das je geschrieben 58 wurde […]“ seien – sei erlaubt. Er liegt nicht nur deshalb nahe, weil Augustinus in den Philosophischen Untersuchungen häufig zitierte Referenz ist (so bereits in den ersten vier Paragraphen) und weil Wittgenstein Augustinus’ Frage nach der Zeit in den §§ 89 und 90 explizit repetiert. Der Hinweis auf Wittgenstein liegt vielmehr deshalb nahe, weil er an die Entdeckungen, die Augustinus bezüglich Sinn und Semantik dessen gemacht hat, was Erinnern heißt, anknüpft. Etwa, wenn er feststellt, dass Erinnern keine „sekundäre Art der Erfahrung im Vergleich zur Erfahrung des Gegenwärtigen“ ist: „Als wäre in einem primären Sinn die Erinnerung ein etwas schwaches und unsicheres Bild dessen, was wir ursprünglich in voller Deutlichkeit vor uns 59 hatten.“ Zugrunde liegt der Rede vom Erinnern als sekundärer Kopie einer primären Erfahrung der „Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks“: die Assoziation „der Bilder von Dingen, die im Raum an uns vorüberziehen“. Die Vorstellung der Gegenwart als einer „Art euklidischer Punkt“ primären Erlebens nennt Wittgenstein zu Recht „irreführend“. So irrig diese Vorstellung in Rücksicht darauf ist, was Erinnern heißt, 60 so wenig wird sie auch dem Sinn des Sehens gerecht. Zurück zu Augustinus: Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung bilden nicht die Abfolge einer Bewusstseinsreihe parallel zur Unumkehrbarkeit der Zeitreihe, d.i. der Sukzession des Zeitlichen. Erinnerung, Aufmerksamkeit und Erwartung gehören 57
Das gilt auch für den oft als Lösung des Problems zitierten Satz, in dem es in Conf. XI heißt, dass „nicht die drei Zeiten sind, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern passender gesagt werden sollte: Zeiten sind drei – die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem, die Gegenwart von Zukünftigem“: „nec […] tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie dicitur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris“ (Conf. XI.20.26, ebd., 206/07). Dieser Satz ist nicht die Lösung, sondern der Ausdruck des zeittheoretischen Problems: er spricht von einer Gegenwart des Vergangenen (das nicht mehr ist – nur erinnert), einer Gegenwart des Zukünftigen (das noch nicht ist und sich jetzt schon als das, was gewesen sein wird, erinnern lässt) und einer Gegenwart des Gegenwärtigen (das jetzt schon vorbei ist). Die Destruktion solcher ‚naiver‘ Gewissheiten ist der Ausgangspunkt für Augustinus’ Frage nach der Zeit: vgl. Anm. 30. 58 Vgl. Wittgenstein: Denkbewegungen, 125. 59 Vgl. Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen, § 52, p. 84. 60 Vgl. Wittgenstein: Vorlesungen Cambridge 1932-35, 176/77. – Zum Ganzen vgl. auch Kreuzer: Wittgenstein über Sehen und Erinnern.
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vielmehr zusammen. Diesen untrennbaren Zusammenhang erläutert Augustinus am 61 Vortrag eines Lieds: „Ich will ein Lied singen, das ich kenne.“ Was geschieht, wenn ein Lied vorgetragen, d.h. Erinnertes in Äußerung übersetzt wird? Die Äußerung (das sinnliche Ertönen) des als ganzen erinnerten Lieds wird erwartet: in der Erinnerung erwartet als das, was ertönen soll – und, ist es erklungen, wiedererinnert als das, was Äußerung geworden ist. Aus der Erinnerung geht die erwartete Äußerung hervor und kehrt in die Erinnerung zurück. Erwartung und Erinnerung verhalten sich dabei zueinander wie die zwei Hälften einer Sanduhr – wobei es bei diesem Bild auf den Übergang zwischen den beiden Hälften wie die Gleichzeitigkeit des in ihnen Fließenden ankommt. „Das Leben dieses meines Tuns ist ausgespannt in Erinnerung, des schon Vorgetragenen wegen, und in Erwartung, des noch Vorzutragenden wegen. Gegenwärtig bleibt dennoch meine Aufmerksamkeit da, durch die dasjenige, 62 was zukünftig war, hinübergeht, so daß es Vergangenes wird.“ Die Erwartung des noch Vorzutragenden ist in der Erinnerung. Erinnert ist sein zukünftiges Vergangensein. Das noch Ausstehende des Lieds ‚war‘ zukünftig und wird, ist es geäußert, das Vergangene. Ist das Erinnerte ganz geäußert, ist „das Tun beendet“ und die Erwartung des noch nicht geäußerten Erinnerten „ganz in Erinne63 rung übergegangen“. Die Erinnerung ist ein reproduktiv-produktiver Sinn. Sie erweist sich als Vermö64 gen der intentio oder attentio auf das Gegenwärtige, das im Augenblick vorübergeht. ‚Ich erinnere mich also, dass ich mich erinnert habe, so wie ich später, wenn ich mich erinnern werde, dass ich mich dessen jetzt entsinnen konnte, dies gänzlich durch die Kraft der Erinnerung erinnern werde‘ – so Augustinus in der Analyse des Vermögens der memoria in Buch X der Confessiones vor der in Buch XI folgenden 65 Frage nach der Zeit. Im Augenblick der Erinnerung sind die Dimensionen der Zeit wie das Fließen der niemals stehenden Zeiten aufgehoben – und zwar gerade dadurch, dass uns das Vergangensein eines eben noch zukünftig Gegenwärtigen erin66 nernd bewusst wird. Haben wir ‚Zeit’ in ihre Dimensionen geteilt, so denken wir 61
Conf. XI.28.38: „Dicturus sum canticum, quod noui.“ Conf. XI.28.38: „[…] distenditur uita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et expectationem propter quod dicturus sum: praesens tamen adest attentio mea per quam traicitur quod erat futurum ut fiat praeteritum.“ 63 Ebd.: „[…] donec tota expectatio consumatur, cum tota illa actio finita transierit in memoriam.“ 64 In De trinitate definiert Augustinus die Erinnerung expressis verbis als Vermögen der Erinnerung des Gegenwärtigen: „[…] ad res praesentes memoria pertine(t). quapropter sicut in rebus praeteritis ea memoria dicitur qua fit ut ualeant recoli et recordari, sic in re prasenti quod sibi est mens memoria sine absurditate dicenda est qua sibi praesto est (mens) […]“ (De trinitate XIV.11.14, in: Augustinus, De trinitate, 216). 65 Vgl. Anm. 55. 66 Es ist die räumliche Metaphorik, die das Sprechen über den Zeitsinn (der) Erinnerung erschwert. Sie wird als ‚innerer’ Speicher ‚äußerer’ (vergangener) Daten gedacht. In Buch X der Confessiones lässt sich beobachten, wie Augustinus über die räumliche Metaphorik für die memoria (thesaurus, aula bis hin zu venter animi, vgl. X.8.12-15; 14.21) hinausgeht, um die Dynamik der Kraft des Erinnerns zu fassen: von der vis über die capacitas memoriae (X.8.1562
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nicht mehr an die Gegenwärtigkeit dessen, was in der Zeit vorübergehend ist. Wir denken auch nicht mehr daran, dass Erinnern in der Verbindung zweier verschiedener Gegenwärtigkeiten und nicht in der Rückführung der einen auf die andere besteht. Wir reduzieren vielmehr die Ordnung des in der Zeit Seienden und zeitlich Vorübergehenden auf eine sukzessive Zeitreihe, die ein Verlaufsgeschehen quantifiziert und technisch verfügbar macht, und beschränken zugleich Erinnern auf die Repräsentation von Vergangenem. Was andere als quantitative Ordnungsmöglichkeiten des jeweils erfahrenen „Zeitinhalts“ angeht – etwa die, dass das Bewusstsein im Augenblick des Erinnerns mindestens zwei Jetzte gegenwärtig hat, also die Irreversibilität eines Verlaufsgeschehen gerade dadurch transzendiert, dass es dieses ‚erinnert‘ –, so bleiben diese unberücksichtigt. Nicht in das Blickfeld zu rücken vermag dabei jene „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“, die Kant als „Schematismus unseres Verstandes“ bezeichnet hat. Augustinus’ Zeit- und Erinnerungsanalysen stellen hier ein gutes Angebot dar, diesen Schematismus als zeitliche Verfasstheit des Bewusstseins wenn nicht „unverdeckt vor Augen“ zu legen, so doch 67 besser zu verstehen. 5) Was hat sich als Antwort auf die Frage nach der Zeit ergeben? Als Ursprung unserer Zeiterfahrung denkt Augustinus die Augenblicke der Ewigkeit. Sie lassen sich erinnern. Dadurch werden sie zum Ursprung einer gesteigerten, die Zeitlichkeit 68 selbst vertiefenden Zeiterfahrung. Wir gehen über unsere Endlichkeit hinaus, indem wir uns auf sie besinnen und auf sie zurückkommen. Das, was inmitten dieser Augenblicke der Erinnerung geschieht, ist ‚Zeit‘. Zeit erfahren wir als das, was zwischen den Augenblicken, in denen uns das anhaltende Vorübergehen des Zeitlichen bewusst wird, immer schon vergangen ist. Nach ihrem Geschehenscharakter fragen wir, weil wir das Vergehen des Zeitlichen erinnern. Dieses Erinnern selbst ist ein Vermögen, das die Bedingung der Zeit nicht nur nicht übersteigen kann, sondern eben diese Bedingung von Zeit zur innersten (oder objektiven) Voraussetzung hat. Sie ist Form und Bedingung von Endlichkeit. Davon kann sich auch und gerade das Bewusstsein, das über Zeit reflektiert, nicht ausnehmen. Auch es unterliegt dieser Bedingung der Endlichkeit. Im Ursprung der Erfahrung von Zeit gründet auch das Wissen um die Endlichkeit des Bewusstseins. Davon nun geht Augustinus’ Frage nach der Zeit nicht nur nicht aus. Sie mündet auch darin. Am Singen eines Lieds, am Beispiel ästhetischer Erfahrung, erläutert Augustinus die Bewusstseinsleistungen, die sonst unbemerkt gerade auch die gewöhnliche Erfahrung von Zeit konstituieren. Ästhetische Zeiterfahrung wird zum Modell der realen. Beinahe pathetisch schließt Augustinus: 9.16) bis hin zur Definition der Erinnerung als der „Kraft des Lebens im sterblich lebenden Menschen“: als „uitae uis in homine uivente mortaliter“ (Conf. X.17.26, aaO, 168). – Vgl. auch Kreuzer: Confessiones 10. 67 Zur Differenzierung zwischen „Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung und Zeitinbegriff“ vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 184/85; zum „Schematismus“ als „verborgene(r) Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ ebd., B 180/81. 68 Vgl. Anm. 15-22.
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„Und was so im ganzen Lied geschieht, geschieht auch in seinen einzelnen Teilen und in seinen einzelnen Silben. Es geschieht auch in einer längeren Tätigkeit, von der dieses Lied vielleicht ein kleines Teilchen ist, und auch im ganzen Leben der Menschen, dessen Teile alle Handlungen der Menschen sind. Es geschieht auch in der ganzen Weltzeit der Menschenkinder, deren 69 Teile alle Leben der Menschen sind.“ In ästhetischer Erfahrung scheint die reale Unumkehrbarkeit der objektiven Zeit aufgehoben. Ist sie damit real – was das faktische Dasein in der Zeit angeht – aufgehoben? Wohl kaum. Die Einheit ästhetischer Erfahrung kann Zeit als Bedingung endlichen Daseins nicht überwinden. Sie ist von dieser Bedingung der Endlichkeit vielmehr durchdrungen. Augustinus erwägt am Schluss von Confessiones XI hypothetisch eine Bewusstseinsform, einen „Geist“, für den das Bedingungsverhältnis zwischen der Einheit ästhetischer Erfahrung und dem faktischen Dasein in der Zeit umgedreht wäre. „Gewiß, gäbe es einen Geist, eines so großen Wissen und Vorherwissens mächtig, daß ihm alles Vergangene und Zukünftige so bekannt wäre wie mir ein Lied, das ich ganz genau kenne, so wäre ein solcher Geist außerordentlich 70 wundersam und Schrecken machend erstaunlich.“ Diese Option eines Zeit als Bedingung von Endlichkeit überschreitenden Bewusstseins 71 – ein Rekurs vielleicht auf die neuplatonische Vorstellung einer Weltseele – wird von Augustinus verworfen. Denn sie würde nicht nur zwischen der als Ursprungsdimension gedachten Ewigkeit und der Erfahrung endlichen Daseins in der Zeit eine Zwischeninstanz behaupten. Die Option einer Zeit als Bedingung von Endlichkeit überschreitenden Weltseele stünde vielmehr für eine ästhetisierende Betrachtungsweise faktischen Daseins – für einen platonisierenden Ästhetizismus, dem Augustinus selbst zunächst gefolgt war, etwa wenn er in De musica von einem „Lied des Weltalls“ spricht oder in De vera religione davon, dass „im Ganzen betrachtet die Schönheit des Weltalls“ gefalle. Diese Hypothese einer ästhetischen Harmonisierung und Rechtfertigung der Welt durch ein sie beseelendes metaphysisches Prinzip gibt 72 er auf. Der metaphysische Reiz dieser Hypothese bestünde darin, dass sie den Übergang von der auf getrennte Einzelseelen bezogenen distentio animi zur gemein69
Conf. XI.28.38: „Et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis eius fit atque in singulis syllabis eius, hoc in actione longiore, cuius forte particula est illud canticum, hoc in tota uita hominis, cuius partes sunt omnes actiones hominis, hoc in toto saeculo filiorum hominum, cuius partes sunt omnes uitae hominum.“ 70 Conf. XI.31.41: „Certe si est tam grandi scientia et praescientia pollens animus, cui cuncta praeterita et futura ita nota sint, sicut mihi unum canticum notissimum, nimium mirabilis est animus iste atque ad horrorem stupendus.“ 71 Zu diesem möglichen Rekurs vgl. Flasch: Was ist Zeit?, 406-413. 72 Zum „carmen universitatis“ vgl. Augustinus: De musica VI.11.29; zur „pulchritudo universitatis cum toto consideremus“ vgl. De vera religione 40.75. – Zur Aufgabe der Hypothese einer Weltseele vgl. Retractationes I.5.3; 11.4. Das wesentlich der Rezeption der „libri Platonicorum“ gewidmete Buch VII der Confessiones schließt mit dem jeder ästhetischen Harmonisierung entgegenstehenden Satz: „Ich sah deine Werke und erschrak“ – „consideraueram opera tua et expaueram“ (VII.21.27).
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samen Weltzeit aller erklären würde. Aber bedarf es dieses Übergangs? Es bedürfte seiner (und damit der Weltseele) allein dann, wenn die Frage nach der Zeit nur auf Antworten einer ‚Innenzeit‘ quasi atomisierter Einzelseelen stieße im Gegensatz zu einer objektiven ‚Außenzeit‘. Nur die Vorstellung, dass Bewusstsein in mentalen Innenwelten bestehe, die zugleich Zugriff haben sollen auf einen ‚Geist‘, der von aller Zeitbedingung frei sei, bedarf einer ‚Weltseele‘, die die Gemeinsamkeit des als Zeit Erfahrenen sichert wie deren Objektivität erklärt. Von der Innenzeit eines Bewusstseinssolipsismus aber hatte Augustinus seine Frage nach der Zeit explizit abgesetzt; er beginnt sie geradezu damit, dass es der „menschlichen Seele gegeben ist, 74 Zeiträume wahrzunehmen und zu messen“. Auch das ‚Beispiel‘, das er gebraucht, um auf die Frage zu antworten, was wir erfahren, wenn wir ‚Zeit‘ in ihrem Vorübergehen erfahren, geht über Bewusstseinsinnenwelten und den Psychologismus mentaler Selbstverhältnisse hinaus. Das Singen eines Lieds wie der Sinn des Hörens stehen beispielhaft für jene Bewusstseinsleistungen, die gerade dann unbemerkt bleiben, wenn man das tätige Bewusstsein, das sich als Geist bzw. Intellekt zeigt, als zeitenthobenes Selbstverhältnis denkt und damit jene Bewusstseinsleistungen verdeckt, die die ganz gewöhnliche Erfahrung von Zeit konstituieren. Am Singen eines Lieds, am Beispiel ästhetischer Erfahrung werden sie bewusst und lassen sich erklären. Erklären lässt sich mit diesen Zeit bzw. die Erfahrung von Zeit in sich schließenden Bewusstseinsleistungen auch, was jenes Selbstverständnis ermöglicht, in dem Geist als tätiger Intellekt besteht und das ihn von einem bloßen Selbstverhältnis unterscheidet. Und aus einem weiteren Grund ist es kein Zufall, dass Augustinus am Modell ästhetischer Zeiterfahrung die für die gewöhnliche Erfahrung von Zeit konstitutiven Wahrnehmungsakte erklärt. Ästhetische Erfahrung gründet in der Gleichzeitigkeit der vom Vergehen von Zeit erfüllten Augenblicke. In ihnen wird die nichtumkehrbare Chronologie und Sukzession der Realität der Zeit nicht destruiert oder übersprungen, sondern spielend aufgehoben. Ästhetische Erfahrung entspricht damit jener Gleichzeitigkeit, die wir als Ewigkeit Gottes denken und – als Ursprung von Zeit (vgl. Teil 2 dieser Überlegungen o.) – erinnert haben. Im Bemerken des spielenden Aufgehobenseins der irreversibel-realen in der ästhetisch-geformten Zeit ist insofern die Unumkehrbarkeit der Zeit, die ‚alles hinwegschafft‘, aufgehoben. Wenn nun gleich in ästhetischer Erfahrung die reale Unumkehrbarkeit der objektiven Zeit aufgehoben ist, dann ist sie das real – was das faktische Dasein in der Zeit angeht – gewiss nicht. In ästhetischer Erfahrung sind wir die Akteure der Zeiträume, die wir wahrnehmen, gestalten und messen. Im faktischen Dasein in der Zeit finden wir uns 73
Vgl. Flasch: Was ist Zeit?, 406; Fischer: ›Distentio animi‹, 543. Vgl. Conf. XI.15.19 (vgl. Anm. 34). Die Frage nach der Messbarkeit durchzieht das ganze Buch XI (vgl. XI.16.21; 21.27; 23.30; 26.33-27.35). Einmal dahingestellt (vgl. Anm. 37), ob Augustinus diese Frage einer Antwort nur durch ein reduktionistisches Verfahren zuführen kann (vgl. Enskat: Zeit, Bewegung, Handlung und Bewußtsein, 201 ff.), so setzt diese Frage die Intersubjektivität dessen, was als Zeit zum Gegenstand der Analyse wird, voraus: „Was ich zu wissen begehre ist Kraft und Natur der Zeit, auf Grund derer wir die Bewegungen der Körper messen und sagen, diese Bewegung daure doppelt so lange wie jene“: „Ego scire cupio uim naturamque temporis, quo metimur corporum motus et dicimus illum motum […] tempore duplo esse diuturniorem quam istum“ (Conf. XI.23.30). 74
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im Vorübergehen dieser Zeiträume vor. Deshalb ist es eine Illusion, wollte man glauben, Zeit als Bedingung von Endlichkeit und als Bedingung individuellen Daseins überwinden zu können. Die Einheit ästhetisch geformter Gebilde kann Zeit als Bedingung endlichen Daseins nicht tilgen. Sie ist von dieser Bedingung der Endlichkeit vielmehr durchdrungen. Es ist genau diese Spannung, die ästhetische Gebilde – ‚das Lied, das ich kenne‘ – wie das sich hierin ausdrückende kreative Tun sinnvoll 75 sein und werden lässt. 6) Die Absicht, sowohl Vorstellungen, die die Zeiterfahrung wie die Tätigkeit des Geistes in mentalen Innenwelten gegründet sein lassen, die zugleich Zugriff haben sollen auf einen ‚Geist’, der von aller Zeitbedingung frei sei, wie Konzepte abzuweisen, in denen der Sinn ästhetischer Erfahrung mit Harmonisierung verwechselt wird, dürfte auch der Grund für den abrupten Perspektivwechsel sein, den Augustinus in der Verwendung des Ausdrucks distentio am Schluss von Buch XI der Confessiones vollzieht. Ging es nach der vorsichtigen Exposition der Definition von Zeit als distentio animi um den minutiösen Ausweis des in dieser Definition Implizierten – um die skizzierte Zusammengehörigkeit von Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit in dem sich im Vorübergehen des Zeitlichen begreifenden Bewusstsein –, so konstatiert nun Augustinus plötzlich: „Siehe, Zerdehnung ist mein Leben“. Distentio erscheint strikt negativ konnotiert, intentio und extentio werden ihr als innerzeitliche Weisen 76 praktischen Verhaltens gegenübergestellt. Gerade dieser Perspektivwechsel in der Frage nach der Zeit als distentio animi lässt deutlich werden, dass Augustinus nicht aus der Position einer Theorie fragt, die eine Betrachterrolle einzunehmen und Zeit als Bedingung endlichen Daseins überwinden zu können meint. Seine Frage nach der Zeit hat vielmehr ausdrücklich damit zu tun, dass Bewusstsein immer Bewusstsein der eigenen Endlichkeit meint. „Ich aber zersplittere in den Zeiten, deren Ord77 nung ich nicht kenne“, bekennt er am Schluss. Damit kommt bei Augustinus am Ende der – und vielleicht auch als Ende von – Antike die „Wahrheitschance der 78 Zeithaftigkeit“ in den (nicht nur zeittheoretischen) Blick.
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Zum Ganzen vgl. jetzt: Wulf: Zeit der Musik. Conf. XI.29.39: „[…] ecce distentio est uita mea, et […] praeterita oblitus, non in ea quae futura et transitura sunt, sed in ea quae ante sunt non distentus, sed extentus, non secundum distentionem, sed secundum intentionem sequor ad palmam supernae vocationis […]“ – Zur Umdeutung von Phil. 3.13, die Augustinus hier vornimmt, vgl. Kreuzer: Pulchritudo, 207233. 77 Conf. XI.29.39 – vgl. Anm. 27 sowie 10 und 11. 78 Auf Grund des Zeitsinns ‚Erinnerung‘ tritt – implizit bei Augustinus wie angeregt durch ihn und der oft behaupteten Dichotomie zwischen ‚Ewigkeit-Zeit‘ gerade entgegen – die „Wahrheitschance der Zeithaftigkeit“ an die Stelle einer allein glaubbaren „Zeitlosigkeit der Wahrheit“: „Die Erinnerung kann sich ihrer nicht selbst versichern; sie muß garantieren, was umgekehrt sie garantieren müßte. Die ›Dehnung‹ des Augenblicks über Retention und Protention sollte erst drei Jahrhunderte nach Descartes zur Last der Phänomenologie werden. Damit aber […] (war) die Wahrheitschance der Zeithaftigkeit […] thematisch geworden“ (Blumenberg: Der Befehl des Delphischen Gottes, 123).
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Faktisches Dasein ist zeitliches Dasein. Als zeitliches Dasein ist es endliches Sein. Wir haben keinen unendlichen Vorrat an Zeit. Denn „ab da, wo jemand in diesem sterblichen Körper zu sein beginnt, geschieht jederzeit, daß der Tod kommt. Das nämlich bewirkt seine Veränderlichkeit durch die ganze Zeit dieses Lebens (wenn es denn Leben zu nennen ist), daß man dem Tod entgegengeht. Was immer an Zeit gelebt wird, es wird vom Lebenszeitraum weggenommen, so daß die Lebenszeit nichts ande79 res ist als ein Lauf zum Tod.“ Kein Akt des Bewusstseins, keine Tätigkeit des Intellekts führt darüber hinaus. Umgekehrt wird es zur Aufgabe, die Zeitbedingung endlichen Daseins in der Tätigkeit des Intellekts zu realisieren: dadurch realisiert sich der Intellekt als imago dei. Zur imago dei wird seiner selbst bewusstes Dasein gerade in der Erkenntnis und Annahme der eigenen Endlichkeit. Aus ihr folgt die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit gelebter Zeit: Wenn die individuelle Lebenszeit kein unendlicher Vorrat ist, dann kommt es darauf an, aus der Einsicht, dass die Lebenszeit ein cursus ad mortem 80 ist, in die Zeit der eigenen Endlichkeit zurückzukommen. Der Aspekt der Endlichkeit faktischen Daseins wird mit der Rede von Geschichte gemeint. Den Fragehorizont, der mit dieser Rede gemeint ist, hat Augustinus wenn 81 nicht entdeckt, so doch grundlegend formuliert. Nicht zuletzt daran zeigt sich die wirklichkeitserschließende Kraft seiner Frage nach der Zeit.
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De civitate dei 13.10: „Ex quo enim in isto corpore morituro esse coeperit, numquam in eo non agitur ut mors ueniat. Hoc enim agit eius mutabilitas toto tempore uitae huius (si tamen uita dicenda est), ut ueniatur in mortem. […] (Q)uoniam, quidquid temporis uiuitur, de spatio uiuendi demitur […], ut omnino nihil sit aliud tempus uitae huius, quam cursus ad mortem […]“ 80 Weil „unsere Jahre dann alle sein (werden), wenn sie nicht mehr sein werden“ (vgl. Conf. XI.13.16), hatte Augustinus Confessiones XI mit dem Bekenntnis begonnen, dass ihm, um das Ganze seiner Lebensgeschichte zu erzählen, zu kostbar die Tropfen der Zeit sind: „Et si sufficio haec enuntiare ex ordine, caro mihi ualent stillae temporum.“ (Conf. XI.2.2) – Zum Geist bzw. tätigen Intellekt als sich in ihrer zeitlichen Verfasstheit erkennende imago dei vgl. Kreuzer: Der Geist als imago dei. 81 Vgl. Kreuzer: Die Aporie des Geschichtlichen, in: ders. Augustinus zur Einführung, 120157.
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MARIE-ANNE VANNIER
Intellekt bei Meister Eckhart Eckhart ist gleichzeitig ein spekulativer und ein mystischer Denker. Der Platz, wel1 chen er dem Intellekt zuweist, ist grundlegend , wenn er auch keine Schrift De unitate 2 intellectu wie Thomas von Aquin oder De intellectu wie Albert der Große geschrieben hat. Zieht diese Erkenntnislehre, die Eckhart einführt, gleichwohl ein intellektuales System, um nicht zu sagen: ein idealistisches, nach sich oder verwendet Eckhart eine für seine Epoche zentrale Kategorie, um etwas anderes damit zum Ausdruck zu bringen? Beim Betrachten seiner Schriften muss man feststellen, dass er dem Intellekt einen wichtigen Platz einräumt, und zwar um eine Theorie der Erkenntnis vorzustellen, zu deren Inhalten gehört, wie Gott zu erleben und sein Wesen zum Ausdruck zu bringen ist. Doch ist die „Metaphysik des Logos“, die er entwickelt, keineswegs eine absolute, vielmehr ist sie im Innern einer trinitarischen Theologie situiert und zielt darauf, jene zentrale Realität zum Bewusstsein zu bringen, welche die Geburt Gottes in der menschlichen Seele ist. Sie ist das Bindeglied, welches Eckhart zwischen Spekulation und Mystik etabliert. Als Theologe verwendet er die Kategorien seiner Epoche, und er tut dieses virtuos, aber diese Kategorien, so erhaben sie auch sein mögen, wie etwa der Intellekt, sind begrenzt. So sagt er in Predigt 73: „Daß Gott mit der Gnade in der Seele ist, das trägt mehr Licht in sich, als alle Vernunft aufzubringen vermöchte; ja, alles Licht, das die Vernunft aufzubringen vermag, ist gegen dieses Licht wie ein einziger Tropfen gegenüber dem Meer und noch tausendmal kleiner. So auch ist es mit der Seele, die in Gottes Gnade steht: der sind klein und eng alle Dinge und alles, was die Ver3 nunft zu leisten und zu begreifen vermag.“ Wie Pascal sagte, steht man unter einer anderen Ordnung. „Im Sprechen von der 4 Ewigkeit her“ , im Eindringen in das Herz Gottes ist Eckhart wie St. Benedikt genau in einer anderen Ordnung, so dass seine Reflexion über die Wichtigkeit des Intellekts in den Blick gerät.
Um welchen Intellekt handelt es sich? Wenn man über den Intellekt spricht, denkt man unwillkürlich an den Intellekt des Menschen. Eckhart zieht aber keinen Nutzen aus der Philosophie des Subjektes. Seine Kategorien sind nicht diejenigen der kantischen Kritik mit ihrer Unterscheidung von Verstand und Vernunft, sondern in Übereinstimmung mit seiner Zeit begreift er den Intellekt als ein Vermögen der Seele, das andere ist dasjenige des Willens. Als Dominikaner votiert Eckhart für einen Primat des Intellekts über den Willen in der Erkenntnis Gottes, wie die Pariser Quaestiones bezeugen. 1
Sturlese: Homo divinus; Flasch: Meister Eckhart. De Libera: Thomas d’Aquin. 3 Pr 73 (DW III, 552). 4 So charakterisiert Tauler Eckhart, vgl. dessen Predigt 15 (übers. G. Hoffmann, Einsiedeln 2007, 103): „Er sprach aus dem Blickwinkel der Ewigkeit“. 2
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Dennoch legt Eckhart einen ihm eigenen Entwurf vor; denn er entwirft mit dem Intellekt eine ganze Theorie der Subjektivität, und zwar eine Erkenntnistheorie, die in gewisser Weise als ein Vorläufer der kantischen gelten kann. Ohne jeden Zweifel 5 ist er von Dietrich von Freiberg beeinflusst, der die ‚kantische Wende des Mittelal6 ters‘ vollzogen hat, wie Kurt Flasch unterstrichen hat. Dietrich zeigte, dass der Intel7 lekt alle Dinge durch seine eigene Urteilskraft innerhalb ihres Wesens konstituiert. Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen schrieb Eckhart keinen Traktat über den Intellekt, oder zumindest ist ein solcher Traktat nicht auf uns gekommen; aber wie Dietrich von Freiberg zeigt er, dass der Intellekt deswegen eine konstitutive Rolle spielt, weil er Bild Gottes ist. In Predigt 11 unterscheidet Eckhart „dreierlei Erkenntnis“: „Die eine ist sinnlich: Das Auge sieht gar weithin die Dinge, die außerhalb seiner sind. Die zweite ist vernünftig und ist viel höher. Mit der dritten ist eine edle Kraft der Seele gemeint, die so hoch und so edel ist, daß sie Gott in seinem bloßen eigenen Sein erfaßt. Diese Kraft hat mich nichts etwas gemein; 8 sie macht aus nichts etwas und alles.“ Hält man sich an diese Klassifikation, ergibt sich, dass der Intellekt ein mittleres Wissen gibt, wie es gewöhnlich bekannt ist. Gleichermaßen ergibt sich, dass der Maßstab, den Eckhart dafür vorschlägt, traditionell ist; Eckhart unterscheidet in seinem Johannes-Kommentar vier Stufen; der menschliche Intellekt bildet die dritte 9 Stufe, auf der vierten folgt der Intellekt der Engel. Doch ist de facto die Fragestellung komplizierter, und sie scheint sich mit der Absicht Dietrich von Freiberg zu treffen; denn: „Vernunft ist stets nach innen wir10 11 kend“. Sie ist der „oberste Teil der Seele“, und in bestimmten Momenten hat man den Eindruck, dass Eckhart sie dem „Seelenfünklein“ annähert, so heißt es etwa: 12 „Das Fünklein der Vernunft, das ist das Haupt in der Seele“. In Predigt 73 sagt Eckhart: „Das natürliche Licht der Vernunft, das Gott in die Seele eingegossen hat, das ist so edel und so kraftvoll, daß ihm eng und klein ist alles, was Gott an kör13 perlichen Dingen je erschuf.“ 14 In Predigt 3 schreibt er: „Die Vernunft dringt in das lautere Sein“ ; aber gleichzeitig erklärt er: „Die Vernunft nimmt Gott so, wie er in ihr erkannt wird; sie kann ihn aber 15 niemals erfassen im Meer seiner Unergründlichkeit.“ 5
Flasch: Von Meister Dietrich. Flasch: Kennt die mittelalterliche Philosophie. 7 Dietrich von Freiberg: Tractatus de intellectu et intelligibili III, 8,-7. 8 Pr 13 (DW I, 472). 9 In Ioh. n.83 (LW III, 71). 10 Pr 9 (DW I, 465). 11 Pr 43 (DW II, 697). 12 Pr 37 (DW II, 676). 13 Pr 73 (DW III, 551). 14 Pr 3 (DW I, 439). 6
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Und Predigt 43 ergänzt: „Die Seligkeit liegt weder in der Vernunft noch im Willen, 16 sondern über ihnen beiden“. Es ist wichtig, an das andere Ufer der Vernunft zu gelangen, und das ist es, was Eckhart in Predigt 71 unternimmt. Dort versetzt er sich in die Lage des Paulus vor Damaskus. Mit Blick auf den Intellekt erklärt er: „Über dieser Vernunft aber, die sucht, ist noch eine andere Vernunft, die da nicht sucht, die da in ihrem lautern, einfaltigen Sein steht, das in jenem Lichte umfangen ist. Und ich sage, daß in diesem Lichte alle Kräfte der Seele sich erhöhen. Die Sinne springen auf in die Gedanken: wie hoch 17 und wie unergründlich die sind, das weiß niemand als Gott und die Seele.“ Er greift nur selten auf die Unterscheidung von möglichem, erworbenem und täti18 gem Intellekt zurück. Doch versteht er Gott ausgehend vom Intellekt; so sagt er: 19 „Der eine Gott ist Intellekt, und der Intellekt ist der eine Gott.“ Auch dieses ist eine Art, die Überlegung des Aristoteles zur „noesis noeseos“ zu reinterpretieren, aber gleichzeitig fügt er in der Predigt an: „Zum Intellekt aufsteigen und sich ihm unterwerfen bedeutet also mit Gott vereinigt werden. Geeint werden, eines sein, ist eins 20 mit Gott sein. Denn Gott ist einer.“ Nachdem wir gesehen haben, wie Eckhart über den Intellekt spricht, ist es möglich, dessen Platz innerhalb der Erkenntnislehre von Eckharts Werk zu bestimmen.
Die Erkenntnislehre im Werk Eckharts Auf gewisse Weise gibt uns Eckhart den Schlüssel für sein Werk im Prologus generalis zum Opus tripartitum. Dort erklärt er: „Drittens und letztens ist vorher zu bemerken, daß das zweite Werk und gleichfalls das dritte so von dem ersten Werk, nämlich dem der Thesen, abhängen, daß sie ohne es nur von geringem Nutzen sind, weil sich die Erklärungen der Probleme und die Auslegungen der Schriftworte meistens auf eine der Thesen gründen. Damit man das aber an einem Beispiel sieht und da Verfahren in dem gesamten dreiteiligen Werk vor Augen hat, werden wir einleitend die erste These, das erste Problem und die Auslegung des ersten Schriftwortes vorausschicken. Die erste These lautet also: ‚Das Sein ist Gott.‘ Das erste Problem hinsichtlich der Gott: ‚Ist Gott?‘ Der erste Ausspruch der Hl. Schrift lautet: ‚Im Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen.‘ Zuerst wollen wir die Erklärung der These betrachten, zweitens auf Grund derselben
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Pr 7 (DW I, 457). Pr 43 (DW II, 699). 17 Pr 71 (DW III, 544). 18 De Libera: Albert le grand, 252. 19 Sermo XXIX (LW IV, 270): „Deus enim unus est intellectus, et intellectus est deus unus.“ 20 Sermo XXIX (LW IV, 270): „Ascendere igitut ad intellectum, subdi ipsi, est uniri deo. Uniri, unum esse, est unum cum deo esse. Deus enim unus est. 16
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die Lösung des Problems, drittens auf Grund derselben die Auslegung des 21 angeführten Schriftwortes.“ Eckhart schlägt an dieser Stelle einen Methodendiskurs vor. Leider ist das Opus propositionum, durch das er die Summa Theologiae ersetzen wollte, bis heute verloren. a) Esse est deus Dieser Sachverhalt ändert freilich nichts daran, dass Eckhart zeigt, dass die erste Proposition offenkundig alle anderen enthält, so dass ihr eine prinzipielle Rolle zu22 kommt: „Das Sein ist Gott“. Sie ist von der Existenz Gottes und seinem Schöpfungswerk nicht zu trennen. Folglich bringt Eckhart, mit Brunners Worten gesprochen, zum Ausdruck: „le rapport de création qui va du Dieu chrétien au monde qu'il produit. Philosophie et théologie se recouvrent, et l'une permet de comprendre le sens de l'autre. L'être qui est Dieu est donc l'être de Dieu pris en lui-même ou dans la 23 communication qu'il fait de soi sans cesser de s'appartenir à soi-même“ Eckhart geht auf die Hauptsache. Er fasst die Bezeichnung mit der höchsten Dignität ins Auge, die er kennt: das Sein. Er zeigt, dass dieses Sein zwar Gott nicht zu 24 25 charakterisieren vermag. Dieses Sein ist jedoch Gott, denn es ist das Prinzip von 26 allem, was, philosophisch gesehen, logisch einsichtig ist . Eckharts Intention ist es, gleichermaßen die Einfachheit wie die Reinheit des Seins herauszukristallisieren, aber in Differenz zur Terminologie seiner Zeitgenossen, sagt er unmittelbar, dass Gott der Schöpfer ist und dass es eine Gnade ist, dass Gott 27 sich für das Sein erwärmt – im Sinne einer bullitio oder einer collatio esse. Wenn sich Eckhart auf die erste Exposition bezieht, die der Anfang der Genesis ist, dann geht er von der Philosophie in die Theologie über, indem er nicht nur sagt, dass Gott das Sein, sondern auch dass er Grund oder Ursprung des Seins ist, da er doch grundlegend Schöpfer ist, und dass die Schöpfung mit Blick auf die Folge eine 28 „collatio esse“ , eine Sammlung des Seins, ist, welche das Sein schenkt oder verleiht. 21
Prol. gen. n.11 (LW I, 156): „Tertio et ultmio est praenotandum quod opus secundum, similiter et tertium sic dependent a primo opere, scilicet propositionum, quod sine ipso sunt parvae utilitatis, eo quod quaestionum declarationes et auctoritatum expositiones plerumque fundantur supra aliquam propositionum. Ut autem hoc exemplariter videatur et habeatur modus procedendi in totali opere tripartito, prooemilialiter praemittemus primam propositionem, primam quaestionem et primae auctoritatis expositionem. Prima igitur propositio est: Esse est deus. Prima quaestio de divinitate: Utrum deus sit. Prima auctoritas sacri canonis est: In principio creavit deus caelum et terram. Primo igitur videamus propositionis declarationem, secundo ex ipsa quaestionis solutionem, tertio ex eadem auctoritatis praemissae expositionem“ 22 Manstetten: Esse est Deus. 23 Brunner: Le Commentaire, 125. 24 Fischer: Meister Eckhart; Albert: Meister Eckharts These von Sein. 25 Goris: Einheit als Prinzip und Ziel. 26 Muller-Thym: The Establishment, 68-115. 27 Gire: Maître Eckhart. 28 Prol. gen. n.16 (LW I, 160): „creatio est collatio esse“. „Schöpfung ist Mitteilung des Seins“.
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Eckhart beginnt also mit einer Proposition der klassischen Ontologie; im Ausgang von ihr entfaltet er alle seine Subtilität der Spekulation, um zu einer dynamischen Vision des Seins zu gelangen, um zu sagen, dass Gott essentiell Schöpfer ist und dass die Schöpfung kontinuierlich ist. Wie Eckhart freilich in Predigt 9 unterstreicht, vermag das Sein nur, Gott in sei29 ner Äußerlichkeit zu bestimmen, in seinem Vorhof. Tatsächlich wendet Eckhart keine Kategorie auf Gott an, aber er zeigt, dass die höchste Realität – das Sein – nur mit Bezug auf Gott begriffen werden kann (wobei er impliziert, dass alles von Gott kommt) und dass es auch und vor allem wichtig ist, seine Besonderheit als Schöpfer in Rechnung zu stellen, also seine relationale Dimension als Subjekt par excellence. b) Gott ist seinsübergreifend, er ist Intellekt Um Gottes Rolle als Schöpfer zu präzisieren, zieht Eckhart den Vorschlag einer ursprünglichen Ontologie heran, die auf eine Metaphysik des Logos ausgerichtet ist. Denn der Logos ist gleichermaßen Intellekt. Folglich kann Eckhart in der ersten Pariser Quaestio schreiben: „Deshalb ist Gott, der Schöpfer und nicht erschaffbar ist, Intellekt und Er30 kennen und nicht seiend oder Sein.“ Er fügt an: „Wenn in Gott etwas ist, was du Sein nennen willst, so kommt es ihm zu 31 durch das Erkennen.“ In einer philosophischen Relektüre, wobei man in Rechnung stellen muss, wie es in Paris zu Eckharts Zeit aussieht, geht Eckhart von der Ontologie in eine Erkenntnis32 33 lehre über , wobei er Magister Gunsalvus de Hispania antwortet.
Der Intellekt als Tempel Gottes Für sein Vorhaben spielt die Predigt 9 eine entscheidende Rolle. Eckhart legt der 34 Predigt zwei Fragen zugrunde: „Was ist ‚Gott‘, und was ist ‚Tempel Gottes‘?“ Bezüglich der ersten greift er auf das Problem des Seins zurück und unterstreicht: „Gott 35 ist in allen Kreaturen, sofern sie Sein haben, und ist doch darüber.“ Bezüg-
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Pr 9 (DW I, 464): „Wenn wir Gott im Sein nehmen, so nehmen wir ihn in seinem Vorhof“. Vgl. Brunner: Maître Eckhart, 96-99. 30 Quaest. Paris I n.4 (LW V, 41): „Ideo deus, qui est creator et non creabilis, est intellectus et intelligere et non ens vel esse.“ 31 Quaest. Paris I n.4 (LW V, 45): „Si in deo est aliquid, quod velis vocare esse, sibi competit per intelligere.“ 32 Imbach: ‚Deus est intelligere‘. 33 Vgl. dazu die sogenannte dritte Pariser Questio (LW V, 55-71). 34 Pr 9 (DW I, 462). 35 Pr 9 (DW I, 462).
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lich der zweiten geht er von der Ontologie zur Erkenntnislehre über, um zu erklären, dass der Intellekt Tempel Gottes ist: „Nirgends wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft, wie jener andere Meiste sagte: Gott sei eine Vernunft, die da lebt im erkennen einzig ihrer selbst, nur in sich selbst verharrend dort, wo ihn nie etwas berührt hat; denn da ist er allein in seiner Stille. Gott erkennt im Erkennen 36 seiner selbst sich selbst in sich selbst.“ In dieser Predigt, gehalten zur Feier des Festes des Heiligen Dominicus, hat Eckhart tatsächlich den Übergang von der Ontologie zur Erkenntnislehre vollzogen, indem er deutlich herausarbeitete, dass Gott oberhalb des Seins ist und indem er auf seine Weise eine Onto-Theologie begründete und einführte. Er beabsichtigt dabei nicht, das Sein Gottes zurückzuweisen, aber doch zu zeigen, dass das Sein nichts weiter ist als eine Form des Erscheinens, eine äußere Bezeichnung, während doch Gott anderswo ist: im Intellekt. Aber er geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass Gott, wie er auch nicht das Sein ist, so auch nicht der Intellekt ist. Man hat den Eindruck, dass Eckhart ein wenig in Richtung von Augustinus geht, als dieser die Dreiheit in der Trinität definieren wollte: quid tres? und er in Ermanglung eines Besseren sich für den Terminus der Person entschied: die Dreiheit in der Trinität sind drei Personen. Um hier probeweise Gott zu bestimmen, übersteigt Eckhart sowohl das Sein wie den Intellekt und kommt zum Einen, wie er es schon in Sermo XXIX herausgearbeitet hatte, den er während seines Aufenthaltes an der Pariser Universität hatte halten müssen. Eckhart entwickelt dort nicht „une spéculation de la simple raison, il (opte pour) une spéculation qui change la vie, une spéculation qui est une œuvre de volonté et 37 d'amour autant que d'intelligence“ , indem er Spekulation und Mystik verbindet. Folglich lädt er in einer Relektüre von „In principio“ zu einem Verständnis von Sein als Adverb, ein „ad verbum“, ein, einem Sein, das auf den Logos orientiert ist, um ihm gleichgestaltet zu sein und sein Leben zu leben. Eckhart will also die Originalität des Gottes herausarbeiten, den die Schrift als Logos vorstellt und den Eckhart als Intellekt bestimmt. Gibt es aber einen Widerspruch zwischen den beiden Bestimmungen des Seins und des Intellekts? Tatsächlich relativiert Eckhart einfach nur die Kategorie des Seins, während manche seiner Zeitgenossen darauf zielten, sie absolut zu setzen. Er ersetzt sie durch den Intellekt, der vier Vorteile in sich hat: Er ist jenseits der Kategorien von Raum und Zeit und erlaubt folglich einen Übergang von der Zeit in die Ewigkeit; er ähnelt dem Nichts, und in diesem ähnelt er Gott; er ist rein. Seine vierte 38 Eigenschaft ist „die vollkommene Innerlichkeit“ Doch gleichermaßen betont er:
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Pr 9 (DW I, 464). Für das Binnenzitat vgl.: Liber XXIV philosophorum, prop. 4. Brunner: Maître Eckhart et le mysticisme spéculatif, 10. 38 In Gen I n.99 (LW I, 255). 37
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„[…] erhellt daraus, daß ein Wesen Sein und Erkennen von demselben (Ursprung) hat. Das gilt vor allem von den einfachen und göttlichen Wesen, wo 39 Sein und Erkennen dasselbe und aus demselben (Ursprung) sind.“ In der ersten Pariser Quaestio fügt er hinzu: „In Gott ist kein passives Vermögen. Es wäre aber ein solches da, wenn nicht 40 Sein und Erkennen in Gott identisch wären.“ Indem Gott Leben und Bewegung ist, sind Sein und Erkennen in ihm identisch, und eben dieses macht ihn zum Subjekt par excellence. Wenn Eckhart, mit Thomas von Aquin, für den Intellekt und nicht für den Willen votiert, dann geschieht dies auch im Blick auf den Konflikt, den in dieser Zeit die Franziskaner und die Dominikaner austrugen. Die ersten, unter ihnen Gunsalvus von Spanien, mit dem Eckhart debattiert hat, votieren für den Willen, die zweiten, unter ihnen Eckhart, geben dem Intellekt den Vorrang. Eckhart erläutert seine Position genauer im Verlaufe von Predigt 9. „Ich aber sage, dass die Vernunft edler ist als der Wille. Der Wille nimmt Gott unter dem Kleide der Gutheit. Die Vernunft nimmt Gott bloß, wie er 41 entkleidet ist von Gutheit und von Sein.“ 42 Der Intellekt nimmt Gott folglich gemäß seiner Einheit. Aber für ihn stellt der Intellekt nicht das letzte Wort dar. Im Gegenteil, er behauptet: „Du sollst Gott ungeistig lieben, das heißt so, daß deine Seele ungeistig sei 43 und entblößt aller Geistigkeit.“ So verweist uns Eckhart auf die Gelassenheit, verstanden als Entbildung, also als 44 Lassen der Vorstellungsbilder, um Gott gewahr zu werden. Auf der anderen Seite ist der Intellekt nicht weniger als ein Vermögen der Seele, und er ist sich nur auf eine inadaequate Weise im Klaren über Gottes Wesen. Erneut übersteigt Eckhart diese Vorstellung. Er selbst wird bis zur Identifikation von Gott und Nichts gehen, und zwar in Predigt 71. Aber es ist nicht mehr als ein Moment seiner Dialektik, und er sagt dementsprechend: „Das Licht, das Gott ist, das fließt aus und 45 verfinstert alles Licht,“ da Gott selbst die Quelle allen Lichtes ist, die puritas essendi, die Reinheit selbst des Seins, die keine andere Sache ist als das Sein, welches wir wahrnehmen können und die folglich unter einer Kategorie steht. Hieraus begreift man den provokanten Charakter bestimmter Aussagen Eckharts, die darauf zielen, die absolute Transzendenz Gottes herauszuarbeiten, und die dazu führen, von einer „Exo46 dus-Metaphysik“ auf eine Metaphysik des Logos überzugehen. 39
In Ioh. n.189 (LW III, 158): „[…] patet primo, quia ab eodem res habet esse et cognoscere, maxime in simplicibus et , ubi esse et noscere idem est et ab eodem est.“ 40 Quest. Paris. I (LW V, 38): „In deo nulla est potentia passiva. Esset autem, nisi intelligere et esse sint idem in deo.“ 41 Pr 9 (DW I, 153 / 464). 42 Mojsisch: Analogie, Univozität und Einheit. 43 Pr 83 (DW III, 447f. / 586). 44 Wackernagel: Ymagine denudari. 45 Pr 71 (DW III, 227 / 546). 46 De Libera / Zum Brunn: Métaphysique du Verbe, 71-73.
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In der Predigt 102 geht Eckhart einen Schritt weiter, indem er das Vergessen und das Nicht-Wissen einbezieht. Das scheint paradox. Warum sollte er vorschlagen, die höchsten Vermögen der Seele aufzugeben: das Gedächtnis und den Intellekt? Offenbar eben deswegen, weil sie menschliche Vermögen sind, welche der Zeit angehören, und weil die Geburt ewig ist und sie uns zu Kindern Gottes macht. Folglich schreibt er: „Und alsus in dirre wîse muost dû abseslahen alliu dîniu werk und muost tuon swîgen alle dîne krefte, solt dû in der wârheit bevinden dirre geburt. In dir solt dû vinden den geborenen […] des helfe uns der, der dar umbe ist 47 worden des menschen kint, daz wir werden gotes kint“ Es ist wichtig, an das andere Ufer zu gelangen, die österliche Dynamik zu leben, wie es Augustinus gemacht hat, indem er begriffen hat, dass der Sinn der memoria Dei, des Seins, an die Stelle der Einheit der Trinität selbst, zu setzen ist. Das ist wahrhaftig die mystische Dimension: Das Aufnehmen der Gnade in der Einheit seines Seins. Dieses ist eine andere Komponente der Metaphysik des Logos, die noch mehr von der Erfahrung offenbart, aber keine Spekulation ist, die weit entfernt von einem 48 abwesenden Sein ist. Jean Devriendt hat dies im Ausgang von Sermo LIV,2 deutlich gemacht, wo Eckhart sagt: „So muß die Seele, um Gott schauen zu können, ihm erstens durch Verklä49 rung gleichgestaltet werden.“ Gott ist grundwesentlich Einer. In Sermo XXIX geht Eckhart vom esse zum intelligere und von da aus zum unum, um eine Erkenntnis Gottes zu versuchen. Diese Predigt mit dem Titel „Deus unus est“ „devait tenir pour Eckhart une place assez importante dans l'ensemble de ses écrits latins […] Ce sermon sur l'Un-intellect réunit les éléments essentiels de la spéculation métaphysique d'Eckhart avec sa doctrine de l'union mystique, où viennent culminer l'ontologie et la noétique du Thuringien. On devine déjà les grandes lignes du ‚retour‘ par l'intellect et la grâce vers l'identité de l'être en Dieu, d'où toutes choses sont ‚sorties‘ par création. En tant qu'il est doué d'intellect, l'homme est créé à l'image de Dieu: s'il n'est pas vraiment 50 un, il a néanmoins la faculté de l'union“ . Diese Vermögen ist der Intellekt. Folglich antworten die beiden hier in den Blick genommenen Grundsatzpredigten: „[Les Sermons] allemande 9 et latin XXIX répondent-ils à deux moments différents dans la vie spirituelle. Dans le premier, qui appartient encore à la voie de l'assimilation, Eckhart veut diriger la pensée vers la dissemblance divine et fait entrevoir finalement, sous l'aspect ‚propre‘ d'un Dieu-Intellect en Soi, le principe de l'unité transcendante à l'assimilation, unité qui n'est pas extérieure à l'intellect humain en quête de Dieu. Le stade spirituel du deuxième ser47
Pr 102 (DW IV, 425). Vgl. Devriendt: Der Intellekt in den lateinischen Predigten Meister Eckharts, in diesem Band, 49. 49 Sermo LIV,2 (LW IV, 448): „Sic anima, ut deum videat, debet primo deo configurari per trasfigurationem.“ 50 Lossky: Théologie négative, 173. 48
Intellekt bei Meister Eckhart
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mon n'est plus l'assimilation, commandée par la fin sur la vie du retour à Dieu, mais l'union ou plutôt l'unité avec Dieu toujours présente dans l'intel51 lect des êtres créés à son image“ Das ist der Horizont des gesamten menschlichen Lebens: die Einung mit Gott, die Gotteskindschaft, die Geburt des Logos in der Seele, die impliziert, dass wir Söhne des ewigen Vaters mit Christus werden, was Eckhart, wie man in Predigt 46 lesen kann, in Betracht zieht, wo diese Einung tiefschürfend in Erinnerung gerufen wird. Folglich ergibt sich der Übergang, wie Eckhart in seinem Johannes-Kommentar 52 ausführt, vom lumen intellectus naturale zum lumen gratiae und von dort zum lumen gloriae. Man muss folglich schließen, dass im Verdruss über seine Schwachheit der Intellekt bei Eckhart nicht das letzte Wort hat, sondern das lumen gratiae als Einführung in das trinitarische Leben ihn übersteigt in der Erwartung des lumen gloriae in der Ewigkeit.
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Ebd. 208. In Ioh. n.293 (LW III, 246).
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JEAN DEVRIENDT
Der Intellekt in den lateinischen Predigten Meister Eckharts Mit mehr als 1200 Belegen allein im lateinischen Werk, davon nahezu 200 in den Sermones, ist die Wortfamilie zu intellectus mit den dazugehörigen Adjektiven, Substantiven und Verben eine der häufigsten in Eckharts Werk. Aus diesem Grunde lässt sich in der Kürze keine Analyse aller Texte vorlegen. Das einzige, was möglich scheint, ist, eine Skizze über das ganze Ensemble zu geben. Hierzu beschränkt sich der folgende Text auf die lateinischen Predigten, indem, im Rückgriff auf den Disput Eckharts mit Gunsalvus von Spanien, die Argumentation bezüglich des Intellektes untersucht wird. Wir werden folglich die Position Eckharts innerhalb eines sehr weiten Ensembles von Referenzen situieren, wobei besonders auf die thomasischen Lösungen Rücksicht genommen werden wird.
Der geschaffene Intellekt Die visio beatifica, in welcher der Mensch vollen Zugang zur Kontemplation und zum Verstehen Gottes hat – stellt sie die Frucht des Intellekts dar? Der Ursprung dieser Frage muss mit der Tradition vor Eckhart verbunden werden. Schon für Thomas von Aquin hat die Glückseligkeit ihre Wurzel nicht im Willen – anders ist es im Denken Bonaventuras –, sondern im Intellekt, welcher die göttliche Voll1 kommenheit kontempliert. Kann die Seele, und unter welchen Bedingungen, kann die Seele Gott schauen? Eckhart antwortet in seinen Sermones: „So muß die Seele, um Gott schauen zu können, ihm erstens durch Verklä2 rung gleichgestaltet werden. Erkläre dies.“ Hören wir auf den Meister, und versuchen wir, seine Worte zu erläutern.
Die visio beatifica Die Fähigkeit der Seele, Gott zu schauen und folglich auch zu erkennen, liegt zumindest der zweiten Pariser Quaestio zugrunde, weil die englische Tätigkeit, durch 3 den Titel verknüpft mit dem Intellekt und dem Sein , in reiner Form die englische visio beatifica ist. Nun schlagen für die visio beatifica die Systeme der Franziskaner, 4 5 wie sie von Bonaventura, von Gunsalvus von Spanien oder von Duns Scotus kommen, im Gegensatz zu den Dominkanern, die ihre Argumente auf einen Vorrang des Intellekts richten, einen Primat des Willens vor. Wie soll der so gerühmte Intellekt 1
Vgl. Thomas von Aquin: STh Ia-IIae q.3 a.4. Sermo LIV,2 n.532 (LW IV, 448). 3 Vgl. Quaest. Paris. II: „Utrum intelligere angeli, ut dicit actionem, sit suum esse“ (LW V, 49). 4 Vgl. dazu Zum Brunn (et al.): Maître Eckhart à Paris. 5 Cf. Bérubé: Le dialogue de Duns Scot et d'Eckhart à Paris en 1302, die sich die Artikel im Sammelband von Zum Brunn (et al.): Maître Eckhart à Paris, zum Korrigieren vornimmt, welche sich besonders dem franziskanischen und vor allem dem scotistischen Ansatz widmen. 2
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ein adäquates Bild Gottes produzieren? Es ist nicht so sehr die Antwort auf diese Frage, welche für den vorliegenden Aufsatz wichtig ist, sondern die Tatsache, dass die Frage überhaupt für eine künftige Bearbeitung einmal gestellt ist. Allen Meistern zufolge liegt das vollendete Heil sicherlich in der Gottwerdung des Menschen und in seiner Anbindung an den Ausgang aus der Region der Unähnlichkeit, aber diese Gottwerdung findet ihnen zufolge obligatorisch erst postmortal statt. Thomas von Aquin selbst hat die Basis gelegt für die Argumentation der Dominikaner, in welcher 6 der Intellekt seinen Primat ausübt über den Willen, ohne den die eschatologische Distanz verwischt. Edouard Weber hat diesen Hintergrund in der Darstellung der 7 Pariser Quaestiones analysiert.
Intellekt und lumen gloriae Obgleich in den Schriften Eckharts die Schau Gottes durch die Seele eine häufig erörterte Fragestellung ist, obgleich alle Elemente der Debatte zur visio beatifica – Wiedergutmachung, Wachstum, Unterscheidung von Gutheit und Glückseligkeit, Wille, Intellekt – diskutiert sind, obgleich die Schau im Zentrum der Fähigkeit des Intellekts steht, ein Bild zu produzieren, so fehlt doch die visio beatifica selbst, während sie unter dem Pontifikat von Johannes XXII. wiederum an Bedeutung gewonnen hat. Sie regte zu einem hohen Maß den Großteil der theologischen Debatten zwischen der Mitte des 8 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts an. Christian Trottmann hat gezeigt, wie diese Frage, wo sie doch Johannes XXII. 1331 nicht endgültig lösen wollte, im Herzen der scholastischen Debatten zwischen Dominikanern und Franziskanern von 1241 an war, jenem Datum, wo Albert der Große die Grundlagen dafür gelegt hat. Außerdem trugen, vornehmlich um die Debatte zu einem Frieden zu führen, Johannes von Dambach und Johannes Tauler in der Mitte des 14. Jahrhunderts eine Kopie von De sensibus zu den Pariser Dominikanern, ein Werk, welches unmittelbar von der visio beatifica 9 inspiriert ist. Eckhart musste die Debatte also kennen. Sie musste einer der Punkte seiner Darstellungen zum Intellekt ausmachen. Nun wird die visio beatifica selbst nur sehr vage in den lateinischen Predigten an10 gesprochen. Im Anschluss an eine Argumentation von Augustinus engagiert sich Eckhart fast nicht. Diese Diskussion beschränkt sich nicht darauf, zu wissen, ob das persönliche Gericht von dem jüngsten Gericht verschieden ist – es muss in erster Linie etablieren, unter welchen Bedingungen der Intellekt die Fähigkeit besitzen oder innehaben könnte, ein Bild des unsichtbaren Gottes zu konzipieren – oder ob diese Fähigkeit nicht die ganze und vollständige Zusammenstellung aller Dinge über und unter Christus abwarten muss. Die den Intellekt betonende Version der Dominikaner, wie sie vorrangig von Thomas von Aquin repräsentiert wird, verwendet in 6
Vgl. die Geschichte dieser Debatte bei Guindon: Béatitude et théologie morale. Vgl. Wéber: Le problème de la vie bienheureuse. 8 Vgl. Trottmann: La Vision béatifique. 9 Vgl. Devriendt: Jean de Dambach; Gnädinger: Tauler, Jean. 10 Vgl. Sermo XV,2 n. 159 (LW IV, 151); XXIV,1 n. 243 (LW IV, 223); XLVII,1 n.488 (LW, 403). 7
Der Intellekt in den lateinischen Predigten Meister Eckharts
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dieser Diskussion einen genauen Terminus, und zwar denjenigen des lumen gloriae. Durch das lumen gloriae kann der Intellekt Gott schauen in einer Vision, welche die Verherrlichung der Auserkorenen vollendet. Der eng begrenzte Gebrauch des Ausdrucks lumen gloriae bei Eckhart muss folglich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In den Texten, die auf uns gekommen sind, entwickelt Eckhart keine nennenswerte Eschatologie; das ist ein Manko des Eckhartschen Corpus, soweit es den Zeiten standgehalten hat. Gleichwohl bestätigen die wenigen Vorkommnisse des Terminus lumen gloriae zwei Dinge: erstens, dass Eckhart meisterhaft vollkommen die Debatte beherrscht, wobei auch er, in Gefolgschaft zu Thomas von Aquin, dem Intellekt einen besonderen Platz einräumt. Es ist, um dieses zu zeigen, in erster Linie auf Sermo XLIX,1 zu verweisen: „ ‚Wir werden hinübergeformt‘ […] ‚von Herrlichkeit zu Herrlichkeit‘, das heißt vom natürlichen zum übernatürlichen Licht und vom Licht der Gnade 11 schließlich zum Licht der Glorie.“ Es ist zu beachten, dass diese Passage des Textes in einer Predigt steht, die dem Bild Gottes gewidmet ist. Die Abfolge der Geschehnisse, die im Paragraphen geschildert werden, welcher die letzte Handlung Gottes beschreibt, liegt in der Zukunft. Zwei andere Zitationen, eine im Kommentar zum Johannes-Evangelium und eine andere in den lateinischen Predigten, präzisieren die Unterscheidungen Eckharts. Zunächst sei die Stelle aus den Predigten zitiert: „ ‚Tage kommen‘. Tage sagt (der Prophet), obwohl es nur ein Tag ist. Oder 12 er meint die Tage der Einsicht, der Gnade und der Glorie.“ Diese Dreiteilung von Intellekt, Gnade und Glorie wird im Kommentar zum Johannes-Evangelium weiter verdeutlicht: „Diese drei Tage bedeuten die Stufen der Anfänger, der Fortgeschrittenen und der Vollendeten oder das natürliche Licht des Verstandes, das Licht der 13 Gnade und das Licht der Herrlichkeit.“
Glückseligkeit und Intellekt Eckhart kennt folglich die Termini der Debatte sehr gut. Doch macht er nichts weiter als eine Anspielung in seinem Kommentar zur Genesis auf die visio beatifica als einen hinlänglich subtilen Punkt, um im Opus quaestionum behandelt zu werden: „Nimm also unvoreingenommen zur Kenntnis, was Augustin (uns hier) lehrt: die Seligkeit besteht in der Schau oder Erkenntnis Gottes. Darüber wirst du 14 in unserm Werk der Probleme vieles finden.“ 11
Sermo XLIX,1 n.508 (LW IV, 423): „ ‚Transformamur‘ […] ‚a clariatate in claritatem‘, id e st a naturali lumine in supernaturale et a lumine gratiae tandem in lumen gloriae.“ 12 Sermo LI n.520 (LW IV, 435): „Dies veniunt. Dies dicit in plurali, cum sit unus. Vel dies intellectus, gratiae et gloriae“. 13 In Ioh n.293 (LW III, 246): „Tres autem dies isti sunt incipientium, proficientium et perfectorum vel lumen intellectus naturale, lumen gratiae et lumen gloriae.“ 14 In Gen I n.296 (LW I, 432f.): „Nota ergo aperte sententiam Augustini quod beatitudo consistit in visione sive in cognitione die. De quo diffuse invenies in Opere quaestionum nostrarum.“
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Nun ist dieses Opus quaestionum, wo Eckhart „diffuse“ das Thema behandelt, verloren. Gleichwohl haben wir hier die Gewissheit, nicht seine ganze Argumentation über den Intellekt und die visio beatifica zu besitzen, sind wir doch an einen verlorenen Text verwiesen. Diese kleine Passage evoziert zwei Anmerkungen. Erstens hebt die augustinische Argumentation von Eckhart die übereilte, aber oft getroffene Vereinfachung zwischen einer augustinischen Franziskaner-Schule und einer neuen prinzipiell aristotelischen Dominikaner-Schule auf: Beide Richtungen greifen explizit auf Augustinus 15 zurück. Zweitens sei auf Eckharts Kommentar zur Genesis verwiesen, wo in n.135 Folgendes angemerkt wird: „Wie nach Thomas im Kommentar zum 4. Buch (der Sentenzen) die Seligkeit ihrem Wesen nach (als Anschauung Gottes) in der Vernunft ist, im Willen aber formell (als Seligkeit), insofern er nämlich (in dieser Anschauung) das (letzte) Ziel oder das (höchste) Gut besitzt und genießt, so haben schlechthin alle Dinge die Gutheit dem Wesen nach daher, woher sie auch ihr Sein oder ihre Seins16 heit haben – denn gut und seiend sind vertauschbar.“ An der Aussage sind zwei Punkte bemerkenswert: an erster Stelle, dass die Glückseligkeit der Faktizität und Zuweisung zur Ontologie entnommen wird. Glückseligkeit 17 ist ein Zustand, keine Aktivität. Zweitens greift Eckhart wieder einmal explizit auf Thomas von Aquin zurück, aber ohne zu meinen, er sei verpflichtet die Schlussfolgerungen des Doctor angelicus wiederholen zu müssen; denn er verschiebt die eschatologischen Schlussfolgerungen von Thomas an anderen Stellen seines Werkes in das Gebiet der Ausgießung der Gnade in die Seele. Indem er das zukünftige Geschehen in ein in der Gegenwart in der Seele realisierbares umwandelt und es durch die Einung der Seele mit Gott (mit allen Aufforderungen, die mit einer solchen Einung verbunden sind) bedingt sein lässt, schlägt Eckhart eine antizipierte Eschatologie vor, in der eine Glückseligkeit, die von Gott kommt, für die Seele möglich ist, was Thomas zu tun sich hütet. Infolgedessen wird die eschatologische Frage, gestellt im Raum der Ewigkeit, zu einer mystischen Frage, auf deren Gegenstand man nicht bis zum Ende der Tage warten muss. So sind der Intellekt, die Einung mit Gott und die Glückseligkeit intim miteinander verflochten im ganzen Werk Eckharts.
