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German Pages 158 Year 1991
GEORG LUGERT
Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen im differenzierten Notstand
Schriften zum Strafrecht Heft 87
Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen im differenzierten Notstand
Von Georg Lugert
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Lugert, Georg:
Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen im differenzierten Notstand / von Georg Lugert. - Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zum Strafrecht; H. 87) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Diss., 1989/90 ISBN 3-428-07127-1 NE:GT
D 29
Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-07127-1
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Wintersemester 1989/90 angenommen wurde. Die Überarbeitung des Manuskripts habe ich im Herbst 1990 abgeschlossen. Mein Dank gilt im besonderen meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Joachim Hruschka, der die Arbeit angeregt und durch vielfältige Hinweise und Ratschläge begleitet und gefördert hat. Herrn Prof. Dr. Dieter Dölling bin ich für wertvolle Anregungen zu dieser Arbeit sehr verbunden. Schließlich danke ich Herrn Norbert Simon für die Aufnahme meiner Arbeit in die "Schriften zum Strafrecht" und den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für die reibungslose Zusammenarbeit. Oberasbach, im Februar 1991
Georg Lugert
Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Präzisierung der Problemstellung
.....................................
15
11. Präzisierung des Begriffs der "erhöhten Gefahrtragungspflicht" ............
17
1. Zum Verhältnis von allgemeiner und erhöhter Gefahrtragungspflicht ....
17
2. Abgrenzung zu den Fällen zurechenbar verursachter Notstandslage
18
.....
1. Abschnitt Die Reichweite der Eingriffsbefugnisse bei Handlungen von allgemein Gefahrtragungspffichtigen im Notstand
1. Kapitel: Ausarbeitung der relevanten Fälle 1. Zum Begriff der "Tat" in §34 StGB .................................
21 21
Exkurs: Die zwei Stufen der Zurechnung
23
2. Zum Begriff des "Begehens" in §34 StGB
25
3. Zum Begriff der "Notstandssituation" in §34 StGB
27
2. Kapitel: Untersuchung der relevanten Fälle hinsichtlich ihres deontischen Status
29
1. Welche Parameter sind relevant für die Bestimmung des deontischen Status einer Notstandshandlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
a) Die Systematik der Notstandsregelungen in den Fällen des §303 StGB
29
b) Die Systematik der Notstandsregelungen bei anderen Rechtsgutsverletzungen
33
2. Zusammenfassung der Ergebnisse des 2. Kapitels; das Fallsystem I
36
8
Inhaltsverzeichnis 2. Abschnitt Die Reichweite der Eingriffsbefugnisse bei Handlungen von erhöht Gefahrtragungspffichtigen im Notstand
1. Kapitel: Wer ist erhöht gefahrtragungspffichtig?
40
1. Der differenzierende Ansatz .......................................
40
2. Die Einheitslösung
40
3. Rückkehr zum differenzierenden Ansatz
42
a) Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht resultiert aus einem besonderen Rechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
b) Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht resultiert aus einer speziellen Obhutspflicht ................................................
43
c) Das Verhältnis der beiden Gruppen erhöht Gefahrtragungspflichtiger zueinander ..................................................
44
4. Zusammenfassung der Überlegungen des 1. Kapitels ..................
47
2. Kapitel: Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem 11
...............
3. Kapitel: Untersuchung der Fallvarianten m bis VI hinsichtlich ihres deontischen Status
. . .. . .. . .. . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . ...
49
51
1. Einführung
51
2. Die Reichweite der Notstandsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen (Fallvarianten III und IV) .............................................
52
a) Zur Lösung der Fallvarianten B III bis E III sowie E IV
52
b) Zur Lösung der Fallvarianten A IV bis D IV (speziell Obhutspflichtige in Defensivnotstandssituationen) ..................................
52
c) Zur Lösung der Fallvarianten A III bis E III (speziell Obhutspflichtige in Aggressivnotstandssituationen) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
d) Zusammenfassung ............................................
63
3. Die Reichweite der Notstandsbefugnisse von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen (Fallvarianten V und VI) ...............
65
a) Zur Lösung der Fallvarianten B V bis E V sowie D VI und E VI ....
65
b) Zur Lösung der Fallvarianten A V sowie A VI bis C VI
65
Inhaltsverzeichnis 4. Zur Lozierung des Parameters "Gefahrtragungspflicht" im Gesetz
9 78
a) Lozierung in §34 Satz 1 StGB
79
b) Lozierung in §34 Satz2 StGB
79
c) Konsequenzen aus dem Fallsystem 11 ftir die Lozierung einer erhöhten Gefahrtragungspflicht .........................................
81
5. Zusammenfassung des 3. Kapitels ..................................
81
3. Abschnitt Zur Entschuldigung von Handlungen allgemein Gefahrtragungspffichtiger im Notstand
J.
Kapitel: Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem 1lI
83
1. Die "qualifizierte Notstandshandlung"
83
2. Die rechtswidrige "qualifizierte Notstandshandlung"
84
2. Kapitel: Zum BegrifT der "Zumutbarkeit" in § 35 Abs.l Satz 2 StGB
86
1. "Zumuten" heißt "verlangen können" ...............................
86
2. "Zumuten" heißt "zuschreiben", "zutrauen"
89
3. Kapitel: Zur "ratio" des entschuldigenden Notstandes
90
1. Die Theorie des "psychischen Drucks" ..............................
90
a) Inhalt
90
b) Kritik
91
2. Die Theorie der "doppelten Schuldminderung"
92
a) Inhalt
92
b) Kritik
93
3. Die Theorie einer "strafzweckorientierten Schuld" ....................
96
a) Inhalt
96
b) Kritik
97
10
Inhaltsverzeichnis 4. Die Theorie des "funktionalen Schuldbegriffs"
98
a) Inhalt
98
b) Kritik
99
5. Resümee
100
6. § 35 StGB als Synthese der Theorie des "psychischen Drucks" und der These Jakobs' von der "fehlenden Zufälligkeit" ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102
4. Kapitel: Untersuchung der relevanten Fälle hinsichtlich ihrer Zurechenbarkeit zur Schuld
............................................................ 105
1. Die Fälle der "Unverhältnismäßigkeit"
.............................. 105
2. Die Abwägungsklausel in §35 Abs.l Satz2 StGB
..................... 108
a) Der Parameter ~bwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" ist auch im Rahmen der Zurechnung auf der 2. Stufe von Bedeutung 109 b) Der Parameter ~bwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" in §35 Abs.l Satz2 StGB ............................................ 114 3. Zum Parameter ,,Art der Notstandssituation" 4. Zusammenfassung
115
............................................... 115
4. Abschnitt Zur Entschuldigung von Handlungen erhöht Gefahrtragungspffichtiger im Notstand
1. Kapitel: Ausarbeitung der relevanten Fälle; das FaIlsystem IV
. . . . . . . . . . . . .. 118
2. Kapitel: Untersuchung der FaIlvarianten m bis VI des FaIlsystems IV hinsichtlich ihrer Zurechenbarkeit zur Schuld 1. Einführung
...................................... 120 120
2. Zur Entschuldigung von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen (Fallvarianten V und VI) .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 121 a) Der Meinungsstand ........................................... 121 b) Eigener Lösungsvorschlag
126
Inhaltsverzeichnis
11
3. Zur Entschuldigung von Personen, die speziell obhutspflichtig sind (Fallvarianten III und IV) ............................................... 132 a) Der Meinungsstand ........................................... 133 b) Zur Lösung der Fallvariante C III unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen in Rechtsprechung und Lehre ....................... 137 c) Zur Lösung der Fallvarianten B III, D III, E III, D IV und E IV unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen in Rechtsprechung und Lehre ....................................................... 138 d) Einwände und Replik ......................................... 143 3. Kapitel: Zusammenfassung des 4. Abschnitts ............................. 145 Literaturverzeichnis ..................................................... 146 Sachverzeichnis ........................................................ 155
Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abs. AE a. E. a. F. ARSP AT BadStGB BayJagdG BayObLG BGB BGB!. BGH BGHSt BJagdG BT bzw. DAR ders. d.h. Diss. FamRZ Fn. GA GS HansOLG HESt Hrsg. JA JR JURA JUS JW JZ Kap. LK m.a.W. MilStGB
am angegebenen Ort Absatz Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, 1966 am Ende alte Fassung Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zitiert nach Jahr und Seite) Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuches Strafgesetzbuch für das Großherzogturn Baden vom 6. März 1845 Bayerisches Jagdgesetz vom 13. Oktober 1978 Bayerisches Oberstes Landesgericht Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. August 1896 Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Bundesjagdgesetz vom 29. September 1976 Besonderer Teil des Strafgesetzbuches beziehungsweise Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Seite) derselbe das heißt Dissertation Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das Familienrecht (zitiert nach Jahr und Seite) Fußnote Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zitiert nach Band bzw. Jahr und Seite) Der Gerichtssaal (zitiert nach Band und Seite) Hanseatisches Oberlandesgericht Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Herausgeber Juristische Arbeitsblätter (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Schulung, Zeitschrift für Studium und Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite) Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) Kapitel Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch mit anderen Worten Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872
Abkürzungsverzeichnis
13
MSchrKrim Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsrefonn (zitiert nach Jahr und Seite) m.w.N. mit weiteren Nachweisen ND Neudruck NdsRPfl Niedersächsische Rechtspflege (zitiert nach Jahr und Seite) Neue Fassung N.F. NJW Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite) NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) ÖJZ Österreichische Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite) ÖStGB Strafgesetzbuch für Österreich vom 23. Januar 1974 Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in OGHSt Strafsachen (zitiert nach Band und Seite) Oberlandesgericht OLG Prüfe Dein Wissen (Verlag C. H. Beck) PDW Protokolle über die Sitzungen des Sonderausschusses für die StrafrechtsreProt. V fonn; 5. Wahlperiode Personenstandsgesetz vom 8. August 1957 PStG Rdnr. Randnummer Reichsgericht RG Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zitiert nach Band und RGSt Seite) Recht in Ost und West. Zeitschrift für Rechtsvergleichung und interzonale ROW Rechtsprobleme (zitiert nach Jahr und Seite) Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 RStGB SächsStGB Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 13. August 1855 SchwZfStr Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Band bzw. Jahr und Seite) SeemannsG Seemannsgesetz vom 26. Juli 1957 SeemannsO Seemannsordnung vom 2. Juni 1902 Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch SK SoldG Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten vom 19. August 1975 StGB Strafgesetzbuch vom 10. März 1987 Strafprozeßordnung vom 7. April 1987 StPO Strafrechtsrefonngesetz vom 4. Juli 1969 StrRG Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite) StV und öfter u.ö. und so weiter u.s.w. unter Umständen u. U. Verfasser Verf. vergleiche vgl. Verkehrsrechts-Sammlung, Entscheidungen aus allen Gebieten des VerVRS kehrsrechts (zitiert nach Band und Seite) WStG Wehrstrafgesetz vom 24. Mai 1974 z.B. zum Beispiel Zivildienstgesetz vom 31. Juli 1986 ZDG Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) ZRP Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band und ZStW Seite)
Einleitung I. Präzisierung der Problemstellung Die Unterscheidung von Rechtfertigung und Entschuldigung kann als eine der großen Errungenschaften der Strafrechtswissenschaft in den letzten 100 Jahren angesehen werden 1. Diese Differenzierung wird insbesondere manifest im Bereich der Notstandsregelungen. Der Notstand wird, vorbereitet durch die Rechtslehre 2 , seit der "bahnbrechenden"3 Entscheidung des Reichsgerichts zum medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch4, allgemein teils als Rechtfertigungs-, teils als Entschuldigungsgrund verstanden. Der differenzierende Lösungsansatz hat durch die Regelungen der §§ 34, 35 StGB anläßlich des 2. Strafrechtsreformgesetzes S seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden. Die Berechtigung der Differenzierung sowie die Folgerungen daraus, die insbesondere bei Fragen der Teilnahme auf der Basis der "limitierten Akzessorietät" 6 sowie der "Notwehrprobe"7 zu ziehen sind, scheinen anerkannt und werden in neuerer Zeit kaum mehr in Zweifel gezogen. Die "Differenzierungstheorie"8 kann 1 Vgl. dazu statt vieler Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, Vor §§ 32ff. Rdnr. 1 m. w. N.; Hirsch, in: LK Vor §§ 32ff. Rdnr. 1 ff. m. w. N. 2 Stammler, Notstand, S. 74 weist als einer der ersten daraufhin, daß Notstandshandlungen auch rechtmäßig sein können; vgl. auch v. Olshausen Vor§ 51 Nr. 2, 11, § 54 Nr. 5 m.w.N. 3 Der Ausdruck stammt von Lenckner, GA 1985, S. 295. 4 RGSt 61, S. 242ff.; vgl. dazu Schmidt, ZStW Bd. 49 (1929), S. 350ff. 5 Zweites Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 1969; BGBI. I, S. 717ff., 721. 6 Die limitierte Akzessorietät (vgl. § 29 StGB), zeichnet sich dadurch aus, daß eine strafbare Teilnahme eine lediglich vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat voraussetzt; nicht erforderlich ist, daß die Haupttat auch zur Schuld zurechenbar ist. Bezogen auf Notstandshandlungen bedeutet dies, daß eine strafbare Anstiftung oder Beihilfe nur dann in Betracht kommt, wenn der Täter der Haupttat durch § 35 StGB entschuldigt ist; nicht jedoch, wenn er gerechtfertigt ist; vgl. Lackner, StGB, § 29 Nr. 1. 7 Da die Annahme einer Notwehrbefugnis einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffvoraussetzt, ist eine Eingriffsbefugnis des Inhabers des durch die Notstandshandlung beeinträchtigten Rechtsguts stets dann ausgeschlossen, wenn der im Notstand Handelnde gerechtfertigt, seine Handlung also rechtmäßig ist. Ist er hingegen gemäß § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt, liegt auf seiten des Inhabers des beeinträchtigten Rechtsguts u. U. eine Notwehrlage vor; vgl. auch Dreher jTröndle, StGB, § 32 Rdnr. 11. 8 Nach Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 8 Fn. 2 ist der Begriff zuerst bei von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, in der von Schmidt besorgten 25. Auflage, S. 192 zu finden.
16
Einleitung
trotz hin und wieder vereinzelt aufkommender kritischer Stimmen 9 gesicherter Bestandteil strafrechtlicher Dogmatik gelten 11 •
10 -
als
Im Gegensatz dazu betritt man weit weniger gesichertes dogmatisches Terrain, wenn man sich - unter Zugrundelegung der "Differenzierungstheorie" - der Lösung derjenigen Probleme zuwendet, die sich daran anschließend aufwerfen. Eines dieser gewissermaßen erst "in zweiter Reihe" auftretenden Problemfelder ist das der "erhöht Gefahrtragungspflichtigen" 12. Schon die einschlägige gesetzliche Regelung ist unvollständig und dazu noch wenig konsistent: Wer bei unvoreingenommener Analyse des Begriffs "erhöht gefahrtragungspflichtig" zu der Ansicht kommt, erhöht gefahrtragungspflichtig sei jemand, der bestimmte Notstandsgefahren zu ertragen hat, zu deren Duldung beliebige dritte Personen nicht verpflichtet sind, dem also keine oder nur eingeschränkte Eingriffsbefugnisse 13 in einer Notstandssituation zustehen, und 9 Dazu gehört insbesondere Gimbernat-Ordeig, in: Festschrift rur Welzel, S. 485 ff. Gimbernat-Ordeig versteht Notstand ausschließlich als Rechtfertigungsgrund; gegen ihn Küper, JZ 1983, S. 88ff. Siehe auch die Replik Gimbernat-Ordeigs in der Einleitung zu Cuerda Riezu, La colision de deberes en Derecho penal, S. 13ff. Der "Differenzierungstheorie" skeptisch gegenüber auch von der Linde, Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht, S. 135f. 10 Bernsmann, Entschuldigung, S. 305 ff., hingegen plädiert neuerdings rur eine "extrastrafrechtliche, ,rechtsgutspezifische' Notstandsdeutung" (S.315). Er unternimmt den Versuch, die Notstandsvorschriften mit Hilfe ihrer "philosophischen, historisch-staatstheoretischen und grundrechtlichen" Bezüge (vgl. S. 305) zu erklären. Dieser Ansatz überzeugt jedoch nur auf den ersten Blick. Seine Schwächen werden dort offenkundig, wo Bernsmann die Konsequenzen seiner Überlegungen darlegt: "Falls erforderlich, ließen sich dem rechtsgutspezifischen Notstand so viele unterschiedliche dogmatisch-systematische ,Orte' zuweisen, wie es unterschiedliche Notstandstypen gibt" (S. 316). Daraus folgert Bernsmann, daß sich Notstandskonstellationen nicht nur als rechtfertigend oder entschuldigend, sondern u. U. auch als strafausschließend oder strafunrechtsausschließend darstellen können. Offen bleibt dabei jedoch, welche Konstellationen welchen Kategorien zuzuordnen sind und welche Kriterien hierrur maßgebend sind. Solchen Kritikansätzen, die jeder analytischen Methodik immanent sind, entzieht sich Bernsmann mit dem Hinweis, sein Ansatz erlaube "heuristisch völlig offen, d. h. vor allem ohne Furcht vor fehlender (strafrechts-) systematischer Folgerichtigkeit und mit variablen Perspektiven an die mannigfaltigen Notstandskonfigurationen herangehen zu können und damit die "Theorie"-fortschreibung nicht allzu früh unter das Diktat der schlüssigen systematischen Zuordnung zu stellen." (S. 316). Ob allerdings Lösungsvorschläge, die von vornherein auf "systematische Folgerichtigkeit" verzichten und "schlüssige systematische Zuordnungen" als "Diktat" verstehen, generelle (und insbesondere richterliche) Akzeptanz rur sich beanspruchen können, scheint doch mehr als zweifelhaft zu sein. 11 So schon Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 9. Vgl. hierzu in letzter Zeit Küper, JUS 1987, S. 81 ff.; Roxin, JUS 1988, S. 425ff.; Hruschka, Imputation, Brigham Young University Law Review, 1986, S. 669ff.; Byrd, Wrongdoing and Attribution, The Wayne Law Review, 1987, S. 1289ff. 12 Zum Begriff der "erhöht Gefahrtragungspflichtigen" siehe unten Einleitung 11. Die damit verbundene Problematik war schon im römischen Recht bekannt, vgl. Corpus iuris civilis, L. 6 § 3, I. 9, 10 D de re militari 49,16 (hinsichtlich Soldaten) sowie L.1 § 28 D. de SC. Silan. et Claudian. 29, 5; I 1 § 29, 32 eod. (hinsichtlich Sklaven).
11. Der Begriff der "erhöhten Gefahrtragungspflicht"
17
daraus den Schluß ziehen will, primärer dogmatischer Standort der erhöht Gefahrtragungspflichtigen sei deshalb die Ebene der Konstituierung von Pflichten, also insbesondere der Bereich der RechtfertigungsgTÜnde, der wird vom Gesetz eines vermeintlich Besseren belehrt. Der historische Gesetzgeber hat von expliziten Regelungen der erhöht Gefahrtragungspflichtigen im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes, § 34 StGB, abgesehen und offenbar geglaubt, die Problematik sei stattdessen in der Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB angesiedelt 14. Im Gegensatz dazu ist eine spezielle Regelung in der Vorschrift zum entschuldigenden Notstand, § 35 StGB15, zu finden. Der Fragenkomplex, der mit den erhöht Gefahrtragungspflichtigen zusammenhängt, stellt sich also - so jedenfalls die Meinung des historischen Gesetzgebers - sowohl auf der Rechtfertigungs-, als auch auf der Entschuldigungsebene. Diese, auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Notstandsregelungen nur schwer nachvollziehbare Inkonsequenz 16 und die ihr nachfolgenden Fragen nach der strafrechtlichen Beurteilung von Notstandshandlungen durch erhöht Gefahrtragungspflichtige auf der Basis des "differenzierten" Notstandes sind Ausgangspunkt und ihre Beantwortung ist Anliegen der vorliegenden Arbeit.
11. Präzisierung des Begriffs der "erhöhten Gefahrtragungspflicht" 1. Zum Verhältnis von allgemeiner und erhöhter Gefahrtragungspfficht Ausgangspunkt ist die Gegenüberstellung zweier Personengruppen, die prinzipiell voneinander zu unterscheiden sind. Einerseits die Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen, die, insoweit im Einklang mit der herrschenden Meinung 17 , definiert werden soll als eine Personengruppe, die sich - mit den Worten des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB dadurch auszeichnet, daß ihre Mitglieder in einem "besonderen Rechtsverhältnis" stehen; andererseits kommt aber auch der Personenkreis, der sich in "einer GarantensteIlung gegenüber dem gefahrdeten Gut"18 befindet, dem m. a. W. in 13 Zum Verhältnis der BegrifTe "EingrifTsbefugnis" und "Duldungspflicht" vgl. Hruschka, Rettungspflichten, JUS 1979, S. 385fT., 390fT.; ders., Strafrecht, S.89fT. 14 Protokolle der Sitzungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 5. Wahlperiode (Prot. V), S. 1792 f., 1796 fT. 15 ••• soweit dem Täter nach den Umständen, ... oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. 16 Vgl. einerseits die als Schuld- bzw. Strafausschließungsgründe verstandenen §§ 52, 54 StGB a. F. (hierzu OppenhofT, RStGB, § 54 Nr. 1); andererseits war dem Gesetzgeber die Relevanz der Problematik der erhöht Gefahrtragungspflichtigen im Bereich des rechtfertigenden Notstandes durchaus bekannt, vgl. dazu Prot. V (90. und 92. Sitzung), S. 1792f., 1796fT., 1839fT. 17 Hirsch, in: LK§ 34 Rdnr. 67; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 34, § 35 Rdnr. 53, 58 f. 18 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 34.
2 Lugert
18
Einleitung
bezug auf das beeinträchtigte Rechtsgut eine "spezielle Obhutspflicht" 19 obliegt, als erhöht gefahrtragungspflichtig in Betracht 20 . Davon zu unterscheiden ist die Gruppe von im Notstand handelnden Personen, die gerade keiner solchen erhöhten Gefahrtragungspflicht unterliegen. Diese Gruppe sei im folgenden als Gruppe der "allgemein" Gefahrtragungspflichtigen bezeichnet. Schon die Definitionen legen das logische Verhältnis der beiden Begriffe zueinander offen. Entweder ist ein Notstandstäter Mitglied der einen oder der anderen Gruppe. Ist er erhöht gefahrtragungspflichtig, scheidet die Annahme einer allgemeinen Gefahrtragungspflicht notwendig aus und umgekehrt. Gleichzeitig folgt aus den Definitionen aber auch, daß jeder Notstandstäter jedenfalls einer der beiden Gruppen angehört. Die logische Beziehung ist daher die der Kontravalenz bzw. des kontradiktorischen Gegensatzes. 21
2. Abgrenzung zu den FäDen zurechenbar verursachter Notstandslage Verwendet man aber den Begriff einer erhöhten Gefahrtragungspflicht, wie soeben definiert, sind die Fragen, die sich stets dann stellen, wenn der im Notstand Handelnde die Notstandsgefahr bzw. die Notstandslage zurechenbar selbst verursacht hat, ausgeklammert. Diese Problematik, die sich im Bereich der Rechtfertigung mit dem Schlagwort von der "actio illicita in causa" umschreiben läßt und auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld durch § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB eine explizite Regelung erfahren hat ("Gefahr verursacht") und dort mit dem Begriff der "actio libera in causa" verbunden ist, unterliegt gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten als die hier als erhöht gefahrtragungspflichtig bezeichneten Personen. Überdies sind diese Themen gerade in letzter Zeit Gegenstand zahlreicher Arbeiten gewesen, auf die in diesem Zusammenhang nur verwiesen werden kann 22 . In den Bereich zurechenbar verursachter NotstandskonsteIIationen, auf den im folgenden mangels Bestehen einer erhöhten Gefahrtragungspflicht nicht mehr eingegangen wird, gehören auch die vieldiskutierten Fälle von "institutionellen Duldungspflichten"23 , d. h. im besonderen die Fälle gerichtlich angeord19 Hruschka, Strafrecht, S. 146. Eine auf einer Obhutsgarantenstellung beruhende erhöhte Gefahctragungspflicht lehnt Küper, Grund- und Grenzfragen, ab; vgl. dazu ausführlich 2. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 2. 20 Siehe dazu unten 2. Abschnitt 1. Kapitel. 21 Zum Begriff der Kontravalenz vgl. Menne, Einführung in die Logik, S. 39; zur Anwendbarkeit aussagelogischer Begriffe im Strafrecht vgl. J oerden, Dyadische Fallsysteme im Strafrecht, S. 43 ff., 48 u.ö. 22 Hettinger, Die "actio libera in causa"; Hruschka, JUS 1968, S.554ff.; ders., Strafrecht, S. 277ff.; ders., JZ 1989, S. 310ff.; Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand; Neumann, Zurechnung und "Vorverschulden", S. 207ff.; Otto, JURA 1986, S. 426ff.; Roxin, in: Festschrift für Lackner, S. 307ff. sowie BayObLG JR 1979, S. 124f. mit Anmerkungen von Dencker, JUS 1979, S. 779ff. und Hruschka, JR 1979, S. 125ff. 23 Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr.24.
11. Der Begriff der "erhöhten Gefahrtragungspflicht"
19
neter Freiheitsentziehungen. Jede rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe gefährdet die Freiheit des Verurteilten und ist damit, falls die Gefahr gegenwärtig ist, vom Wortlaut sowohl des § 34 Satz 1 StGB als auch des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB erfaßt. Nun nimmt aber die wohl als herrschend zu bezeichnende Meinung nicht an, der Verurteilte, der auf der Flucht aus der Justizvollzugsanstalt eine Sachbeschädigung, eine Körperverletzung oder gar einen Totschlag begeht, sei nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt 24 oder sogar nach § 34 StGB gerechtfertigt. Sie begründet den Ausschluß sowohl einer möglichen Rechtfertigung als auch einer Entschuldigung im Gegensatz zur Rechtsprechung aber nicht mit der an sich naheliegenden These, der Verurteilte habe die Gefahr für seine Freiheit durch die von ihm begangene Straftat selbst verursacht 25 , sondern nimmt aufgrund eines behaupteten besonderen Rechtsverhältnisses eine erhöhte Gefahrtragungspflicht an. Diese durchaus begründungsbedürftige These wird allerdings nicht näher begründet. Insbesondere fehlen Ausführungen zu der Frage, warum gerade kein Fall der Gefahrverursachungsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB vorliegen soll, wenn der Täter zu Recht verurteilt worden ist. Die unterschiedlichen Begründungsansätze von reichsgerichtlicher Rechtsprechung und Lehre stimmen jedoch in ihren Folgen überein: Der zu Recht Verurteilte ist nicht entschuldigt, wenn er auf seiner Flucht Rechtsgüter Dritter verletzt. Intrikat wird es jedoch bei materiell zu Unrecht Verurteilten. Die herrschende Meinung behauptet auch in diesen Fällen das Bestehen eines besonderen Rechtsverhältnisses, das grundsätzlich zu einem Ausschluß von der Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB führen soll. Jedoch gibt es nach Meinung eines Teils der Lehre von diesem Grundsatz wieder Ausnahmen: Dem Notstandstäter soll "das Privileg des § 35 StGB nicht schlechthin versagt werden"26, eine "Berufung auf § 35" sei, wenn auch "nur unter den engsten Voraussetzungen ... denkbar. "27 Offen bleibt dabei freilich, in welchen Notstandssituationen das "Privileg des § 35 StGB" zugestanden wird oder die geforderten "engsten Voraussetzungen" für vorliegend erachtet werden. Wer hingegen - wie hier postuliert - eine erhöhte Gefahrtragungspflicht kraft eines besonderen Rechtsverhältnisses ablehnt, muß in den Fällen zu Unrecht Verurteilter eine grundsätzliche Entschuldigung gemäß § 35 Abs. 1 StGB bejahen, da es für die Ausnahme gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB gerade an einer Straftat, die eine Gefahr für die Freiheit verursacht hat, fehlt. Soll also der unschuldig einsitzende Verurteilte stets entschuldigt sein, wenn er bei seiner Flucht mangels anderer Möglichkeiten, die Freiheitsentziehung 24 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr.24, 26; Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 60; Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 12, jeweils m. w. N. 25 So aber schon RG, Urteil vom 23.2.1915 in: Das Recht, 1915 Nr. 1222 sowie BGH ROW 1958, S. 33f. mit Anmerkungen von Westharn, ROW 1958, S. 34f. und Rosenthai, ROW 1958, S. 82. 26 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr.26. 27 Maurach/Zipf, Strafrecht, S.447.
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Einleitung
abzuwenden, z. B. Schlösser zerstört, einen Beamten niederschlägt oder gar tötet? Wie meist, verbietet sich auch hier eine generalisierende Antwort. Soweit ein Wiederaufnahmeverfahren, §§ 359 ff. StPO, möglich und erfolgversprechend erscheint, fehlt es für die Annahme einer Notstandssituation schon am Merkmal der fehlenden anderweitigen Abwendbarkeit. Im übrigen aber ist nicht recht einzusehen, warum der zu Unrecht Einsitzende nicht in den Grenzen entschuldigt ist, die auch im übrigen für allgemein Gefahrtragungspflichtige gelten. Es ist kein Differenzierungskriterium zu erkennen, das den Ausschluß von einer Entschuldigung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB plausibel macht. Allein das Faktum, daß der Notstandstäter in ein Strafverfahren involviert gewesen ist, erklärt den Ausschluß nicht, da gerade vorausgesetzt ist, daß keine Straftat begangen wurde. Die Ablehnung einer erhöhten Gefahrtragungspflicht bei zu Unrecht Verurteilten bedeutet nun aber nicht, daß jede auf der Flucht begangene Rechtsgutsverletzung entschuldigt wäre. Wir werden noch sehen, daß eine Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen gemäß § 35 Abs. 1 StGB stets auch von der Schwere des in der Notstandssituation verletzten Rechtsgutes abhängig ist. 28 Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß bei zu Freiheitsstrafe Verurteilten differenziert werden muß: Soweit der Täter materiell zu Recht verurteilt worden ist, steht er zwar in keinem besonderen Rechtsverhältnis, ist aber aufgrund der Gefahrverursachungsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht entschuldigt. Denn durch die begangene Straftat hat er die Gefahr für seine Freiheit durch Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe vorhersehbar und obliegenheitswidrig verursacht. Ist er jedoch zu Unrecht verurteilt, so ist er nur allgemein gefahrtragungspflichtig und deshalb entschuldigt, soweit § 35 Abs. 1 StGB eingreift; d. h. insbesondere nur dann, wenn die Gefahr "nicht anders abwendbar" ist. Die Fälle gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen sind daher keine Fälle einer "erhöhten Gefahrtragungspflicht" und scheiden deshalb aus der folgenden Untersuchung aus. Ausgehend von der Gegenüberstellung des Begriffspaares der "allgemeinen" und der "erhöhten" Gefahrtragungspflicht wird nun im folgenden versucht, unter Zugrundelegung der Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen in Notstandssituationen Schlüsse zu ziehen und Konsequenzen aufzuzeigen in bezug auf die Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen. Dies geschieht im ersten und zweiten Abschnitt. Im dritten Abschnitt wird die Regelung des entschuldigenden Notstandes, § 35 StGB, in bezug auf die Gruppe der allgemein Gefahrtragungspflichtigen dargelegt werden, die dann als Ausgangspunkt für die Frage nach der Entschuldigung erhöht Gefahrtragungspflichtiger in einer Notstandssituation dient, die im vierten Abschnitt diskutiert wird. 28
Siehe unten 3. Abschnitt 4. Kapitel.
1. Abschnitt
Die Reichweite der Eingriffsbefugnisse bei Handlungen von allgemein Gefahrtragungspffichtigen im Notstand Eine Bestimmung der Eingriffsbefugnisse im Notstand ist nur dann möglich, wenn sämtliche in Betracht kommende Fälle in den Blick genommen werden; also alle Fallkonstellationen, die in bezug auf Notstandshandlungen "relevant" sind. Dabei sollen im folgenden diejenigen Fälle als "relevant" definiert sein, die die begrifflichen Voraussetzungen der von § 34 StGB umschriebenen Notstandssituation erfüllen; also all diejenigen Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, daß der Täter "in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem Dritten abzuwenden"l. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Festlegung eines beliebigen Falles als "relevant" zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung2 für die Annahme einer rechtmäßigen Notstandshandlung ist, wie zum einen die Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB, zum anderen die Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB zeigt. 1. Kapitel
Ausarbeitung der relevanten Fälle 1. Zum Begriff der" Tat" in § 34 StGB
Ein Fall ist im Hinblick auf mögliche Notstandsbefugnisse nur dann "relevant", wenn es sich dabei um eine "Tat"3 handelt. Von einer Tat kann aber sinnvoll nur dann gesprochen werden, wenn kumulativ - zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen muß dem Ereignis, das der Fall beschreibt, Handlungsqualität zukommen und zum anderen muß die Handlung vorgenommen (bzw. unterlassen4 ) worden sein; d.h. nur dann, § 34 Satz 1 StGB. Zur Unterscheidung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen vgl. Klug, Juristische Logik, S.42ff. 3 Vgl. § 34 Satz 1 StGB. 4 Im folgenden sollen im Anschluß an Hruschka und die ältere Literatur die Begriffe Vornahme bzw. Unterlassung einer Handlung als Gegensatzpaar verstanden werden. Vgl. dazu Hruschka, ZStW Bd. 96 (1984), S. 661 ff., 663 Fn. 5 a. E.; ders., Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767, S. 8 ff. 1
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1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
wenn die Handlung realisiert worden ist, kann von einer "Tat"S gesprochen werden. Ein beliebiges, auf eine Person zurückzuführendes Ereignis ist grundsätzlich nur dann als Vornahme bzw. Unterlassung einer Handlung anzusehen, wenn die Person, die das Ereignis (u. U. hypothetisch) verursacht hat 6 , aus Sicht eines objektiven Beobachters auch in der Lage gewesen wäre, eben dieses Ereignis zu vermeiden. Anders ausgedrückt: Die Definition eines beliebigen Ereignisses als Begehungshandlung setzt grundsätzlich voraus, daß der Handelnde zum Zeitpunkt der Vornahme der Handlung die Möglichkeit ihrer Unterlassung hat? Beispiel 1)8: X fährt mit erheblicher Geschwindigkeit auf einen vor ihm ordnungsgemäß fahrenden PKW auf. Der Fahrer dieses Fahrzeugs trägt schwere Verletzungen davon. Es wird festgestellt, daß X im Zeitpunkt des Unfalles einen psychomotorischen Anfall erlitten hat, der auf eine epileptische Erkrankung zurückzuführen ist. Das HansOLG Schleswig stellt zu Recht fest, daß die Körperverletzung dann nicht durch eine Handlung des X verursacht worden ist, wenn X wegen des epileptischen Anfalles nicht die Möglichkeit hatte, den Aufprall zu vermeiden. Die Körperverletzung kann dem X dann schon auf der ersten Stufe, d. h. als Vornahme einer Handlung 9 nicht zugerechnet werden. Entsprechendes muß für Unterlassungshandlungen 10 gelten. Kann ein Ereignis einer Person als Unterlassungshandlung zugerechnet werden, so impliziert dies das Bestehen einer Vornahmealternative. Fehlt eine solche hingegen, kann von einer Unterlassungshandlung sinnvoll nicht mehr gesprochen werden. Beispiel 2): 0 droht in einem See zu ertrinken. Der allein am Ufer stehende X erkennt zwar die Gefährdung des 0, unternimmt jedoch keine Anstrengungen zu dessen Rettung, weil er Nichtschwimmer ist. Auch hier kann die Nicht-Rettung dem X nicht zugerechnet werden, da er objektiv nicht die Möglichkeit hatte, den 0 vor dem Ertrinken zu bewahren. Ein einer beliebigen Person als Handlung zugerechnetes Ereignis setzt also die S Zur Unterscheidung einer pro- bzw. retrospektivischen Betrachtung von Normen vgl. HruschkajJoerden, Supererogation, ARSP 1987, S. 93ff. 6 Die Unterlassung einer Handlung kann im Gegensatz zur Vornahme einer Handlung in bezug auf den Eintritt eines Erfolges stets nur hypothetisch (oder quasi-) kausal sein, vgl. Lackner, StGB, III 1 c bb Vor § 13. 7 Jakobs, Strafrecht, S. 116 u.ö. nennt dies das Kriterium der "individuellen Vermeidbarkeit". 8 Der Fall ist der Entscheidung des HansOLG Schleswig, VRS Bd. 64, S.429ff. nachgebildet. 9 Zur Unterscheidung von zwei Zurechnungsstufen vgl. Hruschka, Imputation, in: Eser jFletcher, Rechtfertigung und Entschuldigungj Justification and Excuse, Bd. 1, S. 121 ff.; ders., Strukturen der Zurechnung, S. 14ff., 36ff. 10 Zur Terminologie vgl. oben Fn. 4.