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In Ioh n.674 wird auf In Gen I n.135 verwiesen, um den Leser des Johannes-Kommentars auf den Genesis-Kommentar zu verweisen. 16 In Gen. I n.135 (LW I, 288): „Secundum Thomam Super IV, est in intellectu substantialiter, in voluntate vero formaliter, sub ratione scilicet et nomine finis sive boni aut fruitionis, sic universaliter res omnis ab illo habet substantialiter bonitatem, a quo habet esse sive entitatem – bonum enim et ens convertuntur.“ 17 Kern: „Gottes Sein ist mein Leben“, 217. Das ganze Kapitel des Buches „Intellectus entspricht vivum“ (216ff.) zielt auf diesen Punkt.
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Die Apophase des Wissens Alain de Libera verbindet die Frage nach der Glückseligkeit bei Eckhart mit dem „ed18 len Menschen“, der seine ganze Glückseligkeit von Gott her bezieht. Für diesen edlen Menschen kann der Thüringer Meister sagen, wie Wackernagel zusammenfasst: „Il n’y a sans doute pas de béatitude, sans que l’homme ait conscience et sache bien qu’il contemple et connaît Dieu.“ Eckhart fügt freilich an: „Mais 19 Dieu veuille que ce ne soit pas là ma béatitude […]“ Die erste Reaktion beim Lesen dieser letzten Zeilen ist, darin nicht mehr zu sehen als eine Figur, aber diese Behauptung wird getroffen in gerader Linie von einer Reflexion des Thomas aus, die sich in der Summa contra gentiles findet und in der dargelegt 20 ist, wie der Primat des Intellekts über den Willen zu begründen ist. Eckhart unterstreicht die Kritik von Thomas am Willen, indem er sie auf den Intellekt anwendet: Die Glückseligkeit des Wissens um sich selbst nimmt den Intellekt in anderer Weise in Anspruch denn als Objekt seines Wissens. Anders gesagt, die Reflexivität des Intellekts, welche die Erkenntnis vom Wissen gibt, lenkt den Intellekt von seinem ersten Gegenstand ab, der Betrachtung eines anderen, indem er das Wissen um sich selbst als eine Fähigkeit, sich zu wissen, herbeiführt. Diese Anthropologie ist Ge21 meingut innerhalb der Schule der Dominikaner. Es ist von nicht geringem Interesse bezüglich der Frage nach dem Intellekt bei Eckhart, dass er auf seine Weise zu dieser Anthropologie hinführt. Für den thüringischen Meister setzt der Intellekt innerhalb seiner Fähigkeit, zeitlich versetzt oder gegenwärtig Gott zu schauen, den unedlen Menschen durch die Gnade der Abgeschiedenheit in eine Beziehung zum mit Glückseligkeit erfüllten Subjekt. In seiner Darstellung zur Geschichte des Intellektbegriffs hat Harald Schwaetzer gezeigt, wie in einer Linie von Eriugena zu Cusanus Eckhart die Grenzen des Intellekts, die ihm zunächst durch seine Reflexivität gegeben sind, durch seine Art, die Vorstellungsbil22 der zu nichts werden zu lassen, überwindet. Diese Frage der Reflexivität des Intellekts führt auf diejenige nach dem Verhältnis von Konstruktion und Dekonstruktion 23 des Subjektes bei Eckhart, wie Marie-Anne Vannier ausgeführt hat. Mit Recht weist Alain de Libera darauf hin, wie bedeutsam die Abgeschiedenheit für diese Frage von 18
Vgl. De Libera: Maître Eckhart à Paris, 25. Vgl. Wackernagel: Ymagine denudari, 78. 20 Thomas von Aquin: ScG III, c.26: „Si enim intellectus intelligit se intelligere, prius oportet poni quod intelligat rem aliquam, et consequenter quod intelligat se intelligere: nam ipsum intelligere quod intellectus intelligit, alicuius obiecti est; unde oportet quod vel procedatur in infinitum, vel, si est devenire ad primum intellectum, hoc non erit ipsum intelligere, sed aliqua res intelligibilis. Similiter oportet quod primum volitum non sit ipsum velle, sed aliquid aliud bonum. Primum autem volitum intellectualis naturae est ipsa beatitudo sive felicitas: nam propter hanc volumus quaecumque volumus. Impossibile est igitur felicitatem essentialiter in actu voluntatis consistere.“ 21 Vgl. Kern: Gottes Sein ist mein Leben, 41. 22 Schwaetzer: Nikolaus von Kues als Vordenker der Subjektivität. 23 Vannier: Déconstruction de l’individualité. 19
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Konstruktion und Dekonstruktion des Subjektes bei Eckhart ist, in der die Reflexivität überwunden ist mit dem Vorteil eines Nicht-Wissens, welches er „Apophase des 24 Nichtwissens“ nennt. In seinem Traktat vom edlen Menschen entfaltet Eckhart den Gedanken: „Nun hat es etliche Leute gedünkt, und es scheint auch ganz glaubhaft, daß Blume und Kern der Seligkeit in jener Erkenntnis liegen, bei der der Geist erkennt, daß er Gott erkennt; denn, wenn ich alle Wonne hätte und wüßte nicht darum, was hülfe mir das und was für eine Wonne wäre mir das? Doch 25 sage ich mit Bestimmtheit, daß dem nicht so ist.“ In der Tat, von der Glückseligkeit zu wissen, führt wiederum das Ich als Bewusstsein 26 in die Schau Gottes ein, während die vergöttlichende Einung mit Gott von dieser Reflexion geschieden ist. Aber diese Abgeschiedenheit des menschlichen Intellekts ist keineswegs hinreichend. In Sermo VI, welcher der Liebe gewidmet ist, versieht Eckhart den Intellekt mit einem Neologismus: „supernudus“, der darüber hinaus im Werk Eckharts ein hapax legomenon ist. In diesem Sermo weist Eckhart auf ein anderes Feld der Theologie als es jenes der Pariser Dispute ist: „Ebenso sind wir durch sie [sc. die Liebe] allein gut, im entblößten und überentblößten Intellekt aber sind wir nicht gut, sondern selig. Es verhalten sich aber Intellekt und Wille, Liebe und Seligkeit, wie Magd und Freie, wie Wesensform und Zurichtung auf diese (Wesensform) hin, wie Sein zu Werden, 27 wie Sich-aufwärts-bewegen zu Oben-ruhen.“ Das Wissen, welches durch eine intellektuelle Anschauung empfangen ist, muss einem 28 unmittelbaren Wissen weichen, welches Korrelat der Einung mit Gott ist, ein unmittelbares Wissen, in dem das Schauen des Göttlichen und folglich der göttliche Intellekt Teil des Menschen ist. Diese Position entfaltet Predigt 12 Qui audit me; sie wurde von den Kölner Zensoren in der ersten Phase des Prozesses angefochten: „Daz ouge, dâ inne got sihe, daz ist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mîn ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin gesiht und éin bekennen 29 und éin minnen.“
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Vgl. De Libera: Maître Eckhart à Paris, 26. Traktat I: II. Vom edlen Menschen (DW V, 116 / 502f.). 26 Traktat I: II. Vom edlen Menschen (DW V, 118 / 504): „So also sage ich, daß es zwar Seligkeit nicht gibt, ohne daß der Mensch sich bewußt werde und wohl wisse, daß er Gott schaut und erkennt; doch verhüte Gott, daß meine Seligkeit darauf beruhe! Wem’s anders genügt, der behalte es für sich, doch erbarmt’s mich. Die Hitze des Feuers und das Sein des Feuers sind gar ungleich und erstaunlich fern voneinander in der Natur, obzwar sie nach Zeit und Raum gar nahe beieinander sind. Gottes Schauen und unser Schauen sind einander völlig fern und ungleich.“ 27 Sermo VI,3 n.64 (LW IV, 62): „Iterum per ipsam solam [sc. caritatem] boni sumus, intellectu autem nudo et supernudo non boni, sed beati sumus. Habent se intellectus et voluntas, caritas et beatitudo sicut ancilla et libera, sicut forma substantialis et dispositio ad illam, sicut esse ad fieri, sicut moveri sursum ad quiescere sursum.“ 28 Fărcaş: L’œil dans l’imaginaire mystique. 29 Pr 12 (DW I, 201). 25
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Wir stehen damit an der Grenze des menschlichen Intellekts, der, weil sich eine Vision auf der Bildfläche zwischen Mensch und Gott vollzieht, nichts weiter kann als die volle Erkenntnis, die volle Glückseligkeit zu bestätigen. Mit Blick auf die anderen Schriften Eckharts lässt sich begreifen, dass die „überentblößte“ Seele diejenige ist, die auch von ihrem intellektuellen Vermögen entkleidet ist wie auch vom Willen – ein Sachverhalt, der die Debatte um den Zustand des Ungeschaffenen in der Seele 30 auslöst. Wenn der natürliche menschliche Intellekt, zu einer Erkenntnis gekommen, oder ein Bild Gottes, welches am Ende die Fläche zwischen Mensch und Gott bildet, eine Trennung hervorrufen würde, dann würde im Gegensatz dazu die „überentblößte“ Seele durch die Erkenntnis Gottes, das vollkommene Bild schlechthin von Gott selbst gebären, und folglich unmittelbar wissen. Weitaus mehr als ein neuplatonischer Reditus, handelt es sich hier, Eckhart zufolge, um die Realisation der Heilsökonomie. Gott wird Mensch, damit wir Gott werden und folglich damit wir teilhaben an seiner unmittelbaren Erkenntnis. Wenn der Intellekt im Denken Eckharts als ein Vermögen der Seele verstanden werden kann, wenn er „natürlicher Intellekt“ genannt werden kann, wenn er solchen Wesen zukommt, wie den Engeln in der zweiten Pariser Quaestio, dann vermag er nicht für eine visio beatifiancs oder beatifica hinzureichen. Damit hat Eckhart eine thomasische Position radikalisiert, die in der „Summe der Theologie“ entfaltet ist: „Respondeo dicendum quod impossibile est quod aliquis intellectus creatus per sua naturalia essentiam Dei videat. Cognitio enim contingit secundum quod cognitum est in cognoscente. Cognitum autem est in cognoscente secundum modum cognoscentis. Unde cuiuslibet cognoscentis cognitio est secundum modum suae naturae. Si igitur modus essendi alicuius rei cognitae excedat modum naturae cognoscentis, oportet quod cognitio illius rei sit sup31 ra naturam illius cognoscentis.“ Anders gesagt, es muss eine Überbildung der Seele stattfinden über ihre natürlichen kognitiven Fähigkeiten hinaus: Sie muss mit Gott gleichgestaltet werden, auf dass die Erkenntnis Gottes möglich wird. Diese Überbildung ist die zweite Stufe der Abgeschiedenheit. Die erste Stufe bildet eine „deformatio“, in der sich das Scheitern des geschaffenen Intellekts abspielt. Die dritte Stufe wird das Ergebnis einer Gleichgestaltung mit Gott, einer Gottbildung, sein – die Vergöttlichung der Seele, die eins geworden ist. Diese Verwandlung bezeichnet den überwindenden Ausweg aus der Begrenzung oder der Unzulänglichkeit des Intellekts, aber – wohlverstanden – des geschaffenen Intellekts, insoweit er eine Fähigkeit der Seele ist, aus der es keinen anderen Ausweg geben kann als durch eine Verwandlung: das Eingießen eines Lichtes der Herrlichkeit in die Seele, das lumen gloriae der Debatte um die visio beatifica, die Aufnahme einer besonderen Gnade, die hier antizipiert wird und auch dieses, dass die Seele in einer eschatologischen Kontemplation ihres Schöpfers und Retters lebt. Dieser Gedankenkomplex ist eine Eigentümlichkeit der Theologie Eckharts. 30 31
Vgl. den Aufsatz von Isabelle Raviolo in diesem Band. Thomas von Aquin: STh I q.12 a.4
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Thomas von Aquin hat die Partizipation am göttlichen Intellekt an die eschatologische Glorifizierung der Seele gebunden. Eckhart jedoch eröffnet einen neuen Weg; denn in seinem Werk ist das, was er vom geschaffenen Intellekt sagt, nur eine Präambel zu dem, was er über den Intellekt sagt, der durch Gottwerdung in den ungeschaffenen übergegangen ist, welcher in der Seele, die den Vater erkennt, zeugend ist. Die gesamte Idee und ihre Absicht sind in der kleinen Phrase aus dem Opus sermonum enthalten: „So muß die Seele, um Gott schauen zu können, ihm erstens durch Verklä32 rung gleichgestaltet werden.“
Das Ungeschaffene: Gott, das Sein und der Intellekt Der Intellekt als mystischer Weg Wir haben zu Beginn unseres Beitrages darauf hingewiesen, dass Eckhart eine Dreiteilung vorschlägt, „drei Tage“: „Diese drei Tage bedeuten die Stufen der Anfänger, der Fortgeschrittenen und der Vollendeten oder das natürliche Licht des Verstandes, das Licht der 33 Gnade und das Licht der Herrlichkeit.“ Dieser Gedanke führt uns bis zum Scheitern des geschaffenen Intellekts. Aber die drei Tage des mystischen Aufstieges sind in Sermo XXVI präsent mit Blick auf den Intellekt in einer völlig anderen Weise. Die Wichtigkeit des Textes verlangt ein längeres Zitat: „Sage, daß die Seele im eigentlichen Sinne im Innern spricht und ein Wort bildet, wenn drei Lichter oder Tage (in ihr) zusammentreffen. Denn Licht oder Tag ist erst da, wenn die Seele alles von ihr Aufgenommene unter das Licht des Verstandes stellt und dorthin zurückführt. Denn jedes Geschöpf dieser Welt tritt ins Tageslicht, wenn ein Strahl vom Lichtglanz des Verstandes darauf fällt. Das ist der erste Tag. Der zweite Tag ist da, wenn das Geschöpf, das in diesem Licht steht, zugleich mit diesem Licht von einem Strahl des Lichtglanzes der Engel überflutet wird. Denn der Glanz des englischen Lichtes verbindet sich mit dem Lichtglanz des menschlichen Verstandes, wenn sie die Seele geläutert und dazu vorbereitet hat. Denn es verbindet sich immer nur Ähnliches mit Ähnlichem und das Niederste des Oberen mit dem Obersten des Niederen. Denn die Liebe zum natürlich oder geistig Ähnlichen treibt das Obere zur Fürsorge für 34 das Niedere.“ 32
Sermo LIV,2 n. 532 (LW IV, 448): „Sic anima, ut deum videat, debet primo deo configurari per transfigurationem.“ 33 In Ioh n.293 (LW III, 246): „Tres autem dies isti sunt incipientium, proficientium et perfectorum vel lumen intellectus naturale, lumen gratiae et lumen gloriae.“ 34 Sermo XXXV,1 n. 370 (LW IV, 317f.): „Dic quomodo proprie anima loquitur et verbum format intus in concursu trium luminum sive dierum. Nam lumen sive dies proprie est, cum omne acceptum ab anima accipitur et reducitur sub lumine intellectus. Diescit enim omnis
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Diese zwei Tage führen aus, was wir darstellen wollen. Denn der Text fährt fort: „Der dritte Tag ist da, wenn die so mit dem geistigen Lichtglanz geeinte Vernunft in der gleichen Weise vom göttlichen Licht überflutet wird, das sich mit jenem Licht oder mit jenen Lichtern, wovon oben die Rede war, geeint hat. Dies ist der vollkommene Tag, von dem es heißt: ‚der Gerechten Pfad nimmt wie ein strahlendes Licht zu und wächst bis zum vollkommenen Tag‘ 35 (Spr 4.18). Lege das aus.“ Die drei, vor allem durch die dionysische Tradition bekannten Wege von Reinigung, Erleuchtung und Einung, die mit dem Intellekt, der Gnade und der Glorie verbunden sind, geben Raum für einen mystischen Aufstieg, bei dem der Sohn den Intellekt leitet und, entsprechend dem, was im Zitat ausgeführt ist, dessen Weise die vollendete Abgeschiedenheit ist, die teilhat an dem Nicht-Wissen selbst. Tatsächlich führt Sermo XXV,2 Gratia dei sum id quod sum näher aus, dass „das Werk der Gnade der Gnade Gottes auch dem Verstand unbekannt ist, 36 sofern er nur vom natürlichen Licht erleuchtet wird.“ Damit erweist sich der Thüringer Meister nicht nur als Thomist, sondern auch als treuer Rezipient der scholastischen Tradition in der Lektüre von De anima und ihrer Ergebnisse. Der geschaffene Intellekt begreift die Notwendigkeit der Abgeschiedenheit, der abgeschiedene Intellekt erfährt die Gnade: Das sind die beiden ersten Phasen. Die dritte Phase ist die Erleuchtung durch das göttliche Licht, welches in sich die Typologie des lumen gloriae aufnimmt und indirekt an die Stelle gesetzt wird, welche die visio beatifica innehatte; sie ist jenseits von Zeit und Raum, aber bei Eckhart jetzt in der Person. Der Intellekt, der auf solch verschiedene Arten in sich unterschieden ist, wird zum Leitmotiv eines mystischen Weges der Abgeschiedenheit. Diesen Gedanken führt Sermo XXV aus: „Aus dem Gesagten kann man entnehmen, auf welche Weise ‚wer Gott anhängt, ein Geist mit ihm ist‘ (1 Kor. 6,17) […] Zum Intellekt aufsteigen und sich ihm unterwerfen bedeutet also mit Gott vereinigt werden. Geeint werden, eines sein, ist eins mit Gott sein. Denn Gott ist einer, alles Sein neben dem Intellekt, außerhalb des Intellekts ist Geschöpf, ist erschaffbar, ist etwas 37 anders als Gott, ist nicht Gott. Denn in Gott gibt es kein anderes.“ creatura huius mundi, cum cadit super ipsam radius splendoris intellectualis. Haec est prima dies. / Secunda est, cum sub illo lumine stans cum ipso lumine perfunditur radio splendoris angelici. Splendor enim angelici luminis nectitur splendori intellectus humani, cum anima depurata fuerit et aptata 5. Semper enim simile simili innectitur et infima superiorum supremis inferiorum. Trahit enim amor sive naturalis similitudinis sive intellectualis superiora ad provisionem inferiorum“ 35 Sermo XXXV,1 n. 371 (LW IV, 318): „Tertia dies est, cum sic unita ratio splendori intellectuali perfunditur pari modo lumine divino unito lumini sive luminibus, de quo iam supra. Et haec dies perfecta est, de qua Prov. 4: ‚iustorum semita quasi lux splendens procedit et crescit usque ad perfectum diem‘. Expone.“ 36 Sermo XXV,2 n.268 (LW IV, 244): „Est etiam incognitum opus gratiae die intellectui stani in solo lumini naturali“. 37 Sermo XXIX n .304 (LW IV, 269f.): „Ex dictis potest colligi quis sit modus, quo ‚qui adhaeret deo, unus spiritus est‘, Cor. 6. […] Ascendere igitur ad intellectum, subdi ipsi, est uniri deo. Uniri, unum esse, est unum cum deo esse. Deus enim unus est. Omne esse praeter intel-
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Die Andeutung, gemäß dem von Abaelard popularisierten Spruch, von Bernhard von Clairvaux wiederholt, dann als Postulat von Petrus Lombardus erklärt, lautet: „In Gott ist nichts anderes als Gott“; „Was auch immer in Gott ist, ist Gott“. Der mystische Weg ist geschritten durch die Abgeschiedenheit von Benennung, Raum und Zeit zu einem weiteren Fortschritt. Dieser, der an einer realen Eschatologie im göttlichen Seelenfunken teil haben lässt, wo der Intellekt eins mit dem göttlichen Intellekt ist, besteht darin, die Glückseligkeit durch die intellektuelle Erkenntnis Gottes, der Intellekt ist, zu erlangen. Nun beginnt Eckhart über den göttlichen Intellekt zu sprechen; dabei greift er auf dasselbe Register zurück, welches er schon nutzte, um über Gott und das Eine zu sprechen: die apophatische Methode oder die via negativa. So heißt es: „Außerhalb des Intellekts findet und begegnet man nur immer 38 Verschiedenheit, Verschiedengestaltigkeit und dergleichen.“ Indem Eckhart auf Augustinus’ De trinitate zurückgreift, als er über die Gotteskindschaft spricht, schreibt er: „Trotzdem ist er nicht mit ihm, wenn er sich dessen nicht erinnert und 39 ihn nicht erkennt und liebt.“ Viele ähnliche Aussagen zeigen, wie der Intellekt mit Hilfe einer via negativa behandelt wird. In Sermo XXIX Deus est unus bekräftigt Eckhart in der vielleicht radikalsten Weise die göttliche Einfachheit in der Identität von Sein und Intellekt, „weil nichts Ge40 schaffenes reines Sein und ganz und gar Intellekt ist“ . Es ist vorsichtige Kontextualisierung notwendig, um nicht die Irrtümer zu wiederholen, welche beispielsweise noch zu Eckharts Zeiten den Redakteuren der Bulle In agro dominico unterlaufen sind. Wenn man in der Tat ohne eine Kontextualisierung den Intellekt als ein einfaches Vermögen der Seele begreift, dann kommt man schnell zum ersten der drei Artikel, welche den 26 angekündigten zugefügt sind: „Es gibt etwas in der Seele, das ist ungeschaffen und unschaffbar; wenn die ganze Seele so beschaffen wäre, wäre sie ungeschaffen und unschaffbar, und 41 dieses ist der Intellekt.“ In ihrem Kontext betrachtet, betrifft die Aussage gar nicht den unvollkommen natürlichen Intellekt. Nun ist aber für Eckhart der Intellekt bereits mit dem Ungeschaffenen verbunden. Faktisch ist es einmal mehr Thomas von Aquin, dessen Position durch diese Äußerungen, welche den ungeschaffenen Intellekt näher bestimmen, hindurch scheint. Die Verbindung von Intellekt und Ungeschaffenem findet sich in
lectum, extra intellectum creatura est, creabile est, aliud est a deo, deus non est. In deo enim non est aliud.“ 38 Sermo XXIX n.303 (LW IV, 269): „extra intellectum semper invenitur et occurit diversitas, difformitas et huiusmodi.“ 39 Sermo XVIII n.180 (LW IV, 169): „tamen si eius non meminit eumque non intelligit neque diligit, cum illo non est.“ Vgl. Augustinus: De trin. XIV,12,16. 40 Sermo XXIX n.301 (LW IV, 267): „quia nec quidqam creatum est purum et se toto intellectus“. 41 Denzinger (Hg.): Enchiridion Symbolorum n. 527: „Aliquid est in anima, quod est increatum et increabile; si tota anima esset talis, esset increata et increabilis, et hoc est intellectus“. (dt. vom Übersetzer).
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seinem Werk insbesondere in der Darstellung zur Frage nach der doppelten Wahr42 heit und in seinem Sentenzenkommentar. Die Tatsache freilich, dass das Vokabular schon vorher existierte, impliziert natürlich nicht dass Eckhart sie in derselben Weise wie seine Dominikanischen Mitbrüder verwendet. Es gibt keine Spur der doppelten Wahrheit im Denken Eckharts: Dieses Problem ist für ihn erledigt, während das Vokabular ihm vorausgeht, entwickelt er doch seine eigene Synthese.
Das Eine, das Sein und der ungeschaffene Intellekt In der einzigen Untersuchung, die es zum Intellekt in den lateinischen Predigten Eckharts gibt, notiert Émilie zum Brunn, wie die Sermones XI und XXIX eine Thematik der ersten Pariser Quaestio fortführen, nämlich „die Identität von Sein und intellektuellem Erkennen“. Das Sein, um das es hier geht, lässt sich weder in den Begriffen der Theologen fassen, die auf den Willen rekurrieren, noch in denen derjenigen, die Thomas von Aquin zu folgen in Anspruch nehmen. Eckhart, so präzisiert Émilie zum Brunn, „se déclare prêt à reconnaître le droit d’appeler ‘être’ le connaître intellectif à con43 dition de dépouiller cet être de toute connotation ontologique d’ordre créé.“ Dieses „Sein“ kommt einzig im Paragraph 9 der ersten Pariser Quaestio vor; dort bezeichnet es die Identität von Sein und Intellekt in Gott; die Qualifizierung „puritas 44 essendi“ findet sich an keiner anderen Stelle im lateinischen Werk Eckharts; sie bezeichnet das göttliche Sein, in dem die menschliche Glückseligkeit enthalten ist, 45 weil es das göttliche Erkennen ist, „ein Erkennen, das Sein ist.“ Das Wort „Intellekt“ ist hier eher in seinem starken Sinne gemeint, wie es auch Maxime Mauriège festhält: „[…] l’Être qu’est Dieu, c.-à-d. l’être premier et le plus simple en tant que Principe de tout ce qui est, est non seulement ‘un intellect pur en qui l’être n’est pas 42
Vgl. Thomas von Aquin: Super Sent. IV 4 d 49 q 2 a. 6 ad 7; ebd. II d. 23 q. 2 a. 1 ad 3; d. 43 q. 1 a. 6 co. 43 Zum Brunn: Maître Eckhart à Paris, 91. Hier wird die Tatsache betont, dass Gott Intellekt zu nennen, und zwar gemäß den Kategorien der Logikschulen, voraussetzen würde ein unmittelbares göttliches Gegenüber für eben diesen Intellekt. Der Spruch des Logikers Martin von Dacien (1220-1304): „Nichts kann eine Bezeichnung seiner selbst sein“ lässt sich nur auf Geschaffenes beziehen. Vgl. Rosier: La théorie mediévale, 118. 44 Quaest. Paris. I n.9 (LW V, 45): „Et ideo cum esse conveniat creaturis, non est in deo nisi sicut in causa, et ideo in deo non est esse, sed puritas essendi. Sicut quando quaeritur de nocte ab aliquo, qui vult latere et non nominare se: quis es tu? respondet: ‚ego sum qui sum‘, ita dominus volens ostendere puritatem essendi esse in se dixit: ‚ego sum qui sum‘. Non dixit simpliciter ‚ego sum‘, sed addidit: ‚qui sum‘. Deo ergo non competit esse, nisi talem puritatem voces esse.“ Die Tatsache, dass Eckhart in seinem lateinischen Werk die Formel „puritas essendi“, die nur in den Pariser Quaestiones vorkommt, nicht wieder verwendet, zeigt, dass die Formel 1303 eine provozierende Wendung war; aber auch wenn sie nicht wiederholt wird: sie ist ein früher Versuch, dessen Worte zwar nicht bewahrt werden, obwohl sie es hätten können, aber doch die Sache. 45 Vgl. Émilie Zum Brunn: Maître Eckhart à Paris, 98.
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autre chose que l’acte d’intelliger, n’ayant rien de commun avec aucune chose, mais il est surtout et avant tout l’Intellect suprême et premier, car rien n’est plus 46 simple que Dieu, en tant que rien n’est plus simple que l’Un’“ Maurièges Synthese ist im Einklang mit der Darstellung des Einen in den lateinischen Predigten. So gibt es beispielsweise in Sermo XXIX einen wesentlichen Punkt. Eckhart votiert für eine Lösung, die eine oft debattierte Ambiguität in den Schriften von Thomas ist: Bis in unsere Tage denken manche Ausleger, dass der Doctor angelicus, in Aufnahme von oder Antwort auf Albert den Großen zurückgewiesen oder erlaubt hat, Gott und Intellekt zu verbinden. Und vielleicht aufgrund der Bedenken von Thomas könnte Eckhart seine Argumente dem Liber de causis entnommen haben. Trotz seiner Länge sei der entsprechende Passus zitiert: „Wenn es aber ein vom Denken irgendwie verschiedenes Sein hat, so ist es zusammengesetzt und nicht schlechthin eines. Es erhellt also deutlich, daß Gott allein im eigentlichen Sinne ist und daß er Intellekt oder Denken ist und daß er nur Denken schlechthin ist, ohne daß ein anderes Sein hinzukäme. Daher setzt Gott allein die Dinge durch den Intellekt ins Sein, weil in ihm allein Sein und Denken identisch sind. Ferner (erhellt), daß nichts außer ihm reines Denken sein kann, vielmehr ein Sein hat, das vom Denken verschieden ist; sonst wäre es kein Geschöpf, weil das Denken unerschffbar ist, 47 und weil ‚das Sein das erste der geschaffenen Dinge ist‘.“ Schließlich erfordert dieser Weg der Einigung des Intellekts alles das, was über den mystischen Aufstieg schon ausgeführt worden ist bezüglich der Abgeschiedenheit in Richtung auf und im Einen. Wenn Gott als Intellekt dem Menschen seine eigentliche Erkenntnis gewährt, dann geschieht dieses nicht als Imperativ der Natur, nicht als ein Willensakt, nicht als ein Sich-selbst-Aufgeben, sondern durch die Liebe, die Gott ist. Denn in Gott sind Sein und Handeln dasselbe; die Liebe ist gleichzeitig 48 seine Natur und sein Heilsplan: Er kann sich nicht von seinen Geschöpfen trennen. Ihnen ist er der Nächste, während sie als Geschöpfe die von ihm am weitesten Entfernten sind. Folglich muss auch die via negativa angesichts der spezifischen Natur des göttlichen Einen überwunden werden. „Sprich über das Einer-Sein, das von Sünde, Fleisch und Weltliebe geschieden, aber in sich selbst und von Gott ungeschieden ist. Weiter (bemerke): das
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Mauriège: L’auto-intellection de Dieu, 52. Sermo XXIX n.301 (268): „Si vero habet aliquod esse aliud quam intelligere, iam est compositum, non simpliciter unum. Patet ergo manifeste quod deus est proprie solus et quod ipse est intellectus sive intelligere et quod solum intelligere praeter esse aliud simpliciter. Ideo solus deus per intellectum producit res in esse quia in ipso solo esse est intelligere. Iterum etiam quod nihil praeter ipsum potest esse purum intelligere, sed habet aliquod esse differens ab intelligere, nec aliter esset creatura, tum quia intelligere est increabile tum quia ‚prima rerum creatarum est esse‘.“ 48 Sermo XXXVII n. 375 (LW IV, 320f.): „Per quod patet ipsius sublimitas sive nobilitas, et motatur die bonitas et amor ad nos. Separari non vult, non potest. Hinc videmus universaliter quod parens amat prolem. Et notatur etiam in hoc creaturae nihileitas. Ioh. 1: ‚sine ipso factum est nihil‘.“ 47
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Eine fügt dem Seienden nichts zu außer der Beraubung (durch die Teilung), 49 und diese nur dem Worte nach; denn in Wirklichkeit ist es Bejahung.“ Wir müssen folglich angesichts der göttlichen Einfachheit die Identität, die explizit zwischen dem Intellekt und dem Einen gesetzt ist, ausweiten auf andere positive Bestimmungen, wie etwa die, dass Gott existiert und dass er die Liebe ist: Das intuitive Wissen Gottes ist ein affirmatives Wissen der Liebe. Diese Liebe ist die caritas, nicht die dilectio. Dabei handelt es sich nicht um eine moralische Qualität, die von einem geschaffenen Sein umgesetzt wird, sondern um die ungeschaffene Natur von Gott selbst. Hier tritt dieselbe Unterscheidung auf, die auch zwischen dem geschaffenen und dem ungeschaffenen Intellekt besteht, zwischen dem, was eine Vielheit, und dem, was einzelnes sein kann, oder zwischen dem Einen, einem der Zwei vorhergehenden Namen, und dem Einen Gottes, welches nicht zählbar oder quantifizierbar ist. Diese 50 Affirmation innerhalb der Trinität zu vergessen hieße, die Trinität zu ruinieren. Am Ende des letzten paraphrasierten Zitates (vgl. Fußnote 50) ist die Bezeichnung des Einen als Affirmation deswegen zu unterstreichen, weil der Intellekt, wenn das Eine in Gott unter dem Modus verneinter Aussage eine Affirmation ist, dieselbe Qualität besitzt. Das Verhältnis zwischen Privation und Negation ist im Kommentar zur Genesis am Beispiel der Ruhe Gottes erklärt. Das Eine, das konvertibel ist mit dem Sein, ist 51 die Privation der Privation und folglich eine reine und perfekte Affirmation. Deswegen vermag Gott affirmiert zu sein. Wenn Eckhart dieses tut – in Sermo XXIX –, dann unterscheidet er dabei, den immateriellen und intellektuellen geschaffenen Zustand von demjenigen des Ungeschaffenen, das Ganze ist eine Argumentationsfigur, 52 wie sie sich oft für diese Problematik im Liber de causis findet. Eckhart hat sich nicht an die weite Synthese von These angelehnt, er hat vielmehr seine eigene Lösung zu der Frage nach der glückselig machenden Erkenntnis Gottes vorgeschlagen. 49
Sermo X n. 111 (LW IV, 104): „Nota de esse unus, divisus a peccato, a carne, a mundi amore, indivisus in se et a deo. Adhuc unum super ens nihil addit nisi privationem, et hanc solum in voce; nam realiter est affirmatio.“ 50 Vgl. Sermo XI,2 n.118 (LW IV, 11): „Deus autem ab omni numero proprie eximitur. Est enim unus sine unitate, trinus sine trinitate, sicut bonus sine qualitate etc. Est enim ‚super omne nomen‘, rationem et intellectum et super esse et ens, cuius differentia est numerus, et omnia huiusmodi. Quod autem sit supra ens et esse, patet, quia est causa entis et esse. Hoc declara.“ 51 In Gen. I n.158 (LW I, 306): „Ad primum dicendum quod quies privatio quidem est, sed est privatio privationis, motus scilicet, sicut unum, quod cum ente convertitur, est privatio privationis realis quam importat multitudo. Privatio autem privationis mera est et perfecta affirmatio, ut unitas, privatio multitudinis, est merissima dei unitas. Et quies dei perfectissima est et sincerissima, utpote privatio omnis motus.“ 52 Sermo XXIX n.300 (LW IV, 266f.): „Audi ergo, Israel, deus tuus deus unus est. Ubi nota quod unitas sive unum videtur proprium et proprietas intellectus solius. Entia siquidem materialia constat quod sunt unum et non unum, utpote quanta vel saltem composita ex forma et materia. Entia vero immaterialia, puta intellectualia, sunt non esse non est intelligere. Sunt ergo ex esse et essentia vel ex esse et intelligere. Vide in De causis commentum ultimae propositionis. Unde signanter dictum est: deus tuus deus unus est, deus Israel, deus videns, deus videntium, qui scilicet intelligit et solo intellectu capitur, qui est intellectus se toto.“ Vgl. Liber de causis c. 31.
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Mit dem Liber de Causis, welcher auch in den lateinischen Sermones zitiert wird, welche Émilie zum Brunn ediert hat, und der Thematik der Affirmation gelangen die vorliegenden Überlegungen organisch zu Sermo XLIX, mit seiner Passage über Bild und Schöpfung. Es überrascht nicht, wenn man dort zum Thema der Erzeugung der imago lesen kann: „Das Bild ist im eigentlichen Sinn nur in der lebendigen, geistigen, unge53 schaffenen Natur.“ Man kann innerhalb der Überlegungen an dieser Stelle festhalten, dass Eckhart durch die reflexive Erkenntnistätigkeit die Frage des Subjekts in Angriff nimmt, dass er durch die Erzeugung diejenige nach dem Bild behandelt und dass in beiden Bereichen unentwegt die Rolle des Intellekts untersucht wird. Da Gott Sein, Eines, Liebe und Intellekt ist, enthalten alle diese dogmatischen Gebiete eine Erwähnung des Intellekts. Der geschaffene Intellekt wird der unvollkommenen Bilder Gottes ansichtig; der ungeschaffene Intellekt gebiert das vollkommene Bild des unsichtbaren Gottes. So offenbart am Ende des Durchgangs durch die lateinischen Predigten im Lichte des ungeschaffenen Intellekts, einer für Eckhart charakteristischen Idee, die Erzeugung des Wortes die liebende Fruchtbarkeit Gottes, der Einer, Sein und Intellekt ist.
Zum Beschluss In der Relektüre von Eckharts Theologie innerhalb der lateinischen Predigten findet man eine beständige Behandlung des geschaffenen und des ungeschaffenen Intellekts. In seinen Kontext gestellt, wird das Niveau der Argumentation ersichtlich. Die einzig verbleibende Schwierigkeit besteht darin, dass Eckhart eben diesen Kontext als bekannt voraussetzt und infolgedessen nicht jedes Mal den Intellekt als Objekt seiner Betrachtung entsprechend qualifiziert. Aber es wird doch sehr deutlich, dass Eckhart ein Vokabular verwendet, welches aus der Diskussion um die visio beatifica stammt, um seine eigene Synthese darzustellen, die eine antizipierte Eschatologie darstellt, indem Zeit und Ort der Parusie durch die menschliche Person, die fähig zu einer reflexiven intellektuellen Erkenntnis ist, verändert werden: Der Mensch ist schon fast so qualifiziert, dass er ein Subjekt, aber ein abgeschiedenes Subjekt genannt werden muss. Eckhart folgt damit zunächst für den geschaffenen Intellekt der Synthese des Thomas, aber für den ungeschaffenen Intellekt entwickelt er sein eigenes System, welches gleichwohl seine Wurzeln in einer persönlichen Thomas-Lektüre des Thüringer Meisters hat. Es ist folglich vollkommen gerechtfertigt, Eckhart mit seinem ganzen Werk als einen der ersten Thomisten zu bezeichnen. Darüber hinaus wird es eine Aufgabe sein, zu erforschen, was innerhalb von Eckharts Werk erscheint: zum Beispiel etwas wie die Freude, die eine Form der Glückseligkeit ist, die von der visio Dei herrührt: „Gleichermaßen alles, weil (die Erlösten) in Gott alles empfangen. Hierbei sage, daß diese Freude die Kräfte alles Geschaffenen übersteigt; der Intellekt (allein), der den Heiligen Geist in sich hat, nimmt diese Freude in gebühren53
Sermo XLIX, 3 n.512 (LW IV, 427): „imago proprie est tantum in vivo intellectuali increato.“
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der Weise in sich auf. Daher (heißt es): ‚ in deinem Lichte werden wir das 54 Licht sehen (Ps 35,10)‘.“ Weit entfernt davon, ein melancholisches, strenges, tristes Bild zu sein, trägt die Einung mit dem göttlichen Intellekt im Grunde der Seele im Paulinischen Sinne die Früchte des Geistes herbei, welche am besten die visio beatifica charakterisieren: der Friede und die Freude in einer gnadenhaften Erleuchtung, wo der geboren wird, der von Ewigkeit her den Vater erkannt hat.
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Sermo VIII n.92 (LW IV, 87): „Item omnia, quia in deo accipiuntur omnia. Ubi dic quod gaudium illud est super vires omnis creati, sed oportet intellectum habentem spiritum sanctum in se illud suscipere gaudium in se. Unde ‚in lumine tuo videbimus lumen‘.“
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MAXIME MAURIÈGE
Die Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart I 1
Die vorliegende Studie erfordert, angesichts der Bedeutung, die dem Gesamtthema der Selbsterkenntnis noch immer beigemessen wird, zunächst eine gewisse Klarstellung hinsichtlich der Eckhart-Forschung. Tatsächlich haben die vielfältigen Veröffentlichungen zu dieser Thematik – selbst wenn diese bemerkenswert und aussage2 kräftig sind – dem Problem der Selbsterkenntnis Gottes kaum die erforderliche Aufmerksamkeit gewidmet und daher die Funktion und den Umfang dieser beson3 deren Fragestellung entwertet. Nach der bisherigen Forschung scheint deswegen die Eckhartsche Konzeption der Selbsterkenntnis vor allem eine erkenntnistheoretische, anthropologische und ethische Bedeutung zu haben, um sich letztendlich auf eine tiefe ‚mystische‘ Erfahrung (die sogenannte unio mystica) zu beziehen. Ich halte es einerseits für unumgänglich, drei Aspekte zu unterscheiden, nämlich die Selbsterkenntnis des Menschen, diejenige Gottes und die Verbindung zwischen diesen beiden. Aber eine erste aufmerksame Lektüre der entsprechenden Textstellen in den Schriften Eckharts führt andererseits unvermeidbar zu der (für uns einleitenden) Feststellung, dass der (edle) Mensch eine vollkommene Selbsterkenntnis nur erreichen kann, insofern er Gott erkennt, wie Gott sich selbst (in sich selbst) erkennt; so bezieht sich eine solche Auffassung der menschlichen Selbsterkenntnis gewiss auf die Erkenntnis Gottes – unter dem Einfluss der prägnanten Kurzformel Augustins in 4 den Soliloquien: „Noverim me, noverim te“ –, jedoch im Doppelsinn eines objekti1
Der vorliegende Beitrag gibt mir die Gelegenheit, die wichtigsten Ergebnisse meiner Doktorarbeit, die von Prof. Marie-Anne Vannier (Université de Metz) und Prof. Andreas Speer (Universität zu Köln) betreut wurde, in deutscher Sprache vorzustellen. Die im Herbst 2010 abgeschlossene Dissertation mit dem Titel L’auto-intellection de Dieu chez Maître Eckhart wird gegenwärtig für die Veröffentlichung vorbereitet. 2 Vgl. insbes. Haas: Nim din selbes war, 15-75: „Zur Frage der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart“; ders.: Christliche Aspekte des ‚Gnothi seauton‘, zu Eckhart 87-93 (jetzt in: ders.: Geistliches Mittelalter); Vannier: La connaissance de soi; Wackernagel: Image et connaissance de soi chez Maître Eckhart; Altmeyer: Grund und Erkennen in deutschen Predigten von Meister Eckhart, 111-119 (2.2.1: „Selbstvergewisserung und Gottes Erfahrung: Wie die ‚cognitio Dei experimentalis‘ die Selbsterkenntnis prägt“); Casteigt: Cogito ergo scio principium; Mandrella: Intellektuelle Selbsterkenntnis als Anähnlichung an Gott. 3 Die Sondierung eines anderen Zweiges der Sekundärliteratur, nämlich bezüglich der Intellektualität Gottes (durch diese Fragestellung direkt betroffen), zeigt sich dann deutlich fruchtbarer. Die vorliegende Forschung verdankt sich damit hauptsächlich drei Arbeiten, welche die wesentlichen Weichen für eine Untersuchung der Frage nach der Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart gestellt haben, um ihren Umfang abzuschätzen und ihre philosophische und theologische Relevanz zu begreifen: Haacke: Der Gottesgedanke und das Gotteserlebnis bei Eckehart; Stephenson: Gottheit und Gott; Imbach: Deus est intelligere. 4 Soliloq. I, c. 1, n. 1. Im Übrigen sei daran erinnert, dass im späten Altertum und im Mittelalter eine Reihe von Philosophen und Theologen die menschliche Selbsterkenntnis auf die Gotteserkenntnis beziehen. In der Entwicklung des christlichen abendländischen Denkens
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ven und subjektiven Genitivs, d.h. auf eine Erkenntnis, für die Gott zugleich Objekt 5 und reflexives Subjekt ist. Durch die Umkehrung des augustinischen Leitmotivs gründet und beschränkt sich demnach die wahre Selbsterkenntnis des Menschen bei Eckhart auf die Selbsterkenntnis Gottes, an der Gott uns teilnehmen lässt: Um es in Eckhartschen Worten auszudrücken, bildet sie sich durch „dasselbe Auge, darin sich Gott sieht“, so dass „mein Auge und Gottes Auge“ nur „ein Auge und ein Sehen und 6 ein Erkennen“ sind. In seiner deutschen Predigt 10, wo er eine andere Hauptintuition Augustins radikalisiert, nämlich den Satz „ interior intimo meo“, behauptet Eckhart insbesondere, dass aufgrund der Nähe ohne Unterschied zwischen Gott und der Seele „dasselbe Erkennen, in dem sich Gott selbst erkennt“, „eines jeden losgelösten Geis7 tes Erkennen und kein anderes“ ist. Auf dieser Ebene der tiefsten Innerlichkeit (d.h. 8 „im Grunde der Seele“, wo Gott „mit seiner ganzen Gottheit“ ist ) weiß der Mensch „alles, was Gott weiß“, und erfasst ihn „in seinem Eigensein und in seiner eigenen 9 Einheit und in seiner eigenen Gegenwart und in seiner eigenen Wahrheit“, so dass sich dieser Mensch nur durch Teilnahme an der Selbsterkenntnis Gottes erkennt. Wenn nun die wahre Selbsterkenntnis einem zugegebenermaßen ‚mystischen‘ 10 Anspruch entspricht, die Seele zur Vereinigung mit Gott als absolutem Ich durch jedoch erfährt die metaphysische Interpretation der sokratischen Maxime „Erkenne dich selbst“ (die neuplatonische Lehre im Verbund mit der biblischen Grundlage) bei Augustin einen Aufschwung, der besonders in den Soliloquien diese enge und reziproke Beziehung betont, „mit einer Kürze des Ausspruchs, die durch die Jahrhunderte ein großes Aufsehen erregen sollte“ (Courcelle: Connais-toi toi-même I, 132. Es sei hier angemerkt, dass Pierre Courcelle auf das Buch von Haas: Nim din selbes war, verweist, wenn er betont, dass das „Erkenne dich selbst“ als Grundproblem bei den vom Neuplatonismus geprägten Mystikern Meister Eckhart, Tauler und Seuse fortbesteht; vgl. ebd. III, 722). Es sei hier auch die berühmte Formulierung in den Bekenntnissen berücksichtigt: „Tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo“ (III, c. 6, n. 11), welche „die weiteste Verbreitung fand und das Leitbild der spirituellen Denker des XIII. Jahrhunderts und wohl darüber hinaus blieb“ (Courcelle: ‚Nosce teipsum‘, 294). 5 Vgl. Mojsisch: Meister Eckhart: Analogie, Univozität und Einheit, 141; Vannier: La connaissance de soi, 27. 6 Pr 12 (DW I, 201,5-7): „Daz ouge, dâ inne ich got sihe, da zist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mein ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin gesiht und éin bekennen.“ 7 Pr 10 (DW I, 161,8-162,6): „Als sant Augustînus sprichet: got ist der sêle næher dan si ir selber sî. Diu nâheit gotes und der sêle diu enhât keinen underscheit in der wârheit. Daz selbe bekantnisse, dâ sich got selben inne bekennet, daz ist eines ieglîchen abegescheidenen geistes bekantnisse und kein anderz. Diu sêle nimet ir wesen âne mitel von gote; dar umbe ist got der sêle næher, dan si ir selber sî; dar umbe ist got in dem grunde der sêle mit aller sîner gotheit.“ 8 Ebd., 162,5-6. 9 Ebd., 164,2-5: „Der mensche, der nû wiez allez, daz got wiez, der ist ein got wizzender mensche. Der mensche nimet got in sîn selbes eigenschaft und in sîn selbes einicheit un in sîn selbes gegenwerticheit und in sîn selbes wârheit.“ 10 Zu Meister Eckharts Ich-Konzeption, vgl. insbesondere Mojsisch: Die Theorie des Ich in seiner Selbst- und Weltbegründung bei Meister Eckhart; ders.: Meister Eckharts IchKonzeption; ders.: ‚Dieses Ich‘: Meister Eckharts Ich-Konzeption; Manstetten: Esse est Deus, 563-601 („Das Durchbrechen und die Verwandlung Gottes: Ich und Gottheit“); Kern: Ich ‚ist die Bezeugung eines Seienden‘.
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die „Einbildung“ des Menschen und dessen „Überbildung“ in die Gottförmigkeit 11 (im Zusammenhang mit der Figur des „edlen Menschen“) zu erheben, erweist es sich – um zu einer richtigen Einsicht in die Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart beizutragen – als notwendig, zunächst seine Auffassung dieses intellektuellen Aktes hinsichtlich seiner Modalitäten in Gott gesondert zu bestimmen. In dieser Perspektive handelt es sich insbesondere darum, zu zeigen, dass bei Eckhart die Selbsterkenntnis in ihrer Absolutheit eine Bestimmung der Natur Gottes selbst als reine Intellektualität enthält und sich also als ein metaphysisches Grundthema aufdrängt, das seine gesamte spekulative Theologie durchzieht, welche grundsätzlich in noetischer Hinsicht die göttliche Wirklichkeit aufzufassen versucht. Jedoch zeigt die Untersuchung des gesamten überlieferten Korpus, dass sich Eckhart dort niemals auf ‚systematische‘ Weise mit der Selbsterkenntnis Gottes befasst; die größtenteils in den deutschen Predigten verstreuten Textstellen, die ich anhand der kritischen Ausgabe sorgfältig verzeichnet habe, beschränken sich in den meisten Fällen zwar auf bündige und synthetische Auszüge, weichen aber von der Ausführung, in die sie sich einfügen, oft ab. Dieser Mangel ließe sich mit dem Verlust oder der Unfertigkeit besonderer Werke, die für eine solche Behandlung dieser scholastischen Fragestel12 lung günstig sind, begründen. Es würde sich hier um den Sentenzenkommentar Eck13 harts handeln sowie, und vor allem, um die zwei ersten Teile der von einer anderen 14 Art strukturierten ‚Summe‘, das Opus tripartitum. Die Lektüre der allgemeinen Vorrede zu diesem großen Systematisierungswerk der theologischen Lehre legt dennoch 11
Vgl. Vannier: Déconstruction de l’individualité ou assomption de la personne chez Eckhart? Seit der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts und der Aneignung des metaphysischen Beitrags des aristotelischen Corpus (durch die arabischen Kommentare ergänzt) hat das Thema der Selbsterkenntnis Gottes (nach einer Bearbeitung der aristotelischen Konzeption Gottes als noesis noeseos [vgl. Met. XII, c. 9, 1074 b 34] entsprechend der christlichen Orthodoxie) seinen Höhepunkt erreicht und wird dann in der scholastischen Debatte vollkommen klassisch. Dadurch wird es nun möglich, den Inhalt der Frage nach dem göttlichen Wissen zu erneuern. In der a Summa theologiae des Aquinaten zeigt die q. 14 der I Pars, die vollkommen diese Erneuerung illustriert, einen allgemeinen Plan der durch dieses Thema aufgeworfenen Fragen. 13 Nur „der Vortrag, den Eckhart zur Eröffnung seiner Vorlesung über die Sentenzenbücher hielt“ (Collatio in Libros Sententiarum, LW V, 26,14), wurde überliefert, weil Eckhart wahrscheinlich keine ordinatio verfasst hat. Es ist dennoch möglich, auf die anonym überlieferte reportatio in Ms. Brügge, Stadtbibliothek, Codex 491 (Lib. I, dist. 35) zu verweisen. Aus einer parallelen Untersuchung über die Zuschreibungskontroverse dieses Brügger Kommentars ergibt sich, dass dieser Text lediglich ein Beispiel von der Art und Weise bietet, in der die Lehre des Thomas von Aquin einen dominikanischen baccalaureus wie Bruder Eckhart hätte beeinflussen können. – Zur Zuschreibung des Sentenzenkommentars in Ms. Brügge 491, vgl. insbes. den II. Teil des Aufsatzes von Speer / Goris: Das Meister-Eckhart-Archiv am Thomas Institut, 157 ad finem articuli, wo sich die Autoren nur mit dieser Diskussion befassen. 14 Während seines akademischen Werdegangs an der Pariser Universität – zuerst als lector sententiarum, danach zweimal als magister actus regens (die Amtszeit, in der er sein Opus tripartitum größtenteils angefertigt hat) – konnte Eckhart allerdings ohne Zweifel nicht umhin, sich mit der Fragestellung nach der Selbsterkenntnis Gottes – aufgrund ihrer Fixierung und damit Normierung durch das Lehrbuch von Petrus Lombardus und konsequenterweise ihrer Omnipräsenz seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der scholastischen Debatte über das Wissen Gottes – zu befassen. 12
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nahe, einen „thesenartigen Ansatz“ der Problematik (mit dem „theorematischen“ 16 Ansatz Alberts des Großen vergleichbar ) unter Berücksichtigung der intentio auctoris 17 – charakteristisch für „eine neue Logik des Wissens“ – zu entwickeln. Diese Vorgehensweise erweist sich von vornherein als geeignet durch die Entwicklung einer im Dienst der biblischen Exegese stehenden deduktiven Methode, ausgehend vom allumfassenden Grundsatz: „Esse est deus“, dessen Erklärungsleistung darin liegt, „alle oder doch fast alle Gott betreffenden Probleme leicht [zu] lösen“ – einschließlich der Intellektualität Gottes – „und die Schriftworte über ihn […] mit natürlicher Begründung 18 lichtvoll aus[zu]legen“. Die Schwierigkeit dabei ist, das Denkschema Eckharts wiederherzustellen und damit die Ableitbarkeit des Satzes „Deus est intelligere“ zu rechtfertigen, der einen Schlüssel bietet, um zu dem zugrundeliegenden und für uns programmatischen Satz „Deus est intelligere seipsum“ weiter voranzuschreiten. Aufgrund des geringen Umfanges dieses Aufsatzes kann ich hier nicht ausführlich die Entwicklung dieses Denkschemas vorstellen und werde daher die Ableitbarkeit des Satzes „Deus est intelligere“ von vornherein annehmen. Diesen Ansatz zu wählen und einzuhalten, führte zur Hervorhebung eines grundlegenden Auszugs am Anfang der deutschen Predigt 80, welcher – als ein kleines compendium – repräsentativ für unsere Gesamtstudie ist, indem er ihre Grundaspekte sammelt und ihren Aufbau bestimmt. Denn unter dem Vorwand eines Zitats des heiligen Gregor (welches in dessen Schriften leider nicht auszumachen ist) legt Eckhart dort den ganzen Adel des göttlichen Intellektes aus: „Sant Grêgôrius sprichet: wære an gote iht edeler einez dan daz ander, ob man daz gesprechen möhte, daz wære verstantnisse; wan an verstantnisse ist got im selben offenbære, an verstantnisse vervliuzet got in sich selber, an verstantnisse vliuzet got ûz in alliu dinc, an verstantnisse schuof got alliu dinc. Und enwære an gote niht verstantnisse, sô enmöhte diu drîvalticheit niht 19 gesîn; sô enwære ouch nie crêatûre ûzgevlozzen.“ Die Dichte dieser Textstelle legt eine Aufteilung in vier Sätze nahe, die das Fortschreiten und den Kern der Argumentation deutlicher zeigen: Die verstantnisse (der Intellekt → intellectus oder das Erkennen → intelligere) ist in Gott 1. das vorrangige und hervorragendste Kennzeichen seines Wesens 2. das Prinzip seiner wesentlichen Selbsterkenntnis 3. das Prinzip der Dreifaltigkeit 20 4. das Prinzip des Schöpfungsaktes. 15
Ich übernehme diesen Ausdruck von Alain de Libera: Maître Eckhart et la mystique rhénane, 61. 16 Albertus Magnus: De causis et processu universitatis a prima causa, II, tr. 1, c. 1 (ed. W. Fauser), Vol. XVII/2, Münster 1993, 59,13: per modum theorematum. 17 Aertsen: Der ‚Systematiker‘ Eckhart, insbes. 191-195. 18 Prol. gen. n. 22 (LW I, 165,9-12). 19 Pr 80 (DW I, 379,3-7). 20 Diese Aufteilung basiert auf dem von Joseph Quint verfassten Kommentar zum Aufbau dieser Predigt, in: DW III, 377: „Gregor d. Gr. erklärt die Vernunft als das hervorstechende Kennzeichen des göttlichen Wesens, das sowohl seine Selbsterkenntnis und Dreifaltigkeit wie den Ausfluss und die Schöpfung alles Seins aus ihm begründet.“
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Daraus ist im Folgenden eine bestimmte Lehre zu ziehen, was somit eine Erweiterung meines ursprünglichen Ansatzes darstellt: Konsequent durchgeführt, ist es wenig lohnend, sich ausschließlich mit einer Untersuchung der theoretischen Modalitäten, d.h. der noetisch-ontologischen Eigenschaften, des göttlichen intelligere zu begnügen, ohne die Frage nach der Kausalität und der hervorbringenden Dynamik dieses intellektuellen Aktes zu stellen. Deshalb ist es hier notwendig, die Aufmerksamkeit auf die Verwendung der Ausdrücke „vervliezen in sich selber“ und „vliezen ûz in alliu dinc“ zu lenken. Ersteres bezeichnet ein Fließen nach innen (flu21 xus ad intra), d.h. die formale Emanation – und demnach die Unterschiedenheit – der Personen in Gott, letzteres ein Fließen nach außen (fluxus ad extra oder effluxus), d.h. den Ausgang aller Geschöpfe von Gott. Dieses doppelte Fließen verweist bei Eckhart direkt auf das lateinische Begriffspaar bullitio – ebullitio (Aufwallen – Überwallen), welches sich auf Gott allein bezieht, um sein intellektuelles Handeln als 22 Gesamtprozess auszudrücken. Das Begriffspaar stimmt allerdings bei Eckhart mit einer metaphysischen, für den Neuplatonismus der albertinischen Schule kennzeichnenden Theologie des Fließens überein, die „nichts anderes als die Dynamik der intellektuellen Kausalität“, d.h. „die Ausübung, die Ausführung und die Entfaltung 23 dieser Kausalität“, bedeutet. Infolgedessen kann die Anordnung der vier von unserer Textstelle abgeleiteten Sätze nicht zufällig sein. Sie entspricht der systematischen Kohärenz der Eckhartschen Metaphysik des Fließens, d.h. einer Logik der reinen Aktualität und Produktivität des göttlichen Intellekts. Diese Anordnung bestimmt die kausale und fortschreitende Verbindung zwischen: 1. der Gottesbestimmung als intellectus purus et intelligere per essentiam; 2. der Charakterisierung des göttlichen Erkennens als vollkommene Selbsterkenntnis; 3. dem Hervorgang (emanatio) der Personen in divinis als formale Entfaltung dieses Selbsterkennens (bullitio); und 4. der Hervorbringung (productio) der Geschöpfe als die entäußernde Bewegung des sich selbst erkennenden göttlichen Intellekts (ebullitio), welcher so seine schöpferische Ursächlichkeit ausübt.
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Es ist relevant darauf hinzuweisen, dass der letzte Satz dieses Auszugs in zwei Textzeugen, nämlich B1] Ba1, wie folgt vervollständigt wird: „Und enwære an gote niht verstantnisse, sô enmöhte diu drîvalticheit niht gesîn; sô]und enwaeren ouch denne die drie personen mit underscheit in der gotheit nicht; sô enwære ouch nie crêatûre ûzgevlozzen.“ 22 Vgl. Schmoldt: Die deutsche Begriffssprache Meister Eckharts, 72-74. Vladimir Lossky zufolge muss jedoch die Unterscheidung zwischen dem Begriff ûzvluz, welcher nach Schmoldt „trinitarisch“ verwendet wird, und dem Verb ûzvliezen abgelehnt werden, weil sich beide Termini bei Eckhart auf die ebullitio beziehen. Als Beispiel möchte ich nur auf Sermo XXV/1, nn. 258-259, verweisen, wo das „Überwallen“ in einer Art „Ausfluss“ (effluxus → ûzvluz) von Gott besteht. 23 Vgl. de Libera: Introduction à la mystique rhénane, 361. Vgl. ferner Pagnoni-Sturlese: À propos du néoplatonisme d’Albert le Grand, insbes. 644-648.
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II Auf diesem Entwicklungsstand angekommen, ermöglicht die Auswertung dieser Stelle, die einen synoptischen Blick einer möglichen systematischen Bearbeitung der Fragestellung nach der Selbsterkenntnis Gottes – auch des Themas zur göttlichen Intellektualität insgesamt – liefert, demnach eine dreifache Betrachtung des Aktes, in dem Gott sich dem Wesen nach bestimmt:
Die Selbsterkenntnis Gottes als substantielles und subsistierendes Erkennen Die Ansicht Eckharts zur Intellektualität Gottes – ebenso wie seine gesamte Lehre bezüglich der göttlichen Wirklichkeit – ist auf eine Erklärung der absoluten Einheit 24 und Einfachheit Gottes hin orientiert, so dass Gott keine Unterscheidung zwischen 25 seinem Erkennen und seinem Erkenntnisbild zulässt: Beide sind („der Sache nach, 26 und vielleicht der Sache und dem Begriffe nach“ ) gänzlich identisch, weil sie sich so 27 wie Sein und Wesenheit zueinander verhalten. Daraus ergibt sich, dass Gott ist, was er erkennt, weil seine (einzige) intelligible Form seiner substantiellen Form ent28 spricht, welche in nichts anderem als intelligere purum besteht. Gott in seinem Wesensakt bestimmend, ist dieses intelligere purum infolgedessen nicht nur mit dem göttlichen esse identisch, sondern vor allem auch mit dessen vollkommener Verwirklichung im Akt der Selbsterkenntnis. Deshalb beschränkt sich das Fortschreiten der noetischen Rede Eckharts über die Identität von esse und intelligere in Gott nicht nur 29 auf diese offensichtliche Schlussfolgerung, sondern wird auch logisch fortgesetzt bis zu der radikalen (und ungewöhnlichen) Bestimmung des Erkennens Gottes als 30 „Grundlage seines Seins“ und somit bis zu der affirmativen Behauptung, die aus 24
Vgl. insbes. In Gen. II n. 215 (LW I, 690,10-691,1); In Sap. n. 4-5 (LW II, 326,2-327,2); Sermo XXIX n. 301 (LW IV, 267,6-268,6); Quaest. Paris. I n. 1 (LW V, 37,5-7). 25 Vgl. In Ioh. n. 193 (LW III, 162,1-7); n. 669 (ebd. 582,6-11); Pr 9 (DW I, 157,8-158,5). 26 Quaest. Paris. I n. 1 (LW V, 37,4): „Dicendum quod sunt idem in re, et forsan re et ratione“. 27 Ebd. n. 2 (ebd. 39,3-5): „Sexto sic: quia sic se habet intelligere ad speciem, sicut se habet esse ad essentiam. Essentia autem divina se habet loco speciei. Ergo cum in deo esse sit idem essentiae, et ideo omnia ista sunt ibi omnino idem.“ Zu diesem Argument, vgl. E. Zum Brunn et al. (Hgg.): Maître Eckhart à Paris, 178, Anm. 6: „Allusion au principe épistémologique de a la connaissance de Dieu par lui-même selon Thomas d’Aq. (S. Théol., I , q. 14, a. 2 Resp. et a. 4 Resp. où Eckhart a puisé le thème de similitude du rapport ‚être-essence‘ et ‚espèce intelligible-connaître intellectif‘).“ Vgl. auch Imbach: Deus est intelligere, 20-33. 28 Vgl. In Ioh. n. 38 (LW III, 32,11-12 u. 33,2-4). 29 Vgl. Quaest. Paris. I n. 3 (LW V, 40,3-4): „Et sic in deo ipsum esse est ipsum , quia ipso esse operator et intelligit.“ 30 Ebd. n. 4 (ebd. 40,6-7): „deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse.“ Vgl. Imbach: Deus est intelligere, 160: „Gott als reines intelligere zu deuten ist die hervorragendste Weise, ihn zu denken, und kommt seinem Wesen am nächsten. Diese Gottesdeutung geschieht in gewollter Gegenüberstellung zur Kreatur. So wie Denken Gottes eigentümlichste Bezeichnung ist, ist Sein die spezifische Bezeichnung des Geschaffenen, Endlichen.“
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dem Buch der 24 Philosophen stammt, dass „Gott eine Vernunft sei, die da lebt im Erkennen einzig ihrer selbst“, so dass er „im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich 31 selbst erkennt“. Die Gottesbestimmung bei Meister Eckhart als se toto intellectus per 32 essentiam et se toto purum intelligere entspricht folglich seiner Auffassung des von Natur aus (aufgrund seiner Selbstgenügsamkeit) erkennenden und erkannten, d.h. 33 unvermittelt selbstreflexiven Seins, welches das substantielle und subsistierende 34 Selbsterkennen darstellt. Durch diesen Akt der Selbsterkenntnis als Aktuation und Aktualisierung seiner puritas essendi offenbart sich Gott an sich selbst in einer perfek35 ten ontologischen Transparenz und konstituiert sich damit in seinem Wesen als 36 reine Intellektualität an sich (solum intelligere praeter esse aliud simpliciter ), d.h. als 37 Denken des Absoluten oder des Einen, wobei „der eine Gott Intellekt ist und der 38 Intellekt der eine Gott ist“. Der Selbstvollzug des göttlichen Seins besteht somit nur darin, sich selbst aufgrund seiner Einheit zu erkennen und so seine ganze Vollkommenheit von diesem Akt zu beziehen. Außerdem führt diese spekulative Auffassung, die sich auf die aristotelische Gottesbestimmung, das neuplatonische Eine und die 39 göttliche Selbstaussage von Exodus 3,14 („Ego sum qui sum“ ) gründet, weiter zu 31
Pr 9 (DW I, 142,1-7 u. 150,1-7): „Vierundzweinzic meister kâmen zesamen und wolten sprechen, waz got waere. Sie kâmen ze rehter zît und ir ieglîcher brâhte sîn wort […] Der dritte sprach: ‚got ist ein vernünfticheit, diu dâ lebet in sîn aleines bekantnisse‘. […] Als wir got nehmen in dem wesene, sô nehmen wir in in sînem vorbürge, wan wesen ist sîn vorbürge, dâ er inne wonet. Wâ ist er denne in sînem tempel, dâ er heilic inne schînet? Vernünfticheit ist der tempel gotes. Niergen wonet got eigenlîcher dan in sînem tempel, in vernünfticheit, als der ander meister sprach, daz got ist ein vernünfticheit, diu dâ lebet in sîn aleines bekantnisse, in im selber aleine blîbende, dâ in nie niht engeruorte, wan er aleine dâ ist in sîner stilheit. Got in sîn selbes bekantnisse bekennet sich selben in im selben.“ Vgl. Pr 66 (DW III, 124,2-5): „Diu vröude des herren daz ist der herre selber und kein ander, und der herre ist ein lebende, wesende, istige vernünfticheit, diu sich selber verstât und ist und lebet selber in im selber und ist daz selbe. Hie zuo enhân ich keine wîse geleget, sunder ich hân im abegenomen alle wîse, als er ist wîse âne wîse und lebet und ist vrô des, daz er ist.“ 32 In Ioh. n. 34 (LW III, 27,12-14). 33 Vgl. In Exod. n. 16 (LW II, 8-10); n. 74 (ebd. 77,12-78,1); In Eccl. n. 10 (LW II, 239,1-3); In Sap. n. 5 (LW II, 326,10-327,2). 34 Vgl. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus, 49: „Das reine Sein geht denkend von sich aus und kehrt in sich selbst zurück: es reflektiert sein eigenes Denken als sein eigenes Sein und sein eigenes Sein als sein eigenes Denken.“ 35 Lossky: Théologie négative et connaissance de Dieu, 165: „Le Dieu ‚Acte pur d’exister‘ de saint Thomas doit correspondre, dans la théologie de Maître Eckhart, à l’acte intellectuel par lequel l’Un, comme principe d’opération, revient sur sa propre Essence inopérante et inconnaissable, en manifestant son identité absolue avec soi-même.“ 36 Sermo XXIX n. 301 (LW IV, 268,4-6). 37 Vgl. Pr 43 (DW II, 320,5-321,1): „Ich spriche: got ist alzemâle ein; er enbekennet niht wan sich aleine.“ 38 Sermo XXIX n. 304 (LW IV, 270,1-2): „Deus enim unus est intellectus, et intellectus est deus unus.“ 39 Vgl. Brunner: Maître Eckhart, 37: „L’explication de la répétition de ‘Je suis’ évoque aussi l’action intra-divine. Il est question de conversion sur l’être lui-même, notion qui a son origine chez Proclus et chez saint Thomas, son commentateur. Elle désigne la connaissance de soi, privilège de l’être spirituel, et la subsistance par soi, propriété de l’être simple“. Vgl. Lossky:
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der unweigerlichen Schlussfolgerung, dass der Selbsterkenntnisakt in seiner Absolutheit exklusiv Gott zukommt. Denn die Feststellung der Einzigartigkeit des esse und 40 folglich des intelligere Gottes (aufgrund seiner absoluten Einheit) erfordert, die eigene Dynamik des intelligere seipsum nicht einfach als Mitbezeichnung des Seinsmodus Gottes, sondern allein als prädikabel für das Sein, das Gott ist, zu verstehen.
Die Selbsterkenntnis Gottes als fließendes und trinitarisches Erkennen Die Betrachtungen der philosophischen Noetik (per rationes naturales begründet), welche die Eckhartsche Konzeption des göttlichen esse als purum intelligere bestimmen, liefern nun die methodologischen Prinzipien, deren Anwendung vor allem im Dienst der Erklärung einer bestimmten biblischen und dogmatischen Grundlage stehen soll. Dies gilt in erster Linie für die Trinitätslehre Eckharts, um die von ihm 41 hergeleiteten theologischen Schlussfolgerungen zu untermauern. Seine noetische Darstellung der göttlichen Selbsterkenntnis erlaubt ihm schließlich, den Hervorgang und die Unterschiedenheit der Personen in divinis als processus intellectualis zu erläu42 43 tern, wobei er von der Zeugung des Sohnes per modum intellectus ausgeht. Somit liegt im Kern der generatio filii die Auffassung eines für den göttlichen Intellekt 44 geeigneten, immanenten Hervorgangs seines eigenen Bildes als bullitio. Die Trinitätslehre Eckharts betont folglich den intellektiven Charakter des göttlichen Wesens in seiner Fruchtbarkeit, die aus dem Selbsterkenntnisakt resultiert, welcher daher das konstitutive Aufwallen der dreifachen Persönlichkeit durch die drei Komponenten dieses Aktes ausdrückt. Jeder Person wird dabei eine noetische Funktion zugeschrieben: 1. dem Vater der göttliche Intellekt (intellectus paterni); 2. dem Sohn die intelliThéologie négative et connaissance de Dieu, 218: „Quand Maître Eckhart parle de Dieu en termes d’Esse, il prête habituellement à l’identité de l’Être divin une expression dynamique: elle se présente comme l’Acte intellectuel de ‚retour sur sa propre essence‘. Cependant ici l’Ipsum Intelligere n’est plus distingué de l’Ipsum Esse et la révélation de l’Exode – Ego sum qui sum – doit exprimer aussi bien l’‚Être-par-soi‘ que le ‚Connaître-soi-même‘ d’un Dieu qui s’affirme comme Être parfaitement identique“. Zu Eckharts Auslegung des Satzes „Ich bin, der ich bin“, vgl. insbes. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus, 39-49. 40 Vgl. Sermo XXIX n. 301 (LW IV, 268,4-10): „Patet ergo manifeste quod deus est proprie solus et quod ipse est intellectus sive intelligere et quod solum intelligere praeter esse aliud simpliciter. […] Iterum etiam quod nihil praeter ipsum potest esse purum intelligere, sed habet aliquod esse differens ab intelligere, nec aliter esset creatura, tum quia intelligere est increabile, tum quia ‚prima rerum creatarum est esse‘.“ 41 Vgl. Beierwaltes: Platonismus und Idealismus, 49-57. 42 Vgl. Sermo II/1 n. 8 (LW IV, 9,12-13): „Processus ille est ad intra, tum quia intellectualis, tum quia nihil est deo extra.“ 43 Vgl. In Ioh. n. 31 (LW III, 24,12-25,5); n. 33 (ebd. 27,4-5): „ procedit a patre sub proprietate intellectus“; n. 34, 27,16-28,1: „‚verbum‘, scilicet filius, ‚intellectualiter procedens‘ a patre“; Sermo XI/1 (LW IV, 109,3-4): „Nec enim verbum gignit nisi sub ratione intellectus. Filius non procedit nisi per proprietatem intellectus.“ 44 Vgl. In Sap. n. 283 (LW II, 616,2-3); In Ioh. n. 342 (LW III, 291,7-8); Sermo XLIX/3 n. 511 (LW IV, 426,2-4): „Est ergo imago emanatio ab intimis in silentio et exclusione omnis forinseci, vita quaedam, ac si imagineris rem ex se ipsa et in se ipsa intumescere et bullire in se ipsa necdum cointellecta ebullitione.“
Die Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart
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gible Form als Wort (verbum); 3. dem Heiligen Geist der Selbstreflexionsakt, d.h. der Akt einer völligen Rückkehr des Sohnes als verbum in principio zum väterlichen 45 Intellekt. Diese Selbstverwirklichung Gottes in seiner Innerlichkeit bedeutet eine absolute Selbstanwesenheit, welche die Vollkommenheit dieses zirkulären Prozesses betont, der durch die subsistierenden Beziehungen zwischen den Personen strukturiert wird. Die trinitarische Theologie Eckharts, die in seinem Gedankengang über die intellektuelle Zeugung des Sohnes als Wort und folglich in seiner Auslegung des Johannesevangeliums kulminiert, stellt sich so als eine theo-logische Verifikation der Entfaltung der Selbsterkenntnis Gottes sowie der den dreieinigen Gott konstituie46 renden Selbstdifferenzierungsbewegung der Einheit der Gottheit heraus. Zudem ist die Erklärung des Emanationsprozesses der Personen in Gott bei Eckhart nicht hauptsächlich gemäß der augustinischen Tradition auf einer psychologischen Analogie mit der Aktivität des menschlichen Geistes – im Gegensatz zu Thomas beispielsweise – fundiert, sondern stellt ein eigenes Verfahren des väterlichen Intellekts in der Einheit seines Wesens, d.h. als Denken des Einen oder der Einheit, die dem Vater 47 48 zugeeignet wird, dar. Darum ist die erste Person das hervorgehende Prinzip der 49 50 Trinität und daher der Urgrund der ganzen Gottheit (principium totius deitatis) in 51 ihrer innerlichen persönlichen Dynamik der Selbstoffenbarung. Diese trinitarische Grundlage, die für Eckharts Gedankengang nicht zu unterschätzen ist, charakterisiert meines Erachtens fundamental und ausdrücklich die Eckhartsche Auffassung der 52 Selbsterkenntnis Gottes. Dementsprechend ist diese Auffassung als eine trinitari45
Vgl. Sermo LII n. 523 (LW IV, 438,2-5): „Ergo induimini, quia ad intima dei pertingit ‚verbum in principio‘, in patre, ‚in sinu patris‘, in ipso fonte suo, in abdito et intimo sui, scilicet intellectu, in simplicitate ubi se toto redit super se totum.“ 46 Vgl. Pr 15 (DW I, 252,2-5): „Der vater ist ain begin der gothait, wan er begriffet sich selber in im selber. us dem grat das ewig wort inne belibend, und der hailig gaist flusset von im beiden inne belibend und gebirt in nit, wan er ain ende ist der gothait inne belibend“. Vgl. Stephenson: Gottheit und Gott, 122-123: „‚Natur‘ in Gott heißt also noch nicht, dass die Gottheit sich selbst erkennt, sondern bezeichnet nur die Möglichkeit und den ersten Ansatz dazu. […] In der ‚Natur‘ Gottes wird die Selbstentfaltung der Gottheit vorbereiten […] Der auf dieser Grundlage aufgebaute göttliche Selbsterkenntnisprozeß ist eindeutig neuplatonisch gedacht und in die christlichen Trinitätsbegriffe eingekleidet.“ 47 Vgl. In Gen. II, Tab. Contentorum (LW I/2, 25-27): „Hinc est, quod in exemplari ex patre, cui unitas appropriatur, duaesunt tantum emanationes et personae duae manentes in uno in patre, Ioh.: ‚Hi tres unum‘“; In Ioh., n. 360 (LW III, 305,9-306,2). 48 Vgl. Lossky: Thélogie négative et connaissance de Dieu, 92: „L’Un est donc le ‚Principe sans principe‘ de l’opération intellectuelle de Dieu, c.-à-d. l’Intellect paternel. ‚Raison‘ d’indistinction et, en même temps, d’action, l’Un approprié au Père est l’Intellect divin surtout sous ce dernier aspect, celui de la productivité.“ 49 Vgl. In Ioh. n. 564 (LW III, 492,9-10): „Unum fons est primo primae emanationis, filii scilicet et spiritus sancti a patre aeterna processione.“ 50 Vgl. ebd. n. 656 (570,14-571,1); Sermo II/1 n. 4 (LW IV, 7,3-5). 51 Vgl. In Gen. II, n. 112 (LW I,577,9-13). 52 Vgl. Pr 1 (DW I, 18,2-4): „In der wîsheit sich der vater selbe bekennet mit aller sîner veterlîchen hêrschaft und daz selbe wort, daz ouch diu wîsheit selber ist, und allez daz dar inne ist, alsô als daz selbe ein ist“. Pr 43 (DW II, 320,3-321,2): „Wan got gebirt sich ûz im selben in sich selben und gebirt sich wider in sich. Ie volkomener diu geburt ist, ie mê si gebirt. Ich
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sche Noetik zu begreifen, in der das Selbsterkennen Gottes von dem Vermögen des väterlichen Intellekts herrührt, indem er sich in der Zeugung des Wortes und durch 53 dessen Reflexion in einer wechselseitigen, vereinigenden Liebe auf sich selbst be54 zieht.
Die Selbsterkenntnis Gottes als ausfließendes und schöpferisches Erkennen Wenn man in Eckharts Trinitätslehre die sich ergebenden Konsequenzen seiner Konzeption der Selbsterkenntnis Gottes untersucht, gelangt man unter Berücksichtigung der weltsetzenden Kausalität der ganzen Trinität systematisch zu seiner Schöp55 fungslehre. Da der Hervorgang und die Unterschiedenheit der Personen ad intra spriche: got ist alzemâle ein; er enbekennet niht wan sich aleine. Got gebirt sich alzêmale in sînem sune.“ Pr 70 (DW III, 197,4-6): „Nû spriche ich: ‚wir suln in bekennen rehte, als er sich selben bekennen‘ in dem widerbilde, daz aleine bilde ist gotes und der gotheit, niht der gotheit dan als vil, als si der vater ist.“ Pr 101 (DW IV, 350,87-352,90): „Sehet, got der vater hât ein volkomen însehen in sich selber und ein abgründic durchkennen sîn selbes mit im selber, niht mit keinem bilde. Und alsô gebirt der vater sînen sun in wârer einunge götlîcher natûre.“ Pr 116 (ed. H. Vogl: Der „Spiegel der Seele“, 393,900-394,910): „Got ist ain liecht, in im selber schwebent, in ainer stillen stillikait, das ist ain liecht, ain wesen sîn selbes, das sich selber verstet und erkennet. Und Diu verstantnisse des einigen liehtes daz ist das liecht von dem liecht, daz ist diu êwige persône der sun von der êwigen persône den vater. Da der vater sprach ain wort, das was sein sun. An dem einigen wort sprach er alle ding. Und das wort des vaters ist anders niht dan sein selbes verstantnus. Daz verstantnisse des vaters verstât die verstantnisse. Und daz die verstantnisse verstât, daz ist daz selbe, daz er ist, der ez dâ verstât. Daz ist daz lieht von dem liehte. Her ûf sprichet Job: ‘Got sprach ein wort’, daz was daz einige verstantnisse sîn selbes, daz was sîn sun.“ 53 Vgl. Pr 47 (DW II, 395,2-6): „Sehet, alsô ist diu entgiezunge götlîcher natûre in zweierleie wîse. Diu entgiezunge ist des sunes von dem vater; diu geschihet in einer geburt wîse. Diu ander entgiezunge ist einer gemeinder wîse den heiligen geist; diu entgiezunge ist von liebe des vaters und des sunes: daz ist der heilige geist, wan sie sich beide an im minnent.“ Vgl. In Gen. II n. 45 (LW I, 512,8-9); In Ioh. n. 33 (LW III, 27,4-5): „spiritus sanctus secundum proprietatem amoris“; ebd. n. 656 (ebd. 571,11-12): „spiritus sanctus procedit a filio, ubicumque procedit, sicut amor a notitia.“ 54 Vgl. Stephenson: Gottheit und Gott, 126: „Es gibt für Eckhart überhaupt nur eine ‚Liebe‘, das ist die Liebe Gottes zu sich selbst. ‚Liebe‘ und Einheit gehören zusammen, und so vollbringt die ‚Liebe‘ als dritter Faktor (‚Person‘) dieses Prozesses die Rückführung des ausgeflossenen ‚Sohnes‘ in seinem Ursprung. Sie vollendet die Bewegung des innertrinitarischen Kreises“. Siehe auch Beierwaltes: Eckhart et le Liber de causis, 293: „Cette auto-relation est elle-même comme une ‚reflexiva conversio in se ipsum et super se ipsum‘, comme une réflection et une auto-pénétration qui pense son être propre, bref, pour le dire par une métaphore absolue, comme une auto-illumination (in lucem se toto se totum penetrans). Cette relation ou réflexivité en auto-mouvement – où s’exprime également la vie la plus intense et la coappartenance dans l’amour – est la modalité propre de l’auto-déploiement trinitaire, de l’être auto-pensant, auto-exprimant, auto-aimant du Dieu trinitaire. Et cette relation intra-trinitaire à soi dans la pensée, le verbe et l’amour s’accomplit comme un cercle où le commencement du mouvement se reconduit à lui-même.“ 55 Vgl. Stephenson: Gottheit und Gott, 147: „Die innertrinitarische Selbsterkenntnis ergießt sich mit der Schöpfung in den ‚zweiten Kreis‘ göttlicher Entfaltung“.
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tatsächlich der formalen Entfaltung des göttlichen Selbsterkennens entsprechen, ist dieser Selbsterkenntnisakt (durch das schöpferische Handeln der Dreifaltigkeit) folglich das Prinzip einer zweiten Hervorbringungsstufe. Es handelt sich nun um die 56 57 ebullitio, d.h. eine exuberantia dieses innerlichen intellektuellen Fließens ad extra dei, so dass „sich das Aufwallen nach Art der urbildlichen Ursache zum Überwallen 58 verhält“. Der Schöpfungsakt ist demnach das Privileg des sich selbst erkennenden göttlichen, väterlichen Intellekts, der mithin sein äußerliches Wirken und damit seinen allumfassenden kausalen Einfluss zeigt, welcher mit der ewigen Zeugung des Sohnes als Wort Gottes zusammenhängt. Denn wenn „die Dinge ihren Ursprung in 59 Gottes Wissen haben und von ihm abhängen“, ist dieses schöpferische Wissen – 60 indem es causa rerum nach der von Petrus Lombardus etablierten Sentenz ist – nichts anderes als das Erzeugnis der göttlichen Selbsterkenntnis, nämlich das Wort, „durch das alles geworden ist“ und das in sich alle ungeschaffenen Ideen enthält, die in alle erschaffbaren Dinge, deren Vorbilder sie sind, ausfließen. Durch eine Entsprechung der trinitarischen Auslegung von Gen 1,1 und Joh 1,1-3 bestimmt sich 61 das Wort daher auch als schöpferische Idee (ratio idealis omnium ) und Aussprechen Gottes; denn was der göttliche schöpferische Intellekt begreift, das führt er durch das Wort aus. Die kausale Effizienz der Selbsterkenntnis Gottes hängt bei Eckhart in erster Linie mit der Formal- und Exemplarursächlichkeit zusammen, die das Wort als Seinsgrund, aber auch als Erkenntnisgrund aller Dinge darstellt, so dass Gott, indem er sich in sich selbst erkennt, die Gesamtheit der in seinem schöpferischen Denken präexistierenden Auswirkungen gleichzeitig erkennt und erschafft (wodurch die heikle und kontroverse Fragestellung nach der Gleichewigkeit der emanatio per62 sonarum und der creatio mundi besser verständlich wird ). Das schöpferische Handeln Gottes übernimmt also die Einheit der Dynamik des göttlichen Selbsterkennens
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Vgl. Sermo XLIX/3 n. 511 (LW IV, 426,9-12): „Secundus gradus est quasi ebullitio sub ratione efficientis et in ordine finis, quo modo producit quid a se ipso, sed non de se ipso. Aut ergo de alio quolibet, et dicatur factio; aut de nihilo, et est tertius gradus productionis, qui dicitur creatio.“ 57 Vgl. ebd. n. 512 (ebd. 428,1-2): „Oportet enim prius se toto bullire quidpiam et sic tandem ebullire, ut sit in se toto perfectum, exuberans plus quam perfectum.“ 58 Sermo XXV/1 n. 258 (LW IV, 236,4-8). Vgl. In Exod. n. 16 (LW II, 21,10-22-8); In Sap. n. 283 (LW II, 615,12-616,2). 59 In Gen. I n. 8 (LW I, 192,4-5): „res ipsae ortum habent a scientia dei et dependent“; ebd. n. 11 (LW I, 194,10-195,1): „Deus agit et producit res per naturam suam, scilicet die. Sed natura die est intellectus, et sibi ese est intelligere, igitur producit res in esse per intellectum.“ Sermo XXIX n. 301 (LW IV, 268,6-7). 60 Sent. I, dist. 38, c. 1 (éd. I. Brady), t. 1, Grottaferrata 1971 (Spicilegium Bonaventurianum 4), 241: „Ergo scientia Dei est causa rerum“. Vgl. Meister Eckhart: In Gen. II n. 61 (LW I, 528,10-11); Quaest. Paris. I n. 8 (LW V, 44,10-12). 61 Vgl. In Gen. I n. 3 (LW I, 186,13-187,2) und n. 5 (188,9-189,2); In Ioh. n. 13 (LW III, 12,15-17). 62 Vgl. In Gen. I n. 7 (LW I, 190,1-192,6).
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und lässt sich vor allem in seiner trinitarischen Verwurzelung erklären, d.h. in dem 63 Wort als schöpferisches Denken und Sprechen. Diese Auffassung der Selbsterkenntnis Gottes, welche auf der Verbindung zwischen Erkenntnis und Kausalität beruht, ist jedoch nicht allein Meister Eckhart eigen, sondern sie zeigt insgesamt den Versuch der Scholastik, die aristotelische Be64 stimmung Gottes als Denken, das nichts außer sich selbst denkt (so dass Gott die Welt mit Notwendigkeit und nicht durch einen freien Schöpfungsakt hervorgebracht hat), entsprechend der christlichen Orthodoxie abzuwandeln. Insbesondere in der Nachfolge von Albertus Magnus und Thomas von Aquin adaptiert Eckhart diese Lehre mit dem neuplatonischen spekulativen Ansatz von der Transzendenz der ersten Intelligenz, die durch ihre schöpferische Ursächlichkeit alle der Form nach Seienden im Voraus enthält und so ihre Hervorbringung lenkt. Dies ermöglicht ihm, mehrere grundlegende Aspekte des Schöpfungsdogmas – insbesondere die Freiheit des schöpferischen Handelns sowie die Präexistenz der Geschöpfe im Wort, d.h. in 65 filio, und ihre Erschaffung durch das Wort, d.h. per filium – zu erläutern.
III Die Fragestellung nach der Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart erlaubt daher, die philosophische Ausführung einer theologischen Erklärung der Trinität sowie der Schöpfung in ein klareres Licht zu rücken. Denn diese zwei Hervorbringungsstufen hängen gegenseitig voneinander ab, so dass „man nicht ohne eindeutige Sinnwidrigkeiten die zwei komplementären Aspekte einer einzigen ‚Theologie‘ ge63
Pr 43 (DW II, 320,5-321,2 – mit dem Zusatz aus der Hs. von Gand [G5], Stadt- und Universitätsbibliothek, Codex 1330): „Ich spriche: got ist alzemâle ein; er enbekennet niht wan sich aleine. Gott könde sich nyemmer bekennen, er enbekannte dann alle creaturen. Got gebirt sich alzemâle in sînem sune; got sprichet alliu dinc in sînem sune.“ Pr 49 (DW II, 434,4435,13): „Eyâ, nû merket die wîse dises sprechennes! Der vater sprichet vernünftichlîche in vruhtbærkeit sîne eigene natûre alzemâle in sînem êwigen worte. […] Wan, als ich ê sprach: der vater enbekennet niht dan diz selbe wort und sich selben und alle götlîche natûre und alliu dinc in disem selben wort, und allez, daz er dar inne bekennet, daz ist glîch dem worte und ist daz selbe wort natiurlîche in der wârheit.“ Vgl. Sprüche, 62 (ed. F. Pfeiffer, in: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. II: Meister Eckhart, hrsg. v. F. Pfeiffer, Leipzig 1857, 622,5-8): „Waz ist gotes sprechen? Der vater siht ûf sich selber mit eim einveltigen bekentnisse unde sihet in die einvaltigen lûterkeit sînes wesens, dâ sihet er gebildet alle crêatûren. Dâ sprichet er sich selber, daz wort ist clâr verstentnisse, und daz ist der sun.“ 64 Aristoteles, Met. XII, c. 7, 1072b 21. Vgl. Meister Eckhart: Pr 5a (DW I, 78,6-7): „Got der erkennet ouch nutz usser im, sunder sin oug ist allein in sich selber gekert. wat er sicht, daz sicht er alles in im.“ 65 Dieser Zusammenhang zwischen Trinitäts- und Schöpfungslehre – beide von einer noetischen Bestimmung Gottes als Intellekt und folglich Erkennen geprägt – ist omnipräsent in Eckharts Genesisauslegung, in der er darauf achtet, die hermeneutische Verbindung der alttestamentarischen Schöpfungserzählung mit den ersten Versen des Johannesprologs zu unterstreichen, weil der Evangelist „die allgemeine Ursächlichkeit der ganzen Dreifaltigkeit lehrt“, indem sich das Wort omnia per ipsum facta sunt „auf die Erschaffung der Dinge“ bezieht. Vgl. In Ioh. n. 82 (LW III, 71,1-2): „docet totius trinitatis generalem causalitatem, dicens: omnia per ipsum facta sunt, et hoc quantum ad rerum omnium creationem.“
Die Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart
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trennt voneinander betrachten kann; greift die ursprüngliche Einheit und den innerlichen Prozess der Dreieinigkeit auf, welcher bei Eckhart 66 vom Schöpfungsakt untrennbar ist“. Die ebullitio als Ergebnis der bullitio zu verstehen bedeutet somit, dass die Verbindung zwischen diesen beiden Hervorbringungsstufen durch die Eckhartsche Auffassung der Selbsterkenntnis Gottes und die spekulative Betrachtung über die Produktivität des göttlichen Erkennens bedingt ist. Dies ermöglicht, das Verhältnis zwischen dem Einen und der Trinität und konsequenterweise zwischen Gott und der Schöpfung in noetischer Hinsicht zu verstehen. Liefern nun die Betrachtungen Eckharts zur Frage der Selbsterkenntnis Gottes 67 etwas „Neues und Ungewöhnliches“? Dies lässt sich in gewisser Hinsicht bejahen, weil sich seine Überlegungen stärker als diejenigen seiner Vorgänger auf die Produktivität der göttlichen Selbsterkenntnis fokussieren. Ein Zeugnis davon legt der Gebrauch der Metapher des Überwallens – als kennzeichnender Begriff für eine gesamte 68 Schule – ab, indem Eckhart sie zu dem Begriffspaar bullitio – ebullitio signifikant erweitert und ihr dadurch einen spezifischeren Sinn verleiht. Dieses Begriffspaar bezeichnet bei ihm die innerliche und äußerliche Dynamik wesentlicher Prozessualität des göttlichen intelligere als notwendigen Selbsterkenntnisakt, durch den sich Gott als allumfassenden Ursprung bestimmt, d.h. als das absolute Prinzip von allem, was sowohl in divinis als auch ad extra dei auf intellektuelle Weise fließt, und sich folglich an sich selbst als Trinität und Schöpfer offenbart. Infolgedessen fördert eine Untersuchung der Selbsterkenntnis Gottes bei Meister Eckhart das Ergebnis zutage, dass es eine falsche Beurteilung wäre, diese Fragestellung als ein nebensächliches Thema zu betrachten. Und obwohl ich einräumen muss, dass sie in den überlieferten Werken Eckharts bloß am Rande seiner Lehre über 1. die Intellektualität Gottes, 2. die Trinität und 3. die Schöpfung behandelt wird, sollte man ihre weitreichende Bedeutung nicht unterschätzen, da sie einen grundlegenden Schlüssel zum Verständnis der Verbindung und Einheit dieser drei Schwerpunkte im metaphysischen System Eckharts bietet. Abschließend ist daher festzustellen, dass sich Meister Eckhart nicht zwingend über eine systematische Behandlung der Selbsterkenntnis Gottes gewissermaßen hinweggesetzt hat, sondern dass die nur partielle Berücksichtigung dieser gesonderten Fragestellung in der bisherigen Forschung aus dem Verlust oder der Unfertigkeit entsprechend zweckmäßiger Schriften erklärt werden könnte.
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Vgl. de Gandillac: L’abîme et l’étincelle, 338. Prol. gen. n. 2 (LW I, 149,1): „nova et rara“. 68 Vgl. Pagnoni-Sturlese: À propos du néoplatonisme d’Albert le Grand, 644. 67
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YVES MEESSEN
Cognitio et amor. Interpretation im Gleichnis: Eckharts Auslegung von Johannes 20, 3-8 Die Annäherung von Erkenntnis und Liebe ist für Meister Eckhart eine andere Art, die Beziehung zwischen Intellekt und Willen anzugehen. Wenn man sich streng auf die Terminologie von Intellekt und Willen beschränkt, dann bedeutet dieses unmittelbar, die Fragestellung in der Kontroverse zwischen Dominikanern und Franziska2 1 nern zu situieren. Wie Eckhart selbst in der Predigt Quasi stella matutina berichtet, hat er tatsächlich die These der Dominikaner in unmittelbarer Disputation gegen 3 Gunsalvus von Spanien verteidigt. Wenn auch eine wichtige Passage seines Werkes diese Position wiederholt, so ändert es doch nicht im Geringsten etwas daran, dass der Thüringer durchaus nicht bei diesem frontalen Gegensatz stehen geblieben ist, sondern ihn bemeistert hat. Denn die wahre Erkenntnis Gottes erfordert es, den ausschließlich natürlichen Gebrauch der beiden Fähigkeiten zu „lassen“. Dieser Verzicht liegt darin begründet, dass Gott als er selbst sich nicht wie ein Objekt für einen anderen zu erkennen gibt. Er gibt sich gemäß seiner eigenen Weise des Erkennens, die zugleich sein Sein ist: „Gott aber teilt das Seine mit, weil er aus sich selbst 4 5 ist, was er ist.“ Anderweitig sagt er, die göttliche Gabe sei eine Selbst-Mitteilung. Deswegen kehrt Eckhart die Perspektive Sein – Erkennen um. Der Intellekt, durch den man zu Gott aufsteigt, ist nichts anders als der Akt, durch den er sich selbst 6 erkennt. Dem Beispiel des Aristoteles vom Auge und den Farben folgend, ruht die Erkenntnis bei Eckhart einzig auf der Aktivität des Erkannten und der vollständigen 1
Vgl. Weber: Eckhart et l’ontothéologisme. Pr 9 (DW I, 152f. / 464): „Ich sagte in der Schule, daß die Vernunft edler sei als der Wille, und doch gehören sie beide in dieses Licht. Da sagte ein Meister in einer andern Schule, der Wille sei edler als die Vernunft, denn der Wille nehme die Dinge, wie sie in sich selbst sind; Vernunft aber nehme die Dinge, wie sie in ihr sind. Das ist wahr. Ein Auge ist edler in sich selbst als ein Auge, das an eine Wand gemalt ist. Ich aber sage, daß die Vernunft edler ist als der Wille. Der Wille nimmt Gott unter dem Kleide der Gutheit. Die Vernunft nimmt Gott bloß, wie er entkleidet ist von Gutheit und von Sein. Gutheit ist ein Kleid, darunter Gott verborgen ist, und der Wille nimmt Gott unter diesem Kleide der Gutheit.“ 3 Vgl. Klibansky: Commentariolum; Benoît: La psychologie. 4 Pr 9 (DW I, 149 / 463). 5 Eckhart verwendet den Terminus von Rahner „Selbst-Mitteilung“ nicht; dieser ist einer der bedeutendsten Ausdrücke der Theologie des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich eher um eine „Selbst-gemeinung“ ( „Swaz sie gemeinent, daz hänt sie von einem andern. Sie gebent sich ouch niht selben“), eine Teilung von dem, was gemeinsam ist im Sinne der Art, wie sich Licht verbreitet, oder eine „Selbst-Gebung“, eine rückhaltlose Selbstgabe. 6 Aristoteles: De anima III, c. 4, 429 a 17 und b 17, vgl.: In Ioh n. 100 (LW III, 86): „Beispielsweise: wenn das Auge eine Farbe oder etwas von der Farbe besäße, sähe es weder diese noch überhaupt eine Farbe. Zudem aber weiter: wenn der Gesichtssinn schon eine wirkliche Wahrnehmung hätte, sei es auch nur von sich selbst, so wäre er dadurch nicht mehr für das Sichtbare als solches empfänglich. Denn das Wirkende als solches darf in keiner Weise erleidend sein, und umgekehrt darf das Erleidende als solches in keiner Weise wirkend sein. Deshalb ist der Verstand nichts von allem, damit er alles erkenne.“ 2
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Passivität des Erkennenden. Wenn freilich die Erkenntnis auf Gott bezogen ist, dann verdoppelt sich die Beziehung von Aktivität und Passivität: Der tätige Intellekt wird passiv durch die göttliche Aktivität. Gott setzt sich selbst an die Stelle des intellectus agens und bewirkt die Erkenntnis an der Stelle, die sich selbst als passiver Intel8 lekt erweist. In diesem Fall verliert der aristotelische intellectus agens sein agere. Reine Rezeptivität geworden, führt der menschliche Intellekt nicht mehr die Erkenntnis, sondern lässt vielmehr sich führen. Das ist der Prozess der Geburt Gottes in der 9 Seele. Diese „Geburt“ fordert vom Menschen, dass er „bei dem Verbum“ sein muss 10 wie ein „Adverb“. Damit ist ausgesagt, dass der Intellekt abgeschieden sein muss von allen äußeren und körperlichen Dingen, damit er nichts anderes betrachtet als das, was er nach innen gerichtet wahrnimmt: „Gottes Seligkeit liegt im Ein11 wärtswirken der Vernunft, wobei das ‚Wort‘ innebleibend ist“ . Nun agiert aber in der Umstellung von der Aktivität zur Passivität, die der Abgeschiedenheit korrespondiert, das Vermögen des Intellekts nicht alleine. Es ist begleitet von dem anderen Vermögen des Willens. Die Kooperation, oder besser die Interaktion, der beiden Vermögen ist nicht leicht zu bestimmen. Ohne den Primat des Intellekts über den Willen in Frage zu stellen, zeigt Eckhart dennoch, dass die beiden Vermögen selbst überschritten werden. Die beiden entsprechenden Aktivitäten des Intellekts und des Willens scheinen so schwierig zu bestimmen zu sein, weil Eckhart sich, zumindest manchmal, auf einen ganz und gar apophatischen Weg zurückzieht, 12 wie etwa am Ende von Predigt 7. Glücklicherweise ist bei Eckhart der apophatische Weg niemals so verschlossen wie ein Grabstein. Es liegt bei uns, den feinen Strahl 13 des Lichts aufzufassen: „Wir wissen wohl ein wenig davon, aber es ist wenig.“ Es ist gerade dieses „wenig“, das uns einlädt, hinzublicken auf eine sehr schöne 14 Passage aus dem Kommentar zum Johannes-Evangelium. Eckhart schlägt darin eine Interpretation zu Intellekt und Willen in Form eines Gleichnisses vor, das seinen 7
Vgl. Casteigt: Connaissance, 174. Zum Verhältnis von intellectus agens (wirkende vernunft) und passivem Intellekt (lîdende vernunft) vgl. de Libera / zum Brunn: Maître Eckhart, 172-173. 9 Vgl.: Maître Eckhart: Sur la naissance; Vannier: Nouvelles perspectives. 10 Pr 9 (DW I, 157 /465). 11 Pr 9 (DW I, 158 / 466). 12 Pr 7 (DW I, 123f. / 457f.): „Ein Meister spricht ein schönes Wort: daß etwas in der Seele ist, das gar heimlich und verborgen ist und weit oberhalb dessen, wo die Kräfte Vernunft und Wille ausbrechen. Sankt Augustinus sagt: Wie das, wo der Sohn aus dem Vater ausbricht im ersten Ausbruch, unaussprechlich ist, so auch gibt es etwas gar Heimliches oberhalb des ersten Ausbruchs, in dem Vernunft und Wille ausbrechen• Ein Meister, der am allerbesten von der Seele gesprochen hat, sagt, daß das gesamte·menschliche Wissen niemals darein eindringt, was die Seele in ihrem Grunde sei. (Zu begreifen,) was die Seele sei, dazu gehört übernatürliches Wissen. Wissen wir doch nichts von dem, wo die Kräfte aus der Seele in die Werke ausgehen; wir wissen wohl ein wenig davon, es ist aber gering. Was die Seele in ihrem Grunde sei, davon weiß niemand etwas. Was man davon wissen kann, das muß übernatürlich sein, es muß aus Gnade sein: dort wirkt Gott Barmherzigkeit. Amen.“ 13 Pr 7 (DW I, 124 / 458). 14 In Ioh. nn. 694-698 (LW III, 611, 1 – 613, 6). Siehe die Übersetzung im Anhang des Artikels. Ein Dank geht an Jacques Elfassi (UPV-Metz) für seine Mitarbeit an der Übersetzung. 8
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Ausgang von der Erzählung der Auferstehung nimmt. Diese Erzählung findet sich gegen Ende des Johannes-Evangeliums und folglich in den letzten Partien von Eckharts Kommentar. Infolgedessen hat er ohne Zweifel diese Passage gegen Ende seiner Straßburger Zeit (1313-1323/24) redigiert, also einer Zeit, in der die deutsche Pre16 digttätigkeit des Thüringischen Meisters blühte. Die gleichnishafte Sprache – Eck17 hart hat sie von Maimonides übernommen – durch einen Sprachstil, der weniger akademisch ist als Eckharts universitärer Stil. So hat er ein wenig das Gepräge der Predigt, wenn es sich auch um eine Einladung zum Nachdenken handelt, aber eben in einer gleichzeitig freilassenden und tiefgründigen Art. Dies bezeichnet aber nicht weniger, als es jeder andere Bezug auf das philosophische Denken Eckharts tut. Tatsächlich dient die gleichnishafte Methode der Absicht, „Goldkörner auf einer Silberschale“ zu entdecken (Spr 25,11), anders gesagt, die Philosophie zu entdecken, die unter dem biblischen Buchstaben verborgen ist. Die Philosophie ist also gemeint, aber sie ist transformiert oder hinaufgehoben in einen gleichnishaften, bildlichen Modus. Auch ist es keineswegs überraschend, zu sehen, dass Eckhart seinen Kommentar zur Stelle mit einer Referenz auf De anima von Avicenna beginnt, und zwar auf das vierte der sechs Bücher über natürliche Philosophie.
Petrus und Johannes: Figuren der Vermögen Indem Eckhart die fünf inneren Sinne (Gemeinsinn, Phantasie, Imagination, Vorstellung und Gedächtnis) und die fünf äußeren Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schme18 cken, Tasten), die bei Avicenna beschrieben sind, knapp erwähnt, erhält er mit Intellekt und Willen im Ganzen eine Zahl von zwölf Vermögen, die den zwölf Aposteln, 19 wie er sagt, entspricht. Durch diese Gleichsetzung wird die Aufzählung bei Avicenna auf eine symbolische Ebene gehoben. Jedem Vermögen entspricht ein Apostel. Allein die beiden letzten Vermögen aber sind es, die Eckharts Aufmerksamkeit erhalten. Denn diese Übertragung erlaubt es Eckhart, die Interaktion beider Vermögen nicht nur als eine rein philosophische Angelegenheit zu interpretieren, sondern vor dem Hintergrund der Offenbarung. Der „geliebte Jünger“, den die Tradition mit Johannes identifiziert, repräsentiert die Liebe oder den Willen, während Petrus, zweifelsfrei in seiner Eigenschaft als Haupt der Apostel, den Intellekt verkörpert. Eckhart zufolge gehen allein der Intellekt und der Willen oder die Erkenntnis und die Liebe – wir lassen diese doppelte Identität vorerst unerörtert beiseite – zum
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Nach unserer Kenntnis ist diese Passage bislang niemals ins Französische übersetzt worden. Der einzige uns bekannte Kommentar dazu findet sich in: Wackernagel: Ymagine denudari, 134-139. 16 Vgl. Vannier: Maître Eckhart à Strasbourg. 17 Vgl. Flasch: D’Averoès à Maître Eckhart, 166-177. 18 Avicenna Latninus: Liber de anima (ed. S. van Riet, Louvain-Leiden 1968, II, 1, 4 – 11, 50); siehe auch Thomas von Aquin: STh Ia, q. 78, a. 3 et 4. 19 In Ioh. n. 694 (LW III, 611).
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verborgenen Wesen Christi, also um das Innere des Grabes zu durchsuchen. Im Gegensatz dazu stehen die anderen Vermögen: „Die zehn anderen Sinnesvermögen gelangen nämlich nicht zum verborgenen 21 Wesen der Dinge, sondern erfassen allein die draußen stehenden Akzidentien.“ 22 Schon dadurch also werden Intellekt und Wille, duo simul , hervorgehoben. Beide sind nicht voneinander unterschieden bezüglich ihrer Superiorität im Verhältnis zu 23 den anderen Vermögen; denn sie haben dasselbe Objekt: „das Seiende und das Gute“ Hier ist, in einer Umkehrung zu Predigt 9, der Wille dem Intellekt assoziiert. Diese Verbindung wird bestätigt durch die Autorität der Schrift: „beide liefen zugleich“ (Jo 20,4a). Freilich ist diese schöne Gleichheit schon erschöpft und wird asymmetrisch 24 durch ein Wort aus De anima von Aristoteles: „Der Wille ist innerhalb des Denkens“ Die Überlegenheit des Willens im Verhältnis zu den anderen Vermögen ist folglich bedingt durch die Überlegenheit des Intellekts, und nicht umgekehrt. Der Wille ist ein 25 höheres Vermögen, weil er von intellektueller Natur ist.
Identität gemäß dem Objekt, Unterscheidung gemäß dem Denken Die Verbindung des Denkens mit der Offenbarung vermag nicht zu überraschen. Für eine philosophische Argumentation hat der Intellekt den Vorrang. Doch ist dieser Vorteil später im Kommentar in Rechnung gestellt. Tatsächlich unterscheidet 26 Eckhart jetzt die zwei Vermögen gemäß dem Denken bzw. der Art und Weise , wie 27 sie dasselbe Objekt sehen. Der Wille sucht sein Objekt gemäß der Liebe, während der Intellekt es gemäß der Erkenntnis sucht. Nun schreibt Eckhart, dass „Gott in diesem Leben durch sich selbst geliebt, nicht aber durch sich selbst erkannt werden 28 kann.“ Diese Priorität oder Anteriorität wird offenbar durch den Vers: „jener ande29 re Jünger lief schneller als Petrus und kam eher an das Grab“ (Jo 20, 4b). Im weiteren Erwägen der unterschiedlichen Weisen von Intellekt und Wille, deckt Eckhart gleichzeitig die Verbindung der beiden auf: „Intellekt und Wille“, 20
In Ioh. n. 694 (LW III, 611): „quarunt Christum in monumento sepultum et occultatum.“ In Ioh. n. 694 (LW III, 611): „Aliae enim decem potentiae sensitivae ad substantiam rerum occultam non pertingunt, sed solum aecidentia foris stantia apprehendunt.“ 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Vgl. De anima III c.9, 432b 5. Vgl. In Joh. n.694 (LW III, 611) 25 In Ioh. n. 694 (LW III, 611): „voluntas […] est naturae intellectualis“. 26 In Ioh. n. 695 (LW III, 611): „sub alia et alia ratione“. 27 Ebd.: „unum objectum“. Es ist bemerkenswert, dass Eckhart nicht zwischen dem Sein und dem Guten als Objekten unterscheidet, auf die sich in differenzierter Weise der Intellekt und der Wille beziehen. Die Idee einer Konvertibilität von Intellekt und Wille, die im Einen gegründet sind, ist interessant; allerdings insistiert Eckhart darauf, dass man die Vermögen nicht identifizieren dürfe, sondern gemäß der ratio unterscheiden solle, vgl. Wackernagel: Ymagine denudari, 135. 28 In Ioh. n. 696 (LW III, 611): „[…] quia deus potest in hac vita per se ipsum amari, non autem per se ipsum cognosci.“ 29 Vgl. ebd.
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„Erkenntnis und Liebe“. Wenn die beiden ersten Benennungen die Vermögen gemäß ihren ihnen eigenen Tätigkeiten bezeichnen, bezeichnen die beiden letzten sie noch mehr von ihrem Ziel her. Es handelt sich nicht allein um den Lauf, sondern auch um das Ziel. Die Liebe kommt als erste am Grab an, und die Erkenntnis kommt erst danach. Doch der Umschlag in der Priorität zwischen Willen und Intellekt ist nur von kurzer Dauer. Denn der Kommentar ändert von neuem ihr Verhältnis. Johannes, der für den Willen figuriert, ist zwar sehr schnell angekommen am Grab, aber er geht nicht über die Schwelle: „Obwohl der Wille dadurch, daß er Gott liebt, zum Grab kommt, tritt er 30 dennoch nicht ein.“ Im Gegenteil: „Petrus tritt ein, weil der Verstand das erkannte Ding innerlich in seinen 31 Ursprüngen erfaßt, den Sohn ‚im Schoße des Vaters‘.“ Die Priorität des Intellekts beim Betreten des Grabs wird von Eckhart nicht durch 32 einen philosophischen Grund erläutert, sondern mit Blick auf die Offenbarung. Wie es dem Sohn zukommt, in den Schoß des Vaters zu gelangen, so kommt es dem Intellekt zu, in sein Prinzip zu kommen. Diese Erklärung nimmt auch die Option Meister Eckharts auf, die er in der theologischen Debatte um den Hervorgang des 33 Sohnes vertreten hat. Innerhalb der universitären Diskussion stehen zwei Möglichkeiten gegeneinander. Gemäß der traditionellen, die von griechischen Kirchenvätern ererbt ist, handelt 34 es sich um eine Wirkung „per modum naturae“. Gemäß der zweiten Option, deren Quelle das Evangelium nach Johannes und De trinitate von Augustinus sind, vollzieht sich der Hervorgang im Modus eines intellektuellen Denkens. Auf der einen Seite steht die Natur oder das Sein, auf der anderen der Intellekt. Nachdem Thomas von Aquin sich zunächst für die erste Version ausgesprochen hat – bemerkenswerterweise in seinem Sentenzenkommentar –, wird er in seinen späten Werken derjenige, der grundsätzlich die zweite Konzeption propagiert, eine Konzeption durch das 35 Verbum. Eckhart ist es ihm schuldig, sein dominikanischer Nachfolger zu sein. Bei ihm wird der menschliche Intellekt ein rezeptives Vermögen, das sich innerlich durch die göttliche Aktivität bewegen lässt. Gemäß der Ordnung der göttlichen Hervorgänge geht die Erzeugung des Sohns dem Hervorgehen des Heiligen Geistes voraus. Das trinitarische Mysterium dient mit seinen Relationen dem Verständnis der Interaktion der Vermögen: 30
In Ioh. n. 697 (LW III, 612): „voluntas quamvis amando deum ad monumentum veniat, non tamen intrat.“ 31 Ebd.: „Intrat Petrus, quia intellectus accipit rem cognitam intus in suis principiis filium ‚in sinu patris‘,“ 32 Die Erklärung des Primats des Intellekts „in der Ordnung der Transzendentalien“ scheint uns nicht befriedigend zu sein (vgl. Wackernagel: Ymagine denudari, 135). Man müsste hingegen die Priorität des Intellekts durch die Ordnungs-Priorität des Verbum erklären. 33 Vgl. Weber: Eckhart et l’ontothéologisme, 41-54. 34 Petrus Lombardus: Sententiae I, d. 5, c. 1. 35 Siehe die Differenz zwischen In I Sent., d. 6, q. 1 und QD de Potentia, q. 9, a. 5.
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„Nichts wird nämlich geliebt, was nicht erkannt ist, Erkenntnis führt zur Lie36 be hinein, der Sohn haucht den Heiligen Geist, der Glanz die Glut.“ Die Priorität der Erkenntnis über die Liebe gemäß dieser Ordnung wird bestätigt durch den Text des Johannes-Evangeliums: „Dann ging also auch jener Jünger hi37 nein, der eher an das Grab gekommen war“ (Jo 20,8).
„Nichts wird nämlich geliebt, was nicht erkannt ist“ Innerhalb dieser Interaktion der Vermögen spielt der Satz bei Thomas von Aquin zitierte Satz Augustins: „Nichts wird nämlich geliebt, was nicht erkannt ist“ („nihil 38 amatur nisi cognitum“) eine entscheidende Rolle. Diese Sentenz ist Gegenstand von Sermo L, in dem Eckhart den Paulus-Vers kommentiert: „Wir bitten und flehen für euch ohne Unterlass, dass ihr mit der Erkenntnis des Willens Gottes erfüllt wer39 det“ (Col 1,9). Wie der Kommentar zum Johannesevangelium und auch die Sentenz von Thomas, rekurriert auch diese Predigt auf die Metapher der beiden Apostel, um die beiden Vermögen zu illustrieren. „Von den Zwölfen traten zwei, als sie Jesus 40 draußen nicht fanden, (in das Grab) ein.“ Doch in einer Augustinus verwandten Weise lässt Eckhart dem Intellekt gegenüber dem Willen den Vorzug durch das Gedächtnis. Dass man Gott „drinnen“, nicht „draußen“ in den körperlichen Dingen 41 findet, ist möglich für das Erkennen und das Lieben. Die Reihenfolge der Vermögen verknüpft sich untereinander. Intellekt und Liebe gehen der Erinnerung und der Entdeckung Gottes voraus. Der Liebe an sich geht die Erkenntnis voraus. Aber schließlich ist es die Liebe, die das Verbindungsglied in der Verknüpfung der Vermögen darstellt. Eckhart bestätigt dieses explizit: „Weil nun Gott von uns zu unserem Besten geliebt werden will, bedarf unsere 42 Seele der Gotteserkenntnis und des Wissens um ihn.“ Müsste nicht diese Behauptung dazu führen, die Interpretation, die er bezüglich der Priorität unter den Vermögen gegeben hat, zu modifizieren? Zwei Feststellungen drängen sich auf. Erstens, wenn man der Argumentation des Thüringers in dieser Predigt folgt, dann liegt die Priorität in der Ordnung der Vermögen nicht beim Intellekt, sondern beim Gedächtnis. Zweitens, die Priorität in der Ordnung ist relativ. Das Wissen ist notwendig für die Liebe, aber es ist die Liebe, die als letztes Objekt gewollt ist.
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In Ioh. n. 697 (LW III, 612): „nec enim quidquam amatur incognitum, introducit cognitio amorem, spirat filius spiritum sanctum, splendor ardorem.“ 37 Vgl. ebd. 38 Augustinus: De Trin. VIII, 4, 6 zitiert Thomas von Aquin: STh Ia, q. 60, a. 1. 39 Sermo L n. 513-516 (LW IV, 429-431). 40 Ebd. n. 514 (LW IV, 430): „Inter duodecim duo Iesum, invenerunt, intraverunt.“ 41 Eckhart zitiert ebd. Augustinus: „Du warst drinnen, ich war draußen“ aus: Confessiones X,27,38. Auch die andere Wendung ist augustinisch, ebd. VI,3,4. 42 Ebd. n. 513 (LW IV, 429): „Quia deus appetit et vult a nobis et pro nobis diligi et amari, necessaria nostrae animae die scientia et notitia.“
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Wir können festhalten, dass Eckhart in seinem Kommentar den wesentlichen Punkt in der Erzählung übergeht, nämlich die Reaktion von Johannes, dem vielgeliebten, als er das Grab erreicht: „Er sah und glaubte“ (Jo 20,8b). Weswegen geht er nicht darauf ein? Wenn Eckhart sich länger bei dem Vers aufhalten würde, wäre er nicht verpflichtet, die Priorität des Intellekts stärker zu nuancieren? Es scheint, dass der Thüringer es vermeiden wollte, in eine solche Polemik einzutreten. Anstatt sich auf einen Apostel zu konzentrieren und den anderen auszuschließen, hebt Eckhart besonders ihre Interaktion hervor. Das ist es, was die Abfolge des Textes zeigt.
Die Erkenntnis des Lebens Zum Schluss seines gleichnishaften Kommentars kehrt Eckhart zum gemeinsamen und einzigen Objekt der beiden Vermögen zurück: Sie haben „Gott selbst unter der 43 Rücksicht des Seienden und Guten an sich zum Gegenstand“. Bezogen auf die vorhergehenden Paragraphen widmet sich der letzte Paragraph dem Verhältnis von Sein und Gutem und damit gleichermaßen dem damit verbundenen von Erkenntnis und Liebe. Eckhart führt dadurch einen direkten Bezug zu den Transzendentalien ein; die Erkenntnis bezieht sich auf das Sein; auch die Liebe und das Gute entsprechen einander gleichermaßen. Diese klassische Distinktion, die en passant eingeführt wird, fesselt die Aufmerksamkeit des Thüringers nicht lange. Im Gegenteil, indem er die beiden Objekte auf ihre präzisen Objekte hin tauscht: ‚das Wahre hier‘, ‚das Wahre dort‘, ‚das Gute hier‘, ‚das Gute dort‘, konzentriert sich Eckhart allein auf deren Sein. „Deshalb empfangen und schöpfen sie ihr ganzes Sein, insofern sie solche 44 Vermögen sind, aus dem Quell der Gottheit selbst.“ Der Blick – die Intentionalität, könnte man in der Sprache der Phänomenologie sagen – wendet sich nach außen, und er beobachtet hier die Vermögen, indem er sie unterscheidet; er wendet sich nach innen, und dort sind alle Vermögen versammelt in einer einzigen Quelle, der sie entspringen: im Hervorgang des Sohnes aus dem Vater oder der Wurzel der Gottheit. Dort gelangt Eckhart, dank einer übernatürlichen Offenbarung, in das Allerheiligste; dort ist der Ort, wo die Vermögen im Sinne der Weise ihres Gebrauchs keinen Zutritt haben. Man muss feststellen, dass die trinitarische Offenbarung sich auf dem Grund der Bildung der Vermögen wie der Transzendentalien findet, und nicht umgekehrt. Im Hervorgang verdunstet sozusagen der Unterschied zwischen den zwei Transzendentalien, dem Sein, dem Wahren und Guten, zugunsten der Sprache, des Wortes „Leben“, welches keineswegs transzendental ist, sondern im eigentlichen Sinne Sprechen. Die Sprache des Lebens ist biblisch. „Denn wie der Vater das Leben hat in sich selber, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selber“ (Jo 5,26). Allerdings ist in der Schrift das Leben auf die Erkenntnis bezogen: 43
In Ioh n. 698 (LW III, 612): „[…] objectum habent ipsum deum sub ratione entis et boni absolute.“ 44 Ebd. (LW III, 612f.): „propter hoc in quantum potentiae huiusmodi totum esse suum accipiunt et hauriunt ex ipso fonte divinitatis.“
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„Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Jo 17,3). Doch, betrachtet man dieses näher, muss man konstatieren, dass dieses Erkennen beladen ist mit einer Bedeutung, die sich von derjenigen eines rein intellektuellen Erkennens vollkommen unterscheidet. Es handelt sich um eine wahrhaftige „Mit45 46 Geburt“ . Anders gesagt, in dieser Erkenntnis werden der Erkennende und der Erkannte in einem gemeinsamen Akt gleichzeitig hervorgebracht. Und ihre Einheit ist absolut in der Liebe. Gott ist gleichzeitig Grund des Erkennens und der Liebe, ohne den die unterschiedlichen Handlungen nicht als getrennte zu identifizieren wären. Predigt 6 bekräftigt diese Behauptung: „Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein. Manche sagen, die Seligkeit liege nicht im Erkennen, sondern allein im Willen. Die haben unrecht; denn läge sie allein im Willen, so handelte es sich nicht um Eines. Das Wirken und das Werden aber ist eins. Wenn der Zimmermann nicht wirkt, wird auch das Haus nicht. Wo die Axt ruht, ruht auch das Werden. Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt, und ich werde. Das Feuer verwandelt in sich, was ihm zugeführt wird, und dies wird zu seiner Natur. Nicht das Holz verwandelt das Feuer in sich, vielmehr verwandelt das Feuer das Holz in sich. So auch werden wir in Gott verwandelt, so daß wir ihn erkennen werden, wie er ist (1 Joh.3,2). Sankt Paulus sagt: So werden wir erkennen: recht ich ihn, wie 47 er mich, nicht weniger und nicht mehr, schlechthin gleich. Eine noetische Umkehrung ereignet sich. Dem menschlichen Erkennen geht voran das göttliche Erkennen, und es ist durch dasselbe angenommen. Dort, wo Gott wirkt, unterscheiden sich die Vermögen nicht mehr. Ihre Aktion ist eine. Leben und Wirken sind identisch. Erkennen ist zugleich Hervorbringen und HervorgebrachtSein. Das trinitarische Verhältnis ist grundlegend. In der Einheit des göttlichen Wesens sind die Prozesse identisch und untrennbar. So gilt es auch für die Vermögen. Gott, den einen, zu erkennen heißt, die Wurzel der Gottheit zu erkennen in ihrer essentiellen Reinheit. Das Leben Gottes ist gleichzeitig Hervorbringen, Erkennen und Liebe.
Schlussbetrachtung Was behalten wir zurück von dieser Analyse der Interpretation in Form eines Gleichnisses von Johannes 20, 3-8, die Eckhart vorgelegt hat? Der große Rheinische Mystiker trennt die Rolle der Vermögen nur, um sie besser zu vereinen. Seine Absicht ist es nicht, die Priorität des einen Vermögens über das andere zu sichern. In 45
Reaidy: Une relecture phénoménologique: „Notre naissance dans la Vie est avant tout une co-naissance pathétique, un co-venir dans la puissance relationnelle de la vie, un naître-avec dans le co-pathos communautaire.“ 46 Anm. des Übersetzers: Im Französischen wird aus conaissance (Erkenntnis) co-naissance (MitGeburt). Das Wortspiel ist im Deutschen nicht gut nachzuahmen. 47 Pr 6 (DW I, 113-155 / 455).