1. Kap.: Ausarbeitung der relevanten Fälle
23
Feststellung voraus, daß für den Handelnden objektiv eine Vornahme- bzw. Unterlassungsalternative bestanden hat. Andernfalls ist eine Zurechnung auf der ersten Stufe grundsätzlich 11 ausgeschlossen.
Exkurs: Die zwei Stufen der Zurechnung Diese inzwischen allgemein akzeptierte Definition einer Handlung 12 ist scharf von der Frage zu unterscheiden, ob ein Handelnder, d. h. eine Person, der ein Ereignis auf der ersten Stufe zugerechnet worden ist, z. B. im Sinne des § 20 StG B unfähig ist, "gemäß seiner Unrechtseinsicht zu handeln" bzw. ob ihm mit den Worten des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zugemutet werden kann, "die Notstandsgefahr hinzunehmen." (1)
Entscheidendes Kriterium für die Zurechnung erster Stufe ist die Leistungsgrenze dessen, dem das Ereignis zugerechnet werden soll. Eine Zurechnung erster Stufe findet deshalb grundsätzlich nur dann nicht statt, wenn vom Urheber des Ereignisses mehr verlangt werden müßte, als dieser aus der Sicht eines objektiven Beobachters zu leisten imstande ist: Für den Epileptiker ist die Vermeidung des Unfalles eben unmöglich 13, das gleiche gilt für die Rettung durch einen Nichtschwimmer 14 . (2)
Eine ganz andere Struktur weisen die Fälle ausgeschlossener Zurechnung zweiter Stufe auf: Eine Handlung kann dann nicht zur Schuld (oder auf der zweiten Stufe 15 ) zugerechnet werden, wenn die Vornahme der Handlung entschuldigt wird. Eine Entschuldigung setzt daher voraus, daß es dem Handelnden durchaus möglich war, die Vornahme der Handlung zu unterlassen (andernfalls könnte schon von einer Handlung nicht gesprochen werden), nur erscheint die Vornahme der rechtswidrigen Handlung gerade durch diesen Handelnden (§ 20 StGB) oder in gerade dieser Situation (§ 35 StGB) verzeihlich. Der Schiflbrüchige, der im "Karneades-Fall"16 seinen Kameraden von der rettenden Planke stößt, wohl wissend, daß dies den sicheren Tod bedeutet, hätte diese Totschlagshandlung auch unterlassen können; die Unterlassung liegt 11 Zu evtl. erforderlichen Ausnahmen vgl. Hruschka, in: Festschrift für Bockelmann, S. 421 ff.; ders., Strafrecht, S. 304ff. 12 Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 13ff. Rdnr. 37 ff. m.w.N. 13 Siehe oben Beispiel 1). 14 Siehe oben Beispiel 2). 15 Zur Terminologie vgl. Fn. 9. 16 Der Fall ist schon bei Cicero, De officiis, Liber tertius, Kap. 23 erwähnt; vgl. auch von Weigelin, GS Bd.116 (1942), S. 88ff.
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1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
gerade nicht jenseits seiner Leistungsgrenze. Auch im "Mignonette-Fall"17 war die Tötung des Schiffsjungen nicht unvermeidbar, auch hier hatten Dudley und Stephens durchaus eine Unterlassungsalternative, wenn auch unter Umständen um den Preis des eigenen Hungertodes. Die Beispiele zeigen, daß eine Zurechnung zur Schuld schon dann ausgeschlossen ist, wenn die Vornahme bzw. Unterlassung der Tötungshandlung eine bestimmte, unterhalb der Leistungsgrenze liegende Schwelle überschreitet 18. Die Überschreitung dieser Grenze führt jedoch nicht zur Aufhebung des Verbotes der Vornahme der Handlung, m.a.W., die Tat ist rechtswidrig, sondern die Vornahme der rechtswidrigen Handlung, die eine unterhalb der Leistungsgrenze des Handelnden liegende Schwelle überschreitet, führt dazu, daß dem Handelnden die Handlung nicht mehr zur Schuld zugerechnet werden kann; er handelt mit den Worten des Gesetzes "ohne Schuld"19. (3) Die Notwendigkeit der Unterscheidung zweier Zurechm,mgsstufen verdeutlichen die folgenden Beispiele: Beispiel 1): X, der mit einem Blutalkoholgehalt von drei Promille eine Fensterscheibe einschlägt, ist gemäß § 20 StGB entschuldigt, d.h. die Zurechnung auf der 2. Stufe ist ausgeschlossen. Ist er hingegen derart betrunken, daß er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren kann und stößt in diesem Zustand gegen eine Fensterscheibe, liegt schon keine Handlung mehr vor; die Zurechnung ist bereits auf der 1. Stufe ausgeschlossen. Beispiel 2): X schlägt wiederum eine Fensterscheibe ein. Er wurde diesmal durch eine ihm vorgehaltene Pistole dazu genötigt. X ist gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB entschuldigt. Wird er hingegen durch die Scheibe geworfen, kann schon nicht davon gesprochen werden, X habe die Scheibe "zerstört". Eine Zurechnung auf der 1. 17 Der "Mignonette-Fall" wurde im Jahre 1884 durch die Queens Bench Division entschieden, vgl. dazu Simonson, ZStW Bd.5 (1885), S.367ff.; vgl. auch den von Carpzow, ResponsaJuris Electoralis I VI resp. 94, berichteten Parallelfall von Kannibalismus während des 30-jährigen Krieges (1639), der mit einem Todesurteil für den Angeklagten, der seine Frau in einer dem "Mignonette-Fall" parallelen Situation tötete, endete; der Totschlag also nicht entschuldigt wurde. 18 Diese Unterscheidung hat auch Stratenwerth, Strafrecht, S. 164 im Auge: "Nicht verwechselt werden dürfen Einsichts- und Hemmungsvermögen mit der Fähigkeit zu zweckrationalem Verhalten, wie sie etwa auch bei relativ kleinen Kindern in bestimmten Umfang schon gegeben ist und durch psychische Abnormität nicht ohne weiteres ausgeschlossen wird." Stratenwerth kann nur so verstanden werden, daß die Schwelle der Schuldunfähigkeit unterhalb der Schwelle anzusiedeln ist, die Handlungen (in der Terminologie Stratenwerths "zweckrationales Handeln") und Nicht-Handlungen voneinander abgrenzt. 19 Vgl. §§ 20, 35 StOB.
1. Kap.: Ausarbeitung der relevanten Fälle
25
Stufe ist unmöglich, da X aufgrund der ausgeübten vis absoluta nicht gehandelt hat. Beide Fälle mit ihren jeweiligen Alternativen machen deutlich, daß es bei der Frage einer Zurechnung auf der 1. oder 2. Stufe stets um das Leistungsvermögen der Person geht, die in das Geschehen involviert ist. Dies rechtfertigt die Verwendung des Begriffes der "Zurechnungsstufen", da auch die beiden Leistungsschwellen in einem Stufenverhältnis stehen. Im übrigen verstößt nur diese Deutung der Regelungen über den Ausschluß der Zurechnung zur Schuld nicht gegen den Grundsatz "impossibilium nulla obligatio est"20. Die Frage der Zurechnung einer Handlung zur Schuld setzt voraus, daß die betreffende Handlung als rechtswidrig beurteilt worden ist, dem Handelnden also die Pflicht auferlegt war, die Vornahme der Handlung zu unterlassen. Diese Unterlassungspflicht kann aber nur bis zur Leistungsgrenze des Handelnden heranreichen, denn andernfalls wäre gegen den fundamentalen Satz "impossibilium nulla obligatio est" verstoßen. Auch diese Überlegung zeigt, daß die Zurechnung zur Schuld schon an einem Punkt ausgeschlossen ist und sein muß, der unterhalb der Leistungsgrenze des Handelnden liegt, da sonst keine rechtswidrigen Handlungen denkbar wären, deren Zurechnung zur Schuld ausgeschlossen ist. 2. Zum Begriff des "Begehens" in § 34 StGB Die gesuchte Menge aller relevanten Fälle wird dadurch weiter eingegrenzt, daß sämtliche Regelungen des rechtfertigenden Notstandes (§§ 34, 218 a Abs. 1 StGB21, §§ 228, 904 BGB22) aufVornahme-, nicht aber aufUnterlassungshandlungen zugeschnitten sind 23. Das wird schon durch den Wortlaut der einzelnen Vorschriften 24 deutlich. Sämtlichen Regelungen liegen Situationen zugrunde, in denen der Handelnde oder ein Dritter gefährdet ist. Außerdem ist die Lage stets derart beschaffen, daß der Handelnde, ex-ante betrachtet2S , einen Schaden erleiden wird, wenn er der 20 "Zum Unmöglichen kann niemand verpflichtet werden"; vgl. Celsus, Digesten 50.17.185. 21 §218 a Abs.1 StGB ist nach h.M. Rechtfertigungsgrund; vgl. Eser, in: Schönkej Schröder, StGB, § 218 a Rdnr. 5f.; die Ansicht, § 218 a StGB sei bloßer Schuldausschließungsgmnd wird insbesondere von Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB haltbar?, vertreten; vgl. dazu die kritische Besprechung von Gropp, GA 1988, S. 1 fT.; zu § 218 a Abs. 1 StGB siehe unten 2. Abschnitt 3. Kapitel ZifTer 2b. 22 Die Aufzählung ist nicht abschließend. Weitere Regelungen des rechtfertigenden Notstandes finden sich in §§ 702, 706 HGB (große Haverei), § 23 BJagdG i. V.m. Art. 40 Abs.2 BayJagdG, § 67 PStG. 23 Vgl. dazu z. B. Schmidhäuser, Studienbuch, S. 407. 24 § 34 Satz 1 StGB: Wer ... eine Tat begeht, .... 2S Mit der Verwendung des Begriffes "Gefahr" ist notwendig eine ex-ante Betrachtung verbunden; vgl. z.B. SchafTstein, in: Festschrift für Bmns, S. 89fT., 105.
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1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Gefahr nicht ausweicht. Das mögliche Ausweichmanöver besteht daher in einem Tun, d.h. der Vornahme einer Handlung. Die den Regelungen des rechtfertigenden Notstandes zugrundeliegende Situation kann also dahingehend charakterisiert werden, daß der Handelnde gefährdet ist und etwas unternimmt, um die Gefahr von sich (oder einem Dritten) abzuwenden. Beispiel 1): Um sich vor dem Tod durch Ertrinken zu retten, stößt X seinen Kameraden Y von der Planke. Infolgedessen ertrinkt Y, was X vorausgesehen hat 26 . Jedoch sind auch in bezug aufUnterlassungshandlungen Notstandssituationen denkbar. Fälle dieser Art zeichnen sich dadurch aus, daß der Handelnde nicht gefährdet ist, aber dann in Gefahr gerät, wenn er die virtuell geforderte Handlung vornimmt. Beispiel 2): X droht zu ertrinken. Y sitzt auf der Planke, die ihn vor dem Ertrinken bewahrt. Y gibt die Planke nicht an X heraus. Infolgedessen ertrinkt X, womit Y gerechnet hat. Die Parallelität der beiden Fälle ist offensichtlich. Beide Personen befinden sich je in einer Notstandssituation. Im ersten Fall geht es um eine Strafbarkeit des X gemäß §§ 211, 212 StGB, im zweiten Fall um die des Y gemäߧ§ 211, 212, 13, 323 c StGB27. Der Unterschied besteht darin, daß X eine Handlung vorgenommen hat, während bei Y eine Unterlassung in Rede steht. Offensichtlich ist X im ersten Fall nicht gerechtfertigt, da das Interesse an seinem Leben das des Y nicht wesentlich überwiegt. Offensichtlich ist aber auch, daß die Unterlassung des Y im zweiten Fall nicht rechtswidrig ist. Zweifellos ist jedoch § 34 StGB von seinem Wortlaut her nicht einschlägig, da es auch nicht der Fall ist, daß das Interesse des Y an seinem Leben das des X wesentlich überwiegt. Die herrschende Meinung führt zur Lösung solcher Fälle das Korrektiv der "Unzumutbarkeit" ein, das manchmal im Gesetz verankert ist 28 , manchmal aber auch als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal angesehen wird 29. Der expliziten Regelung von Vornahmehandlungen in Notstandssituationen steht also hinsichtlich der entsprechenden Unterlassungshandlungen das wenig aussagekräftige Kriterium der Unzumutbarkeit gegenüber. Das ist alles andere als zufriedenstellend. So richtig der Gedanke ist, daß auch in bezug auf Notstandsunterlassungshandlungen Kriterien erforderlich sind, an Hand derer die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit beurteilt werden kann, so zweifelhaft ist, ob das Kriterium der Unzumutbarkeit dies hinreichend leisten kann 30 • Zum "Kameades-Fall" siehe oben Fn. 16. Das hängt davon ab, ob der Y dem X gegenüber eine GarantensteIlung innehat. 28 § 323 c StGB: Wer ... nicht Hilfe leistet, obwohl dies ... zuzumuten ist, .... 29 Soweit es sich um sog. unechte Unterlassungsdelikte handelt; vgl. Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 249fT., 279fT. m.w.N. 30 Schon Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 308 stellte zur Frage nach dem Maßstab der Zumutbarkeit richtig fest, man befinde sich "auf ganz unsicherem 26
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I. Kap.: Ausarbeitung der relevanten Fälle
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Erforderlich wäre, ein der Regelung der Vornahmehandlungen in Notstandssituationen paralleles System für Notstandsunterlassungshandlungen zu schaffen. Erste Schritte in diese Richtung, deren detaillierte dogmatische Ausarbeitung noch aussteht, hat Hruschka 31 unternommen. Da sich die Arbeit im folgenden auf die Untersuchung von Vornahmehandlungen beschränkt, soll "Handlung" künftig in der Bedeutung von "Vornahmehandlung" verstanden werden; der Begriff der Handlung wird gewissermaßen als "totum pro parte" verwendet. 3. Zum Begriff der "Notstandssituation" in § 34 StGB Nur diejenigen Handlungen, die in einer Notstandssituation vorgenommen werden, sind Elemente der Menge aller relevanten Fälle. Dabei soll in teilweiser Abkehr von Definitionen der älteren Literatur32 eine in einer Notstandssituation vorgenommene Handlung definiert sein als eine Handlung, die "in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut" vorgenommen wird. Charakteristikum für eine Notstandssituation ist also eine Kollision zweier Interessen. Die Kollision ist dadurch gekennzeichnet, daß die Rettung des einen Interesses notwendig die Gefährdung des anderen Interesses zur Folge hat. Dabei werden im folgenden die Probleme, die mit der Frage nach dem Vorliegen einer Notstandssituation des § 34 Satz 1 StGB aufgeworfen sind, ausgeklammert 33 • Weiterhin ist es wichtig festzuhalten, daß die Menge aller Notstandshandlungen aus zwei Teilmengen 34 besteht. Die eine Teilmenge enthält die Notstandshandlungen, die als rechtswidrig beurteilt werden müssen, die andere Teilmenge hingegen umfaßt die rechtmäßigen Notstandshandlungen. Boden". Die von Henkel konstatierte Unsicherheit ist in letzter Zeit nicht geringer geworden, vgl. nur die Fallbeispiele bei Stree, in: SchönkejSchröder, StGB, Vor §§ 13ff. Rdnr. 156 zu unechten Unterlassungsdelikten sowie bei Cramer, in: SchönkejSchröder, StGB, § 323 c Rdnr. 21 zur unterlassenen Hilfeleistung. 31 Strafrecht, S. 146f. 32 Binding, Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, S.759, definiert Notstand als "die Lage eines Menschen, worin er nur durch eine verbotene Handlung ein gefährdetes Rechtsgut erretten oder die Erfüllung einer Rechtsptlicht ermöglichen kann." Binding bezeichnet also auch diejenigen Fälle als Notstandsfälle, die der Kategorie der Ptlichtenkollision zuzurechnen sind. Dem stimmt Broglio, Der strafrechtliche Notstand im Lichte der Strafrechtsreform, S.45f. zu. Auch Oetker, Notwehr und Notstand, S. 330, folgt der Ansicht Bindings, indem er zwischen "Ptlichtennotstand" und "Gutsnotstand" differenziert; ebenso sein Schüler Gareis, Notstand, S. 3 ff. 33 Zum Problem der anderweitigen Abwendbarkeit vgl. Lenckner, in: Festschrift für Lackner, S. 95ff. Zum Gefahrbegriff vgl. Schaffstein, in: Festschrift für Bruns, S. 89ff. sowie neuerdings Dirnitratos, Das Begriffsmerkmal der Gefahr in den strafrechtlichen Notstandsbestimmungen, S. 117 ff. 34 Zu den Begriffen "Element", "Menge", "Teilmenge" vgl. Ebbinghaus, Einführung in die Mengenlehre, S. 1 ff., 4f.
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1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Welche Elemente der Menge aller relevanten Notstandsralle aber sind rechtmäßig und welche sind rechtswidrig? Und: Welche Parameter 35 sind hierfür entscheidend? - Fragen, die zum 2. Kapitel überleiten.
35 Als "Parameter" werden im Anschluß an Ebbinghaus, Einführung in die Mengenlehre, S. 17 die "in einem Ausdruck frei vorkommenden Variablen" bezeichnet. Die Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB ist eine solche Variable, da verschiedene Stufen der Interessenabwägung zu unterscheiden sind, siehe dazu unten 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2.
2. Kapitel
Untersuchung der relevanten Fälle hinsichtlich ihres deontischen Status 36 1. Welche Parameter sind relevant für die Bestimmung des deontischen Status einer Notstandshandlung?
a) Die Systematik der Notstandsregelungen in den Fällen des § 303 StGB aa) Der Parameter "Abwägung der betroffenen Rechtsgüter" Beispiel 1): Bergwanderer T bricht die verschlossene Almhütte des 0 auf, um sich vor einem soeben aufziehenden Gewitter in Sicherheit zu bringen. Das Schloß wird dadurch, wie von T vorausgesehen, unbrauchbar. Hätte T sich während des Gewitters im Freien aufgehalten, wäre er wahrscheinlich an einer schweren Grippe erkrankt. 37 Beispiel 2): Der Sachverhalt ist grundsätzlich der gleiche wie im Beispiel 1; jedoch hat T nun eine bessere körperliche Konstitution. Ihm droht jetzt lediglich eine vergleichsweise harmlose Erkältung für den Fall einer Übernachtung im Freien. In beiden Fällen erfüllt T objektiv und subjektiv den Deliktstatbestand 38 des § 303 StGB39, wenn er wissentlich das Schloß beschädigt. Im Beispiel 1) ist die Sachbeschädigungshandlung als "relevanter" Fall 40 jedoch rechtmäßig41 , da die 36 Die deontische Logik, auch Nonnenlogik genannt, beschreibt und untersucht präskriptive, d. h. vorschreibende Sätze. Prototypen präskriptiver Sätze sind Nonnen, insbesondere Rechtsnonnen. Der deontische Status einer Handlung wird mit Hilfe deontischer Operatoren, wie z. B. "geboten", "verboten", "erlaubt", etc. bestimmt. In dem hier interessierenden Zusammenhang ist die zu untersuchende Handlung entweder rechtmäßig und damit "erlaubt" oder rechtswidrig und damit "verboten". Zur deontischen Logik vgl. von Wright, Nonnenlogik, S. 25ff.; zu den deontischen Operatoren und deren Beziehungen zueinander Hruschka / Joerden, ARSP 1987, S. 93 ff., 104ff.; zur Geschichte der deontischen Grundbegriffe Hruschka, Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767, S. 7ff. 37 Der Fall ist dem Beispiel von Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 10 Fn. 17 nachgebildet. 38 Zu den Begriffen Delikts- und Rechtfertigungstatbestand vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 191 ff. 39 Hausfriedensbruch, § 123 StGB, bleibt im folgenden außer Betracht. 40 Siehe oben 1. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 1.
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1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Voraussetzungen des § 34 StGB erfüllt sind 42 : Die erforderliche Interessenabwägung führt nämlich zu dem Ergebnis, daß das geschützte Interesse, also das Interesse des T an seiner Gesundheit das beeinträchtigte Interesse, das ist das Interesse des 0 an seinem Eigentum, wesentlich überwiegt. Auch die Sachbeschädigungshandlung im Beispiel 2) ist ein "relevanter" Fall. Hier jedoch führt die Interessenabwägung zu dem genau gegenteiligen Ergebnis. Denn es kann ernstlich nicht behauptet werden, daß das Interesse des T daran, keine Erkältung zu bekommen, das Interesse des 0 an der Unversehrtheit seines Schlosses wesentlich überwiegt 43 • Die Sachbeschädigungshandlung ist daher rechtswidrig. Die Gegenüberstellung der beiden Fälle führt also zu dem Ergebnis, daß jedenfalls die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter ein Kriterium ist, das bei der Frage, ob eine Notstandshandlung rechtmäßig oder rechtswidrig ist, eine Rolle spielt. Es ist jedoch keineswegs das einzige. Das zeigen die folgenden Parallelfälle44 : bb) Der Parameter "Art der Notstandssituation" Beispiel 3): Die Promenadenmischung des 0 ist im Begriff, die Hose des T zu zerreißen. T kann sich nur dadurch wehren, daß er seinen Spazierstock ergreift und damit auf den Hund einschlägt. Wie T vorausgesehen hat, verendet der Hund. Beispiel 4): Die Promenadenmischung des 0 ist wieder im Begriff, die Hose des T zu zerreißen. T kann sich aber jetzt nur dadurch wehren, daß er dem verdutzten X den Spazierstock entreißt und damit auf den Hund einschlägt. Wie von T vorausgesehen, geht der Spazierstock des X zu Bruch und der Hund des 0 verendet. Wiederum geht es in beiden Fällen um die mögliche Rechtfertigung von Sachbeschädigungshandlungen in Notstandssituationen, also um Handlungen, die "relevant" sind. Im Beispiel 3) ist die Sachbeschädigungshandlung des T rechtmäßig, da der Rechtfertigungsgrund des § 228 BG B eingreift: Zum einen ist Ursprung der Gefahr die Sache, die T zur Abwendung der Gefahr zerstört. T handelt also in einer Defensivnotstandssituation45 • Dann aber ist gemäß § 228 41 Der Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung greift nicht ein, da nicht davon auszugehen ist, daß 0 mit der Beschädigung des Schlosses einverstanden gewesen wäre; zur mutmaßlichen Einwilligung vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 171 ff. 42 Zum gleichen Ergebnis führt § 904 BGB; siehe dazu in diesem Abschnitt unter bb. 43 Es ist nicht der Fall, daß Gefahren für die körperliche Integrität solche für das Eigentum stets überwiegen; erforderlich ist eine Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter; vgl. statt vieler Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, S. 107ff. m.w.N. 44 Die beiden Fälle sind Modifikationen der Entscheidung des Reichsgerichts in JW 1926, S. 1145f. mit einer Anmerkung von Oetker.
2. Kap.: Der deontische Status der relevanten Fälle
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BGB die Sachbeschädigungshandlung grundsätzlich rechtmäßig, es sei denn, der Schaden steht außer Verhältnis zu der Gefahr. Da hier der drohende Schaden, das ist die Gefahr, daß die Hose des T zerrissen wird, und der Schaden, der durch die Notstandshandlung verursacht wird, also die Tötung des dem 0 gehörenden Hundes als annähernd gleichwertig anzusehen sind 46 , kann von einem "außer Verhältnis stehen" nicht die Rede sein. Die begrifflichen Voraussetzungen des § 228 BGB sind also erfüllt. Die Sachbeschädigung ist gerechtfertigt. Unabhängig von einer Abwägung im konkreten Fall stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Ausdruck "außer Verhältnis stehen" verstanden und präzisiert werden kann. Ein Schaden steht jedenfalls dann nicht außer Verhältnis zu einer Gefahr, wenn die kollidierenden Interessen gleichwertig sind. Ein Schaden steht vielmehr erst dann außer Verhältnis zu der Gefahr, d.h. die in einer Notstandssituation vorgenommene Handlung ist nur dann unverhältnismäßig und damit rechtswidrig, wenn der Schaden beträchtlich höher ist, oder - in der Terminologie des § 34 StGB - wenn das beeinträchtigte Interesse ( der "Schaden" i. S. d. § 228 BGB) das geschützte Interesse (das "gefahrdete" Interesse i. S. d. § 228 BGB) nicht nur etwas oder geringfügig, sondern deutlich und damit wesentlich überwiegt 47 • § 228 BGB ließe sich infolgedessen ohne inhaltliche Änderung auch wie folgt formulieren: " ... handelt nicht widerrechtlich, wenn nicht ... das beeinträchtigte das geschützte Interesse wesentlich überwiegt." Im Beispiel 4) stehen zwei Sachbeschädigungshandlungen im Raum. Hinsichtlich der Tötung des Hundes ergeben sich keine Unterschiede zu Beispiel 3). Darüber hinaus hat T jedoch wissentlich das Eigentum des X beschädigt. Eine Rechtfertigung gemäß § 228 BGB scheidet insoweit aus, da die dem T drohende Gefahr ihren Ursprung gerade nicht in dem Spazierstock, also der Sphäre des X, hat. T handelt daher nicht in einer Defensivnotstandssituation. In Betracht kommt jedoch § 34 StGB. Zwar befindet sich T in einer Notstandssituation, jedoch kann man nicht behaupten, daß das geschützte Interesse, das ist das des T an der Unversehrtheit seiner Hose, das beeinträchtigte Interesse, also das des X an der Erhaltung seines Spazierstocks, wesentlich überwiegt. Vielmehr muß auch jetzt davon ausgegangen werden, daß die Hose des T und der Spazierstock
45 T handelt dann in einer Defensivnotstandssituation, wenn "zur Abwendung der Notstandsgefahr gerade in die Sphäre eingegriffen werden müßte, aus der die Gefahr kommt."; so Hruschka, Strafrecht, S. 81. Ähnlich auch in den Motiven zu dem Entwurf des BGB, Bd. I, S. 349ff., 350: "Die Beseitigung der drohenden Gefahr erfolgt nicht durch den Übergriff in den Rechtskreis eines unbeteiligten Dritten, sondern dadurch, daß die gefahrdrohende Sache selbst verletzt wird." 46 Zur Abwägung bei der Kollision von Vermögensinteressen vgl. BGH JZ 1976, S. 250 mit Anm. Küper, JZ 1976, S. 515ff. 47 RG JW 1926, S. 1145f.: Die Voraussetzungen des § 228 BGB sind dann nicht erfüllt, wenn das beeinträchtigte Interesse "viel wertvoller" ist als das geschützte Interesse.
32
1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
des X von annähernd gleichem Wert sind. Danach ist T jedenfalls nicht gemäß § 34 StGB gerechtfertigt. Zum gleichen Ergebnis führt die Prüfung des § 904 BGB, da er inhaltlich mit § 34 StGB übereinstimmt, soweit es sich um die Rechtfertigung von Sachbeschädigungshandlungen in Notstandssituationen handelt 48 • § 904 BGB legt - im Gegensatz zu § 34 StGB - die Reichweite der Duldungspflicht des Eigentümers der durch die Notstandshandlung gefährdeten Sache fest. Eine Duldungspflicht besteht dann, "wenn die Einwirkung zur Überwindung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig" (die Gefahr m. a. W. also nicht anders abwendbar ist) "und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist." Übersetzt in die Begriffiichkeit des § 34 StGB bedeutet dies, daß dem Eigentümer in einer Notstandssituation dann eine Duldungspflicht auferlegt ist, der Notstandstäter also dann rechtmäßig in das Eigentum des Dritten eingreift, wenn das geschützte Interesse (der drohende Schaden) das beeinträchtigte Interesse (dem aus der Einwirkung ... entstehenden Schaden) wesentlich (unverhältnismäßig) überwiegt. § 904 BGB stellt sich aus diesem Blickwinkel lediglich als lex specialis zur lex generalis des § 34 StGB dar, soweit es um die Frage der Rechtfertigung von Sachbeschädigungshandlungen in Aggressivnotstandssituationen geht. Obwohl also bei beiden Sachbeschädigungen die jeweils kollidierenden Interessen annähernd gleichen Wert haben, ist die Tötung des dem 0 gehörenden Hundes rechtmäßig, während dies hinsichtlich des zerbrochenen Spazierstocks im Beispiel 4) gerade nicht der Fall ist. Grund hierfür ist dabei aber nicht der Parameter der Rechtsgüterabwägung, sondern ein zusätzlicher Parameter, der von der Rechtsgüterabwägung unterschieden werden muß. Dieser Parameter soll im folgenden als "Art der Notstandssituation" bezeichnet werden. Offensichtlich bestehen - jedenfalls soweit es um Sachbeschädigungshandlungen geht - wesentlich weitergehende Eingriffsbefugnisse dann, wenn der Täter in einer Defensivnotstandssituation handelt. ce) Zusammenfassung Die Antwort auf die Frage nach dem deontischen Status einer zur Menge der relevanten Fälle gehörenden Sachbeschädigungshandlung ist daher nicht nur vom Ergebnis einer Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter abhängig, sondern auch von der Art der Notstandssituation. Dabei sind die beiden Parameter auf folgende Weise miteinander verknüpft: In einer Defensivnotstandssituation ist eine Sachbeschädigungshandlung grundsätzlich rechtmäßig, es sei denn, das beeinträchtigte Interesse überwiegt das geschützte Interesse wesentlich.
48
So explizit Hruschka, Strafrecht, S. 116; ders., Rettungspflichten, JUS 1979,
S. 385 ff., 390.
2. Kap.: Der deontische Status der relevanten Fälle
33
Dagegen ist in einer Aggressivnotstandssituation eine Sachbeschädigungshandlung grundsätzlich rechtswidrig, es sei denn, das geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte Interesse wesentlich.
b) Die Systematik der Notstandsregelungen bei anderen Rechtsgutsverletzungen Ein derart ausdifferenziertes System hält das Gesetz explizit nur bezüglich Sachbeschädigungshandlungen bereit. Die Verletzung anderer Rechtsgüter in einer Notstandssituation ist - jedenfalls auf den ersten Blick - ohne eine den §§ 228,904 BGB entsprechende Unterscheidung ausschließlich durch § 34 StGB geregelt, was - beinahe zwangsläufig - Probleme aufwirft. Vom Wortlaut des § 34 StGB sind sowohl Handlungen in Aggressiv-, als auch solche in Defensivnotstandssituationen erfaßt, denn eine der Formulierung "durch sie drohende Gefahr" in § 228 BGB entsprechende Formulierung fehlt in § 34 StGB. Die Interessenabwägungsklausel des § 34 StGB entspricht jedoch inhaltlich der des § 904 BGB, nicht der des § 228 BGB49. Da hinsichtlich der Eingriffsbefugnisse in Notstandssituationen zwischen Sachbeschädigungshandlungen einerseits und der Verletzung sonstiger Rechtsgüter andererseits kein prinzipieller Unterschied zu erkennen ist, ist es nur konsequent, die für Sachbeschädigungen einschlägigen Regelungen der §§ 228, 904 BGB auf die übrigen Notstandshandlungen auszudehnen. Die Notwendigkeit einer Differenzierung nach der Art der Notstandssituation mit der Folge unterschiedlicher Abwägungsklauseln wird inzwischen auch allgemein akzeptiert und vorgenommen 50; streitig ist allein der dogmatische Standort der Differenzierung: aa) Die These Roxins Roxin 51 hält die Beurteilung von Handlungen in Defensivnotstandssituationen ausschließlich im Rahmen des § 34 StGB nicht nur für "rechtlich möglich", sondern auch für "teleologisch geboten". Er geht davon aus, daß die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Notstandshandlungen, seien sie in einer Aggressivoder einer Defensivnotstandssituation vorgenommen, ausnahmslos von § 34 StGB beantwortet wird, es sei denn, es stehen Sachbeschädigungshandlungen im Raum 52. Aber auch Roxin sieht eine Differenzierung nach der Art der 49
bb.
Zum Verhältnis von § 904 BGB zu § 34 StGB siehe oben in diesem Kapitel Ziffer 1 a
50 Vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 30; Hirsch, in: LK § 34 Rdnr. 72 jeweils m.w.N. 51 Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S. 457ff., 464; ders., in: Festschrift für Oehler, S. 181 ff., 190. 52 So neuerdings auch Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, S. 164ff., 166f.