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diesem Konfliktfall hat Eckhart innerhalb der akademischen Welt seiner Zeit wie auch in den deutschen Predigten klar Stellung bezogen im Sinne der dominikanischen Position. Die Auslegung unserer Johannes-Perikope hebt diese Stellungnahme nicht auf. Allein die Predigt 21 ändert die Priorität. Dort bekräftigt Eckhart, dass 48 „der wille edeler dan vernünfticheit“ , und zwar bezüglich eines bestimmten Punktes. Für den Intellekt ist es notwendig, „daz die sinne von ûzen întragent“, wohingegen für den Willen gilt: „Wille ennimet niendert dan in lûter verstandnisse, dâ noch 49 hie noch nû enist.“ Diese Ausnahme ist nicht ohne Bedeutung, um die Priorität des Intellekts über den Willen angemessen zu interpretieren. Die symbolische Sprache lehrt uns, dass der Wille schneller läuft als der Intellekt, aber dass der letztere erforderlich ist, damit die Liebe das Innere Gottes erreicht. Der Sermo L geht bis dahin, dass er die Priorität des Intellekts über den Willen als eine Notwendigkeit begreift, um an ein Ziel zu gelangen. Zusammenfassend lassen sich also drei Punkte festhalten: 1) Es gibt durchaus eine Priorität des Intellekts über den Willen. 2) Aber wenn es um die Erkenntnis Gottes geht, dann ist diese Ordnung orientiert an der Ordnung der trinitarischen Prozesse. 3) Schließlich ist diese Priorität einem letzten Ziel untergeordnet: Geboren werden zum Leben Gottes, in dem Sein, Erkennen und Lieben in einem einzigen Akt zusammenfallen. An diesen drei Punkten entlang können wir behaupten, dass die semantische Ersetzung der Termini Intellekt und Wille durch die Termini Erkenntnis und Liebe in Korrespondenz stehen zu einer rein natürlichen Verwendung der Vermögen und der übernatürlichen Verwendung. Wenn auch dieser Übergang nach wie vor nicht ganz klar bestimmt ist, so doch darin, dass in der Ordnung der Offenbarung diese untrennbar sind. Man wird keineswegs verwundert sein, dass in der Predigt 9, die sehr explizit die Priorität des Intellekts über den Willen vertritt, diese Behauptung zu finden ist: „Sankt Bernhard sagt: Gott zu lieben, das ist Weise ohne 50 Weise.“ Nun ist für Eckhart die „Weise ohne Weise“ (wîse âne wîse) die Weise, welche für den Zugang zu Gott von entscheidender Bedeutung ist. Sie korrespon51 diert der Erkenntnis von Ihm, der wesen âne wesen ist ; denn sein Wesen ist iden52 tisch mit seiner Liebe (minne). Weil Gott schließlich die Liebe ist, kann ihn nur 53 erkennen, wer ihn liebt.
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Pr 21 (DW I, 365). Pr 21 (DW I, 365f.). 50 Pr 9 (DW I, 144 / 462). 51 Pr 71 (DW III, 231): „Man muoz got nehmen wîse âne wîse und wêsen âne wêsen.“ 52 Pr 41 (DW II, 287): „Was ist gotes minne? Sîn natûre und sîn wesen: daz ist sîn minne.“ 53 Vgl. Lacoste: Phénoménalité, 87-110. 49
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Annexe : In Ioh., § 694-698, LW III, 611, 1 – 613, 6, traduction française inédite. Primum est quod secundum Avicennam VI Naturalium p. 4 quinque sunt sensus interiores in homine, quibus annumeratis quinque sensibus exterioribus fiunt decem potentiae animae sensitivae, quibus adiunctis intellectu et voluntate habentur duodecim potentiae cognitivae in homine iuxta numerum duodecim apostolorum. Harum autem potentiarum duodecim tantum duae, intellectus et voluntas, cognitio et amor, istarum quaerunt Christum in monumento sepultum et occultatum. Aliae enim decem potentiae sensitivae ad substantiam rerum occultam non pertingunt, sed solum accidentia foris stantia apprehendunt. Intellectus etiam et voluntatis obiectum est ens et bonum absolute. Et hoc est quod hic dicitur : ‘currebant duo simul’, tunc scilicet inter duodecim, currunt autem simul, quia « voluntas in ratione est », ut III De anima dicitur, et est naturae intellectualis.
Adhuc autem currunt ‘simul’, quia unum obiectum habent deum, quamvis sub alia et alia ratione. Et hoc est secundo notandum inter quinque. Tertio notandum quod voluntas et amor praecurrunt intellectum, quia deus potest in hac vita per se ipsum amari, non autem per se ipsum cognosci. Et hoc est quod hic dicitur : ‘ille alius discipulus praecurrit citius Petro et venit prius ad monumentum’. Quarto notandum quod voluntas quamvis amando deum ad monumentum veniat, non tamen intrat. Intrat
Premièrement, selon Avicenne dans la quatrième partie (De anima) des Six Livres de philosophie naturelle, il y a cinq sens intérieurs dans l’homme. Si on leur ajoute les cinq sens extérieurs, cela fait dix facultés de l’âme sensitive. Si on leur joint l’intellect et la volonté, on obtient douze facultés de connaissance dans l’homme, correspondant au nombre des douze apôtres. Mais de ces douze facultés, il n’y en a que deux, l’intellect et la volonté, la connaissance et l’amour, qui cherchent le Christ enterré et caché dans le tombeau. Les dix autres facultés des sens ne parviennent pas, en effet, jusqu’à l’essence cachée des choses, mais elles saisissent seulement les accidents se trouvant à l’extérieur. Ainsi l’objet de l’intellect et de la volonté est l’être et le bien absolument. Et c’est le sens de cette parole : ‘ils couraient tous les deux ensemble’ (Jn 20, 4), à savoir que dans ce cas, entre les douze, ils courent ensemble parce que « la volonté est dans la raison », selon qu’il est dit dans le De anima III, et elle est de nature intellectuelle. Jusque là ils courent ‘ensemble’, parce qu’ils ont Dieu pour seul objet, bien que selon l’une et l’autre raison. Et c’est la seconde des cinq remarques. Troisièmement, il est à remarquer que la volonté et l’amour courent avec l’intellect, parce que Dieu, dans cette vie, peut être aimé par soi-même, mais ne peut être connu par soi-même. Et c’est le sens de ce qui est dit : ‘Mais l’autre disciple court plus vite que Pierre et arrive le premier au tombeau’. Quatrièmement, il est à remarquer que bien que la volonté, par son amour
Cognitio et amor. Interpretation im Gleichnis Petrus, quia intellectus accipit rem cognitam intus in suis principiis, filium ‘in sinu patris’, nec enim quidquam amatur incognitum, introducit cognitio amorem, spirat filius spiritum sanctum, splendor ardorem. Et hoc est quod hic dicitur : ‘venit Petrus et introivit in monumentum’, et infra dicitur : ‘tunc ergo introivit et ille discipulus qui venerat prius ad monumentum’.
Quinto notandum quod illae duae potentiae : intellectus, figuratus per Petrum qui interpretatur ‘agnoscens’, et voluntas et amor per Iohannem dilectorem, per sui separationem a materia, ab hoc et nunc, quin immo ab hoc et hoc vero et bono, obiectum habent ipsum deum sub ratione entis et boni absolute ; et propter hoc in quantum potentiae huuismodi totum esse suum accipiunt et hauriunt ex ipso fonte divinitatis. Et propter hoc qualis est pater, obiectum scilicet gignens, talis et filius, cognoscens scilicet. Si obiectum patris est vita, erit et cognoscens ipsum, in quantum huiusmodi, vita, supra quinto : ‘sicut pater habet vitam in semet ipso, sic dedit et filio vitam habere in semet ipso’. Notavi de hoc diffuse super illo : ‘haec est vita aeterna, ut cognoscant te solum’, prius decimo septimo.
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de Dieu, arrive au tombeau, elle n’y entre cependant pas. Pierre entre, parce que l’intellect saisit la chose connue intérieurement dans son principe, le Fils qui est ‘dans le sein du Père’ (Jn 1, 18) ; en effet, rien de ce qui est aimé n’est inconnu, la connaissance introduit l’amour, le Fils spire le Saint-Esprit, la splendeur de l’ardeur. Et c’est le sens de ce qui est dit : ‘Pierre arriva et il entra dans le tombeau’, et plus bas il est dit : ‘c’est alors qu’entra aussi l’autre disciple, celui qui était arrivé le premier au tombeau’. Cinquièmement, il est à remarquer que ces deux facultés : l’intellect, figuré par Pierre, que l’on peut traduire par ‘celui qui connaît’, et la volonté et l’amour, figuré par Jean ‘celui qui aime’, ont comme objet Dieu en soi sous la raison de l’être et du bien absolument. (Ils l’ont) par leur séparation de la matière, de ceci et de maintenant, bien plus, de ce vrai-ci et de ce vrai-là, de ce bien-ci et de ce bien-là. Et c’est pourquoi, dans la mesure où ils trouvent une telle possibilité, ils saisissent et puisent tout leur être à partir de la source de la Déité ellemême. Et c’est pourquoi tel est le Père, engendrant un objet, tel est aussi le Fils, connaissant. Si l’objet du Père est vie, (le Fils) aussi sera vie, dans la mesure où il le (cet objet) connaît comme étant luimême, selon ce qui est dit au chapitre cinq : ‘comme le Père a la vie en luimême, ainsi a-t-il donné au Fils d’avoir la vie en lui-même’ (Jn 5, 26). À ce sujet j’ai fait des remarques plus étendues à propos de cette parole : ‘or la vie éternelle, c’est qu’ils te connaissent, toi le e seul’ (Jn 17, 3), plus haut dans le 17 chapitre.
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ISABELLE RAVIOLO
Die problematische Natur des Intellekts bei Meister Eckhart: ungeschaffen und ungeschöpflich? Eckharts Verwendung des Begriffs Intellekt ist komplex; denn dieser hat mehrere Bedeutungen und mehrere Verwendungsweisen. Wenn Eckhart vom Intellekt spricht, dann zielt er auf das edelste Vermögen des Menschen, und er stellt es in den Kontext und die Kontinuität einer Tradition. Zutiefst vertraut mit dem philosophischen und theologischen Erbe zum Intellektbegriff, scheint Eckhart dennoch in seiner Konzeption den Versuch zu unternehmen, eine eigene Erkenntnistheorie zu entwickeln, die ihn bis zum zentralen Thema der Geburt Gottes in der menschlichen Seele leitet. Die Frage des Intellekts bei Eckhart ist ein kontrovers diskutiertes Sujet. In einer Vielzahl von Texten erkennt der Meister dem Intellekt eine Dignität sondergleichen zu. Aber in anderen scheint er dem zu widersprechen, indem er anderes in den Blick nimmt, was sogar noch edler als der Intellekt sein soll, ein Vermögen, das weiter reicht und was den Menschen erhebt in den Rang eines „Sohnes Gottes“. Um was für eine Fähigkeit handelt es sich und wie ist ihr Verhältnis zum Intellekt? Wo Eckhart ein mögliches Jenseits des Intellekts in den Blick nehmen will, da stellt er das Problem von dessen Natur, aber auch dasjenige von dessen Bestimmung: Was ist der Intellekt und was ist sein Objekt? Kann der Mensch hoffen, die Einung mit Gott zu erreichen allein durch den Intellekt, der dann etwas sein würde wie ein „Anhypothetisches“ im Sinne des Platonismus? Die Frage nach dem Stellenwert des menschlichen Intellekts scheint unmittelbar auf einer Linie zu liegen mit dem dritten Punkt des Predigtprogramms von Meister Eckhart. „Ze dem dritten mâle, daz man gedenke der grôzen edelkeit, die got an die 1 sêle geleget hat, daz der mensche dâ mite kome in ein wunder ze gote. Man kann sich fragen, ob „dieser große Adel“ die Vernunft ist, verstanden als intellectus (der höchste Teil der Seele und ihr Tätigkeit des Erkennens) oder welche „andere“ Sache als der Intellekt gemeint sein könnte. Aber wenn es sich in der Tat um eine andere Sache handelt, wie soll man sie in den Blick nehmen: als eine Realität jenseits des Intellekts oder außerhalb von ihm oder doch eher als eine ihm inhärente? Und wie könnte seine Selbstüberschreitung geschehen? Was bezeichnet Eckhart exakt mit Intellekt und in welchem Sinne kann man sagen, dass er damit den erkenntnistheoretischen Diskurs des Mittelalters übersteigt? Das entscheidende Gelenkstück bildet die Reflexion Eckharts, die er unter dem 2 Terminus des „Ungeschaffenen“ einführt; sie bezieht sich auf die Reinheit des gött1
Pr 53 (DW II, 528f.). Vgl. z.B.: Pr 48 (DW II, 418), wo Eckhart „ungeschaffen und ungeschepfelich“ verwendet, was in diesem Beitrag mit „ungeschaffen und unschaffbar“ übersetzt wird. Weitere Stellen im Apparat zu Stelle. Vgl. ebd. 421: „Wan dirre grunt ist ein einvaltic stille, diu ir selben unbewegelich ist, und von dirre unbewegelicheit werdent beweget alliu dinc und werdent enpfangen alliu leben, diu vernünfticlîche lebende in in selben sint.“
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lichen Intellekts insoweit als dieser den menschlichen transzendiert. Nun spricht Eckhart in mehreren Texten dem menschlichen Intellekt einen Rang zu, welcher demjenigen des göttlichen gleich kommt; wenn er uns dabei auch in dem Glauben zu lassen scheint, dass der menschliche Intellekt nach seinem Maßstab ein ungeschaffenes Vermögen ist, liegt doch die Differenz nicht so sehr in der Natur als im Grad. Freilich scheint Eckhart diesen Weg abzulehnen, wenn er alle Möglichkeiten eines solchen Vermögens im Neutrum „eine Sache / etwas“ durchgeht, als ginge es um etwas Unmögliches oder Unaussprechliches. Aber kann man sagen, dass „eine Sache“ oder „etwas“ auch eine „andere Sache“ als der Intellekt ist? Oder hat Meister Eckhart an „irgendeine Sache“, die ungeschaffen ist, in der Seele in der Nähe des Intellekts gedacht? Und dazu: Mit Hilfe welchen Maßstabes hat er eine Differenz zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Intellekt entwickelt: Kann der Mensch erkennen, wie Gott erkennt? Die Herausforderung ist, wie mir scheint, eine doppelte: Es geht nicht nur um die Natur des Intellekts, sondern auch um diejenige der göttlichen Gnade.
Die problematische Natur des Intellekts „Es ist etwas in der Seele, das unerschaffen und unerschaffbar ist; wenn die ganze Seele solcherart wäre, so wäre sie unerschaffen und unerschaffbar, – 3 und dies ist die Vernunft.“ Als häretisch verurteilt, enthält, so scheint mir, dieser Artikel der Bulle In agro dominico die gesamte Erkenntnislehre Eckharts in nuce. Darin hat es den Anschein, als identifiziere der Meister tatsächlich den Intellekt und das „Etwas in der Seele“. Dem liegt ein großes Problem zugrunde, und zwar ein Problem theologischer Natur. Denn diese Behauptung spricht dem menschlichen Intellekt einen Zustand der Transzendenz zu, der sich auf die ungeschaffene Natur Gottes, des Vaters, bezöge und es folglich erlauben würde, eine mögliche Gleichheit zwischen dem menschlichen Intellekt und Gott als reinem Intellekt gemäß der These der Pariser Questio zu denken; denn Eckhart sagt, dass: „Gott Intellekt und Erkennen ist, und das Erkennen selbst die Grundlage 4 seines Seins ist.“ Selbst wenn man Eckhart verteidigen wollte, scheinen dennoch mehrere seiner Propositionen in diese Richtung zu gehen. So spricht Eckhart zum Beispiel in seinem Kommentar zum Buch der Weisheit von einem gewissen Licht der Weisheit, im Bereich der Weisheit, welches nicht innerhalb des Körpers, auch nicht in der rationalen Seele, sondern allein im Intellekt gefunden werden kann, insofern der Intellekt
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ES 527: „Aliquid est in anima, quod est increatum et increabile; si tota anima esset talis, esset increata et increabilis; et hoc est intellectus.“ 4 Quast. Paris. I n.4 (LW V, 40): „deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse.“
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etwas Höheres und Göttliches ist, demgemäß wir göttlicher Natur sind und das Bild 5 des ungeschaffenen Gottes. Aber zu sagen, dass der Intellekt „irgendeine höhere und göttliche Sache ist“ bedeutet nichts anderes als zu behaupten, dass der menschliche Intellekt der göttliche Intellekt selbst ist. Folglich sagt Eckhart, dass wir gemäß diesem Intellekt ein „genus dei“ sind. Wie muss man diese Aussage verstehen? Es scheint wenig wahrscheinlich, dass Eckhart eine reine und einfache Identität der Natur des Intellektes habe etablieren wollen. Man muss infolgedessen weiter gehen in der Analyse und den Terminus „imago“ betrachten, wie er im zweiten Teil der Aussage auftritt: „sofern wir nach dem Bild des ungeschaffenen Gottes sind“ / „secundum quod ad imaginem sumus increati Dei“. Eckhart will hier eine Erkenntnislehre entwickeln, die auf der Grundlage des Begriffs „imago“ errichtet ist, der mit seiner Lehre vom Seelenfunken ver6 bunden ist, der auch als „bürgelin“ oder „huote des geistes“ bezeichnet wird (gleichermaßen metaphorische Bezeichnungen, welche die Schwierigkeit nach sich ziehen, dass sie eine höhere Realität, um nicht zu sagen: die höchste Realität des Geistes, zu offenbaren scheinen). Der Intellekt wäre folglich das Vermögen, gemäß dem der Mensch das Bild des ungeschaffenen Gottes wäre, anders gesagt ein Vermögen, welches den Menschen zu seinem höchsten Adel erhebt, d.h. zum Bild Gottes in ihm. Eckhart greift dabei auf die Tradition zurück, und zwar bemerkenswerterweise auf Moses Maimonides, der den Intellekt einer Transzendenz vergleicht: „L’intellect dont Dieu a doté Adam dès le principe est la perfection suprême qui était en lui avant la faute. C’est en raison de cet intellect qu’il est dit qu’Adam fut créé à l’image de Dieu. C’est grâce à cet intellect que Dieu s’est 7 entretenu avec lui.“ Durch den Intellekt ist folglich der Mensch nach dem Bilde des ungeschaffenen Gottes. Er ist dort tatsächlich zu einer höchsten Vollkommenheit gelangt. Freilich ist er nicht der ungeschaffene Gott. Was zeichnet es also aus, dass der Intellekt Bild des ungeschaffenen Gottes ist? Weswegen hört er nicht auf, den Platz in der Seele von „irgendeiner Sache“ zu beanspruchen, die ungeschaffen und unschaffbar ist: die summa res oder das „Etwas in der sêle“. Wie soll man das verstehen? In seinem Kommentar zum Buch der Weisheit sagt Eckhart, dass der Intellekt 8 „etwas“ ist, „gemäß dem“ (aliquid secundum quod) die Seele ihre höchste Realität erreicht, diejenige eines Bildes Gottes, d.h. ihre Würde als Kind Gottes. Diese Realität ist folglich nicht er selbst, insoweit der Mensch Mensch ist, sondern er selbst, insoweit er Bild Gottes ist. Der Intellekt wäre folglich das Vermögen, das uns zu 5
In Sap. n. 94 (LW II, 428): „lumen quidem sapientae, sub ratione sapientiae, non recipitur in corporibus, sed nec in anima rationali, ut natura sive ens est in natura, sed in ipso solo , in quantum intellectus est superius ‚aliquid‘ est et ‚divinius‘, secundum quod ‚genus dei‘ sumus, Act. 17, secundum quod ad imaginem sumus increati dei. ‚Eo enim imago est, quo dei capax est‘, ut ait Augustinus.“ Vgl. Augustinus: De trinitate XIV c. 8, n. 11. Unter dieser Perspektive ist die Seele in der Lage, am göttlichen Leben durch ihre Vermögen teilzuhaben, und zwar vor allem durch den Intellekt. 6 Vgl. die Neuedition von Predigt 2 in: Steer / Vogl: Die bürgelin-Predigt Meister Eckharts, 235f. 77 Maimonide: Guide des égarés I, c. 2, (ed. Munk, I, p. 38 sqq). Vgl. In Gen. n.116 (LW I, 272). 8 Vgl. die zitierte Passage aus: In Sap. n. 94 (LW II, 428).
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dieser Realität der Gottessohnschaft führt. Gleichzeitig scheint er es zu sein, der als er selbst, insoweit er Intellekt ist, diese Realität bezeichnet. Kind Gottes zu sein bedeutet, Intellekt zu sein. Das Bild Gottes im Menschen wäre dann sein Intellekt, wie es auch Paragraph 115 aus dem Kommentar zum Buch Genesis bekräftigt: „Aus diesem Grund ist nur die geistige Natur aufnahmefähig für die Voll9 kommenheiten, die zum Wesen Gottes gehören.“ Eckhart zitiert aus Augustinus’ Schrift De trinitate: „Augustinus sagt, die Seele sei ‚dadurch Gottes Ebenbild, wodurch sie für 10 Gott empfänglich ist‘.“ Die Aussage ist so zu verstehen: fähig zu sein, sich die substantiellen Vollkommenheiten des göttlichen Wesens zu erwerben. Denn es liegt im Wesen des Bildes, vollkommen sein Modell widerzuspiegeln, von dem das Bild stammt, aber dieses Element selbst ist nicht in ihm bestimmt oder isoliert. Eckhart sagt: 11 „Der Verstand ist nämlich als Verstand Gleichnis alles Seienden“. Anders gesagt, er enthält in sich selbst die Universalität alles Seienden, aber nicht in dem Sinne, dass das eine von dem anderen getrennt wäre, wie es schon Dietrich von 12 Freiberg in seinem Werk „De intellectu et intelligibili“ behauptet hatte. Deswegen bekräftigt Eckhart: 13 „Vernunft blickt hinein und durchbricht alle Winkel der Gottheit.“ Wenn nun der Intellekt das Vermögen zum Durchbruch in den Grund von Gott selbst ist, ist es insofern von göttlicher Natur? Wenn Eckhart den Intellekt nicht als „ungeschaffen und unschaffbar“ bezeichnet, so verleiht er ihm dennoch das Vermögen, Gott aufnehmen zu können, und er bezeichnet ihn deswegen als eine solche Sache, durch wir „ad imaginem“ des ungeschaffenen Gottes sind. Um zu verstehen, was Eckhart genau vermittels des Intellektes beabsichtigt, scheint es mir notwendig, zu dem „irgendetwas in der Seele“ zurückzukehren und zum Konzept der Verwandtschaft dieses „Etwas“ mit der ungeschaffenen Natur Gottes. Eckhart sagt: „Dies Fünklein ist Gott so verwandt, daß es ein einiges Eines ist, unterschiedslos, das die Urbilder aller Kreaturen in sich trägt, bildlose und 14 überbildliche Urbilder.“
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In Gen I n.115 (LW I, 271): „[…] propter quod capax est sola intellectualis natura perfectionum substantialium divinae essentiae.“ 10 Ebd. 11 Ebd. n.115 (LW I, 272): „Intellectus enim, in quantum intellectus, est similitudo totius entis“. 12 Dietrich von Freiberg: De intellectu et intelligibili II c. 1 (ed. Mojsisch, p. 146df.). Vgl. Thomas von Aquin: STh Ia pars, q. 79, a. 2. Vgl. Flasch: D’Avveroès à Maître Eckhart, 94f.: „Dietrich de Freiberg constitue le missing link entre Averroès-Albert et Maître Eckhart“. „Der Schlüssel heißt Dietrich von Freiberg. Er ist das missing link zwischen Averroes-Albert und Eckhart“. Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie. München, 2. Aufl. 2008, 89. 13 Pr 60 (DW III, 178f. / 538). 14 Pr 22 (DW I, 380f. / 518).
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Er muss die Ähnlichkeit zwischen dem „Etwas“, insoweit es Intellekt ist, und dem ungeschaffenen Gott (dem reinen Intellekt) vermittels einer Verwandschaftsbeziehung zeigen, einer Beziehung, die wiederum das Konzept der imago aufgreift und von dort aus die Einheit zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Intellekt. „In allem , was geschaffen ist […], ist keine Wahrheit. Es gibt etwas, das über dem geschaffenen Sein der Seele ist und an das kein Geschaffensein, das nichts ist, rührt; […] Es ist göttlicher Art verwandt, es ist in sich selbst eins, es hat mir nichts etwas gemein. Hierüber geraten 15 manche große Pfaffen ins Hinken.“ Dieses Vermögen in der Seele, verwandt mit der ungeschaffenen Natur, ist es der Intellekt als Fähigkeit, Gott zu erkennen jenseits der Bilder und abgeschieden vom Geschaffenen, wie Eckhart in Predigt 9 erinnert: „Die Vernunft nimmt Gott bloß, 16 wie er entkleidet ist von Gutheit und von Sein“ ? Oder muss er zeigen, wie „irgendeine andere Sache“ als der Intellekt, wenn sie rein ist, es ist, eine Sache, die übernatürlicher Art wäre und die die Anwesenheit Gottes selbst in der Seele bezeichnen würde? Freilich sagt Eckhart: „Der Intellekt nämlich, durch den der Mensch Mensch ist, sieht ab vom Hier 17 und Wo, vom Jetzt und von der Zeit“ Ist dieses nicht der höchste Grad einer Verwandtschaft? Wie soll man ein „darüber hinaus“, ein Jenseits, in den Blick nehmen? Oder aber gibt es doch einen höheren Grad der Verwandtschaft als den, welchen der Intellekt im Menschen hat? Nun kann man sich fragen, nach welcher Maßgabe der menschliche Intellekt die Grenzen seiner eigentlichen Endlichkeit passieren kann. Denn wenn er fähig ist, Gott zu erfassen jenseits aller Weisen, wird Gott dann nicht eben dadurch für den Intellekt ein klar erkanntes Objekt? Indem Eckhart das „Etwas in der Seele“ einführt, nimmt er eine andere Dimension des Erkennens in den Blick: ein Erkennen, welches, weit entfernt davon, diskursiv oder rational zu sein, offenbar wird in einer mystischen Intuition; sie ist es, die mit dem eingangs erwähnten dritten Punkt des Predigtprogrammes aus Predigt 53 gemeint ist, es hieß, zur Erinnerung, „daz man 18 gedenke der grôzen edelkeit, die got an die sêle geleget hat. Was bezeichnet diese Aufforderung Eckharts genau? Und noch mehr: Welches ist das Wesen dieser Erinnerung? Worin besteht es? Der Meister scheint ihm ein großes Vermögen zuzuschreiben, weil er, wiederum zur Erinnerung, schreibt, „daz der mensche dâ mite 19 kome in ein wunder ze gote“. Lässt aber die Bestimmung „in ein Wunder“ es zu, einen anderen Bezugsrahmen zu wählen als den des Endlichen und Bekannten, einen Rahmen, der die Anwesenheit Gottes unmittelbar offenbaren würde? Mit dem „Etwas in der Seele“ ist folglich alle Sicherheit des natürlichen Erkennens in Frage gestellt. Was meint es, dass der Intellekt an die Grenze seines natürli15
Pr 28 (DW II,66 / 651). Pr 9 (DW I, 153 / 464). 17 In Gen I n.211 (LW I, 358): „intellectus enim, per quem homo est homo, abstrahit ab hic et ubi, a nunc et a tempore.“ (Dt.: Harald Schwaetzer). 18 Pr 53 (DW II, 528f.). 19 Ebd. 16
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chen Wissens kommt und wie kann ein möglicher Rekurs auf ein übernatürliches Wissen in den Blick genommen werden? Wie könnte ein solches Wissen anders angeschaut werden denn als Nicht-Wissen? Es scheint mir, dass Eckharts Position über die reine Kontradiktion für das intellektuelle Vermögen des Menschen hinauswächst, und zwar durch den Gebrauch, den er von der Fügung „Etwas ungeschaffenes in der Seele“ macht.
Jenseits des Intellekts? Die Frage des Bildes In zahlreichen Texten scheint Eckhart ein Übersteigen des Intellektes selbst in den Blick zu nehmen. Den Terminus „Etwas“ aufnehmend, schreibt er in Predigt 2: „Es ist weder dies noch das; trotzdem ist es ein Etwas, das ist erhabener über 20 dies und das als der Himmel über die Erde.“ Diesem „Etwas“ korrespondiert folglich der Intellekt nicht so sehr, wie es im ersten Teil betrachtet worden ist. Es handelt sich hier offensichtlich um ein „Etwas“, das „etwas anderes“ oder „jenseits“ den Intellektes selbst ist. Eckhart fügt an: „Darum benenne ich es nun auf eine edlere Weise, als ich es je benannte, und doch spottet es sowohl solcher Edelkeit wie der Weise und ist darüber erha21 ben.“ Wie soll man das verstehen? Hat Eckhart nicht gesagt, dass der Intellekt die höchste Erkenntnis erlaubt? Und an dieser Stelle behauptet er nun, dass diese Erkenntnis unzureichend ist und dass man noch tiefer gehen muss – bis in die verborgenen Tiefen der Gottheit. Aber wohin bringt uns dieses? In ein „Jenseits“ alles dessen, was auf rationale Weise gewusst werden kann, und folglich in dasjenige, was Eckhart erstrebt durch das Unerschaffene oder den „reinen Intellekt Gottes“. Denn „nirgends 22 wohnt Gott eigentlicher als in seinem Tempel, in der Vernunft.“ Was bedeutet es für den geschaffenen Intellekt, durchzubrechen in die verborgenen Geheimnisse der Gottheit, d.h. dorthin zu gelangen, wo Gott purer Intellekt ist? Eckhart verdeutlicht es in Predigt 69: „Vernunft blickt hinein und durchbricht alle Winkel der Gottheit und nimmt den Sohn im Herzen des Vaters und im Grunde und setzt ihn zu ihrem Grund. Vernunft dringt , ihr genügt’s nicht an Gutheit noch an Weisheit noch an Gott selber. […] Sie bricht ein in den Grund, wo Gutheit und Wahrheit ausbrechen, und nimmt es in principio, im Beginn, wie Gutheit und Wahrheit ihren Ausgang nehmen […] in einem viel höheren Grunde, als es Gutheit und Weisheit sind. […] [Sie] bricht durch in die Wurzel, wo der 23 Sohn ausquillt und der Heilige Geist ausblüht.“
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Pr 2 (DW I, 39 / 437), vgl. auch Steer / Vogl: Die bürgelin-Predigt, 236. Pr 2 (DW I, 39f. / 437). 22 Pr 9 (LW I, 150 / 464). 23 Pr 69 (LW III, 178-180 / 538f.). 21
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Es ist dieser Bezug konstitutiv dafür, wie Eckhart die Rolle des Geschaffenen im Verhältnis zur Gotteserkenntnis versteht, wie er sie in seinen beiden ersten Pariser Quaestiones betont, wo er rekurriert 24 - einerseits auf eine theologische Bildung: diejenige des Wortes in Gott - andererseits eine philosophische Bildung: diejenige der göttlichen Ideen, die, selbst schöpferisch, hier das Prinzip der menschlichen Intellekttätigkeit 25 sind. Der Primat des Intellekts über die Ontologie, bestätigt durch die Pariser Quaestiones, kann nicht als eine einfache intellektualistische Option interpretiert werden, die derjenigen des Willens schlicht gegenübergestellt ist. Hierbei handelt es sich vielmehr um die Achse von Eckharts Denken. Man lernt sie besser verstehen, wenn man seine Theologie des ewigen Geburt des Wortes aus dem Grund der Trinität analysiert und sie mit der Geburt des Wortes in der menschlichen Seele durch ein Etwas, das ungeschaffen und unschaffbar ist, wiederum verbindet. Die Position Eckharts zur Einheit zwischen dem Grund Gottes und dem Grund der Seele zeigt ihre Berechtigung in einer Analyse, die, wie mir scheint, direkt mit seiner Erkenntnislehre verknüpft ist. Indem Eckhart behauptet, Gott sei Intellekt, nimmt er ihn nicht vom Sein aus; im Gegenteil, er spricht ihm das höchste Sein zu. So ist der Gott-Intellekt Vater und 26 als solcher fließt er in sich selbst aus und in alle Dingen, die geschaffen sind. Deswegen erkennt Gott, der Vater, sich selbst in sich selbst, und diese Selbsterkenntnis ist nicht einfach eine Absetzbewegung von sich (als Trennung etwa in Subjekt und Objekt) und auch keine Isolierung, sondern eine dynamische, ewige Selbsterzeugung. Denn „Sakt Paulus spricht: ‚Wir werden Gott erkennen, wie wir erkannt sind‘. Ich aber sage: ‚Wir werden ihn selbst erkennen recht so, wie er sich selbst er27 kennt.“ Wenn Eckhart folglich, wie Maxime Mauriège dargestellt hat, von intellektueller Selbsterkenntnis Gottes spricht, dann bezieht sich der Name „Gott“ auf die Person des Vaters im Verhältnis zum Wort, das aus dieser Selbsterkenntnis hervorgeht. Mauriège schreibt: „[…] ce qui procède est fils de ce qui le produit, Verbum sera donc le nom propre et personnel du Fils, telle l’Image engendrée par et dans l’Intellect du Père s’intelligeant sous la raison de l’un (sub ratione unius). Quant à l’Esprit 28 Saint, il personnifiera cet acte de réflexion du Verbe vers l’Intellect“ Folglich ist die Wurzel der drei Personen das ungeschaffene Wesen oder der reine 29 Intellekt, und die drei Personen sind das eine Wesen selbst. 24
Quaest. Paris. I n. 4 (LW V, 40). Quaest. Paris. II n. 8 (LW V, 53); vgl. auch Quaest. Paris. I n. 10 (LW V, 46). 26 Pr 80 (DW III, 379): „wan an verstantnisse ist got im selben offenbaere, an verstantnisse vervliuzet got ion sich selbst, an verstantnisse vliuzet got ûz in allicu daninc, an verstantnisse schuof got alliu dinc.“ 27 Pr 70 (DW III, 197 /542). 28 Mauriege: La Trinité et l’auto-intellection, 67. 29 Vgl. In Ioh n. 67 (LW III, 56): „ipsorum raix essentia una, tria ipsa una essentia.“ 25
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Dieses Bild des Sohnes bezeichnet das, was das höchste und edelste innerhalb der göttlichen Natur ist. Denn: „Recht, soweit wir diesem ‚Bild‘ [i.e. des Sohnes], in welchem ‚Bilde‘ alle ‚Bilder‘ ausgeflossen und herausgelassen sind, gleichen und in diesem ‚Bilde‘ widergebildet und gleich in das ‚Bild‘ des Vaters eingetragen sind, soweit er < = Gott> das in uns erkennt, so weit erkennen wir ihn so, wie er sich selbst er30 kennt.“ Nun bekräftigt Eckhart in der Predigt 16b: „Das Innerlichste und das Edelste, das in der Natur ist, das er31 bildet sich ganz eigentlich in das Bild der Seele.“ „Und so denn ist die Geburt des Menschen in Gott allzeit danach zu fassen, daß der Mensch mit seinem Bilde in Gottes Bild, das Gott rein seiner We32 senheit nach ist, aufleuchtet, mit dem der Mensch eins ist.“ Die Ähnlichkeit zwischen dem Intellekt und Gott muss folglich auf der Grundlage des Konzepts des Bildes, welches der Seele zuteil geworden ist, erfolgen; es bezeichnet keineswegs Identität, sondern nur Ähnlichkeit. „Das Bild ist also ein Ausfließen aus dem Innersten, wobei alles Äußere 33 schweigt und ausgeschlossen ist.“ Diese Emanation ist, wie es in der Übersetzung „imago proprie est emanatio simplex, 34 formalis transfusiva totius essentiae purae, nudae“ . Anders gesagt, bezeichnet der ungeschaffene Intellekt die puritas essendi selbst. Es scheint folglich, dass man die Natur des menschlichen Intellektes nicht anders begreifen kann als in Verbindung mit der Lehre Eckharts vom Bild, durch welches er die Differenz zwischen dem Bild und dem, wovon es ausgeht, evident macht und folglich den Unterschied zwischen dem Urbild und dem Abbild bzw. zwischen dem edelsten Teil des göttlichen Wesens und seinem Bild in der menschlichen Seele, dem Etwas in der sêle. 35 Kurt Ruh zufolge muss dieser edelste Teil, das Etwas in der sêle, als etwas gedacht werden, was über den Intellekt hinausgeht. Aber muss nicht dieses Hinausgehen so angesehen werden, dass es ein „Über-sich-selbst-Hinausgehen“ des Intellektes selbst ist? Zumindest wenn man sich auf Predigt 37 verlassen kann, muss man konstatieren, dass Eckhart dort zwei „Söhne“ des Intellekts unterscheidet, der eine ist „Möglichkeit“, der andere „Wirklichkeit“:
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Pr 70 (DW III, 197f. / 542) Pr 16b (DW I, 268 /493). 32 Pr 40 (DW II, 277 / 688). Dieselbe Idee ist auch entwickelt in Predigt 2, wo Eckhart über eine „Hut des Geistes“ („huote des geistes“) spricht, vgl. Pr 2 (DW I, 40): „Ez ist sô gar ein und einvaltic. Als got ein und einvaltic ist, daz man mit dekeiner wîse dar zuo geluogen mac.“ Vgl. Steer / Vogl: Die bürgelin-Predigt, 236 mit „enmac“ statt „mac“. 33 Sermo XLIX,3 (LW IV, 426): „Est ergo imago emanatio ab intimis in silentio et exclusione omnis forinseci.“ 34 LW IV, n. 511, p. 425 : „Bemerke: das Bild ist im eigentlichen Sinn ein einfaches Ausfließen der Form nach, durch das die ganze, lauere, bloße Wesenheit mitgeteilt wird.“ 35 Ruh: Meister Eckhart (Franz. Übers. , 247). 31
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„Nû sprechen wir in einem andern sinne von den ‚zwein sünen‘ der vernünf36 ticheit. Der ein ist diu mügelicheit, der ander ist diu würklicheit.“ „Nû glîchet sich vernünfticheit in der mügelîchen kraft dem natiurlîchen liehte der engel, daz dâ ist daz âbentlieht. Mit der würkenden kraft sô treget si alliu 37 dinc ûf got und ist alliu dinc in dem morgenliehte.“ Der andere Sohn des Intellekts, der aktive Teil oder die Erkenntnis im Morgenlicht (übernatürlicher Intellekt) dürfte folglich als das Etwas jenseits des menschlichen Intellekts bezeichnet werden, ein göttlicher Teil in der Seele, der sich der Kenntnis durch diesen entzieht. Eckhart scheint folglich auf dieses „Etwas“ nicht wie eine äußere Realität, sondern wie eine „andere Sache“, die dem Intellekt selbst inhärent ist und ihn doch übersteigt, zu zielen, wie er in derselben Predigt 37 bekräftigt: „Daz ander antlütze ist gekêret die rihte in got; in dem ist âne underlâz götlich lieht und würket dar inne, aleine daz si ez niht enweiz, dar umbe, wan si 38 dâ heime niht enist.“ Nimmt die Seele, während sie kein Wissen hat, von Formen der Intellekterkenntnis Abstand und weiß folglich nicht mehr als ein „Etwas“ oder dürfte sie „anderswo“ situiert sein, wenn sie paradoxerweise „in sich“ erscheint, wenn man mit „in sich“ den Intellekt bezeichnet? Kurt Ruh unterscheidet den Funken der Seele, verstanden als intellectus im Sinne eines reinen Vermögens der geschaffenen Seele, und eine ungeschaffene Art, betrach39 tet insoweit sie Art ist. Aber dieses verursacht ein Problem, denn die These von Ruh erscheint mir nicht in Übereinstimmung zu sein mit den zwei Passagen aus Eckharts Rechtfertigungsschrift, die klar den menschlichen Intellekt von demjenigen des 40 Vaters und des Sohnes unterscheiden. Für den Meister abstrahiert der Intellekt als 41 solcher von hic, nunc, und ubi. Er kann nicht in Gemeinschaft kommen mit was auch immer, wenn er alles erkennen können will, und es ist deswegen, dass er un42 vermischt und getrennt ist. In der Interpretation von Kurt Ruh ergibt sich auch ein weiteres Problem. Wie kann der ungeschaffene Charakter des Intellekts als Intellekt kompatibel sein mit der gleichzeitigen Teilhabe am göttlichen Sein, wenn es sich doch um eine Teilhabe durch Gnade handelt? In seiner Kölner Erklärung spricht Meister Eckhart nicht über den gnadenhaften Charakter des Seelenfunkens, sondern betont im Gegenteil dessen 36
Pr 37 (DW II, 220). Pr 37 (DW II, 223). 38 Pr 37 (DW II, 219). 39 Ruh: Meister Eckhart, 192ff. (Franz. Übers., 226f.). 40 Ebd., 188ff. (Franz. Übers., 223). 41 Vgl. z.B. Pr 169 (DW III, 169f.). 42 Eckhart gründet sich hier auf seine Lektüre von Aristoteles: De Anima III in der Kommentierung durch Albert (tr. 3, c.1 – éd. Cologne, p. 207, 23f.). Albert spricht von intelligentia als Vermögen für das Erfassen von einfachem Intelligiblem und vom intellectus complexorum für das Erfassen von komplexem Intelligiblem, was er im Sinne einer Aussage oder Schlussfolgerung definiert. 37
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natürlichen Charakter. Die nuda essentia animae ist höher als der Intellekt und als der Wille. In seiner Rechtfertigungsschrift nimmt er sich die verurteilte Passage aus Predigt 2 vor und verteidigt sie, indem er das nackte Wesen der Seele betrachtet, dass er als „bürgelin“ bezeichnet hatte, in welches Jesus eintritt (eher gemäß dem Sein als gemäß einer Handlung, indem er der Seele ein göttliches Sein mitteilt, in der göttli44 chen Form durch die Gnade, welche Existenz und Sein betrifft ). Die Gnade setzt das bürgelin voraus; sie ist nach ihr. Sie betrifft nicht den Intellekt, wenn die essentia jenseits des Intellekts wie des Willens angesiedelt ist, aber sie betrifft die essentia selbst. In seinen beiden ersten Pariser Quaestiones weist Eckhart die Priorität des Intellekts im geschaffenen intellektuellen Subjekt auf. Die höhere Dignität der Erkenntnis gründet sich nach seiner Auffassung darauf, dass die essentia des geschaffenen intellektuellen Subjekts es nicht überprüfen kann, was alles Denken begründet: das Ungeschaffene in seiner Transzendenz.
Erkenntnislehre und Mystik: Wissen als Erfahrung der ewigen Geburt des Wortes in der Seele Für den höchsten Teil der Seele, den Intellekt, scheint der Mensch folglich auf ein anderes Niveau seiner selbst versetzt zu sein – ein tieferes Niveau, welches zurückverweist auf die „grôze edelkeit, die got an die sêle geleget hat“, wie es der zitierte dritte Punkt des Predigtprogrammes nennt, also auf die imago Dei; dieses Bild scheint recht dasjenige des Wortes zu sein, welches zur Geburt gerufen ist „alle zît, 45 daz ist obe zît in der wîte, dâ noch hie noch nû enist, noch natûre noch gedanke.“ Durch diese Geburt stellt sich Eckhart auf den Punkt der Ewigkeit und nicht auf den Punkt der Zeit, d.h. auf ein Jenseits der natürlichen Intelligenz: „Daz vünkelîn der vernünftivheit, blôz in gote genomen, dâ lebet der ‚man‘. 46 Dâ geschihet diu geburt, dâ wirt der sun geborn.“ Aber wie ist diese Erfahrung als eine ganz und gar innerliche Erkenntnis zu denken, die dem Menschen zugänglich wird durch ein „Etwas in der Seele“? „Wer dirre geburt sol gewar werden in ihm, ‚des ist vor allen dingen nôt, daz 47 er in den dingen sî, diu de vaters sint.“ Gemäß dem Christuswort aus Lukas 2,49. Was ist nun der Vater im eigentlichen Sinne wenn nicht reiner Intellekt? Und ist es nicht möglich für den geschaffenen Menschen, teilzuhaben an diesem Ungeschaffenen Gottes durch die Vermittlung des Sohnes, der an sich Bild des väterlichen Intellektes ist? Deswegen insistiert Vladimir Lossky so sehr auf der Rolle der Inkarnation des Wortes, um die Relation zwischen dem geschaffenen und dem ungeschaffenen Intel48 lekt zu denken. Ihm zufolge macht das Wort durch seine Inkarnation für den men43
Ruh: Meister Eckhart, 188ff. (Franz. Übers.: 223f.) Vgl. 1 Kor 15,10: „Aber durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin.“ 45 Pr 37 (DW II, 219). 46 Ebd. 47 Pr 104 (DW IV, 566). 48 Lossky: Théologie négative, 337ff. Vgl. Bacq: Le Verbe médiateur chez Maître Eckhart. 44
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schlichen Geist eine Erkenntnis des Vaters möglich, welche die Henologie von Plotin nicht in den Blick bekommt. Das Ungeschaffene zu erkennen bedeutet, den Vater durch den Sohn zu erkennen, und es meint auch eine Erkenntnis als eine persönliche Präsenz. Wenn man vom Ungeschaffenen in der Seele sprechen kann, dann ist es in dem Sinne, dass Gott ihr das Bild des Sohnes verleiht: „Cette limite intemporelle du temps et de l’éternité, cette étincelle qui jaillit au contact du créé et de l’incréé appartient à la spéculation personnelle du 49 mystique thuringien.“ Das Ungeschaffene ist keine Emanation eines unpersönlichen Einen, sondern ein Ort intimer Anwesenheit des Vaters durch den Sohn. Pierre Gire schlägt eine Christologie des Ungeschaffenen vor und konzentriert 50 sich dafür auf das Verbum als Sohn und Intellekt. Er situiert seine Deutung innerhalb der filiatio-Interpretation von Vladimir Lossky, insistiert aber stärker als dieser auf dem Sohn als Intellekt, d.h. als Bild des absoluten Intellekts, welcher der Vater ist. Als Intellekt erlaubt der Sohn eine Relation des Geschaffenen zum Ungeschaffenen durch den menschlichen Intellekt. Der Intellekt allein ist dasjenige menschliche Vermögen, was über das Geschaffene hinauszugehen vermag – unter der Bedingung, dass das der Sohnes-Intellekt seine eigene intellektive Natur der Seele mitteilt. Pierre Gire legt folglich den Akzent auf die Einheit zwischen dem Wort und der Seele und aufgrund dieser Einheit auf die intime Verbindung zwischen dem göttlichen und dem 51 seelischen Wesen. Aber er sagt nicht, inwiefern das „Etwas“ des Ungeschaffenen in der Seele für die „andere Sache“ des Intellekts steht, der als Ausdruck eines anderen Typs von Erkennen ein Erkennen wäre, welches mehr als eine mystische Erfahrung offenbaren würde und deswegen übernatürlich wäre. Deswegen behauptet Eckhart: „Sehet, allez daz diu würkende vernunft tuot an einm natiurlîchen menschen, daz selbe und verre mê tuot got an einem abegescheiden menschen. Er nimet im abe die würkende vernunft und setzet sich selber an ir stat wider und wür52 ket selber dâ allez daz, daz diu würkende vernunft sollte würken.“ Durch die Geburt Gottes in der Seele würde der Mensch folglich in eine „docta ignorantia“ als Übersteigung des Intellekts geraten: „Man sol hie kommen in ein überformet wizzen. Noch diz unwizzen ensol niht komen von unwizzenne, mêr: von wizzenne und dann wirt geadelt und 53 gezieret unser unwizzen mit dem übernatiurlîchen wizzene.“ Was ist nun dieses „natürlich Wissen“ und „verwandelt Wissen“? Eckhart scheint zu sagen, dass dessen Ursprung nicht im Menschen gesucht werden darf, sondern in Gott, weil die geschaffene Intelligenz sich selbst und alles Wissen erkennen muss, um zu diesem übernatürlichen Wissen zu gelangen. Aber was ist es, was in der menschlichen Seele diese Verwandlung der Intelligenz möglich macht?
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Lossky: Théologie négative, 379. Gire: Maître Eckhart, 165-186. 51 Ebd., 237-271. 52 Pr 104 (DW IV, 587). 53 Pr 102 (DW IV, 420). 50
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Es scheint, dass die Verwandlung der Intelligenz, welche das unmittelbare Einwirken Gottes in die Seele bezeichnet, seinen Daseinsgrund und sein Wirkensfeld durch das „Etwas in der sêle“ erhält. Es ist dieses „Etwas“, welches einen Übergang von einer natürlichen zu einer übernatürlichen Intelligenz erlaubt. Es ist das „Etwas“, welches in der Seele tatsächlich diesen Übergang der Verwandlung zulässt. Aber wie? Unter dieser Perspektive scheint es mir, dass das „Etwas in der sêle“ eher als ein Mitgeschaffenes als ein Ungeschaffenes verstanden werden muss. Wenn man Eckharts Argumentation folgt, dann ist das Bild Gottes im eigentlichen Sinne nicht die Seele, sondern, wie anhand von Sermo 16b gezeigt, der höchste Teil der Seele; er bezeichnet das, was Gott in der Seele mitgeschaffen hat. „Diese [Münze] ist offensichtlich nicht Gottes, sondern ‚des Kaisers‘ (Matth. 22,20f.), also der Welt.“ Und deswegen besteht der Mensch weiter als Bild, „das der Künstler herausmeißelt und das so lange verborgen ist und nicht erscheint, als die Schichten, unter denen es verborgen lag, nicht abgenommen und entfernt sind.“ Eckhart zitiert an dieser Stelle auch 1 Joh 3,2: „Wir sind Söhne Gottes; aber das ist noch nicht erschienen.“ Er fügt wenig später an: „Ein Beispiel für das Gesagte ist auch dies, daß das Bild des Sichtbaren selbst dann im Mittel ist, wenn weder ein Spiegel noch ein anderer reflektierender Körper da ist; es tritt dann nur nicht in Erscheinung, sondern ist dem Be54 schauer verborgen.“ Das concreatum betrifft diejenigen Gaben, die nicht durch sich selbst und für sich selbst geschaffen werden können – in dem Maße, wie sie nicht durch sich selbst sind, haben sie aber ihre Daseinsgrund in Grund. Concreatum ist all das, was von sich selbst her als 55 increatum zu bezeichnen ist. Die Antwort Eckharts in Köln ist in vollkommener Übereinstimmung mit dem, was er in einer Passage des Liber benedictus sagt: „Alle krefte der sêle loufent nâch der krône unde wirt doch alleine dem wesen. Hie sprichet Dionysius: der louf enist niht anders denne ein abekêren von allen crêatûren unde sich vereinen in die ungeschaffenheit. Unde sô diu sêle dâ zuo kumet, sô verliuset si ir namen unde ziuhet got in sich, daz si an ir selber ze nihte wirt, alse diu sunne daz morgenrôt an sich ziuhet, daz ez ze 56 nihte wirt.“ 57 Der Artikel 4 , in dem dieses in der Verteidigung behandelt wird und der ein rechtes Verständnis des ungeschaffenen Charakters der höchsten Vermögen der Seele gibt, 58 entspricht Klaus Kremer zufolge ohne jeden Zweifel der Passage aus dem „Buch der göttlichen Tröstung“. Daraus resultiert, dass die genauere Bestimmung, die Eckhart gibt, wenn er sagt, dass das increatum als concreatum verstanden werden muss, in Übereinstimmung ist mit dem, was er über den geschaffenen Charakter des „Seelenfunkens“ sagt. Der geschaffene Charakter muss hier verstanden werden im Sinne 54
Expos. in Gen. n.301 (LW I, 438-440). Ruh: Meister Eckhart (Franz. Übers., 281-283). Théry: Edition critique des pièces relatives au procès d’Eckhart, 201. 56 Vgl. F. Pfeiffer: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Band 2, 490. 57 Théry: Edition critique des pièces relatives au procès d’Eckhart, 167-170 und 191. 58 Kremer: Das Seelenfünklein, 33. 55
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eines concreatum und nicht im Sinne eines per se creatum. Weil der Seelenfunken weder von sich noch durch sich selbst besteht (er ist nicht aus eigenem Vermögen), kann er als „nicht geschaffen“ bezeichnet werden und in der Folge als „ungeschaffen“ 59 und „unschaffbar“; denn sein ganzes Sein hängt von Gott ab. Weil es aber von der anderen Seite aus in und mit der Seele geschaffen ist, kann Eckhart es auch als geschaffen bezeichnen. Man findet die Konzeption Eckharts, 60 gemäß deren das concreatum das „nicht an und für sich geschaffene“ bezeichnet. Dieses mitgeschaffene Licht belegt einen ersten Platz in Eckharts Ontologie und Erkenntnislehre, und es bekräftigt seine Lehre in Predigt 48. Der Seelenfunken, der 61 62 weder Zeit noch Raum berührt, „enwil niht dan got blôz, als er in im selben ist.“ Kurz darauf fügt er an: „ez will wizzen, von wann diz wesen her komme; ez will in den einvaltigen grunt, in die stillen wüeste, dâ nie underscheit îngeluogete weder vater noch sun noch heiliger geist; in dem innigesten, dâ nieman heime enist, dâ geüeget 63 ez jenem liehte.“ Die Seele kann sich an Gott angleichen: „Und als got is almehtic an dem würkenne, alsô ist diu sêle abgründic an dem lîdenne. Und dar umbe wirt si überformet mit gote und in gote. Got der soll 64 wirken und diû sele sêle sol lîden.“ Folglich ist das wahre Wort der Ewigkeit in der Einheit ausgesprochen, d.h. in dem Grund der Seele, wo der Mensch sich selbst gelassen hat und ledig geworden ist aller 65 Vielheit.
*** Wenn der Mensch seine Vernunft zum Schweigen bringt, dann betritt er ein Jenseits des Intellekts, welches sich als abditum mentis (im Sinne Augustins) erweist, ein Ort der Einheit und der Koinzidenz der Gegensätze, wo Gott erkannt wird als das Undenkbare. Das geistige Auge des göttlichen Intellekts ist das geistige Auge des menschlichen Intellekts, aber nicht in der Weise einer Ähnlichkeit, sondern in der einer Analogie, in der das „Etwas in der Seele“ als dieses Unbekannte und zugleich ganz und gar Erkannte erscheint und nicht in einem diskursiven oder intuitivem Wissen, sondern in einem Wissen, das Eckhart als mystische Erfahrung bezeichnet: die Erfahrung der Geburt. Der Seelenfunken oder das „Etwas in der Seele“ konfrontieren den 59
Die Schöpfung ist exklusive Angelegenheit Gottes. Denn sie ist ein Produzieren des Seins selbst und ein Werk der ersten Ursache; sie ist der Ursprung vom allem, was ist. Nichts folglich ist oder kooperiert, sei es auch im Modus der Prädisposition oder als Instrument, weil es nicht vor der Schöpfung existierte, vgl. Thomas von Aquin: STh I, 45, 8. 60 Thomas von Aquin: STh I q.7, a.2. 61 Pr 48 (DW II, 419). 62 Ebd. 63 Ebd. (DW II, 420). 64 Pr 102 (DW IV, 424). 65 Vgl. Pr 103 (DW IV, 475).
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Menschen mit dem Paradox eines Ortes, wo er sich zugleich frei machen und verweilen muss, des mystischen Raumes einer Einwohnung, wo der Mensch seine geschöpflichen Errungenschaften verliert und das Unerkennbare und Unerhörte des ungeschaffenen Göttlichen bewohnt, welches in ihm die Quelle aller fruchtbaren Mystik ist.
Literaturverzeichnis Bacq, Julien : Le Verbe médiateur chez Maître Eckhart. In: A. Dierkens et B. Beyer de Ryke (éd.): Maître Eckhart et Jan van Ruusbroec. Etudes sur la mystique ‘rhéno-flamande’ (XIIIe-XIVe siècle). Brüssel 2004, 101-126. Gire, Pierre : Maître Eckhart et la métaphysique de l’Exode, Paris 2006. Flasch, Kurt: Meister Eckhart. Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie. München, 2. Aufl. 2008. Kremer, Klaus : Das Seelenfünklein (scintilla animae) bei Meister Eckhart: ungeschaffen oder geschaffen?» In: Trierer Theologische Zeitschrift 97 (1988), 8-38. Lossky, Vladimir: Théologie négative et connaissance de Dieu chez maître Eckhart. Paris 1973. Mauriège, Maxime: La Trinité et l’auto-intellection de Dieu chez Maître Eckhart. In: Vannier, Marie-Anne (éd.): La Trinité chez Eckhart et Nicolas de Cues. Paris 2009, 63-96. Steer, Georg / Vogl, Heidemarie: Die bürgelin-Predigt Meister Eckharts. Mutmaßungen zur Entstehung der Predigt und ihre Beziehung zu Nikolaus von Kues. Neue textgeschichtliche Ausgabe der Predigt und der lateinischen Übersetzung aus der Koblenzer Handschrift. In: Schwaetzer, Harald / Steer, Georg (Hgg.): Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. Meister-Eckhart- Jahrbuch 4. Stuttgart 2011, 139-259. Théry, Gabriel: Edition critique des pièces relatives au procès d’Eckhart contenues dans le manuscrit 33 b de la Bibliothèque de Soest. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 1. 1926. Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe. Prediger. Mystiker. München ²1989, 200ff.; Franz.: Initiation à Maître Eckhart. Théologien, prédicateur, mystique, «La prédication dans la région rhénane», traduit de l’allemand par J. de Bourgknecht et A. Nadeau, présentation par R. Imbach et A. Nadeau. Fribourg / Paris 1997.
HARALD SCHWAETZER
Der Intellekt als Künstler Geist als Ichlichkeit bei Nikolaus von Kues In Auseinandersetzung mit den Diskussionen des 19. Jahrhunderts hat Jakob Burckhardt seine berühmte These von der Entdeckung der Individualität in der Renaissan1 ce entwickelt. Ernst Cassirer, der entschiedene Verfechter der Modernität und Subjektivität bei Nikolaus von Kues, hat diese These freilich in ihrer strikten Form zurückgewiesen, aber doch angemerkt: „Daß die Renaissance mit all ihren geistig-produktiven Kräften auf eine Vertiefung des Problems des Individuums gerichtet ist, bedarf keines näheren Erweises. Burckhardts grundlegende Darstellung bleibt in diesem Punkte uner2 schüttert.“ So denkt auch er noch sehr stark einen punktuellen epochalen Umschwung, aber Cusanus ist für ihn eine Figur, welche das Erbe der Vergangenheit nicht einfach negiert, sondern aufnimmt und unter einen neuen Gesichtspunkt stellt. Cusanus habe das Weltbild, welches das Mittelalter entworfen habe, „nirgends bestritten“, vielmehr „in seiner gesamten Spekulation“ vorausgesetzt, aber eine „völlig neue geistige Gesamtorientierung“ gegeben. Ausgangspunkt sei auch für ihn der Gegensatz von Endlichem und Unendlichem: „Aber dieser Gegensatz wird nun nicht mehr schlechthin dogmatisch gesetzt, sondern er soll in seiner letzten Tiefe erfasst, er soll aus den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis begriffen werden. Diese Stellung zum Erkenntnis3 problem charakterisiert Cusanus als den ersten modernen Denker“ Die Frage nach dem Subjekt ist für Cassirer die Frage nach der Stellung des Menschen zum Erkenntnisproblem und folglich die Frage nach dem Wesen des men4 schlichen Intellekts. Insofern bildet die Behandlung des Intellekts die adäquate Fortsetzung der Über5 legungen zum Subjektbegriff. Durch die Erschließung der Rolle des Intellekts lässt sich also zugleich auch das Verständnis dessen, was mit Subjekt im cusanischen Denken bezeichnet werden könnte, deutlicher bestimmen. 1
Vgl. Burckhardt: Die Kultur. Cassirer: Individuum und Kosmos, 37. 3 Cassirer: Individuum und Kosmos, 10. 4 Wenn man das Intellektverständnis des Cusanus behandeln will, dann ist man auf Veröffentlichungen aus dem Jahre 2011 verwiesen, die einige zentrale Markierungen setzen. Zum einen hat Johann Kreuzer herausgearbeitet, dass das Intellektverständnis des Cusanus von einer Linie über Augustinus, Eriugena und Eckhart zu Cusanus geht. Dabei geht es im Kern darum, wie endliches Bewusstsein sich auf sich selbst gründen kann und in dieser Gründung den Bezug zur Transzendenz hält. Vgl. Kreuzer: Der Geist als lebendiger Spiegel; ders.: Der Geist als imago Dei; ders.: Augustinus. Zum anderen hat Isabelle Mandrella das spezifische Verständnis der cusanischen Intellektlehre so gefasst (Mandrella: Intellektuelle Selbsterkenntnis, 81): „Erst die in der Selbsterkenntnis wurzelnde Einsicht, als intellektuelle und freie Natur geschaffen worden zu sein, eröffnet dem Menschen den Horizont der praktischen Selbstgestaltung.“ 5 Vgl. Schwaetzer / Vannier (Hg.): Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues. 2
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Der Wert der intellektuellen Natur „Dum profunde consideras, intellectualis naturae valor post valorem dei supre6 mus est.“ Die intellektuelle Natur hat nach Gott den höchsten Wert. Diese Aussage aus De ludo globi, die Nikolaus sich selbst in den Mund legt, scheint an Eindeutigkeit nichts 7 zu wünschen übrig zu lassen. Mit letzter Unüberbietbarkeit innerhalb eines Denkens, in dem Gott Raum hat, ist der Primat des Intellekts formuliert. Es ist naheliegend, Nikolaus aufgrund einer solchen Aussage, die durch andere ergänzt werden könnte, einen Intellektualismus vorzuwerfen, der einen abstrakt lebensfernen und fast schon ideologischen Zug hat. Muss nicht eine solche Euphorie intellektuellen Größenwahns Ungeheuer gebären? Bei genauem Zusehen melden sich Bedenken. Zum einen spricht der Satz nicht dem Subjekt, sondern der intellektuellen Natur den Wert zu; deren Verhältnis zum menschlichen Geist überhaupt und zum einzelnen Subjekt bedarf erst einmal der Klärung. Von einer Instrumentalisierung des Intellekts durch den Menschen kann zumindest an dieser Stelle noch nicht die Rede sein. Zum anderen fußt der Satz auf einer Voraussetzung: „Wenn du es tief oder gründlich betrachtest“, heißt es. Dass die intellektuelle Natur also einen solchen Wert hat, liegt nicht offen zutage. Um diesen Satz zu vertreten, braucht es ein „profundes“ Verständnis von Intellektualität. Nun kann ein solches Verständnis von Intellektualität nur mit Hilfe der Intellektualität selbst gewonnen werden. Es ist also die ihrer selbst bewusste menschliche Intellektualität selbst, welche eine Entwicklung durchlaufen muss, um von einem Zustand, der nicht „profund“ ist, zu einem solchen zu gelangen, der gegenüber dem ersten zumindest „profunder“ ist – eine letzte gegebene Grenze steht bekanntlich für 8 Nikolaus nicht zur Debatte. In diesem Sinne wollen die folgenden Ausführungen anhand des kurzen Textstückes im Umfeld der zitierten Passage aus De ludo globi zeigen, dass der Wert der Intellektualität nicht eine bloß abstrakte Bestimmung eines Wahren ist, sondern dass in der Intellektualität Wahres, Gutes und Schönes drei analog zum trinitarischen Geschehen aufeinander bezogene notwendige Konstituenten sind.
Das Wesen der intellektuellen Natur Zunächst sei gefragt, in welchem Verhältnis die intellektuelle Natur zum menschlichen Geiste steht. Nikolaus argumentiert in der genannten Passage von De ludo globi in folgender Weise: Man erkenne, dass im Werte eines florentinischen Guldens 1000 Denare enthalten seien; man erkenne ferner, dass im Wert eines Doppelguldens 2000 Dena-
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De ludo II (h IX n.114). Die zitierte Stelle gehört in den Kontext der sogenannten Wertethik bei Nikolaus; vgl. dazu Senger: Gerechtigkeit und Gleichheit, 53-57. Schwaetzer: Aequalitas, 126-135. 8 Auf die Zirkularität dieses Gedankens wird weiter unten eingegangen. 7
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re enthalten seien. Diese Überlegung führe dazu, einzusehen, dass im besten oder höchsten aller Gulden notwendigerweise eine unendliche Menge an Denaren sei. Es ist offenkundig, dass Nikolaus damit auf die Figur des Überstiegs rekurriert. Aber zunächst einmal zielt dieser Überstieg auf nicht mehr, als sich bewusst zu machen, dass es nicht nur eine Zähleinheit gibt – Gulden oder Denar –, sondern auch eine diese Zähleinheit konstituierende Werteinheit. Die Argumentation fasst auf kleinem 10 Raum zusammen, was die Eingangspassagen von Idiota de sapientia breit entfalten. Nun erfolgt aber ein weiterer Überstieg. Dieser Überstieg ist jedoch in moderner Terminologie gesprochen keiner in die Transzendenz, sondern in das Transzenden11 tale. Denn es heißt: „Et sicut hoc vides verum, ita veraciter et realiter verum esset“. Die Stelle redet zwar nicht einer bloßen Subjektivität das Wort; der Konjunktiv „esset“ gemahnt schon zu einer Zurückhaltung, was dieses Urteil betrifft. Aber sie erfordert doch eine Klärung des Verhältnisses von Wahrheit, Intellekt und Subjekt. Entsprechend fährt der Text auch fort: „Wenn du aber dies Wahre in dir selbst als wahr siehst, was für einen Wert hat dann das Auge deines Geistes, welches aufgrund seines Vermögens jeden 12 Wert unterscheidet?“ Die Rede vom „Auge des Geistes“, die für Cusanus durchaus typisch ist, hat für die Argumentation zumindest zwei Bedeutungen. Zum einen deutet sich an, dass Wahrheit eine ästhetische Qualität darstellt. Sie wird geschaut, nicht bloß gedacht. Grundzug des Intellekts ist eine visio. Zweitens wirft die Stelle die Frage nach dem Verhältnis des Subjektes zu seinem Auge des Geistes auf. Mit dem zweiten Punkt sei eingesetzt. Es ist dazu sinnvoll, auf De mente zurück13 zugreifen. Denn auch dort findet sich die Rede vom Auge des Geistes, und sie ist verknüpft mit der Ansicht des Cusanus von der angeborenen Urteilskraft. Was be14 sagt das iudicium concreatum ? Angeboren meint für Nikolaus, dass nicht die Subjektivität Bedingung der Intellektualität ist, sondern umgekehrt sich aus der angeborenen und damit vorausgesetzten Intellektualität Individualität in Selbstgestaltung entwickelt. Das ist eine entscheidende Feststellung. Im Sinne der Idee und Terminologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt offenbar, dass nicht das Denken von Subjekt abhängt, sondern das Subjekt vom Denken. Diese Aussage lässt sich einen weiteren Schritt präzisieren. Die cusanische Wendung vom iudicium concreatum betrifft nicht einen einzelnen Menschen, son9
De ludo II (h IX n.111): „Sicut enim in valore alicuius floreni est valor mille parvulorum denariorum, et in duplo meliori floreno duorum milum, et ita in infinitum, ita in optimo, quo melior esse non posset, infinitorum denariorum valorem esse necesse esset. Et sicut hoc vides verum, ita veraciter et realiter verum esset.“ 10 Vgl. De sap. I (h ²V n.5-7). 11 De ludo II (h IX n.111). 12 De ludo II (h IX n.112): „Dum autem tu in te ipso hoc verum verum vides, quid valet ille tuae mentis oculus in sua virtute valorem omnem discernens?“ 13 Vgl. z.B. De mente c.11 (h ²V n.131). 14 De mente c.4 (h ²V n.77).
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dern es ist Nikolaus’ Auffassung, dass die mens humana überhaupt damit a priori ausgestattet ist. Gerade diese Voraussetzung ist es, die das ganze Gebäude des Cusa15 nus trägt. Sie wird deutlich, wenn man beispielsweise auf das Experiment der Mönche in De visione Dei blickt. Die Wahrheit, dass die icona dei zugleich Menschen als je einzelne an verschiedenen Orten anblickt, wird dadurch erfahren und geteilt, dass die Standpunkte getauscht werden. Dabei wird aber vorausgesetzt, dass die adäquate Erkenntnis auf der Basis einer rein menschlichen, nicht einer bloß subjektiven Erfahrung geschieht. Für Cusanus ist die Gleichheit der Mönche vor dem Bild eine Vor16 aussetzung, die für ihn gültig ist. Würde ein Mönch zum anderen sagen, es sei nur seine Einbildung, dass er an diesem Platz angeschaut würde, so entstünde mit der Setzung der Möglichkeit einer rein subjektiven Erkenntnis das Problem, das keine Verständigung zwischen dem Denken des einen und dem davon unterschiedenen Denken des anderen möglich wäre. Gerade dieses Problem existiert aber nicht für Nikolaus, weil der Intellekt und sein Erkennen als der menschlichen Natur gegebene Fähigkeit von ihm vorausgesetzt sind. Das Experiment macht demnach deutlich, dass es auf der einen Seite um den individuellen Menschen geht. Wenn er sich nicht auf den Standpunkt des anderen begibt, also aus eigenem Antrieb eine Handlung zur Erkenntnis in Gang setzt, dann kommt er auch nicht zur Erkenntnis. Aber diese Notwendigkeit hat keine Bedeutung für die Geltung der gewonnen Einsicht. Der individuelle Mönch erkennt, dass jeder Mensch an dieser Stelle angeblickt wird. Die einmal durch die subjektive Tätigkeit errungene Erkenntnis erweist sich ihrem Wesen nach als nicht-subjektiv. Aufgrund dieses Befundes lässt sich eine doppelte Unterscheidung vollziehen. Erstens ist deutlich, dass die transzendentale Reflexion bei Cusanus zwei Ebenen kennt: diejenige der menschlichen Intellektnatur überhaupt und diejenige des konkreten Subjektes. Das Verhältnis zwischen beiden lässt sich so bestimmen, dass es Wesen der menschlichen Natur überhaupt ist, auf Subjektivität hin angelegt zu sein. In einem auf Eckhart anspielenden Terminus: Die menschliche Natur ist zunächst eine Ichlichkeit, sie hat die Form der Ichheit. Diese Form der Ichheit ist die gemeinsame Voraussetzung aller konkreten Subjekte, und diese bedienen sich derselben alle gleichermaßen im Erkenntnisakt. In diesem Sinne ist also nicht einfach zu sprechen von einer „humanitas“ auf der einen Seite und „Peter“ oder „Paul“ auf der anderen Seite, sondern dazwischen liegt die je gegebene, allen Menschen gleiche grundsätzliche Möglichkeit der Individualisierung. Dieses dazwischen Liegende lässt sich als intellektuelle Natur des Menschen beschreiben; denn es ist genau diese Möglichkeit, 17 welche die intellektuelle Natur auszeichnet: Selbsterkenntnis. Für Cusanus geht es 15
Cecilia Rusconi hat in dieser Voraussetzung ein „Gewissheitsproblem“ erkannt, vgl. Rusconi: Die Auffassung der Mathematik. Das Problem von Cecilia Rusconi entsteht genau deshalb, weil sie aus moderner Perspektive jenes „angeboren“ im Sinne von „gegeben“ nicht mehr mit Cusanus teilt. Ihr Standpunkt ist, historisch formuliert, nachkantisch. 16 Vgl. dazu Schwaetzer: Ineinsfall der Begegnung. 17 Man kann damit Schellings Konzeption in gewisser Weise vergleichen (System des transzendentalen Idealismus, SW I/3, 366): „Der Begriff des Ich kommt durch den Akt des Selbst-
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nicht um menschliches Erkennen überhaupt und nicht um rein subjektives Erkennen. Gerade die Konjekturalität des menschlichen Erkennens macht deutlich, dass die transzendentale Voraussetzung desselben eine „Ichlichkeit“ ist, die allen Individuen die gleiche Ausgangslage zur individuellen Selbstgestaltung gibt, aber gerade in dieser „Ichlichkeit überhaupt“ ihnen die Verständigung in ihrer Differenz sichert. Die Übersetzung des Wahlspruchs der Aufklärung „sapere aude“ mit „Habe den Mut, dich deines eigenen Denkens zu bedienen“ hat für Nikolaus keine Bedeutung, weil es für ihn kein eigenes Denken (im Sinne eines subjektiven) gibt, sondern nur das Denken des zur Selbsterkenntnis fähigen menschlichen Geistes. So verstanden ist, wenn man es „profunde“ betrachtet, Nikolaus kein Transzendentalphilosoph wie später Kant, welcher die Bedingungen des Erkennens auf ein bloß transzendentales Ich zurückzuführen vermag. Dieses transzendentale Ich ist für Nikolaus zugleich eine reale Ichlichkeit, welche die Verständigung zwischen menschlichen Naturen sicher und wahr macht. Zweitens ist es damit möglich, ebenfalls vom 19. Jahrhundert aus blickend, die Differenz zwischen dem Intellekt als Ichlichkeit und dem Subjekt unter der Perspektive des Unterschiedes von psychologischen Bedingungen und Geltungsbedingungen 18 zu beschreiben. Psychologische Voraussetzungen betreffen die Genese von Erkenntnis. Ohne sie kann die Erkenntnis nicht statthaben, aber sie sind ohne Einfluss auf die Geltung. Wer des Französischen nicht mächtig ist, wird nicht darüber entscheiden können, ob ein auf Französisch gesprochener Sachverhalt richtig ist oder nicht. Wenn er des Französischen kundig ist, dann hat das jedoch keinen Einfluss auf die Geltung des Sachverhaltes: Der Satz des Pythagoras ist nicht deswegen wahr, weil er auf Französisch vorgetragen wird. Die cusanische Erkenntnislehre mit ihrer „coniectura“ macht auf der einen Seite deutlich, dass Erkenntnis Handlung des Individuums ist. Wenn der Mönch nicht seinen Platz vor dem Bild verändert, kommt er nicht zu der Erkenntnis, die er gewinnt, wenn er seinen Platz verändert. Rein subjektives Handeln ist also durchaus Bedingung oder Voraussetzung von Erkenntnis. Die Frage ist jedoch, ob diese Bedingung die Gültigkeit des Urteils beeinflusst oder nicht. In diesem Sinne gilt für Nikolaus: Subjektivität ist keine Geltungsbedingung. Welcher Mönch an einer bestimmten Stelle vor dem Bild steht, ist gleichgültig. Jeder Mönch wird in gleicher Weise die Erfahrung an dieser Stelle machen. Das subjektiv erfahrene Ich stellt also keine Geltungsbedingung dar, sondern ist eine bloß psychologische Voraussetzung. Getragen wird das Urteil in seiner Geltung ganz offenkundig von der Intellektnatur des menschlichen Geistes überhaupt in seiner Ichförmigkeit. Doch dieser Gedanke muss noch vertieft werden; dabei wird er eine Modifikation erfahren.
bewußtseyns zu Stande, außer diesem Akt ist also das Ich nichts, seine ganze Realität beruht nur auf diesem Akt, und es ist selbst nichts als dieser Akt. Das Ich kann also nur vorgestellt werden als Akt überhaupt, und es ist sonst nichts.“ 18 Vgl. dazu Schwaetzer: „Subjektivistischer Transsubjektivismus“.
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Das dreifaltige Wesen des Intellekts Die Überlegung des vorigen Abschnitts ging aus von der folgenden Frage aus De ludo globi: „Wenn du aber dies Wahre in dir selbst als wahr siehst, was für einen Wert hat dann das Auge deines Geistes, welches aufgrund seines Vermögens jeden 19 Wert unterscheidet?“ Dabei war als erster Punkt der Analyse festgehalten worden, dass dem Intellekt eine ästhetische Qualität zukommt. Diese ästhetische Qualität lässt sich nun, nachdem der Anteil des Subjektes an der Erkenntnis verdeutlicht ist, genauer bestimmen. Der Zusammenhang zwischen Ästhetik und Intellektlehre im Werk des Cusanus ist offenkundig; er findet seinen bekannten Niederschlag in der Bildung von Aenigmata. Häufig erfolgt auf eine theoretische Darlegung eine Zusammenfassung in einem Bild; man denke nur an den Kreisel aus De possest, den Karfunkel aus De non aliud oder auch das Aenigma von Münze und Münzherr, welches auf die Stellen aus De ludo globi folgt, die Gegenstand der vorliegenden Überlegungen sind. Die Passage aus De ludo globi bietet einen wichtigen Hinweis darauf, wie sich die ethische Komponente einfügt. „Der Wert der Erkenntnis des Erkennenden wird darin vermehrt, dass er mehreres erkennt, sei dieses auch von größerem oder von geringerem Wert als der Wert des Erkennenden. Denn der Wert des Erkannten geht nicht in den Wert des Erkennenden ein, so dass er den Wert des Erkennenden größer machte, wenngleich die Erkenntnis verbessert wird. Wenn nämlich auch das Schlechte zu erkennen den Erkennenden nicht schlechter und das Gute zu erkennen ihn nicht besser macht, so macht es ihn dennoch zu einem besser 20 Erkennenden.“ An dieser Stelle wird deutlich, worin die dritte Komponente im Erkennen liegt; die 21 ethische Frage ist diejenige nach einem Besserwerden im Erkennen. Es geht also 19
De ludo II (h IX n.112): „Dum autem tu in te ipso hoc verum verum vides, quid valet ille tuae mentis oculus in sua virtute valorem omnem discernens?“ 20 De ludo II (h IX n.113): „Valor cognitionis cognoscentis augetur in eo quod plura cognoscit, sive illa sint maioris sive minoris valoris, quam sit valor cognoscentis. Non enim valor cogniti intrat in valorem cognoscentis, ut faciat valorem cognoscentis maiorem, licet melioretur cognitio. Sicut enim cognoscere malum non facit cognoscentem peiorem aut cognoscere bonum meliorem, facit eum tamen melius cognoscentem.“ 21 Man ist versucht auf Goethe hinzuweisen, vgl. z.B.: WA II/11, 49: „Der Eingang [in die Kantischen Kritiken, HS] war es, der mir gefiel, in’s Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte mich meine Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgends gebessert.“ Vgl. WA I/42.2, 178: „Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht.“ Ebd. 216: „Nicht allein das Angeborene, sondern auch das Erworbene ist der Mensch.“ „Unsre Eigenschaften müssen wir cultiviren, nicht unsere Eigenheiten.“ Ebd.: 218: „Es gibt keine Lage, die man nicht veredeln könnte durch Leisten oder Dulden.“ Ebd. 258: „Das Thier wird durch seine Organe belehrt; der Mensch belehrt die seinigen und beherrscht sie.“ Ebd. 259: „Der Mensch ist genugsam ausgestattet zu allen wahren irdischen Bedürfnissen, wenn er seinen Sinnen traut und sie dergestalt ausbildet, daß sie des Vertrauens wert bleiben.“ Oder
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offenbar darum, sich Fähigkeiten anzueignen, welche man vorher nicht hatte: Nicht ein bloßes „Mehr“ an Erkenntnis, sondern eine Verwandlung der Erkenntnisfähigkeit selbst steht zur Debatte. Dabei ist der prozessuale Charakter dieser ethischen Dimension sehr deutlich. Zugleich ergibt sich daraus eine gewisse Zirkularität, die gerade dann in den Blick kommt, wenn man die entfaltete Form der Intellektualität bei Cusanus in den Blick nimmt: Wenn erst die „profunde“ Betrachtung den Wert des Intellekts lehrt, dann kommt man zu einer solchen Betrachtung aber nur, wenn man das Auge des 22 Geistes ausbildet, für eine solche Betrachtung fähig zu sein. Klaus Reinhardt hat in seinem Beitrag darauf aufmerksam gemacht, dass eine trinitarische Intellektauffassung bei Cusanus deswegen schwer in den Blick zu nehmen sei, weil das Verbindende zwischen dem Schöpfer-Intellekt und dem von ihm gezeugten gleichen Bild, also der Schöpfungsvorgang selbst, sich so leicht der Beobachtung entziehe. Dieses zutreffende Urteil stellt sich auch hier wieder ein. Es hängt sehr viel davon ab, dass der Übergang von der in Worten erfolgenden Erörterung eines Sachverhaltes in seine bildlich-aenigmatische Umsetzung als Verbindung zwischen beiden Elementen sichtbar wird. Denn das „Besser-Werden“ des Erkennenden, welches bedeutet, nicht Besseres, sondern auf bessere Weise zu erkennen, vollzieht sich erkenntnismethodisch in den Prozessen des „In die Erscheinung Tretens“ des Intellekts, analog einer theophanischen Konzeption wie etwa von Eriugena. Die zugrunde liegende Problematik kann nochmals mit Blick auf die Unterscheidung von Genese und Geltung beschrieben werden. Subjektivität hatte sich bislang als psychologische Bedingung erwiesen, während die intellektuelle Natur selbst als zur Selbsterkenntnis fähige Ichlichkeit die Geltungsbedingung ausmachte. Jetzt zeigt sich aber, dass es einen Punkt gibt, der durch die genannte Zirkularität ausgewiesen ist, wo die Genese selbst entscheidend wird, und das ist eben das Ich selbst. Für alle anderen Dinge der Schöpfung gilt, dass ihr Wert gegeben ist und von der menschlichen intellektuellen Natur in Übereinstimmung mit dieser Gegebenheit in die Erscheinung gebracht wird: „Und obwohl die Vernunft dem Wert nicht das Sein gibt, so kann doch ohne Vernunft nicht einmal sein Dasein unterschieden werden. Nimmt man nämlich die Vernunft weg, so kann nicht gewusst werden, ob ein Wert da ist. Wenn die wesensbestimmende und verhältnisbezügliche Kraft nicht existiert, schwindet die Wertschätzung. Wenn diese nicht existiert, verschwindet
über Schillers Ästhetische Briefe: „Hierbei folgen Ihre Briefe mit Dank zurück. Hatte ich das erste Mal sie bloß als betrachtender Mensch gelesen und dabei viel, ich darf fast sagen völlige Übereinstimmung mit meiner Denkweise gefunden, so las ich sie das zweite Mal im praktischen Sinne und beobachtete genau: ob ich etwas fände, das mich als handelnden Menschen von seinem Wege ableiten könnte, aber auch da fand ich mich nur gestärkt und gefördert“ (An Schiller, 28.10.1794). 22 Richtig hat Klaus Reinhardt diesen Zusammenhang in seinem Beitrag im vorliegenden Band als Stärke und Schwäche zugleich charakterisiert. Dieser Sachverhalt ist aber weniger Cusanus zuzuschreiben; er liegt vielmehr in der Sache.
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durchaus auch der Wert. Darin kommt die Kostbarkeit des Geistes zum Vor23 schein, da ohne ihn alles Geschaffene des Wertes entbehren würde.“ Das wertsetzende Urteil kommt nicht zustande, wenn nicht das individuelle Subjekt diese Erkenntnis vollzieht. Die Kostbarkeit des menschlichen intellektuellen Geistes ist damit aber eine besondere. Denn ob er ein solches Urteil vollzieht oder nicht, ist abhängig von seiner Subjektivität. Er selbst spielt dabei indes eine Sonderrolle; denn er bringt keinen gegebenen Wert zur Erscheinung, sondern er erzeugt sich selbst und damit zugleich seinen Wert. Nur bezogen auf das Ich hat die Genese Geltungscharakter, weil vom Vollzuge abhängt, wie die Erkenntnis sich vollzieht, welchen Wert sie also als Erkenntnisvollzug (nicht ihrem Inhalte nach) hat. Das Besserwerden selbst (und damit die Existenz des Ichs selbst) ist als einziges geltungstheoretisch abhängig von der Genese. Cusanus ist sich dieser Tatsache sehr bewusst; als Beleg mag das berühmte Wort aus De visio24 ne Dei genügen: „Sis tu tuus, et ego ero tuus.“ Mit Blick auf das Subjekt lässt sich die Analyse noch einen Schritt weiter führen. Die Kostbarkeit des Geistes kommt darin zum Vorschein, allem Geschaffenen Wert zu verleihen. Die Gültigkeit des Wertes wird garantiert durch die intellektuelle Natur selbst. Im Falle der Selbsterkenntnis, und nur in diesem, verbinden sich die intellektuelle Natur als Form der Ichlichkeit und das Subjekt, und erst daraus entsteht das eigentliche Ich des Menschen. Intellekt und Subjekt sind also in ihrer Verbindung erst das, was im eigentlichen Sinne das geistige Individuum ist. Bei diesem ganzen Vorgang muss man im Hintergrund haben, dass Nikolaus wie Meister Eckhart stets betont, dass das Wort Gottes in seiner Inkarnation sich nicht einfach nur mit dem Menschen Jesus verbunden hat, sondern die gesamte menschliche Natur angenommen hat. So heißt es etwa in Sermo 25 „Pascit nos verbum Dei, quod nostram assumpsit naturam.“ Dadurch tritt etwas in die Erscheinung, was es sonst nicht gibt: ein sich selbst Wert verleihendes geistiges Wesen. Innerhalb der Wertsphäre des Intellekts, die allen anderen Wesen kein Sein verleiht, sondern nur Wert, entsteht in einem selbsterzeugenden kreativen Akt als Verbindung von intellektueller, vom Wort Gottes angenommener Natur und Subjektivität das auf seine Intellektnatur gegründete Individuum. 26 Wenn Nikolaus in De beryllo schreibt: „divinus intellectus omnium artifex“, dann kann als bleibendes Verdienst des cusanischen Intellektverständnisses festgehalten werden, dass es die Selbstbildung einer geistigen Individualität erlaubt; analog könnte man formulieren: intellectus humanus sui ipsius artifex. 23
De ludo II (h IX n.114): „Et quamvis intellectus non det esse valori, tamen sine intellectu valor discerni, etiam ni quia est, non potest. Semoto enim intellectu non potest sciri an sit valor; non exsistente virtute rationali et proportionativa cessat aestimatio, qua non exsistente utique valor cessaret. In hoc apparet pretiositas mentis, quoniam sine ipsa omnia creata valore caruissent.“ 24 De vis. c.7 (h VI n.25). Auf die intellekttheoretische Dimension der Stelle hat u.a. aufmerksam gemacht: Machetta: Kontemplativer Intellekt. 25 Sermo CLXXXIX n.6; vgl. auch Sermo CLXXX n.4, CCXXIX n.5: „Christus assumpsit naturam humanam cum innocentia, uti erat ante peccatum.“ u.a. 26 De beryllo (h XI/1 n.65).
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Die Blindheit des Verstandes und die Sehkraft des Intellektes Das Ziel dieser kurzen Untersuchung ist eine Klärung des Intellekt-Begriffs bei Nikolaus von Kues durch eine vergleichende Lektüre von Platons Politeia und Cusanus’ De mente. Wir werden die Bedeutung von „Intellekt“ in drei Schritten präzisieren können: Zuerst durch die Erkenntnistheorie der beiden Philosophen; dann durch den Status, den sie der mathematischen Praxis geben, schließlich durch den Versuch zu klären, was Cusanus unter visio intellectualis versteht.
1. Zwei Modi von Erkenntnis In der Politeia (VI, 508d) vergleicht Platon die Erkenntnis der Seele mit dem Sehen durch das Auge. So wie das Auge deutlicher sieht, wenn das betrachtete Objekt durch das Sonnenlicht erhellt wird, so kennt die Seele das Betrachtete gut, wenn das Objekt erhellt wird durch das Licht der Wahrheit, welches dem Sein entstammt. „Also denkt sie es, erkennt sie es und scheint Vernunft zu besitzen.“ Wenn sich die Seele hingegen „dem mit Dunkelheit Vermischten“ zuwendet, hat sie nur Meinungen und ist bar jeder Vernunft (noesis) und zwar bar jeglicher Intelligenz, um überhaupt begreifen zu können. Ein wenig weiter (VI, 509d-510b) präzisiert Platon die beiden Vermögen der Seele mittels seines berühmten Gleichnisses von der Linie, die in mehrere Abschnitte unterteilt ist. Die beiden ersten Segmente außer Acht lassend, die die Sinneswahrnehmung bezeichnen, wenden wir uns den beiden anderen zu: Das Vermögen, das es ihr erlaubt, die mathematischen Dinge zu erfassen und das sich Hypothesen bedient: das ist die Dianoia, das diskursive Denken; das, welches ihr erlaubt, Formen zu erfassen, und das zu einem nicht mehr hypothetischen Prinzip gelangt, ist die Noesis (Intelligenz). Wenn sie verständliche Objekte untersucht, kann die Seele folglich zwei Wege beschreiten: die Dianoia und die Noesis. Man kann eine Parallele zwischen der platonischen Unterscheidung und der von Cusanus vorgenommenen zwischen Verstand und Intellekt ziehen, indem man zuerst präzisiert, dass die Dianoia und die Noesis Vermögen des Denkens darstellen, während die Vernunft und der Intellekt vielmehr Fähigkeiten des Geistes sind. Da aber jede dieser Fähigkeiten einem bestimmten Vermögen folgt, findet man leicht die Gleichwertigkeit der Ausdrücke. Laut Cusanus ist der Verstand das, was uns die Eigenschaften von Dingen herleiten lässt, während der Intellekt uns die Wahrheit erkennen lässt. Der Verstand ist diskursiv, er schreitet progressiv und arbeitsam voran mittels sukzessiver Abstraktionen und folgt strikt dem Prinzip des NichtWidersprüchlichen. Der Verstand erreicht niemals die Genauigkeit. Der Intellekt ist intuitiv: Er begreift augenblicklich, was er sehen will; er begreift die Einheit der Gegensätze, sein Prinzip ist der des Zusammenfalls der Gegensätze.
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Der Intellekt ist, nach einer Aussage von Vansteenberghe, „die Domäne der Mystik, 1 wo man nicht verstandhaft denkt, sondern wo man sieht.“ Folglich wird der Verstand, der die endlichen Dinge sehen kann, blind wenn er sich auf das Gebiet des Unendlichen hinauswagt. Der Verstand kann nichts vom Göttlichen sehen, während der Intellekt mit einer geistigen Schau die Einheit jenseits der Verschiedenheit und der Vielheit erkennt. In De mente spricht Cusanus präziser vom Sehen des Denkens: „Wir erfahren daraus, daß der Geist jene Kraft ist, die, wiewohl ihr jede begriffliche Form fehlt, sich, wenn sie angeregt ist, doch jeder Form ähnlich machen und Begriffe aller Dinge bilden kann. Sie ist in gewissem Sinn einem gesunden Auge in der Dunkelheit vergleichbar; es hat keinen wirklichen Begriff vom Sichtbaren, sobald es aber in das Licht kommt und angeregt wird, 2 gleicht es sich dem Sichtbaren an, um Begriffe zu bilden.“ Der Intellekt ist folglich im Denken dasjenige, was durch das Licht der Wahrheit erhellt wird und das in der Einheit verstehen kann. Bezogen auf die Quadratur des Kreises, ist dies der Grund, warum der Verstand unfähig ist, den möglichen Zusammenhang zwischen einer Geraden und einer gekrümmten Kurve zu begreifen, während der Intellekt den Ineinsfall der beiden sehen kann. In De mente führt Nikolaus von Kues wiederholt aus, wie unterschiedlich Verstand und Intellekt funktionieren. Im zweiten Kapitel definiert er den Verstand als denjenigen, der die sinnlichen Dinge unterscheidet und ihnen einen Namen gibt; das ist eine Grundfähigkeit unterscheidender Wahrnehmungskraft. Daher sind die Gattungen und die Arten Zustände des Verstandes, die der Verstand für sie festgelegt hat. Aber es gibt in der Intelligenz etwas, das weder in den Sinnen noch im Verstand war: Das ist die Form. Cusanus gibt das Beispiel der Form des Menschseins: Würde diese ‚materielhaft‘ zerstört, so verbliebe von ihr doch nichts weniger als die unveränderliche und ewige Wahrheit des Menschseins. Deshalb ist Gott, der eine unaussprechliche und unendliche Form ist, das eigentliche Objekt des Intellekts. Deshalb verharrt der Verstand gelähmt in der Verworrenheit von Form und Materie, während der Intellekt die reine Form herauslöst. Im Kapitel V präsentiert er eine Analogie von einem Menschen, der liest. Der Verstand dechiffriert, wie der Leser, die Buchstaben und Wörter, aber es gelingt ihm nicht, den Sinn zu erfassen. Der Leser, der versteht, was er liest, geht über die Wörter hinaus. Ebenso vermag es das Denken, dank des Intellekts, in sich selbst die Urteile über die Dinge zu lesen, die ihm der Verstand präsentiert. In demselben Kapitel V liefert Cusanus eine weitere Analogie; die vom Diamanten. Seine Spitze reflektiert alle Formen und, sich selbst betrachtend, kann sie sich von ihren Formen Begriffe machen. Wie die Spitze des Diamanten sich selbst reflektiert, so betrachtet der Intellekt sich selbst. Die intellektuelle Schau ist zuallererst die Schau der Intelligenz durch sich selbst. Dadurch sieht die Intelligenz, inwiefern sie Gottes Abbild ist; dann versteht sie alle Dinge. Die Spitze des Diamanten symbolisiert die Aufmerksamkeitsspitze der Intelligenz. Im 1
Vansteenberghe: Le Cardinal Nicolas de Cues, 284: „c'est le domaine de la mystique, oü on ne raisonne pas, mais oü l'on voit.“ 2 Cusanus: De mente c. 4 (h ²V n. 78).
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achten Kapitel präzisiert Nikolaus von Kues, dass das Verstehen die vollendete Bewegung des Denkens ist, während das Erleiden nur den Beginn, den Ausgangspunkt darstellt. Das Verstehen ist auch die Weise, in der das Denken alle Dinge in ihrer Einfachheit betrachtet, ohne etwas zusammenzusetzen. Sie ist die wirkliche Erkenntnis der reinen Formen, frei von jeglicher Materie. Schließlich überwindet Nikolaus von Kues im XIV. Kapitel den Widerspruch zwischen Platon und Aristoteles und zeigt, wie alle beide die Überlegenheit der Intelligenz über den Verstand unterstützt haben, weil sich doch die Seele von dem Verstand zum Intellekt erhebt.
2. Zwei mathematische Instrumente In der Domäne der Mathematik erkennt man am besten den Unterschied zwischen Verstand und Intellekt. Auf den Text Platons über die Linie zurückkommend, können wir uns erinnern, was die Funktionsweisen der Dianoia und der Noesis voneinander unterscheidet. Die Dianoia geht mittels Hypothesen vor; dies bedeutet, dass sie Objekte als gegeben betrachtet, ohne ihre Existenz nachzuweisen, und weiter, dass sie die Eigenschaften mittels Deduktion folgert (hier verstehen wir Hypothese nicht als Annahme, als bedingte These, sondern im Sinne eines Prinzips: die mathematischen Objekte sind gesetzt, wenn man von ihnen eine Definition gegeben hat). Die Noesis dagegen schreitet von Hypothese zu Hypothese, um das unhypothetische Prinzip, das Unum bonum, zu erreichen. Das bedeutet gleichzeitig eine Behandlung der Existenz und eine Reduktion der Vielfalt auf die Einheit. Tatsächlich beweist der Geometer nicht die Existenz der Objekte, die er studiert. Er setzt, definiert und analysiert sie. Er praktiziert nur die Analyse. Der Philosoph stellt sich Fragen über die Existenz und versucht das Problem ausgehend von einem einheitlichen Prinzip zu lösen. Der Philosoph für seinen Teil praktiziert die Synthese, in dem Sinne des Aufstiegs zum Einen. Um den Unterschied zwischen diesen beiden Wegen zu unterstreichen, ist es nötig, sich des Unterschieds der Objekte zu erinnern. Die Mathematik benutzt Bilder, arbeitet über die relativ Seienden (z. B. 2 = 1+1. 1 = 2-1), denn die mathematischen Seinsformen sind gemischte (metaxu) aus sinnlichen und gedanklichen. Die pädagogische Funktion der Mathematik ist es, den jungen Geist anzuregen, vom Sinnlichen ins Gedankliche voranzuschreiten. Demgegenüber verwendet die Dialektik einzig und alleine Ideen, um vom einen zum Anderen und schließlich bis zum Unum bonum zu gelangen. Sie arbeitet über die absolut Seienden, von denen man nichts wegschneiden kann (bspw. kann man von der Idee der Schönheit nichts wegnehmen); die Ideen sind rein gedanklich. Der Unterschied der Objekte verlangt nach einem Unterschied in der Methode: Die Mathematik setzt Seiende voraus, ohne deren Evidenz in Frage zu stellen, ohne sich nach ihrer Existenz zu fragen. Sie behandelt diese anhand ihrer Eigenschaften, um Lehrsätze zu entdecken. Die Dialektik erklimmt Hypothese um Hypothese um zum unhypothetischen Prinzip (dem Unum bonum), dem Grund der Existenz zu gelangen.
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Schließlich zieht der Unterschied der Objekte und der Methode einen Unterschied in den Resultaten nach sich: Die Mathematik leitet die notwendigen Folgerungen aus ihren Hypothesen ab, während die Dialektik vom Unum bonum herabsteigt um die Wahrheit der Ideen zu begründen. Die Mathematik ist damit eine Wissenschaft des Möglichen, eine Zwischenerkenntnis zwischen der Meinung und der Philosophie, wohingegen die Dialektik eine Wissenschaft von der Wirklichkeit und von der reinen Intelligenz ist. Der Geometer sieht die Realität nur träumend (Politeia VII, 533c), und er wird nicht aufwachen, um das Sein real zu sehen, bis er die Hypothesen überschritten haben wird. Man findet diese Dichotomie in den mathematischen Schriften des Cusanus wieder. Falls es dem Verstand gelingt, das Prinzip des Nicht-Widersprüchlichen respektierend, deduktive Beweise durchzuführen, vor allem den fortlaufenden Verhältnissen folgend, kann er doch nicht sehen, ob der Punkt existiert, der es erlaubt, das Problem der Kreisquadratur zu lösen. Dann ist es der Intellekt, der die Führung übernimmt, der die Irrfahrt des Verstandes korrigiert und der die Lösung sieht. Man 3 findet hierzu zwei deutliche Beispiele. In der Quadratur des Kreises vom Juli 1450 spricht Cusanus über die Existenz eines Punktes auf dem Abschnitt eb, der es erlaubt, die gesuchte Proportion zu finden, und in dessen Mitte setzt er diesen Punkt f, weil es notwendig ist, dass er existiert. In De mathematica perfectione von 1458 reduziert er den Abstand zwischen der Sehne und dem Bogen (anders gesagt: die Pfeilhöhe) bis die Pfeilhöhe verschwindet und setzt den Ineinsfall der beiden Linien. „Das 4 sieht der Intellekt leicht als notwendig ein“, schreibt er. Was genau sieht er? „Das“ bezeichnet drei Objekte: Zuerst ein Verschwinden (das der Pfeilhöhe), dann ein Zusammenfall (der der beiden Linien: des minimalen Kreisbogens und der minimalen Sehne), und schließlich ein Wiederauftauchen (das der Pfeilhöhe), weil doch der Intellekt die Rückwärtsbewegung der Trennung der beiden Linien unternehmen kann. Es ist an dieser Textstelle ausgeschlossen, einen Punkt, eine Art Restatom der 5 Verminderung der Pfeilhöhe, zu sehen. Es ist dies der Moment, in dem der Verstand blind ist, in dem er nicht die Lösung findet, in dem der Intellekt ihn ersetzt. Dies ist exakt der Moment, in welchem Cusanus die visio intellectualis eingreifen lässt. Dank ihrer sieht und entdeckt der Intellekt die Wahrheit. Er sieht bspw. die Notwendigkeit der Existenz des gesuchten Punktes. Das ist kein sinnliches Sehen, und Cusanus hätte seine liebe Not, diesen Punkt exakt in einer Figur zu positionieren und zu zeichnen. Es ist eine Schau ohne mögliche Darstellung; man kann sie in Worten fassen, man kann sie aber nicht zeichnen. Es ist eine Schau im Sinne einer intellektuellen Erfassung, die wir heute als Intuition bezeichnen würden, d.h. eine direkte, nicht mitteilbare Erkenntnis. Man findet hier die von Platon beschriebene noetische Handlung wieder: Der Aufstieg zu einem einfachen Prinzip und die Affirmation der Existenz dank dieses 3
Siehe unsere Ausgabe der mathematischen Schriften, Nicolle (ed.): Nicolas de Cues, 169. Cusanus: De mathematica perfectione (h XX n.4, p.205): „Hoc videt bene intellectus necessarium.“ 5 Dies ist der Grund, weshalb es mir schwer fällt, in Cusanus einen Vorläufer der Theorie der Indivisibilien zu sehen. 4
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Prinzips. Das ist eigentlich mit „begreifen“ gemeint. Aber im Gegensatz zu Platon besteht der Aufstieg zum Einen bei Cusanus nicht darin die Mathematik zu verlassen um die Dialektik auszuüben. Ohne die Mathematik aufzugeben, wendet Nikolaus von Kues die noetische Vorgehensweise auf sie an.
3 Die intellektuelle Schau 6
Der Ausdruck „visio intellectualis“ taucht nicht häufig im cusanischen Werk auf. In De coniecturis (II, c. 1) von ca. 1444, ist die intellektuelle Schau definiert als eine Form des Sehens im Verhältnis zum sinnlichen und verstandhaften Sehen. Sie ist eine geteilte Form des göttlichen Sehens, welche die absolute Notwendigkeit ist. In De possest n. 38 von 1460 ist laut Nikolaus von Kues, „die vernunfthafte Schau des Allmächtigen, die Erfüllung dieses unseres Wunsches, durch den wir alle zu wissen begehren.“ Schließlich wird in De ludo globi (II, n. 72) von 1463 die intellektuelle Schau mit dem sinnlichen Sehen verglichen: „Wie nämlich die sinnliche Schau, um wahr und lebendig zu sein, des sichtbarmachenden, sinnlichen Lichtes bedarf, so hat auch die geistige Schau das 7 geistige Licht der Wahrheit nötig, wenn sie sehen und leben soll.“ Hier finden wir die platonische Analogie vom Auge und der Seele wieder. In drei seiner Predigten (Sermones 32, 187 und 288) ist die intellektuelle Schau als Erkenntnis qualifiziert, denn sie ist es, die die Fehler des Verstandes korrigiert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die intellektuelle Schau der höchste Grad des Sehens ist (sie steht über den Sinnen und über dem Verstand), sie wird erhellt durch das Licht der Wahrheit, und sie ist die höchste Erkenntnis, die das universelle Verlangen nach Wissen befriedigt. Und genau deshalb begehren wir, mehr über die visio intellectualis zu wissen … Es ist ein wenig gegen seinen Willen, dass uns Nikolaus von Kues einige Informationen darüber hinterlassen hat, was er unter visio intellectualis versteht. In der Tat hat 8 man sechs ausradierte Seiten von De mathematica perfectione (1458) wiedergefunden. Erinnern wir uns daran, dass er im gleichen Jahr De Beryllo schreibt. Das Thema der Schau ist sehr präsent in seinen Anliegen in diesen Jahren. Teilweise sind diese Seiten durch die Forschergruppe der Cusanus-Gesellschaft 1968 entziffert worden. Nach dem wiederhergestellten Text scheint die visio intellectualis die Rolle eines Korrektors zu spielen in der Folge der immer wieder gescheiterten Versuche des Nikolaus von Kues, die Kreisquadratur auf rationalem Wege zu lösen. Es geht darum, die rationale Vorstellung von quantitativer Gleichheit zu überwinden, um sie durch die Gleichheit von absoluten Größen zu ersetzen, im Minimum wie im Maximum. In der intellektuellen Schau unternimmt man weder Vergleiche noch Messungen der Größen. Letztere er6
Vgl. dazu Kremer: Der Begriff visio intellectualis; Schwaetzer: visio intellectualis. De ludo globi II (h IX n.72): „Sicut enim sensibilis visio, ut sit vera et viva, sensibili luce indiget ostensiva, ita et intellectualis visio intellectuali veritatis luce opus habet, si videre seu vivere debet.“ 8 Vgl. Hofmann, Joseph Ehrenfried: Über eine bisher unbekannte Vorform; ferner: Reinhardt: Eine bisher unbekannte Handschrift. 7
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fahren weder Steigerung noch Minderung. Es ist dort übrigens nicht mehr nötig, von einem Ineinsfall der Gegensätze zu sprechen. Die intellektuelle Schau betrachtet nicht auf getrennte Weise die Begriffe, sondern erfasst ihre Identität. Hinsichtlich der intellektuellen Schau müssen wir uns der mystischen Schau erinnern, durch die die Seele entzückt und in das Licht der Wahrheit getaucht ist. Dennoch stellt sich der ausradierte und rekonstruierte Text von De mathematica perfectione in keiner Weise als ein inspirierter Diskurs dar. Nikolaus von Kues erhält seinen Willen aufrecht, die Wahrheit zu zeigen statt sie nur zu verkünden. Der Ausdruck, den er dazu oft benutzt, ist „die Notwendigkeit zu sein“, als ob der Intellekt den mathematischen Objekten das Sein gäbe. Der Intellekt erschafft, was er sieht. Zum Beispiel faltet der absolute Kreis in sich alle anderen Kreise ein und erzwingt mit Notwendigkeit die Identität zwischen den Linien (wie zwischen der Sehne und dem Bogen). Nun aber können weder die Vorstellungskraft noch der Verstand diese Identität erfassen. Die intellektuelle Schau weiß die Einfaltung (complicatio) im Minimum und Maximum zu sehen. Sie hat einen Zugang zum Sein, der viel weiter geht als ein simpler rationaler Beweis. Schließlich wohnen wir in den mathematischen Schriften von Cusanus der Erfindung einer neuen Art der Mathematik bei, die wir „theologische Mathematik“ nennen können. Es geht nicht darum die Theologie in eine mathematische Wissenschaft zu verwandeln (das wäre eine mathematische Theologie), sondern eine Disziplin zu entwickeln, in der man theologische Konzepte in der Mathematik anwendet. Man wird Beispiele für diesen Versuch finden, vor allem der Begriff der absoluten Gleichheit in De Aequalitate von 1459 und natürlich in der Quadratur des Kreises vom Juli 1450.
Literaturverzeichnis Kremer, Klaus: Der Begriff visio intellectualis in den cusanischen Schriften. In: Kremer, Klaus / Reinhardt, Klaus (Hgg.): Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 30. Die Sermones des Nikolaus von Kues. Merkmale und ihre Stellung innerhalb der mittelalterlichen Predigtkultur. Akten des Symposions in Trier vom 21. bis 23. Oktober 2004 (2005), 201-231. Hofmann, Joseph Ehrenfried: Über eine bisher unbekannte Vorform der Schrift De mathematica perfectione des Nikolaus von Kues. In: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 10 (1973), S. 13-57. Nicolle, Jean-Marie (ed.): Nicolas de Cues: Les écrits mathématiques. Paris 2007. Reinhardt, Klaus: Eine bisher unbekannte Handschrift mit Werken des Nikolaus von Kues in der Kapitelsbibliothek von Toledo. (Mit Transkription der Vorform von De mathematica perfectione). In: Haubst, Rudolf (Hg.): Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 17 (1986), 96-141. Schwaetzer, Harald: „visio intellectualis“ – Cusanus und Schelling. In: Reinhardt, Klaus / Schwaetzer, Harald (Hgg.): Nicolaus Cusanus und der deutsche Idealismus. Regensburg 2007, 87-101. Vansteenberghe, Edmond: Le Cardinal Nicolas de Cues (1401-1464). L'action - la pensée. Paris 1920 (Nachdruck Genf 1974).
JÜRGEN H. FRANZ
Der Technikbegriff des Nikolaus von Kues und seine Bedeutung für die Gegenwart 1
1 Einleitung Was ist Technik? Wer diese Frage nach der Technik stellt, denkt vermutlich zunächst an Martin Heidegger und an seinen 1953 an der Technischen Universität 2 München gehaltenen Vortrag Die Frage nach der Technik oder an Ernst Kapp, der in seinem 1877 publizierten Werk Grundlagen einer Philosophie der Technik den Begriff 3 der Technikphilosophie einführte , oder an die zunehmend technikkritischen Auseinandersetzungen zu Beginn des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert oder an die nahezu unüberschaubare große Vielfalt technikphilosophischer Publikationen der Gegenwart, insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An Nikolaus von Kues (Cusanus) wird man sicherlich bei der Frage nach der Technik oder dem Begriff der Technik zunächst nicht denken. Diese Frage im Hinblick auf Cusanus zu stellen ist ein Wagnis. Denn was kann man von einem mittelalterlichen Philosophen am Übergang zur Renaissance, der vor allem durch seine philosophisch-theologischen Schriften bekannt ist und als Kardinal umfangreiche Aufgaben im Dienste der Kirche zu leisten hatte, in puncto Technik schon erwarten? Das Wagnis vergrößert sich noch dadurch, dass der Begriff der Technik in seinen Werken an keiner Stelle vorkommt – was mittels moderner Software und Suchalgorithmen heute leicht geprüft werden kann –, sondern allein der Begriff der Kunst (ars) in seinen unterschiedlichen Facetten. Dennoch wird in dieser Arbeit dieses Wagnis eingegangen. Zielführend sind dabei die folgenden beiden Fragen: (1) Welchen Begriff der Technik oder welches Technikverständnis hatte Cusanus? (2) Welche Bedeutung haben sein Technikbegriff und die daraus ableitbaren Implikationen für die Gegenwart? Diese beiden Fragen werden thesenartig beantwortet. Als Antwort auf die erste Frage werden die folgenden beiden Thesen begründet: (1) Der Begriff der Technik ist bei Cusanus der Begriff der ars humana und als solcher ein Artbegriff des Gattungsbegriffs der Handlung. Technik ist ergo kein 4 Ding, sondern eine Form von Handlung. (2) Technik als Handlung ist bei Cusanus durch zumindest sechs Eigenschaften prädiziert. Technische Handlungen sind frei, kreativ, schöpferisch, erfinderisch,
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Die in diesem Aufsatz formulierten Ergebnisse gründen auf der Arbeit des interdisziplinären Arbeitskreises ,,Philosophie und Technik“ der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte, der im Oktober 2010 gegründet wurde und seitdem zweimonatlich tagt. Mitglieder dieses Arbeitskreises sind neben dem Autor Frau Bacher, Frau Fieseler, Herr Herbst, Herr Reiss, Frau Reuter, Herr Schwaetzer und Herr Vollet. 2 Heidegger: Die Frage nach der Technik. 3 Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik. 4 Die ars humana ist folglich stets eine Handlung, wohingegen eine Handlung nicht notwendig eine ars humana oder technische Handlung ist.
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nützlich und symbolisch, wobei letztere, im Gegensatz zum modernen Technikverständnis, die für Cusanus primäre ist. Die thesenartige Antwort auf die zweite Frage lautet: (3) Der cusanische Begriff der Technik erlaubt Implikationen, die von besonderer Aktualität sind, aber von Cusanus nur zum Teil bereits selbst formuliert wurden. Von aktueller Bedeutung sind insbesondere sein genuiner Ausweis von Technik als Handlung und seine Begründung der inhärenten Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschseins, welche die Notwendigkeit der Ambivalenz von Technik impliziert. Im weiteren Fortgang dieser Arbeit wird zunächst der Begriff der Technik im Sinne Cusanus als ars humana gedeutet und als eine Form von Handlung begründet (Kapitel 2). Anschließend werden die Eigenschaften des cusanischen Technikbegriffes aufgezeigt (Kapitel 3). Die daraus ableitbaren Implikationen werden schließlich in puncto ihrer Bedeutung für die Gegenwart geprüft und beurteilt (Kapitel 4). Dabei wird der Versuch unternommen, die allen technischen Handlungen inhärenten unerwünschten Technikfolgen auf die durch Cusanus begründete humane Unvollkommenheit und Endlichkeit als anthropologische Konstanten zurückzuführen. Die Arbeit schließt mit einem Fazit (Kapitel 5). Die Arbeit ist somit primär eine technikphilosophische und keine technikethische. Im Fokus stehen folglich der cusanische Technikbegriff, seine Prädikate und Implikationen, nicht aber die (moralischen) Regeln im Umgang mit Technik. Ebenso wenig ist die Arbeit eine historische, ingenieur- oder naturwissenschaftliche. Denn ihre Untersuchung richtet sich nicht auf die einzelnen Techniken des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Renaissance im Besonderen, sondern auf das Wesen der Technik und somit auf die Technik im Allgemeinen im Werk des Cusanus.
2 Technik als ars humana und als Handlung Steht man vor der Aufgabe, den Technikbegriff des Cusanus zu entfalten oder, wie man sprachphilosophisch sagen würde, zu analysieren, dann ist es naheliegend, diesen Begriff zunächst in seinem Werk aufzusuchen. Wie bereits einleitend erwähnt, schlägt dieser Schritt aber fehl, da Cusanus den Begriff der Technik (technica) nicht verwendet. Dieser Begriff geht auf den griechischen Begriff der techné zurück, der im weitesten Sinne als Kunstfertigkeit gedeutet werden kann und damit als eine Gabe etwas zu fertigen oder zu bilden. Zur techné gehörten in der Antike neben der handwerklichen Kunst, auch die Kunst der Staatsführung (Politik) und die Redekunst (Rhetorik). Sie repräsentiert nicht nur ein rein praktisches Können, sondern auch ein theoretisches. Sie ist somit eine bereits wissensgeleitete Kunstfertigkeit. Im Mittelalter und in der Renaissance wird diese Kunstfertigkeit mit dem lateinischen Wort ars (Kunst) bezeichnet. Dabei wurde der Begriff der ars ähnlich weit gefasst, wie der Begriff der techné in der Antike. Besonders deutlich wird dies im Werk des Cusanus. Dort findet sich die folgende Vielfalt unterschiedlicher ars-Begriffe: ars absoluta, ars calculatoria, ars coclearia, ars communis, ars creativa, ars creatix, ars decendi, ars divina, ars finita, ars generalis, ars humana, ars imitatoria, ars infinita, ars memorandi, ars naturalior faciliorque, ars naturam imitans, ars
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perfectoria, ars perspectiva, ars prima, ars humana dicendi, ars rhetorica, ars scri5 bendi, ars secunda, una ars scribendi, artes liberales, artes mechanicae. Entscheidend für die Frage nach der Technik ist die in dieser Auflistung genannte ars humana, die Kunst des Menschen. Aber auch diese ist bei Cusanus noch äußerst vielfältig. Denn sie schließt u.a. das Erfinden und Hervorbringen von künstlichen Formen oder Artefakten, also von materiellen Kunstprodukten, als auch die Erfindung von Mutmaßungen und Wissenschaften, also von geistigen Produkten, ein. Im Fokus dieser Arbeit steht derjenige Technikbegriff des Cusanus, der dem modernen Verständnis von Technik am nächsten kommt, nämlich das Erfinden und Hervorbringen von künstlichen Formen, Kunstprodukten oder Artefakten, wie beispielsweise der in Idiota de mente genannte Löffel des Löffelschnitzers. Der Löffel entsteht zunächst als Form, Idee oder Urbild im Geiste des Löffelschnitzers. Dieses geistige Urbild wird sodann durch die Bewegung des Schnitzmessers in den Stoff des Holzes überführt, sodass schließlich ein realer Löffel als physisches oder sinnenfälliges Abbild des geistigen Urbildes entsteht. Nicht anders werden heute im 21. Jahrhundert in den Ingenieurwissenschaften neue Produkte entwickelt. Auch sie entstehen zunächst als Ideen oder Urbilder im Geiste von Ingenieuren oder Technikern. Die physische Umsetzung dieser geistigen Ideen erfolgt dann im zweiten Schritt mit adäquaten Werkzeugen einerseits und passenden Materialien oder Stoffen andererseits. Im weitgefassten Sinne trifft dies auch auf komplexe Produkte wie Kraftwerke, Flugzeuge und Fernsehgeräte zu, auch wenn zum Hervorbringen dieser technischen Produkte die geistigen Urbilder mehrerer schöpferisch tätiger Ingenieure erst zu einem gemeinsamen geistigen Urbild vereint werden müssen. Aus diesen Überlegungen wird bereits deutlich, dass sich bei der ars humana stets zwei Aspekte vereinen: ein geistiger und ein physischer. Oder anders formuliert: Die ars humana setzt sich stets aus einer geistigen Aktivität und einer physischen Handlung zusammen. Beide bilden eine Einheit. Im ersten Schritt des mentalen Aktes erfolgt das Ausdenken oder das Bilden der Idee oder des Urbildes. Im zweiten Schritt wird durch 6 eine physische Handlung, wie das Bewegen des Schnitzmessers, das Urbild realisiert. Dass Cusanus Technik oder die ars humana als Handlung deutet, wird aus der Vielzahl von Verben deutlich (häufig substantiviert), mit denen er das Erfinden und Hervorbringen künstlicher Formen beschreibt. Hier eine Auswahl: Physische Handlungen: hervorbringen, zustandebringen, sinnenfällig machen, herausschnitzen, polieren, gestalten, erschaffen, schmieden, drehen, weben, drechseln und schmelzen. Mentale Akte: ausdenken, überlegen, beschließen. 5
Diese Liste ist sicherlich noch nicht vollständig. Für die Zielsetzung dieser Arbeit ist dies aber irrelevant. 6 Problematisch ist die Erklärung des Übergangs vom mentalen Akt zur physikalischen Bewegung und damit die Beantwortung der Frage, wie etwas Geistiges etwas Physikalisches, wie beispielsweise eine Körperbewegung, bewirken kann. In der Zeit von Cusanus stellte sich diese Frage noch nicht. Heute wird diese sehr umstrittene Problematik in der Philosophie des Geistes und in der Handlungstheorie thematisiert. Siehe z.B.: Franz: Geist und Handlung. Wilfrid Sellars' Theorie des Handelns im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild.
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Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass man die Kunst nicht mit dem Gegenstand der Kunst verwechselt. So ist die Kunst des Löffelsschnitzers die fachgerechte Tätigkeit des Schnitzens, der Gegenstand seiner Kunst ist der durch das Schnitzen hervorgebrachte Löffel und damit ein Produkt seiner Kunst oder kurz: ein Kunstprodukt oder Artefakt. Die Kunst ist eine Tätigkeit oder eine Handlung, die aber, so wie oben gezeigt wurde, nicht allein in der physischen Handlung besteht, dem Bewegen des Schnitzmessers, sondern auch aus einer vorausgehenden geistigen Aktivität, dem Erfinden des Löffels. Das Kunstprodukt ist dagegen ein sinnenfälliges Ding, zumindest bei den Kunstprodukten der Handwerker zur Zeit des Cusanus und der 7 Techniker und Ingenieure der heutigen Zeit. Indem Cusanus Technik nicht verdinglicht, sondern als Handlung begründet, erlangt er eine besondere Aktualität. Ingenieure und Techniker der Gegenwart planen, konzipieren, bearbeiten, entwerfen, konstruieren, realisieren und vieles andere mehr. Dies bedeutet, Ingenieure und Techniker handeln. Da dieses Handeln in aller Regel mittels Werkzeugen oder Geräten vollzogen wird, deuten Gethmann und Gethmann-Siefert Technik treffend 8 als gerätegestütztes Handeln. Dies hat Konsequenzen. Denn wenn Technik wesentlich eine Form von Handlung ist, Technik also Praxis ist, dann unterliegt technisches Handeln ebenso wie jedes andere menschliche Handeln moralischen Maßstäben und der Verantwortung. Technik ist folglich nicht nur Gegenstand der theoretischen Philosophie, die beispielsweise nach der Ontologie von Technik oder der Bedeutung von Technik fragt, sondern auch der praktischen Philosophie, insbesondere der Ethik im Allgemeinen und den angewandten Ethiken wie der Technikethik im Besonderen. Indem Cusanus die Technik bzw. die ars humana als Handlung begründet, legt er den Grundstein für eine moralische Auseinandersetzung mit technischen Handlungen. Er verortet damit die ars humana in den Raum der Werte und den Raum der Gründe. Der hartnäckigen Behauptung der Wertfreiheit technischer Handlungen wird damit der Grundstein entzogen. Menschliche Handlungen sind seit der Antike Gegenstand der praktischen und theoretischen Philosophie. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind menschliche Handlungen auch zunehmend Gegenstand philosophischer Handlungstheorien. In diesen Theorien ist zumeist der Begriff der Absicht ein Schlüsselbegriff, da er den (geistigen) Grund einer Handlung (nicht dessen kausale Ursache) offenlegt. Bedeutung erlangte dieser Begriff in den Handlungstheorien vor allem durch das Werk Intention von 9 Gertrude E. M. Anscombe. Auch bei Cusanus findet sich bereits der handlungstheoretische Begriff der Absicht, z.B. in De beryllo. Hier begründet er, dass ,,[...] das Geschöpf die Absicht des Schöpfers ist, und wir wollen betrachten, daß die Absicht seine wahrste Washeit ist. Denn, um ein Gleichnis zu verwenden, wenn jemand mit uns spricht und wir die Washeit der Rede erfas7
Da Cusanus den Begriff des Erfindens auch auf das Erfinden von Wissenschaften und Vermutungen ausdehnt, gibt es bei Cusanus auch geistige Kunstprodukte, die aber hier nicht weiter betrachtet werden. 8 Gethmann / Gethmann-Siefert: Ethische Probleme versus Technikfolgenabschätzung. In: Gethmann-Siefert / Gethmann (Hgg.): Philosophie und Technik. 9 Anscombe: Intention, dies.: Absicht.
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sen, erfassen wir nichts als die Absicht des Sprechenden. So, wenn wir durch die Sinne die sinnenfälligen Erkenntnisbilder schöpfen, vereinfachen wir sie soweit wie möglich, damit wir mit der Vernunft die Washeit der Sache sehen. Die Erkenntnisbilder vereinfachen heißt aber, die vergänglichen Akzidenzien entfernen, die nicht Washeit sein können, damit wir durch diskursive Überlegung in den genauen Vorstellungsbildern wie in der Rede oder Schrift zur Absicht der Schöpfervernunft gelangen. Dabei wissen wir, daß die Washeit jener Sache, die in jenen Zeichen und Figuren einer sinnenfälligen Sache wie in einer Schrift oder einer gesprochenen Rede enthalten ist, die Absicht der Vernunft ist, so daß das Sinnfällige gleichsam das Wort des Schöpfers ist, in welchem dessen Absicht enthalten ist; wenn wir sie erfaßt haben, wissen wir die Washeit und kommen zur Ruhe. Um der Absicht willen aber ist die Offenbarung, denn der Sprechende oder die Schöpfervernunft beabsichtigt, sich in bestimmter Weise zu offenbaren. Ist also die Absicht erfaßt, die die Washeit des Wortes ist, dann haben wir das Wesenswas. Denn das Wesenswas bei der Vernunft ist in der Absicht erfaßt, so wie in einem vollendetem Haus die 10 Absicht des Erbauers erfaßt ist, die bei seiner Vernunft war.“ Im Sprachgebrauch von Cusanus repräsentiert folglich die Absicht die Washeit einer Handlung. So kann beispielsweise ein Gruß durch verschiedene Körperbewegungen vollzogen werden, beispielsweise durch Heben eines Armes, Aufrichten des Zeigefingers oder Zwinkern mit den Augen. In der Begrifflichkeit von Cusanus sind dies Erkenntnisbilder, die nach Abzug aller Akzidenzien die geistige Absicht, den geistigen Grund oder die Washeit der Handlung freilegen oder offenbaren. Dies gilt uneingeschränkt auch für das schöpferische Handeln des Menschen und die Schöpfung Gottes. Die schöpferischen Werke des Menschen oder das Werk Gottes sind die Erkenntnisbilder, die den Weg zur Erkenntnis der Washeit öffnen, also zu den schöpferischen, geistigen Ideen des Menschen oder zum Urbild Gottes, sobald man die vielfältigen Akzidenzien entfernt hat. In puncto der schöpferischen Tätigkeit des Menschen kann hieraus die folgende These zusammengefasst werden. Die schöpferische, geistige Idee des Menschen und das sinnenfällige menschliche Werk stehen im gleichen kategorialen Verhältnis wie Washeit und Washeit plus Akzidenzien, oder wie Form und Form plus Materie (also die geformte Materie). Die Washeit repräsentiert folglich den Grund, die Absicht, die geistige Idee oder das geistige Urbild des hervorzubringenden Kunstproduktes. Mit der Rückführung der schöpferischen Handlung auf die Absicht des Schöpfers erweist sich daher Cusanus als ein Denker, der auch für moderne philosophische Handlungstheorien von Bedeutung ist.
3 Kennzeichen technischer Handlungen Was ist Technik? Im vorigen Kapitel wurde begründet, dass Cusanus Technik als Handlung deutet und somit den Begriff der Technik als einen Artbegriff unter den Gattungsbegriff der Handlung subsumiert. In diesem Kapitel wird nun weiterführend untersucht, welche Prädikate Cusanus der ars humana als technische Handlung zuweist. 10
Nikolaus von Kues: De beryllo c. XXXII (h ²XI/1 n. 54) (übers. Karl Bormann).
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3.1 Die Nützlichkeit der Technik Der Aspekt des Nutzens ist im modernen Sinne sicherlich das herausragende Kennzeichnen von Technik bzw. technischer Handlungen. Auch in den Werken von Cusanus spielt die Nützlichkeit der Technik und ihrer Produkte eine besondere Rolle, aber nicht die primäre, wie noch zu zeigen ist. Besonders deutlich wird der Aspekt der Nützlichkeit in seinem Compendium: ,,Jemandem, der dies alles betrachtet, wird offenbar, was in den mechanischen und freien Künsten und in der Ethik vom Menschen entdeckt wurde. Denn allein der Mensch hat entdeckt, wie eine brennende Kerze das Fehlen des Lichtes ausgleicht, so daß er sieht, und wie man bei schlechtem Sehen durch eine Brille abhilft, wie man optische Täuschungen durch die Kunst der Perspektive korrigiert, wie man rohe Speise dem Geschmack durch das Kochen anpaßt, üble Gerüche durch duftendes Räucherwerk vertreibt, die Kälte durch Kleider, Feuer und ein Haus, die Langsamkeit durch Fahrzeuge und Schiffe, die Verteidigung durch Waffen, das Gedächtnis durch Schriften und 11 die Kunst der Erinnerung unterstützt.“ Alle in diesem Zitat aufgeführten Kunstprodukte zeichnen sich wesentlich durch ihren Zweck oder ihre Funktion aus, welche die Washeit oder das Wesen des Produktes bestimmen. Daher kann Cusanus beispielsweise bezüglich des Produktes ,,Haus“ behaupten: ,,[Z]um wahren Sein des Hauses [also zum Haussein; jhf] ist es erforderlich, 12 daß es wegen des Zweckes, um dessentwillen es ist, sinnenfällig ist.“ Das Haus wird ergo gebaut, um darin zu wohnen. Das Wohnen ist der Zweck, das Haus das dazu adäquate Mittel. Das technische Handeln, welches das Haus hervorbringt, ist somit nützlich, da es dem Leben dient. Gleiches gilt für die Hervorbrin13 gung anderer künstlicher Produkte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Cusanus die durch die menschliche Kunst geschaffenen Kunstprodukte zumeist (aber nicht konsequent) als Mittel auszeichnet, nicht aber die Kunst selbst. Diese Unterscheidung gewinnt jedoch erst mit der Industrialisierung an Bedeutung. Denn mit der Gleichsetzung von menschlicher Kunst und Mittel, wird der Mensch selbst zum Mittel. Die unreflektierte Auflistung der Kunstprodukte im obigen Zitat aus dem Compendium verdeutlicht die noch völlig ungetrübte Faszination von Cusanus für die Technik. Es ist eine Faszination, die noch frei von jeglicher Technikkritik ist und frei 11
Nikolaus von Kues: Compendium, c. 6 (h XI/3 n. 18) (übers. Wilhelm Dupré). Decker / Bormann übersetzen den Begriff der mechanischen Künste im ersten Satz des Zitats mit handwerklichen Künsten; in: Nikolaus von Kues: Philosophisch-Theologische Werke. Band 4, Hamburg, Meiner, 2002. 12 Nikolaus von Kues: De beryllo c. 23 (h ²XI/1 n 56) (übers. Karl Bormann). 13 Z.B. ein Ofen zum Wärmen der Wohnung, eine Couch zum bequemen Sitzen, ein Auto oder Flugzeug zum schnellen Fortbewegen, ein Korkenzieher zum Weinflaschenöffnen und anderes mehr.