3 Lugert
34
1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Notstandssituation als notwendig an. Er jedoch siedelt sie in der Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB an S3 • Relevante Abwägungskriterien sind nach Roxin daher neben den betroffenen Rechtsgütem z. B. auch "die Persönlichkeitsautonomie des Betroffenen, etwaige besondere Pflichten oder das Verschulden des Notstandstäters und auch die individuelle Bedeutung des abgewandten und des verursachten Schadens"54. Jedenfalls der Wortlaut des § 34 Satz 1 StGB steht dieser These nicht entgegen, da die Kriterien der Interessenabwägung, also das "Abwägungsmaterial" nicht abschließend aufgezählt sind, wie die Verwendung des Begriffs "namentlich" zeigt. Dies führe - so meint Roxin - bei Handlungen in Defensivnotstandssituationen dazu, "daß unter Umständen auch einmal ein Rechtsgut, das seinem absoluten Range nach höherwertig ist, dann zurücktritt, wenn das Interesse, das letztere zu schützen, nach den Besonderheiten des einzelnen Falles gegenüber dem Interesse, das andere unbeeinträchtigt zu lassen, wesentlich überwiegt."55 bb) Kritik und Konsequenzen Gegen die Thesen Roxins spricht einmal, daß das Ergebnis einer derart umfassend verstandenen Interessenabwägung mitunter schwer nachvollziehbar ist, wenn die Frage nach einer etwaigen Rechtfertigung "nur durch eine umfassende Abwägung aller im Einzelfall für und gegen die Zulässigkeit des Eingriffs sprechenden Umstände"56 beantwortet werden kann. Vielmehr entsteht der Eindruck, jedes (bereits vor der Abwägung aufgrund des Rechtsgefühls 57 als wünschenswert angesehene) Ergebnis kann aufgrund der Unbestimmtheit der abwägungsrelevanten Kriterien und deren Gewichtung begründet werden. 58 Zum anderen bleibt bei diesem Ansatz die Frage nach der Gewichtung des Abwägungsmaterials sowie die zwischen den einzelnen Kriterien bestehenden Interdependenzen offen. Es ist insbesondere unklar, inwieweit die Eingriffsbefugnisse in einer Defensivnotstandssituation, verglichen mit denen in einer Aggressivnotstandssituation ausgeweitet sind 59. Schon im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform war man der Meinung, daß sich die Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S. 466. So Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S.466; noch weitergehend Delonge, Die Interessenabwägungsklausel nach § 34 StGB, S.154ff., der nicht nur die Fälle des Defensivnotstandes in § 34 StGB ansiedelt, sondern darüber hinaus offensichtlich den Wert der Rechtsgüter von der Art der Notstandssituation abhängig macht. Delonge bildet dazu den Begriff des "Sphärenrechtsguts" (S. 157), dessen Inhalt allerdings unklar bleibt. 55 Vgl. Begründung des sog. Entwurfs 1962 (E 62), BT-Drucksache IV /650 (1962), S. 159, der unter Mitwirkung von Roxin erarbeitet wurde. 56 Begründung des Alternativ-Entwurfes zum Strafgesetzbuch (AE), AT, S. 51. 57 Zum Rechtsgefühl vgl. z. B. Obermayer, JZ 1986, S. 1 ff. 58 Diese durchaus nicht zu unterschätzende Gefahr sieht auch Grebing, GA 1979, S. 79fT., 94. S9 Diesen Einwand muß sich auch Delonge (Fn. 54) gefallen lassen. 53
54
2. Kap.: Der deontische Status der relevanten Fälle
35
Abwägung der Interessen weitgehend an den betroffenen Rechtsgütem zu orientieren habe, diesem Kriterium also letztlich ein ausschlaggebendes Gewicht zukomme 60 • Deshalb hat insbesondere Hruschka 61 im Anschluß an Lampe 62 vorgeschlagen, § 228 BGB als kodiftzierte Regelung eines allgemeinen Rechtsgedankens zu verstehen, der besagt, daß eine Handlung (also nicht nur eine Sachbeschädigungshandlung!) in einer Defensivnotstandssituation rechtmäßig ist, es sei denn, das beeinträchtigte Interesse überwiegt das geschützte Interesse wesentlich 63 • Die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis ist im Gegensatz zur These Roxins in der Lage, die Fragen nach der Gewichtung der einzelnen Abwägungskriterien eindeutig zu beantworten: In einer Defensivnotstandssituation dreht sich die Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB gewissermaßen um. Nur eine Differenzierung in eine aus dem Rechtsgedanken des § 228 BGB entwickelte allgemeine Defensivnotstandsbefugnis einerseits und eine in § 34 StGB kodiftzierte Aggressivnotstandsbefugnis andererseits macht überdies deutlich, daß der Parameter "Abwägung der betroffenen Rechtsgüter" und der Parameter "Art der Notstandssituation" gleichberechtigt nebeneinander stehen, aber voneinander unabhängig sind. Ist nämlich der konkrete Wert der kollidierenden Rechtsgüter einmal bestimmt, so kann der Parameter "Art der Notstandssituation" diese Wertbestimmung nicht mehr beeinflussen. Deshalb kann auch Hruschka nur zugestimmt werden, wenn er feststellt, es "ist in § 34 StGB keine Rede davon, daß irgendwelche Interessen deswegen weniger wertvoll sind, weil die Notstandsgefahr gerade von ihnen ausgeht."64 Die Einwände Roxins gegen die Anerkennung einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis 65 außerhalb der Vorschrift des § 34 StGB überzeugen hingegen nicht: Zum einen bemängelt Roxin, daß eine aus § 228 BGB entwickelte allgemeine Defensivnotstandsbefugnis eine etwaige Verschuldung der Notstandsgefahr bei der Bestimmung der Eingriffsbefugnisse außer acht lassen müsse, da § 228 BGB in solchen Fällen nur zum Schadensersatz verpflichte, die betreffende Handlung jedoch selbst in einem solchen Fall rechtmäßig sei. Roxins Kritik impliziert die Richtigkeit der Behauptung, daß die Verschuldung der Notstandsgefahr wenigstens zu einer Einschränkung, wenn nicht sogar zu einem völligen Ausschluß von Notstandsbefugnissen führt. Schon diese Prämisse ist allerdings alles andere als unbestritten 66 • Es ist hingegen höchst zweifelHorstkotte, Prot. V, S. 1792ff., 1795. Strafrecht, S. 78ff.; ders., in: Festschrift für Dreher, S. 189ff., 203 Fn. 23; ders., NJW 1980, S. 21 ff. (Anm. zu BGH NJW 1979, S. 2053 "Spanner-Fall"); für die Anerkennung einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis neuerdings auch Frister, GA 1988, S. 291 ff., 294f. 62 NJW 1968, S. 88ff. 63 So Hruschka, Strafrecht, S.78; für eine analoge Anwendung des § 228 BGB und insbesondere seiner Abwägungsklausel bei durch "Säuglinge" und "Idioten" drohende Gefahren schon Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit, S. 131. 64 Hruschka, Strafrecht, S. 82. 65 Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S. 466ff. 60 61
36
1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
haft, ob eine - vielleicht sogar pflichtwidrige - Verursachung der Notstandsgefahr eine Reduzierung der Notstandsbefugnisse rechtfertigt. Schon deshalb steht die Kritik Roxins auf schwachen Beinen. Auch der zweite Einwand Roxins, eine allgemeine Defensivnotstandsbefugnis sei "viel zu starr" und "holzschnittartig"67 ist nicht durchschlagend. Denn es wird gerade nicht behauptet, die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis gründe ausschließlich auf einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Insbesondere auch die Unterscheidung in "allgemein" und "erhöht" Gefahrtragungspflichtige erfordert, wie noch gezeigt werden wird, weitere Differenzierungen. Der entscheidende Vorteil der Existenz einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis neben § 34 StGB und entsprechend die Ausklammerung von Handlungen in einer Defensivnotstandssituation aus der Vorschrift des § 34 StG B ist jedoch, daß nur auf der Basis einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis erklärt werden kann, wie sich die Befugnisse in Aggressiv- und Defensivnotstandssituationen voneinander unterscheiden, während Roxin nur den höchst unbestimmten Maßstab einer umfassenden Abwägung im Einzelfall hat. 2. Zusammenfassung der Ergebnisse des 2. Kapitels; das FaUsystem I Eine Handlung ist, falls sie in einer Aggressivnotstandssituation vorgenommen wird, grundsätzlich rechtswidrig, es sei denn, das geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte Interesse wesentlich. Wird die Handlung hingegen in einer Defensivnotstandssituation vorgenommen, ist sie grundsätzlich rechtmäßig, es sei denn, das beeinträchtigte Interesse überwiegt das geschützte Interesse wesentlich. Zur Verdeutlichung dieses Modells sei die von Hruschka 68 entwickelte Tafel zur Darstellung der möglichen Verhältnisse von geschütztem und beeinträchtigtem Interesse angeführt. Hruschka unterscheidet fünf Kategorien. In bezug auf jedes Element der Menge aller Notstandshandlungen gilt alternativ: Das geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte Interesse wesentlich oder das 66 Ein völliger Ausschluß von EingrifTsbefugnissen wird ofTenbar nicht mehr vertreten, vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 42; Küper, Der "verschuldete"rechtfertigende Notstand, S. 21 ff., 160f. Dencker, JUS 1979, S. 779fT., 780 (Anm. zu BayObLG NJW 1978, S.2046), hält diese Ansicht gar für "unumstritten". Diskutiert wird allerdings eine Einschränkung der Notstandsbefugnisse durch Berücksichtigung der "Verschuldung" der Notstandsgefahr bzw. -lage innerhalb der Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB; dafür sind Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, S. 25fT., 161 f.; Dencker, JUS 1979, S. 780f.; Jakobs, Strafrecht, S. 349f.; dagegen mit beachtlichen Argumenten Neubecker, Zwang und Notstand, S.323fT.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 107fT.; Hruschka, JR 1979, S. 125ff. (Anm. zu BayObLG NJW 1978, S. 2046); BGH VRS Bd. 36, S. 23fT., 24; unentschieden Kienapfel, ÖJZ 1975, S. 421 ff., 427: Der Aspekt der Verschuldung "kann ... ins Gewicht fallen." 67 Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S. 467. 68 Strafrecht, S. 114.
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2. Kap.: Der deontische Status der relevanten Fälle
geschützte Interesse überwiegt das beeinträchtigte Interesse schlicht oder beide Interessen sind gleichwertig oder das beeinträchtigte Interesse überwiegt das geschützte Interesse schlicht oder das beeinträchtigte Interesse überwiegt das geschützte Interesse wesentlich. Die Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB impliziert eine Unterscheidung mindestens dieser fünf Kategorien: Wenn eine Notstandshandlung nur bei einem wesentlichen Überwiegen des geschützten Interesses gerechtfertigt ist, so ist damit die Existenz einer weiteren Kategorie vorausgesetzt, bei der das eine das andere Interesse überwiegt. Dieses Verhältnis wird hier als "schlichtes" Überwiegen bezeichnet. Da außerdem sowohl das geschützte das beeinträchtigte Interesse überwiegen kann, als auch der umgekehrte Fall denkbar ist, sind jedenfalls vier Kategorien zwingend vorausgesetzt. Als fünfte Kategorie kommt notwendig die der Gleichwertigkeit der Interessen hinzu. Einer weiteren Differenzierung in sieben, neun, elf oder mehr Kategorien stehen zwar keine logisch zwingenden, wohl aber Gründe der Praktikabilität entgegen: Jede weitere Differenzierung erschwert die Voraussehbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Abwägung, die vom Urteiler vorgenommen wird. Ist schon zweifelhaft, ob hinsichtlich der Frage, ob ein Interesse das andere nur schlicht oder sogar schon wesentlich überwiegt, eine communio opinionis zu erzielen ist 69 , so ist eine Übereinstimmung der Wertvorstellungen im Falle noch stärkerer Ausdifferenzierung so gut wie ausgeschlossen. Mit jeder zusätzlichen Abwägungsstufe verlieren die Grenzen der Kategorien an Kontur und Trennschärfe. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, an der Einteilung in fünf Kategorien festzuhalten. Danach läßt sich die Menge aller Notstandshandlungen in zehn voneinander relevant verschiedene Fallvarianten einteilen ("gI" = geschütztes Interesse; "bI" = beeinträchtigtes Interesse; "rm" = rechtmäßig; "rw" = rechtswidrig; ,,»" überwiegt wesentlich; ,,>" überwiegt schlicht; ,,=" sind gleichwertig; ,,(" schlicht geringwertiger; ,,«" wesentlich geringwertiger): Fallsystem I
Menge aller
Aggressiv-
Notstandshandlungen
Defensivnotstandssituation
g1~bI
rm
rm
gI> bI
rw
rm
gI = bI
rw
rm
gI < bI
rw
rm
gI « bI
rw
rw
69
Vgl. dazu z.B. Küper, GA 1983, S. 289ff., 296.
38
1. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Notstandshandlungen allgemein Gefahrtragungspflichtiger ist damit abhängig von zwei Parametern: Zum einen vom Ergebnis einer vorzunehmenden Interessenabwägung, das sich - jedenfalls zunächst einmal - als Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter verstehen läßt und zum anderen von der Art der Notstandssituation. Dabei sind beide Parameter derart miteinander verknüpft, daß eine Notstandshandlung in einer Aggressivnotstandssituationgrundsätzlich rechtswidrig (Ausnahme: gl» bl), die in einer Defensivnotstandssituation grundsätzlich rechtmäßig ist (Ausnahme: gl « bl). Innerer Grund für diese Differenzierung ist die auf dem Sicherungsprinzip 70 beruhende geringere Schutzwürdigkeit des Rechtsgutes, das Ursprung der Gefahr ist, im Verhältnis zu einem am Entstehen der Notstandsgefahr unbeteiligten Drittinteresse 71. Aufbauend auf den dem Fallsystem I zugrundeliegenden Überlegungen kann jetzt der Frage nachgegangen werden, ob das soeben zu den Notstandsbefugnissen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen entwickelte Lösungsmodell auf erhöht Gefahrtragungspflichtige übertragen werden kann oder ob Modifikationen notwendig sind. Führt insbesondere das Bestehen einer erhöhten Gefahrtragungspflicht zu einer Einschränkung der Notstandsbefugnisse, und wie sehen diese gegebenenfalls aus?
70 71
Zum Begriff "Sicherungsprinzip" vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 111 ff. So statt vieler Lenckner, in: Schönke / Schröder, StG B, § 34 Rdnr. 30 m. w. N.
2. Abschnitt
Die Reichweite der Eingriffsbefugnisse bei Handlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen im Notstand "Die in § 35 Abs.l Satz 2 StGB nonnierten besonderen Gefahrtragungspflichten begrenzen nicht nur den Spielraum der Entschuldigung; sie reflektieren vielmehr auch entsprechende Restriktionen der N ot-Rechte." 1 "Zum gesicherten Bestandteil der Strafrechtsdogmatik gehört die - im Detail freilich wenig geklärte - Lehre, daß es bestimmte, sozial exponierte Berufsgruppen gibt, deren Mitglieder dazu verpflichtet sind, die mit ihren Aufgaben verbundenen ("typischen") Gefahren zu ertragen."2 Bemsmann und Küper beschreiben treffend den Stand der gegenwärtigen Diskussion: So wenig die Frage nach der grundsätzlichen Beschränkung der Notstandsbefugnisse aufgrund einer bestehenden erhöhten Gefahrtragungspflicht in Streit ist, so sehr divergieren die Meinungen, wenn der Umfang der Notstandsbefugnisse, die dieser Personengruppe zustehen, zur Diskussion steht. Man ist sich mit anderen Worten zwar darüber einig, daß eine Notstandsbefugnis nicht nur von der Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter sowie der Art der Notstandssituation abhängig ist 3 , sondernjedenfalls auch davon, ob der im Notstand Handelnde Mitglied einer "sozial exponierten Berufsgruppe"4 ist. Diese soziale Herausgehobenheit wird freilich nur dann relevant, wenn es um das Bestehen von solchen Notstandsgefahren geht, die typischerweise mit der Sonderpflicht, die eine erhöhte Gefahrtragungspflicht begründet, verbunden sind s . So ist z. B. ein Feuerwehrmann nicht erhöht gefahrtragungspflichtig, wenn er während seines Urlaubes bei einer Flugzeugentführung als Geisel genommen und von den Luftpiraten zu einer rechtswidrigen Tat genötigt wird. Andererseits ist die These Küpers, daß solche Personen keine Notstandsbefugnisse haben, soweit es sich um "mit der jeweiligen Berufstätigkeit in notwendiger Weise verbundene typische Gefahren"6 handelt, alles andere als unumstritten 7 • 1 Bernsmann, in: Festschrift für Blau, S. 23ff., 38; vgl. hierzu auch ders., Entschuldigung, S. 394 ff. 2 Küper, JZ 1980, S. 755 m. w. N. Die Auseinandersetzung um die Frage eingeschränkter Notstandsbefugnisse ist nicht neu; vgl. nur Janka, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 72f.; Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 36f. 3 Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2. 4 Küper, JZ 1980, S. 755. 5 Vgl. BGH NJW 1964, S. 730f.
1. Kapitel
Wer ist erhöht gefahrtragungspflichtig? 1. Der differenzierende Ansatz Neben einer - insoweit unstreitigen - erhöhten Gefahrtragungspflicht kraft Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe kann eine solche aber auch die Folge einer bestehenden speziellen Obhutspflicht gegenüber dem virtuell beeinträchtigten Rechtsgut sein 8 • Eine spezielle Obhutspflicht, d. h. eine Sonderpflicht aus einer ObhutsgarantensteIlung, ist mit den Worten Armin Kaufmanns dann anzunehmen, wenn "das Gebotssubjekt auf Posten gestellt" ist "zum Schutze eines ganz bestimmten Rechtsguts gegen a I I e Angriffe, gleich aus welcher Richtung" 9 • Als Beispiel sei nur die spezielle Obhutspflicht der Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern genannt lO . Eine Obhutsgarantensteilung kommt jedenfalls dann als Grundlage einer Einschränkung von N otstandsbefugnissen in Betracht, wenn sich die spezielle Obhutspflicht des Handelnden gerade auf das virtuell beeinträchtigte Rechtsgut bezieht l l . 2. Die Einheitslösung Dem widerspricht Küper. l2 Er begründet seine abweichende Ansicht damit, daß die erhöhte Gefahrtragungspflicht aus einer bestehenden Berufspflicht "typischerweise, nach der Eigenart der geforderten Tätigkeit, gewisse Gefahren für die physische Unversehrtheit oder sogar für die Existenz des Verpflichteten"l3 enthalte, während es bei speziell Obhutspflichtigen an einer derartigen, die Einschränkung der Notstandsbefugnisse begründenden "TypiziBGH NJW 1964, S. 731. Siehe dazu das folgende Kapitel. 8 Zum Begriff der "speziellen Obhutspflicht" siehe oben Einleitung 11 1. 9 Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 283; speziell zur Systematisierung von Obhuts- und Sicherungsgaranten vgl. Henkel, MSchrKrim 1961, S. 189ff. 10 Sie wird auch als GarantensteIlung kraft Gesetzes bezeichnet; ihre gesetzliche Grundlage wird in §§ 1601, 1626 Abs. 2, 1631 BGB gesehen; vgl. Dreher jTröndle, StGB, § 13 Rdnr. 6. 11 Lenckner, in: Schönke j Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 34; Hirsch, in: LK § 34 Rdnr. 67; Hruschka, Strafrecht, S. 144ff.; Jakobs, Strafrecht, S. 350; BaumannjWeber, Strafrecht, AT, S. 350; Blei, Strafrecht I, AT, S. 168. 12 Grund- und Grenzfragen, S. 107ff. 13 Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 107. 6
7
l. Kap.: Wer ist erhöht gefahrtragungspflichtig?
41
tät der Selbstgerahrdung"14 fehle. Fraglich ist schon, ob der Prämisse Küpers zugestimmt werden kann, Grund einer "erhöhten Gefahrtragungspflicht" kraft beruflicher Stellung sei die typischerweise mit diesem Beruf verbundene Leibesoder sogar Lebensgefahr, die dazu führe, daß die "belasteten Rechtsgüter nicht genügend schutzwürdig"IS seien. Schon Lenckner hatte eine Einschränkung der Notstandsbefugnisse aufgrund eines spezifischen Berufes damit begründet, in solchen Fällen seien "dann zwar ihre Güter nicht weniger wert als die anderer, jedoch ... weniger schutzwürdig." 16 Es bestehen jedoch begründete Zweifel, ob eine erhöhte Gefahrtragungspflicht auf Berufe beschränkt ist, die in aller Regel mit Leibes- oder sogar Lebensgefahren verbunden sind. Dies trifft zwar allgemein auf Soldaten, Feuerwehrleute oder auch Seeleute l7 zu, kann aber bei anderen Berufsgruppen, die nach überwiegender Meinung ebenfalls einer erhöhten Gefahrtragungspflicht unterliegen, nicht ohne weiteres angenommen werden. Als Beispiel mag der von Krey lB gebildete Fall dienen, der eine Einschränkung der Notstandsbefugnisse eines Richters im Falle einer tatbestandsmäßigen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Gefangenenbefreiung annimmt. Es kann aber wohl nicht behauptet werden, daß ein Richter, sei er auch Straf- oder sogar Haft- bzw. Errnittlungsrichter, einen Beruf ausübt, der typischerweise Leibesgefahren mit sich bringt oder gar "lebensgefährlich" ist. Aber auch der "Beruf' des Zivildienstleistenden birgt in aller Regel keine Gefahren für die körperliche Integrität des Verpflichteten; dennoch gehört der Zivildienstleistende, wie § 27 Abs. 3 ZDG19 zu entnehmen ist, zur Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen. Insbesondere dieses Beispiel zeigt die Unhaltbarkeit der These Küpers, da sich aus der Formulierung des Gesetzes "muß auf sich nehmen" ohne Zweifel ergibt, daß jedenfalls auch die Notstandsbefugnisse der Zivildienstleistenden eingeschränkt sind, die Zivildiensteigenschaft also nicht nur im Bereich des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB relevant ist 20 • Nach Küper hingegen wäre eine Einschränkung der Notstandsbefugnisse des Ersatzdienstleistenden und wohl auch die des Richters mangels Bestehen von berufstypischen Leibes- und Lebensgefahren nicht zu begründen. Kann daher dem Küperschen Begründungsansatz nicht zugestimmt werden, so ist damit auch sein darauf aufbauender Einwand gegen eine erhöhte Gefahrtragungspflicht aufgrund einer speziellen Obhutspflicht obsolet. Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 107. Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 106. 16 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 101. 17 Vgl. die Aufzählung bei Hirsch, in: LK § 34 Rdnr. 67. 18 JURA 1979, S. 316ff., 320; für eine erhöhte Gefahrtragungspflicht des Richters ist z.B. auch Blei, Strafrecht AT (PDW Heft 9), Nr. 132. 19 § 27 Abs. 3 ZDG in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. 7. 1986 (BGBl. I, S. 1205): "Er (der Zivildienstleistende) muß die mit dem Dienst verbundenen Gefahren auf sich nehmen, insbesondere, wenn es zur Rettung anderer aus Lebensgefahr oder zur Abwendung von Schäden, die der Allgemeinheit drohen, erforderlich ist." 20 Ausführlich zu § 27 Abs. 3 ZDG vgl. unten 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2 b. 14
15
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
3. Rückkehr zum differenzierenden Ansatz Wie aber ist dann die Annahme einer erhöhten Gefahrtragungspflicht und die notwendig damit verbundene Einschränkung der diesen Personen zustehenden Eingriffsbefugnisse zu erklären? Entgegen der Meinung Küpers ist ein obendrein untauglicher 21 - Rückgriff auf das Kriterium einer "typischen Berufsgefahr" nicht notwendig. Bieten sich doch wesentlich tragfahigere Begründungen an: a) Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht resultiert aus einem besonderen Rechtsverhältnis
Eine Ausweitung bestehender oder eine Konstituierung neuer Pflichten aufgrund Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe findet nicht nur durch eine Einschränkung von Notstandsbefugnissen (und einer damit korrelierenden Ausweitung von Duldungspflichten) im Bereich der Rechtfertigungsgründe, sondern schon auf der Tatbestandsebene statt. Dort unterliegen - im großen und ganzen - dieselben Berufsgruppen erhöhten oder besonderen Unterlassungspflichten. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Amtsträger (§§ 174 b, 258 a, 331f., 343ff., 355ff. StGB), Ärzte (§ 278 StGB), Richter (§ 336 StGB), Postbedienstete (§ 354 Abs. 2 StGB), Soldaten (§§ 23ff., 30ff., 48 WStG), Seeleute (§§ 114ff. SeemannsG) oder Zivildienstleistende (§§ 52ff. ZDG). Ist aber eine Ausweitung von Pflichten durch Schaffung von Grundtatbeständen oder Qualifikationen auf der Ebene der Deliktstatbestände zulässig (und niemand zweifelt daran!22 ), dann muß dies auch durch eine Einschränkung der Befugnisse in Notstandssituationen möglich sein. Denn es kann keine Rolle spielen, ob zusätzliche Pflichten durch eine Ausweitung von Delikts- oder eine Einschränkung von Rechtfertigungstatbeständen konstituiert werden. Voraussetzung ist allerdings, daß der Handelnde in seiner Funktion als Inhaber des Berufes, nicht als Privatperson handelt. Dieses Erfordernis ist im Rahmen der Deliktstatbestände schon durch die Fassung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen gewährleistet 23 ; im Bereich der Rechtfertigungsgründe ist zu Recht ein paralleles Korrektiv herausgearbeitet worden: Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht "bezieht sich ... immer nur auf den Bereich der mit der jeweiligen Berufstätigkeit in notwendiger Weise verbundenen typischen Gefahren"24. Die Siehe oben 2. Abschnitt 1. Kapitel ZifTer 2. Vgl. statt vieler Langer, Das Sonderverbrechen, S.456fT. sowie Bemsmann, Entschuldigung, S. 125. 23 Im Falle sog. Sonderverbrechen sind stets berufsspezifische Pflichten aufgestellt. Der Tatbestand z. B. des § 331 StGB kann eben ausschließlich von einem Amtsträger erfüllt werden. 24 BGH NJW 1964, S. 731; vgl. auch Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53 sowie Krey, JURA 1979, S. 320. 21
22
1. Kap.: Wer ist erhöht gefahrtragungspflichtig?
43
Einführung eines Korrektivs ist deshalb notwendig, weil zwar berufsspezifische Deliktstatbestände geschaffen wurden (sei es in Form von Sonderdelikten, sei es in Form von Qualifikationen), es in aller Regel aber an berufsspezifischen . Rechtfertigungsgründen fehlt 2s . Die Einschränkung der Notstandsbefugnisse von Inhabern bestimmter Berufe resultiert daher nicht aus mit dem jeweiligen Beruf verbundenen Gefahren für Leib oder Leben 26 , sondern ist notwendige Folge bestehender berufstypischer Deliktstatbestände. b) Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht resultiert aus einer speziellen Obhutspflicht Die Parallelen von Delikts- und Rechtfertigungstatbeständen treten jedoch in gleicher Weise bei den Notstandsfällen zutage, bei denen speziell Obhutspflichtige involviert sind. Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht dieses Personenkreises mit der Konsequenz eingeschränkter Notstandsbefugnisse ist nämlich in gleicher Weise durch eine Ausweitung der Pflichten auf der Ebene der Deliktstatbestände vorgezeichnet. Eine solche Ausweitung hat der Gesetzgeber nicht nur bei den Handlungspflichten vorgenommen, als er "unechte Unterlassungsdelikte", § 13 StGB, geschaffen hat; auch im Bereich der Unterlassungspflichten finden sich im Gesetz Deliktstatbestände, die auf speziell Obhutspflichtige zugeschnitten sind, wie z. B. §§ 170 d, 174, 174 a, 221 Abs. 2, 223 b StGB27. Neben diesem, aus der Kongruenz von Delikts- und Rechtfertigungstatbeständen abgeleiteten Argument für eine erhöhte Gefahrtragungspflicht auch der speziell Obhutspflichtigen hat Hruschka 28 gezeigt, daß eine Ausweitung von Duldungspflichten und damit notwendig verbundene reduzierte Notstandsbefugnisse zwingend aus einem Vergleich der Eingriffsbefugnisse in Notstandssituationen mit den Handlungspflichten speziell Obhutspflichtiger folgt: Unterstellt man die Behauptung einmal als richtig, die Handlungspflicht des speziell Obhutspflichtigen im Rahmen eines "unechten Unterlassungsdeliktes", § 13 StGB, reiche grundsätzlich weiter als die Handlungspflicht eines beliebigen Dritten29 , von dem ein Tätigwerden nur unter den Voraussetzungen des § 323 c StGB gefordert wird 30 , so hat dies Konsequenzen in bezug auf die 25 Es gibt aber auch Ausnahmen; so z. B. § 127 Abs. 2 StPO, der auf Staatsanwälte und Polizeibeamte zugeschnitten ist. Dieser berufsspezifische Rechtfertigungsgrund wird dann auch konsequent gegenüber den "allgemeinen" Rechtfertigungsgründen als lex specialis angesehen; zu Konkurrenzfragen bei § 127 Abs. 1,2 StGB vgl. RGSt 59, S. 291 ff., 296, 298. 26 Dieses Unterscheidungskriterium lehnt auch Bemsmann, in: Festschrift rur Blau, S. 4Of. ab. 27 Dieser Zusammenhang wird neuerdings auch von Bemsmann, Entschuldigung, S. 399 aufgezeigt. 28 Rettungspflichten, JUS 1979, S. 390ff., 392f.; ders., Strafrecht, S. 145ff. 29 Eines "allgemein Obhutspflichtigen" in der Terminologie Hruschkas; vgl. Strafrecht, S. 98f. u.Ö.
44
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
entsprechenden Duldungspflichten. Eine Ausweitung der Handlungspflicht eines speziell Obhutspflichtigen korreliert notwendig mit erweiterten Duldungspflichten in Notstandssituationen und damit aber auch mit entsprechend eingeschränkten Notstandsbefugnissen. c) Das Verhältnis der heiden Gruppen erhöht Gefahrtragungspflichtiger zueinander
Steht damit aber fest, daß sowohl der in einem besonderen Rechtsverhältnis stehende Personenkreis, als auch die davon zu unterscheidende Gruppe der speziell Obhutspflichtigen erhöht gefahrtragungspflichtig sind und ihnen nur eingeschränkte Notstandsbefugnisse zustehen, so ist die Frage nach dem logischen Verhältnis der beiden Personenkreise zueinander aufgeworfen. Würde der Begriff des besonderen Rechtsverhältnisses im Anschluß an den historischen Gesetzgeber 31 verstanden als eine "Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit"32, so wäre, da sich eine spezielle Obhutspflicht stets dadurch auszeichnet, daß ein bestimmtes Rechtsgut gegen alle ihm drohenden Angriffe und Gefahren zu schützen ist 33 , zwischen den beiden Gruppen ein Verhältnis der Implikation anzunehmen. Das bedeutet, jede in einem besonderen Rechtsverhältnis stehende und damit der Allgemeinheit gegenüber sonderpflichtige Person ist stets auch speziell obhutspflichtig, da die Allgemeinheit nichts anderes als die Summe der Individuen ist. Umgekehrt aber kann von einer bestehenden speziellen Obhutspflicht gerade nicht auf das Vorliegen eines besonderen Rechtsverhältnisses geschlossen werden, da die Möglichkeit besteht, daß der Täter nur einem Individuum gegenüber sonderpflichtig ist. Für diese Deutung spricht insbesondere die fakultative Strafmilderung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB; die Versagung der Strafmilderung für die Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, findet ihre innere Rechtfertigung dann in der besonderen Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber, die weiter geht als eine Sonderpflicht "nur" einzelnen Rechtsgutsträgern gegenüber. Überdies sind die besonderen Rechtsverhältnisse meist noch in der Form eines öffentlichrechtlichen Dienstverhältnisses institutionalisiert. Beispiele hierfür sind: Soldaten, Polizisten, Seeleute, Zivildienstleistende, unter Umständen aber auch Luftfahrer 34 • Die oben dargelegte Definition des besonderen Rechtsverhältnisses ist aber keineswegs einhellige Meinung 35 . Insbesondere Hirsch ist der Ansicht, entschei30 So z. B. Jakobs, Strafrecht, S. 694: "gewichtigere Pflichten"; siehe auch BGH FamRZ 1964, S. 416ff., 418. 31 So schon in Prot. V, S.1845ff., 1853ff., 2111ff., 2138. 32 BT-Drucksache V /4095, S.16; der gleichen Meinung sind Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr. 22f. sowie Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 12. 33 Vgl. Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S.283. 34 So Weimar, Zeitschrift für Luftrecht 1956, S. 107ff., 110ff.
1. Kap.: Wer ist erhöht gefahrtragungspflichtig?
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dend für ein besonderes Rechtsverhältnis sei nicht eine bestehende Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit, sondern eine "berufliche oder berufsähnliche Schutzfunktion, die ... typischerweise mit erhöhten Gefahren verbunden ist. "36 Er hält die oben ausgearbeitete Differenzierung für willkürlich, da "die Erwartungen, die an das Durchstehen einer berufstypischen Gefahr gestellt werden, ganz unabhängig von Art und Umfang des geschützten Personenkreises"37 seien. Konsequenterweise seien deshalb auch Bergführer und Steiger im Bergbau als Inhaber besonderer Rechtsverhältnisse anzusehen. Die Ansicht von Hirsch ist zwei Einwänden ausgesetzt: Folgt man der These von Hirsch, besteht zwischen der Gruppe der in einem besonderen Rechtsverhältnis Stehenden und den speziell Obhutspflichtigen kein Implikationsverhältnis, sondern eines der Disjunktion 38 , d.h. es sind Personen denkbar, die nur in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, solche, die nur speziell obhutspflichtig sind und auch solche, die sowohl in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen als auch speziell obhutspflichtig sind. Dies allein ist zwar kein durchschlagender Einwand gegen den Vorschlag von Hirsch. Jedoch kommt es dann hinsichtlich der Strafmilderungsmöglichkeit des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zu Wertungswidersprüchen. Dazu folgendes Beispiel: Ein Bergführer steht, so die Meinung Hirschs 39 , in einem besonderen Rechtsverhältnis. Gleichzeitig ist er aber auch aufgrund der bestehenden Gefahrgemeinschaft speziell obhutspflichtig. Dann aber ist im Falle einer rechtswidrigen Notstandshandlung die Frage einer fakultativen Strafmilderung aufgeworfen. Diese wird man dann konsequenterweise mit Blick auf das jedenfalls auch bestehende besondere Rechtsverhältnis verneinen müssen. Definiert man hingegen, wie oben geschehen, das besondere Rechtsverhältnis als Schutz- oder Sonderpflicht der Allgemeinheit gegenüber, steht der Bergführer in keinem besonderen Rechtsverhältnis, da diejenigen Personen, denen gegenüber er obhutspflichtig ist, nach ihrer Zahl feststehen und mit Namen benannt werden können, also gerade keine Obhutspflicht der Allgemeinheit gegenüber besteht und deshalb die Strafmilderungsmöglichkeit Platz greift. Hirsch jedoch lehnt - insoweit konsequent - eine Strafmilderungsmöglichkeit ab, glaubt aber, die auch aus seiner Sicht beispielsweise zu Soldaten als Prototypen eines besonderen Rechtsverhältnisses bestehenden Unterschiede könnten bei der Strafzumessung im engeren Sinne, also innerhalb des Regelstrafrahmens, berücksichtigt werden 40 • Sieht das Gesetz jedoch, wie z. B. bei Mord, § 211 StGB, eine absolute Strafdrohung vor, ist der von Hirsch gewiesene Ausweg versperrt. Der Bergführer wäre dann im Falle einer Tötung unter 3S Schon im Sonderausschuß gab es Gegenstimmen, vgl. Sturm, Prot. V, S. 1854 sowie Dreher, Prot. V, S. 2128; vgl. in neuerer Zeit die Kritik von Bernsmann, in: Festschrift für Blau, S. 40; ausführlich dazu auch Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53. 36 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53. 37 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53. 38 Zum Begriff der Disjunktion vgl. Menne, Einführung in die Logik, S. 35f. 39 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53. 40 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 68.