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von Debatten über unerwünschte Technikfolgen. Unglücke mit den von Cusanus genannten Fahrzeugen waren vermutlich Anlass zum Gespräch, wurden aber im Vergleich zur heutigen Zeit sicherlich noch nicht problematisiert oder gar philosophisch reflektiert. Die technische Verteidigung mit Waffen steht im obigen Zitat gleichrangig neben dem Nutzen der Fahrzeuge und dem Nutzen der Schrifttechnik. In diesem Zitat erscheint der Techniker, Handwerker oder menschliche Schöpfer in der Tat als derjenige, der einem Magier gleicht, der Menschen Glück und Wohlbefinden bringt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich des obigen Zitats mit einem verblüffend ähnlichen Zitat von Kenneth Alpern aus dem 20. Jahrhundert, in dem aber bereits eine ironische Technikkritik mitschwingt: ,,Es gibt eine Vorstellung vom Ingenieur, die bis vor kurzem sehr verbreitet war. In dieser Vorstellung erscheint der Ingenieur als Zauberer. Wenn Menschen einsam sind, erfinden die Ingenieure Telefone, Autos und Flugzeuge, um sie einander näher zu bringen. Wenn Menschen Hunger haben, produzieren Ingenieure Mähdrescher, Düngemittel und Pestizide, um ihnen zu essen zu geben. Wenn es Menschen an Behaglichkeit fehlt, entwickeln die Ingenieure Heizungen, Klimaanlagen und Schaumstoffe, um ihnen Komfort zu verschaffen. Wenn sich Menschen langweilen, erfinden die Ingenieure Kino, Fernsehen und Videospiele, um sie zu unterhalten. Kurz: Immer wenn Men14 schen ein Problem haben, werden es Ingenieure lösen.“ Sowohl beim Zitat von Cusanus als auch beim Zitat von Alpern fällt einem vielleicht der folgende unter Handwerken, Ingenieuren und Technikern bekannte Slogan ein: ,,Schwieriges erledigen wir sofort; Unmögliches dauert etwas länger.“ Besonders viele Beispiele der Nützlichkeit, insbesondere in puncto der aufstrebenden instrumentengestützten Naturwissenschaften, finden sich im Dialog Idiota de staticis experimentis, wie beispielsweise das folgende, das vom Auffinden des Mischungsverhältnisses von Metallen mittels einer Waage ohne vorgehendes Schmelzen berichtet. ,,So würde man also ohne Schmelzen der Masse und Trennung der Metalle ihre Mischung herausfinden. Eine solche Erfindung wäre wichtig, um beim Gold zu wissen, wieviel Kupfer dem Gold oder Silber beigemischt wäre. Laie: Sehr gut. Es wäre auch von großem Nutzen bezüglich der verworrenen Wer15 ke der Alchimie zu wissen, wie fern sie der Wahrheit sind.“ Dieses Zitat drückt ein sehr modernes Verhältnis von Technik und Wissenschaft aus. Denn die schöpferische, menschliche Kunst des Hervorbringens von Werkzeu14
Alpern: Ingenieure als moralische Helden. In: Lenk / Ropohl (Hgg.): Technik und Ethik, 177. 15 Nikolaus von Kues: De staticis experimentis (h ²V n. 171) (übers. Wilhelm Dupré). Aufschlussreich, aber im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart noch nicht näher philosophisch untersucht, sind auch die in diesem Werk aufgeführten allein mit der Waage durchgeführten medizinischen Experimente. Eine primär medizinisch, historische Untersuchung geben beispielsweise: Müller: Nikolaus von Kues und die Medizin; Fischer: Roger Bacon (1214-1292) und Nikolaus Cusanus (1401-1464) als Begründer chemischer und physikalischchemischer Methoden in der Medizin, und Lehne: Nikolaus Cusanus in medizinhistorischer Sicht.
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gen und Messinstrumenten – in der Moderne ist dies eine primäre Aufgabe der Technik – nützt nicht nur dem Alltagsleben, sondern vor allem auch der Wissenschaft und damit ihrem Ziel, der Erkenntnis der Wahrheit näher zu kommen. Als weiteres Beispiel seien hier noch die ,,Meßinstrumente für die Himmelsbewegungen, die aus dem menschlichen Geist hervorgehen“ 16 genannt. Die gegenseitige Befruchtung technikgestützter Experimente und Wissenschaften, die Cusanus hier beschreibt, gehört heute zum Forschungsalltag. Zur Zeit von Cusanus kommt diese heute nicht mehr wegzudenkende Verbindung von Technik, handwerklicher Kunst und Wissenschaft einem Paradigmenwechsel gleich. Naturwissenschaftliche Forschung mittels technikbasierter und instrumentengestützter Experimente ist in seiner Zeit etwas völlig Neues und markiert deutlich das Ende des Mittelalters, das wissenschaftlich auf die Scholastik und damit auf die Suche 17 nach der Wahrheit in den heiligen Schriften und nicht in der Natur begrenzt war. In der Renaissance gewinnt die Naturforschung mittels Experimenten zunehmend an Bedeutung und mündet mit dem 16. Jahrhundert in die modernen empirischen Naturwissenschaften. Zusammenfassend kann somit die These formuliert werden, dass der Nutzen ein wesentlicher Aspekt der Technik bei Cusanus ist, der aber noch nicht in Frage gestellt wird, während er heute bei vielen technischen Produkten angezweifelt und problematisiert wird. Der Aspekt des Nutzens ist allerdings im Sinne des cusanischen Technikverständnisses, wie in den folgenden Abschnitten begründet wird, gegenüber den weiteren Aspekten der Technik, insbesondere gegenüber dem schöpferischen, kreativen und symbolischen Aspekt, zweitrangig.
3.2 Das Schöpferische der Technik Technik ist eine menschliche Kunst (ars humana) und damit, wie bereits oben begründet wurde, eine Handlung. Im Falle des Löffelschnitzers im Werk Idiota de mente ist diese Kunst ein Handwerk, was nichts weiter besagt, als dass die dazugehörige Tätigkeit oder Handlung mit den Händen und mittels eines handgeführten Instruments, dem Schnitzmesser, verrichtet wird. Cusanus behauptet, dass alle(!) menschlichen Künste gewisse Abbilder der göttlichen Kunst sind, also auch die Handwerkskunst, wie die Kunst des Löffelschnitzens, die Kunst des Technikers und folglich die Kunst des Ingenieurs des 21. Jahrhunderts. ,,Und jetzt wende ich mich dieser Kunst des Löffelschnitzens zu. Und zuerst wisse, daß ich ohne Zögern behaupte, alle menschlichen Künste sind gewisse 18 Abbilder der unendlichen und göttlichen Kunst.“ 16
Nikolaus von Kues: De mente c.15 (h ²V n. 157) (übers. Renate Steiger). Die naturwissenschaftlichen Leistungen und Überlegungen des Cusanus werden beispielsweise reflektiert in: Reinhardt / Schwaetzer (Hgg.): Nicolaus Cusanus - Vordenker moderner Naturwissenschaft?, Schneider: Cusanus als Wegbereiter der neuzeitlichen Naturwissenschaft? und Nagel: Nikolaus Cusanus und die Entstehung der exakten Naturwissenschaften. 18 Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h V² n. 59) (übers. Renate Steiger). 17
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Unter der göttlichen Kunst ist hier die Schöpfungskunst Gottes zu verstehen, also seine Kunst, real Seiendes und damit die Welt zu schaffen. Wenn nun alle menschliche Kunst dieser göttlichen Kunst ähnlich ist, dann ist auch der Mensch, ebenso wie Gott, ein Schöpfer. Er ist eine Art zweiter Gott. In diesem Sinne kann Cusanus behaupten und begründen ,,[...] der Mensch sei ein zweiter Gott. Denn wie Gott Schöpfer der realen Seienden und natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner [jhf: menschlichen] Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind. Also hat der Mensch die Vernunft, die im Er19 schaffen Ähnlichkeit der göttlichen Vernunft ist.“ Die göttliche Kunst ist das Urbild, die menschliche Kunst ihr Abbild. Oder platonisch paraphrasiert: Die menschliche Kunst ist nicht identisch der göttlichen, sie hat aber an ihr Teil. So auch Cusanus: ,,Die Schöpfungskunst, die die glückselige Seele erlangen wird, ist nicht jene Kunst durch Wesenheit, welche Gott ist, sondern Gemeinschaft und Teilha20 be an dieser Kunst.“ Es besteht somit keine Gleichheit, sondern eine Ähnlichkeit. Während der menschliche Geist Schöpfer der künstlichen Dinge ist, so ist der unendliche, göttliche Geist Schöpfer und Urbild aller natürlichen Dinge. Sowohl Gott als auch der Mensch schaffen mit ihrer Schöpfungskunst etwas Neues. Auch hierin besteht eine Ähnlichkeit. Die Schöpfung von Neuem wird bereits am einfachen Beispiel des Löffels ersichtlich: ,,Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. Denn wenn auch ein Bildhauer oder ein Maler die Urbilder von den Dingen hernimmt, die nachzuahmen er sich müht, so tue ich das doch nicht, der ich aus Hölzern Löffel und Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe. Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten und ist darin der 21 unendlichen Kunst ähnlicher.“ Deutlich wird in diesem Zitat erneut die Urbild-Abbild-These. So wie im Geiste Gottes das Urbild von allem real Seienden existiert, so sind im Geist des Menschen die Urbilder aller seiner Schöpfungen, ergo aller seiner Erfindungen, wie beispiels22 weise das geistige Urbild des Löffels. Das Urbild-Abbild-Verhältnis besteht aber auch zwischen dem göttlichen Geist und dem menschlichen Geist, denn der men19
Nikolaus von Kues: De beryllo c. 6 (h ²XI/1 n. 7) (übers. Karl Bormann). Nikolaus von Kues: De ludo globi II (h IX n. 102) (übers. Gerda von Bredow). 21 Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 62) (übers. Renate Steiger). 22 Als weiteres Beispiel seien hier erneut die bereits oben zitierten ,,Meßinstrumente für die Himmelsbewegungen, die aus dem menschlichen Geist hervorgehen“ genannt, die für die aufstrebenden technikbasierten Naturwissenschaften der Renaissance von paradigmatischer Bedeutung sind. Auch sie haben ihr Urbild im menschlichen Geiste und sind ergo gleichfalls genuine Schöpfungen oder Erfindungen des Menschen. 20
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schliche Geist ist als Schöpfungsprodukt Gottes ein Abbild des göttlichen Geistes. Somit haben wir eine zumindest dreifache Urbild-Abbild-Relation: (i) Der menschliche Geist ist Abbild des göttlichen Geistes. Daher ist die menschliche Schöpfungskunst ein Abbild des göttlichen Schöpfungsaktes. (ii) Die Schöpfung Gottes ist Abbild des Urbildes im Geiste Gottes. (iii) Die Schöpfungsprodukte des Menschen sind Abbilder ihrer Urbilder im menschlichen Geist. Zusammenfassend kann damit das Schöpferische als ein weiteres Wesensmerkmal des cusanischen Technikbegriffes aufgeführt werden.
3.3 Die Kreativität und Freiheit des technischen Handelns Der menschliche Geist ist, so begründet Cusanus, Abbild des göttlichen Geistes. Dieses Abbild ist aber kein statisches, sondern ein dynamisches oder lebendiges (imago dei viva). Aufgrund dessen kann der Mensch in ähnlicher Weise schöpferisch tätig sein, wie Gott. Lebendiges Abbild bedeutet aber vor Allem, dass der Mensch in seinen Handlungen im Allgemeinen und in seinen schöpferischen oder technischen Handlungen im Besonderen frei ist. 23 ,,Darum heißt, tätig zu sein gemäß dem Intellekt, in Freiheit zu sein.“ Freiheit im Handeln gründet in der Freiheit der Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption und somit in der Freiheit zu wählen. Es ist eine Freiheit, die dem Menschen, so die theologische Begründung durch Cusanus, durch Gott, der die 24 Freiheit selbst ist, gegeben wurde. ,,Und weil Du dies in meine Freiheit gelegt hast, zwingst Du mich nicht, 25 sondern erwartest, daß ich wähle, mir selbst zu eigen zu sein.“ Die Freiheit zu wählen und zu entscheiden ist eine Freiheit entweder dieses oder jenes zu wollen. ,,Ein jeder Mensch hat nämlich die freie Entscheidung, d.h. zu wollen und 26 nicht zu wollen [...].“ Diese Freiheit ermöglicht dem schöpferisch tätigen Menschen künstliche Produkte zu schaffen, die kein anderer schafft, ,,weil jeder Mensch frei ist, nachzudenken über was immer er wollen mag, 27 entsprechend zu überlegen und zu beschließen.“ Die Freiheit der Entscheidung für oder wider eine Handlungsoption (Handlungsfreiheit) setzt wiederum die Willensfreiheit oder den freien Willen voraus, dessen Kraft (Willenskraft) der Mensch, so die theologische Interpretation von Cusanus, 23
Nikolaus von Kues: Sermo CLXIX n. 2 (übers. Klaus Reinhard und Harald Schwaetzer). ,,Aber gerade weil wir Deine Kinder sind, Vater, der Du die Freiheit selbst bist, läßt Du uns wegen der uns geschenkten Freiheit gleichwohl weggehen [...].“ In: Nikolaus von Kues: De visione Dei c. 8 (h VI n. 28) (übers. Wilhelm Dupré). 25 Nikolaus von Kues: De visione Dei c. 8 (h VI n. 25) (übers. Wilhelm Dupré). 26 Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 58) (übers. Gerda von Bredow). 27 Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 34) (übers. Gerda von Bredow). Siehe auch n. 44 (,,freie Fähigkeit zum Entwerfen“). 24
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gleichfalls von Gott erhält. Es ist die Freiheit des Willens und somit die menschliche Freiheit dieses oder jenes zu wollen oder nicht zu wollen, die im cusanischen Sinne das freie, schöpferische und kreative Handeln allererst ermöglicht und die Gottähnlichkeit des Menschen begründet. ,,Diese Kraft, die ich von Dir erhalten habe und in der ich ein lebendiges Bild 28 der Kraft deiner Allmacht besitze, ist der freie Wille [...].“ Als lebendiges Abbild besitzt der menschliche Geist folglich die Kraft zu urteilen und frei zu entscheiden, also zwei Fähigkeiten, die auch bei technischen Handlungen, wie der Erfindung von Neuem, von maßgebender Bedeutung sind. Die cusanische These, dass alle menschlichen Handlungen auf Freiheit gründen und demzufolge auch alle technischen Handlungen des Menschen und die mit ihr verknüpften Entscheidungen, weist erneut auf die Aktualität seines Technikbegriffes hin. Denn diese These greift unmittelbar in eine aktuelle Frage der Technikdebatte ein, ob nämlich technische Handlungen quasi naturgesetzlich-determiniert einem Automatismus gehorchen und somit wertfrei sind oder ob sie ebenso wie Alltagshandlungen Wertmaßstäben unterliegen, wie immer auch diese Wertmaßstäbe begründet sein mögen (siehe unten). Die Freiheit des Menschen in puncto seiner Handlungen und Entscheidungen wird von Cusanus in seinem Gesamtwerk immer wieder betont. Die beiden folgen29 den kurzen Zitate geben hierzu ein weiteres Beispiel: ,,Jener Urgrund [Gott; jhf] aber, da er als Urgrund, vor dem es keinen weiteren Urgrund gibt, nicht von einem anderen bestimmt wurde, war und ist frei, zu schaffen und nicht zu schaffen, wie auch die vernunftbegabte Natur [der 30 Mensch; jhf] in ihrer Tätigkeit frei ist.“ ,,Es ist jedoch nicht zu vernachlässigen, dass die Willensfreiheit im Geist ist, damit der Geist in sich das Prinzip seiner Handlungen hat und seine Werke be31 herrscht [...]. Er besitzt die Freiheit, weil er als Abbild Gottes geschaffen ist.“ Beide Zitate bestätigen, dass der Grund der menschlichen Freiheit in puncto seiner Tätigkeiten und seines Schaffens in der entsprechenden Freiheit Gottes liegt. Im zweiten Zitat kann zwischen den Zeilen bereits das Problem der Verantwortung des menschlichen Schöpfers bezüglich seiner Werke herausgelesen werden, obgleich Cusanus die Verantwortungsproblematik technischer Handlungen noch nicht thematisiert. Es wird aber deutlich, dass Cusanus in die Freiheit des Menschen, z.B. beim Hervorbringen neuer Produkte oder Werke, auch die Beherrschung dieser Werke einbindet.
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Nikolaus von Kues: De visione Dei c.4 (h VI n. 11) (übers. Wilhelm Dupré). Auf diese Zitate wurde ich durch einen von Isabelle Mandrella erstellten Reader aufmerksam, der dem Arbeitskreis ,,Praktische Philosophie“ der Gesellschaft für Philosophie des Mittelalters und der Renaissance als Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Thema ,,Die praktische Philosophie des Nicolaus Cusanus“ diente. Diese Auseinandersetzung wurde im Rahmen eines von Isabelle Mandrella organisierten und moderierten Arbeitskreistreffens in Bernkastel-Kues am 17./18. März 2011 geführt. 30 Nikolaus von Kues: Cribratio Alkorani II (h XIV n. 90) (übers. Ludwig Hagemann und Reinhold Glei). 31 Nikolaus von Kues: Sermo CCLI n. 15 (übers. Isabelle Mandrella). 29
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Die Lebendigkeit des menschlichen Geistes als Abbild des lebendigen Geistes Gottes gibt dem Menschen die Freiheit schöpferisch tätig zu werden. Die Freiheit zur Schöpfung (creatio) ist gleichbedeutend mit einer Freiheit zur Kreativität. Schöpferisch tätig sein bedeutet somit kreativ zu sein. In dieser freien schöpferischen oder 32 kreativen Tätigkeit gründet nach Cusanus die Gottähnlichkeit des Menschen. Die Freiheit des Menschen ist die Grundvoraussetzung für sein schöpferisches, kreatives Handeln. Sie ist, in der Begrifflichkeit Kants gesprochen, die Bedingung zur Möglichkeit schöpferischer, kreativer Kunst. Sie ist somit ihre transzendentale Bedingung. Sie ist aber auch gleichermaßen Bedingung zur Möglichkeit des Missbrauchs der schöpferischen, kreativen Kunst, was allerdings durch Cusanus, als Kind seiner Zeit, noch nicht problematisiert wurde. Cusanus erkennt aber bereits, dass die durch Gott gegebene Freiheit dem Menschen zwar die Möglichkeit gibt, Grenzen in puncto seiner technischen Handlungen und seiner Werke zu setzen, aber auch die Möglichkeit, diese Grenzen zu übersteigen und folglich alles zu schaffen was er nur will. ,,Der menschliche Geist, der ein Bild des absoluten Geistes ist, setzt in seiner menschlichen Freiheit allen Dingen in seinem Denken Grenzen, weil der Geist mit seinen Begriffen alles ausmißt. Er setzt eine Grenze für die Linien, macht sie lang oder kurz, und setzt so viele Begrenzungspunkte in ihnen, wie er will. Und was immer er sich vornimmt zu tun, das umgrenzt er zunächst in sich und ist die Begrenzung aller seiner Werke. Alles, was er schafft, begrenzt ihn dabei nicht in seiner Möglichkeit, noch mehr zu schaffen. Er ist in seiner 33 Weise eine Grenze ohne Grenze.“ Zusammenfassend folgt, dass Freiheit und Kreativität zwei essentielle Prädikate des cusanischen Verständnisses von Technik sind. Der Freiheitsbegriff von Cusanus schließt dabei sowohl die ,,Freiheit für ...“ als auch die ,,Freiheit von ...“ ein und somit insbesondere die Freiheit für bestimmte Handlungsoptionen (Handlungsfreiheit) sowie die Freiheit von naturgesetzlicher Determiniertheit (Willensfreiheit, vgl. Abs. 4.1).
3.4 Technik als Erfindung Technische Handlungen im Sinne der ars humana zeichnen sich bei Cusanus durch das schöpferische Hervorbringen von Neuem aus. Dieses Neue entsteht zunächst als Idee oder Urbild im menschlichen Geiste. Anschließend folgt die Willensentscheidung oder der Beschluss, diese Idee sinnenfällig zu machen. Dies geschieht im dritten und letzten Schritt durch eine physikalische Handlung, wie beispielsweise die Bewegung des Schnitzmessers, um einem Stück Holz die Form des Löffels zu geben. Alle drei Schritte bilden einen gemeinsamen Prozess oder eine einheitliche Hand32
Dass der Mensch Gott nur ähnlich ist, impliziert, dass seine Schöpfungen nicht von der Genauigkeit sein können wie die Schöpfungen Gottes. Die absolute Genauigkeit gibt es nach Cusanus nur bei Gott. Menschliche Schöpfungen sind also notwendig von Ungenauigkeiten geprägt. Unerwünschte und zum Teil katastrophale Technikfolgen, wie sie heute vielfältig bekannt sind, finden hierin ihren philosophisch-theologischen Grund (siehe Kapitel 4). 33 Nikolaus von Kues: De venatione sapientiae c. 28n (h XII n. 82) (übers. Karl Bormann).
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lung, die sich aus einer mentalen Aktivität und einer physikalischen Handlung zusammensetzt (vgl. Kapitel 2). Den mentalen Akt des Ausdenkens der Idee, des Urbildes oder der Form bezeichnet Cusanus als Erfinden, was durchaus dem heutigen Sprachgebrauch gleichkommt. Die Erfindung von Neuem (inventio novi) ist aber bei Cusanus nicht auf die Erfindung von künstlichen Formen oder Artefakten begrenzt, sondern schließt die Erfindung neuer Künste und Wissenschaften sowie die Erfindung von Mutmaßungen ein. In diesem Sinne sind die Mathematik, die Medizin aber auch die Ethik Erfindungen des Menschen, innerhalb dessen weitere Erfindungen möglich sind. Der Mensch erfindet somit Produkte und Wissenschaften, also 34 Materielles und Geistiges. Im Fokus dieser Arbeit stehen aber die mechanischen oder technischen Künste, deren Leistung das Erfinden und Hervorbringen neuer technischer Produkte oder Artefakte ist. Die Erfindung neuer technischer Produkte, wozu im weiteren Sinne auch die Erfindung eines neuen Spiels und seiner Regeln gehört, ist folglich nach Cusanus ein zunächst rein geistiger Prozess, der im Nachdenken, Überlegen und Beschließen besteht. ,,Denn als ich dieses Spiel erfand, dachte ich nach, überlegte und beschloß ich, was ein anderer nicht ausdachte, überlegte und beschloß, weil jeder Mensch frei ist, nachzudenken über was immer er wollen mag, entsprechend zu überlegen und zu beschließen. Deshalb denken nicht alle sich dasselbe aus, 35 da jedermann seinen eigenen freien Geist hat.“ Vergleicht man diese cusanischen Überlegungen mit modernen handlungs- und geistesphilosophischen Überlegungen, so erweist sich sein Ansatz als erstaunlich aktuell, obgleich eine heute besonders strittig diskutierte Frage ihm wohl noch nicht bewusst war: Wie vermag etwas rein Geistiges, wie das Ausdenken, Überlegen und Beschließen, etwas Physikalisches bewirken, nämlich die sinnenfällige Handlung 36 oder die sinnenfällige Herstellung eines Werkes? Auch die Begrifflichkeit ist in der Gegenwartsliteratur teilweise eine andere. Statt Ausdenken, Überlegen und Beschließen werden heute vielfach die handlungs- und geistesphilosophischen Begriffe Denken, Absicht und Wille verwendet. Der geistige Vorgang der Erfindung beginnt mit einem Ausdenken oder Bilden von Ideen oder Urbildern. Dieses Bilden fasst Cusanus selbst wieder als eine Kunst auf. ,,Der Geist nämlich, der in sich selbst die freie Fähigkeit besitzt, Grundgedanken zu fassen, hat in sich die Kunst gefunden, die Grundgedanken auszubreiten. Diese Kunst heiße nun Meisterschaft des Bildens. Sie ist den Töpfern, den Bildhauern, den Malern, den Drehern, den Schmieden, Webern 37 und ähnlichen Künstlern eigen.“ Die beiden obigen Zitate verdeutlichen erneut den gewichtigen Aspekt der Freiheit. Der Mensch ist in seinem Akt der Erfindung und damit des Bildens von Gedanken, die zu Ideen und Urbildern führen, frei. Daher, so folgert Cusanus korrekt, ,,denken 34
Vgl. Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 28) und II (h IX n. 93). Ebd. I (h IX n. 34) (übers. Gerda von Bredow). 36 Vgl. Fußnote 6 oben. 37 Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 44) (übers. Wilhelm Dupré). 35
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sich nicht alle dasselbe aus“. Hieraus folgt eine Konsequenz, die Cusanus noch nicht bedachte oder ihm aufgrund seiner philosophisch-theologischen Zielsetzung nicht bedenkenswürdig erschien und die erst vierhundert Jahre später mit der Industrialisierung ins Blickfeld rückte, nämlich dass Erfindungen einerseits untereinander in Konkurrenz und im Wettbewerb stehen und andererseits wirtschaftlichen und politischen Interessen unterworfen sind. Dass es sich beim geistigen Akt des Erfindens in der Tat um die Erfindung von etwas Neuem handelt und nicht bloß um Nachahmung von bereits Vorhandenem, wird im folgenden Zitat deutlich. ,,Der Löffel hat außer der von unserem Geist geschaffenen Idee kein anderes Urbild. Denn wenn auch ein Bildhauer oder ein Maler die Urbilder von den Dingen hernimmt, die nachzuahmen er sich müht, so tue ich das doch nicht, der ich aus Hölzern Löffel und Schalen und Töpfe aus Ton hervorbringe. Dabei ahme ich nämlich nicht die Gestalt irgendeines Naturdinges nach. Solche Formen von Löffeln, Schalen und Töpfen kommen nämlich nur durch menschliche Kunst zustande. Daher besteht meine Kunst mehr im Zustandebringen als im Nachahmen geschöpflicher Gestalten und ist darin der 38 unendlichen Kunst ähnlicher.“ Die Idee in unserem Geist ist das Urbild unseres Schöpfungs- oder Kunstproduktes und zwar eines Produktes, das es in der Natur so noch nicht gibt. So wurzeln nicht nur die Idee des Löffels, sondern auch die Urbilder der vielfältigen Instrumente, mit denen der Mensch sich messend der Erkenntnis der Natur nähert, ausschließlich im menschlichen Geist. Denn die ,,Erfinder schufen dies auch nicht aus etwas Äußerlichem, sondern aus dem 39 eigenen Geist. Im sinnlichen Stoff entfalteten sie ihren Gedankenentwurf.“ Die menschliche Schöpfungskunst bringt folglich etwas Neues hervor und ahmt die Natur nicht bloß nach, wie beispielsweise die mittelalterlichen Maler oder Bildhauer. Letztere werden auch von Platon mit dem Urteil kritisiert, dass sie nur Nachahmungen von Nachahmungen bilden, da bereits die Naturdinge nur Nachahmungen oder Abbilder der entsprechenden (göttlichen) Ideen sind. Maler und Bildhauer sind folglich noch eine Stufe weiter von der Wahrheit oder der Idee entfernt, als diejenigen, die in den Naturdingen nach der Wahrheit suchen. Im ähnlichen Sinne ist bei Cusanus die menschliche Kunst, die aus Ideen etwas Neues hervorbringt, der unendlichen Kunst Gottes näher, als die bloße Nachahmung der göttlichen Schöpfungsprodukte durch die Bildhauer und Maler. Der schöpferisch und erfinderisch tätige Mensch erweist sich somit auch hier als eine Art zweiter Gott. Zusammenfassend ist somit der Aspekt der Erfindung von Neuem gleichfalls ein Wesensmerkmal des cusanischen Technikverständnisses und zwar ein Aspekt, der insbesondere den geistigen Prozessanteil der Hervorbringung neuer Artefakte betont.
38 39
Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 62) (übers. Renate Steiger). Nikolaus von Kues: De ludo globi II (h IX n. 94) (übers. Wilhelm Dupré).
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3.5 Die Symbolik der Technik Die primäre Bedeutung der Technik im modernen Sinne ist die ihr zugeschriebene Nützlichkeit in Bezug auf das menschliche Leben und vielleicht mehr noch in puncto des Wachstums der Wirtschaft. Technik erleichtert das Leben des Menschen und ermöglicht ihm einen gewissen Lebensstandard und Wohlstand. Dass diese Nützlichkeitsbehauptung nicht allgemein zutreffend ist, ist heute hinlänglich bekannt und zudem von der Beantwortung einer Reihe von Fragen abhängig, beispielsweise was Nützlichkeit ist, worauf die Nützlichkeit für den Menschen gründet, nach welchen Kriterien die Nützlichkeit beurteilt werden kann, wie diese Kriterien wiederum begründet sind, wonach sich der Lebensstandard bemisst und so fort. Nützlichkeit ist im 21. Jahrhundert kein allgemeines Merkmal von Technik mehr, sondern ein partikuläres. Zur Zeit von Cusanus waren die heute allgegenwärtigen, unerwünschten Technikfolgen, die ebenso zur Technik gehören, wie der ihr zugeschriebene Nutzen, noch nicht in dem Ausmaße bekannt, wie sie heute allgegenwärtig sind. Es gab sicherlich schon technikbedingte Schiffuntergänge, Unfälle mit den von Cusanus genannten Fahrzeugen und auch Verletzungen im Umgang mit der Technik. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der cusanische Löffelschnitzer im Werk Idiota de mente, trotz seiner brillanten handwerklichen Fähigkeiten, sich hin und wieder mit seinem Schnitzwerkzeug, das gleichfalls eine Erfindung des Menschen ist, in den Finger ritzte. Technikkatastrophen, wie sie seit der Industrialisierung bekannt sind, gab es 40 im Zeitalter des Cusanus allerdings noch nicht. Cusanus war vom Nutzen der Technik überzeugt und zwar nicht nur für friedliche Zwecke, sondern auch in Form der ,,Verteidigung mit Waffen“ wie das obige Zitat aus dem Compendium belegt (Abs. 3.1). Doch sind für ihn sowohl dieser Aspekt der Nützlichkeit von Technik als auch die in den bisherigen Abschnitten abgeleiteten Merkmale von Technik nebensächlich. Denn der eigentliche ,,Nutzen“ der Technik liegt nach Cusanus nicht im Hervorbringen von künstlichen Formen oder technischen Artefakten, die dem Leben des Menschen oder seiner Verteidigung dienlich sind, sondern in ihrer Symbolik. Es ist ein Wesensmerkmal von Technik, das dem heutigen, modernen Technikverständnis völlig fremd ist. Es bedarf daher einer zumindest kurzen Erläuterung. Nach Cusanus hat Gott die Welt so geschaffen, dass der Mensch in ihr offenbarte Zeichen erkennen kann, um ausgehend von ihnen den Weg zur Erkenntnis oder zur geistigen Schau Gottes zu beschreiten. Dieser Weg beginnt mit der Wahrnehmung der offenbarten, natürlichen Zeichen mittels unserer Sinne (sensus), geht wei40
Hier nur ein paar wenige Beispiele zur Erinnerung: Untergang der Titanic (1912), Explosion der Hindenburg (1937), Chemieunfall in Bitterfeld (1968), Brückeneinsturz in Koblenz (1971), Chemieunfall in Bhopal (1984), Explosion der Challenger (1986), Reaktorunglück von Tschernobyl (1986), Unglück bei Flugvorführung in Ramstein (1988), Untergang der Estonia (1994), ICE-Unglück bei Eschede (1998), Brand im Mont-Blanc-Tunnel (1999), Absturz der Concorde auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle (2000), Reaktorunglück in Fukishima (2011).
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ter über den Verstand (ratio), der diese Zeichen vergleicht und ordnet, und dann über die urteilende Vernunft (intellectus) hin zur nichtbegrifflichen geistigen Schau 41 Gottes (deus). Cusanus selbst verwendet in seinem Werk ebenfalls wieder Zeichen, Gleichnisse oder Symbole, um zu demonstrieren, wie der Mensch ausgehend von diesen in der Stufenfolge sensus – ratio – intellectus – deus zur nichtbegrifflichen Schau Gottes gelangen kann. Cusanus bedient sich bevorzugt mathematischer Symbole oder Zeichen, da diese vom menschlichen Verstand selbst gebildet werden und von denen folglich der Mensch eine genauere Erkenntnis hat als von den sinnenfälligen natürlichen Zeichen. Der Weg zu Gott über die Mathematik überspringt somit die Stufe der Sinne und beginnt bereits bei der Stufe des Verstandes. ,,Da uns zu den göttlichen Dingen nur der Zugang durch Symbole als Weg offensteht, so ist es recht passend, wenn wir uns wegen ihrer unverrückbaren 42 Sicherheit mathematischer Symbole bedienen.“ Andere Symbole, die Cusanus in seinem Werk zur Demonstration des Aufstiegs zur Schau Gottes heranzieht, sind zum Beispiel der Beryll im gleichnamigen Werk Beryll, das Kugelspiel im Werk Dialogus de ludo globi oder die von einem Kosmographen erstellte Karte im Compendium. Cusanus bezeichnet diese Ausgangspunkte nicht 43 immer als Symbol, sondern auch als Gleichnis, Mittel oder Beispiel. Sie alle ,,wollen nur als Anleitung verstanden sein, deren richtige Anwendung im Übersteigen liegt, das die Anschaulichkeit hinter sich läßt und den Leser 44 freimacht zum Aufstieg zur einfachen geistigen Schau.“ Auch die Technik ist als ars humana ein solches Symbol. Denn indem der Mensch technisch oder künstlerisch und damit schöpferisch tätig ist, wird er sich als Ebenbild Gottes bewusst. Denn da der menschliche Geist ein Abbild des Geistes Gottes ist, ähnelt seine schöpferische Tätigkeit derjenigen Gottes. Sobald die eigene schöpferische Tätigkeit als Symbol der göttlichen Schöpfung erkannt ist, kann der stufenweise Weg hin zur Schau Gottes beginnen. Der Löffelschnitzer im Werk Idiota de mente ist ein solcher Mensch. Er hat die Symbolik seiner Kunst des Löffelschnitzens erkannt und erläutert nun als wahrer Weiser einem bloß durch Bücher gebildeten Philoso-
41
Die philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit dem möglichen Aufstieg des Menschen zur geistigen Schau Gottes wird im Werk von Cusanus immer wieder aufs Neue und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus geführt. Sie gehört zu seinen sich selbst auferlegten Herausforderungen. Diese in der hier gewählten Kürze wiederzugeben ist sicherlich ungebührend, aber für die Zielsetzung dieser Arbeit, nämlich die Analyse des cusanischen Technikbegriffs, völlig hinreichend. In puncto seiner philosophisch-theologischen Auseinandersetzung sei auf die bereits außerordentlich umfangreiche Forschungsliteratur verwiesen. Eine Übersicht findet sich beispielsweise über das Cusanus Portal www.cusanus-portal.de. 42 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia I c. 11 (h I n. 32) (übers. Paul Wilpert und Hans Gerhard Senger). 43 Z.B. in De ludo globi I (h IX n. 44 und n. 45) (Gleichnis, Mittel, Beispiel), Compendium c. 8 (h XI/3 n. 22 und n. 23) (Gleichnis), De docta ignorantia I c. 12 (h I n. 33) (Beispiel, Symbol). 44 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia I c. 2 (h I n. 8) (übers. Paul Wilpert und Hans Gerhard Senger).
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phen, wie man ausgehend vom Löffelschnitzen schrittweise zur Wahrheit und somit zu Gott fortschreiten kann. ,,Laie: Ich will Beispiele mit Symbolcharakter anwenden, die aus der Kunst des Löffelschnitzens genommen sind, damit das, was ich sagen will, anschau45 licher werde.“ Wie der vom Löffelschnitzen ausgehende Aufstieg zur Schau Gottes verläuft, ist aus technikphilosophischer Sicht nebensächlich. In dieser Hinsicht ist vielmehr das folgende Ergebnis relevant: Technik im Sinne von Cusanus ist symbolisch. Dieses Wesensmerkmal von Technik ist für Cusanus sicherlich das bedeutendste. Während das Merkmal der Nützlichkeit bloß nach unten führt – das vom menschlichen Geist erdachte Urbild eines Löffels wird in einen sinnenfälligen, materiellen Löffel überführt – führt das Wesensmerkmal der Symbolik nach oben, nämlich von der Bewegung des Schnitzmessers über die mentalen Tätigkeiten des Verstandes und der Vernunft zur geistigen Schau Gottes. Diese beiden in zwei unterschiedliche Richtungen verlaufenden Wege können vielleicht treffend als ,,Technik nach unten“ und 46 ,,Technik nach oben“ tituliert werden. Häufig stehen beide Aspekte bei Cusanus in einem engen Zusammenhang, wie beispielsweise im folgenden Zitat: ,,Darüber hinaus zieht die Verstandeskraft aus allen diesen sinnenfälligen Erkenntnisbildern die Erkenntnisbilder der verschiedenen Künste hervor. Durch sie schafft der Mensch einen Ausgleich für die Mängel in seiner Sinneswahrnehmung und an seinen Gliedmaßen und für Krankheiten [der nützliche Aspekt der ars humana; jhf]. Und mit ihrer Hilfe wird er fähig, den schädlichen körperlichen Einwirkungen Widerstand zu leisten, die Unwissenheit und die Trägheit des Geistes zu beseitigen und ihn zu fördern, daß er Fortschritte mache und der Mensch ein Betrachter des göttlichen werde“ [der 47 symbolische Aspekt der ars humana; jhf]. Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass die Symbolik nicht nur ein weiteres essentielles Merkmal des cusanischen Technikbegriffes ist, sondern dass sie das über alle anderen Merkmale herausragende Technikprädikat ist, da sie den Aufstieg zur Schau Gottes ermöglicht.
45
Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 61 und n. 62) (übers. Wilhelm Dupré). Renate Steiger übers. wie folgt: ,,Laie: Ich will also aus dieser Löffelschnitzkunst symbolische Beispiele beibringen, damit sinnenfälliger wird, was ich sagen will.“ 46 Die beiden Bezeichnungen ,,Technik nach unten“ und ,,Technik nach oben“ habe ich einem Vortrag von Harald Schwaetzer zum Thema ,,Die Bedeutung der Malerei für das Technikverständnis des Nikolaus von Kues“ entnommen, den er im Rahmen des Arbeitskreises ,,Philosophie und Technik“ am 1. April 2011 in der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues hielt. 47 Nikolaus von Kues: Compendium c. 6 (h XI/3 n. 17) (übers. Bruno Decker und Karl Bormann). Der in diesem Zitat aufgeführte Ausgleich an Mängeln in den Gliedmaßen erinnert an Gehlens Deutung der Technik als Organersatz oder Organverlängerung also als Mittel zur Steigerung menschlicher Kräfte.
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3.6 Zwischenfazit Der cusanische Begriff der Technik ist umfangreicher oder extensiver als der Technikbegriff im heutigen, modernen Sinne, der vornehmlich auf den Aspekt der Nützlichkeit reduziert ist. Neben der Nützlichkeit betont der cusanische Begriff der Technik auch das Schöpferische, Erfinderische und Kreative. Cusanus begreift Technik zudem als eine menschliche Kunst (ars humana) und damit als eine menschliche Handlung, die nicht naturgesetzlich, sondern in Freiheit ausgeführt wird (vgl. Abs. 4.1). Während das Schöpferische, Erfinderische und Kreative im heutigen Technikverständnis zum Zwecke des Nutzens für das menschliche Leben und das Wirtschaftswachstum instrumentalisiert werden und somit im Schatten der Nützlichkeit stehen, sind diese Technikaspekte bei Cusanus im weitesten Sinne gleichgewichtig. Dies gilt jedoch nicht für den Aspekt der Symbolik. Denn in diesem Aspekt liegt nach Cusanus die primäre Bedeutung von Technik. Der Symbolcharakter der Technik rückt daher alle anderen Aspekte gleichfalls in den Schatten bzw. macht sie für die Symbolik dienstbar. Während also bei Cusanus das Schöpferische, Kreative und Erfinderische vor allem der Symbolik bzw. dem Aufstieg zur geistigen Schau Gottes dienen, stehen diese Aspekte im modernen Technikverständnis primär im Dienste der Nützlichkeit.
4 Die Bedeutung des cusanischen Technikbegriffes für die Gegenwart Wird das technikphilosophische Ziel verfolgt, die Bedeutung des cusanischen Tech48 nikverständnisses oder der cusanischen Technikphilosophie für die Gegenwart zu ergründen, so ist zwischen einer direkten oder unmittelbaren und einer mittelbaren Gegenwartsbedeutung oder Aktualität zu differenzieren. Denn Cusanus begründet einerseits technikphilosophische Thesen, die bereits ohne Neuinterpretation und ohne Anpassung an die Moderne aktuell und für die gegenwärtige Technikdebatte von Bedeutung sind. Hierzu gehört vor Allem seine Begründung der Technik als Tätigkeit oder Handlung (Abs. 4.1). Andererseits verteidigt Cusanus Thesen, die erst über Zwischenschritte, beispielsweise über folgerichtige Implikationen, ihre Bedeutung für die Gegenwart erlangen. Es sind Implikationen, die Cusanus entweder als Kind seiner Zeit noch nicht ziehen konnte oder für ihn aufgrund seiner philosophisch-theologischen Zielsetzung irrelevant waren. Hierzu gehört beispielsweise die Ableitung der Notwendigkeit unerwünschter Technikfolgen und damit der grundsätzlichen Unvermeidbarkeit
48
Mit dem Etikett ,,cusanische Technikphilosophie“ werden hier diejenigen cusanischen Thesen, Überlegungen und Gedanken versehen, die man aus der heutigen Perspektive dem Bereich der Technikphilosophie zuordnet. Dieses Etikett wird also rückbezogen verliehen. Denn Nikolaus von Kues hat kein technikphilosophisches Werk im heutigen Sinne geschrieben; er hat aber – zum Teil vielleicht unbeabsichtigt – Leistungen in einem Bereich erbracht, für den es zu seiner Zeit noch keinen Begriff gab, nämlich den der Technikphilosophie.
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unerwünschter Technikfolgen aus der durch Cusanus begründeten Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschseins (Abs. 4.2). Auch die im Abschnitt 4.2 vorgenommene Differenzierung der Quellen unerwünschter Technikfolgen leitet sich nicht unmittelbar, sondern allein mittelbar über Folgerungen aus den cusanischen Thesen ab. Um die Aktualität und die Bedeutung der cusanischen Technikphilosophie für die Gegenwart zu ergründen, muss also mitunter über Cusanus hinausgedacht werden; seine Überlegungen sind fortzuschreiben. Der Begriff der Bedeutung wird im Folgenden im Sinne von ,,bedeuten für“ verwendet und nicht im engeren begriffsanalytischen Sinne. Es geht somit in den nachfolgenden Abschnitten primär um die Frage, was bedeuten die technikphilosophischen Ergebnisse, die Cusanus zweifelsfrei gewonnen hat, für uns, die wir im 21. Jahrhundert leben. Was bedeuten sie für die aktuelle Technikdebatte, in der es nicht mehr primär um die ontologische Frage, was Technik ist, geht, sondern um das Verhältnis Technik, Mensch und Gesellschaft im Allgemeinen, um nichtintendierte und unerwünschte Technikfolgen, um die damit verknüpfte Frage, wer diese Folgen gegenüber wem zu verantworten hat, und um die Moralität bzw. Mo49 ral technischer Handlungen im Besonderen.
4.1 Technisches Handeln Es gehört zu den herausragenden technikphilosophischen Leistungen von Cusanus, 50 dass er die Technik oder die ars humana als eine Handlung begründet. Seine überraschend moderne Deutung der Technik als Vollzug oder Handlung führt notwendig zu Implikationen, die Cusanus zwar noch nicht vollzogen hat, aber von eminenter Bedeutung für die aktuelle Technikdebatte sind. Denn mit der Begründung der Technik als Handlung wird, wie bereits oben expliziert wurde, die Technik aus dem 51 Raum der Ursachen in den Raum der Gründe transferiert. Technische Handlungen gehorchen damit keinem naturgesetzlichen Automatismus oder Determinismus, sondern unterstehen ebenso wie Alltagshandlungen Regeln und Konventionen, seien diese nun von Menschen begründet oder durch Autoritäten wie den heiligen Schriften offenbart. Wenn die schöpferische, menschliche Kunst eine Handlung ist, dann 52 unterliegt sie vor allem auch moralischen Regeln. 49
Handlungen sind entweder moralisch aufgrund von Gewohnheit, Sitten, Handlungsregeln oder Wertemaßstäben (Moral) oder aufgrund von Reflexion und Einsicht (Moralität). Siehe Pieper: Einführung in die Ethik, 24ff. 50 Wie oben nachgewiesen wurde, gliedert sich die Tätigkeit der ars humana in eine vorgängige geistige Aktivität und in eine nachfolgende physikalische Handlung, die beide zusammen aber einen zusammenhängenden Prozess oder eine Einheit bilden, nämlich die Einheit der ars humana als eine Handlung oder Tätigkeit. 51 Die beiden Notationen ,,Raum der Gründe“ (space of reasons) und ,,Raum der Ursachen“ (space of causes) habe ich von Wilfrid Sellars übernommen. Siehe u.a.: Scharp / Brandom (Hgg.): In the Space of Reasons: Selected Essays of Wilfrid Sellars. 52 Zur Zeit von Cusanus gründeten moralische Regeln noch primär auf der Autorität Gottes und der heiligen Schrift. Die Verantwortung, die der Mensch für sein schöpferisches, kreatives Handeln trägt, ist somit primär eine Verantwortung vor Gott, beispielsweise über das göttliche
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Der Mensch ist, so begründet Cusanus, frei. Daher folgt er bei seinen technischen Handlungen, Erfindungen und Schöpfungsakten nicht vorrangig dem Anstoß der Natur, sondern primär seinen genuinen Überlegungen, Entscheidungen und Absichten. Diese Folgerung, die gegenwärtig innerhalb einer breit gefächerten Freiheit-contra-Determinismus-Debatte heftig umstritten und nicht nur für die Frage nach der Technik von Bedeutung ist, wurde bereits vor fast sechshundert Jahren von Cusanus unmissverständlich formuliert: ,,So sehen wir, daß in einer einzigen eigengestaltlichen Bewegung alle, die derselben Eigengestalt angehören, gleichsam auf Grund eines eingegebenen Naturgesetzes gezwungen und bewegt werden. Durch keinen solchen Zwang wird unser königlicher und herrscherlicher Geist in Zaum gehalten. Ansonsten wür53 de er nichts erfinden, sondern nur den Anstoß der Natur ausführen.“ Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Cusanus die Technik als Leistung unseres Geistes nicht verdinglicht und damit den Naturgesetzen unterwirft. Er begreift sie auch nicht als bloße Verlängerung des menschlichen Armes oder als bloßes Mittel zum Zweck. Cusanus trennt zudem deutlich zwischen ,,den verschiedenen Künsten und 54 den Produkten dieser verschiedenen Künste“ und folglich zwischen der ars humana als Handlung und den materiellen Kunsterzeugnissen dieser Handlung. Als ars humana gründet Technik auf Freiheit. Technik ist Handeln in Freiheit. Die Freiheit und nicht Naturgesetze ist somit die primäre Quelle aller menschlichen Erfindungen und technischen Handlungen. Mit dieser These erweist sich Cusanus als ein erstaunlich modern denkender Technikphilosoph. In Freiheit ausgeführte technische Handlungen sind zu begründen, nicht zu erklären. Sie folgen Gründen, nicht Ursachen oder naturgesetzlichen Zwängen. Technische Handlungen sind folglich auch nicht wertfrei. Die Automatismusbehauptung 55 und die These der Wertneutralität der Technik erweisen sich als Irrtum. Technische Handlungen und ihre Folgen sind zu verantworten. Die Frage nach der Technik ist somit nicht nur ein Problem der theoretischen, sondern auch der praktischen Philosophie. Technische Handlungen sind folglich auch Gegenstand der Ethik im Allge-
Gebot der Nächstenliebe. Cusanus ist hier allerdings bereits moderner. Denn neben der mittelalterlichen, auf der Autorität Gottes gegründeten Moral, begründet er bereits eine Moralwissenschaft und somit eine Ethik, die als Wissenschaft eine geistige Erfindung des Menschen und somit ein geistiges Schöpfungsprodukt der ars humana ist. ,,Nam sine artibus mechanicis et liberalibus atque moralibus scientiis virtutibusque theologicis bene et feliciter non subsistit.“ (Compendium c. 2, h XI/3 n. 4). Bereits aus diesem kurzen Zitat wird deutlich, dass es sich bei der ,,moralibus scientiis“ nicht um eine theologische Ethik handelt, sondern um eine eigenständige Wissenschaft der Moral und damit um eine rationale Ethik oder Vernunftethik, die dem menschlichen Geist ebenso entspringt, wie die technischen oder mechanischen Künste (artibus mechanicis). Siehe auch Compendium, c.VI, n. 18, wo Cusanus aufführt, was in den mechanischen und freien Künsten und in der Ethik vom Menschen entdeckt wurde. Siehe vor allem auch Mandrella: Viva imago. Die praktische Philosophie des Nikolaus Cusanus. 53 Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 35) (übers. Wilhelm Dupré). 54 Nikolaus von Kues: Compendium c. 8 (h XI/3 n. 24) (übers. Wilhelm Dupré). 55 Franz: Wertneutralität – Ein Irrtum in der Technikdiskussion.
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56
meinen bzw. der Technikethik im Besonderen. Mit der cusanischen Begründung der Technik als Handlung wird somit ein Grundstein für die ethische Untersuchung technischer Handlungen gelegt.
4.2 Technikfolgen Jedes durch technisches Handeln hervorgebrachte Produkt ist notwendig ambivalent. Denn es hat einerseits primäre Folgen und andererseits sekundäre Folgen. Die primären Folgen sind die beabsichtigten Folgen, die den Zweck des Produktes oder, in der cusanischen Sprache, die Washeit des Produktes, repräsentieren. So wird beispielsweise ein Auto hergestellt, um Menschen oder Güter zu transportieren, oder ein Kraftwerk, um Energie zu produzieren. In diesen erwünschten Folgen oder Zwecken gründet die Absicht der Handlung, diese technischen Produkte zu entwerfen und herzustellen. Die sekundären Folgen sind zumeist unerwünschte, aber nicht notwendig unbeabsichtigte Folgen, z.B. die Abgase eines benzinbetriebenen Autos oder eines Kohlekraftwerkes, die Strahlung von Mobilfunkgeräten oder technische Unfälle, wie 57 Reaktorunfälle, Flugzeugabstürze, Zug- und Autounfälle. Selbst das scheinbar von allen sekundären Folgen freie Werkzeug namens Hammer ist in puncto seiner Folgen ambivalent, da es einerseits zu Verletzungen (zumeist des Daumens) führen kann 58 und andererseits zweckentfremdet zum Morden genutzt werden kann. Auch zu Lebzeiten des Cusanus war die Ambivalenz der Technik sicherlich schon bekannt. Denn im ausgehenden Mittelalter gab es höchstwahrscheinlich schon Unfälle mit Pferdekutschen, die nicht nur zu Schäden an den Kutschen führten, sondern auch zu Verletzungen bei den Mitreisenden, beispielsweise verursacht durch einen Achsenbruch infolge von Materialverschleiß, eines Konstruktionsfehlers oder eines auf dem Wege liegenden großen Steines. Die Möglichkeit der Personenbeförderung einerseits (primäre Folge) und die Gefahr eines Unfalls andererseits (sekundäre Folge) sind der Pferdekutsche ebenso inhärent und begründen ebenso ihre notwendige Ambivalenz, wie bei allen anderen technischen Artefakten. Unerwünschte oder sekundäre Technikfolgen waren im ausgehenden Mittelalter noch nicht in dem Umfange alltäglich, wie wir sie heute erfahren. Auch das Ausmaß der sekundären 56
Die Technikethik ist ebenso wie die Vielfalt anderer angewandter Ethiken ein Kind unserer Zeit. In puncto Cusanus ist dabei insbesondere die Frage relevant, ob aus seinem Werk nicht nur eine Technikphilosophie deduziert werden kann, sondern auch eine Technikethik und, falls ja, welche Bedeutung diese für die Gegenwart besitzt. Der Arbeitskreis ,,Philosophie und Technik“ der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte hat sich auch diese Aufgabe gestellt. Die Ergebnisse werden Inhalt eines gesonderten Aufsatzes sein. 57 Sekundäre Folgen können je nach Blickrichtung oder Zielsetzung weiter differenziert werden, beispielsweise in (i) solche, die notwendig mit den primären Folgen auftreten und bereits im Vorfeld der Herstellung eines technischen Produktes bekannt sind, (ii) solche, die notwendig mit den primären Folgen auftreten, aber zum Zeitpunkt der Herstellung eines technischen Produktes aufgrund mangelnden Wissens noch unbekannt, nicht vorhersagbar oder abschätzbar sind und (iii) solche, die nicht notwendig mit den primären Folgen auftreten, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. 58 Siehe z.B.: Trierischer Volksfreund: Lebenslange Haft für Eifeler Hammermörder.
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Technikfolgen war in jener Zeit noch von einer anderen Dimension. Technikkatastrophen, wie wir sie heute kennen, waren zu jener Zeit noch unbekannt. Die Ambivalenz der Technik war daher zu Lebzeiten des Cusanus zwar schon vereinzelt gegenwärtig und damit erfahrbar, wurde aber noch nicht thematisiert. Philosophische Reflexionen über Technik oder gar Technikkritik waren zu jener Zeit noch weitestgehend unbekannt. Die mit zunehmenden Technikfolgen verbundene Technikkritik tritt vereinzelt erst im 17. Jahrhundert und in großer Breite erst mit Beginn des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert auf. In den folgenden drei Abschnitten wird der Nachweis erbracht, dass die Immanenz nicht-intendierter und unerwünschter Technikfolgen und somit die Notwendigkeit der Ambivalenz von Technik in der von Cusanus begründeten Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschseins gründet. Die natürliche Endlichkeit und die Unvollkommenheit des Menschen begründen bei Cusanus die Unmöglichkeit, Gott in seiner Unendlichkeit, Vollkommenheit und Allmacht zu erkennen. Der über sensus, ratio und intellectus führende Aufstieg zu Gott (deus) erfährt durch diese anthropologischen Konstanten eine obere epistemologische Grenze. Der Mensch ist aufgrund seines bloß endlichen Erkenntnisvermögens grundsätzlich nicht fähig, diese Grenze nach oben zu übersteigen und Gott erkenntnismäßig und somit begrifflich zu erfassen. In puncto technischer Handlungen, also in puncto geistiger Erfindungen und anschließender materieller Hervorbringungen neuer Kunstprodukte, begründen die natürliche Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen dagegen eine untere Grenze, der Cusanus allerdings weitaus weniger Beachtung schenkt als der Grenze 59 nach oben, obgleich ihm die ,,Unzulänglichkeit menschlicher Erfindungen“ bekannt ist. Dennoch sind seine wenigen Überlegungen zur unteren Grenze hinreichend (Abs. 4.2.1), um darauf aufbauend ihre Konsequenzen in puncto technischer Handlungen abzuleiten und zu beurteilen. Dabei wird deutlich werden, dass es im Wesentlichen zwei immanente Gründe unerwünschter Technikfolgen gibt: die humane Unmöglichkeit, geistige Urbilder in vollkommener Genauigkeit sinnenfällig zu machen (4.2.2), und die humane Unmöglichkeit, das Ganze zu überschauen (Abs. 60 4.2.3). Während die Grenze nach oben eine rein epistemologische Grenze ist, ist die Grenze nach unten eine epistemologische und poietische.
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Nikolaus von Kues: De coniecturis I (h III n. 1) (übers. Wilhelm Dupré). In den folgenden Abschnitten werden somit allein die technikphilosophischen und/oder anthropologischen Gründe von Technikfolgen thematisiert, nicht aber die ethischen Probleme des technischen Handelns, die u.a. in den folgenden Kernfragen zum Ausdruck kommen: Wer trägt gegenüber wem bei unerwünschten oder sekundären Technikfolgen die Verantwortung? Gibt es neben der individuellen Verantwortung auch eine Gruppen- oder Institutionsverantwortung? An welchen Kriterien, Normen oder (moralischen) Regeln kann oder soll der Handelnde (Techniknutzer, Ingenieur, Wissenschaftler, Techniker) in Anbetracht möglicher sekundärer Handlungsfolgen seine (technischen) Handlungen orientieren? Wie lassen sich diese Kriterien, Werte oder Regeln rechtfertigen, begründen oder gar letztbegründen? 60
Der Technikbegriff des Nikolaus von Kues
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4.2.1 Die humane Endlichkeit und Unvollkommenheit als immanenter Grund unerwünschter Technikfolgen Alle menschlichen Künste sind, so begründet Cusanus, Abbilder der unendlichen Kunst Gottes (z.B. in Idiota de mente, Cap. II, n. 59). Als Abbilder sind sie selbst nicht unendlich, sondern endlich. ,,Jede endliche Kunst also stammt von der unendlichen Kunst. Und so wird die unendliche Kunst notwendig aller Künste Urbild sein, Ursprung, Mitte, 61 Ziel, Maßeinheit, Maß, Wahrheit, Genauigkeit und Vollkommenheit.“ Hieraus folgt insbesondere, dass per se keine menschliche Kunst die Genauigkeit und Vollkommenheit der göttlichen Schöpfungskunst erreichen kann. Primär kommt die Unvollkommenheit des Menschen in seiner Unfähigkeit zum Tragen, aus ,,dem Unbelebten Lebendiges und aus dem Zeitlichen Ewiges“ hervorzubringen und damit in seiner immanenten Unfähigkeit (genauer: Unmöglichkeit), menschliche Wesen 62 und damit sich selbst zu schaffen. Die humane Unvollkommenheit wird aber auch bei allen Künsten offenbar, zu denen der Mensch grundsätzlich fähig ist. ,,Laie: [...] Es ist nämlich offenbar, daß keine menschliche Kunst die Genauigkeit der Vollkommenheit erreicht hat und daß jede endlich und begrenzt ist. Denn die eine Kunst wird in ihren Grenzen eingegrenzt, die andere in anderen, die die ihrigen sind, und jede ist von den anderen verschieden, und keine umfaßt alle. Philosoph: Was willst du daraus folgern? 63 Laie: Daß alle menschliche Kunst endlich ist.“ Die menschliche Kunst ist also per se endlich, begrenzt und unvollkommen. Hieraus ist zu folgern, dass ihre Kunstprodukte gleichfalls per se ungenau und unvollkommen sind. Der Mensch vermag zwar seine Kunstprodukte beständig in puncto Genauigkeit zu verbessern, absolute Genauigkeit und Vollkommenheit bleiben für ihn aber grundsätzlich unerreichbar. Genau hierin liegt nun aber ein erster Grund für nicht-intendierte oder unerwünschte Technikfolgen. Da zudem die einzelnen menschlichen Künste verschieden sind und keine die andere einschließt, kann weiterhin gefolgert werden, dass keine die andere vollkommen zu überschauen vermag, denn, so Cusanus, ,,keine umfasst alle“. Auch dies birgt aus heutiger Sicht die Gefahr nicht-intendierter Technikfolgen. Denn die komplexen Techniken der heutigen Zeit sind nicht mehr nur auf eine einzige Kunst begrenzt. Sie sind fachbereichs- oder, wie Cusanus sagen würde, kunstübergreifend. Mit dieser Komplexität wächst aber zu61
Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 61 und n. 62) (übers. Renate Steiger). ,,Aber was, wenn der Meister nicht nur wie ein Weber, Handwerker oder Gelehrter an der Weisheit teil hätte, sondern auch an ihrer Allmacht, sogar aus nichts etwas zu machen und aus dem Unbelebten Lebendiges und aus dem Zeitlichen Ewiges? Ohne Zweifel würde in einem solchen Menschen die absolute und ewige Weisheit, durch welche Gott die Zeiten gemacht hat (Hebr 1,2), leiblich, real und wesenhaft wohnen. Wäre dieser Künstler dann nicht der einzige und vollkommenste Meister?“ In: Nikolaus von Kues: Epistula ad Nicolaum Bononiensem n. 51 (übers. Harald Schwaetzer und Kirstin Zeyer). 63 Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 60) (übers. Renate Steiger). 62
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gleich die Gefahr von Fehlern und damit von unbeabsichtigten und zumeist uner64 wünschten Technikfolgen. Es sind folglich die Endlichkeit, die Begrenztheit, die Unvollkommenheit und die damit verknüpfte inhärente Unwissenheit des Menschen, die als anthropologische Konstanten die Notwendigkeit unerwünschter Technikfolgen und damit die Notwendigkeit der Ambivalenz der Technik begründen. Oder als These formuliert: Aufgrund der immanenten Unvollkommenheit und Endlichkeit der menschlichen Kunst (ars humana) können technische Schöpfungen grundsätzlich nicht vollkommen frei von unerwünschten Technikfolgen sein. Die ars humana ist folglich notwendig bivalent, d.h. sie schließt stets intendierte wie nicht-intendierte und unerwünschte Folgen ein. In den folgenden beiden Abschnitten wird nachgewiesen, dass die Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschseins als anthropologische Konstante zumindest in zwei unterschiedlichen Weisen oder Modi die Quelle unerwünschter Technikfolgen bildet.