46
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Verwirklichung eines Mordmerkmals trotz einer bestehenden Notstandssituation gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen; ein Ergebnis, das mit Blick auf die im Verhältnis zu Soldaten ohne Zweifel "abgeschwächte" erhöhte Gefahrtragungspflicht widersprüchlich erscheint. Zum anderen muß sich Hirsch den Einwand gefallen lassen, daß seine Unterscheidung nach einer "beruflich oder berufsähnlichen Schutzfunktion"41 kein taugliches Abgrenzungskriterium ist. Wann ist z. B. im Bergführer-Fall die Schwelle einer "beruflich oder berufsähnlichen" Tätigkeit des Bergführers erreicht? Hängt dies VOn der Entgeltlichkeit seiner Leistung ab? Oder gibt es zeitliche Grenzen seiner Tätigkeit, deren Überschreitung zur Annahme eines besonderen Rechtsverhältnisses führt? Fragen, die nicht nur hinsichtlich der erforderlichen Differenzierung von theoretischem Interesse sind, sondern mit Blick auf die Strafmilderungsmöglichkeit des § 35 Abs.l Satz 2 StGB aus Strafzumessungsgründen durchaus auch praktisch relevant werden. Die von Hirsch vorgeschlagenen Kriterien werden daher ihrem Anspruch einer Konkretisierung der in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen nicht gerecht. Sie führen darüber hinaus zu einer Ausweitung dieses Personenkreises, die einer aufgrund der fehlenden Strafmilderungsmöglichkeit erforderlichen restriktiven Auslegung 42 widerspricht. Die besseren Argumente sprechen deshalb für die zuerst dargelegte Differenzierung in eine besondere Schutzpflicht einerseits der Allgemeinheit, andererseits einem (oder mehreren individuell bestimmbaren) Rechtsgutsträgern gegenüber. Nur dieser Ansatz genügt der geforderten restriktiven Auslegung des Begriffs "besonderes Rechtsverhältnis" und kann auch die insoweit ausgeschlossene Strafmilderungsmöglichkeit plausibel erklären. Der hier vorgeschlagene Ansatz steht im übrigen zwar in der Begründung, nicht aber im Ergebnis im Widerspruch zur berühmten "Wettermann"Entscheidung des Reichsgerichts 43 • Nun hat jedoch der Wettermann im Bergbau keine besondere Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber, denn seine besondere Schutzpflicht besteht nur gegenüber den "Kumpeln", die mit ihm "die gleiche Schicht fahren". Diese aber sind sowohl aufgrund ihrer Zahl als auch aufgrund ihrer Namen individualisiert. Der Wettermann steht daher nach der hier vertretenen Ansicht und entgegen der Meinung des Reichsgerichts in keinem besonderen Rechtsverhältnis 44 • Das hat jedoch nicht zur Folge, daß der Wettermann nicht zur Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen gehören würde. Denn ohne Zweifel resultiert aus der oben beschriebenen besonderen Schutzpflicht für seine "Kumpel" eine spezielle Obhutspflicht. Diese spezielle Obhutspflicht ist im Arbeitsvertrag sowie im Berufsbild des Wettermanns Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 53. So explizit Stratenwerth, Strafrecht, S. 182. 43 RGSt 72, S. 246ff. 44 Vgl. RGSt 72, S. 249f.; dem zustimmend Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr. 23; Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 12 sowie Jakobs, Strafrecht, S. 474. 41
42
1. Kap.: Wer ist erhöht gefahrtragungspflichtig?
47
begründet. In der Entscheidung des Reichsgerichts heißt es dazu, die Aufgaben des Wettermanns bestünden darin, "die gefährlichen Strecken im Grubenfelde ständig zu befahren, sie auf Schlagwetterstand zu untersuchen, und bei Feststellung gefahrdrohender Wetter die Belegschaft, deren Sicherung der Zweck seiner Tätigkeit war, schnellstens zu warnen."45 Deutlicher und klarer kann eine spezielle Obhutspflicht kraft vertraglicher Übernahme kaum beschrieben werden. 4. Zusammenfassung der Überlegungen des 1. Kapitels Ein besonderes Rechtsverhältnis ist nur dann anzunehmen, wenn eine besondere Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit, d. h. einem nach Zahl und Namen nicht bestimmten und konkretisierten Personenkreis besteht. Das ist jedenfalls bei Soldaten, Zivildienstleistenden, Feuerwehrleuten, Seeleuten46 , Polizei beamten und Mitgliedern des Bundesgrenzschutzes, unter Umständen auch Richtern und Staatsanwälten47 der Fall. Der Ausschluß von der Strafmilderungsmöglichkeit des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB ist gerade in der weitreichenden, nämlich der Allgemeinheit gegenüber obliegenden Schutz- oder Sonderpflicht begründet. Davon scharf zu unterscheiden sind die aufgrund einer bestehenden speziellen Obhutspflicht erhöht Gefahrtragungspflichtigen. Sie zeichnen sich durch eine nur bestimmten und individualisierten Rechtsgutsträgern gegenüber bestehende Schutz- oder Sonderpflicht aus 48 und sind infolgedessen von der fakultativen Strafmilderung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfaßt. Beispiele hierfür sind Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern oder Mitglieder von Gefahrengemeinschaften49 • Da nach der hier vorgeschlagenen Definition jede Person, die ein besonderes Rechtsverhältnis innehat, notwendig auch speziell obhutspflichtig ist, dies aber umgekehrt nicht stets der Fall ist, impliziert also ein bestehendes besonderes Rechtsverhältnis stets eine spezielle Obhutspflicht. Nach der Konkretisierung des Begriffs der "erhöhten Gefahrtragungspflicht" kann nun geklärt werden, welche Unterschiede zu den im 1. Abschnitt RGSt 72, S. 250. Wobei die "Allgemeinheit" hier in der Gesamtheit aller Passagiere des Schiffes zu sehen ist; entscheidend ist wiederum, daß der Seemann in der Regel weder die Zahl der Passagiere noch deren Namen kennt. 47 So Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 23; die entgegengesetzte Auffassung wird häufig in der älteren Literatur vertreten, vgl. z. B. Baumgarten, Notstand und Notwehr, S. 51; zusammenfassend zur erhöhten Gefahrtragungspflicht von Richtern: Watzka, Die Zumutbarkeit normgemässen Verhaltens im strafrechtlichen Notstand, S. 134ff.; Kuhnt, "Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands (§§ 52, 54 StGB)", S. 129ff., 131. 48 Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 31 nennt sie "Sonderpflichten", die "lediglich mit Rücksicht auf fremde Individualinteressen auferlegt sind." 49 Zu den sonst einschlägigen Beispielen vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 32. 4S
46
48
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
herausgearbeiteten Notstandsbefugnissen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen bestehen. Bemsmann meint, das sei schwierig 50 ; Küper konstatiert, "daß man nirgends etwas über die Maßstäbe erfährt, die dabei angelegt werden sollen"sl und folgert aus dieser Erkenntnis: "Offenbar befinden wir uns hier auf einem weithin unerforschten Terrain, das mit aller Vorsicht sondiert werden muß, will man voreilige Schlußfolgerungen vermeiden."s2 Beschreiten wir also mit der von Küper angemahnten Vorsicht die dogmatische "terra incognita".
50 51 52
Bemsmann, in: Festschrift für Blau, S. 38: "Die Antwort fällt schwerer als erwartet". Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 105. Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 105.
2. Kapitel
Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem 11 Ausgangspunkt der Überlegungen ist das Fallsystem JS3. Zur Erinnerung: Dort wurde herausgearbeitet, daß die Reichweite der Eingriffsbefugnisse in einer Notstandssituation von zwei Parametern abhängig ist: Zum einen von dem Ergebnis der Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter und zum anderen von der Art der Notstandssituation. Die Kombination der fünf in Betracht kommenden Abwägungsstufen kollidierender Rechtsgüter sowie der zwei möglichen Arten von Notstandssituationen hat zu zehn voneinander relevant verschiedenen Fallvarianten geführt. Die im vorigen Abschnitt entwickelte Unterscheidung einerseits von allgemein und andererseits von erhöht Gefahrtragungspflichtigen bedingt nun aber eine Erweiterung des Fallsystems I. FaIlsystem U Menge aller Notstandshandlungen
allgemein gefahrtragungspflichtig
I
Aggr.Def.notstandssituation
erhöht gefahrtragungspflichtig spezielle Obhutspflicht
I
Aggr.Def.notstandssituation
besonderes Rechtsverhältnis
I
Aggr.Def.notstandssituation
V
I
II
gI :> bI
rm
rm
A
gl
> bI
rw
rm
B
gl
= bI
rw
rm
C
gl
< bI
rw
rm
D
gI
~
bI
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rw
E
III
IV
VI
Ist eine Notstandsbefugnis auch von der Zugehörigkeit des Handelnden zur Gruppe der allgemein oder erhöht Gefahrtragungspflichtigen abhängig und muß hinsichtlich der letzteren noch zwischen den Inhabern eines besonderen S3
Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2.
4 Lugert
50
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Rechtsverhältnisses und den speziell Obhutspflichtigen differenziert werden, so ist damit ein zusätzlicher Parameter vorausgesetzt, der als Parameter der "Art der Gefahrtragungspflicht" bezeichnet werden kann. Dabei sind in bezug auf eine beliebige, in einer Notstandssituation handelnden Person P folgende Konstellationen denkbar: Entweder ist Pallgemein gefahrtragungspflichtig. Dann stehen ihm in einer Notstandssituation Eingriffsbefugnisse in dem im Fallsystem I beschriebenen Umfang zu. Ist P hingegen erhöht gefahrtragungspflichtig, so kann dies auf einer speziellen Obhutspflicht oder auf einem bestehenden besonderen Rechtsverhältnis beruhen. Der Parameter "Art der Gefahrtragungspflicht" hat daher drei Elemente. Die Kombination von nun drei voneinander verschiedenen Parametern führt zu einer Verdreifachung der relevant verschiedenen Fallvarianten, also zur Unterscheidung von dreißig Fallvarianten.
3. Kapitel
Untersuchung der FaUvarianten Iß bis VI hinsichtlich ihres deontischen Status 54 1. Einftihrung
In der Literatur wird die Frage nach der Reichweite der Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen in der Regel überhaupt nicht oder nur kursorisch behandelt. 55 Das verwundert nicht, soweit die Publikationen aus der Zeit des 19. Jahrhunderts oder aus der Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts stammen. Viele Autoren dieser Zeit hielten die mit dem Notstand verbundenen Fragen nicht für ein Problem der Rechtswidrigkeit, sondern meinten, Notstandshandlungen seien - wenn überhaupt - entschuldigt oder bloß straflos 56. Für die Vertreter dieser Meinungen stellte sich die Frage eingeschränkter Notstandsbefugnisse nicht, da aus deren Sicht Notstandsbefugnisse schon dem Grunde nach nicht bestanden haben. Aber auch in der neueren Literatur findet sich zumeist nur die wenig zufriedenstellende Behauptung, der Aspekt einer erhöhten Gefahrtragungspflicht sei ein im Rahmen der Interessenabwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB relevanter Gesichtspunkt 57 oder im Falle der Annahme eines besonderen Rechtsverhältnisses sei eine Notstandsbefugnis völlig ausgeschlossen 58. Genauere Grenzziehungen und Differenzierungen erfolgen in aller Regel nicht.
54 Zum Begriff der deontischen Logik siehe oben 1. Abschnitt Fn. 36. ss Man erinnere sich nur an die Ausführungen von Bemsmann und Küper, siehe oben Text zu Fn. 50ff.; vgl. dazu auch Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 34 m.w.N. S6 SO Bauer, Lehrbuch der Strafrechtswissenschaft, § 45 c: "Ein s. g. Nothrecht, d. h. ein Recht in der Noth unrecht zu thun, gibt es nicht ... "; Janka, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 187 ff.; den entscheidenden Einfluß auf die damals herrschende Meinung hatte wohl Kant; vgl. insbesondere Kants Metaphysik der Sitten, S. 40f., 41: " ... und gleichwohl kann es keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte." 57 So die heute herrschende Meinung, vgl. statt vieler Lenckner, in: Schönke j Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 25, 34; Hirsch, in: LK § 34 Rdnr. 67; Jakobs, Strafrecht, S. 350. S8 SO Rudolphi, in: SK § 34 Rdnr. 17 und Küper, JZ 1980, S. 755.
4*
52
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
2. Die Reichweite der Notstandsbefugnisse von spezieU Obhutspflichtigen (FaUvarianten 111 und IV)
a) Zur Lösung der Fallvarianten B II/ bis EI/I sowie E IV Jedenfalls in fünf dieser neu hinzugekommenen Fallvarianten hat der Handelnde keine Notstandsbefugnis, wie folgendes argumentum a maiore ad minus zeigt: Da bei den Notstandsbefugnissen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen eine mögliche Einschränkung, jedenfalls aber nicht eine Ausweitung der Notstandsbefugnisse, verglichen mit denen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen in Rede steht, sind erhöht Gefahrtragungspflichtige in einer Notstandssituation jedenfalls dann nicht berechtigt, einzugreifen, d. h. die Notstandshandlung ist immer dann rechtswidrig, wenn dies bei sonst unveränderten Bedingungen auch bei den Notstandshandlungen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen der Fall ist. Das führt im einzelnen zu folgenden Konsequenzen: Aus der fehlenden Eingriffsbefugnis in der Fallvariante B I folgt das Fehlen einer Eingriffsbefugnis in der Fallvariante B III. Aus der fehlenden Eingriffsbefugnis in der Fallvariante C I folgt das Fehlen einer Eingriffsbefugnis in der Fallvariante C 111. Aus der fehlenden Eingriffsbefugnis in der Fallvariante D I folgt das Fehlen einer Eingriffsbefugnis in der Fallvariante DIll. Aus der fehlenden Eingriffsbefugnis in der Fallvariante E I folgt das Fehlen einer Eingriffsbefugnis in der Fallvariante E 111. Und zuletzt: Aus der fehlenden Eingriffsbefugnis in der Fallvariante Ellfolgt das Fehlen einer Eingriffsbefugnis in der Fallvariante E IV. Das Problem eingeschränkter Notstandsbefugnisse aufgrund einer bestehenden speziellen Obhutspflicht stellt sich daher nur in denjenigen Fallvarianten, die jedenfalls dann als rechtmäßig zu beurteilen sind, wenn ein allgemein Gefahrtragungspflichtiger Handelnder ist, also in den Fallvarianten A 111 und A IV, B IV, C IV sowie D IV.
b) Zur Lösung der Fallvarianten A IV bis D IV (speziell Obhutspflichtige in DeJensivnotstandssituationen) aal Die Fälle des § 218 a Abs. 1 StGB Die praktisch nicht stattfindende Differenzierung hinsichtlich Notstandsbefugnissen in Aggressiv- und Defensivnotstandssituationen, soweit es um speziell Obhutspflichtige geht, verwundert doch etwas; insbesondere deshalb, weil es sogar einen vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelten Fall einer Notstandssituation gibt, in der dem Handelnden eine spezielle Obhutspflicht gegenüber dem gefährdeten Rechtsgut auferlegt ist. Es ist dies die der Vorschrift des § 218 a Abs. 1 StGB zugrundeliegende Kollisionssituation. Dabei soll im folgenden mit der herrschenden Meinung davon ausgegangen werden, daß § 218 a Abs. 1 StGB
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
53
trotz seines insoweit nicht eindeutigen Wortlauts ("ist nicht strafbar") ein Rechtfertigungsgrund 59 und nicht lediglich Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgrund 60 ist. § 218 a Abs. 1 StGB umschreibt eine Notstandssituation im Sinne der oben eingeführten Definition 61 : Eine Befugnis zum Abbruch der Schwangerschaft besteht nur dann, wenn das Rechtsgut Leben des nasciturus als einem von der Schwangeren eigenständigen Rechtsgut 62 mit deren Rechtsgütern kollidiert, d. h. wenn notwendig entweder Rechtsgüter der Schwangeren oder des nasciturus vernichtet werden. Auch liegt jedenfalls in den hier interessierenden Fällen einer medizinischen Indikation stets eine Defensivnotstandssituation vor, da die Gefahr, die der Schwangeren droht, gerade durch die Schwangerschaft bedingt ist. Die Gefahr geht von dem nasciturus aus, von dem Rechtsgut also, in das die Schwangere (oder der Arzt) im Fall eines Schwangerschaftsabbruches eingreift 63 • Darüber hinaus hat ohne Zweifel die werdende Mutter dem Embryo gegenüber eine spezielle Obhutspflicht inne M , denn eine die GarantensteIlung begründende natürliche Verbundenheit, die über das Verhältnis der Schwangeren zum Embryo hinausgeht, läßt sich kaum denken. Wir haben es daher mit der Notstandshandlung einer speziell Obhutspflichtigen in emer 59 Vgl. Hirsch, in: Festschrift für Bockelmann, S.89ff., 97 ff.; Roxin, JA 1981, S. 226ff., 229 Fn. 9; Eser, in: SchönkejSchröder, StGB, § 218 a Rdnr. 5; Rudolphi, in: SK § 218 a Rdnr. 1; vgl. auch Gropp, GA 1988, S. 1 ff.; ders., Der straflose Schwangerschaftsabbruch, S. 171 ff.; auch der BGH folgt offensichtlich der "Rechtfertigungsthese"; vgl. NJW 1983, S. 1371 ff., 1372: Ein Eingriff unter den Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 StGB ist ,jedenfalls nicht rechtswidrig." 60 So aber z. B. Sax, JZ 1977, S. 326 ff.; Tröndle, JURA 1987, S. 66 ff.; ders., Der Schutz des ungeborenen Lebens in unserer Zeit, ZRP 1989, S.54ff., 58f.; Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB haltbar?, S. 150f.; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 314ff. hingegen versteht § 218 a StGB als Strafunrechtsausschließungsgrund. 61 Siehe oben 1. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 3. 62 Vgl. BVerfGE 39, S. 1 ff., 42: "Da indessen der nasciturus ein selbständiges menschliches Wesen ist" und BGHSt 11, S. 15ff., 17: "selbständiges Rechtsgut". 63 Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB haltbar?, S. 117f. bestreitet das Vorliegen einer Defensivnotstandssituation: Die Gefahrenlage könne dem nasciturus nicht zugerechnet werden, weil "das ungeborene Kind zu seiner Entstehung und Entwicklung, die letztlich seinem Verantwortungsbereich zugeordnet werden soll, nicht das mindeste beigetragen hat." Belling verkennt, daß es bei der Bestimmung einer Situation als Aggressiv- bzw. Defensivnotstandssituation keine Rolle spielt, ob der Rechtsgutsträger für die Gefahr in irgend einer Weise "verantwortlich" ist. Eine Defensivnotstandssituation liegt stets dann vor, wenn Ursprung der Gefahr das dann durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut ist. Dazu ein Beispiel: Auch wenn ein Dritter den ordnungsgemäß angeketteten Hund des X freiläßt und dieser nun den T attackiert, woraufT - mangels anderer Möglichkeiten, sich seiner Haut zu wehren - den Hund durch Fußtritte schwer verletzt, handelt T in einer Defensivnotstandssituation des § 228 BGB und das, obwohl der X den Hund ordnungsgemäß angekettet hat und dieser bisher noch nie Menschen angefallen hat, X daher für das Entstehen der Notstandsgefahr nicht "verantwortlich" ist. 64 So auch Stree, in: SchönkejSchröder, StGB, § 13 Rdnr.18; OttojBrammsen, JURA 1985, S. 530ff., 538f.; sowie OLG Oldenburg NdsRPfl1951, S. 74ff., 75.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Defensivnotstandssituation zu tun. Zur Diskussion stehen somit Fälle der Fallvarianten A IV bis E IV. Das Bestehen einer Eingriffsbefugnis ist daher wiederum auch abhängig vom Ergebnis des Parameters "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" . Ein Abbruch der Schwangerschaft ist, so das Gesetz, nur dann zulässig, wenn "eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren" besteht. Da § 218 a Abs. 2 StGB die Regelung des § 218 a Abs.1 StGB nicht präzisiert, der Absatz 2 vielmehr lediglich Notstandssituationen gemäß Absatz 1 fingiert, kann § 218 a Abs. 2 StGB im folgenden außer Betracht beiben. Wie weit gehen nun die Eingriffsbefugnisse der Schwangeren in einer Notstandssituation des § 218 a Abs.1 StGB65? Auszugehen ist vom eindeutigen Fall- der Kollision des Lebens der Mutter mit dem des Embryos. In dieser Konstellation, also in Fällen der Fallvariante C IV, ist die Schwangere schon nach dem Wortlaut des § 218 a Abs.1 Nr.2 StGB berechtigt, die Schwangerschaft abzubrechen. Ist die Schwangere aber schon bei Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter zum Notstandseingriff berechtigt, so muß dies erst recht gelten, wenn ihr Rechtsgut (schlicht oder wesentlich) mehr wert ist als Rechtsgüter des nasciturus. Ist die Abtreibung also in Fällen der Fallvariante C IV rechtmäßig, so muß dies erst recht in den Fällen der Fallvarianten A IV und B IV gelten. Andererseits aber ist die Schwangere in Fällen der Kategorie E IV nicht zum Schwangerschaftsabbruch berechtigt, wie insbesondere auch der Halbsatz "schwerwiegende Beeinträchtigung ... des Gesundheitszustandes" in § 218 a Abs. 1 Nr. 2 StGB zeigt. Denn in Fällen einer drohenden schwerwiegenden Beeinträchtigung der Gesundheit ist es notwendig ausgeschlossen, daß das Rechtsgut der Mutter wesentlich weniger wert wäre als das des ungeborenen Kindes. Diese Lösung ist aber auch von der Systematik der Eingriffsbefugnisse in Defensivnotstandssituationen vorausgesetzt. Ist schon ein allgemein Gefahrtragungspflichtiger in einer Defensivnotstandssituation dann nicht berechtigt einzugreifen, wenn seine konkret betroffenen Rechtsgüter wesentlich weniger wert sind als die des Inhabers des beeinträchtigten Rechtsguts 66 , so muß dies erst recht in bezug auf die Gruppe der speziell Obhutspflichtigen gelten. Damit ist nur noch die Frage nach einer möglichen Notstandsbefugnis in den Fällen der Fallvariante D IV offen, also den Fällen, die sich dadurch auszeichnen, daß das Rechtsgut des Embryos das der Schwangeren schlicht überwiegt. Auf den ersten Blick scheinen auch in allen diesen Fällen die Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 StGB erfüllt zu sein, da bereits eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung der Schwangeren die Tötung des Embryos, d. h. den Abbruch der Schwangerschaft rechtfertigt. Betrachtet man daher ausschließlich die betroffenen Rechtsgüter, also eine schwere Gesundheitsbeeinträchtigung der Schwange6S § 218 a Abs. 1 StGB verdrängt als lex specialis die aus dem Rechtsgedanken des § 228 BGB entwickelte allgemeine Defensivnotstandsbefugnis; vgl. dazu auch Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 218 a Rdnr. 4. 66 Vgl. Fallsystem I 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
55
ren einerseits und das Leben des Embryos andererseits, liegt es nahe, unter diesen Voraussetzungen vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche für gerechtfertigt zu halten. Dieser Blickwinkel aber ist zu eng. Er läßt nämlich außer acht, daß sich hier nicht gleichwertige Rechtsgüter von zwei Personen gegenüberstehen, sondern das einer Person und das eines nasciturus. Nun sieht das Gesetz aber das Leben einer Person und das eines Embryos nicht als in gleichem Maße schützenswert an, wie schon zum einen die Strafdrohung des § 212 StGB und zum anderen die des § 218 Abs. 1 StGB zeigt. Darüber hinaus ist neben der vorsätzlichen Tötung gemäß §§ 211 ff. StGB auch die fahrlässige Tötung eines Menschen, § 222 StGB, unter Strafe gestellt, wohingegen die fahrlässige Tötung der Leibesfrucht straflos ist. Dieser unterschiedlich ausgestaltete Lebensschutz ist in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fristenregelung ausdrücklich unbeanstandet geblieben 67 • Bezieht man deshalb den Aspekt "ungleicher Wertigkeit"68 der betroffenen Rechtsgutsträger in die Abwägung ein, so muß sich der Blickwinkel ändern: Die Kollision einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung der Schwangeren mit dem Leben des Embryos stellt sich insoweit dar als Kollision eines relativen Rechtsgutes (körperliche Integrität) eines absolut geschützten Rechtsgutsträgers (Mensch) mit einem absoluten Rechtsgut (Leben) eines relativ geschützten Rechtsgutsträgers (nasciturus). Da aber die Abwägung nicht abstrakt zwischen den kollidierenden Rechtsgütern stattzufinden hat, sondern auch die im konkreten Fall dahinterstehenden Rechtsgutsträger einbezogen werden müssen 69, beschreibt § 218 a StGB, betrachtet man die Rechtsgüter und deren Träger, den Fall gleichwertiger Interessen. Danach wäre eine Schwangere zwar in Fällen der Kategorie C IV zum Abbruch der Schwangerschaft berechtigt; weil § 218 a Abs. 1 StGB aber eine schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigung voraussetzt, wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen der Fallvariante D IV rechtswidrig. Innerer Grund dieser im Verhältnis zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen eingeschränkten Notstandsbefugnisse 70 ist die dem Embryo gegenüber bestehende spezielle Obhutspflicht. 67 BVerfGE 39, S. 1 ff., 45: "Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutze des ungeborenen Lebens zu ergreifen, wie er sie zur Sicherung des geborenen Lebens rur zweckdienlich und geboten hält." 68 So schon Wessely, Die Befugnisse des Nothstandes und der Nothwehr, S. 29: Das Leben der Mutter sei "eine höhere Stufe des Seins, ... ein selbständiges Sein, das sich gegen das ihm untergeordnete, niedrigere, in jenem den Grund ihrer Existenz habende, daher unselbständig bedingte Stufe des Seins sich behaupten darf." 69 Dies setzen z. B. auch Rudolphi, in: SK § 218a Rdnr. 18 und Dreher jTröndle, StGB, § 21Ra Rdnr. 11 implizit voraus, wenn sie fordern, daß, je später die Schwangerschaft abgebrochen wird, - um so schwerwiegender die gesundheitlichen Gefahren rur die Schwangere im Fall der Fortsetzung der Schwangerschaft sein müssen. Diese These ist aber nur dann stimmig, wenn der Aspekt zunehmender Wertigkeit des Rechtsgutsträgers Embryo von der Nidation bis zur Geburt in die Abwägung einbezogen wird; deshalb ist es auch völlig korrekt, von "werdendem Leben" zu sprechen. 70 Vgl. die Fallvariante D 11.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Ist das für die Fallgruppe des § 218 a Abs. 1 StGB soeben entwickelte System von EingrifTsbefugnissen auf andere Notstandshandlungen in einer Defensivnotstandssituation übertragbar? Ist die § 218 a Abs. 1 StGB zugrundeliegende Regelung m. a. W. Ausprägung eines allgemeinen Rechtsgedankens? Gründe, die gegen eine solche Annahme sprechen, sind nicht ersichtlich. Es gibt andererseits sogar eine weitere Fallgruppe von Handlungen speziell Obhutspflichtiger in einer Defensivnotstandssituation, hinsichtlich derer der Umfang der Notstandsbefugnisse mit dem in den Fällen der Vornahme eines Schwangerschaftsabbruches übereinstimmt. Es sind dies die sogenannten Perforationsfälle. Untersucht man diese Fallgruppe eingehender, sind hinsichtlich der Notstandsbefugnisse Parallelen zu den soeben ausgearbeiteten Fällen eines Schwangerschaftsabbruches unübersehbar. bb) Die Perforationsfälle Perforation ist die Tötung des Kindes während des Geburtsvorganges, um von der Mutter die Gefahr des Todes oder einer erheblichen Körperverletzung abzuwenden. Eine solche Kollisionslage ist meist Folge einer während der Schwangerschaft unentdeckt gebliebenen Wasserköpfigkeit des Kindes. Fälle dieser Art zeichnen sich dadurch aus, daß sich die Mutter (oder ein beliebiger Dritter) aus den oben genannten Gründen 71 in einer Defensivnotstandssituation befinden. Der Rechtfertigungsgrund des § 218 a Abs. 1 StGB als spezielle Vorschrift zur allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis ist schon aufgrund seiner begriffiichen Voraussetzungen nicht einschlägig. Liegen die Voraussetzungen des § 218 a Abs.1 StGB vor, ist ein Abbruch der Schwangerschaft gerechtfertigt. Die Tötung während des Geburtsvorganges ist jedoch - wie insbesondere der Wortlaut des § 217 StGB72 als privilegierender Tatbestand zu § 212 StGB zeigtein Tötungsdelikt gemäß den §§ 211 fT. StGB und nicht der Abbruch einer Schwangerschaft gemäß den §§ 218fT. StGB. Denn die Existenz des § 217 StGB impliziert die Annahme eines "Menschen" (im Gegensatz zu einem Embryo) schon mit Beginn der EröfTnungswehen 73. Eine Notstandsbefugnis der Mutter (oder eines Helfers) in den Perforationsfällen ist in der Literatur umstritten: Zum Teil wird - ohne zwischen Aggressivund Defensivnotstandssituationen zu unterscheiden - angenommen, eine Notstandshandlung sei prinzipiell rechtswidrig, wenn "Leben gegen Leben" steht. Da die Tötung des Neugeborenen durch einen Arzt meist auch nicht Siehe oben 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 2 b aa. § 217 StG B: "in der Geburt". 73 So schon RGSt 9, S. 131 ff.; RGSt 26, S. 178 ff. Anders die entsprechende zivilrechtliche Regelung: Dort ist relevanter Zeitpunkt die Vollendung der Geburt, § 1 BGB. Für eine Parallelisierung der §§ 211 ff., 218ff. StGB mit § 1 BGB de lege ferenda Heimberger, Berufsrechte und verwandte Fälle, S. 72 Fn. 1; ders., in: Festschrift für von Frank, Bd. I, S. 389ff., insbes. S. 390ff. 71
72
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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gemäß § 35 Abs. 1 StGB entschuldigt ist, weil die Mutter in der Regel keine Angehörige des Arztes oder eine ihm sonst nahestehende Person ist, postulieren einige Autoren in diesen Fällen einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund 74. Das leuchtet aus zwei Gründen nicht ein: Zum einen sind entgegen der oben dargelegten Prämisse durchaus Notstandssituationen denkbar, in denen der im Notstand Handelnde im Fall einer Kollision seines Lebens mit dem eines anderen befugt ist, einzugreifen. Fälle dieser Art sind dadurch gekennzeichnet, daß - im Anschluß an Hruschka 75 - eine Rechtfertigung kraft allgemeiner Defensivnotstandsbefugnis in Betracht kommt. Dieser Meinung ist - im Gegensatz zu Rudolphi 76 - offensichtlich auch Samson 77 , der Mitkommentator Rudolphis im Systematischen Kommentar, wenn er Tötungen in Defensivnotstandssituationen unter bestimmten Bedingungen gemäß § 34 StGB für gerechtfertigt hält. Die gefährdete Mutter aber befindet sich deshalb in einer Defensivnotstandssituation, weil die Gefahr für das Leben der Mutter vom Kind ausgeht. In Betracht kommt daher grundsätzlich eine Rechtfertigung kraft allgemeiner Defensivnotstandsbefugnis. Jedoch ist es durchaus nicht ausgeschlossen, der Mutter trotz bestehender Defensivnotstandssituation im Hinblick auf ihre, dem Kind gegenüber obliegende spezielle Obhutspflicht eine Notstandsbefugnis jedenfalls bei einer Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter zu versagen. Genau zu diesem Ergebnis (wenn auch mit einer ganz anderen Begründung) kommen Tröndle und Rudolphi 78, wenn sie eine Perforation stets für rechtswidrig halten. Unterstellt man dies aber einmal als richtig, wäre notwendige Folge, daß die Notstandsbefugnisse einer Mutter in einem Perforationsfall und die einer Schwangeren im Falle des Abbruchs der Schwangerschaft nicht kongruent sind. Dann nämlich bestünde im Fall einer Perforation in der Fallvariante C IV keine Notstandsbefugnis, während der Abbruch einer Schwangerschaft in der Fallvariante C IV rechtmäßig ist. Ob diese Differenz aus einer unterschiedlich ausgeprägten speziellen Obhutspflicht einerseits gegenüber dem Embryo und andererseits gegenüber dem Kind, das sich in der Geburt befindet, plausibel erklärt werden kann, ist äußerst zweifelhaft; insbesondere dann, wenn bereits in die rechtsgutsorientierte Abwägung des § 218 a Abs. 1 StGB der Aspekt zunehmender Wertigkeit des nasciturus einbezogen wird und deshalb eine scharfe Trennung zwischen dem Embryo auf der einen und dem Kind auf der anderen Seite, soweit es die Wertigkeit des jeweiligen Rechtsgutsträgers betrifft, nicht möglich ist. Die Ansicht von Tröndle und Rudolphi ist daher auch alles andere als unumstritten. Jakobs 79 , Roxin 80 , Jescheck 81, Eser 82 , Hirsch 83 und Lenckner 84 74
15.
75 76 77 78 79
So z.B. DreherjTröndle, StGB, § 34 Rdnr. 21 und Rudolphi, in: SK Vor§ 218 Rdnr. Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 1 b. Siehe oben Fn. 74. Samson, in: SK § 34 Rdnr. 16, 19. Siehe oben Fn. 74. Jakobs, Strafrecht, S. 346.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
bejahen deshalb jedenfalls dann, wenn das Kind der Ursprung der Gefahr für die Mutter ist, also in der Fallvariante C IV, die Annahme einer Notstandsbefugnis, halten die Tötung des Kindes zur Rettung der Mutter also für zulässig. Dafür spricht zweierlei: Einmal harmoniert nur diese Lösung mit den Fällen des Schwangerschaftsabbruchs, denn auch dort ist der Eingriff in den Fällen der Fallvariante C IV durch § 218 a Abs. 1 StGB gerechtfertigt. Zum anderen ist es wohl etwas zu weitgehend, von der Mutter zu fordern, sich bei Gleichwertigkeit der kollidierenden Rechtsgüter ("Leben gegen Leben") zugunsten ihres Kindes aufzuopfern. Die Richtigkeit der Ansicht Tröndles und Rudolphis hätte überdies zur Folge, daß Dritte dann aus dem Gesichtspunkt der Notwehrhilfe berechtigt wären, den durch die drohende Perforation zugunsten der Mutter eingeleiteten rettenden Kausalverlauf notfalls gewaltsam abzubrechen; eine befremdend anmutende Konsequenz. Sowohl die einleuchtende Kongruenz mit den Fällen des Schwangerschaftsabbruches als auch die andernfalls als zu weitgehend empfundene Reduzierung der einer Mutter zustehenden Notstandsbefugnisse zeigen, daß eine spezielle Obhutspflicht nicht dazu führen kann, daß die speziell Obhutspflichtige verpflichtet ist, ihr Leben zugunsten ihres Schützlings aufzuopfern. Das aber bedeutet, Perforationsfälle der Fallvariante C IV sind als rechtmäßig zu beurteilen. Ausgehend von dieser Prämisse steht einer Mutter 85 aber auch in den Fällen der Fallvarianten A IV und B IV eine Eingriffsbefugnis zu. Zu diesem Ergebnis führt wiederum ein argumentum a maiore ad minus: Ist eine Mutter 86 schon bei Gleichwertigkeit der betroffenen Rechtsgüter befugt, einzugreifen, so muß dies - bei sonst konstanten Parametern 87 - erst recht in den Fällen gelten, in denen das Rechtsgut der Mutter schlicht oder wesentlich mehr wert ist, als das des Kindes 88 • Roxin, in: Festschrift für Jescheck, S.476fT. Jescheck, Strafrecht, S. 327. 82 in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§218fT. Rdnr. 34. 83 in: LK § 34 Rdnr. 74. 84 GA 1985, S. 297. 8S Bzw. deren Helfer. 86 Oder ein Dritter. 87 D.h. es liegt zum einen eine Defensivnotstandssituation vor, zum anderen ist die Mutter wiederum speziell obhutspflichtig. 88 Allerdings sind diese Fälle notwendig keine Perforationsflille, sondern Fälle einer Gefahr "bloß" für den Leib des Kindes, da bei prinzipieller Gleichwertigkeit der beiden Rechtsgutsträger (Mutter und Kind) und der Kollision "Leben gegen Leben", also der Kollision gleichwertiger Rechtsgüter, schlechterdings kein Fall denkbar ist, bei dem das Interesse der Mutter und das des Kindes nicht gleichwertig sind. Anderer Meinung ist allerdings Jescheck, Strafrecht, noch in der 3. Auflage, S.291 gewesen. Er glaubte ofTensichtlich zwischen "wertvolleren" und "weniger wertvollen" Menschen unterscheiden zu müssen, wenn er behauptet, "Leben und Gesundheit der Mutter" seien "mit Rücksicht auf ihren Status als schon voll in der Gemeinschaft lebender 80 81
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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Auch das Ergebnis der Fallvariante E IV steht damit fest: Wenn schon ein allgemein Gefahrtragungspflichtiger bei wesentlichem Überwiegen des beeinträchtigten über das geschützte Interesse auch in einer Defensivnotstandssituation nicht berechtigt ist, einzugreifen 89, so muß dies - erst recht - für erhöht Gefahrtragungspflichtige gelten. Problematisch bleibt allein die Lösung der Fallvariante D IV, denn sowohl die Bejahung als auch die Verneinung einer Eingriffsbefugnis scheinen plausibel begründet werden zu können: Zum einen wäre auch in den Fällen, in denen das beeinträchtigte das geschützte Interesse schlicht überwiegt, eine N otstandsbefugnis der Mutter denkbar. Das würde bedeuten, daß eine bestehende spezielle Obhutspflicht nicht die Einschränkung von Notstandsbefugnissen zur Folge hat 90 • Nicht ausgeschlossen ist aber auch die Annahme, mit Rücksicht auf die bestehende spezielle Obhutspflicht und eine daraus erwachsende erhöhte Gefahrtragungspflicht ist eine Mutter in Fällen dieser Art nicht berechtigt, einzugreifen. Eser 91 meint, der Arzt (als Notstandshelfer) sei dann nicht mehr zur Perforation berechtigt, wenn die Gefahr für das Leben der Mutter durch Vornahme eines abdominalen Kaiserschnitts abgewendet werden kann, die Gefahr also anders abwendbar ist. Im Falle eines solchen Eingriffs kollidieren nicht das Leben der Mutter mit dem des Kindes, sondern (lediglich) das Interesse der Mutter an ihrer körperlichen Unversehrtheit mit dem des Kindes an seinem Leben. Nehmen wir im Anschluß an Roxin 92 um des Argumentes willen einmal an, das Interesse des Kindes an seinem Leben überwiege das der Mutter an ihrer körperlichen Unversehrtheit zwar schlicht, aber nicht wesentlich. Der Fall ist aber dann der Variante C IV zuzuordnen 93 • Wenn Eser und Roxin eine Perforation für rechtswidrig halten, so bedeutet dies, daß die spezielle Obhutspflicht der Mutter zu einer Einschränkung ihrer Notstandsbefugnisse führt. Genau dieser Meinung ist Roxin 94 : "Allerdings führt die Interessenabwägung auch hier nicht zu einer schlichten Umkehrung der Güterproportionen im Stile Mensch ... schutzwürdiger ... als das Leben des Kindes, das noch nicht ,Namen und Art' hat." Jeschecks These verstößt nicht nur fundamental gegen Art. 3 GG, sondern erinnert in ihrer Struktur an unheilvolle Zeiten, in denen Menschen (und ganzen Rassen) ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wurde. Zu Jescheck vgl. auch die Kritik von Roxin, in: Festschrift rur Jescheck, S. 476. 89 Fallvariante E II. 90 Vgl. einerseits die Fallvarianten AlIbis EIlund andererseits die Fallvarianten A IV bis E IV. 91 in: SchönkejSchröder, StGB, Vor §§ 218ff. Rdnr. 34. 92 Roxin, in: Festschrift rur Jescheck, S.477. 93 Ob man dieser Prämisse rur den konkreten Fall folgen will, ist letztlich ohne Bedeutung. Es sind aber ohne Zweifel Fälle denkbar, die sich dadurch auszeichnen, daß das Interesse des Kindes an seinem Leben das der Mutter an ihrer körperlichen Unversehrtheit zwar nicht wesentlich, wohl aber schlicht überwiegt. 94 Roxin, in: Festschrift rur Jescheck, S. 477.
60
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
des § 228 BGB." Wenn Roxin aber im konkreten Fall mit dieser Behauptung recht hat, dann liegt das nicht daran, daß sich aus § 228 BGB keine allgemeine Defensivnotstandsbefugnis entwickeln ließe. Grund ist vielmehr die spezielle Obhutspflicht der Mutter, die zu Restriktionen ihrer Notstandsbefugnisse, verglichen mit denen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen, führt. Das heißt, auf der Basis der schon oben entwickelten "Fünfer -Tafel"95 ist die Mutter aufgrund der ihr obliegenden speziellen Obhutspflicht - im Gegensatz zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen - nicht befugt, in Rechtsgüter ihres Schützlings einzugreifen, wenn das Interesse an der Erhaltung dieses Rechtsguts das an der Erhaltung ihres Rechtsgutes schlicht überwiegt. ce) Verallgemeinerung der Ergebnisse Es spricht alles dafür, diese an Hand der Fälle des Schwangerschaftsabbruchs sowie der Perforation herausgearbeitete Systematik von Notstandsbefugnissen und Duldungspflichten speziell Obhutspflichtiger für verallgemeinerungsfähig zu halten. Denn es sind keine Kriterien ersichtlich, die gegen die Annahme eines insoweit bestehenden allgemeinen Grundsatzes sprechen. Die Interessenlage ist in den Fällen des § 218 a StGB und denen einer Perforation einerseits und in den übrigen Fällen der Varianten IV gleich. Eine spezielle Obhutspflicht führt daher nach der hier für richtig gehaltenen Meinung in Fällen der Varianten A IV bis E IV dazu, daß der im Defensivnotstand Handelnde erst dann berechtigt ist, sein Rechtsgut auf Kosten eines Rechtsgutes seines Schützlings zu retten, wenn beide Rechtsgüter gleichwertig sind. Überwiegt das ihm anvertraute Rechtsgut schlicht das geschützte Rechtsgut, besteht - im Unterschied zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen - keine Notstandsbefugnis 96 • c) Zur Lösung der Fallvarianten A III bis E III (speziell Obhutspflichtige in Aggressivnotstandssituationen )
Weitaus leichter fällt die Antwort auf die Frage nach etwaigen Notstandsbefugnissen in den Fallvarianten A III bis E III, also bei Handlungen von speziell Obhutspflichtigen in einer Aggressivnotstandssituation. Das bedeutet, der speziell Obhutspflichtige greift zur Abwehr einer Gefahr, die aus der Sphäre eines beliebigen Dritten droht, in ein Rechtsgut des ihm anvertrauten Schützlings ein. Wiederum lohnt ein Vergleich mit den Notstandsbefugnissen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen, also den Fallvarianten A I bis E I. Es zeigt sich nämlich, daß den speziell Obhutspflichtigenjedenfalls in den Fallvarianten B III bis E III keine Notstandsbefugnisse zustehen, wenn schon die Notstandshandlungen allgemein Gefahrtragungspflichtiger in den Fallvarianten B I bis E I rechtswidrig sind.
95 96
Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2. Vgl. dazu einerseits die Fallvariante D II, andererseits die Fallvariante D IV.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
61
Zweifelhaft ist das Ergebnis dagegen hinsichtlich der Fallvariante A III. Weder ein Vergleich mit der Fallvariante A I noch mit der Fallvariante A IV führen zwingend zur Bejahung oder Vemeinung einer Notstandsbefugnis. Einerseits sagt eine in der Fallvariante A I bestehende Notstandsbefugnis nichts hinsichtlich der Variante A III aus, da mit Blick auf die spezielle Obhutspflicht durchaus eine Duldungspflicht begründet werden könnte. Gleiches gilt in bezug auf die Fallvariante A IV. Auch hier ist mit Rücksicht auf die tendenziell eingeschränkten Eingriffsbefugnisse in Aggressivnotstandssituationen, verglichen mit denen in Defensivnotstandssituationen, keine der beiden Lösungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Einmal könnte eine spezielle Obhutspflicht dazu führen, daß der erhöht Gefahrtragungspflichtige in einer Aggressivnotstandssituation zur Hinnahme jeder Gefahr verpflichtet ist, und er infolgedessen in keinem Fall berechtigt ist, die Gefahr auf den ihm anvertrauten Schützling abzuwälzen. Andererseits ist es aber durchaus nicht ausgeschlossen, daß der Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" in der Weise ausschlaggebend ist, daß jedenfalls in den Fallvarianten A I bis A IV die Notstandshandlung stets gerechtfertigt ist; der Aspekt einer erhöhten Gefahrtragungspflicht demgemäß in den Hintergrund tritt. Die Literatur beantwortet diese Frage, soweit sie sich überhaupt damit beschäftigt, nicht eindeutig. Lenckner kommt in Übereinstimmung mit Hirsch, Blei und Jakobs lediglich zu dem Ergebnis, daß eine spezielle Obhutspflicht Einfluß hat auf die Reichweite der dem Handelnden zustehenden Notstandsbefugnisse. Wo die genauen Grenzen zu ziehen sind, bleibt ohne Ausnahme offen: Lenckner 97 meint, eine bestehende spezielle Obhutspflicht sei ein "weiteres Regulativ" innerhalb einer umfassenden Interessenabwägung, Hirsch 98 spricht von einer "Einschränkung", Blei 99 führt aus, die "Abwägung wird beeinflußt" von einer ObhutsgarantensteIlung und Jakobs 1oo meint, das "rechtlich anerkannte Interesse am Gut" könne durch eine spezielle Obhutspflicht "gemindert oder aufgewogen werden." Für das Bestehen einer Notstandsbefugnis in den Fällen der Fallvariante A III und damit gegen die Annahme einer absoluten Duldungspflicht sprechen zwei Gründe: Zum einen legt ein Vergleich der Parameter "Art der Notstandssituation" sowie "Art der Gefahrtragungspflicht" die Annahme einer Notstandsbefugnis in Fällen der Variante A 111 nahe. Nimmt man die Fallvarianten A I bis E I und AlIbis E 11 in den Blick, so stellt man fest, daß Befugnisse in Aggressivnotstandssituationen, verglichen mit denen in Defensivnotstandssituationen, zwar eingeschränkt, aber nicht gänzlich ausgeschlossen sind, also keine absolute Duldungspflicht besteht. Eine Notstandshandlung ist zwar in 97 Der rechtfertigende Notstand, S. 101 ff., 104; vgl. ders., in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 25, 34. 98 in: LK § 34 Rdnr. 67. 99 Strafrecht I, AT, S. 168. 100 Strafrecht, S. 350.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Fällen der Varianten B I, C I und D I im Unterschied zu den Fallvarianten B Il, CIl und D II rechtswidrig, nicht aber in der Fallvariante AL Der Gesetzgeber läßt also einen Eingriff in die Rechtsgüter unbeteiligter Dritter dann zu, wenn das Rechtsgut, das gerettet werden soll, wesentlich mehr wert ist als das durch die Notstandshandlung gefahrdete Rechtsgut. Bei einem krassen Mißverhältnis der kollidierenden Rechtsgüter tritt der Notstandsbefugnisse tendenziell einschränkende Aspekt einer Aggressivnotstandssituation zurück hinter das utilitaristisch begründete Kriterium 101 der Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter. Dieser, der Vorschrift des § 34 Satz 1 StGB zugrundeliegende Gedanke, kann aber auch auf die Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen im allgemeinen und auf die von speziell Obhutspflichtigen im besonderen übertragen werden. So wie eine Aggressivnotstandssituation zwar zu einer Einschränkung der Notstandsbefugnisse, nicht aber zu deren Ausschluß führt, so hat auch eine erhöhte Gefahrtragungspflicht kraft spezieller Obhutspflicht keine absolute Duldungspflicht zur Folge. Jedenfalls dann, wenn das geschützte Rechtsgut wesentlich mehr wert ist als das beeinträchtigte, ist eine trotz einer bestehenden Aggressivnotstandssituation und / oder einer speziellen Obhutspflicht vorgenommene Notstandshandlung rechtmäßig. Diese Ansicht scheint - bei aller Vorsicht vor Verallgemeinerungen herrschende Meinung zu sein. Die oben zitierten Autoren 102 gehen allesamt von einer Einschränkung der Notstandsbefugnisse aus; eine absolute Duldungspflicht wird, soweit ersichtlich, nicht vertreten. Da in aller Regel auch nicht zwischen Handlungen in Aggressiv- und solchen in Defensivnotstandssituationen unterschieden wird, läßt sich die herrschende Meinung durchaus mit der hier entwickelten Ansicht in Einklang bringen, daß die Notstandsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen zwar in Defensivnotstandssituationen, verglichen mit denen allgemein Gefahrtragungspflichtiger, eingeschränkt sind, nicht aber in Aggressivnotstandssituationen. Auch stimmt allein die Ablehnung einer absoluten Duldungspflicht des speziell Obhutspflichtigen mit den hier und heute gängigen Wertvorstellungen überein. Dazu ein Beispiel: Die Mutter M und ihr minderjähriges Kind K gehen am linken Rand einer schmalen Straße spazieren, die auf beiden Seiten von einem ca. 1, 5 m tiefen Straßengraben begrenzt wird. Plötzlich kommt beiden ein Kraftfahrzeug entgegen. Es besteht die unmittelbare Gefahr, daß die rechts neben ihrem Kind laufende Mutter vom herannahenden Fahrzeug erfaßt und schwer verletzt wird. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, besteht darin, das Kind in den Graben zu stoßen und selbst hinterher zu springen. Zwar ist das Kind nicht durch den Wagen gefahrdet, die Mutter hat aber keine andere Möglichkeit, sich 101 Allgemein zum Utilitarismus vgl. statt vieler: Hoerster, Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung. 102 Vgl. oben Zitate bei Fn. 57.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
63
vor dem entgegen kommenden Auto in Sicherheit zu bringen. Wie von M vorausgesehen, zieht sich das Kind bei dem Sturz Prellungen und Blutergüsse zu. Nehmen wir um der Argumentation willen einmal an, die erforderliche Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter führe zu dem Ergebnis, daß das Interesse der Mutter, weder getötet noch schwer verletzt zu werden, das Interesse des Kindes daran, weder Prellungen noch Blutergüsse zu erleiden, wesentlich überwiegt 103. Dann ist der Fall der Variante A III zuzuordnen. Verlangt nun das Gesetz von M, die vom Fahrer ausgehende, ihrem Leben und / oder ihrem Leib drohende Gefahr zu erdulden, oder ist M berechtigt, jedenfalls die körperliche Integrität ihres Kindes zu gefahrden? Die Antwort kann wohl nur lauten, M hat erlaubterweise und damit rechtmäßig gehandelt. Sie ist nicht unter allen Umständen verpflichtet, sich zugunsten ihres Schützlings aufzuopfern. d)
~usan1n1e~assung
Zusammenfassend kann daher in bezug auf die Notstandsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen als Teilmenge 104 der Menge aller erhöht Gefahrtragungspflichtigen festgehalten werden: Den speziell Obhutspflichtigen stehen wegen ihrer besonderen Schutzpflicht gegenüber einem bestimmten Rechtsgut nur eingeschränkte Notstandsbefugnisse zu. Ein speziell Obhutspflichtiger hat im Gegensatz zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen in einer Defensivnotstandssituation dann keine Eingriffsbefugnis, wenn das Interesse an der Erhaltung seines Rechtsgutes schlicht weniger wert ist als das Interesse an der Erhaltung des dem Schützling zukommenden Rechtsgutes. Sind die konkret betroffenen Rechtsgüter gleichwertig oder ist das Rechtsgut des speziell Obhutspflichtigen wertvoller, so ist dieser befugt, in ein Rechtsgut des Schützlings einzugreifen. Gründe hierfür sind eine Verallgemeinerungder Regelung des § 218 a Abs. 1 StGB und der die Lösung der Perforationsfälle tragenden Begründungen. Demgegenüber stehen einem speziell Obhutspflichtigen in einer Aggressivnotstandssituation Notstandsbefugnisse in demselben Umfang wie einem allgemein Gefahrtragungspflichtigen zu. Der speziell Obhutspflichtige ist also dann und nur dann berechtigt, in ein Rechtsgut seines Schützlings einzugreifen, wenn sein Rechtsgut das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich überwiegt. Dies folgt aus einem Vergleich des Parameters "Art der Gefahrtragungspflicht" mit 103 Auch im Falle einer Kollision der Interessen zweier Personen hinsichtlich ihrer körperlichen Unversehrtheit kann Ergebnis einer Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter sein, daß ein Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das andere Rechtsgut; so schon bei Janka, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 77f.; vgl. auch Roxin, JUS 1976, S. 505ff., 511; Lenckner, GA 1985, S. 295ff., 311 und Stratenwerth, Strafrecht, S. 142f. 104 Zum Begriff der Teilmenge vgl. oben 1. Abschnitt Fn. 34.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
dem Parameter "Art der Notstandssituation". Weder eine bestehende Aggressivnotstandssituation noch eine spezielle Obhutspflicht führen zu einer absoluten Duldungspflicht. Das oben entwickelte Fallsystem 105 kann also insoweit ergänzt werden, als es um den Umfang der Eingriffsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen geht: FaUsystem 11 Menge aller Notstandshandlungen
allgemein gefahrtragungspflichtig Aggr.- I Def.notstandssituation
erhöht gefahrtragungspflichtig spezielle Obhutspflicht Aggr.- I Def.notstandssituation
I
II
III
IV
besonderes Rechtsverhältnis Aggr.- I Def.notstandssituation V
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E
Welche Eingriffsbefugnisse in Notstandssituationen aber stehen dem Personenkreis zu, der als in einem besonderen Rechtsverhältnis stehend bezeichnet wird, dem also eine besondere Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber 106 auferlegt ist? Schlägt sich insbesondere der verglichen mit den speziell Obhutspflichtigen relevante Aspekt einer zahlenmäßig erweiterten Schutzpflicht in reduzierten Notstandsbefugnissen nieder? - Fragen, die zum nächsten Abschnitt überleiten.
Siehe oben 2. Abschnitt 2. Kapitel a. E. Zur Definition des besonderen Rechtsverhältnisses als einer Sonderpflicht der Allgemeinheit gegenüber und dem daraus resultierenden Verhältnis zur speziellen Obhutspflicht als Sonderpflicht gegenüber Individuen siehe oben 2. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 3 c. lOS
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3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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3. Die Reichweite der Notstandsbefugnisse von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen (Fallvarianten V und VI)
a) Zur Lösung der Fallvarianten B V bis E V sowie D VI und E VI Auszugehen ist wiederum von der Prämisse, daß jedenfalls dann, wenn ein allgemein Gefahrtragungspflichtiger in einer Notstandssituation handelt und seine Tat als rechtswidrig beurteilt werden muß, dies erst recht für die unter sonst gleichen Bedingungen vorgenommene Handlung einer Person, die in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, zu gelten hat. Das aber bedeutet, Fälle der Fallvarianten B V, C V, D V, E V sowie E VI sind stets rechtswidrig. Aber auch hinsichtlich der Fälle der Fallvariante D VI ist das Ergebnis schon vorgezeichnet. Da eine besondere Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber umfassender ist als eine gegenüber einem oder mehreren individualisierten Rechtsgutsträgem, impliziert ein bestehendes besonderes Rechtsverhältnis eine - verglichen mit speziell Obhutspflichtigen - tendenziell darüber hinausgehende Einschränkung der Notstandsbefugnisse 107. Ist daher ein speziell Obhutspflichtiger, wie in den Fällen der Fallvariante D IV, nicht befugt, einzugreifen, so ist es erst recht demjenigen, der in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, in Fällen der Variante D VI untersagt, sein Rechtsgut unter gleichzeitiger Aufopferung des kollidierenden Rechtsgutes zu retten. Ungeklärt bleiben also lediglich die Fallvarianten A V, A VI, B VI sowie C VI. Sie bedürfen einer genaueren Analyse. b) Zur Lösung der Fallvarianten A V sowie A VI bis C VI aa) Der Meinungsstand in der Literatur Die Literatur zur Frage der Reichweite von Notstandsbefugnissen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, ist zwar etwas umfangreicher und detaillierter als die zur Frage der Notstandsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen. Jedoch heißt es auch dort meist lapidar, ein besonderes Rechtsverhältnis sei ein im Rahmen der Interessenabwägung des § 34 Satz 1 StG B beachtlicher Gesichtspunkt, der tendenziell zu einer Einschränkung der Notstandsbefugnisse führe. Dabei gilt es wiederum zwischen Autoren des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts einerseits und den neueren Autoren andererseits zu unterscheiden. Denn nur solche Autoren sind veranlaßt, sich mit der Frage einer möglichen Reduzierung von Notstandsbefugnissen zu befassen, die solche Befugnisse jedenfalls dem Grunde nach anerkennen. Dies 107 Nur dieser Ansatz kann bei aller Vorsicht vor der Heranziehung von Zurechnungsregeln zur Untersuchung von Notstandsbefugnissen - den Ausschluß der fakultativen Strafmilderungsmöglichkeit in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB für Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, plausibel erklären; vgl. dazu ausführlich oben 2. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 3 c.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
aber war nur bei einer Minderheit der älteren Literatur der Fall. Wer, wie z. B. Goldschmidt 108 , eine in einer Notstandslage vorgenommene Handlung ausschließlich als Problem auf der Ebene der Zurechnung zweiter Stufe versteht, für den stellt sich schon die Frage nach einer Einschränkung von Notstandsbefugnissen nicht. Eher verwunderlich ist, daß auch nach der bereits zitierten Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1927 109 und insbesondere nach der Einführung der Vorschrift des § 34 StGB anläßlich des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes llO das Thema eher stiefmütterlich behandelt worden ist. III Die hierzu vertretenen Meinungen lassen sich - bei aller Vorsicht vor Vergröberungen - in zwei Kategorien einteilen: Einige Autoren gehen von einer absoluten Duldungspflicht derjenigen Personen aus, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, ohne allerdings zwischen Aggressiv- und Defensivnotstandssituationen zu differenzieren. Diese Auffassung wird im besonderen von älteren Autoren vertreten, soweit sie die Möglichkeit von rechtmäßigen Notstandshandlungen überhaupt anerkennen. Die Meinungen dieser Autoren unterscheiden sich lediglich hinsichtlich derjenigen Personen, die von ihnen als Inhaber eines besonderen Rechtsverhältnisses und damit als erhöht Gefahrtragungspflichtige angesehen werden: Stammler, der schon 1878 die Existenz eines Notstandsrechtes behauptet hat, postuliert als eine seiner Voraussetzungen, daß "für denjenigen, der in einen solchen (nämlich einen Notstand; Anm. des Verf.) gerathen ist, keine besondere Pflicht von dem Rechte aufgestellt ist."1l2 Auch Binding, der Notstandshandlungen der Kategorie des "Unverbotenseins" zurechnet 113, geht offensichtlich von einer absoluten Duldungspflicht aus, wenn er behauptet, daß im Falle einer erhöhten Gefahrtragungspflicht (die er bei Soldaten, Seeleuten, aber auch Richtern annimmt 114), "die dem Benötigten regelmässig zustehende Wahl zwischen Errettung auf fremde Kosten und Selbstaufopferung"1l5 genommen ist. Binding veranschauGoldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, S. 5f. u.Ö. RGSt 61, S. 242ff.; vgl. Einleitung Text zu Fn. 4. 110 2. StrRG vorn 4.7.1969, BGBI. I, S. 717ff., 721. 111 Im Unterschied dazu finden sich ausführlichere Darstellungen zu Personen, die in einern besonderen Rechtsverhältnis stehen, wenn es um die Problematik des § 35 StGB (und dessen Vorgänger, §§ 52, 54 StGB a. F.) geht. Grund für das ungleich größere Interesse ist sicherlich der Begriff "besonderes Rechtsverhältnis" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB. Andererseits drängt sich angesichts der Regelung des § 34 StGB doch die Frage geradezu auf, weIche Fälle im Rahmen des § 35 StGB diskutiert werden müssen, d. h. weIche Fälle als rechtswidrig zu beurteilen sind. 112 Stammler, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 71 f. 113 Binding, Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, S. 763 ff.; zur Kategorie des "Unverbotenseins" vgl. insbesondere Maurach, Kritik der Notstandslehre, S. 85 ff. 114 Binding, a.a.O. (Fn. 113), S. 780ff. 115 Binding, a.a.O. (Fn. 113), S. 780. 108
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3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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licht diese Ansicht am Beispiel des Richters, der "sich zur Rechtsbeugung durch keine Macht der Welt bestimmen zu lassen"1l6 hat. Ihm stimmt Broglio zu, der eine absolute Duldungspflicht nicht nur Soldaten und Richtern auferlegt, sondern Z.B. auch auf Diplomaten im Ausland ausdehnt 117 • Noch darüber hinaus geht Wolff, der sowohl für speziell Obhutspflichtige als auch für Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, eine absolute Duldungspflicht annimmt: "Bei diesen (den Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen; Anm. des Verf.) ist die Erfüllung der (Duldungs-; Anm. des Verf.) Pflicht unter allen Umständen zu verlangen, selbst wenn sie diese Pflichterfüllung mit ihrem Leben bezahlen müssen. "118 Die jüngere Literatur spricht sich demgegenüber im Anschluß an von Weber 119 , Siegert 120 und Henkel l2l gegen die Annahme einer absoluten Duldungspflicht des in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personenkreises aus 122. Entscheidenden Einfluß auf diese Entwicklung hatte offensichtlich Lenckner. Er sieht eine aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses bestehende erhöhte Gefahrtragungspflicht lediglich als ein "weiteres Regulativ"123 innerhalb der umfassenden Interessenabwägung des § 34 Satz 1 StGB an und begründet die damit verbundene Reduzierung der Notstandsbefugnisse folgendermaßen: " ... hier sind dann zwar ihre Güter nicht weniger wert als die anderer, jedoch sind sie - eine notwendige Folge der Pflicht - weniger schutzwürdig."124 Diese Ansicht hat Lenckner nicht nur als Kommentator der §§ 34, 35 StGB im "Schönke / Schröder"125 beibehalten, ihr haben sich insbesondere Hirsch 126 und auch Küper 127 angeschlossen. Die These Lenckners ist jedoch nur auf den ersten Blick überzeugend. Einerseits kann man Lenckner nur zustimmen, wenn er konstatiert, daß der Wert eines Rechtsgutes nicht abhängig ist von einer eventuell erhöhten Gefahrtragungspflicht des entsprechenden Rechtsgutsträgers: Das Leben eines Feuerwehrmannes ist genau so viel wert wie das Leben eines Passanten; eine beinahe schon als banal zu bezeichnende Feststellung. Andererseits führt der Begriff "schutzwürdig" in der Sache wenig Binding, a.a.O. (Fn. 113), S. 782. Broglio, Der strafrechtliche Notstand im Lichte der Strafrechtsreform, S. 48ff.; der gleichen Meinung war vor ihm auch schon Baumgarten, Notstand und Notwehr, S. 50f. 118 WolfT, Ein Beitrag zur Lehre vom übergesetzlichen Notstand, S. 42. 119 Von Weber, Das Notstandsproblem, S.92fT. 120 Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 36f. 121 Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und zukünftigem Recht, S. 131 fT. 122 Zu den älteren Autoren vgl. die Zusammenstellung bei Maurach, Kritik der Notstandslehre, S. 112f. 123 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 101. 124 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 101. 125 Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 34. 126 in: LK § 34 Rdnr. 67. 127 Grund- und Grenzfragen, S. 105f. 116 117
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
weiter. Ist es denn wirklich richtig, daß z. B. das Rechtsgut "Leben" eines Feuerwehnnannes "weniger schutzwürdig" ist als das eines Passanten? Hat also ein Feuerwehnnann, der durch herabstürzende Trümmer verletzt worden ist, nicht in gleichem Umfang wie ein Passant Anspruch darauf, daß ihm erforderliche Hilfe geleistet wird (sein Leben ist ja "weniger schutzwürdig"!)? Diesen Schluß würde wohl auch Lenckner nicht ziehen wollen. Ist das Rechtsgut eines erhöht Gefahrtragungspflichtigen also nur dann weniger "schutzwürdig", wenn er sich einer Notstandssituation ausgesetzt sieht? Lenckner müßte diese Frage wohl bejahen. Hängt die "Schutzwürdigkeit" des Rechtsgutes dann auch davon ab, ob eine Aggressiv- oder Defensivnotstandssituation vorliegt? Was aber hat die "Schutzwürdigkeit" eines Rechtsgutes mit der Art der Notstandssituation zu tun? Die richtige Antwort darauf scheint mir zu sein: Nichts! Der Fehler Lenckners besteht darin, die "Schutzwürdigkeit" eines Rechtsgutes abhängig zu machen von einer erhöhten Gefahrtragungspflicht. Nun stehen beide Parameter aber gleichberechtigt nebeneinander und sind gerade nicht voneinander abhängig. Nur die Antwort auf die Frage nach einer Notstandsbefugnis resultiert aus einer Verknüpfung der insgesamt drei Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter", " Art der Notstandssituation" und "Art der Gefahrtragungspflicht". Überdies muß sich auch die These Lenckners den Einwand gefallen lassen, daß die genaue Reichweite der aufgrund geringerer "Schutzwürdigkeit" reduzierten Notstandsbefugnisse dabei offen bleibt. Samson 128, Weber 129 , Jescheck 130 und Zipf1 31 halten eine "Berufung" auf§ 34 StGB soweit für ausgeschlossen, wie die erhöhte Gefahrtragungspflicht reicht. Soll die Verwendung des Begriffs "Berufung" bedeuten, daß die erhöht Gefahrtragungspflichtigen auf ihre Notstandsbefugnisse verzichtet haben? Eine solche Behauptung ist durchaus nicht abwegig: Soweit man in die Verletzung eines Rechtsgutes wirksam einwilligen kann, muß man auch auf die Ausübung eines "an sich" bestehenden Rechtes wirksam verzichten können. So weit, so gut. Jedoch muß die Einwilligung zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung vorliegen. Ist eine vorher erklärte Einwilligung daher vor der tatbestandsmäßigen Handlung widerrufen worden, ist die Rechtsgutsverletzung - Irrtumsfragen seien ausgeklammert - rechtswidrig. Übertragen auf unser Problem bedeutet dies, auch der Verzicht ist jederzeit frei widerruflich. Allein die Vornahme der Notstandshandlung müßte aber stets als Widerruf eines vorher erklärten Verzichtes ausgelegt werden. Die "Verzichtsthese" führt daher nicht weiter. Wie ist der Ausschluß, sich auf § 34 Satz 1 StGB "berufen" zu können, aber dann zu verstehen? Die oben genannten Autoren lassen diese Frage offen. Stratenwerth 132, Blei 133 und auch Jakobs 134 behaupten ebenfalls nur reduzierte, 128 129 130 131