4.2.2 Die kategoriale und poietische Differenz von Urbild und Abbild Zwischen der Idee eines künstlichen Produktes in unserem Geist und dem realisierten, sinnfälligen Kunstprodukt besteht ein Urbild-Abbild-Verhältnis und folglich eine Differenz zwischen Urbild und Abbild. Denn ,,[e]in Mensch hat zum Beispiel die mechanische Kunst [...] wahrer in seinem geistigen Begriff, als sie nach außen hin gestaltbar sind, wie ein Haus, das auf Grund der Kunst entsteht, eine wahrere Gestalt im Geist als in den Hölzern 65 hat.“ Worin gründet diese Differenz? Zunächst darin, dass kein Urbild oder keine Idee in vollkommener Weise sinnfällig gemacht werden kann. ,,Angenommen also, ich wollte die Kunst entfalten und die Form des Löffel66 seins, die einen Löffel zum Löffel macht, sinnenfällig machen. [...] So siehst du die einfache und mit den Sinnen nicht wahrnehmbare Form des Löffelseins im Gestaltverhältnis dieses Holzes gleichsam in ihrem Abbild widerstrahlen. Daher kann die Wahrheit und Genauigkeit des Löffelseins, die nicht vervielfacht und nicht mitgeteilt werden kann, auf keine Weise, auch nicht durch irgendwelche Werkzeuge und durch irgendeinen Menschen vollkom64
Die Umschreibung ,,unbeabsichtigte und zumeist unerwünschte“ berücksichtigt die Möglichkeit, dass eine schöpferische oder technische Handlung neben den beabsichtigten Folgen (die den Grund bzw. die Absicht des Handelnden für seine Schöpfungshandlung geben) zwei Arten von unbeabsichtigten Folgen (besser: Nebenfolgen) haben kann, nämlich einerseits unerwünschte oder negative (z.B. Umweltverschmutzung) als auch erwünschte oder positive. So kann eine schöpferische Handlung beispielsweise eine Nebenfolge haben, an die zuvor in keiner Weise gedacht wurde, sich aber später als positiv herausstellt. 65 Nikolaus von Kues: De beryllo c. 33 (h ²XI/1 n. 55 u. n. 56) (übers. Karl Bormann). 66 Die Idee oder das Wesen des Löffels, das Cusanus als Löffelsein bezeichnet, strahlt im realen Löffel wider. Oder platonisch formuliert: Der reale Löffel ist ein Abbild der Idee des Löffels und hat somit an dieser Idee teil.
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men sinnfällig gemacht werden, und in allen Löffeln strahlt nur die einfachste Form selbst in verschiedener Weise wider, mehr im einen und weniger im 67 andern und in keinem genau.“ Zwischen der Idee oder dem geistigen Urbild und dem Schöpfungs- oder Kunstprodukt als dem Abbild der Idee oder des Urbildes besteht folglich notwendig eine Differenz, die größer oder kleiner sein kann, aber niemals verschwindet. Denn kein Mensch besitzt die Fähigkeit, sein geistiges Urbild vollkommen zu realisieren, die Materie also vollkommen gemäß seiner geistigen Idee zu formen. Der Löffel ist beispielsweise nicht so glatt wie erwartet, der Griff weist kleine Splitter auf oder die Löffelvertiefung zeigt kleine Risse. Auch Cusanus kennt dieses Problem. Er führt dieses Problem allerdings primär auf den Stoff zurück und nicht auf die Unvollkommenheit des menschlichen Schöpfers. Abweichungen von Urbild und Abbild sind somit, so Cusanus, stoffbedingt, und nicht menschlich bedingt. ,,Und weil ein Stoff geeigneter ist als der andere, kann keiner die vollkommenste Möglichkeit sein. Also kann die unstoffliche und geistige Gestalt in 68 keinen Stoff wahrhaft, wie sie ist, gebildet werden.“ Eine stoffunabhängige Abweichung und damit einen stoffunabhängigen Mangel im Produkt räumt Cusanus nur für den Fall ein, dass die Hervorbringung des Produktes von einem Nicht-Handwerker ausgeführt wird. ,,Denn daß sich aus dem Stein kein Kasten durch einen Handwerker herstellen läßt, liegt an einem Mangel im Material. Und dass ein anderer als der Handwerker aus dem Holz den Kasten nicht herstellen kann, dass liegt an ei69 nem Mangel im Ausführenden.“ Aber auch im günstigen Fall, dass ein Produkt durch einen ausgebildeten Handwerker oder Meister hervorgebracht wird, können Abweichungen und folglich Mängel auftreten. Denn, so eine bekannte These von Cusanus, die absolute Gleichheit gibt es nur bei Gott, nicht aber unter den Dingen unserer Welt. Dies gilt folglich, auch wenn dies Cusanus nicht impliziert, sowohl für die menschlichen Schöpfer, als auch für die durch sie geschaffenen künstlichen Produkte. Daher unterscheiden sich nicht nur die einzelnen Handwerker, sondern auch ihre Produkte, z.B. ihre Holzkästen. Der eine Kasten wird genauer oder präziser, der andere ungenauer oder unpräziser verarbeitet sein. Zwischen den einzelnen Holzkästen besteht folglich auch stoffunabhängig ein gradualer Unterschied in der gefertigten Genauigkeit und Qualität. Kein Holzkasten erreicht die absolute Genauigkeit oder Vollkommenheit. Folglich weist jeder Holzkasten bereits einen stoffunabhängigen Mangel an Genauigkeit und Vollkommenheit auf, der eine mehr und der andere weniger, auch wenn er durch einen geschulten Handwerker oder Meister hervorgebracht wurde. Die Differenz zwischen Urbild und Abbild, ob menschlich oder stofflich bedingt, impliziert folglich grundsätzlich die Möglichkeit, dass die Schöpfungsprodukte des Menschen nicht nur die erwünschten und intendierten primären Folgen oder Funk67
Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 63) (übers. Renate Steiger). Nikolaus von Kues: De ludo globi I (h IX n. 44 und n. 45) (übers. Wilhelm Dupré). 69 Nikolaus von Kues: De docta ignorantia II c. 8 (h I n. 135) (übers. Paul Wilpert und Hans Gerhard Senger). 68
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tionen aufweisen, z.B. die Funktion des Löffels als Essbesteck, sondern auch nichtintendierte oder unerwünschte sekundäre Folgen, z.B. eine Verletzung infolge eines Splitters im Löffelstiel. Ein geschulter und erfahrener Meister im Löffelschnitzen vermag zwar diese Differenz zu minimieren, aber niemals vollkommen zu eliminieren. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für das technische Produkt ,,Löffel“, sondern grundsätzlich für alle menschlichen Schöpfungs- oder Kunstprodukte. Alle durch Handwerker, Techniker oder Ingenieure erzeugten Kunstprodukte haben folglich grundsätzlich das Potential zu nicht-intendierten und unerwünschten Technikfolgen. Diesen Schluss zog Cusanus, als Kind seiner Zeit, allerdings noch nicht. Nun mag zwar die Differenz zwischen Idee und sinnfälligem Kunstprodukt bei einem einfachen Produkt, wie es der Löffel oder der Holzkasten darstellen, klein sein, bei komplexen Ideen und folglich komplexen künstlichen Produkten variiert diese Differenz jedoch innerhalb einer weitaus größeren Spanne. Während die Folgen dieser Differenz bei einem unsauber gearbeiteten Löffel sicherlich marginal sind oder auch gar nicht auftreten, können diese bei komplexen Urbildern, wie sie in der modernen, gegenwärtigen Technik üblich sind, gravierend sein und zu erheblichen Schäden bei Mensch und Umwelt führen. Beispiele hierzu gibt es in genügender Zahl. Die vielfältigen und insbesondere in ihrem Ausmaß zunehmenden unbeabsichtigten und unerwünschten Technikfolgen vom Beginn des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind hierfür ein deutliches Beleg. Zusammenfassend kann damit die folgende These formuliert werden: Die immanente Unvollkommenheit und Endlichkeit der menschlichen Kunst im Vergleich zur göttlichen Kunst impliziert notwendig eine Differenz zwischen den schöpferischen Ideen im Geist des Menschen und seinen realisierten Schöpfungsprodukten, was grundsätzlich die Möglichkeit von nicht intendierten, unerwünschten Folgen impliziert. Diese These scheint im Widerspruch zu der folgenden Aussage zu stehen: ,,Dasselbe Verhältnis also, wie es von den Werken Gottes zu Gott besteht, 70 besteht von den Werken unseres Geistes zum Geist selbst.“ Denn in obiger These wird aus der Unvollkommenheit des Menschen eine notwendige Differenz zwischen der schöpferischen Idee des Menschen und seinem Schöpfungsprodukt begründet. Diese Differenz ist ergo eine Folge der Unvollkommenheit des Menschen. Wenn diese These plausibel ist und zugleich, wie Cusanus behauptet, das Werk Gottes zu Gottes Urbild im gleichen Verhältnis steht, wie das Werk des Menschen zu seiner geistigen, schöpferischen Idee, dann besteht auch zwischen dem Werk Gottes und dem göttlichen Urbild eine Differenz. Diese kann aber nun nicht auf Unvollkommenheit gründen. Denn Gott ist vollkommen. Sie muss daher einen anderen Grund haben. Die Auflösung dieses Dilemmas scheint wie folgt: Die Differenz zwischen Gott und seinem Werk ist eine zwischen Urbild und Abbild im aristotelischen Sinne und folglich eine zwischen Form und Stoff, genauer: zwischen Form und geformtem Stoff. In diesem Sinne ist ,,der unendliche Geist die absolute form-
70
Nikolaus von Kues: De mente c. 7 (h ²V n. 98) (übers. Renate Steiger).
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gebende Kraft“ . Das geistige, göttliche Urbild und sein materielles, natürliches und sinnfälliges Abbild sind somit von unterschiedlicher Kategorie. Die Differenz zwischen der schöpferischen Idee des Menschen und seinem Werk ist dagegen eine zweifache. Einerseits ist sie gleichfalls eine kategoriale zwischen geistiger Form und geformtem, materiellem Stoff. In diesem Sinne stehen Gott und sein Werk de facto im gleichen Verhältnis wie der Mensch und sein Werk. Andererseits besteht zwischen der schöpferischen Idee des Menschen und seinem Werk auch eine Differenz aufgrund seiner per se mangelnden Fähigkeit, seine Idee im Stoff vollkommen sinnfällig zu machen, was nun de facto eine notwendige Folge der immanenten menschlichen Unvollkommenheit ist. Der Mensch macht Fehler, Gott nicht. Die zu realisierende Form wird im Stoff mal so und mal anders ausfallen. In diesem Sinne strahlt beispielsweise die Form des Löffels, wie oben bereits durch Cusanus begründet, in allen Löffeln ,,in verschiedener Weise wider, mehr im einen 72 und weniger im andern und in keinem genau.“ Diese durch den Herstellungsprozess induzierte Differenz soll in Anlehnung an Aristoteles, die poietische genannt werden. Als These formuliert folgt: Zwischen der schöpferischen Idee des Menschen und seinem Werk bestehen eine kategoriale und eine poietische Differenz. Die kategoriale ist die zwischen Form und geformter Materie. Die poietische ist die zwischen Idee und unvollkommen realisierter Idee, also zwischen geistigem Urbild und unvollkommen oder ungenau realisiertem materiellem Abbild. Die poietische Differenz wird zwar durch die cusanische Begründung der Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschen notwendig impliziert, aber durch Cusanus selbst noch nicht in dieser Weise gedacht. Die poietische Differenz gründet aber nicht allein in den endlichen Fähigkeiten des Menschen, sondern, wie bereits oben genannt, auch in dem verwendeten Stoff, der beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Qualität oder Beschaffenheit die Möglichkeit einschränkt, das geistige Urbild vollkommen und somit fehlerfrei sinnfällig zu machen. Als These formuliert folgt somit zusammenfassend: Erster inhärenter Mangel der menschlichen Schöpfungskunst: Die per se unzureichenden poietischen Fähigkeiten des Menschen und die immanenten unzulänglichen stofflichen Qualitäten sind die beiden primären Gründe der poietischen Differenz zwischen geistigem Urbild und realem Abbild und somit ein erster inhärenter 73 Grund für mögliche unerwünschte Technikfolgen.
71
Nikolaus von Kues: De mente, c. 2 (h ²V n. 74) (übers. Renate Steiger). Nikolaus von Kues: De mente c. 2 (h ²V n. 63) (übers. Renate Steiger). 73 In gewissen Grenzen vermag der Mensch bei einer Vielzahl seiner Kunstprodukte diese Folgen im Vorfeld abzuschätzen. Sie können somit bereits bei der geistigen Konzeption mit bedacht werden. Dennoch gehören sie nicht per se zum Urbild oder zur Idee. So wird ein realisiertes Fahrzeug stets Eigenschaften oder Akzidenzien aufweisen, die das Urbild nicht hat. Zum Urbild oder zur Idee des Kraftfahrzeuges gehört, dass es Personen und Waren zu befördern vermag, aber nicht dass es Abgase verursacht, die Umwelt verschmutzt und Unfälle zur Folge hat. 72
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4.2.3 Die Unüberschaubarkeit des Ganzen Das Ganze eines künstlichen Produktes ist, so begründet Cusanus, durch das Urbild im menschlichen Geist repräsentiert. Es ist das Maß, an dem der menschliche Schöpfer sein zu erstellendes Kunstprodukt orientiert und ihm den Ort und die Funktionen seiner Teile vorgibt. Dies gilt sowohl für komplexe Produkte als auch für einfache Produkte, wie der schon häufig genannte Löffel. ,,Denn man kennt nicht den Teil, wenn man nicht das Ganze kennt; das Ganze nämlich mißt den Teil. Wenn ich nämlich einen Löffel Teil für Teil aus einem Holzstück herausschnitze, dann blicke ich, wenn ich einen Teil anpasse, auf das Ganze, damit ich einen wohlproportionierten Löffel hervorbringe. So ist der ganze Löffel, den ich im Geist erdacht habe, das Urbild, auf das ich blicke, während ich einen Teil gestalte. Und dann kann ich einen vollendeten Löffel herstellen, wenn jeder Teil sein Verhältnis in der Ordnung auf das Ganze bewahrt. Ebenso muß jeder Teil, mit dem anderen verglichen, seine Vollständigkeit bewahren. Daher wird es für die Kenntnis des Einzelnen 74 nötig sein, daß die Kenntnis des Ganzen und seiner Teile vorangeht.“ Obgleich das Urbild des Löffels (die Washeit des Löffels, das Löffelsein) das geistige Ganze des Löffels repräsentiert und damit das Maß aller zu realisierenden Löffel ist, ist der ,,ganze Löffel, den ich im Geist erdacht habe“, doch selbst wieder nur ein Teil eines übergeordneten Ganzen: des Ganzen des Tischbestecks, der Tischeindeckung, des Hauses, der Gemeinde, des Landes, der Erde und des Weltalls oder des Universums. Es ist folglich kurzsichtig, beim Schnitzen eines Löffels allein der These von Cusanus zu folgen und nur das begrenzte Ganze des Löffels vor seinem geistigen Auge zu betrachten und als Maß zu nehmen. Vielmehr ist auch das dem Löffel übergeordnete Ganze zu bedenken. Doch genau hier stößt der Mensch aufgrund seiner Unvollkommenheit und Endlichkeit an seine Grenzen. Denn das allen Dingen in letzter Stufe übergeordnete Ganze, nämlich das Weltganze, vermag der Mensch nicht zu erkennen, sondern allein Gott. Denn in Gott ist Alles in einem einzigen Urbild eingefaltet. Der Mensch weiß dagegen niemals mit Gewissheit, wie sich sein Schöpfungsprodukt in das diesem Produkt übergeordnete Ganze einfügen wird. Insbesondere vermag er nicht mit Gewissheit zu erkennen, welche Wechselbeziehungen sein Kunstprodukt mit anderen menschlichen Schöpfungsprodukten und vor allem mit der göttlichen Schöpfung eingehen wird. Das Urbild im menschlichen Geist ist ein singuläres, individuelles und auf das hervorzubringende Schöpfungsprodukt begrenztes Bild. In ihm sind allein das Schöpfungsprodukt, sein Zweck, seine Funktion und ggf. weitere eng mit diesem Produkt verknüpfte Aspekte eingefaltet, nicht aber das darüber Hinausgehende und schon gar nicht das Weltganze. Hierin gründet eine inhärente Gefahr aller menschlichen Schöpfungen, nämlich die schon genannten unerwünschten und nicht-intendierten Technikfolgen, wie beispielsweise die Umwelterwärmung oder andere technikbedingte Umweltfolgen. Das Ganze im Auge zu behalten und den Blick für das übergeordnete Ganze zu schärfen ist daher heute eine 74
Nikolaus von Kues: De mente c. 10 (h ²V n. 127) (übers. Renate Steiger).
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zunehmende Forderung an Techniker und Ingenieure im Beruf sowie in der Ausbildung. Denn es ,,[...] ist offenbar: Wenn man Gott, der das Urbild des Alls ist, nicht kennt, kann man nichts vom All, und wenn man das All nicht kennt, nichts von seinen Teilen wissen. So geht dem Wissen von jedem Einzelnen das Wissen von 75 Gott und allen Dingen voran.“ Die Schöpfung Gottes folgt, so begründet Cusanus, aus der Entfaltung eines einzigen göttlichen Urbildes. Ergo entspringt Alles was ist, diesem einen Urbild. Alles ist demzufolge so, wie Gott es wollte. Daher übersieht Gott das Ganze und kennt alle Auswirkungen der realen Abbilder, die sie untereinander und als Teile auf das eine Ganze ausüben. Dies ist nicht so beim menschlichen Schöpfungsakt. Denn zu jedem durch den Menschen geschaffenen, neuen technischen Produkt existiert ein dazugehöriges, individuelles Urbild im menschlichen Geiste. So gibt es im Geist des Menschen stets mehrere Urbilder, beispielsweise das Urbild eines Löffels, einer Schale, eines Topfes, eines Holzkastens oder eines Globusspiels. Der menschliche Geist ist folglich durch eine Vielzahl von Urbildern geprägt. Denn einerseits gehört zu jedem einzelnen Schöpfungsprodukt eine Schöpfungsidee im menschlichen Geist. Andererseits gibt es nicht nur einen menschlichen Schöpfer, sondern sehr viele, im Grenzfall ebenso viele wie es Menschen auf der Erde gibt, also etwa acht Milliarden. Nun vermögen aber die menschlichen Schöpfer weder vollkommen zu erkennen, in welchem Verhältnis ihre Schöpfungsideen zueinander stehen, noch wie diese Ideen zum Weltganzen, zur Schöpfung Gottes stehen. Dies führt letztendlich zu einem Dilemma: Der menschliche Geist führt als Abbild des göttlichen Geistes die Schöpfung Gottes weiter, ohne aber den göttlichen Plan, das göttliche Urbild oder die Wahrheit zu kennen. Beim Löffel mag die Frage nach der Einordnung in das Weltganze noch belanglos sein, nicht aber bei komplexen Schöpfungsprodukten des menschlichen Geistes. So sind auch Kraftfahrzeuge, Atomreaktoren und industrielle Massentierhaltung Produkte oder Ergebnisse des schöpferischen menschlichen Geistes. Da der Mensch das Weltganze nicht zu erfassen vermag, erkennt er mitunter zu spät, dass beispielsweise Kraftfahrzeuge und Massentierhaltung mit den göttlichen, natürlichen Schöpfungsprodukten nur bedingt im Einklang stehen. Umweltverschmutzung, Treibhauseffekt, Ozonloch und durch Massentierhaltung bedingte Krankheiten bei Mensch und Tier sind die realen, unerwünschten Nebenprodukte der Urbilder des menschlichen Geistes. Das Unvermögen des menschlichen Geistes das Ganze zu durchschauen ist ergo neben der mangelnden menschlichen poietischen Fähigkeit, geistige Urbilder vollkommen sinnfällig zu machen (Abs. 4.2.2), ein zweiter Grund für die per se unvermeidbaren unerwünschten Technikfolgen. Oder zusammenfassend als These formuliert: Zweiter inhärenter Mangel der menschlichen Schöpfungskunst: Gott überschaut bei seiner Schöpfung das Ganze, der Mensch nicht. Der Mensch vermag damit grundsätzlich nicht mit Gewissheit zu erkennen, ob sein Schöpfungsprodukt erstens mit anderen menschlichen Schöpfungsprodukten und zweitens mit der göttlichen 75
Nikolaus von Kues: De mente c. 10 (h ²V n. 127) (übers. Renate Steiger).
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Schöpfung (insbesondere den Menschen und seiner Umwelt) im Einklang steht oder nicht. Der menschliche Schöpfungsakt ist folglich per se risikobehaftet. Dies ist der zweite inhärente Grund für die Möglichkeit nicht-intendierter und unerwünschter Technikfolgen.
5 Fazit Das Vorhaben, technikphilosophische Thesen im vorrangig philosophischtheologisch geprägten Gesamtwerk des Cusanus aufzuspüren und zu einem cusanischen technikphilosophischen Gesamtbild zu vereinen, war, so muss eingestanden werden, anfänglich von der Befürchtung bestimmt, dass man bei Cusanus diesbezüglich kaum etwas Fundiertes findet und das Vorhaben daher von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Dieses Vorurteil hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Cusanus begründet eine frühe Technikphilosophie, die von erstaunlicher Aktualität ist. Zur Rekonstruktion der cusanischen Technikphilosophie als ein geschlossenes Gesamtbild wurde aus der Vielzahl technikphilosophischer Puzzleteile, die sich in seinem Gesamtwerk finden, zunächst ein erstes grobes Bild gezeichnet, das allerdings noch Lücken aufwies. In einem zweiten Schritt wurden dann diejenigen technikphilosophischen Überlegungen, die Cusanus nur andachte und nicht fortsetzte, folgerichtig mittels Implikationen fortgeschrieben. Es waren vor allem Implikationen, die Cusanus als Kind seiner Zeit noch nicht ziehen konnte oder die er aufgrund seiner philosophisch-theologischen Zielsetzung als irrelevant einstufte. Betrachtet man das damit rekonstruierte technikphilosophische Gesamtbild, so manifestiert es, wie in dieser Arbeit schrittweise nachgewiesen wurde, essentielle technikphilosophische Antworten und Thesen und zwar sowohl zur ontologischen Frage, was Technik ist, aber auch zu den Gründen unerwünschter und nichtintendierter Technikfolgen und damit zu den Gründen der immanenten Ambivalenz von Technik. Cusanus begründet, wie nachgewiesen und einleitend vorgestellt wurde (These 1 der Einleitung), Technik nicht als etwas Gegenständliches, sondern als eine menschliche Kunst (ars humana) und damit als eine menschliche Tätigkeit oder Handlung (ars = actio), der ein Nachdenken, Überlegen und Beschließen vorangeht. Dieses technische Handeln ist nützlich, da es dem Leben dient, erfinderisch, da es Neues hervorbringt, und schöpferisch, da es der Schöpfung Gottes ähnelt bzw. ein Abbild 76 der unendlichen und vollkommenen Kunst Gottes, des Schöpfers der Welt ist. Das technische Handeln im Sinne von Cusanus ist zudem frei und kreativ, was die Gottähnlichkeit des Menschen begründet. Schließlich ist das technische Handeln im Sinne von Cusanus symbolisch, weil es den göttlichen Schöpfungsakt symbolisiert und damit das Verhältnis des Menschen zu Gott ausweist oder offenbart. Der menschliche Schöpfungsakt fungiert folglich als Modell, Beispiel oder Zeichen für den göttlichen Schöpfungsakt. Er ist damit ein möglicher Ausgangspunkt für den stufe76
Da die schöpferische Tätigkeit des Menschen zugleich eine erfinderische ist, können in Bezug auf den Menschen Schöpfung (creatio) und Erfindung (inventio) als synonym betrachtet werden.
Der Technikbegriff des Nikolaus von Kues
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nartigen Aufstieg zur nichtbegrifflichen Schau Gottes und damit zur Wahrheit. Denn sobald dem Menschen bewusst wird, dass sein technisches Handeln oder sein schöpferischer Akt ein Abbild des göttlichen Schöpfungsaktes ist bzw. diesen symbolisiert, ist bereits der erste Schritt zur Erkenntnis Gottes getan. Unter den nachgewiesenen Wesensmerkmalen des cusanischen Technikbegriffs (nützlich, erfinderisch, schöpferisch, frei, kreativ und symbolisch) ist damit das Merkmal der Symbolik das gemäß Cusanus bedeutendste Technikprädikat (These 2 der Einleitung). Es wurde nachgewiesen, dass das cusanische Technikverständnis von erstaunlicher Aktualität und von Bedeutung für die technikphilosophischen Debatten der Gegenwart ist (These 3 der Einleitung). Aktualität erlangt das cusanische Technikverständnis vor Allem durch seine Begründung der Technik als Handlung in Freiheit. Technische Handlungen unterstehen damit nicht den Gesetzen der Natur und folgen somit weder einem Automatismus noch Determinismus. Ergo gelten für technische Handlungen, ebenso wie für alle Alltagshandlungen, moralische Regeln, seien diese Regeln nun durch den Menschen begründet oder durch Gott oder die heiligen Schriften offenbart. Mit diesem technikphilosophischen Ergebnis wird die Tür zur Rekonstruktion einer cusanischen Technikethik geöffnet, denn erst mit der philosophischen Begründung der Technik als Handlung wird Technik auch ein Gegenstand ethischer Auseinandersetzungen. Die damit in puncto Cusanus noch zu leistende Rekonstruktion seiner Technikethik kann allerdings im Gegensatz zur Rekonstruktion der cusanischen Technikphilosophie bereits auf einschlägige Publi78 kationen zur Ethik oder zur praktischen Philosophie des Cusanus zurückgreifen. Gleichermaßen bedeutend für die aktuelle Technikdebatte ist der cusanische Nachweis der grundsätzlichen Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschseins. Denn diese implizieren, dass auch der menschliche Schöpfungsakt einerseits und ebenso die daraus hervorgehenden Artefakte andererseits notwendig unvollkommen und endlich sind. Genau hierin liegen, wie nachgewiesen wurde, die Gründe unerwünschter und nicht-intendierter Technikfolgen und damit zugleich die Gründe für die Notwendigkeit der Ambivalenz von Technik, auch wenn diese Implikationen von Cusanus noch nicht gezogen wurden. In puncto technischer Handlungen finden die Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschen als anthropologische Konstanten vor allem in den beiden folgenden Aspekten ihren Ausdruck: - erstens in der Unmöglichkeit des Menschen seine Schöpfungsprodukte vollkommen im Sinne des geistigen Urbildes zu schaffen und somit in der Realität abzubilden (erster immanenter Grund unerwünschter Technikfolgen), - zweitens in der Unmöglichkeit des Menschen die möglichen Wechselbeziehungen zwischen seinem Schöpfungsprodukt und den Schöpfungsprodukten seiner Mitmenschen einerseits und der Schöpfung Gottes andererseits, wie beispielsweise Mensch und Umwelt, vollkommen zu durchschauen (zweiter immanenter Grund unerwünschter Technikfolgen). 77
Vgl. die Erläuterung der vier Schritte der Annäherung an Gott durch Cusanus in: De docta ignorantia I c. 12 (h I n. 33), wo er die Mathematik als Modell (oder Symbol) heranzieht. 78 Z.B. Mandrella: Viva imago. Die praktische Philosophie des Nikolaus Cusanus; Senger: Zur Frage nach einer philosophischen Ethik des Nikolaus von Kues.
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Aus der durch Cusanus begründeten Unvollkommenheit und Endlichkeit des Menschen folgte weiterhin, dass der Mensch grundsätzlich nicht frei von Fehlern ist. Dies bedeutet, dass auch seine Schöpfungsakte und ergo seine Schöpfungsprodukte per se das Potential zu Fehlern und damit zu unerwünschten Folgen haben. Auch ein Meister seines Handwerks, der sich durch an Vollkommenheit grenzende Fähigkeiten auszeichnet, ist folglich per se nicht frei von Fehlern. Das cusanische Technikverständnis ist in Teilen sicherlich mittelalterlich und nicht modern. Hierzu ist der ungetrübte und unkritische Technikoptimismus zu zählen. In weiten Teilen bereitet es aber die Moderne vor. Dieses Prädikat gebührt vor allem der cusanischen Begründung der Technik als freie, kreative und schöpferische Handlung. Schließlich ist das cusanische Technikverständnis in einigen Teilen zwar aktuell, doch hat es die Moderne noch nicht in dem Maße übernommen, wie es vielleicht sinnvoll wäre. Hierzu gehört der cusanische Nachweis, dass Technik nicht nur den Nutzenaspekt aufweist, der sich in der Moderne vor allem als ein wirtschaftlicher Aspekt erweist, sondern durch vielfältige weitere Aspekte, wie gezeigt wurde, prädiziert ist. Hierzu gehören aber auch die aus seinen technikphilosophischen Überlegungen deduzierbaren Bedingungen der inhärenten, nicht-intendierten Folgen 79 technischen Handelns und damit der Notwendigkeit der Technikambivalenz. Die frühe cusanische Technikphilosophie, die in dieser Arbeit erstmals systematisch rekonstruiert wurde, ist zweifelsfrei eine Bereicherung der Philosophie der Technik und verdient daher auch in den philosophischen Technikdebatten der Gegenwart eine adäquate Beachtung.
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Mit dieser hier zusammenfassend alternativ vorgenommenen ternären Differenzierung in (i) mittelalterlich und nicht modern, (ii) mittelalterlich, aber die Moderne vorbereitend oder grundlegend und (iii) mittelalterlich und aktuell, aber von der Moderne nicht übernommen, folge ich dankend einem Hinweis von Schwaetzer. Die Differenzierung nach (iii) zeigt, so Schwaetzer, dass hier das Technikverständnis des Cusanus gerade deswegen aktuell ist, weil es bestimmte moderne Ansichten nicht teilt, was m.E. besonders auf die moderne Einengung des Technikbegriffes auf den Nutzenaspekt zutrifft.
Der Technikbegriff des Nikolaus von Kues
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CECILIA RUSCONI
Die Auffassung der Mathematik bei Cusanus und das daraus entstehende Gewissheitsproblem Am Anfang des VII. Kapitels von De mente versucht Cusanus zu zeigen, dass es bezüglich der Meinungen über den Geist zwischen Platonikern und Aristotelikern Übereinstimmung gibt: „Über jede Harmonie nämlich fanden sie ein Urteil im Geist und fanden, dass der Geist aus sich Begriffe bildet und so sich bewegt, wie wenn eine lebendige, der Unterscheidung fähige Zahl von sich aus daran ginge, Unter1 scheidungen zu machen […]“ . Dann gibt uns der Text zu verstehen, dass nach der Meinung der Platoniker der Geist „zusammenfassend – collective – und einteilend – distributive – vorgeht“. Ihrerseits findet diese Doppelbewegung auf vier verschiedene Weisen statt, nämlich: „entweder an Hand der Einfachheit und absoluten Notwendigkeit oder der absoluten Möglichkeit oder der Notwendigkeit der Verknüpfung, das heißt der determinierten Notwendigkeit, oder endlich der determinierten Möglich2 keit“ . Diese Einteilung scheint in der traditionellen Lehre der modi essendi ihre Wurzeln zu 3. finden. Im Kontext der cusanischen Philosophie bereitet sie aber den Boden, auf
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De mente c. 7 (h ²V n. 97): „Credo omnes, qui de mente locuti sunt, talia vel alia dixisse potuisse, moti ex his, quae in vi mentis experiebantur. De omni enim harmonia iudicium in mente reperiebant mentemque ex se notiones fabricare et sic se movere, quasi vivus numerus discretivus per se ad faciendum discretiones procederet […]“. Ich bediene mich der Übersetzung von Renate Steiger: Der Laie über den Geist. Hamburg 1995. 2 De mente c. 7 (h ²V n. 97): „[…] et iterum in hoc collective ac distributive procedere aut secundum modum simplicitatis ac necessitatis absolutae vel possibilitatis absolutae vel necessitatis complexionis vel determinatae vel possibilitatis determinatae [El texto continúa]: aut ob aptitudinem perennis motus“. Ich benutze in diesem Fall die Übersetzung von Martin Honecker: Der Laie über den Geist. Hamburg, 1949, 39. Meiner Meinung nach fehlt in der Übersetzung von Renate Steiger zwischen determinata und possibilitas determinata ein Komma: „[…] und fanden […], dass er wiederum hierin zusammenfassend und einteilend vorgeht entweder entsprechend der Weise der Einfachheit und absoluten Notwendigkeit oder der absoluten Möglichkeit oder der Notwendigkeit der Verknüpfung, d.h. der bestimmten Notwendigkeit oder der bestimmten Möglichkeit […]“. Nach dieser Fassung versteht man dann, dass die necessitas complexionis nicht nur als necessitas determinata, sondern auch als possibilitas determinata genannt wird, was der Lehre der Seinsweisen, die Cusanus in diesem Text übernimmt, nicht entspricht. 3 Wie der kritische Apparat von Renate Steiger zeigt, wurden die beträchtlichen Ähnlichkeiten zwischen den Werken des Cusanus und des Thierry von Chartres von den Spezialisten schon erkannt. Diese Parallelstellen sind auch in De docta ignorantia zu finden. Vgl. Ernst Hoffmann und Raymond Klibansky: Praefatio editorum De docta ign. (h I p. xii). Vgl auch e.g.: Duhem: Thierry de Chartres et Nicolas de Cues; Häring: A commentary on Boethius De trinitate, 262; McTighe: Thierry of Chartres and Nicholas of Cusa’s epistemology; Beierwaltes: Einheit und Gleichheit. Eine Fragestellung im Platonismus von Chartres und ihre Rezeption durch Nicolaus Cusanus; Counet: Mathématiques et Dialectique chez Nicolas de Cues, 137-165.
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dem sich eines der Hauptprobleme der modernen Philosophie entwickelt, nämlich die Trennung zwischen Sein und Denken. Bevor wir uns in das Thema vertiefen, ist es nötig zu erklären, was diese vier modi sind, entsprechend denen der Geist wie eine lebendige Zahl vorgeht. Dass der Geist eine lebendige Zahl ist, bedeutet, dass er aus Einheit und Andersheit zusammengesetzt ist. Diese Eigenschaft, die für Cusanus das Wesen der Zahl darstellt, ermöglicht dem Geist zusammenzufassen und zu teilen oder, wie im Zitat ausgedrückt 4 wurde, „Unterscheidungen zu machen“ . Wenn nun die Einheit und die Andersheit als Form und Materie verstanden werden, kann man einerseits eine absolute Einheit oder Form, die gleichzeitig die absolute Notwendigkeit ist, und andererseits eine absolute Andersheit oder Möglichkeit denken. Ebenso kann zwischen beiden Extremen die Zusammenstellung der Form mit der Materie gedacht werden. Diese Zusammenstellung kann so stattfinden, dass entweder die Form oder die Materie vorherrscht. Wenn die Form die Vorherrschaft hat, wird die Materie bestimmt. Weil aber die Form auch Notwendigkeit ist, wird diese bestimmte Form auch determinierte Notwendigkeit oder Notwendigkeit der Verknüpfung genannt: necessitas complexionis. Im zweiten Fall aber käme es zu einer (durch die Form) bestimmten Möglichkeit. Durch diesen Prozess der Einigung und Einteilung, so erklärt Cusanus, gleicht sich der Geist dem Erkannten an. Diese Angleichung wird auf zwei allgemeine Weisen ausgesagt, nämlich gemäß dem Geist, wie er in sich lebt – mens in se subsistens – oder gemäß dem Geiste, wie er 5 6 im Leibe ist – mens in corpore. Im letzten Fall ist der Geist ex officio Seele. Diese Einteilung führt ihrerseits zu drei Erkenntnisebenen. Jede Ebene hängt mit einem oder mehreren der vier Modi essendi zusammen. Die erste Ebene (1) entspricht der Erkenntnis, die der Geist als Seele erlangt, das heißt, der empirischen Erkenn7 tnis, die durch das vermittelt wird, was Nikolaus den Geist der Arterien nennt –. Diese Schicht umfasst die Wahrnehmung – sensus –, die Vorstellungskraft – imaginatio – und den Verstand – ratio. Die Ebene der empirischen Erkenntnis bringt Cusanus mit zwei der modi essendi zusammen und zwar: mit der possibilitas determinata und der possibilitas absoluta. Die zweite und die dritte Ebene entsprechen der Erkenntnis des in sich bestehenden Geistes, das heißt „nicht des Geistes, der in den Körper, den er belebt, eingetaucht ist, sondern des Geistes an sich […]“. Diese Erkenntnisebenen sind: (2) die Erkenntnis, die der Geist erlangt, indem er auf seine Unwandelbarkeit blickt, die 4
Vgl. Fußnote 1. De mente c. 1 (h ²V n. 57): „Nam alia est mens in se subsistens, alia in corpore. Mens in se subsistens aut infinita est aut infiniti imago. Harum autem, quae sunt infiniti imago, cum non sint maximae et absolutae seu infinitae in se subsistentes, posse aliquas animare humanum corpus admitto, atque tunc ex officio easdem animas esse concedo.“ 6 De mente c. 1 (h ²V n. 112): „Nam alia est mens in se subsistens, alia in corpore. Mens in se subsistens aut infinita est aut infiniti imago. Harum autem, quae sunt infiniti imago, cum non sint maximae et absolutae seu infinitae in se subsistentes, posse aliquas animare humanum corpus admitto, atque tunc ex officio easdem animas esse concedo.“ 7 De mente c. 1 (h ²V n. 112): „Dicunt physici, quod anima est inmixta spiritui tenuissimo per arterias diffuso, ita quod spiritus ille vehiculum sit animae, illius vero spiritus vehiculum sanguis.“ 5
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Notwendigkeit der Verknüpfung genannt wird; (3) die einsichthafte Erkenntnis, die der Geist erlangt, wenn er auf seine Einfachheit blickt, das heißt darauf, dass er der 8 Materie nicht mitgeteilt werden kann. Diese Erkenntnisweise entspricht dem ersten modus, der absoluten Notwendigkeit, und bezieht sich auf die Vernünftigkeit – 9 intelligentia oder intellectibilitas. Im Folgenden werde ich nur die reine Erkenntnis in ihrer bestimmten Form behandeln, die Cusanus als Notwendigkeit der Verknüpfung charakterisiert. Zwischen den Paragraphen 100 und 102 beschäftigt sich Cusanus mit der empiri10 schen Erkenntnis und nimmt dann im Kapitel VIII das Thema wieder auf. Die Darstellung der reinen Erkenntnis beginnt ihrerseits in n. 103 mit den folgenden Worten: „Danach bildet unser Geist, nicht als Geist, der in den Körper eingetaucht ist, sondern als Geist an sich […] indem er auf seine Unwandelbarkeit blickt, Angleichungen an die Formen, und zwar nicht so, wie sie in die Materie eingetaucht sind, sondern wie sie in sich und an sich sind, und begreift die unwandelbaren Wesenheiten der Dinge, indem er sich seiner selbst als Instru11 ment bedient […].“ Indem der Geist auf seine Unwandelbarkeit blickt, hebt er die wahrnehmbare Erkenntnis auf, damit er das, was nicht wahrnehmbar ist, erkennen kann, das heißt die reinen Formen oder die Wesenheiten. Dieser Bereich der reinen Formen ist das, was Cusanus „Notwendigkeit der Verknüpfung“ nennt: „So sagen wir, dass die Wahrheit der Dinge im Geist in der Notwendigkeit der Verknüpfung ist, nämlich in der Weise, wie es die Wahrheit des Dinges 12 erfordert […].“ In einer ersten Lektüre scheint der Text klar zu sein. In der Notwendigkeit der Verknüpfung erkennt der Geist die Wahrheit, d.h. die Wesenheit, der Dinge. Im diesem Sinne kann der reine Geist die Wesenheit derselben Dingen erkennen, die er durch die Wahrnehmung coniecturaliter erkennt. Aber kurz davor behauptet Nikolaus, dass die präzise Erkenntnis der Wesenheit eines Dinges für uns 13 unerreichbar sei. Ähnliche Äußerungen sind bei Cusanus an mehreren Stellen zu 8
De mente c. 1 (h ²V n. 105 ): „Unde respiciendo ad suam simplicitatem, ut scilicet est non solum abstracta a materia, sed ut est materiae incommunicabilis seu modo formae inunibilis, tunc hac simplicitate utitur ut instrumento, ut non solum abstracte extra materiam, sed in simplicitate materiae incommunicabili se omnibus assimilet.“ Steiger übersetzt „Daher schaut der Geist auf seine Einfachheit, wie sie nämlich nicht allein von der Materie abgetrennt ist […].“ Ich halte für unwahrscheinlich, dass der Nebensatz sich auf „simplicitatem“ und nicht eher auf „mens“ bezieht. 9 Vgl. De mente c. 7 (h ²V n. 105). 10 Vgl. De mente c. 8 (h ²V n. 108 ff.). 11 De mente c. 7 (h ²V n. 103): „Post haec mens nostra, non ut immersa corpori, quod animat, sed ut est mens per se, unibilis tamen corpori, dum respicit ad suam immutabilitatem, facit assimilationes formarum no ut sunt immersae materiae, sed ut sunt in se et per se, et immutabiles concipit rerum quiditates utens se ipsa pro instrumento sine spiritu aliquo organis […]“ 12 De mente c. 7 (h ²V n. 103): „Sic dicimus veritatem rerum in mente esse in necessitate complexionis, scilicet modo, quo exigit veritas rei […]“ 13 De mente c. 6 (h ²V n. 92): „Neque ad quiditatem eius aliter ac propius accedere possumus, cum praecisio quiditatis cuiuscumque rei sit per nos inattingibilis […]“
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finden. Es ist deshalb einfach, zu vermuten, dass die mit ihr inkompatible Behauptung, nämlich: dass die Wahrheit der Dinge im Geist in der Notwendigkeit der Verknüpfung ist, auf eine andere Weise verstanden werden muss. Tatsächlich identifiziert Cusanus nachstehend die Notwendigkeit der Verknüpfung, das ist die reinen Formen im Geiste, mit der Mathematik: „Und gemäß dieser Kraft bringt er die sicheren mathematischen Wissen15 schaften hervor […].“ Cusanus bietet ein Beispiel an, und zwar die Definition des Kreises: „[…] wie wenn der Geist erfaßt, daß der Kreis eine Figur ist, bei der alle vom Mittelpunkt zum Umfang gezogenen Linien gleich sind, auf welche Weise des Seins ein Kreis ausserhalb des Geistes in der Materie nicht existieren kann […]. Daher ist der Kreis im Geist das Urbild und Maß des Kreises auf dem 16 Boden“ . Ferner wird der Geist „[…] zu diesen abstrahierenden Angleichungen angeregt durch die Vorstellungen oder Bilder der Formen, die er durch die in den Organen gemachten Angleichungen entdeckt, so wie jemand durch die Schönheit 17 eines Bildes angeregt wird, nach der Schönheit des Urbilds zu suchen.“ Zwischen den mathematicalia und den Dingen gäbe es also ein Bild-Urbild Verhältnis. Dieses Verhältnis scheint aber nicht so evident zu sein, wenn man im Betracht zieht, dass laut Cusanus die mathematicalia ausschließlich zum endlichen Geist gehö18 ren d.h., dass sie außerhalb des Geistes nicht bestehen. Darüber hinaus behauptet Cusanus, wie wir gesehen haben, dass es keine Erkenntnis der Wesenheiten geben kann. Deshalb darf man ihn nicht so auslegen, als ob er sagte, dass der Geist in sich die Urbilder der wirklichen Dinge enthält. In der Absicht, den komplizierten Begriff necessitas complexionis, wie er in De mente dargestellt wird, etwas aufzuklären, werde ich erstens (1) die erwähnte Identifi14
E.g. De docta ign. I c. 3 (h I, p. 9/10, n. 10): „Quidditas ergo rerum, quae est entium veritas, in sua puritate inattingibilis est et per omnes philosophos investigata, sed per neminem, uti est, reperta.“ 15 De mente c. 7 (h ²V n. 104): „Et secundum hanc vim exserit scientias certas mathematicales […].“ Vgl. Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1922, 39. 16 De mente c. 7 (h ²V n. 103): „Sicut dum concipit circulum esse figuram, a cuius centro omnes lineae ad cicumferentiam ductae sunt aequales, quo modo essendi circulus extra mentem in materia esse nequit.“ 17 De mente c. 7 (h ²V n. 104): „Et incitatur ad has assimilationes abstractivas per phantasmata seu imagines formarum, quas per assimilationes factas organis deprehendit, sicut excitatur, quis ex pulchritudine imaginis, ut inquirat pulchritudinem exemplaris.“ 18 De mente c. 3 (h ²V n. 70): „Tu nosti, orator, quomodo nos exserimus ex vi mentis mathematicales figuras“; De mente c. 6 (h ²V n. 92): „[…] de numero […] , prout est mathematicus et ex nostra mente procedit, nam illum non esse alicuius rei principium de se constat“; De mente c. 6 (h ²V n. 92): „Ex mente igitur numerus et omnia“. Diese Behauptung findet sich in zahllosen Parallelstellen im Werk des Cusanus. Vgl. u.a. De docta ign. I c. 5 (h I n. 14): „Nam uti numerus, qui ens rationis est fabricatum per nostram comparativam discretionem […]“; De coni. I (h II n. 7): „Rationalis fabricae naturale quoddam pullulans principium numerus est […]“
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zierung der necessitas complexionis mit der mathematischen Erkenntnis behandeln, d.h. das Verhältnis zwischen wahrer Erkenntnis und mathematischer Erkenntnis. Zweitens (2) werde ich das Verhältnis zwischen necessitas complexionis und den realen Dingen studieren.
1. Die Notwendigkeit der Verknüpfung Das, was Cusanus unter wahrer Erkenntnis versteht, lässt sich besser begreifen, wenn man seine Analyse des Begriffes des Dreiecks betrachtet. Das Dreieck ist ein rein mentaler Begriff. Wenn der Geist diesen Begriff ausdrücken will, definiert er ihn. Diese Definition stellt die Idee des Dreiecks mit voller Genauigkeit dar. Das bedeutet, dass es aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive zwischen dem Dreieck und seiner Definition eine Gleichheitsbeziehung gibt. Mit anderen Worten ist der Satz „Das Dreieck ist eine Figur von drei Ecken“ ein analytischer Satz, d.h. ein Satz, in dem das Prädikat schon im Subjektbegriff enthalten ist. Wenn in der Mathematik der Geist es nur mit sich selbst zu tun hat, ist er selbst gleichzeitig die Definition und 19 das Definierte, d.h. sowohl das Subjekt als auch das Prädikat der Definition. Deshalb ist die Idee des Dreiecks das genaue Urbild jedes Dreiecks: weil jedes Dreieck, 20 das in der Vorstellungskraft gebildet wird, genau, d.h. weder mehr noch weniger, , als eine von drei Ecken gebildete Figur ist. Ich glaube, dass Cusanus diesen analytischen Charakter der mathematischen Begriffe meint, wenn er schreibt, dass das Wort trigonus das praecisum vocabulum der dreieckigen Figur darstellt. Praecisum besagt also das, was seine Definition weder übertrifft noch von ihr übertroffen wird. Anders gesagt ist praecisum das, dessen Benennung auch dessen Definition ist. Weil allen mathematischen Begriffen diese Analytizität zugeschrieben werden kann, behauptet Nikolaus: „Wenn ‚Dreieck‘ der genaue Name der dreiwinkligen Figur ist, dann kenne ich auch die genauen Namen aller Vielecke. Dann weiß ich nämlich, dass der Name der vierwinkligen Figur ‚Viereck‘ sein muss, der fünfwinkligen ‚Fün21 feck‘ und so fort“. Hinsichtlich der außerhalb des Geistes existierenden Wesenheiten ist es offensichtlich, dass der Geist nicht nur von sich selbst, sondern eben von etwas anderem als von sich selbst handeln muss. In diesem Fall kann er keinen analytischen Satz bilden. Der Satz: „Der Mensch ist ein denkendes Wesen“ muss also als synthetischer Satz betrachtet werden, d.h. als ein Satz, dessen Prädikat eine andere Information zu der im Begriff des Subjektes enthaltenen hinzufügt. So wie in der Mathematik der menschliche Geist unter seinen eigenen Begriffen Beziehungen feststellt und deswegen eine genaue Erkenntnis seiner Begriffe hat, so 19
Vgl. oben Fußnote 9. Vgl. De theol. compl. (h X/2a n. 2). 21 De mente c. 3 (h ²V n. 70): „Si ‚trigonus‘ est praecisum vocabulum figurae triangularis, tun scio praecisa vocabula omnium polygonarum. Scio enim tunc, quod figurae quadrangularis vocabulum esse debet ‚tetragonus‘ et quinquangulans ‚pentagonus‘ et ita deinceps.“ 20
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hat der unendliche Geist auch eine genaue Erkenntnis seiner Schöpfungen. Wenn man auch diese Erkenntnis in der Form eines Satzes systematisieren will, sollte man sagen, dass für der unendlichen Geist der Satz: „Der Mensch ist ein denkendes We22 sen“ doch ein analytischer Satz ist: „Und aufgrund der Kenntnis eines einzigen Namens erkenne ich die benannte Figur und alle nennbaren Vielecke und ihre Unterschiede und Übereinstimmungen und alles, was man darüber wissen kann. Gleicherweise sage ich: Wüßte ich den genauen Namen eines einzigen Werkes Gottes, so wüßte ich recht wohl alle Namen aller Werke Gottes, und was immer man wissen kann. Und weil das Wort Gottes die Genauigkeit jedes nennbaren Namens ist, 23 steht fest, dass man allein im Wort alles und jedes einzelne wissen kann.“ Die genaue Erfassung der Wesenheit – und damit die wahre Erkenntnis – findet also auf zwei Ebenen statt, nämlich einerseits in der unendlichen Erkenntnis bezüglich der realen Dinge und andererseits in der endlichen Erkenntnis bezüglich der mentalen. Diese Verdopplung der Erkenntnisebenen kann durch eine Passage aus De Beryllo (1458) bestätigt werden, wo Cusanus über „einen anderen Irrtum“ der Philosophie 24 Platons berichtet. Wie er dort erklärt, habe Platon auf der einen Seite richtig gesehen, dass die Figur eines Dinges mit der Vernunft erreicht werden könne, und auf der anderen, dass alles in seinem Ursprung mehr Wahrheit als in sich selbst habe, da das wahre Wesen des Dinges die Absicht oder Idee des Dinges sei, in welcher der Schöpfer durch die Kunst sich zeigen wolle. Aber sein Irrtum habe darin bestanden, dass er diese Regel nicht auf die menschliche Schöpfung angewendet habe. In der Tat haben die Formen der künstlichen Dinge mehr Wahrheit in unserem Geist, genauso wie die natürlichen Dinge mehr Wahrheit in dem göttlichen Geist haben: „so bei dem Kreis, bei der Linie, beim Dreieck und unserer Zahl und allem, das (seinen) Anfang aus einem Begriff des Geistes hat und der Natur ent25 behrt“ . Cusanus trennt auf diese Weise noch expliziter zwei Bereiche, von denen jede aus einem eigenen schöpferischen Prinzip hervorgeht: einerseits die Natur, deren schöpferisches Prinzip der unendliche Intellekt ist; andererseits die Kunst, deren schöpferisches Prinzip der endliche Intellekt ist. Wenn die mathematicalia im endlichen Geist ihr Prinzip finden, entbehren sie also der Natur, d.h. gehören zur Kunst und nicht zur Natur. Laut Cusanus müsste Platon gesagt haben,
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Eine ausführlichere Darlegung dieses Thema führe ich in den Aufsatz: Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus. 23 De mente c. 3 (h ²V n. 70): „Et ex notitia nominis unius cognosco figuram nominatam et omnes nominabiles polygonias […] Pariformiter aio, quod, si scirem praecisum nomen unius operis die, omnia nomina omnium die operum et quiquid scin posset non ignorarem. Et cum verbum dei sit praecisio omnis nominis nominabilis, solum in verbo omnia et quodlibet sciri posse constat.“ 24 De beryllo (h ²XI/1 n. 55): „Scias etiam me aliud quendam in inquisitoribus veritatis, ut puto, defectum repperisse.“ 25 De beryllo (h ²XI/1 n. 56): „Sic de circulo, linea, triangulo atque de nostro numero et de omnibus talibus, quae ex mentis conceptu initium habent et natura carent.“
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„dass, wie die Formen der menschlichen Kunst wahrer in ihrem Ursprung, nämlich im menschlichen Geist sind, als sie in der Materie sind, so die Formen des Ursprungs der Natur, die natürliche sind, wahrer in ihrem Ursprung 26 als außerhalb sind.“ . Wenn aus der Tatsache, dass die mathematischen Dinge im menschlischen Geist wahrer als in der Natur sind, nicht folgt, dass sie im göttlichen Geist ein noch wahreres Sein haben, so sind auch die natürlichen Dinge, die im unendlichen Geist ihr Prinzip haben, nicht wahrer im menschlichen Geist als außerhalb von ihm, d.h. in der Natur. „So siehst du, dass das, was durch unsere Kunst nicht entstehen kann, in wahrerer Weise im Sinnenfälligen als in unserer Vernunft ist, wie das Feuer wahreres Sein in seiner sinnenfälligen Substanz als in unserer Vernunft hat, wo es in einem verworrenen Begriff ohne natürliche Wahrheit ist. So bei al27 lem […].“ Zusammenfassend kann man sagen: Die gewisse Erkenntnis wird verdoppelt. Tatsächlich gibt es: (a) die gewisse Erkenntnis der realen Dinge, die nur Gott zugeschrieben werden kann, und (b) die gewisse Erkenntnis der mentalen Dinge, die dem Menschen zu eigen ist. Man muss aber in Betracht ziehen, dass a natürlich b enthalten muss, da a unendlich ist und Nikolaus das Unendliche als absolut versteht. In diesem Sinne gehört die gewisse Erkenntnis des endlichen Geistes auch zur gewissen Erkenntnis des unendlichen Geistes. Das bedeutet aber nicht, dass die Inhalte von b – des endlichen Geistes – verdoppelt werden. Diese gehören zu a nur, indem sie ursprünglich zu b gehören. Deswegen schreibt Cusanus in De mente: „Daraus entnimmst du, dass zwischen dem göttlichen Geist und den Dingen nicht vermittelnd die Zahl steht als etwas, das wirkliches Sein hätte, sondern 28 die Zahl der Dinge sind die Dinge selbst.“ Mit solchen Worten wird die allegorische Linie, die Plato im Staat vorschlägt, in zwei Teile auseinander gebrochen: die mathematicalia vermitteln nicht zwischen den Ideen und den Dingen. Zusammengefasst kann man sagen: Der Mensch entbehrt einerseits der gewissen Erkenntnis, die Gott von den Wesenheiten besitzt. Andererseits hat der Mensch 26
De beryllo (h ²XI/1 n. 56): „Ideo Plato non videtur bene considerasse, quando mathematicalia, quae a sensibilius abstrahuntur, vidit veriora in mente, quod propterea illa adhuc haberent aliud esse verius supra intellectum. Sed bene potuisset dixisse Plato quod, sicut formae artis humanae sunt veriores in suo principio, scilicet in mente humana, quam sint in materia, sic formae principii naturae, quae sunt naturales, sunt veriores in suo principio quam extra.“ Vgl. meinen Aufsatz: Natürliche und künstliche Formen bei Thierry von Chartres und Nikolaus von Kues. 27 De beryllo (h ²XI/1 n. 57): „Sic vides quomodo ea, quae per artem nostram fieri non possunt, verius sunt in sensibilibus quam in nostro intellectu, ut ignis verius esse habet in sensibili substantia sua quam in nostro intellectu, ubi est in confuso conceptu sine naturali veritate; ita de omnibus. Sed verius esse habet ignis in suo conditore, ubi est in sua adaequata causa et ratione.“ 28 De mente c. 6 (h ²V n. 96): „Ex quo habes inter mentem divinam et res non mediare numerum, qui habeat actuale esse […]“
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doch eine gewisse Erkenntnis oder eine Erkenntnis der Wesenheiten, die sich allerdings nur auf eine bestimmte Art der geistigen Wesenheiten bezieht, und zwar auf die reinen Begriffe, die laut Cusanus mathematisch sind. Offensichtlich führt dieser Dualismus zur Frage danach, wie es möglich ist, dass die geistigen Wesenheiten auf reale Wesenheiten Bezug nehmen? Anders gesagt: wie kann man Gewissheit darüber haben, dass es außerhalb des Geistes Kreisförmigkeit gibt, wenn der Kreis nur zum Geist gehört?
2. Die Notwendigkeit der Verknüpfung und die Dinge In De mente behandelt Cusanus nicht das Problem des Bezugs der geistigen Wesenheiten auf die realen. Die Behandlung dieses Problems gehört vor allem zur Neuzeit. Es ist das Problem des Bezuges des Geistes auf das, was nicht zum Geist gehört. Descartes hat das Problem als ein Problem des Bezuges zwischen zwei Substanzen angegangen, nämlich: der denkenden und der ausgedehnten. Im Folgenden werde ich zu bestimmen versuchen, (2.1) welche Art von Bewusstsein für dieses Problem bei Cusanus zu finden ist. Die Suche nach einer Formulierung des Problems soll dazu führen (2.2), eine Lösung desselben zu finden. In dieser Absicht werde ich mich auf das VI. Kapitel von De mente konzentrieren. Das Kapitel handelt von der Zahl. An erster Stelle erklärt Cusanus „die Gründe, 29 die einen bewegen können, die Zahlen die Ursprünge der Dinge zu nennen“ . Die Antwort des Laien kann so rekonstruirt werden: (i) Es kann nur einen einfachen Ursprung geben. (ii) Deshalb kann das erste Entsprungene, d.h. das göttliche Wort, nicht einfach sein. (iii) Wenn es nicht einfach ist, muss es zusammengesetzt sein. (iv) Man muss aber zugeben, dass es dennoch nicht aus Anderem zusammengesetzt ist, dann wäre es nämlich nicht das erste Entsprungene, sondern die Bestandteile gingen ihm der Natur nach voraus. Es bleibt als Mögligkeit nur übrig, (v) dass es aus sich selbst zusammengesetzt ist. (vi) Das, was aus sich selbst zusammengesetzt ist, wird 30 vom endlichen Geist als Zahl verstanden. Von diesem Argument ausgehend, wertet Nikolaus die Behauptung der Pythagoreer positiv, alles stamme aus der Zahl: „Ich glaube aber, dass die Pythagoreer […] bedeutende und scharfsinnige Männer sind. Nicht dass ich glaube, sie wollten von der Zahl reden, wie sie in die Mathematik gehört und aus unserem Geist hervorgeht –denn dass die nicht Ursprung irgendeines Dinges ist, steht von selbst fest–, sondern sie haben symbolisch und vernünftig von der Zahl geredet, die aus dem göttlichen Geist hervorgeht, von der die mathematische ein Abbild ist […] Und wir ge29
De mente c. 6 (h ²V n. 89): „explana quaeso motiva, quae quem movere possunt ad dicendum rerum principia numeros.“ 30 De mente c. 6 (h ²V n. 89): „Non potest esse nisi unum infinitum principium, et hoc solum est infinite simplex. Primum autem principiatum non potest esse inifinite simplex, ut de se patet. Neque potest esse compositum ex aliis ipsum componentibus; tunc enim non foret primum principiatum, sed componentia ipsum natura praecederent. Oportet igitur admittere, quod primum principiatum sic sit compositum, quod tamen non sit ex alii, sed ex se ipso compositum. Et non capit mens nostra aliquid tale esse posse, nisi sit numerus vel ut numerus nostrae mentis.“
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ben jener Zahl unseren Namen, wie wir jenem Geist den Namen unseres 31 Geistes geben […].“ Zusammenfassend wird „Zahl“ auf zwei Weisen verstanden, nämlich als mathematische Zahl, die nur im Geist existiert, und als das Verbum, das durch Angleichung an die Zahl so genannt wird. Diese Erklärung führt dazu, dass wir unsere Frage nach der Beziehung zwischen der Notwendigkeit der Verknüpfung und den Dingen neu formulieren in der Terminologie der Zahl. So wie wir uns weiter oben nach der epistemischen Begründung der Behauptung, dass es ausserhalb des Geistes Kreisförmigkeit gibt, fragten, können wir nun diese Frage in Bereich der Zahl einsetzen und statt nach der Kreisförmigkeit nach der Vielheit fragen. Genauer gesagt: ob man behaupten darf, dass es ausserhalb des Geistes Vielheit gibt. Wenn die Zahl nur zum Geist gehört, darf man dann sagen, dass die Dinge viele sind? Eben mit dieser Formulierung begegnen wir dem Problem, wie Cusanus es behandelt: „Besteht nicht die Vielheit der Dinge ohne die Betrachtung durch unseren 32 Geist?“ Cusanus gibt eine positive Antwort und postuliert wieder zwei Ebenen: (a) die Vielheit, deren Ursprung der unendliche Geist ist, und (b) die Vielheit, deren Ursprung der endliche Geist ist: „Ja, aber vom ewigen Geist her. Wie daher in bezug auf Gott die Vielheit der Dinge aus dem göttlichen Geist stammt, so stammt in bezug auf uns die 33 Vielheit der Dinge aus unserem Geist.“ Die Vielheit der Zahlen entsteht aus dem Verständnis des endlichen Gestes: „Wir nennen es ‚eins‘, weil er [der Geist] eins einzeln, und das nur einmal, erkennt. Aber wenn er eins einzeln und vervielfachend erkennt, urteilen wir, dass es mehrere Dinge sind, indem wir ‚zwei‘ sagen, weil der Geist ein und 34 dasselbe einzeln zweimal oder verdoppelnd erkennt […]“ Die Vielheit der Dinge entsteht aus dem Verständnis des unendlichen Geistes: „Daraus nämlich, dass, der göttliche Geist das eine so erkennt und das andere anders, ist die Vielheit der Dinge entstanden. Wenn du es also genau über-
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De mente c. 6 (h ²V n. 88): „Arbitror autem viros Pythagoricos, qui ut ais per numerum de omnibus philosophantur, graves et acutos. Non quod credam eos voluisse de numero loqui, prout est mathematicus et ex nostra mente procedit – nam illum non esse alicuius re principium de se constat –, sed symbolice ac rationabiliter locuti sunt de numero, qui ex divina mente procedit, cuius mathemticus est imago […] Et damus illi numero nomen nostrum sicut menti illi nomen mentis nostrae, et delectabiliter multum versamur in numero quasi in nostro proprio opere.“ 32 De mente c. 6 (h ²V n. 93): „Nonne sine nostrae mentis consideratione est rerum pluralitas?“ 33 De mente c. 6 (h ²V n. 93): „Est, sed a mente aeterna. Unde sicut quoad deum rerum pluralitas est a mente divina, ita quoad nos rerum pluralitas est a nostra mente.“ 34 De mente c. 6 (h ²V n. 93): „Mens enim ex eo, quia unum et idem singulariter intelligit et singillatim, et hoc ipsum consideramus – dicimus esse unum ex hoc, quod unum singulariter et hoc semelligit – veraciter est unitatis aequalitas. Sed quando unum singulariter et multiplicando intelligit […]“
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denkst, wirst du finden, dass die Vielheit der Dinge nichts anderes ist als eine 35 Erkenntnisweise des göttlichen Geistes […]“ Schließlich erklärt Cusanus, worin die Beziehung zwischen beiden Verständnisse liegt: „Weil nämlich die aus unserem Geist stammende Zahl das Abbild der göttli36 chen Zahl ist, die das Urbild der Dinge ist, ist sie Urbild der Begriffe.“ Beide Ebenen haben ein Urbild-Abbild Verhältnis untereinander, indem der Geist als endlicher Ursprung das Bild des unendlichen Ursprungs ist, d.h. imago dei. Diese Behauptung stellt ein Axiom der Philosophie des Cusanus dar. Eben auf dieses Axiom stützt sich die Antwort auf das Problem des Bezuges der geistigen Wesenheiten auf die realen und daraus auf die Frage nach der Möglichkeit der gewissen Erkenntnis: Die necessitas complexionis bezieht sich auf mathematische Wesenheiten, die rein mental sind. Das ist der Grund, dass diese Wesenheiten mit Gewissheit erkannt werden können. Auf der anderen Seite kann man auf der Grundlage des Axioms der imago dei behaupten, dass das Urbild der Begriffe der Dinge – d.h. die Zahl des Geistes – Abbild des göttlichen Wortes ist, welches das Urbild der realen Dinge ist. In diesem Sinne hat der menschliche Geist eine gewisse Erkenntnis der mentalen Wesenheiten und nur dadurch eine indirekte und konjekturale Erkenntnis der realen Wesenheiten.