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in: SK § 34 Rdnr. 17. BaumannjWeber, Strafrecht, S. 350. Strafrecht, S. 326f. MaurachjZipf, Strafrecht, S. 374. Strafrecht, S. 114.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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nicht aber ausgeschlossene Eingriffsbefugnisse bei Notstandshandlungen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, ohne dies allerdings genauer zu begründen. Lehnt man danach eine absolute Duldungspflicht ab, schließt sich die Frage nach den Grenzen einer "relativen Duldungspflicht" an. Diese Frage wird jedoch von all den genannten Autoren nicht hinreichend beantwortet. Behandelt wird lediglich eine bestimmte Fallgruppe, die man als die Fälle des "sicheren Todes" beschreiben kann. bb) Die Fälle des "sicheren Todes" Eine Eingriffsbefugnis soll trotz Vorhandenseins eines besonderen Rechtsverhältnisses dann bestehen - so die wohl als herrschend zu bezeichnende Meinung 135 - , wenn der in einem besonderen Rechtsverhältnis stehende Täter das Rechtsgut deshalb verletzt, um dem sonst sicheren Tod zu entgehen, denn: "Es besteht ... nicht eigentlich eine Aufopferungs-, sondern eine bloße ,Risikopflicht'" 136. So sehr dem Ergebnis, nämlich der Annahme einer nur relativen Duldungspflicht zuzustimmen ist, so eindeutig muß dem Differenzierungskriterium des "sicheren Todes" eine Absage erteilt werden: Die Frage, ob eine Notstandsgefahr für eine in einem besonderen Rechtsverhältnis stehende Person besteht, ist aus einer objektiven ex-ante Perspektive zu entscheiden 137. Ausschlaggebend für die prospektivische Beurteilung ist also nicht die Sicht des jeweils Handelnden, sondern die eines objektiven Beobachters. Aus einer ex-ante Sicht aber ist die Feststellung eines "sicher" oder "notwendig" eintretenden Schadens prinzipiell nicht möglich. Die Richtigkeit der Behauptung, ein ein beliebiges Rechtsgut gefährdendes Geschehen werde notwendig in der Zukunft zum Eintritt eines Schadens führen, setzt nämlich zweierlei voraus: Einmal die vollständige Kenntnis der tatsächlichen GegebenStrafrecht, S. 168. Strafrecht, S. 350. 135 So schon Marquardsen, Die Lehre vom Nothstande, S. 396ff., 418; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und zukünftigem Recht, S.132; von Weber, Das Notstandsproblem, S. 93; Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 55; Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 90ff.; Krey, JURA 1979, S. 316ff., 320; Brinkkötter, Feigheit, S.197ff.; Maurach j Zipf, Strafrecht, S.479 sowie zuletzt Bernsmann, Entschuldigung, S. 422ff. Die andere Ansicht wird von Gareis, Notstand, S. 15, vertreten: "Typischer Fall ist die Notpflicht des Soldaten, der im Felde seine Pflicht auch dann nicht verletzen darf, wenn deren Erfüllung ihm den sicheren Tod bringt." 136 Küper, JZ 1980, S. 755ff., 756. 137 Vgl. die Definition einer "Gefahr" in BGHSt 18, S. 271 ff., 272: Es besteht dann eine Gefahr, "wenn der Eintritt des Schadens naheliegt." Zum Erfordernis einer ex-ante Betrachtung Schaffstein, Der Maßstab für das Gefahrurteil beim rechtfertigenden Notstand, S. 89ff., 91f. 133
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
heiten; d. h. des gesamten relevanten Sachverhalts. Diese Kenntnis wird von Bassenge 138 im Anschluß an Traeger 139 und von Kries l40 als das "ontologische Wissen" bezeichnet. Der ex-ante Beobachter muß also im Beurteilungszeitpunkt alle relevanten Tatumstände kennen. Ein solches vollständiges ontologisches Wissen ist jedoch nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für die ex-ante Beurteilung, eine Gefahr werde "sicher" zu einem Schaden führen. Erforderlich ist zum anderen auch "die vollständige Kenntnis der Kausalgesetze", das "nomologische Wissen" 141; also derjenigen Gesetze, die Ursache-Wirkungsketten begründen. Nur bei kumulativem Vorliegen beider Voraussetzungen wäre der ex-ante Beobachter in der Lage, zu behaupten, der Schadenseintritt sei eine notwendige, d. h. sichere Folge einer bestehenden Notstandsgefahr oder umgekehrt, der Eintritt des Schadens sei unmöglich. Jedoch besitzt kein ex-ante Beobachter vollständige Kenntnis des ontologischen und des nomologischen Wissens: Das ontologische Wissen ist schon immer dann nicht hinreichend, wenn ein Mensch kraft seines freien Willens nach dem Zeitpunkt der ex-ante Beurteilung in den Geschehensablauf eingreift und diesen verändert. Darüber hinaus ist der Mensch aufgrund seiner beschränkten Erkenntnisfähigkeit schon nicht in der Lage, ex-ante alle für den Eintritt eines Schadens relevanten Umstände zu kennen. Aber auch das nomologische Wissen ist stets unvollständig. Dies zeigen nicht nur die ständigen Erkenntnisfortschritte z. B. in der subatomaren Physik 142. Ein besonders plastisches Beispiel für die Unvollständigkeit nomologischen Wissens ist die Entdeckung der Relativitätstheorie durch Einstein. Der Parameter "Zeit", der in der Newtonsehen Physik als Konstante definiert war, wurde von Einstein als variabel erkannt 143 • Die Formel "Geschwindigkeit = Weg: Zeit", die bis dahin als umfassendes nomologisches Wissen angesehen worden ist, stellt sich aus Sicht der Relativitätstheorie Einsteins lediglich als Näherungsformel dar, die dann unbrauchbar wird, wenn sich die Masse, deren Geschwindigkeit bestimmt werden soll, mit knapp unter 300.000 km/s, also beinahe Lichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegt. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Doch schon das eine Beispiel zeigt, daß die Behauptung vollständigen nomologischen Wissens vermessen ist. Deshalb ist es ausgeschlossen, den Eintritt eines Schadens als Folge einer bestehenden Gefahr als sicher oder notwendig zu prognostizieren. Möglich sind lediglich Bassenge, Der Allgemeine Strafrechtliche Gefahrbegriff, S. 22. Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, S. 115 ff., 122. 140 So von Kries, Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, S. 86ff.; vgl. ders., ZStW Bd. 9 (1889), S. 528ff. Allgemein zum Gefahrbegriffvgl. ders., Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, S. 287 ff.; Rümelin, Der Zufall im Recht, S. 12ff.; Radbruch, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, S. 12ff. 141 Bassenge, Der Allgemeine Strafrechtliche Gefahrbegriff, S. 22; vgl. auch von Kries, Ueber den Begriff der objectiven Möglichkeit (Fn. 140), S. 181 f. 142 Vgl. Brockhaus, Enzyklopädie, 2. Bd., Stichwort "Atom", Abschnitt "Geschichtliches". 143 Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper. 138
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3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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Wahrscheinlichkeitsurteile, d.h. Näherungsformeln l44 . Die Unhaltbarkeit der gegenteiligen These zeigen auch die von deren Vertretern angeführten Beispiele: Beispiel 1): "Durch einen steuerbaren Torpedo soll ein feindliches Schiff versenkt werden. Der Gefreite G wird durch seinen Vorgesetzten zum Führer des Torpedos bestimmt." 145 Begeht G in dieser Situation Gehorsamsverweigerung oder Fahnenflucht l4ö , ist die Frage nach der Rechtfertigung aufgrund der bestehenden Notstandssituation aufgeworfen. Otto nimmt in diesem Fall an, das Verhalten des G sei rechtmäßig, da ihn "nicht eine Pflicht zum Selbstmord" 147 treffe. Nun ist der exante Beobachter jedoch nicht in der Lage, den Tod des G bei Befolgung des Befehls als sicher oder notwendig zu beurteilen. Es kann z. B. durchaus sein, daß die Steuerung des Torpedos oder sonstige Einrichtungen defekt sind und G deshalb überlebt. Man halte dieser Sachverhaltsvariante nicht entgegen, sie sei an den Haaren herbeigezogen oder jedenfalls höchst unwahrscheinlich. Solche Einwände sind nicht durchschlagend; sie bestätigen vielmehr die Richtigkeit der hier vertretenen These, die darin besteht, daß zwar die Annahme des sicheren Todes, nicht aber dessen hohe Wahrscheinlichkeit geleugnet wird. Beispiel 2): Demuth bildet den Fall "eines Skifahrers, der eine Lawine auf sich zukommen sieht und keine Fluchtmöglichkeit mehr besitzt; so daß er mit hundertprozentiger Sicherheit von der Lawine erfaßt werden wird."I48 Der Richtigkeit der Prämisse, der Tod des Skifahrers sei, ex-ante betrachtet, hundertprozentig sicher, steht wiederum die prinzipielle Unmöglichkeit vollständigen ontologischen und nomologischen Wissens entgegen: Selbst wenn der Skifahrer von der Lawine erfaßt wird, ist nicht ausgeschlossen, daß er sich selbst befreien kann oder von Dritten gerettet wird. Ob dies wahrscheinlich ist oder nicht, ist insoweit unerheblich. ce) Integration der Fälle des "sicheren Todes" in das Fallsystem 11 Auffallend ist, daß es in aller Regel nicht nur an einer genauen Bestimmung der Reichweite der Notstandsbefugnisse fehlt, sondern daß auch nicht zwischen Handlungen in Aggressiv- und solchen in Defensivnotstandssituationen differenziert wird. Dabei sind solche Fälle ohne weiteres denkbar:
144 Bemsmann, Entschuldigung, S. 407 bezeichnet deshalb konsequent die Fälle vermeintlich "sicheren Todes" als solche, in denen der Tod "nach menschenmöglicher Voraussicht" eintritt. 145 Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 91 f. 146 §§ 15f., 19f. WStG. 147 Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, S. 92. 148 Demuth, Der normative GefahrbegritT, S. 96.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Beispiel 1): Der Wohnungsinhaber W hat aus Unachtsamkeit in einem Hochhaus einen Brand verursacht. Feuerwehrmann F, der zur Brandbekämpfung eingesetzt worden ist, erleidet dabei eine schwere Rauchvergiftung und rettet sich auf das Flachdach des brennenden Hauses. Über dem Gebäude schwebt ein Hubschrauber. Die Besatzung hat soeben in Kisten verpackte Bücher aus der wertvollen Bibliothek des W an den Rettungshaken genommen. F entfernt die Kisten vom Haken und läßt sich vom Hubschrauber in das nächstgelegene Krankenhaus transportieren. Wie von F vorausgesehen, erreicht das Feuer kurz danach das Dach, und die Bücher werden ein Raub der Flammen. Beispiel 2): Der Wohnungsinhaber W hat aus Unachtsamkeit in einem Hochhaus einen Brand verursacht. Feuerwehrmann F, der zur Brandbekämpfung eingesetzt worden ist, erleidet dabei eine schwere Rauchvergiftung und rettet sich auf das Flachdach des brennenden Hauses. Über dem Gebäude schwebt ein Hubschrauber. Die Besatzung hat soeben W an den Rettungshaken genommen, um ihn in Sicherheit zu bringen. F schlägt W nieder und läßt sich vom Hubschrauber in das nächstgelegene Krankenhaus transportieren. Wie von F vorausgesehen, erreicht das Feuer kurz danach das Dach, und W stirbt in den Flammen. Beispiel 3): Wie Beispiel 1), nur ist Brandursache ein Blitzschlag. Beispiel 4): Wie Beispiel 2), nur ist Brandursache ein Blitzschlag. In allen vier Fällen ist die Frage aufgeworfen, ob F berechtigt gewesen ist, sich auf Kosten des Eigentums bzw. des Lebens des W zu retten. Dazu ist es erforderlich, die vier Beispielsfälle den entsprechenden Fallvarianten des Fallsystems 11 zuzuordnen. Im Beispiel 1) ist die Sachbeschädigungshandlung des F möglicherweise gemäß § 228 BGB gerechtfertigt 149 • Entscheidend hierfür sind wiederum die drei Parameter "Rechtsgüterabwägung", "Art der Notstandssituation" sowie "Art der Gefahrtragungspflicht": Zum einen kann davon ausgegangen werden, daß das Leben des F wesentlich mehr wert ist als das Eigentum des W. Zum anderen hat F in einer Defensivnotstandssituation gehandelt, da er Rechtsgüter des W vernichtet, dieser aber die dem F drohende Lebensgefahr verursacht hat. F hat also die Gefahr in die Sphäre zurückgegeben, aus der sie gekommen ist. Und zuletzt ist F als Feuerwehrmann der Allgemeinheit gegenüber in besonderer Weise pflichtig, steht also in einem besonderen Rechtsverhältnis. Beispiel 1) ist daher Element der Menge aller Fälle der Fallvariante A VI. Beispiel 2) stimmt mit dem Beispiel 1) insoweit überein, als Feinerseits wiederum in einer Defensivnotstandssituation handelt und andererseits erhöht 149 F befindet sich in einer Notstandssituation, da die seinem Leben drohende Gefahr nur durch die Vernichtung der dem W gehörenden Bücher (bzw. durch Tötung des W) abgewendet werden kann. Die Beispiele sind daher samt und sonders Elemente der Menge aller "relevanten" Fälle.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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gefahrtragungspflichtig ist. Jedoch kollidieren hier zum Teil andere Rechtsgüter , da jetzt nicht das Eigentum, sondern das Leben des W beeinträchtigt ist. Die kollidierenden Rechtsgüter sind also gleichwertig 150. Beispiel 2) ist daher der Fallvariante C VI zuzuordnen. Beispie13) unterscheidet sich von Beispiel 1) nur dadurch, daß F jetzt in einer Aggressivnotstandssituation handelt. Einschlägig ist daher die Fallvariante A V. Entsprechendes gilt für das Beispiel 4). Dieses ist dem Beispiel 2) nachgebildet mit der Modifikation, daß F auch hier in einer Aggressivnots·tandssituation handelt. Einschlägig ist also die Fallvariante C V. Jedenfalls im Beispie14) ist F nicht befugt, einzugreifen, denn wenn schon ein allgemein Gefahrtragungspflichtiger - bei im übrigen konstanten Parametern - nicht zur Tötung des W berechtigt ist 15 1, so muß dies erst recht für die Fälle der Variante C V gelten. Schwieriger ist schon die Lösung des Beispiels 2), denn dort ist sowohl ein allgemein, als auch ein aufgrund bestehender spezieller Obhutspflicht erhöht Gefahrtragungspflichtiger befugt, sein Leben um den Preis des Todes des W zu retten. Möglicherweise ist jedoch bei einem bestehenden besonderen Rechtsverhältnis eine Notstandsbefugnis mit Blick auf die weiter gehende besondere Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit zu verneinen. Welche Entscheidung der historische Gesetzgeber getroffen hat, läßt sich vor allem den einschlägigen Gesetzesmaterialien entnehmen. In den Niederschriften des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vertrat Horstkotte die These, ein Feuerwehrmann dürfe "sein eigenes Integritätsinteresse nicht dadurch wahrnehmen, daß er es unterläßt, den bloß Sachgüter bedrohenden Brand zu löschen. "152 In die gleiche Richtung weist der Zweite Schriftliche Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, in dem sich die Formulierung findet, daß sich ein Feuerwerker "einer seinem Leben oder seiner Gesundheit drohenden Gefahr auch dann aussetzen muß, wenn dies nur der Abwehr der einer Sache drohenden Gefahr dient."153 Zwar wird auch hier nicht zwischen Aggressiv- und Defensivnotstandssituationen unterschieden, doch läßt sich beiden Beispielen entnehmen, daß eine Duldungspflicht selbst dann angenommen wird, wenn das zu schützende Rechtsgut die Gesundheit oder gar das Leben, das beeinträchtigte Rechtsgut hingegen (lediglich) eine Sache ist. Dem kann man nur uneingeschränkt zustimmen. Da eine besondere Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber alle rechtlich geschützten Güter umfassen kann, kann eine Duldungspflicht auch in den Fällen der Fallvariante C VI plausibel behauptet werden. Für die Annahme einer Duldungspflicht spricht ein weiteres Argument: Der Person,. die in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, obliegt eine besondere Schutzpflicht nicht bestimmten Rechtsgutsträgern, sondern der Allgemeinheit gegen150 151 152 153
Leben steht gegen Leben. Fallvariante C I. Prot. V (90. Sitzung), S. 1792 ff., 1796f. BT-Drucksache V /4095, S. 15.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
über. Dann aber darf es konsequenterweise auch keine Rolle spielen, ob die zu schützenden Rechtsgüter der Sphäre zuzurechnen sind, aus der die Gefahr droht oder ob die Gefahr ihren Ursprung in der Sphäre eines beliebigen Dritten hat. Es ist offensichtlich, daß eine besondere Schutzpflicht der Allgemeinheit gegenüber eine solche auch gegenüber der Person, aus deren Sphäre die Notstandsgefahr herrührt, voraussetzt und impliziert. Die Irrelevanz des Parameters "Art der Notstandssituation" zeigen besonders deutlich die oben dargestellten Beispiele. Der Feuerwehrmann F ist in gleichem Umfang verpflichtet, Rechtsgüter des Brandstifters zu retten, wie die eines beliebigen Dritten. Steht daher fest, daß F im Beispiel 4) keine Notstandsbefugnis hat, so muß dies auch für das Beispiel 2) gelten. Das aber bedeutet, daß eine Duldungspflicht einer Person, die in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, jedenfalls in den Fällen der Varianten B VI, C VI und D VI besteht. Wie aber lautet das Ergebnis in Fällen der Fallvarianten A V und A VI? Bis jetzt steht nur eines fest: Entweder hat F sowohl im Beispiel 1) als auch im Beispiel 3) eine Eingriffsbefugnis oder in keinem Beispiel. Legt man der Entscheidung die ältere Literatur zugrunde und nimmt eine absolute Duldungspflicht an 154, so wäre F weder im Beispiel 1) noch im Beispiel 3) berechtigt, sein Leben auf Kosten der dem W gehörenden ~ücher zu retten. Folgt man der neueren Literatur, lehnt eine absolute Duldungspflicht ab 155 und akzeptiert überdies die Prämisse, die Rechtsgüterabwägung auf fünf mögliche Wertungsstufen zu begrenzen 156, so hätte F in beiden Beispielen rechtmäßig gehandelt. Für eine derartige Begrenzung der Duldungspflicht spricht zum einen ein gesetzessystematisches Argument: Betrachtet man das Fallsystem U l57 , so zeigt sich, daß die Eingriffsbefugnisse bzw. Duldungspflichtenjeder bisher untersuchten Personengruppe relativ sind; d. h. innerhalb jeder der sechs Spalten des Fallsystems U gibt es stets sowohl Fallvarianten, die als rechtmäßig zu beurteilen sind, als auch solche, die als rechtswidrig anzusehen sind. Entscheidend für eine Notstandsbefugnis ist daher stets auch das Ergebnis einer Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter. Führt der Parameter "Rechtsgutsabwägung" zu dem Ergebnis, daß das Rechtsgut, das durch die Notstandshandlung geschützt wird, wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte Rechtsgut, so ist der in einer Notstandslage Handelnde stets befugt, einzugreifen; und zwar sogar dann, wenn die beiden anderen Parameter das Gegenteil indizieren, d. h. wenn der Handelnde erhöht gefahrtragungspflichtig ist und überdies in einer Aggressivnotstandssituation handelt. Zum anderen kann nur dieser Ansatz erklären, warum in Fällen des "sicheren Todes" der Notstandstäter berechtigt sein soll, sich unter Aufopferung fremder Rechtsgüter zu retten.
154 ISS 156 IS7
Siehe Siehe Siehe Siehe
oben oben oben oben
2. 2. 1. 2.
Abschnitt Abschnitt Abschnitt Abschnitt
3. 3. 2. 3.
Kapitel Kapitel Kapitel Kapitel
Ziffer Ziffer Ziffer Ziffer
3 b aa. 3 b aa. 2. 2 d.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
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Ist zu schützendes Rechtsgut das Leben des Gefährdeten und steht dem das Rechtsgut Eigentum gegenüber, so ist in aller Regel davon auszugehen, daß das erstere das letztere wesentlich überwiegt. Dabei darf freilich nicht vergessen werden, daß der Grad der Gefahr, die einem Rechtsgut droht, ein Kriterium ist, das im Rahmen der Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter durchaus von Bedeutung ist. 158 Die Gruppe derjenigen erhöht Gefahrtragungspflichtigen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, denen also eine besondere Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit auferlegt ist, muß also, verglichen mit allgemein Gefahrtragungspflichtigen, Einschränkungen der Befugnisse in Notstandssituationen hinnehmen, die noch über die aufgrund einer speziellen Obhutspflicht erhöht Gefahrtragungspflichtigen hinausgehen. Grund hierfür ist eine umfangreichere, nämlich nicht nur gegenüber Einzelnen, sondern gegenüber der Allgemeinheit bestehende besondere Schutzpflicht. Die der Allgemeinheit gegenüber bestehende Sonderpflicht führt im Ergebnis zu einer Kongruenz der Befugnisse in Aggressiv- und Defensivnotstandssituationen. Der Parameter "Art der Notstandssituation" ist deshalb irrelevant, weil auch die Person, aus deren Sphäre die Notstandsgefahr herrührt, zu der vom erhöht Gefahrtragungspflichtigen in besonderer Weise zu schützenden Allgemeinheit gehört. Andererseits ist die Duldungspflicht nicht schrankenlos, nicht absolut. Zwar ist das Kriterium des vermeintlich "sicheren Todes" unbrauchbar zur Bestimmung der Reichweite der Notstandsbefugnisse, die dieser Personengruppe zustehen; die Annahme einer relativen Duldungspflicht läßt sich jedoch zwanglos mit Hilfe des Parameters "Rechtsgüterabwägung" begründen: Der erhöht Gefahrtragungspflichtige handelt immer dann rechtmäßig, wenn sein Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut. Der Verdeutlichung des Umfangs der Notstandsbefugnisse sowohl der allgemein, als auch der erhöht Gefahrtragungspflichtigen dient das nun komplettierte Fallsystem 11:
158 Insbesondere der Aspekt einer noch abstrakten oder bereits konkreten Gefahr, vgl. dazu Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 27fT.
76
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen Fallsystem n
Menge aller Notstandshandlungen
allgemein gefahrtragungspflichtig
Aggr.- I Def.notstandssituation
erhöht gefahrtragungspflichtig spezielle Obhutspflicht Aggr.- I Def.notstandssituation
besonderes Rechtsverhältnis Aggr.- I Def.notstandssituation
I
II
III
IV
V
VI
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A
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D
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E
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bI
dd) Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Lösungsvorschläge Eine Differenzierung dahingehend, ob der Eintritt des Todes, ex-ante betrachtet, "sicher" oder "nicht sicher" ist, taugt daher, wie oben gezeigt lS9 , nicht zur Bestimmung der Eingriffsbefugnisse erhöht Gefahrtragungspflichtiger in einer Notstandssituation. Das Ergebnis läßt aber auch nicht den Schluß zu, die aufgrund eines bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses erhöht Gefahrtragungspflichtigen hätten keinerlei Notstandsbefugnisse, seien also absolut duldungspflichtig. Die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen sind durchaus in bestimmten Notstandssituationen befugt, einzugreifen, aber nicht deshalb, weil der Eintritt der Notstandsgefahr "sicher" wäre, sondern weil ihr Rechtsgut, also das geschützte Rechtsgut, wesentlich mehr wert ist als das beeinträchtigte Rechtsgut. Der Notstandstäter, der aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses erhöht gefahrtragungspflichtig ist, handelt daher in Fällen der Fallvarianten A V und A VI rechtmäßig. Die hier vertretene Lösung stimmt zwar nicht in ihrer Begründung, wohl aber im Ergebnis mit der der herrschenden Meinung überein. Denn die oben genannten Beispielsfälle eines vermeintlich "sicheren Todes" sind in aller Regel solche, bei denen die Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter, insbesondere unter Berücksichtigung des Grades der Notstandsgefahr, zu dem Ergebnis führt, daß das durch die Notstandshandlung konkret geschützte Rechtsgut 159
Siehe oben 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3 b bb.
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
77
wesentlich mehr wert ist als das beeinträchtigte. Es kann z. B. in dem von Otto gebildeten "Gefreiten-Fall" nicht ernsthaft behauptet werden, das Interesse des G an seinem unmittelbar und konkret bedrohten Leben sei nicht ungleich wertvoller als das Interesse der Allgemeinheit an der Erhaltung der durch Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht lediglich abstrakt l60 bedrohten Wehrkraft l61 • Daher drängt es sich geradezu auf, für die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen einerseits zwar in Defensivnotstandssituationen Einschränkungen ihrer Notstandsbefugnisse anzunehmen 162, ihnen andererseits aber keine absolute Duldungspflicht aufzuerlegen. Das bedeutet, diese Personengruppe handelt sowohl in einer Aggressiv-, als auch in einer Defensivnotstandssituation nur dann rechtmäßig, wenn ihr konkret betroffenes Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das konkret beeinträchtigte. Die hier vertretene Ansicht ist durchaus nicht ohne Vorgänger. Offenbar macht z. B. auch Kuhnt das Bestehen einer Notstandsbefugnis einer in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Person (hier: eines Soldaten) vom Ergebnis einer Rechtsgüterabwägung abhängig: "Einem auf Eingehen einer Notstandslage abzielenden Befehl muß grundsätzlich eine Gefahrtragungspflicht entsprechen. Ein solcher Befehl kann aber keine Gefahrtragungspflicht begründen, wenn der militärische Wert der Befolgung des Befehls hinter dem Umfang der Personengefährdung offenkundig zurücktritt."I63 An anderer Stelle stellt Kuhnt die These auf, daß jedenfalls dann keine erhöhte Gefahrtragungspflicht, m. a. W. keine Duldungspflicht besteht, "wenn der militärische Wert des Unternehmens zu dem anbefohlenen Einsatz offenkundig außer Verhältnis steht."I64 Die Thesen Kuhnts sind bei genauerer Betrachtung mit den hier vertretenen identisch: Einerseits bestimmt auch Kuhnt die Reichweite der Notstandsbefugnisse mit Hilfe einer Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter, wenn er den militärischen Wert der Befehlsbefolgung sowie den Grad der Personengefährdung in die Abwägung einstellt. Andererseits stimmt die Ansicht Kuhnts aber auch hinsichtlich des Umfangs der Notstandsbefugnisse mit der hier vertretenen Meinung überein, daß eine Notstandsbefugnis immer dann besteht, wenn das geschützte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte. Dies ist, so meint Kuhnt, stets dann der Fall, wenn "der militärische Wert des Unternehmens" 165 (also das beeinträchtigte Interesse) "offenkundig außer 160 Der Grad der Notstandsgefahr, insbesondere das Kriterium einer abstrakten oder konkreten Gefahr, ist ein im Rahmen des Parameters "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" relevanter Faktor; vgl. statt vieler Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 27 ff. 161 Die Straftatbestände des WStG schützen "die innere Ordnung und damit die Schlagkraft der Truppe"; so die Begründung zu dem dann Gesetz gewordenen Entwurf eines Wehrstrafgesetzes, BT-Drucksache 11/3040, S. 12. 162 Vgl. die Fallvarianten B VI und C VI. 163 Kuhnt, Pflichten zum Bestehen eines strafrechtlichen Notstandes, S. 93. 164 Kuhnt, a.a.O. (Fn. 163), S. 93. 165 Kuhnt, a.a.O. (Fn. 163), S. 93.
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2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Verhältnis steht"l66 (wesentlich geringwertiger ist) zu dem "Umfang der Personengefährdung" 167 (das geschützte Interesse) 168. Kuhnt bedient sich zwar nicht der in § 34 StGB verwendeten Begrifflichkeit, sondern der des § 228 BGB ("außer Verhältnis stehen"). Es wurde aber bereits dargelegt, wie die Abwägungsklausel des § 228 BGB unter Zugrundelegung der Terminologie des § 34 StGB zu formulieren wäre l69 . 4. Zur Lozierung des Parameters "Gefahrtragungspfficht" im Gesetz Da nun also feststeht, nach welchen Kriterien Notstandstäter als allgemein oder erhöht gefahrtragungspflichtig zu gelten haben und in welchem Umfang die einzelnen Gruppen befugt sind, Notstandshandlungen vorzunehmen, muß zuletzt noch die Frage nach dem dogmatischen Standort der reduzierten Eingriffsbefugnisse beantwortet werden. Dabei stehen sich im wesentlichen zwei gegensätzliche Ansichten gegenüber: Ist eine erhöhte Gefahrtragungspflicht, sei es aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses, sei es aufgrund einer speziellen Obhutspflicht, Bestandteil einer allumfassenden Interessenabwägung im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB, ist § 34 Satz 2 StGB also insoweit überflüssig? Oder ist eine erhöhte Gefahrtragungspflicht ein außerhalb der Interessenabwägung liegendes Kriterium und also Bestandteil der - isoliert betrachtet inhaltsleeren 170 Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB?
Kuhnt, a.a.O. (Fn. 163), S. 93. Kuhnt, a. a. O. (Fn. 163), S. 93. 168 Der gleichen Meinung ist im Hinblick auf Seeleute offenbar auch Schwedes j Franz, Kommentar zum SeemannsG: § 109 Abs. 1 SeemannsG: "Das Besatzungsmitglied ist grundsätzlich verpflichtet, Anordnungen der zuständigen Vorgesetzten zu befolgen." § 109 Abs. 2 SeemannsG macht davon eine Ausnahme, falls durch die Ausführung der Anordnung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen würde. Dazu SchwedesjFranz, § 109 Rdnr. 5: "Als rechtswidrig wird eine Anordnung auch dann anzusehen sein, wenn sie eine so große Gefahr für Leib und Leben des Untergebenen herbeiführt, daß diese Gefahr in keinem Verhältnis zu dem Zweck der Anordnung steht." Das bedeutet aus der Sicht des erhöht gefahrtragungspflichtigen Seemannes: Er ist dann befugt, eine Notstandshandlung vorzunehmen (eine Rechtfertigung aus Notwehrgesichtspunkten scheidet jedenfalls dann aus, wenn der Seemann zur Abwehr der ihm drohenden Gefahr in Rechtsgüter Dritter, d.h. nicht in solche eines befehlenden Vorgesetzten eingreift), wenn seine gefährdeten Rechtsgüter (Leib, ggfs. auch Leben) unverhältnismäßig oder wesentlich wertvoller sind, als die durch die Notstandshandlung beeinträchtigten Rechtsgüter. Die Kommentatoren nehmen also nicht nur eine relative Duldungspflicht der in einem "besonderen Rechtsverhältnis" stehenden Seeleute an; sie stimmen auch hinsichtlich der Reichweite der Notstandsbefugnisse mit der hier vertretenen Ansicht überein. 169 Siehe oben 1. Abschnitt Text zu Fn. 47. 170 Hruschka, Strafrecht, S. 145 bezeichnet die Angemessenheitsklausel zu Recht als "Leerformcl" . 166 167
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
79
a) Lozierung in § 34 Satz 1 StGB Einer der frühesten Vertreter der ersteren Meinung ist Schröder. Er hat sich schon 1961 für eine Streichung der Angemessenheitsklausel in § 39 des Entwurfs 1959/ II ausgesprochen 171. Die Klausel sei überflüssig, da alle relevanten Umstände (insbesondere auch eine erhöhte Gefahrtragungspflicht) bereits im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB zu berücksichtigen seien. Dem hat sich im besonderen Lenckner angeschlossen: "Die Angemessenheitsklausel kann ... ohne Schaden gestrichen werden." 172
b) Lozierung in § 34 Satz 2 StGB Die Gegenansicht, § 34 Satz 2 StGB sei als eine - wie inhaltlich auch immer gestaltete - zweite, selbständige Wertungsstufe anzusehen, hat sich verstärkt im Anschluß an die Ausführungen von Horstkotte im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform 173 herausgebildet. Horstkotte glaubt, insbesondere der Aspekt einer erhöhten Gefahrtragungspflicht (die· er "Sonderverpflichtung"174 nennt) lasse "sich schlecht mit dem Begriff des Interesses einfangen."17s Im Zweiten Schriftlichen Bericht von Mitgliedern des Sonderausschusses 176 heißt es dann auch, daß eine Angemessenheitsklausel nicht überflüssig sei, sondern mit Blick auf erhöht Gefahrtragungspflichtige notwendig erscheint. Vertreter dieser Meinung sind z.B. Stratenwerth 177 , Zipf1 78 , lescheck l79 , Lee 180 sowie Grebing l81 . Letzterer weist zu Recht noch auf folgenden Aspekt hin: "In der stufenweisen Prüfung der Rechtfertigung liegt schließlich auch ein Stück Rationalität und Transparenz der richterlichen Entscheidungsfindung."182 Auf Schröder, in: Festschrift für Eberhard Schmidt, S. 290ff., 293. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 147f.; ders., in: Schönke(Schröder, StGB, § 34 Rdnr. 46. Die Ansicht, die Angemessenheitsklausel des § 34 Satz 2 StGB sei überflüssig, da § 34 Satz 1 StGB eine umfassende Abwägung aller relevanten Umstände vorschreibe, kann als herrschende Meinung bezeichnet werden; vgl. Hirsch, in: LK § 34 Rdnr. 3, 78 ff.: die Bedeutung des § 34 Satz 2 StGB erschöpfe sich in der Funktion einer "Kontrollklausel"; Baumann(Weber, Strafrecht, S. 351: "die Aussagekraft ... ist gering"; derselben Meinung sind Stree, JUS 1973, S. 461 ff., 464; Krey, Der Fall Peter Lorenz, ZRP 1975, S. 97 ff., 98; Küper, JZ 1980, S. 755ff.; zuletzt Bergmann, JUS 1989, S. 109ff., 111. 173 Horstkotte, Prot. V (90. Sitzung), S. 1792ff., 1796f., 1800 f. 174 Horstkotte, a. a. O. (Fn. 173), S. 1797. 175 Horstkotte, a.a.O. (Fn. 173), S. 1797. 176 BT-Drucksache V (4095, S. 15. 177 Strafrecht, S. 144. 178 Maurach(Zipf, Strafrecht, S. 373f. 179 Strafrecht, S. 326. 180 Interessenabwägung und Angemessenheitsklausel im rechtfertigenden Notstand des § 34 StGB, S. 104ff. 181 GA 1979, S. 79ff., 93ff. 182 Grebing, GA 1979, S. 94. 171
172
80
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
diesen Gesichtspunkt wurde schon bei der Bestimmung der Notstandsbefugnisse von allgemein Gefahrtragungspflichtigen hingewiesen 183. Dort wurde auch herausgearbeitet, daß der Parameter "Art der Notstandssituation" gerade kein Bestandteil der Abwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB, sondern ein auf der gleichen logischen Ebene neben dem Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" stehender Faktor zur Bestimmung von Eingriffsbefugnissen in Notstandssituationen ist l84 . Gleiches muß für den Parameter "Art der Gefahrtragungspflicht" gelten. Auch dieser Parameter steht neben der Abwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB und ist infolgedessen kein Bestandteil des § 34 Satz 1 StGB. So wenig der Wert eines Rechtsgutes abhängig ist von der Art der Notstandssituation, so wenig beeinflußt der Aspekt einer allgemeinen oder erhöhten Gefahrtragungspflicht den Wert eines der kollidierenden Rechtsgüter. Dies zeigt im besonderen Maße eine Parallele zu den Handlungspflichten: Niemand käme auf den Gedanken, zu behaupten, daß z. B. das Rechtsgut "körperliche Unversehrtheit" eines speziell Obhutspflichtigen deshalb weniger wert sei, weil er - im Gegensatz zu einem beliebigen Dritten - zur Rettung seines Sohnes, der vom Tod durch Ertrinken bedroht ist, auch dann verpflichtet ist, wenn er sich für den Fall der Rettung der Gefahr einer Lungenentzündung aussetzt. Auch hier ist die GarantensteIlung kein Bestandteil eines etwa relativ zu bestimmenden Rechtsgutes "körperliche Unversehrtheit", sondern ein zusätzlicher Parameter neben dem der konkret betroffenen Rechtsgüter. Der Einwand Roxins, datnit werde die - von ihm als umfassend verstandene Interessenabwägung zu einer abstrakten Güterabwägung denaturiert 185, greift nicht durch. Die Lozierung der Parameter "Art der Notstandssituation" und "Art der Gefahrtragungspflicht" außerhalb der Abwägungsklausel des § 34 Satz 1 StGB bedeutet nämlich nicht, daß im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB nur noch eine Abwägung abstrakter Rechtsgüter stattfinden würde. Vielmehr müssen in die Abwägung des § 34 Satz 1 StG B, wie schon ausgeführt, die konkret betroffenen Rechtsgüter 186 eingestellt werden. 187 Ist aber der Parameter "Art der Gefahrtragungspflicht" kein Bestandteil der Interessenabwägung des § 34 Satz 1 StGB, so wäre es auf den ersten Blick nur konsequent, ihn in der Angemessenheitsklause1 des § 34 Satz 2 StGB anzusiedeln.
Siehe oben 1. Abschnill 2. Kapitel Zirkr I b bb. So schon explizit Hruschka, Strafrecht, S. 176 ff., 178. 185 So Roxin, in: Festschrift für lescheck, S.464f. 186 Insbesondere auch unter Berücksichtigung des Grades der ihnen drohenden Gefahren. 187 So schon lange vor der Kodifikation des § 34 StGB; vgl. Merkei, Die Kollision rechtmäßiger Interessen, S. 78f. 183
184
3. Kap.: Der deontische Status der Fallvarianten III bis VI
81
c) Konsequenzen aus dem Fallsystem II für die Lozierung einer erhöhten Gefahrtragungspflicht
Nun hat die Untersuchung der Notstandsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen jedoch zu dem Ergebnis geführt, daß diese in ihrem Umfang mit den Befugnissen der Gruppe der allgemein Gefahrtragungspflichtigen insoweit übereinstimmen, als es sich um Aggressivnotstandssituationen handelt 188. Eine erhöhte Gefahrtragungspflicht, deren dogmatischer Ort grundsätzlich § 34 Satz 2 StGB wäre, schlägt sich in diesen Fällen gerade nicht in reduzierten Notstandsbefugnissen nieder. § 34 Satz 2 StGB läuft gewissermaßen leer 189. Allerdings haben erhöht Gefahrtragungspflichtige Einschränkungen ihrer Notstandsbefugnisse, verglichen mit denen allgemein Gefahrtragungspflichtiger, hinzunehmen, soweit es um Notstandshandlungen in Defensivnotstandssituationen geht 190 • Da nach der hier im Anschluß an Hruschka vertretenen Ansicht für Handlungen in Defensivnotstandssituationen eine allgemeine Defensivnotstandsbefugnis neben § 34 StGB Platz greift 191 , muß dieser Rechtfertigungsgrund (und nicht etwa § 34 StGB) mit einer Klausel versehen werden, die die Reduzierung der Notstandsbefugnisse umschreibt. Eine solche Klausel müßte etwa lauten: "Der Täter handelt trotz Vorliegen der Voraussetzungen der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis dann nicht rechtmäßig, wenn er a) speziell obhutspflichtig ist und das beeinträchtigte Rechtsgut das geschützte Rechtsgut schlicht überwiegt oder b) in einem besonderen Rechtsverhältnis steht und es nicht der Fall ist, daß das geschützte Rechtsgut wesentlich mehr wert ist als das beeinträchtigte Rechtsgut. " 5. Zusammenfassung des 3. Kapitels Ist der in einer Notstandssituation Handelnde erhöht gefahrtragungspflichtig, so hat er, verglichen mit allgemein Gefahrtragungspflichtigen, nur reduzierte Notstandsbefugnisse. Ist er Einzelnen gegenüber speziell obhuts- oder sonderpflichtig, so stehen ihm in Aggressivnotstandssituationen Befugnisse im gleichen Umfang wie den allgemein Gefahrtragungspflichtigen zu. Er ist im besonderen dann nicht 188 V gl. einerseits die Fallvarianten A I bis E I, andererseits die Fallvarianten A 111 bis E III sowie A V bis E V. 189 Zur Bedeutung des § 34 Satz 2 StGB ausführlich Grebing, GA 1979, S. 79ff. 190 V gl. zum einen die Fallvarianten B II bis D II, zum anderen die Fallvarianten D IV sowie B VI bis D VI. 191 Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2.
6 Luger!
82
2. Abschn.: Eingriffsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
verpllichtet, die Notstandsgefahr zu dulden, wenn sein konkret betrotTenes Rechtsgut wesentlich mehr wert ist als das seiner Obhut anvertraute Rechtsgut. In einer Defensivnotstandssituation hat er, im Gegensatz zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen, stets dann keine Eingriffsbefugnis, ist vielmehr duldungspflichtig, wenn sein Rechtsgut schlicht geringwertiger ist als das ihm anvertraute Rechtsgut 192 • Dies resultiert aus einer Verallgemeinerung des Rechtsgedankens, der der Regelung des § 218 a Abs. 1 StGB zugrundeliegt sowie der in Anlehnung daran von der herrschenden Meinung vertretenen Lösung der "Perforationsfälle". Ist der Notstandstäter hingegen der Allgemeinheit gegenüber in besonderer Weise pflichtig, steht er mit den Worten des Gesetzes in einem "besonderen Rechtsverhältnis" , ist der Parameter "Art der Notstandssituation" zur Bestimmung der Reichweite der Notstandsbefugnisse irrelevant, weil eine solche Sonderpflicht gegenüber allen und das heißt gerade auch gegenüber demjenigen, aus dessen Sphäre die Notstandsgefahr herrührt, besteht. Allerdings sind auch diese Personen nicht zur Duldung jeder Notstandsgefahr verpflichtet; auch sie sind dann befugt, einzugreifen, wenn ihr Rechtsgut wesentlich mehr wert ist als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut. Die Befugnisse in Aggressivnotstandssituationen sind daher identisch mit den Befugnissen der allgemein Gefahrtragungspflichtigen sowie denjenigen erhöht Gefahrtragungspflichtiger, die einer speziellen Obhutspflicht unterliegen. In Defensivnotstandssituationen bestehen Eingriffsbefugnisse wegen der Irrelevanz des Parameters "Art der Notstandssituation" in gleichem Umfang wie in Aggressivnotstandssituationen. Dogmatischer Standort des Parameters "Art der Gefahrtragungspflicht" ist nicht - ebensowenig wie der des Parameters "Art der Notstandssituation" § 34 Satz 1 StGB, weil der Wert der konkret betroffenen Rechtsgüter weder von der Art der Notstandssituation noch von einer bestimmten Gefahrtragungspflicht abhängig ist. In Rede steht daher eine Lozierung des Parameters "Art der Gefahrtragungspflicht" in § 34 Satz 2 StGB. Da jedoch die Eingriffsbefugnisse allgemein und erhöht Gefahrtragungspflichtiger in Aggressivnotstandssituationen identisch sind, bedarf es einer solchen Einschränkung nicht. Jedoch ist die allgemeine Defensivnotstandsbefugnis mit einer Klausel zu versehen, die die soeben herausgearbeiteten Einschränkungen beschreibt.
192
Fallvariante
1)
IV.
3. Abschnitt
Zur Entschuldigung von Handlungen allgemein Gefahrtragungsptlichtiger im Notstand Auch an diese Aufgabe kann sinnvoll erst dann herangegangen werden, wenn die Gesamtheit all derjenigen Fälle feststeht, die relevant sind. Dabei wird sich im folgenden herausstellen, daß nicht jeder Fall, der Element der Menge aller Notstandshandlungen ist, gleichzeitig im Rahmen des § 35 StGB relevant ist.
1. Kapitel
Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem BI 1. Die "qualifizierte Notstandsbandlung"
Notwendige Voraussetzung für die Zugehörigkeit einer beliebigen Handlung zur Menge aller Notstandshandlungen war, daß eine Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut und diese für den Handelnden selbst oder einen beliebigen Dritten besteht. Demgegenüber setzt die Zugehörigkeit einer Handlung zur Menge der im Rahmen des § 35 StGB relevanten Fälle voraus, daß eine Gefahr zum einen für Leben, Leib oder Freiheit und zum anderen für den Handelnden, einen Angehörigen oder für eine andere, dem Handelnden nahestehende Person besteht. Dieser Differenz wird im folgenden Rechnung getragen durch die Einführung des Begriffs der "qualifizierten Notstandshandlung" 1 , die wie folgt zu definieren ist: Eine qualifizierte Notstandshandlung ist eine Handlung in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit zur Abwehr dieser Gefahr vom Handelnden, einem Angehörigen oder einer sonst dem Handelnden nahestehenden Person. Der Begriff der "qualifizierten Notstandshandlung" - im Gegensatz zu dem der "einfachen Notstandshandlung"2 - ist deshalb gewählt worden, weil jene gegenüber den einfachen Notstandshandlungen in zweierlei Hinsicht qualifIZiert ist: N otwendige Voraussetzung für eine qualiflZierte Notstandshandlung ist zum einen eine für Leben, Leib oder Freiheit, also für ein qualifiziertes Rechtsgut bestehende 1 Der hier verwendete Begriff der "qualifizierten Notstandshandlung" wurde in Anlehnung an den von Oetker verwendeten Begriff der "qualifizierten Not" gewählt; vgl. Oetker, in: Festschrift für von Frank, Bd. I, S. 361. 2 Nur zur KlarsteIlung: Jedes Element der Menge aller Notstandshandlungen ist eine "einfache Notstandshandlung".
6*
84
3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Gefahr. Nicht ausreichend ist dagegen eine Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut 3 • Zum anderen zeichnet sich eine qualifizierte Notstandsgefahr dadurch aus, daß sie eine Bedrohung für den Handelnden selbst, einen Angehörigen oder sonst eine dem Handelnden nahestehende Person, m. a. W. für einen qualifizierten Personenkreis darstellt. Demgegenüber setzt eine einfache Notstandshandlung lediglich eine Gefahr voraus, die entweder Rechtsgüter des Handelnden oder die eines beliebigen Dritten bedroht. Aus der Definition der Menge der qualifizierten Notstandshandlungen läßt sich ableiten, daß diese Menge eine Teilmenge der Menge aller Notstandshandlungen ist. Denn es gilt: Jede Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut (Leben, Leib oder Freiheit) ist notwendig auch eine Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut; ebenso ist der in § 35 Abs.1 Satz 1 StGB beschriebene Personenkreis ein Ausschnitt der von § 34 Satz 1 StGB erfaßten Personen.
2. Die rechtswidrige "qualifIZierte Notstandshandlung" Festzuhalten ist weiter, daß für die Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen in bezug auf die Beurteilung von Handlungen als rechtmäßig bzw. rechtswidrig dasselbe gilt wie für die Menge aller Notstandshandlungen: Der deontische Status einer Handlung ist für die Frage ihrer Zugehörigkeit zur Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen ohne Bedeutung, d.h. die Menge enthält als Teilmengen sowohl die als rechtmäßig, als auch die als rechtswidrig zu beurteilenden Notstandshandlungen. Jedoch stellt sich die Frage eines Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe nur für solche Elemente, die als rechtswidrig beurteilt werden 4 . Daher reduziert sich die Zahl der Fallvarianten aus dem Fallsystem I, die im folgenden untersucht werden müssen, um die Fallvarianten A I sowie B I bis B IV5. Zurechnungsrelevant auf der 2. Stufe sind daher nur noch die Fälle der Varianten AlIbis A V sowie B V. Zur Erinnerung das insoweit modifizierte Fallsystem I ("gI" = geschütztes Interesse; "bI" = beeinträchtigtes Interesse; ,,#" = die Fallvariante ist zurechnungsrelevant; ,,/" = die Fallvariante ist nicht zurechnungsrelevant; ,,»" 3 Anders bei den "einfachen Notstandshandlungen", vgl. § 34 Satz 1 StGB: "oder ein anderes Rechtsgut" . 4 Es ist deshalb offensichtlich, daß die Frage nach der Reichweite des Zurechnungsausschlusses bei Notstandshandlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen zusammen mit der Frage nach dem Umfang ihrer Notstandsbefugnisse beantwortet werden muß, da die letztere der ersteren logisch vorgeht. So z. B. Bernsmann, in: Festschrift für Blau, S. 24: "Jede Beschäftigung mit dem ,entschuldigenden Notstand' setzt voraus, daß Klarheit darüber besteht, wo der Spielraum der ,Rechtfertigung' endet und damit der potentielle Einzugsbereich des § 35 Abs. 1, der eine ,rechtswidrige' Tat verlangt, beginnt." Da jedoch eine derartige "Klarheit" nicht besteht, wie insbesondere im 2. Abschnitt deutlich geworden ist, verwundert es umso mehr, daß die Reichweite der Notstandsbefugnisse und die Reichweite des Zurechnungsausschlusses von erhöht Gefahrtragungspflichtigen bisher, soweit ersichtlich, noch nicht zusammenhängend untersucht worden sind. S Vgl. Fallsystem loben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2.
1. Kap.: Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem III
85
überwiegt wesentlich; ,,>" überwiegt schlicht; ,,=" sind gleichwertig; ,,(" schlicht geringwertiger; ,,«" wesentlich geringwertiger): Fallsystem III Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen
Aggressiv-
Defensivnotstandssituation
gI» bI
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/
gI > bI
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= bI gI < bI gI gI
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bI
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2. Kapitel
Zum Begriff der "Zumutbarkeit" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB Nun ist nach dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB die Zurechnung einer reclitswidrigen qualifizierten Notstandshandlung zur Schuld stets ausgeschlossen. GleichzeitighatderGesetzgeberin§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGBAusnahmen von dieser Regel vorgesehen. Die Zurechnung einer beliebigen rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlung zur Schuld findet mit den Worten des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB statt, "soweit dem Täter nach den Umständen, ... , zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen." Entscheidend in diesem Zusammenhang ist der Begriff "zumuten", denn von der Bejahung bzw. der Verneinung der Zumutbarkeit hängt die Entscheidung über den Zurechnungsausschluß letztlich ab. Daher gilt es, diesen Begriff zuerst einmal etymologisch auszuleuchten. Die einschlägige Stelle im Grimmschen Wörterbuch 6 unterscheidet zwei verschiedene Bedeutungen von "zumuten": "zuschreiben" (imputare) oder "zutrauen" (praesumere) und "etwas von einem verlangen, dasz er etwas thue", "denken, dasz jemand etwas, was uns gefällt, thun müsse". 1. "Zumuten" heißt "verlangen können"
Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, daß der Begriff "zumuten" im Sinne von "das, was verlangt", d. h. "das, was gefordert werden kann", verstanden werden muß. Von dieser Wortbedeutung ist offensichtlich z. B. auch der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform 7 ausgegangen. Ist diese Bedeutung des Begriffs "zumuten" aber richtig, kann eine rechtswidrige qualifIZierte Notstandshandlung dann zur Schuld zugerechnet werden, wenn vom Handelnden verlangt werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. Nimmt der Handelnde jedoch die Gefahr hin, so verzichtet er notwendig auf die Vornahme der in Rede stehenden qualifizierten Notstandshandlung. Denn es ist vorausgesetzt, daß die Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm, Bd. 32, Stichwort "zumuten". Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1844 u.ö. weist dem Begriff Zumutbarkeit eine "regulative Funktion" zu. Er knüpft damit an die These Henkels, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S.249ff. an, der in seinem berühmt gewordenen Aufsatz zu dem Ergebnis kommt, der Begriff Zumutbarkeit sei "nicht normativer Begriff, sondern regulatives Prinzip" (S. 304). Offen bleibt jedoch sowohl bei Horstkotte als auch bei Henkel der Umfang des Regelungsbereichs. Auch Bernsmann, Entschuldigung, S. 403 gesteht zu, "umgangssprachlich deutet der Begriff der ,Zumutbarkeit' ... auf ein (Ertragen-)Können ... hin". 6
7
2. Kap.: Zum Begriff der ,,zumutbarkeit" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB
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Gefahr nicht anders als durch Vornahme gerade dieser Notstandshandlung abgewendet werden kann. Dann aber ist im Ergebnis jede rechtswidrige Handlung, die Element der Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen ist, und deren Unterlassung vom Handelnden verlangt werden kann, geeignet, zur Schuld zugerechnet zu werden. Oder anders formuliert: Nur diejenigen Handlungen, deren Unterlassung nicht verlangt werden kann, sind nicht zur Schuld zurechenbar. Gleichzeitig wird die Frage eines eventuellen Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe nur bei rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen aktuell. Das Rechtswidrigkeitsurteil ist nun aber äquivalent mit der Feststellung, daß der jeweils Handelnde bei Vornahme einer beliebigen Handlung die korrespondierende Unterlassungspflicht verletzt hat. Von einer Pflichtverletzung kann jedoch sinnvoll nur dann gesprochen werden, wenn eine Pflicht besteht, deren Erfüllung verlangt werden kann und im konkreten Fall auch verlangt wird. Eine Pflicht kann aber nur so weit reichen, wie der Pflichtige aufgrund seines Leistungsvermögens in der Lage ist, diese zu erfüllen, denn: "impossibilium nulla obligatio est"s. Die Kumulation der beiden, soeben herausgearbeiteten Prämissen mündet in einen unauflöslichen Widerspruch: Prämisse 1): In bezug auf die Vornahme einer rechtswidrigen Handlung gilt: Es gibt eine Unterlassungspflicht, deren Erfüllung vom Handelnden verlangt wird und von ihm auch verlangt werden kann, ohne gegen den Grundsatz "impossibilium nulla obligatio est" zu verstoßen. Prämisse 2): Zurechnungsgeeignet sind diejenigen rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen, deren Unterlassung "zumutbar" ist, und das heißt in unserem Zusammenhang diejenigen, die vom virtuell Handelnden verlangt werden können. Da die Feststellung der Rechtswidrigkeit im Falle der Vornahme einer beliebigen Handlung das Recht impliziert, ihre Unterlassung zu verlangen, muß dies im besonderen auch für rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlungen gelten. Dann aber ist jede rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlung zur Schuld zurechenbar; denn mit dem Rechtswidrigkeitsurteil steht bereits fest, daß die Unterlassung der qualifizierten Notstandshandlung verlangt werden kann. Das aber zwingt zu der Schlußfolgerung, daß keine rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen denkbar sind, deren Zurechnung zur Schuld gemäß § 35 Abs. 1 StGB ausgeschlossen ist; jeder Fall des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB ist gleichzeitig ein Fall des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB; ein offensichtlich unsinniges Ergebnis. Wir haben es hier mit einem typischen "argumentum ad absurdum"9 zu tun, das die Unrichtigkeit jedenfalls einer der beiden Prämissen impliziert. Da der Begriff der Rechtswidrigkeit äquivalent ist mit der Verletzung einer der So schon Celsus in den Digesten 50.17.185. Zum "argurnenturn ad absurdum" als einem speziellen Argument der juristischen Logik vgl. Klug, Juristische Logik, S. 151f. 8 9
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Vornahme der Handlung entgegenstehenden Pflicht, bleibt nur übrig anzunehmen, daß Prämisse 2) falsch ist. Es geht im Rahmen des § 35 StOB, jedenfalls dann, wenn man ihn als Entschuldigungsgrund und damit als Zurechnungsregel versteht 10, gerade nicht um die Zumutbarkeit der Unterlassung einer qualifizierten Notstandshandlung, d. h. um die Aufstellung oder die Reichweite von Pflichten, sondern um die Zurechnung einer Notstandshandlung, deren Unterlassung zumutbar ist und auch zugemutet wird l l . Die Erkenntnis, daß ein derart verstandener Begriffvon Zumutbarkeit in eine Zurechnungsregel bruchlos nicht integriert werden kann, ist keineswegs neu. Sowohl von Beling 12 als auch Oetker 13 haben schon auf die entstehenden Ungereimtheiten hingewiesen. Ersterer zieht daraus auch die notwendigen Konsequenzen 14: "Der Oesetzgeber lS wird also zu entscheiden haben: Entweder Beibehaltung der Formel von ,nicht zumuten' - dann ist Ausschluß der Rechtswidrigkeit erklärt ... Oder Ausprägung des Notstandes (wenn nicht, was auch noch zu erwägen wäre, als Schuldausschließungsgrund oder als sachlichen 10 Und aufgrund seines Wortlauts "ohne Schuld handelt" wohl auch verstehen muß, da andernfalls auch die Differenz von gerechtfertigter und entschuldigter Notstandshandlung verschwindet. 11 Deshalb muß auch Landgraf, Die "verschuldete" verminderte Schuldfähigkeit, S. 48 widersprochen werden, der - überdies unter fälschlieher Bezugnahme auf Hruschka behauptet, § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB sei "Einfallspforte für Zumutbarkeitserwägurlgen." Ein paralleles Problem stellt sich im Rahmen des § 323 c StGB: Dort wird der Begriff der Zumutbarkeit zum Teil schon als Kriterium zur Begrenzung der Hilfeleistungspflicht (Hruschka, Strafrecht, S.92f.; Geilen, JURA 1983, S. 138ff., 145; FreIlesen, Die Zumutbarkeit der Hilfeleistung, S. 209ff.; Lackner, StGB, § 323 c Nr. 4; vgl. auch BGHSt 17, S. 166 ff., 170: Die Hilfeleistungspflicht sei durch den "zum Tatbestand des § 330 c StGB [a. F. jetzt: § 323 c StGB] gehörenden Begriff der Zumutbarkeit" beschränkt), zum Teil als Entschuldigurlgsgrund (so Warda, in: Festschrift für Lange, S. 119 ff., 126; Welzel, Strafrecht, S.473; Dreher jTröndle, StGB, § 323 c Rdnr. 10), teils aber auch als beiden Kategorien zugehörend verstanden (Rudolphi, in: SK § 323 c Rdnr. 24). Nun setzt eine Lozierung der "Zumutbarkeit" im Bereich der Zurechnung zur Schuld aber die Existenz von Fällen voraus, die dadurch ausgezeichnet sind, daß dem Täter eine Handlungspflicht auferlegt ist, obwohl ihm die Hilfeleistung unzumutbar ist; ein Ergebnis, das offensichtlich mit dem Satz "impossibilium nulla obligatio est" kollidiert. Daher bleibt nur übrig anzunehmen, daß der Begriff der Zumutbarkeit ein Kriterium zur Begrenzung der Handlungspflicht ist und also gerade nicht im Bereich der Zurechnung auf der 2. Stufe relevant ist. 12 Von Beling, GS Bd. 91 (1925), S. 348ff., 364: "Die Notstandshandlung soll nach § 22 [des Entwurfes zum StGB 1925; er entspricht dem heutigen § 35 StGB; Anm. des Verf.] insoweit nicht strafbar sein, als dem Handelnden ihre Unterlassung ,nicht zuzumuten' war. Nun gibt es vielleicht keinen Ausdruck, der das Nichtrechtswidrigsein anschaulicher vor Augen stellte, als der Ausdruck: es werde ihm dies und das nicht zugemutet." 13 Oetker, in: Festschrift für von Frank, Bd. I, S. 383: "Was das Recht nicht zumutet, kann es aber nicht zugleich gebieten." 14 Von Beling, GS Bd. 91 (1925), S. 365. IS Von Beling meint damit den Gesetzgeber des Jahres 1925. Sein Appell ist jedoch heute nicht weniger aktuell und berechtigt als 1925.
2. Kap.: Zum Begriff der ,.zumutbarkeit" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB
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Strafausschließungsgrund) als bloßen persönlichen Strafausschließungsgrund, und dann Ersetzung der Wendung von ,nicht zumuten' durch eine andre." 2. "Zumuten" heißt "zuschreiben", "zutrauen" Kann der Begriff "zumuten" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB aber nicht als "das, was verlangt werden kann" verstanden werden 16 , so steht die zweite mögliche Bedeutung des Begriffs "zumuten" zur Disposition. Ersetzt man "zumuten" durch "zutrauen" bzw. "zuschreiben"l1, so ergibt dies zwar einen semantisch sinnvollen Satz, trägt jedoch nichts zur Beantwortung der Frage bei, welche rechtswidrigen qualifIZierten Notstandshandlungen geeignet sind, zur Schuld zugerechnet zu werden und welche nicht.
16 Der Meinung ist dezidiert Hruschka, Strafrecht, S. 280ff.; ähnlich auch Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor§§ 32 ff. Rdnr.110; Schnlldhäuser, Studienbuch, S. 238 Rdnr. 9; Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 203. 17 Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm (Fn. 6).
3. Kapitel
Zur "ratio" des entschuldigenden Notstandes Wie ist § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB aber dann zu verstehen? Warum können bestimmte rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlungen zur Schuld zugerechnet werden, andere aber nicht? Der Frage nach der Bedeutung der Ausnahmeregel geht notwendig die Frage nach der ratio des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe bei Vornahme einer rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlung vor. Warum geht der Gesetzgeber von der Existenz von qualifizierten Notstandshandlungen aus, die, obwohl sie als rechtswidrig beurteilt worden sind, dennoch nicht zur Schuld zugerechnet werden, d. h. verzeihlich und damit im Ergebnis straflos sind? Der Wortlaut des § 35 StGB ist - wie soeben gezeigt - alles andere als ergiebig 18 . Daher bleibt nur der Rekurs auf die "theoretischen" Begründungsansätze übrig. 1. Die Theorie des "psychischen Drucks"
a) Inhalt Grund für die Schaffung des § 35 Abs. 1 StGB war nach dem Willen des historischen Gesetzgebers die Annahme, von einem schuldhaften Verhalten könne nur dann gesprochen werden, wenn "die begleitenden Umstände der Tat nonnal gewesen sind, so daß der Täter zu einer nonnalen Motivierung in der Lage gewesen ist. Diese Möglichkeit entfällt im Notstand deswegen, weil die äußerlichen Umstände abnonn sind, mithin auch der Motivationsdruck, der auf dem Täter lastet, außergewöhnlich ist."19 Dieser, von Timpe 20 als Theorie des "psychischen Drucks" bezeichnete Erklärungsansatz findet seine Grundlagen und seine Ausgestaltung in der Anfang dieses Jahrhunderts entwickelten "nonnativen Schuldlehre"21 und im besonderen in der Erklärung der Entschul18 Bemsmann, Entschuldigung, S. 100, stellt ganz richtig fest: "Mit dem Wortlaut kann man hier entweder so gut wie nichts oder alles anfangen." 19 Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1840; ihm zustimmend Stree, Rechtswidrigkeit und Schuld, S. 34ff., 55f. 20 Strafmilderungen des AT, S. 277. 21 Begründer der "normativen Schuldlehre" war wohl von Frank, der in seiner Abhandlung "Über den Aufbau des Schuldbegriffs", S. 519ff. einerseits "Schuld" als "Vorwerfbarkeit" definiert hat (S.529), andererseits "Vorwerfbarkeit" aber nur dann bejaht, wenn der Täter zurechnungsfähig ist und "die normale Beschaffenheit der Umstände, unter welchen der Täter handelt", hinzukommt (S. 530). Daher ist eine Tat zur Schuld dann nicht zurechenbar, wenn die äußeren Umstände abnorm sind.
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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digungsgfÜnde als Fälle normativer Unzumutbarkeit. Nun ist jedoch die Konturlosigkeit der Begriffe "Zumutbarkeit" bzw. "Unzumutbarkeit" schon seit Henkels Ausführungen zur "Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip"22 offen zutage getreten. Darüber hinaus ist der Begriff der "Zumutbarkeit" auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld jedenfalls in seiner im allgemeinen Sprachgebrauch verwendeten Bedeutung als "semantisch sinnlos"23 erkannt worden. b) Kritik
Aber auch losgelöst vom Begriff der "Zumutbarkeit" vermag die Theorie des "psychischen Drucks" die Regelung des entschuldigenden Notstandes jedenfalls in zweierlei Hinsicht nicht ausreichend zu erklären: Zum einen ist unplausibel, warum der Notstandstäter nur dann entschuldigt ist, wenn die qualifizierte Notstandslage objektiv vorliegt 24 oder wenn der Täter unvermeidbar irrig eine solche Notstandslage angenommen hat 2S . Denn auch in den Fällen eines vermeidbaren Irrtums ist der Täter zum Zeitpunkt der Vornahme der qualifizierten Notstandshandlung dem gleichen außergewöhnlichen Motivationsdruck ausgesetzt wie im Falle einer tatsächlichen Notstandssituation. Behandelt der Gesetzgeber jedoch Notstands- und Putativnotstandsfalle unterschiedlich, so kann die Theorie des "psychischen Drucks" allein jedenfalls nicht als hinreichende Erklärung des § 35 StGB angesehen werden 26 . Goldschmidt stellt dann in seinem Aufsatz "Nonnativer Schuldbegriff", S. 428ff. den Zusammenhang zwischen einem abnonnen Motivationsdruck und dem Begriff der Zumutbarkeit her: "Danach ergibt sich, daß ... die ,anonnale Motivierung' die alleinige Voraussetzung der Unzumutbarkeit ist". Diese - nonnativ zu verstehende - Schuld bestimmt dann ihrerseits "den materiellen Gehalt der Schuld"; so Schaffstein, Die Nichtzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund, S. 7; so z. B. auch Freudenthai, Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht, S. 22ff., 24. Zur Geschichte der "nonnativen Schuldlehre" vgl. die ausführliche Darstellung bei Achenbach, Schuldlehre, S. 97ff. 22 Zweifel an der Tauglichkeit des Begriffs der Zumutbarkeit im Zusammenhang mit § 35 StGB haben in neuerer Zeit auch Jescheck, Strafrecht, S.430 sowie Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 171 ff., 173 und Achenbach, JR 1975, S.492ff. geäußert. Deutlicher wird Bernsmann, Entschuldigung, S.109ff. Er bezeichnet den Begriff der Zumutbarkeit in § 35 StGB zu Recht als "black box"(S. 130). 23 Hruschka, Strafrecht, S. 282. 24 Vgl. § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB. 2S Vgl. § 35 Abs. 2 StGB. 26 So ausführlich bei Timpe, Strafmilderungen des AT, S. 280ff.; konsequent insoweit die Autoren des sogenannten Alternativ-Entwurfes 1966 (AE), die mit der Begründung, "für die Frage, ob der Täter entschuldigt ist, kommt es immer nur auf die psychische Zwangssituation an, in der er sich befindet, und diese ist die gleiche, ob er die Gefahrenlage zu Recht oder irrtümlich, sei es auch schuldhaft, annimmt", eine subjektive Fassung der Regelung des entschuldigenden Notstandes in § 23 AE vorgeschlagen haben: "wer eine rechtswidrige Tat begeht, um ... abzuwenden" (so BaumannjBrauneckjHanackju.a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, S. 58f.).
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Aber auch die Ausnahmevorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB bleibt im System der Theorie des "psychischen Drucks" ein Fremdkörper. Denn die äußerlichen Umstände sind nicht weniger abnorm, der Motivationsdruck, der auf dem Täter lastet, ist nicht weniger außergewöhnlich, wenn der Notstandstäter in einem besonderen Rechtsverhältnis steht oder für die Notstandsgefahr bzw. -lage 27 verantwortlich 28 ist. So haben z. B. ein Matrose oder derjenige Passagier, der für den Untergang eines Schiffes verantwortlich ist, nicht weniger Angst, ertrinken zu müssen, als ein beliebiger anderer Passagier. Dennoch wären beide nach dem Wortlaut des § 35 Abs.l Satz 2 StGB nicht entschuldigt, wenn sie sich auf Kosten eines unbeteiligten Passagiers einen Platz in einem Rettungsboot sichern würden. Und zum dritten: Auch die Beschränkung auf die Rechtsgüter Leben, Leib und Freiheit kann auf der Basis einer nur "psychologischen Deutung"29 des § 35 StGB nicht plausibel erklärt werden. Es sind nämlich durchaus Gefahren für Sachgüter denkbar, die denselben Motivationsdruck auslösen wie eine Gefahr für ein von § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB für beachtlich erklärtes Rechtsgut; so insbesondere dann, wenn es um den drohenden Verlust von überaus wertvollen oder knappen Sachgütern geht. 2. Die Theorie der "doppelten Schuldminderung"
a) Inhalt Die wohl als herrschend zu bezeichnende Ansicht nimmt demgegenüber an, daß der Grund für den Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe bei qualifizierten Notstandshandlungen ein zweifacher ist: Es trifft in diesen Fällen, so die Vertreter dieser Ansicht, ein Unrechtsminderungsgrund, der sich in einem Schuldminderungsgrund niederschlägt, mit einem weiteren, davon zu unterscheidenden Schuldminderungsgrund zusammen 30 • Kaufmann 31 war schon Verblüffend ist, daß vom Sonderausschuß der mit einer objektiven Fassung des § 35 StGB verbundene Bruch mit der von eben diesem Ausschuß für richtig gehaltenen Theorie des "psychischen Drucks" durchaus gesehen wurde. So z. B. Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1848: "Man könnte sagen, daß derjenige, der den Irrtum verschuldet hat, unter demselben Motivationsdruck handeln mag wie deljenige, der schuldlos zu einer solchen Fehlvorstellung gekommen ist." 27 Zur Frage, ob es auf die Verursachung nur der Notstandsgefahr oder der Notstandssituation, d.h. der Kollision der Rechtsgüter, ankommt, vgl. statt vieler Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 20. 28 Es wird absichtlich der von Jakobs verwendete Begriff der Verantwortlichkeit gewählt, um die in diesem Zusammenhang nicht weiter interessierende Streitfrage offen zu lassen, wie der Begriff "verursachen" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StG B auszulegen ist; ausführlich zum Streitstand Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 49 sowie Bemsmann, Entschuldigung, S. 113 ff. 29 Der Begriff stammt von Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, Vor§§ 32ff. Rdnr. 111. 30 Vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, Vor §§ 32ff. Rdnr. 111 m. w. N.; Hirsch, in: LK Vor §§ 32ff. Rdnr. 183 m. w. N.