Schlussbemerkung Aus den vorherigen Überlegungen kann man schließen, dass die Zahl des Geistes das Urbild der Begriffe ist. Die reine Form, die der Geist abstrahiert, wenn er in der Notwendigkeit der Verknüpfung erkennt, ist nicht die ontologische Form, sondern die Form des Begriffes. Die Vielheit der Begriffe ist auf diese Weise „[…] das Abbild 37 der Vielheit der Dinge wie unser Geist Abbild des göttlichen Geistes“. Die quidditas rerum ist tatsächlich unerkennbar. Aber wenn die Zahl das Urbild der Begriffe ist, abstrahieren die mathematischen Dinge eher die quidditas notionum, d.h. die Form der Begriffe, und nicht die des Dinges. Diese Form des Begriffes ist a priori, d.h. von der Wahrnehmung unabhängig. Es ist denn auf diese Weise, dass die mathematicalia auf die Dinge Anwendung finden: Die Mathematik kommt nicht aus der Wahrnehmung, sondern stellt die Form der Wahrnehmung dar. Die mathematischen Begriffe sind also nicht angeborene Ideen der endlichen Geistes. Sie sind eher die Form, in welcher der Geist Ideen konzipieren kann. Dass dieses Prozess 35
De mente c. 6 (h ²V n. 93): „Ex eo enim, quod mens divina unum sic intelligit et aliud aliter, orta est rerum pluralitas. Unde si acute respicis, reperies pluralitatem rerum non esse nisi modum intelligendi divinae mentis.“ 36 De mente c. 6 (h ²V n. 93-95): „quod unum singulariter et hoc semel intelligit […] Sed quando unum singulariter et multiplicando intelligit, res plures esse diiudicamus binarium dicendo, quia mens unum et idem singulariter bis sive geminando intelligit… mens divina unum sic intelligit et aliud aliter, orta est rerum pluralitas. Unde […] reperies pluralitatem rerum non esse nisi modum intelligendi divinae mentis […] numerus enim nostrae mentis cum sit imago numeri divini, qui est rerum exemplar, est exemplar notionum.“ 37 De mente c. 6 (h ²V n. 95): „[…] pluralitas, quae est pluralitatis rerum imago, sicut mens nostra divinae mentis imago.“
Die Auffassung der Mathematik bei Cusanus
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Erkenntnis genannt werden darf, hat seinen Grund darin, dass diese Form des endlichen Denkens das Abbild der schöpferischen Tätigkeit des unendlichen Geistes ist, weil der endliche Geist Bild und Gleichnis des Schöpfers der Dinge ist. In diesem Sinne schimmert also bei Cusanus schon das fundamentale Problem der modernen Philosophie durch, indem die einzige gewisse Erkenntnis die der eigenen Begriffe ist. Auf der anderen Seite hat diese Erkenntnis bei Cusanus noch einen tranzendenten Charakter, indem solche Begriffe ein Abbild des Realen zu sein versprechen.
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Literaturverzeichnis Duhem, Pierre: Thierry de Chartres et Nicolas de Cues. In: Revue des Sciences Philosophiques et théologiques. Troisième Année (1909), 525-530. Häring, Nikolaus: A commentary on Boethius De trinitate by Thierry of Chartres. In: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 23 (1956), 257325. McTighe, Thomas: Thierry of Chartres and Nicholas of Cusa’s epistemology. Proceedings of the PMR conference. Annual publication of the Patristic, Medieaeval and Renaissance Conference 5 (1980), 169-176. Beierwaltes, Werner: Einheit und Gleichheit. Eine Fragestellung im Platonismus von Chartres und ihre Rezeption durch Nicolaus Cusanus. In: Ders.: Denken des Einen. Frankfurt 1985, 368-367. Counet, Jean-Michel: Mathématiques et Dialectique chez Nicolas de Cues. Paris 2000. Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Berlin 1922. Rusconi, Cecilia: Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus. In: Müller, Tom / Vollet, Matthias (Hgg.): Die Modernität(en) des Nicolaus Cusanus. Mainz 2012 (im Druck). Rusconi, Cecilia: Natürliche und künstliche Formen bei Thierry von Chartres und Nikolaus von Kues. In: Moritz, Arne (Hg.): Ars imitatur naturam. Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Münster 2010, 253-265.
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Der Begriff des Intellektes in Sermo CLXXXVII „Spiritus autem Paraclitus“ (Jo 14,26) Nikolaus von Kues hat sich oft zum Thema des Intellektes geäußert. Ich möchte hier die Gedanken vorstellen, die er in einer Predigt zum Pfingstfest 1455 über den Vers 1 „Spiritus autem Paraclitus“ (Io 14,26) entwickelt hat. Dass er in einer Pfingstpredigt philosophisch-theologische Gedanken über den Intellekt erörtert, ist nicht verwunderlich. Der Intellekt ist für ihn ein Abbild des göttlichen Geistes. Außerdem ist zu bedenken: Das Thema des Intellekts hat ihn zu jener Zeit in besonderer Weise bewegt. Das zeigt seine Schrift De beryllo, an der er in jenen Jahren arbeitete, auch wenn er sie erst 1459 vollendet hat. In der ersten der Prämissen zu dieser kleinen Einführung in seine Koinzidenzlehre und seine Philoso2 phie insgesamt stellt er als These, „in der alles, was es zu sagen gibt, enthalten ist,“ den Satz auf: Alle verschiedenen Dinge gehen aus von einem einzigen ersten Prinzip, 3 das Intellekt genannt wird. Diese These geht nach Nikolaus auf Anaxagoras zurück; sie ist vor allem fest in der platonisch-neuplatonischen Philosophie verankert. Wenn Nikolaus anfügt, dass der Intellekt seine Freude daran findet, das Licht seiner Ein4 sicht zu zeigen und mitzuteilen, dann wird deutlich, dass die These über den Bereich der Philosophie hinausgeht und in die Theologie reicht. Die theologischen Implikationen, die in der These nur angedeutet werden, sollen im Folgenden anhand der genannten Pfingstpredigt dargelegt werden. Cusanus hat den Begriff des Intellekts in seinen Predigten oft im anthropologischen und erkenntnistheoretischen Kontext entwickelt, indem er ihn abgrenzte gegen andere Formen der Wahrnehmung, etwa gegen die Sinnlichkeit (sensus und 5 imaginatio), gegen die ratio oder auch gegen den Glauben. In der vorliegenden Predigt wählt er einen theologischen, genauer gesagt: einen schöpfungstheologischen Zugang zur Bestimmung des Intellekts: Weil Gott der Schöpfer aller Dinge und somit das erste und einzige Prinzip von allem ist, ist er reiner Intellekt (n. 2). Eine erste Folgerung, die sich aus der Gleichsetzung von Intellekt mit Prinzip ergibt, ist die Einsicht in die produktive, schöpferische Natur des Intellektes. Der Intellekt ist nicht primär eine Fähigkeit zu geistigem Sehen, sondern, wie Cusanus sagt, eine zeugende Kraft:
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Sermo CLXXXVII „Spiritus autem Paraclitus“. 1455 Brixinae in die Pentecostes: h XVIII fasc. 4 (Hamburg 2004, S. 342-352). Vgl. dazu Álvarez Gómez: Die Lehre vom menschlichen Geist; Reinhardt: Der Intellekt als Prinzip des Seins; Schwaetzer: Réflexions sur l’intellect. 2 De beryllo c. 3 (h XI/1 n. 4): „[…] in quo complicite omnia dicenda continentur.“ 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Siehe auch Álvarez Gómez: Die Lehre vom menschlichen Geist (intellectus/Vernunft), besonders 232-233.
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„Intellekt nennen wir jene Kraft, die aus sich selbst heraus zeugt und hervorb6 ringt wie das Prinzip einer Bewegung.“ Als Beispiel für die produktive Tätigkeit des Intellekts nennt Nikolaus die eigenstän7 dige Erfindung neuer, bisher unbekannter Kunstfertigkeiten (artes). In anderen Predigten und Traktaten urteilt Nikolaus differenzierter über die produktive Tätigkeit des Intellektes; er unterscheidet zwischen dem göttlichen Intellekt, der die Dinge hervorbringt, und dem menschlichen Intellekt als dessen lebendigem Abbild, der nur die Ähnlichkeiten der Dinge schafft. In der kurz zuvor gehaltenen Predigt CLXXIII (1455, 22. Febr.) sagt er: „[Die vernunfthafte Seele] schafft in sich, insofern sie Bild ist, die Ähnlichkei8 ten aller Dinge.“ Aber auch die assimilatio ist für ihn kein rein rezeptiver Vorgang. Das gilt vor allem dann, wenn der Intellekt sich nicht in der Erfindung neuer Künste erschöpft, sondern sich selbst erkennt. 9 „Der Intellekt erzeugt von sich her die Erkenntnis seiner selbst, die er liebt.“ Diese Aussage trifft zunächst auf Gott zu. Der göttliche Intellekt ist als erstes Prinzip ein allmächtiges Prinzip, weil es von nichts anderem abhängt. Es hat, wie schon in dem Satz angedeutet wird, eine trinitarische Struktur, ohne dass das Wort Trinität hier erwähnt würde. Der allmächtige Intellekt des Vaters erzeugt aus sich einen ihm wesensgleichen Intellekt, den Sohn, und aus dem gegenseitigen Erkennen von Vater und Sohn (das Nikolaus Hervorbringen, aber auch Sehen nennt; n. 3,25), entsteht ein drittes Moment, das verschiedene Namen trägt: Glück, Ergötzen, Glorie, Güte, Liebe, Freude (felicitas, delectatio, gloria, bonitas, amor, laetitia, gaudium). Erst in diesem dritten Moment kommt die Selbsterkenntnis zur Ruhe, das heißt, an ihr Ziel. Der Intellekt strebt also letztlich nach Selbstbestätigung, welche Anerkennung, 10 Herrlichkeit, Ruhm und Ehre bedeutet. Nikolaus von Kues veranschaulicht den Gedanken durch Beispiele aus dem menschlichen Leben. Hier gibt es zwar nur die vana gloria, den eitlen, nichtigen Ruhm; aber in der vana gloria dieser Welt leuchtet doch die wahre, die göttliche gloria auf. Da ist das Beispiel von dem Vater, der sich seiner Schönheit erst bewusst wird, wenn er einen ebenso schönen Sohn zeugt. Das zweite Beispiel stellt die Frau in den Mittelpunkt; erst wenn sie sich im Spiegel sieht, wird sie sich ihrer Schönheit bewusst, freut sich daran und prahlt damit. In beiden Beispielen kommt die Erkenntnis der Schönheit dadurch zustande, dass der eine sich im anderen, seinem Ebenbild, als 6
Sermo CLXXXVII, n. 2: „Nominamus intellectum virtutem illam quae ex se ipsa generat et producit sicut principium motus.“ 7 Ähnlich in dem Brief an den Novizen Nikolaus (dem sog. Albergati-Brief) n. 23. 8 Sermo CLXXIII n. 5: „Unde [anima intellectiva] creat in se, uti est imago, omnium rerum similitudines.“ Vgl. De principio (h X/2b n. 21): „universalis intellectus qui est aut conditor aut assimilator. Conditor est essentians ‚eius intelligere est creare‘, assimilator intelligens.“ Ähnlich im Albergati-Brief n. 22: „Dementsprechend ist so, wie das Wort Gottes wesenschaffend ist, unsere Vernunft bildschaffend.“ Siehe auch Sermo XCVI n. 7. 9 Sermo CLXXIII n.2: „Intellectus enim de se generat sui ipsius intellectum, quem diligit.“ 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Reinhardt: Das Streben des Geistes nach Selbstbestätigung.
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schön erkennt; darin findet er eine Selbstbestätigung, die in ihm Freude auslöst und zugleich seinen Ruhm vor anderen begründet. Offensichtlich orientiert sich Cusanus bei der Analyse des Intellekts an der Trini11 tätslehre. Entscheidend ist für ihn dabei, dass es in Gottes Selbsterkenntnis neben dem erkennenden Vater und dem gleichwesentlichen Sohn, in dem der Vater sich erkennt, noch ein drittes Moment gibt. Wenn Vater und Sohn sich gegenseitig durch sich und in sich erkennen, dann entsteht eine Art von Selbstbestätigung und Selbstbefriedigung, die nach innen gesehen Freude auslöst und nach außen hin Ehre, Ruhm und Anerkennung begründet. Man könnte auch sagen, in diesem dritten Moment tritt das Selbst des Intellektes – und damit die Identität des Geistes – hervor. Es ist schwer, dieses dritte Moment in Gott begrifflich von den beiden anderen zu unter12 scheiden; am besten erkennt man es, wenn man Gott in seinem Wirken nach außen betrachtet, wie wir gleich noch genauer sehen werden. Doch bleiben wir noch bei der allgemeinen Analyse des Intellektes. Nachdem Cusanus so einigermaßen die Natur des Intellektes am Beispiel des göttlichen Intellektes geklärt hat, erinnert er in einer erkenntniskritischen Zwischenbemerkung an 13 den konjekturalen Charakter dieser und aller Aussagen über Gott. Im Grunde kann man im Bezug auf Gott überhaupt nicht von Intellekt sprechen; Gott übersteigt alles intellektuale Sein. Biblischer Beweis dafür ist für Cusanus die Aussage Jesu im Gespräch mit der Samariterin (Jo 4,24): „Gott ist Geist (spiritus), und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Auf der anderen Seite ist der transzendente göttliche Geist doch in allem intellektualen Leben anwesend, und so werden konjekturale Aussagen möglich, die vom Abbild zum Urbild emporsteigen. Zum Ausgangspunkt dieser konjekturalen Erkenntnis gehört die Erfahrung, dass der menschliche Geist mit aller Macht danach strebt, seine Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Das Streben nach Anerkennung und Ruhm ist konstitutiv für den Intellekt. „Wir erfahren in uns, dass unsere einsichthafte Natur mit allem Eifer versucht, ihre Herrlichkeit kundzutun, die sie durch das Einsehen hat. Deshalb verlangen diejenigen, die sich freuen, nach solchen, die ihre Freude teilen, wie Christus am Beispiel der Freude über das Finden des verlorenen Sohnes, des 11
In der Trinitätslehre wird gewöhnlich das Wort als Produkt der göttlichen Selbsterkenntnis betrachtet. Im Wort spricht Gott sein Wesen aus, in ihm erkennt er sich selbst. Das ist sicher eine richtige und fruchtbare Bestimmung des innergöttlichen Lebens; aber sie darf nicht so verstanden werden, dass der Sohn als Wort einfachhin das passive Produkt wäre; er ist selbst handelndes Subjekt im Bezug auf den Vater wie auf die Schöpfung. Auch die Anwendung der Termini Sehen und Bild auf diesen Vorgang ist nicht ohne Probleme. Das Hervorbringen des Sohnes ist nicht einfach das Hervorbringen eines Ebenbildes, in dem sich der Vater spiegelt. Als lebendiges Bild ist der Sohn weit mehr als Bild, er ist selbst aktiv. Cusanus setzt gelegentlich videre mit generare / producere gleich. 12 Deshalb wird es auch von Cusanus-Spezialisten bei der Analyse des Intellektes oft übersehen; eine Ausnahme bildet Maurice de Gandillac. 13 Sermo CLXXXVII n. 5.
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verlorenen Schafes und der verlorenen Drachme zeigt. Und ganz allgemein gilt, dass dazu; dass unsere Herrlichkeit und Freude kundwird, der Besitz ei14 nes Gutes nicht als angenehm empfunden wird ohne Teilhaber.“ Der Gedanke taucht bei Cusanus mehrmals auf. In der Predigt CLIV (1454) findet er eine Bestätigung dafür in der Tatsache, dass die Menschen gerne Bücher schrei15 ben, um ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen. In einer seiner letzten Schriften, der Reformatio generalis, greift er den Gedanken nochmals auf: „Wir sehen nämlich, dass die denkende Natur, die an Gottes Güte teilhat, eine Neigung hat zu sich mitteilender Darstellung ihrer selbst, wie es uns die Bücher der Weisen zeigen, die deswegen herausgegeben sind, dass ein jeder darin sein Denken zeigt und diejenigen, die aufnahmewillig sind, zur Teilha16 be daran aufruft.“ Diesen sozialen, kommunikativen Aspekt des Denkens findet Nikolaus auch bei Gott. „Wie der einsichthafte Geist seine Herrlichkeit nur kundtun kann, indem er andere zur Teilhabe ruft, denen er sich mitzuteilen versucht, so erschafft nach unserem Urteil auch der allmächtige Gott alles, damit die Reichtümer seiner 17 Herrlichkeit bekannt und anerkannt werden.“ Greift man auf die Buchmetapher zurück, so bedeutet das, dass Gott zwei Dinge erschaffen musste, nämlich die Schöpfung als Buch und zugleich einen Leser, der dieses Buch als Ausdruck der göttlichen Herrlichkeit entziffern kann, eben den vernunftbegabten Menschen. In der vorliegenden Predigt rechtfertigt Cusanus diesen Sachverhalt mit dem Satz 18 „Gott will erkannt werden.“ , einem Satz, den er bei verschiedenen Gelegenheiten
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Ebd. n. 6: „Experimur autem in nobis quod intellectualis nostra natura quaerit omni diligentia gloriam suam, quam habet intelligendo, notam facere. Et propterea gaudentes congaudentes desiderant et quaerunt, ut de gaudio inventionis perditi filii, perditae ovis et perditae dragmae Christus exemplificat. Et generaliter ob hoc, ut gloria et laetitia nostra nota fiant, nullius boni sine socio iucunda est possessio.“ 15 Sermo CLIV n. 21: „Si consideramus, quomodo intellectus se communicat cum gaudio, ut experimur per scripturas: nisi sunt scribentes suum communicare intellectum, Deus autem qui est purissimus intellectus, voluit divitias suas communicare et notas facere, et in hoc homo est finis creaturarum, quia habet intellectum, qui est capax notitiae, quem Deus ut noscatur creaavit.“ Die deutsche Übersetzung in: Nikolaus von Kues, Predigten in deutscher Übersetzung. Band 3, Münster 2007, 191 hat fälschlicher Weise ‚nisi’ mit ‚wenn nicht’ übersetzt; richtig muss es heißen: Die Schreibenden haben sich bemüht (nisi von niti), ihr Verständnis mitzuteilen ... 16 Reformatio generalis (h XV n.1): „Videmus enim naturam intellectualem dei bonitatem participantem inclinari ad sui ostensionem et participationem, quemadmodum nos docent libri sapientum, qui propter hoc editi sunt, ut quisque suum intellectum ostendat et ad eius participationem dociles vocet.“ 17 Sermo CLXXXVII n. 6: „Et sicut intellectus gloriam suam non potest notificare, nisi ad participationem vocet alios, quibus se nititur communicare, ut sic alii in suis intellectibus degustent gloriam suam, quam intelligendo in se habet, sic iudicamus Deum omnipotentem omnia facere, ut divitiae gloriae suae notae fiant et cognoscantur.“ 18 Sermo CLXXXVII n. 7: „Vult igitur Deus cognosci.“
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zitiert und fast wie ein Axiom gebraucht. Gottes Güte drängt ihn, wie Cusanus mit Berufung auf das Axiom bonum est diffusivum sui feststellt, sich auch im anderen, das heißt, in den Geschöpfen zu offenbaren, damit sie ihn erkennen und seine Herrlichkeit rühmen. Das ist, wie Cusanus sowohl in „De mente“ wie in „De beryllo“ gegen Plato und Aristoteles betont, kein naturnotwendiger Vorgang, sondern ein Akt des freien, göttlichen Willens. Trotzdem muss man sehen, dass mit solchen Überlegungen die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes durch die Schöpfung eine gewisse Notwendigkeit erhält. Ohne solche Offenbarung wäre Gott nicht Gott, zumindest nicht der Schöpfergott. Cusanus spitzt diesen Gedanken ganz bewusst zu, indem er sich den damals offenbar weit verbreiteten Spruch zueigen macht: „rex ignotus non differt a non rege“, „ein unbekannter König unterscheidet sich nicht von einem 20 Nicht-König“. Wer nicht als König in Erscheinung tritt und als solcher anerkannt wird, ist kein König, mag er es auch durch Abstammung und von Rechts wegen sein. Cusanus ist sich zwar bewusst, dass die Anwendung dieses Dictums auf Gott problematisch ist; denn er wehrt den Gedanken ab, Gottes Gottheit hänge von der Anerkennung durch die Menschen ab; aber trotzdem hält er an dem Vergleich fest; denn dieser weist auf eine Eigenart cusanischen Denkens hin. Cusanus sieht Gott und Mensch in einer gegenseitigen Bezogenheit. Der Mensch ist als Geschöpf ganz von Gott abhängig; auf der anderen Seite aber ist auch Gott auf den Menschen ausgerichtet; um in der Schöpfung seine Herrlichkeit zu entfalten, braucht er vernunftbegabte Geschöpfe. Damit wird Gottes Wille nicht durch ein ihm Anderes bestimmt. Oft zitiert Cusanus den Satz aus dem Buch der Sprüche in der Version der Vulgata (Prv 16,4): „Universa propter semetipsum operatus est Dominus.“ „Gott hat alles um seiner selbst willen geschaffen.“ Das heißt: weder Grund noch Ziel des Schaffens liegen außer ihm. Der Grund für Gottes Schaffen ist seine Güte; sie drängt ihn dazu, sich mitzuteilen. Auch das Ziel ist Gott selbst. Zunächst bedeutet das, dass die Geschöpfe ihr Ziel darin haben, Gott zu verherrlichen. Aber letztlich zielt Gottes Schaffen nicht darauf, Geschöpfe hervorzurufen, die ihn durch ihr Eigensein verherrlichen, sondern es zielt auf ein Geschöpf, das so mit ihm vereint ist, dass es selbst Gott ist. Erst in 19
Vgl. Sermo CCXC, n. 12: intellectus vult intelligi et cognosci. De beryllo enthält den Satz zwar nicht wörtlich, aber dem Sinne nach in n. 4, n. 6 u.ö. In De aequalitate (h X,1, n. 3) kommt Cusanus auf De beryllo zurück und präzisiert: Legisti in Beryllo nostro, quomodo intellectus vult cognosci. Dico nunc hoc verum esse a se et aliis, et hoc non est aliud nisi quod se et alia vult cognoscere, cum in cognoscendo sit vita eius et laetitia. Vgl. zu dieser Stelle Schwaetzer: Aequalitas, 59-67. Einer der frühesten Belege für den Gedanken Deus vult cognosci findet sich in De quaerendo Deum c.3 (h IV n.39): „Et quaeri vult. Vult et quaerentibus lumen dare, sine quo ipsum quaerere nequeunt.“ Siehe dazu Schwaetzer: De quaerendo Deum. Schwaetzer spricht von einer doppelten Partizipation (besser wohl von einer reziproken Partizipation) und deutet das ‚vult quaeri‘ als willentliches Sichzurücknehmen Gottes, der dem Menschen so Raum für dessen freie Entscheidung geben will (16). Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner, überschreibt das Kapitel über den Cusaner mit ‚Die Welt als Selbstbeschränkung Gottes‘ (34-108), im Gegensatz zum Kapitel über den Nolaner ‚Die Welt als Selbsterschöpfung Gottes‘. Er beruft sich dafür auf die cusanische Idee der contractio (175-176, Fußnote 116) und auf das Zimzum des Kabbalisten Isaac Luria. 20 Siehe Sermo CLIV n. 21.
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dem Gottmenschen Christus erfüllt sich der Satz, dass Gott alles um seiner selbst willen geschaffen hat. Durch den Gottmenschen ist die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung in die Einheit mit Gott aufgenommen, und zwar so, dass deren geschöpfliches Sein nicht von Gott absorbiert, sondern allererst zu seiner Fülle gebracht wird, soweit das für ein Geschöpf möglich ist. Das Verhältnis von Gott und Mensch wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir auf die menschliche Seite dieser Beziehung schauen. Der menschliche Intellekt ist, wie wir gesehen haben, ein Abbild des göttlichen. Aufgrund dieser strukturellen Ähnlichkeit kann Cusanus auch im Bereich des menschlichen Intellektes von einem legitimen Streben nach Ehre und Ruhm sprechen. Aber wo es um das Ganze des menschlichen Erkennens geht, da gilt, dass der menschliche Intellekt als geschaffener seinen Grund und sein Ziel nicht in sich, sondern allein in Gott findet. Deshalb ist er gehalten, nicht seine eigene Ehre, sondern allein die Gottes zu suchen. Die eigene Ehre zu suchen bedeutet Sünde. Mit dieser Einsicht verbindet Cusanus vor allem zwei Gedanken: Erstens legt Gott, dadurch dass er den Menschen zu seiner eigenen Verherrlichung schafft, dem menschlichen Intellekt keinen Zwang auf. Zur Freiheit des menschlichen Intellekts gehört auch das Sündigen-Können. Das betont Cusanus immer wieder, so auch in dieser Predigt. Gott will keine Menschen haben, die sklavisch wie 21 die Tiere Befehle befolgen, sondern er will freie und edle Diener. Die Achtung vor der Freiheit des menschlichen Willens schließt auch Gottes Bereitschaft ein, eine Entscheidung des Menschen gegen ihn zu ertragen. Auch darin offenbart Gott seine Herrlichkeit, zumal dann wenn er im Verzeihen der Sünde seine Barmherzigkeit 22 erweisen kann. Ein zweiter Gedanke wird besonders im zweiten Teil der Predigt breit entfaltet: Obwohl der Mensch von Natur aus dazu bestimmt ist, Gott zu verherrlichen, kommt er nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit der besonderen Hilfe Gottes 23 dahin, dieses Ziel zu erreichen. Zuerst denkt Cusanus an die jenseitige Schau Gottes; dazu reicht die Kraft des menschlichen Intellektes in keiner Weise aus; das ist nur möglich, wenn, wie Cusanus sich ausdrückt, dem lumen naturae das lumen glo24 riae hinzugefügt wird. Im weiteren Verlauf der Predigt führt Cusanus aus, wie der menschliche Intellekt bereits in dieser Welt bis zu einem gewissen Grade zur Erkenntnis Gottes gelangt, indem er durch den Glauben an Christus gestärkt wird und den 25 Geist Christi empfängt. Jetzt spricht Cusanus von einer durch den Geist geschenk26 ten Gabe des Intellekts (donum intellectus) , die zu der in der Schöpfung grundgeleg21
Sermo CLXXXVII n. 10. Ebd. 23 Ebd. n. 8. 24 Sermo CLXXXVII n. 9: „Sed quia debile lumen naturae non potest usque ad visionem gloriae pertingere, tunc in hac infinitate voluit Deus ostendere divitias gloriae et servavit largitati suae infinitae facultatem dandi creaturae potestatem attingendi divitias gloriae suae in lumine gloriae superaddendo lumini naturae optime disposito ad receptionem eius.“ 25 Vgl. ebd. n. 15-17. 26 Ebd. n.17. 22
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ten intellektualen Natur des Menschen noch hinzukommt. Die Terminologie ist also im Bezug auf den Intellekt nicht ganz eindeutig. Für die geistige Natur des Menschen verwendet Cusanus jetzt öfter den Ausdruck ratio; intellectus wird mehr zu einer übernatürlichen, vom Geist Christi geschenkten Gabe. Während der Begriff des Intellektes im ersten Teil der Predigt im Lichte einer allgemeinen Theologie und Philosophie der Schöpfung erläutert wird, dominieren im zweiten Teil die christologischen und pneumatologischen Gedanken. Der Begriff des Intellektes umspannt 28 beide Bereiche; diese Weite und Flexibilität ist sein Vorzug, zugleich aber auch seine Schwäche.
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Ebd.: „Spiritus Paraclitus ille suggerit omnia quae verbum Dei loquitur. Nam est donum, quo spiritus noster rationalis in se seu sua ratione videt hoc verum quod verbum Dei loquitur [...] Ille autem spiritus qui donat intellectum procedit a Patre, qui est intellectus purus, a quo omne datum optimum et onme donum perfectum.“ 28 Vgl. dazu Mandrella: Selbsterkenntnis als Ursachenerkenntnis bei Nicolaus Cusanus; Yamaki: Die doppelte Struktur der Subjektivität im Denken des Nikolaus von Kues; Schwaetzer: Spiritualisierung des Intellektes als ethische Individualisierung; Schwaetzer /Steer: Einleitung, besonders XVII.
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Klaus Reinhardt
Schwaetzer, Harald: Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift De aequalitate. Hildesheim / Zürich / New York ²2004. Schwaetzer, Harald: Einführung zu Nikolaus von Kues. Textauswahl in deutscher Übersetzung 8: De quaerendo Deum. Gott suchen. Trier 2009. Schwaetzer, Harald: Spiritualisierung des Intellektes als ethische Individualisierung. In: Euler, Walter Andreas / Gustafsson, Ylva / Wikström, Iris (Hgg.): Nicholas of Cusa on the Self and Self-Consciousness. Åbo 2010, 223-234. Schwaetzer, Harald: Réflexions sur l’intellect. In: Vannier, Marie-Anne / Euler, Walter Andreas / Reinhardt, Klaus / Schwaetzer, Harald (Hgg.): Encyclopédie des mystiques rhénans d’Eckhart à Nicolas de Cues et leur réception. Paris 2011, 625-632. Schwaetzer, Harald / Steer, Georg: Einleitung. In: Meister-Eckhart-Jahrbuch 4 (2011): Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, IX-XVIII. Yamaki, Kazuhiko: Die doppelte Struktur der Subjektivität im Denken des Nikolaus von Kues – unter besonderer Berücksichtigung des Sehens (videre). In: Euler, Walter Andreas / Gustafsson, Ylva / Wikström, Iris (Hgg.): Nicholas of Cusa on the Self and Self-Consciousness. Åbo 2010, 135-153.
JEAN-CLAUDE LAGARRIQUE
Warum Cusanus zufolge der Intellekt Hilfe braucht Eine lange Schultradition setzt Cusanus an die Anfänge des Renaissance-Humanismus, welcher in den antiken Schriften das Mittel wiederentdeckt, die Würde und den Adel der menschlichen Natur zu verteidigen und zu fördern. Sein Beharren auf den Fähigkeiten des Intellekts, welches den Menschen in den Rang eines „zweiten 1 Gottes“ erhöht, scheint diese Interpretation zu rechtfertigen. Die eifrigsten Verteidiger der Vollkommenheit des Menschen, wie Giovanni Pico de la Mirandola oder Carolus Bovillus – bedienen nicht sie sich bereits seiner Autorität? Die Angelegenheit hört sich demnach allgemein so an: Cusanus wäre, wenn nicht der Brennpunkt des 2 wiedergeborenen Humanismus, so doch ein unumgänglicher Vorreiter. Man empfindet augenblicklich einige Skrupel, diese Interpretation in Frage zu stellen, wo sie doch selbstverständlich zu sein scheint. Und doch gibt es Texte des Cusanus, die wiederholen, dass der Intellekt im Beisein Gottes Halt und eine Handreichung braucht, wie ein sehschwacher, im Dunkeln wankender und herumtorkeln3 der Mensch, oder wie ein Kind, das man die Mysterien der Natur mit Hilfe pädago4 5 gischen Spielens oder von Vergleichen (metalepsis) lehren muss. Denn wenn der Intellekt nicht blind ist, dann ist er vor Gott „wie die Nachteule, wenn sie in die 6 Sonne schauen wollte“ : Seine visuelle Fähigkeit ist sicherlich vorhanden, aber sie ist sehr weit davon entfernt die perfekte Genauigkeit zu besitzen, welche die Betrachtung Gottes erfordert. In dieser Situation erscheint der Intellekt recht schwach und ähnelt weniger einem Riesen als vielmehr einer Weinrebe, deren Triebe, zu lang und zu zerbrechlich, durch einen Pfahl (adminiculum) abgestützt werden müssen, um 7 Weintrauben tragen zu können. Steht der Intellekt somit der göttlichen Unermesslichkeit in der Weise gegenüber wie das auserwählte Volk in der Wüste, welches sich der göttlichen Vorsehung unterwirft, welche es in seinem Umherirren führen soll? Steuert das Denken des Cusanus auf etwas zu, ohne die Richtung zu kennen, und ist sein Weg weglos, wie tausend Jahre zuvor sein Landsmann Salvianus von Marseille, der möglicherweise aus Trier
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De beryllo (h ²XI/1 n.7). Cassirer: Individuum und Kosmos, 7: „Jede Betrachtung, die auf die Erfassung der Philosophie der Renaissance als einer systematischen Einheit gerichtet ist, muß von der Lehre des Nikolaus Cusanus ihren Ausgangspunkt nehmen. Denn von all den philosophischen Richtungen und Bestrebungen des Quattrocento ist es diese Lehre allein, die die Hegelsche Forderung erfüllt, die einen „einfachen Brennpunkt“ darstellt, in dem die verschiedenartigsten Strahlen sich sammeln.“ Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, hat etwas vorsichtiger geurteilt und nennt den Cusanus einen Vorläufer der Moderne. 3 De docta ignorantia I c.1(h I n.4). 4 De ludo globi I (h IX n.1-7). 5 Wie dies insbesondere im ersten Buch von De docta ignorantia der Fall ist. 6 De docta ignorantia I c.1 (h I n.4). 7 De quaerando Deum c.1 (h IV n.17). 2
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stammte, mit Blick auf das Buch Exodus schrieb? Ohne Kompass oder Karte, um sich zu orientieren, ist der Intellekt dann gezwungen, sich einzig und allein dem Wort Gottes zu unterwerfen, wie es in den Heiligen Schriften überliefert wurde? Muss man folglich dazu übergehen, die Gegenposition der üblichen Interpretationstradition einzunehmen, und das Bild eines „antihumanistischen“ Cusanus verteidigen, den Verteidiger der Gnade gegen die Natur? Ist es plötzlich angebracht, sich den französischen „évangéliques“ des Meaux-Kreises zuzuwenden? Ist dort, im Kreise der Humanisten, die sich um Guillaume Briçonnet und Lefèvre d’Etaples9 vereinten, die einzige legitime Nachfolge des cusanischen Denkens zu finden?
I. Die Handreichung (manuductio), oder die Pädagogik als docta ignorantia Warum allerdings bedarf der Intellekt – Cusanus zufolge – der Hilfe? Warum dieser ganze Apparat der metalepsis? Warum kann der Intellekt nicht darauf verzichten? Cusanus macht zu Beginn von De docta ignorantia darauf aufmerksam, das Unvermögen des Intellekts, das absolute Maximum angemessen zu begreifen, entstamme weder irgendeiner natürlichen Unfähigkeit noch irgendeiner unfallbedingten Schwäche, den „durch eine göttliche Begünstigung“ verfüge jeder Mensch – mit seiner Urteilskraft – über ein „wirksames Instrument“, das es ihm erlaube, auf die bestmögliche Art zu sein.10 Anders gesagt, das natürliche Streben (desiderium naturale) ist nicht blind, es richtet sich auf Dinge, die der Geist zu sehen in der Lage ist, wenngleich er sie nicht vollständig verstehen kann. Auf diese Weise die intellektuelle Schau mit dem Streben verknüpfend, habe Gott gewollt, schreibt Cusanus, dass „das Streben nicht umsonst 8
Salvianus von Marsaille: De gubernatione Dei I n.42 (dt.: Des Presbyters Salvianus von Massilia erhaltene Schriften / aus dem Lateinischen übers. und mit Einl. versehen von Anton Mayer. Kempten / München 1935, 62): „Nach diesen Ereignissen zieht das Volk der Hebräer siegreich, ohne Krieg gefühlt zu haben, in die Wüste. Es zieht seine Straße ohne Straße, es macht seinen Weg ohne Weg. Gott geht ihm voran, es ist geehrt durch das göttliche Bündnis, stark durch himmlische Führung; es folgt der beweglichen Säule, die wie eine Wolke am Tage, wie ein Feuer bei Nacht ist, die im Wechsel der Farbe sich dem Wechsel der Tageszeiten anpaßte, so daß sie sich vom Licht des Tages durch ihre dunkelgraue Farbe deutlich abhob und die Finsternis der Nacht durch feurigen Glanz erhellte.“ Salvianus ist berühmt für seine Art und Weise – wie Augustinus sagt – die göttliche Vorsehung vor dem Desaster des römischen Reiches zu verteidigen. Diese „germanischen Invasionen“ können ihm zufolge in der Tat die Gelegenheit sein, die Katholische Christenheit für Völker zu öffnen, die weniger korrumpiert sind als das römische (trotz ihres Arianismus und ihres Heidentums!), und der Kirche so eine größere Universalität zu verleihen. Zur gleichen Zeit beginnt die gallische Kirche damit, einen anderen politischen und militärischen Halt als Rom zu suchen, was zu einer Bevorzugung des Franken Chlodwig und des Gallo-Römers Syagrius (486) führt. 9 Lefèvre hat, wie bekannt ist, die Werke des Cusanus 1514 herausgegeben. Er hat in seinem Vorwort zu Psalterium Quintuplex (1509, 1513) ebenfalls das cusanische Verständnis des Abstiegs Christi in die Hölle ausführlich diskutiert. Siehe Bédouelle: Le Quincuplex Psalterium de Lefèvre d’Etaples, 154-161; Lagarrigue: Les souffrances ‚infernales‘ du Christ en Croix. 10 De docta ignorantia I c.1 (h I n.2).
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gewesen sei“. Denn das Streben bedarf des Intellektes, um sich nicht in das Nichts hineinzustürzen. Und umgekehrt kann man auch sagen, dass der Intellekt einer Vervollständigung durch das Streben bedarf, denn dieses ist es, das den Geist dazu antreibt, dasjenige, das er sieht, hin zu demjenigen, nach dem er strebt, zu überschreiten. Es besteht demnach zwischen dem Streben und dem Intellekt eine wechselseitige Anregung. Das Streben riskiert allerdings ständig, sich zu verlieren, indem es sich an die Wirklichkeiten dieser Welt bindet, fernab vom Guten an sich. Die Vorstellungen, die sich der Intellekt vorgibt, sind niemals mehr als ungenaue Annäherungen, verglichen mit der perfekten Wahrheit. Die Intelligenz ist sicherlich nicht die blinde diskursive Rationalität, aber die visuelle Fähigkeit des Intellektes ist von einer zu unvollkommenen Genauigkeit, um die Wahrheit an sich in angemessener Weise zu begreifen, denn „der Intellekt, der nicht die Wahrheit ist, umfasst die Wahrheit niemals mit einer Genauigkeit, dass diese nicht noch unendlich verfeinert werden könnte.“11 Die intellektuelle Schau darf deshalb nicht dem, das gesehen wird, anhaften, sondern muss dieses ständig übersteigen. Sich „gegenüber der Wahrheit wie ein Polygon gegenüber dem Kreis“12 verhaltend, muss der Intellekt seine Schau abgelöst verwenden, sich des Gesehenen nur wie einer symbolischen Vorstellung bedienend (exemplaribus manuductionibus13). Auf diese Weise wie an der Hand geführt, wird verhindert, dass er fällt oder auf Abwege gerät, indem er das Endliche für das Unendliche hält. Das Mittel der Übertragung bzw. des Vergleichs ist die „manuductio“. Die metalepsis ist nur dann sinnvoll, wenn sich der Intellekt davon loslöst hin zu den Dingen, welche sie symbolisieren. Diese Kunst, den Geist zu leiten, ist, wie man sieht, eine wirkliche spirituelle Pädagogik. Das Spiel der metalepsis zeigt einen pädagogischen Cusanus, der den Leser begleitet und ihm hilft, Fortschritte zu machen. Ohne Zweifel verschrien – auch heute noch – als „die Wissenschaft der Professoren, die nichts zu sagen haben“, bleibt die Pädagogik in der Tat diese bescheidene Wissenschaft, welche die Gelehrten großzügig ignorieren, selbst auf die Gefahr hin, sich in ihrer Lehre einzuschließen. Wissenschaft der Ignoranten und Ignoranz der Gelehrten, die Pädagogik ist wahrlich eine docta ignorantia, die es versteht, das Verlangen hin zum Guten zu leiten, ohne es dabei jedoch zu kennen. Wenngleich demnach das Streben nach dem Glück nicht bei den Gütern dieser Welt Halt machen darf, welche die Glückseligkeit versprechen durch den Besitz von Reichtum, Gesundheit und Freundschaft, so kann es dennoch daraus schöpfen wie eine Darstellung in Spiegel und Rätselbild, um so unmittelbar seine Glut anzufachen. Genau dieses lehrt uns Augustinus in vollkommener Weise im Brief CXXX, in dem zum ersten Male der Ausdruck docta ignorantia auftaucht. Nikolaus von Kues kannte diesen Brief, aus dem er drei Zitate in seiner Predigt VI vom 2. Juli 1431 anführt, sehr gut. Er wird ihn nochmals in der Predigt XXVI
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De docta ignorantia I c.3 (h I n.10). Ebd. 13 Ebd., n.8. 12
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zitieren, die aus dem Zeitraum der Jahre 1441 bis 1444 stammt.14 Die Korrespondentin des Augustinus, Anicia Proba, ist eine reiche Witwe, die sich aus der Welt zurückziehen und dem Gebet widmen möchte; sie spürt jedoch, dass sie nicht weiß „was sie fragen muss, um zu beten, wie es sich gehört“, so wie es Paulus erklärt.15 So wendet sie sich an Augustinus, damit er sie im Beten anleitet. In seiner Antwort lehrt Augustinus sie, die Glut ihres Strebens zu akzeptieren, und es nicht als ein Bedürfnis anzunehmen, das befriedigt werden muss. Denn bevor man weiß, was man beim Beten fragen muss, muss man sich zuerst fragen, wie man sein muss, um angemessen beten zu können. Es ist wahrlich nicht nötig, Proba zu empfehlen in Abgeschiedenheit zu leben: Die Trauer hat sie bereits dazu gebracht, den Bann zu brechen, der sie an die Reichtümer und die flüchtigen Freuden dieser Welt gekettet hatte. Sie hat von sich aus verstanden, dass Geld und Reichtum, Gesundheit und Kinder nicht vollständig glücklich machen: Es sind dies vergängliche Glückseligkeiten, stets geplagt von der Furcht und dem Schmerz, sie zu verlieren. Man muss von ihnen Gebrauch machen, ohne sie zu genießen. Das unbefriedigte Verlangen nach seiner eigenen Befriedigung ist demnach der Träger eines negativen Wissens: Es weiß, dass das wahre Glück sich nicht „auf Reichtümer, auf hohe Würden und andere Größen dieser Art, durch die sich die Sterblichen glücklich glauben“ zusammenfassen lässt.“16 „Es gibt also in uns etwas wie eine docta ignorantia“,17 die uns dazu bewegt, jedem Bild, das sich unserem Denken darbietet, zu misstrauen und es zu verurteilen, denn „wir erkennen, dass es nicht das ist, wonach wir suchen, wenngleich wir noch nicht wissen, was das ist.“18 Augustinus befürwortet allerdings nicht, dass man sich von jedweder Vorstellung lösen und eines jeden Wortes enthalten solle, aber doch, ohne Unterlass zu beten, ohne sich an die dazu verwendeten Wörter und Bilder zu binden. Derjenige, der Gott nach Freude und Glückseligkeit fragt, hat offensichtlich eine recht weltliche Idee im Sinn; doch macht dies nicht unbedingt seine Bitte ungültig, wenn er um die Unangemessenheit dieser Ideen zu seinem Verlangen weiß. Gleichermaßen verhält es sich mit allen Paradiesen und anderen Inseln der Glückseligen, die in dem Maße Bilder der Glückseligkeit sind, wie der Geist sie anhand einer unangemessenen Extrapolation von der Erde aus in ein unauffindbares Jenseits hinein projiziert. Diese Weise, den Geist zu leiten, indem man ihm beibringt, nicht auf jegliche Vorstellung zu verzichten, sondern sich davon zu lösen, findet sich im Gebrauch wieder, den Cusanus von den geometrischen Gleichnissen macht, Gleichnissen, die seine Abhandlungen ausschmücken, insbesondere De docta ignorantia oder De beryllo. Im Gegensatz zu denen, die aus Respekt gegenüber der Unsagbarkeit Gottes die Stille empfehlen – wie der Kartäuser Vinzenz von Aggsbach – bespricht und bedient 14
Sermo VI n.31; Sermo XXVI n.1. Cusanus „vergisst“ allerdings diese Predigt des Augustinus in der Apologia doctae ignorantiae (1449) zu zitieren, wenn er die Quellen dieses Ausdruckes aufzählt. 15 Röm 8,26. 16 Augustinus: Brief CXXX, n.3. 17 Ebd., n.28. 18 Ebd., n.27.
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sich Cusanus vieler symbolischer Vorstellungen. Doch trägt Cusanus Sorgfalt, ständig daran zu erinnern, wie weit diese Polygone von der wahrhaftigen göttlichen Unendlichkeit entfernt sind. Die Wahl der geometrischen Figuren ist, aus diesem Blickwinkel betrachtet, hervorragend, weil so jeder begreift, dass der Geist hier ein Schema verwendet und nicht eine angemessene Vorstellung. Wenn auch diese Vorstellungen zu einem Sehen der Spezies des Ineinsfalls der Gegensätze führen sollten, so handelt es sich immer noch nur um Symbole, die überstiegen werden müssen. Das intellektuelle Sehen ist nicht das Sehen Gottes.
II. Die Hilfestellung der Offenbarung Diese Art, den Geist zu leiten, lässt allerdings die Frage nach der subjektiven Quelle des Strebens offen. Es ist gewiss nützlich, sein intellektuelles Sehen zu verfeinern indem man lernt, es immerfort von den objektivierenden Vorstellungen zu lösen; aber eine noch weitaus schwierigere Aufgabe erwartet uns: Diejenige, die darin besteht, sich seiner selbst zu berauben. Immerhin kann die ungezügelte Bejahung des Selbst ebenfalls zu einem gewissen Ablösen gegenüber den weltlichen Anhaftungen führen. Dies zeigt eindrücklich die Figur des Don Juan, die – es verwundert einen nicht – sich in wesentlichen Teilen bei Nietzsche wiederfindet.19 Zu erreichen, dass man sich von sich selbst befreit, impliziert, dass man sich zunächst als in den Dunkeln dieses Lebens verloren betrachtet, behindert durch seine Selbstliebe und durch seinen eigenen Willen. Dieses verlangt anschließend, alle seine Vorstellungen und seine Begierden dieses Lebens zu abzulehnen, um sich – wie Agustinus im gleichen Brief schreibt – „den heiligen und göttlichen Schriften wie einer an einen dunklen Ort gestellten Lampe“ anzuvertrauen, „bis der Tag anbricht und der Morgenstern sich in unseren Herzen erhebt.“20 Dieses Leben muss folglich von Augustinus für eine Art „sterbendes Leben“ in der Erwartung der wahren Freiheit und des wahren Lebens gehalten werden.21 Vor allem in den Predigten des Cusanus findet man diese Art einer spirituellen Richtung, die den in die Dunkelheit der Einsamkeit getauchten, sich selbst gegenüberstehenden Gläubigen abholt. Die didaktischen Erläuterungen, die dazu dienen, vor den Zuhörern das Tagesthema zu erklären, geben sich nicht mehr bloß damit zufrieden, den Geist zu erheben, sondern ihn aus seiner Hilflosigkeit zu erretten. Um die Gründe der Erschaffung des Menschen und seiner Sünde zu reflektieren, beginnt Sermo XVII mit einer Anklage des Menschen, die ihn ins Zentrum einer juristischen Debatte stellt. Die Justiz und die Wahrheit, welche die Rolle der Ankläger spielen, geben schlussendlich den Argumenten nach, welche die als Verteidiger auftretenden Barmherzigkeit und Frieden vorbringen sowie auch der Hauptzeuge, das Mitleid. Man findet die gleiche Verwendung dieser Prosopopea in anderen Predigten. So setzt 19
Nietzsche: Morgenröte IV § 327 (KSA 3, 322). Augustinus: Brief CXXX n.5. 21 Das Oxymoron „sterbendes Leben“ findet sich im Brief CXXX, n.5, aber auch und vor allem in den Confessiones I,1,6. Im gleichen Kontext findet man das Oxymoron „geknechteter Wille“ in der Abhandlung Gegen Julian II,23. 20
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z.B. der Sermo CCLXXVIII, der sich bemüht die Gründe für die Kreuzigung zu erklären, eine Art imaginäre Unterhaltung zwischen Maria und der Kirche in Szene. Im Angesicht des erschreckenden Bildes des Kreuzes bedarf die Kirche der Rettung in der Nacht ihrer Furcht und der Leitung durch ein sanfteres Licht. Und so, wie der Stern am Nachthimmel, der die Heiligen Könige zum Jesus-Kind führte, muss die Jungfrau folglich die Gläubigen zum Messias hinführen; dies erklärt Cusanus, der hier eine traditionelle Analogie aufgreift. Indem sie dies tut, hat Maria auf ihre Weise teil an dem „Ins-Licht-Setzen“ des Intellekts, sie tut dies auf bescheidene und diskrete Weise, ein wenig wie die zarte Klarheit des Morgengrauens im Vergleich zum strahlenden Glanz der Sonne.22 Diese Vorarbeiten zielen jedoch lediglich darauf, das Wesentliche, das aus der direkten und unmittelbaren Erleuchtung des Intellekts durch die Weisheit besteht, vorzubereiten. Vermittels des Heiligen Geistes, der uns die caritas selbst einflößt, welche in Liebe den Vater und den Sohn vereint, sieht sich der Mensch mit Gott durch eine Art Band oder „unlöslichen Leim“23 verbunden. Cusanus entwirft diese Idee, indem er einen Initiationsweg beschreitet, der von der Finsternis über das schwache Licht der Dämmerung hin zum Tageslicht führt. Die drei Gottesdienste zu Weihnachten und das Schema der drei Geburten des Wortes, die so oft in den ersten Predigten des Cusanus wiederkehren, symbolisieren diese aufeinander folgenden Stadien eines intellektuellen Fortschreitens. In einem wunderbaren Höhepunkt wendet Sermo XXII vom 25. Dezember 1440 das Thema der Zeugung des Wortes auf die Kirche selbst an. Somit erhält die Tochter Zions, „seit langen Jahren in der Finsternis gefangen gehalten“, die in der Dunkelheit, welche die Privation jeglichen intellektuellen Lebens bedeutet, verkommt, von den Propheten einige himmlische Strahlen, die einen schwachen Schein werfen, in Erwartung des geheiligten Tages, der auf sie und auf uns erstrahlte, als das Wort in seiner Mitte geboren wurde.24 Durch die Tugend des Glaubens, erhält die mit der Jungfrau identifizierte Kirche im Austausch ebenfalls diese innere Geburt. Die Unterscheidung der zeitlichen und der spirituellen Ebene ist grundlegend, um die Art und Weise zu verstehen, in der Cusanus die Deutung der Kreuzigung 22
Sermo CCLXXVIII n.41. Nach dem Hl. Hieronymus (Buch über die Deutung der hebräischen Namen, PL 23, 841-842), oder Isidor von Sevilla, Etymologia, VII, 10, 1, hat die mittelalterliche Frömmigkeit Maria mit dem Stern von Bethlehem, der in der Dunkelheit der Nacht erstrahlt, um die Könige zum Licht Christi zu führen, verbunden. Überdies wird Maria, wobei man sich auf eine zweifelhafte Etymologie des Hiermonymus stützt, ebenfalls mit einer kleinen Wolke in Verbindung gebracht, die vom Diener des Elias vom Gipfel des Berg Karmel aus gesehen wird und endlich Regen bringt (1 Kg 18, 41-45): in der Folge wurde – wahrscheinlich aufgrund eines Kopistenfehlers – aus der stilla maris (Tropfen des Meeres, MaR YaM) die stella maris (Stern des Meeres). 23 Sermo XXXVII n.18: „Denn wie der Heilige Geist das Band und der unlösliche „Leim“ ist, durch die Vater und Sohn einander und uns lieben, so ist die Kraft der Liebe ein Band, durch das wir uns in unserem Wesen liebend an Gott binden und in Gott mit dem Nächsten zusammengeschweißt werden.“ Cusanus folgt hier der Metapher, die im Psalm 63 (62),9 vorhanden ist: DaBaK NaPHCHi ACHaRe’Ka; wörtlich übersetzt: ich klebe meine Seele hinter dich, d.h.: ich binde mich an dich mit meiner ganzen Seele. 24 Vgl. Sermo XII n.1.
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unternimmt. Das Kreuz ist in der Tat ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Dies setzt also voraus, dass das historische Ereignis, das einen Menschen namens Jesus betraf, der Menschheit im Allgemeinen mitgeteilt werden kann. Cusanus bemerkt dann auch, dass Christus nicht ein Individuum, sondern zugleich die menschliche Natur annahm. Denn, wie man weiß, wenn er einen einzelnen Menschen ganz ausgefüllt hätte, würde dieses eine Person zur Dreifaltigkeit hinzufügen, denn man hätte den Vater, das Wort, den Heiligen Geist und weiter Jesus. Also: „Jesus, der höchste Mensch, kann in sich nicht die von Gott getrennte persönliche Form haben, um weiter zu bestehen. Dies ist der Grund, weshalb man die communicatio idiomatum annimmt.“ Anders ausgedrückt: der Austausch der wesentlichen Eigenschaften der Gottheit, die sich in Christus auf die Menschheit übertragen, kann nicht begrenzt bleiben im Individuum Jesus, weil dieser Mensch nur durch Gott als Person existiert. Diese Lehre rief die vehementen Erwiderungen von Johannes Wenck hervor, der sich bemühte, ihn in Misskredit zu bringen, indem er ihn den Waldensern und den Lollarden, Eckhart und den Scotisten annäherte.25 Cusanus seinerseits hält gegenüber und gegen alle „die wunderbaren Ausdrücke, welche der Glauben proklamiert“ bei, d.h. dass „das Unsterbliche stirbt, dass das Unsichtbare auf Erden gesehen ward, dass Gott, der sich nicht verändert, unterwegs müde wurde (Joh 4,6), dass der Unerschütterliche gekreuzigt wurde und dass das, was in Ewigkeit gezeugt wurde, heute geboren wird“, und auch dass „der körperliche Mensch überall ist, dass der zeitliche Mensch ewig ist, der schwache Mensch allmächtig, usw.“26 Man findet hier in dem Durcheinander, inmitten dieser Aneinanderreihung von Paradoxa, das Thema vom Tode Gottes und jenes von der Allgegenwart des Leibes Christi, welche später von allen Wencks des 16. und 17. Jahrhunderts als lutherische Thesen im eigentlichen Sinne stigmatisiert wurden. Diese wunderbaren Ausdrücke sind allerdings in ihrer Mehrzahl dem sehr berühmten Brief des Papstes Leo des Großen an Flavius (Kapitel 4) aus der Mitte des 5. Jahrhunderts entnommen. Doch wir wollen Cusanus nun nicht mit seinen manchmal subversiven Schülern des nachfolgenden Jahrhunderts verwechseln. Trotz einiger Ähnlichkeiten umschifft seine Theologie des Kreuzes verschiedene Klippen der reformierten Theologie. Somit hat Cusanus – auf den ersten Blick – die Tendenz, wie Luther und Calvin,27 die Ereignisse auf das Kreuz hin zu konzentrieren und in ihm kulminieren zu lassen. Der Gekreuzigte, der – zumindest in seinem Körper – wie die Verdammten28 die größten Leiden erlitten hat, ist – so kann man sagen – abgestiegen in die Hölle am Kreuz, 25
Für Wenck galt: Cusanus „nimmt an, dass das Wesen Christi das Wesen irgendeines Menschen ist, insofern, dass die Menschheit im Ganzen aus Christis ebenfalls bloß irgendeinen Menschen macht, und somit wird irgendein Mensch Christus sein. Und was sehr gefährlich ist, unser Autor schreibt das Verdienst des Christus der Maximität der menschlichen Natur zu, wodurch Christus uns nicht willkürlich rechtfertigt.“ (De ignota litteratura, Cor. I., Concl. X.). 26 Sermo XVII n.9. 27 Vgl. Luther: Vorlesungen über die Psalmen, Ps 22 (WA 5, 602-608). Siehe auch den Römerbriefkommentar zu Rm 9, 3. Gleichermaßen Calvin: Institution de la religion chrétienne II, 16, § 9-11. Paris1957, t. II, p. 288-291. 28 Sermo CCLXXVI, n. 20-22.
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vom Kreuze her. Man kann ebenfalls sagen, dass die Brutalität des Urteils, dass die Welt gegen Christus gefällt hat, gleichzeitig die Ankündigung des Jüngsten Gerichts ist.29 Zugleich lehrt uns der Schrei, der sich gegen den Himmel erhebt, dass sich der Herr von der Welt entfernt hat, vom Kreuze her;30 und ferner lässt er durch seinen Tod den Tod sterben und macht so die Auferstehung möglich.31 Schließlich gilt: Die Kreuzigung scheint wahrlich die „Bedingung der Möglichkeit“32 der Auferstehung, des Jüngsten Gerichts, der Himmelfahrt, usw. zu sein. Und dennoch, wenn ich so sagen darf, findet diese zeitliche Konzentration nicht in der Zeit statt. Cusanus ist nicht Calvin: seine Art und Weise, das Kreuz zu beschreiben ist spiritueller und mystischer als diejenige des Reformators. Es ist nicht nur das Kreuz dieses Menschen namens Jesus, von dem er spricht; es ist auch und vor allem das unsere. So tut er im Sermo XII kund, dass „derjenige, der den Auferstandenen sucht, wenn er ihn wirklich finden möchte, zunächst sein eigenes Kreuz – in Christus sterbend – tragen muss, den Weg der Geduld, der Demut und der Nächstenliebe beschreitend.“; anschließend erst komme die Zeit „mit ihm aufzuerstehen“.33 Anders gesagt: die zeitliche Kreuzigung, die chronologisch den Episoden des Abstiegs in die Hölle, der Auferstehung, der Himmelfahrt und dem Jüngsten Gericht vorausgeht, ist niemals etwas anderes als ein spiritueller Spiegel, der uns zum nachsinnen führen muss, um auf unser Selbst zu verzichten und für unseren Teil das Kreuz zu nehmen. In dieser Weise Christus ähnlich geworden, stirbt der Christ und aufersteht; er steigt in den Himmel auf, ähnlich wie es die Schrift De pace fidei formuliert, in Form „eines Menschen“ und nicht mehr unter seinem Namen, auf die Weise des Apostels Paulus. Bei Cusanus ist es weniger das Kreuz, das die Ereignisse konzentriert, als vielmehr das spirituelle Sehen, das man ihm zuwendet. Für den an Christus angeglichenen und folglich vergöttlichten Menschen übersteigt das Sehen in der Tat die Zeit der aufeinander folgenden Ereignisse, um in einer ausgedehnten Gegenwart die Vergangenheit wie die Zukunft zu umfassen. Cusanus scheint mir in diesem Punkt sehr nahe an Eckhart zu sein: Die vergöttlichte Seele hat teil an der überzeitlichen Ewigkeit der Gottheit und vermag in einem perfekten Jetzt die „Gesamtheit der Zeit“ und die Ausdehnung des Universums zu konzentrieren.34 Wahrlich, dieses spirituelle Sehen hat Christus bereits gekannt, als er in prophetischer Weise seinen Todeskampf auf dem Ölberg gesehen hat; und er hatte es sicherlich am Kreuz, „als er, der wollte, dass allen geholfen werde [1 Tm 2,4], die an ihm glauben und so ebenfalls Sohn Gottes werden [Joh 1,12], im Voraus die Truppe ohne Zahl der kommenden Ungläubigen gesehen hat; er hat auch gelitten in der Klarheit des Verstandes, als er die Gläubigen ihren Verstand und ihr Urteilsvermögen nutzen sah, um sich recht oft von der Sünde zu entfernen, jedoch öfters noch auf sie zuzueilen; er hat schließlich gelitten in seiner Empfindsamkeit als er im Voraus 29
Sermo XXVII n.4. Ebd. n.3. 31 De docta ignorantia III c.8 (h I n.231). 32 Ebd. 33 Sermo XII n.26. 34 Pr 38; siehe den Kommentar von Vannier, Marie-Anne: Introduction générale, 16-17. 30
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sah, wie zahllose Gläubige und nicht mehr die Häretiker das Martyrium ertragen.“ Das Paradoxon ist also, dass das spirituelle Sehen des Gekreuzigten durch die Kirche und die Menschheit in gewisser Weise als Teilnahme am Sehen selbst angesehen werden kann, das der Gekreuzigte von ihnen am Kreuz gehabt hat. Letztendlich braucht der Intellekt – Cusanus zufolge – Hilfe, um sich zu allererst von den Vorstellungen zu lösen, die notwendig verwendet werden müssen, um dem Streben ein Objekt zu geben; aber er muss anschließend gerettet werden, um sich von seinem eigenen Ich zu lösen. Durch diesen Verzicht, der wahrlich ein spiritueller Tod ist, bekommt der Intellekt einen Zugang zu dem glückseligen Sehen, das den Auserwählten post mortem vorbehalten ist. Das Sehen überwindet dann die Mauer des Paradieses, wohin der Intellekt seine Vorstellung projiziert hat wie auf eine Leinwand;36 es geht von einem Sehen im Spiegel und Rätselbild über zu einem Sehen im Geiste und in der Wahrheit, die Gott anschaut sowohl als sein Ziel als auch als sein Prinzip und sein Mittel. Die „docta ignorantia“, der denjenigen charakterisiert, der sein Wissen mit Abwendung benutzt, wandelt sich dann in ein „sterbendes Leben“, das in seinem Tode sein eigenes Mittel findet, in Christus wiedergeboren zu werden. Es ist, wie mir scheint, diese in gewisser Weise quietistische Dimension im Werk des Cusanus, die seinen Einfluss auf die französischen Evangelischen erklärt.
Literaturverzeichnis Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 1966. Cassirer, Ernst: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. 1927. ND Darmstadt 1994. Bédouelle, Guy: Le Quincuplex Psalterium de Lefèvre d’Etaples. Un guide de lecture. Genève 1979. Lagarrigue, Jean-Claude: Les souffrances ‚infernales‘ du Christ en Croix: Lefèvre d’Etaples entre Nicolas de Cues et Luther. In: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 32 (2010), 301-316. Vannier, Marie-Anne: Introduction générale. In: Eckhart, Tauler, Suso. Anthologie. Par Marie-Anne Vannier. Paris 2010, 11-19.
35 36
Sermo XXVII n.4. De visione Dei c.17 (h VI n.37 u. 42).