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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1954 der Ansicht, daß der Unwert einer Notstandshandlung "bedeutend geringer"32 sei, als der "durchschnittliche Aktunwert des betreffenden Deliktes". "Da aber der Grad der Vorwerfbarkeit von der Intensität des Aktunwertes (mit-) bestimmt wird, ist in diesem Falle der erhebbare Vorwurf so gering, daß er in praxi unberücksichtigt bleibt. "33 Kaufmann meint, der Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe sei Resultat der Kumulation zweier Schuldminderungsgründe, "einer, der aus einer Unrechtsminderung erwächst und ein anderer, der die Motivationslage berücksichtigt. "34 Das Handlungs- (oder Akt-) unrecht sei deshalb gemindert, weil in einer Notstandssituation vom Handelnden jedenfalls eines der kollidierenden Rechtsgüter gerettet werde und dies sich auch in einem reduzierten Schuldvorwurf widerspiegele; der originäre Schuldminderungsgrund sei demgegenüber in der Respektierung des Selbsterhaltungstriebes des Notstandstäters zu sehen.
b) Kritik Zweifelhaft ist schon, ob ein reduziertes Handlungsunrecht notwendig zu einer Schuldminderung führt, ob also ein Zusammenhang zwischen einem geringeren Unrecht und einem weiter gehenden Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe besteht. Jedenfalls dann, wenn man "Schuld" im Rahmen der §§ 17, 20, 35 StGB nicht in der in § 46 Abs. 1 StGB vorausgesetzten Bedeutung versteht, sondern als "Vorwerfbarkeit"35 , fällt die Begründung eines Konnexes zwischen Gründen, die das Unrecht mindern oder ausschließen, und Gründen, die die Zurechnung 2. Stufe ausschließen, schwer 36 . Darüber hinaus ist dieser Ansatz weiteren, nicht weniger erheblichen Einwänden ausgesetzt. So hat z. B. Jakobs 37 zu Recht darauf hingewiesen, daß auf der Basis der Theorie der "doppelten Schuldminderung" bruchlos nicht erklärt werden kann, warum der Aspekt der Unrechtsminderung dann nicht zu einer Schuldminderung führt, wenn die Tat nicht zugunsten des Täters selbst, eines Angehörigen oder einer sonst dem Täter nahestehenden Person, sondern zugunsten eines beliebigen Dritten vorgenommen wird. Denn der Unrechtsminderungsgrund resultiert aus der mit der Notstandshandlung notwendig verbun31 Lebendiges und Tettes in Bindings Normentheorie, S. 204f.; ders., Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 156ff. 32 Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 205. 33 Kaufmann, a.a.O. (Fn. 32), S. 205. 34 Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 158. 35 Zur Definition von "Schuld" als "Vorwerfbarkeit" vgl. von Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, S.529; siehe dazu auch BGHSt 2, S. 194ff., 200: "Schuld ist Vorwerfbarkeit." Und weiter: Der Vorwurf, der dem Täter gemacht wird, besteht darin, "daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können." 36 Vgl. Hruschka, Imputation, S. 385ff. 37 Jakobs, Strafrecht, S. 470f.
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denen Rettung eines der kollidierenden Rechtsgüter; wer Rechtsgutsträger ist, ist dabei gerade ohne Bedeutung. Dies wird deutlich bei den Regelungen des § 34 StGB sowie des § 228 BGB: Gerechtfertigt sind Notstandshandlungen zur Rettung von Rechtsgütem von beliebigen Personen. Desweiteren ist die Theorie der doppelten oder kumulierten Schuldminderungsgründe auch nicht in der Lage, die Ausnahmevorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB vom Notstandsprivileg des § 35 Abs.l Satz 1 StGB in ein konsistentes System zu integrieren. Es wurde schon oben 38 als Einwand gegen die Theorie des "psychischen Drucks" herausgearbeitet, daß sowohl Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, als auch solche, die für die Notstandsgefahr oder -lage verantwortlich sind, in einer Notstandssituation dem gleichen Motivationsdruck ausgesetzt sind wie jede beliebige dritte Person. Dann aber kann die Zurechnung einer rechtswidrigen qualifIZierten Notstandshandlung zur Schuld von Personen, die von § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfaßt sind, jedenfalls nicht damit begründet werden, es fehle in solchen Fällen stets der auf der Respektierung des Selbsterhaltungstriebes beruhende originäre Schuldminderungsgrund. Der Grund für die Differenzierung müßte also darin zu sehen sein, daß das Unrecht (und damit die Schuld 39 ) trotz einer bestehenden qualifizierten Notstandssituation dann nicht gemindert ist, wenn Täter eine von der Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfaßte Person ist. Da aber auch diese Personen per definitionem in einer Kollisionssituation handeln, muß das durch die Rettung jedenfalls eines Rechtsgutes geminderte Unrecht durch ein zusätzliches, neues Unrecht aufgewogen sein. Genau dieser Meinung sind z. B. Rudolphi 40 und Jescheck 41 : Die Verletzung der erhöhten Gefahrtragungspflicht bzw. der aus der Verursachung der Notstandslage oder -gefahr resultierenden Pflicht kraft Ingerenz schlägt sich nieder in einer Erhöhung des Unrechts. Diese Unrechtssteigerung läßt den Schuldminderungsgrund, der auf dem Aspekt einer Unrechtsminderung beruht, entfallen und führt deshalb zu einer Zurechenbarkeit der rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlung auf der 2. Stufe. Auch diese, auf den ersten Blick einleuchtende Konstruktion enthält jedoch bei genauerer Analyse mehrere Ungereimtheiten: Es ist nicht recht verständlich, warum das Unrecht der Notstandstat stets dann größer sein soll, wenn der Täter die Notstandssituation, unter Umständen auch "objektiv pflichtwidrig und subjektiv vorwerfbar"42, verursacht hat. Das wird dann besonders deutlich, wenn man annimmt, der Täter habe die Kollisionslage lediglich im Sinne der Äquivalenztheorie verurSiehe oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 1 b. Zum - alles andere als unbestrittenen - Zusammenhang eines erhöhten (bzw. reduzierten) Unrechts und einer erhöhten (bzw. reduzierten) Schuld siehe oben 3. Abschnitt Text zu Fn. 35 f. 40 Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 11. 41 Jescheck, Strafrecht, S. 431. 42 So interpretiert Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr. 20 die Verursachungsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB. 38 39
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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sacht, in bezug auf die Herbeiführung der Notstandssituation bzw. -gefahr aber weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt. Wie aber das bloße Anstoßen einer Kausalkette, das zu einer Kollision zweier Rechtsgüter führt, die Erhöhung des Unrechts begründen solI, die ihrerseits den für den Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe (mit-) verantwortlichen Schuldminderungsgrund in WegfaII bringt, bleibt rätselhaft. Man ist sich doch auch sonst darüber einig, daß die bloße Verursachung einer Rechtsgutsverletzung, um die der Verursacher weder weiß, noch hätte wissen können, hinsichtlich der der Verursacher also weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt hat, gerade kein (Handlungs-) Unrecht verwirklicht. Aber auch dann, wenn man Blei43 , Jescheck 44 und Timpe 45 dahingehend folgt, ein FaII des § 35 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 StGB sei nur dann anzunehmen, wenn der Täter in bezug auf die Herbeiführung der Notstandssituation vorsätzlich oder jedenfalIs fahrlässig gehandelt hat, diese Herbeiführung überdies pflichtwidrig ist und den Täter deshalb aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz 46 für erhöht pflichtig hält, kann die Theorie der "doppelten Schuldminderung" nicht restlos überzeugen. In diesen FälIen kann man dann zwar behaupten, daßebenso wie in den Fällen einer erhöhten Gefahrtragungspflicht aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses oder einer spezielIen Obhutspflicht - ein durch die Verletzung einer Sonderpflicht erhöhtes Unwerturteil (und einer damit erhöhten Schuld) das durch die Rettung eines Rechtsgutes verminderte Unrecht kompensiert und daher Grund für die Zurechnung auf der 2. Stufe ist; aber auch das nur um den Preis von Wertungswidersprüchen: Es wird sich noch heraussteIlen, daß im Bereich des entschuldigenden Notstandes eine Zurechnung zur Schuld auch dann ausgeschlossen ist, wenn das beeinträchtigte Rechtsgut, also das durch die Notstandshandlung gefahrdete Rechtsgut, zwar nicht wesentlich, aber schlicht wertvolIer ist als das geschützte Rechtsgut, also das Rechtsgut, das durch die Notstandsgefahr gefährdet ist 47 • Der Aspekt der Qualität des Rechtsguts, im FalIe seiner Vernichtung also die Größe des verwirklichten Unrechts, hat daher ein nur sehr geringes Gewicht; es ist eben nur dann von Bedeutung, wenn das beeinträchtigte Rechtsgut unverhältnismäßig, d. h. wesentlich wertvolIer ist als das geschützte. In den FälIen des § 35 Abs. 1 StGB spielt also der Unrechtsminderungsaspekt, soweit es um die Rettung von Rechtsgütern beliebiger Dritter geht, keine RolIe; aber auch dann, wenn es um die Rettung von Rechtsgütern geht, die dem von § 35 StGB geschützten Personenkreis zustehen, ist er von eher untergeordneter Bedeutung. Strafrecht, S. 209. Strafrecht, S.437. 45 Timpe, JUS 1985, S. 35ff., 36f. 46 Die ganz herrschende Meinung geht davon aus, daß eine GarantensteIlung kraft Ingerenz nur dann anzunehmen ist, wenn das die Garantenhaftung auslösende Vorverhalten rechtswidrig ist; vgl. Stree, in: SchönkejSchröder, StGB, § 13 Rdnr. 35ff. m. w. N. 47 Siehe dazu ausführlich unten 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 1 und 2. 43
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Andererseits soll eine Erhöhung des Unrechts, bedingt durch die Verletzung einer Sonderpflicht, die auf einem besonderen Rechtsverhältnis, einer speziellen Obhutspflicht oder einer Sicherungspflicht beruht, ohne Ausnahme zu einer Exemtion vom Notstandsprivileg führen. Die Tat ist - bei allen Unterschieden der verschiedenen Sonderpflichten - also stets auf der 2. Stufe zurechenbar, ohne Rücksicht auf den Umfang der verletzten Sonderpflicht. Warum aber ist die Größe des Unrechts einerseits nur sehr eingeschränkt relevant, soweit es um das vernichtete Rechtsgut geht, andererseits aber von ausschlaggebender Bedeutung, wenn die Verletzung einer beliebigen Sonderpflicht in Rede steht? Eine plausible Antwort hierauf scheint mir nicht möglich zu sein. Ein weiterer Kritikpunkt: Die fakultative Strafmilderung ist im Falle eines bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses ausgeschlossen, nicht aber bei pflichtwidriger und schuldhafter Verursachung der Notstandslage. Das widerspricht einerseits dem Grundsatz, daß gerade dem Sicherungsgaranten - ceteris paribus - mehr abverlangt wird und abverlangt werden kann 48 ; dieser also bei Verletzung der ihm obliegenden Sonderpflicht ein größeres Unrecht verwirklicht als speziell Obhutspflichtige, zu denen aufgrund des bereits entwickelten Implikationsverhältnisses 49 stets auch die Personen gehören, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen. Das würde bedeuten, der Sicherungspflichtige, der ein größeres Unrecht verwirklicht, genießt das Privileg der fakultativen Strafmilderung, während es einem kraft bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses erhöht Gefahrtragungspflichtigen, der stets auch speziell obhutspflichtig ist, versagt bleibt. Auf diese Ungereimtheiten, die der Theorie der "doppelten Schuldminderung" anhaften, haben zu Recht bereits Jakobs so sowie sein Schüler Timpe 51 hingewiesen 52. 3. Die Theorie einer "strafzweckorientierten Schuld"
a) Inhalt Aus der Einsicht heraus, daß weder die Theorie des "psychischen Zwanges" noch die der "doppelten Schuldminderung" eine zufriedenstellende Erklärung für die Regelung des entschuldigenden Notstandes liefert, hat Roxin den Vgl. Hruschka, Strafrecht, S. 164f. Ein bestehendes besonderes Rechtsverhältnis impliziert eine spezielle Obhutspflicht des Notstandstäters, vgl. oben 2. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 3 c. 50 Jakobs, Strafrecht, S. 471. 51 Timpe, Straftnilderungen des AT, S. 291 ff. 52 Auch Neumann, Zurechnung und "Vorverschulden", S. 220ff., 221 kritisiert, daß die durch die Rettung eines Rechtsgutes eintretende Unrechtsminderung durch die Verletzung einer erhöhten Gefahrtragungspflicht nicht stets kompensiert wird, da die einzelnen Pflichten höchst unterschiedlich sanktioniert sind, was auf Unterschiede hinsichtlich des verwirklichten Unrechts schließen läßt; vgl. z. B. §§ 29 Abs. 2 bis 4, 106, 109 SeemannsG einerseits und §§ 27 Abs. 2, 59 ZDG andererseits. 48
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Versuch unternommen, die "Schuld" in die Präventionslehre zu integrieren: Die Schuld als dritte systematische Grundkategorie "wird kriminalpolitisch von der Strafzwecklehre her geprägt. "53 Roxin hat diese These in zwei Festschriftbeiträgen 54 ausgearbeitet sowie in neuerer Zeit noch einmal zusammenfassend dargelegt 55 : Die Gemeinsamkeit aller Entschuldigungsgründe bestehe, so Roxin, darin, "daß aus kriminalpolitischen Gründen eine Bestrafung entweder nicht möglich oder nicht nötig ist."56 Der von Roxin so bezeichnete "teleologisch-kriminalpolitische Ansatz"57 begründet die Entschuldigung einer rechtswidrigen qualiflzierten Notstandshandlung mit einem fehlenden Strafbedürfnis: Weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen sei die Verhängung einer Sanktion erforderlich 58. Anders jedoch sei das Ergebnis hinsichtlich solcher Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen. Wenn diese "sich den Gefahren, deren Bewältigung Aufgabe ihres Berufsstandes ist, risikolos auf Kosten anderer entziehen könnten, hätte das gesamtgesellschaftlich äußerst schädliche Folgen." 59 Deshalb habe der Gesetzgeber in diesen Fällen aus generalpräventiven Erwägungen eine Ausnahme vom grundsätzlichen Ausschluß der Zurechnung zur Schuld in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB gemacht 60 • Dieses Modell einer strafzweckorientierten Begründung der Entschuldigungsgründe steht zwar im schroffen Gegensatz zur herkömmlichen Schuldlehre, die Schuld im Sinne von "Vorwerfbarkeit"61 versteht. Jedenfalls aber scheint die Roxinsche Strafzwecklehre die Regelung des § 35 StGB am ehesten plausibel erklären zu können.
b) Kritik Allerdings ist bei genauerem Hinsehen auch das Strafzweckmodell jedenfalls zum Teil der Kritik ausgesetzt, die schon an den oben dargestellten Erklärungsansätzen geübt wurde. 62 Auch auf der Grundlage des Strafzweckmodells ist nicht einsichtig, warum nur bei Gefahren für qualiflzierte Rechtsgüter die Zurechnung auf der 2. Stufe grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die SanktionieRoxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 33. Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 171 ff.; ders., in: Festschrift für Bockelmann, S. 279ff., 282ff.; zu § 33 StGB vgl. ders., in: Festschrift für Schaffstein, S. 105ff., 116ff. 55 Roxin, JUS 1988, S. 425ff. 56 Roxin, JUS 1988, S. 426. 57 Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 18t. 58 Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 183; ihm zustimmend Schünemann, GA 1986, S. 293ff., 299ff.; sowie Neumann, Zurechnung und "Vorverschulden", S. 271 f.. 59 Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 183. 60 So dezidiert auch Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips, S. 153ff., 169ff. sowie vor Roxin schon Noll, in: Festschrift für H. Mayer, S.219ff.; kritisch zum Präventionsmodell Burkhardt, GA 1976, S. 321 ff. 61 Vgl. dazu oben Fn. 35. 62 Siehe oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffern 1 bund 2 b. 53
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7 Lugert
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
rung einer rechtswidrigen Notstandshandlung ist dann ebensowenig aus spezialoder aus generalpräventiven Gesichtspunkten 63 erforderlich, wenn es dem Täter beispielsweise um die Rettung wertvoller Sachgüter geht. Dennoch wird die Tat de lege lata zur Schuld zugerechnet 64 • Darüber hinaus müssen jedenfalls Zweifel angemeldet werden, ob die von § 35 StGB vorgenommene Begrenzung auf solche Gefahren, die einem qualifizierten Personenkreis drohen, mit der Strafzwecktheorie Roxins in Einklang zu bringen ist. Auch wenn der im Notstand Handelnde zur Rettung von Rechtsgütern eines beliebigen Dritten eingreift, sind weder spezial- noch generalpräventive Gründe erkennbar, die eine Bestrafung des Täters rechtfertigen könnten. Dennoch wird die Tat auf der 2. Stufe zugerechnet. Schon daran wird deutlich, daß auch das Strafzweckmodell Roxins die Regelung des § 35 StGB nicht hinreichend zu erklären vermag. 4. Die Theorie des "funktionalen Schuldbegriffs"
a) Inhalt Im Gegensatz zu Roxin geht Jakobs von einem Schuldbegriff aus, den er als "funktional" bezeichnet. Jakobs definiert "Schuld" als einen "Begriff, der eine Regelungsleistung nach einer bestimmten Regelungsmaxime (nach den Erfordernissen des Strafzwecks) für eine Gesellschaft bestimmter Verfassung erbringt. "65 Relevanter Strafzweck der Entschuldigungsgründe ist für Jakobs die positive Generalprävention, d. h. der Strafzweck der Erhaltung der Rechtstreue der Normunterworfenen 66 • Das bedeutet im Hinblick auf die Regelung des § 35 StGB, daß der Strafzweck der positiven Generalprävention stets dann keine Sanktionierung einer rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlung erforderlich macht, wenn sich die - auch von Jakobs anerkannte 67 - außergewöhnliche psychische Drucksituation sowie die auf der Rechtsgüterkollision beruhende Unrechtsminderung als Ergebnis einer auf "Zufall" zurückzuführenden Kollisionslage erklären lassen 68 • Die Notstandssituation ist für den Täter jedoch 63 "Spezialpräventiv ist" so Roxin, in: Festschrift für Henkel, S. 183 - "eine Sanktion unnötig, weil der Täter sozial voll integriert und nur durch die außergewöhnliche Situation zu seiner wegen des Rettungserfolges auch im Unrecht wesentlich geminderten Handlung gebracht worden ist." Auch aus Gründen der Generalprävention sei in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB keine Sanktion erforderlich, weil die Sachverhaltsgestaltung meist unvergleichbar sei und weil der Normadressat sich aufgrund der außergewöhnlichen Situation nicht von der Norm motivieren lasse. 64 Und dies ohne die Möglichkeit einer Strafmilderung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB, denn bereits § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB ist nicht einschlägig. 6S Jakobs, Strafrecht, S. 397; vgl. ders., Schuld und Prävention, S. 20ff. 66 Zustimmend Achenbach, JR 1975, S. 492ff., 494f. 67 Jakobs, Strafrecht, S. 409f., 471. 68 Jakobs, Strafrecht, S. 471; ders., in: Festschrift für Welzel, S. 307ff., 317ff.; ders., Schuld und Prävention, S. 20ff.; ders., in: Kriminologische Gegenwartsfragen, Bd. 15, S. 127ff., 137; so auch Timpe, Strafmilderungen des AT, S. 297ff., 304ff.
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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im besonderen dann keine zufällige, wenn er in einem besonderen Rechtsverhältnis steht. Soldaten, Seeleute, Feuerwehrleute etc. sind gerade beauftragt, in Notsituationen, unter Umständen auch um den Preis der Gefährdung erheblicher eigener Rechtsgüter, zur Rettung fremder Rechtsgüter tätig zu werden. Daher ist es für Mitglieder dieser Personengruppe schon bei Aufnahme ihrer beruflichen Tätigkeit vorherzusehen und gerade kein Zufall, wenn sie in Notstandssituationen geraten 69. b) Kritik
Nun sieht sich aber auch der "funktionale" Schuldbegriff von Jakobs den Einwänden ausgesetzt, die schon gegen das Strafzweckmodell Roxins sprechen. Bei beiden Erklärungsansätzen leuchtet nicht ein, warum aus general- (bzw. spezial-) präventiven Gründen eine Sanktion immer nur dann erforderlich ist, wenn kein qualifiziertes Rechtsgut in Gefahr ist, sondern z. B. ein überaus wertvolles Sachgut. Beide Modelle sind mit der vom Gesetz vorgenommenen Differenzierung von einerseits qualifizierten Rechtsgütern, bei deren Gefährdung eine rechtswidrige Notstandshandlung grundsätzlich nicht zur Schuld zugerechnet wird, und andererseits nicht-qualifizierten Rechtsgütern, zu deren Rettung unternommene Notstandshandlungen ausnahmslos zur Schuld zugerechnet werden können, nicht in Einklang zu bringen. Demgegenüber überzeugt die These von Jakobs, § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB umfasse solche Fälle, die sich dadurch auszeichnen, daß die Kollision nicht auf Zufall beruhe, kein bloßes Unglück sei und die Notstandstat daher zur Schuld zugerechnet werden könne. Jakobs kann sicher zugestimmt werden, wenn er behauptet, Notstandshandlungen seien weder für Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, noch für die Personen, die der Gefahrverursachungsklausel zuzurechnen sind, "zufällig". So wie z. B. derjenige, der ein Schiff versenkt, mit dem Entstehen einer Notstandssituation rechnen muß, diese also für ihn jedenfalls voraussehbar ist (wenn er sie nicht sogar aktuell voraussieht), so sind in gleicher Weise für Soldaten, Feuerwehrleute, Seeleute etc. Notstandsgefahren überaus wahrscheinlich und damit auch vorherzusehen. Der Gedanke fehlender Zufälligkeit als Erklärung für die Ausnahme vom Zurechnungsausschluß auf der 2. Stufe bei rechtswidrigen qualiftzierten Notstandshandlungen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, läßt sich darüber hinaus zwanglos auch auf qualiftzierte Notstandshandlungen von Personen, die bestimmten Rechtsgütern gegenüber sonderpflichtig sind, übertragen. In diesen Fällen eines "fürsorgerischen Garantieverhältnis69 So auch Kuhnt, "Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands (§§ 52, 54 StGB)", S. 197 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Broglio: Wer "erhöht gefahrtragungspflichtig" ist, muß mit dem "Eintritt der Notstandslage rechnen." Ähnlich auch Brauneck, GA 1959, S. 261 ff., 269 im Anschluß an Baumgarten: Die Entschuldigung "gilt aber nicht bei Soldaten, Feuerwehrleuten, u.s.w., die ja vorbereitet in diese Gefahren gehen und darum auch tatsächlich besser gegen Panik gewappnet sind."
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
ses"70, der "tatsächlichen Übernahme einer Schutzfunktion"71 sowie in den Fällen bestehender Gefahrgemeinschaften muß aufgrund der engen persönlichen Nähe der Träger der jeweils kollidierenden Rechtsgüter und aufgrund der erhöhten Kollisionsgefahren für die Rechtsgüter durch z. B. Kinder oder andere Gefahrenquellen mit qualifizierten Notstandssituationen - jedenfalls generell - gerechnet werden. Die zwischen dem Obhutsgaranten und dem ihm anvertrauten Rechtsgut begründete, in aller Regel über gewöhnliche soziale Kontakte hinausgehende Beziehung erhöht notwendig die Wahrscheinlichkeit einer von § 35 StGB vorausgesetzten Kollisionssituation, sei es, daß die Gefahr vom Schützling, sei es, daß die Gefahr von einem Dritten ausgeht. Die Notstandssituation ist zwar insoweit ein Unglück und "zufällig", als es um die konkret nicht vorhergesehene und u. U. auch nicht vorherzusehende Rechtsgüterkollision geht. Falls aber eine Notstandssituation eintritt, ist es überaus wahrscheinlich und damit jedenfalls vorhersehbar, daß die Rechtsgüterkollision aufgrund der engen sozialen Kontakte im Verhältnis ObhutsgarantjSchützling stattfindet. Beispielsweise sind deshalb sowohl für Eltern 72 als auch für Kindermädchen 73 von § 35 Abs.l Satz 1 StGB erfaßte Kollisionslagen eher wahrscheinlich als für beliebige Dritte. Noch deutlicher wird der Aspekt fehlender Zufälligkeit bei Notstandshandlungen von speziell Obhutspflichtigen aufgrund einer bestehenden Gefahrgemeinschaft. Für Mitglieder einer solchen Gefahrgemeinschaft, z. B. einer Seilschaft in den Bergen, ist es überaus wahrscheinlich, daß im Falle einer eintretenden Notstandssituation Rechtsgüter von Mitgliedern eben dieser Gefahrgemeinschaft kollidieren. Deshalb ist eine Zurechnung zur Schuld durchaus nicht ausgeschlossen, wenn sich ein gefährdeter Bergsteiger auf Kosten des Lebens eines Mitglieds der Seilschaft rettet. Grund hierfür ist, daß der Notstandstäter aufgrund seines gefährlichen Unternehmens mit dem Eintritt der sich dann realisierenden Rechtsgüterkollision gerade zwischen den Mitgliedern der Gefahrgemeinschaft rechnen konnte und mußte, die N otstandssituation also insoweit gerade nicht Resultat des Zufalls ist. 5. Resümee Weder die Theorie des "psychischen Drucks" noch die auf ihr aufbauende Theorie der "doppelten Schuldminderung" haben sich als tauglich erwiesen, die 70 So Timpe, Strafmilderungen des AT, S.314. Timpe zählt dort als Beispiele die Beziehung der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern sowie die der Eltern zueinander auf. 71 Timpe, Strafmilderungen des AT, S. 314. 72 Eltern sind gegenüber ihren minderjährigen Kindern kraft Gesetzes speziell obhutspflichtig, vgl. §§ 1626, 1631 BGB. 73 Kindermädchen sind gegenüber den zu beaufsichtigenden Personen kraft tatsächlicher Übernahme speziell obhutspflichtig; vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rdnr.26.
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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Regelung des § 35 Abs. 1 StGB umfassend zu begründen. Erstere ist weder mit der objektiven Fassung des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB noch der Irrtumsregelung des § 35 Abs. 2 StGB noch mit der Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB in Einklang zu bringen: Sowohl bei - vermeidbar - irriger Annahme einer qualifizierten Notstandssituation als auch in den Fällen einer erhöhten Gefahrtragungspflicht wird dem Täter die Tat zur Schuld zugerechnet, obwohl die psychische Drucksituation die gleiche ist wie in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB. Gegen die Theorie der "doppelten Schuldminderung" muß eingewandt werden, daß schon zweifelhaft ist, ob sich ein (Handlungs-) Unrechtsminderungsgrund, der auf der Rettung eines Rechtsgutes beruht, notwendig in einer entsprechenden Schuldminderung niederschlägt. Doch selbst wenn man dies einmal als richtig unterstellt, können die Vertreter der "doppelten Schuldminderung" nicht erklären, warum der Unrechtsminderungsgrund dann durch ein erhöhtes Unrecht aufgrund der Verletzung einer Sonderpflicht aufgewogen wird, wenn der Notstandstäter die Notstandsgefahr bzw. -lage zwar verursacht hat, diese aber weder vorausgesehen hat noch hat voraussehen können. Reduziert man deshalb die Gefahrverursachungsklausel in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB teleologisch auf die Fälle vorhergesehener oder jedenfalls vorherzusehender pflichtwidriger Verursachung, kann dann zwar stets ein erhöhtes Unrecht konstatiert werden; die höchst unterschiedliche Relevanz und Gewichtung dieses Unrechts sowie des bei Verletzung einer Sonderpflicht kraft besonderen Rechtsverhältnisses verwirklichten Unrechts einerseits und der im Rahmen einer im Anschluß an die herrschende Meinung angenommenen eingeschränkten Rechtsgüterabwägung relevanten Unrechtshöhe andererseits kann jedoch im System der Theorie der "doppelten Schuldminderung" nur als Wertungswiderspruch bezeichnet werden. Gegen das Roxinsche Modell einer strafzweckorientierten Betrachtung der Entschuldigungsgründe im allgemeinen und des § 35 StGB im besonderen spricht weniger der damit verbundene Bruch mit der herkömmlichen Schuldlehre. Gewichtig ist jedoch der Einwand, daß auch bei Roxin offen bleibt, warum ein Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe nur dann in Betracht kommt, wenn eine Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut eines qualifizierten Personenkreises besteht. Diese Differenzierung scheint - vorsichtig formuliert - auch die Roxinsche Theorie nicht erklären zu können. Der gleiche Kritikpunkt richtet sich gegen den "funktional" verstandenen Schuldbegriff von Jakobs. Hingegen überzeugt die These von Jakobs, § 35 Abs.1 Satz 2 StGB sei als Regelung im Hinblick auf solche qualifizierte Notstandshandlungen zu verstehen, bei denen die Rechtsgüterkollision nicht zufällig und damit kein Unglück sei. Dieser Gedanke läßt sich nicht nur hinsichtlich der Fälle des besonderen Rechtsverhältnisses sowie der "Gefahrverursachung" fruchtbar machen, sondern findet auch auf Fälle einer bestehenden speziellen Obhutspflicht Anwendung.
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Keines der in der Diskussion befindlichen Erklärungsmodelle ist daher in der Lage, die Regelung des § 35 StGB vollständig zu erklären. Deshalb wird im folgenden der Versuch unternommen, § 35 StGB als Resultat einer Synthese der Theorie des "psychischen Drucks" sowie der These von Jakobs zur ratio der Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zu verstehen. 6. § 35 StGB als Synthese der Theorie des "psychischen Drucks" und der These Jakobs' von der "fehlenden Zufälligkeit" Nur zur Erinnerung: Gegen die Theorie des "psychischen Drucks" sprechen folgende Argumente: Zum einen die objektive Fassung des § 35 StGB; d. h. eine Zurechnung zur Schuld ist grundsätzlich nur bei einer objektiv vorliegenden qualifizierten Notstandshandlung ausgeschlossen. Im Ausnahmefall des § 35 Abs. 2 StGB ist jedoch eine Zurechnung zur Schuld auch bei irriger Annahme einer qualifizierten Notstandssituation ausgeschlossen. Nun ist der Motivationsdruck eines Notstandstäters, der einem vermeidbaren Irrtum unterliegt, aber nicht weniger stark als der eines Täters, welcher sich in einem unvermeidbaren Irrtum befindet. Deshalb haben die Autoren des Alternativ-Entwurfes konsequenterweise eine subjektiv formulierte Fassung der Regelung des entschuldigenden Notstandes vorgeschlagen 74. Warum aber befürwortet Horstkotte als Vertreter der Theorie des "psychischen Drucks" in Kenntnis des logischen Bruches 75 eine objektive Fassung des § 35 StGB? Die Antwort ist ernüchternd: "Das (und das ist der Vorschlag des Alternativentwurfes) ist aber rechtspolitisch nicht tragbar. "76 Das taugt nicht nur keineswegs als Begründung; es kann vielmehr nur als intellektuelle Bankrotterklärung bezeichnet werden. Der Sonderausschuß hatte offenbar Angst vor Beweisschwierigkeiten, die sich auf der Basis einer subjektiven Fassung immer dann auftun, wenn der Notstandstäter die irrige Annahme einer qualifizierten Notstandslage behauptet. Nun ist die Beweislage aber dann nicht anders, wenn der Angeklagte z. B. behauptet, er habe die Tatumstände nicht gekannt, unterliege also einem Tatbestandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB, oder er habe irrig eine rechtfertigende Lage, insbesondere eine Notwehr- oder Notstandslage angenommen 77 • Dennoch kann der Täter in beiden Fällen nicht wegen einer Vorsatztat bestraft werden, wenn es nicht gelingt, ihm eine entsprechende Kenntnis nachzuweisen. Im Gegensatz dazu war man im Rahmen des § 35 StGB offenbar bereit, zur Vermeidung von befürchteten Beweisschwierigkeiten dogmatische Brüche hinzunehmen. Siehe oben 3. Abschnitt Fn. 26. Siehe oben 3. Abschnitt Fn. 26. 76 Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1848. 77 Sog. Erlaubnistatbestandsirrtum, den die herrschende Meinung auf der Basis der "eingeschränkten Schuldtheorie" analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StG B löst, vgl. statt vieler Lackner, StGB, § 17 Nr. 5 b; zu einem alternativen Lösungsmodell Hruschka, Strafrecht, S.195fT. 74 7S
3. Kap.: Zur ,,ratio" des entschuldigenden Notstandes
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Die objektive Fassung des § 35 StGB führt überdies zu einem Wertungswiderspruch mit der Vorschrift des § 157 StG B. Zwar ist jene Regelung nach ihrem Wortlaut bloßer Strafmilderungs- bzw. Strafausschließungsgrund, dennoch sind die strukturellen Parallelen beider Vorschriften unübersehbar 78 • Warum ist letztere dann aber im Gegensatz zu § 35 StGB subjektiv formuliert? Wieder muß ein dogmatischer Bruch, verursacht durch den Gesetzgeber, konstatiert werden. Will man aber das Fazit vermeiden, eine objektive Fassung der Regelung des entschuldigenden Notstandes ist dogmatisch nicht begründbar, so bleibt nur übrig, folgendermaßen zu argumentieren: § 35 StGB schließt eine Zurechnung auf der 2. Stufe nicht dann aus, wenn ein bestimmter Grad von abnormem Motivationsdruck erreicht ist, der konkret-individuell zu bestimmen wäre; erforderlich ist vielmehr eine vom konkreten Fall losgelöste, generelle Betrachtungsweise. Zum einen ist eine Zurechnung auf der 2. Stufe nur bei einer Gefahr für bestimmte, qualifizierte Rechtsgüter ausgeschlossen, weil man davon ausgehen kann, daß der Täter bei einer Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit größere Furcht hat als bei einer Gefahr für ein beliebiges anderes Rechtsgut. Ob dies im konkreten Fall vielleicht einmal anders ist, ist insoweit ohne Bedeutung. Liegt umgekehrt aber eine Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut vor, fragt das Gesetz nicht mehr, ob der Täter einem außergewöhnlichen Motivationsdruck erlegen ist oder nicht. Die Tat kann grundsätzlich nicht zur Schuld zugerechnet werden, denn: "Der Überdruck wird präsumiert. "79 Die nicht konkret-individuelle, sondern abstrakt-generelle Betrachtungsweise vermag auch hinreichend die objektive Fassung des § 35 Abs. 1 StGB zu erklären. Ein Motivationsdruck lastet grundsätzlich nur bei einer tatsächlich vorliegenden qualifizierten Notstandslage auf dem Täter. Fehlt eine solche, handelt der Täter, von Irrtumsfällen abgesehen, auch nicht unter Zwang. Ausnahmsweise erkennt der Gesetzgeber den Irrtum aber dann als erheblich an, wenn er unvermeidbar war. Diese Ausnahme darf aber nicht vom Grundsatz ablenken: Die psychische Situation ist grundsätzlich nur dann außergewöhnlich, wenn objektiv eine Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut besteht. Deshalb fügt 78 Beide Vorschriften setzen voraus, daß der Täter zur Abwehr einer Gefahr handelt, die ihm oder einem Angehörigen droht. Während jedoch die Anwendung des § 35 StGB eine Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut voraussetzt, ist § 157 StGB schon dann einschlägig, wenn nur die Gefahr irgendeiner Bestrafung droht; dabei reicht insbesondere auch die Gefahr einer Geldstrafe, also einer Gefahr für das Vermögen, aus. Der entscheidende Unterschied der bei den Vorschriften besteht jedoch darin, daß in den Fällen des§ 157 StGB die Gefahr stets "anders abwendbar" ist, weil dem Täter, sei er Zeuge, sei er Sachverständiger, in den Fällen des Aussagenotstandes ein Aussage- oder jedenfalls ein Auskunftsverweigerungsrecht zusteht (§§ 52 Abs.1, 55 Abs.1, 76 Abs.1 Satz 1 StPO; für Sachverständige gelten die §§ 52 Abs.1, 55 StPO aufgrund der Verweisungsnorm des § 76 Abs.1 StPO; allg. Meinung, vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, § 76 Rdnr. 1; Löwe/ Rosenberg, StPO, § 76 Rdnr. 1). § 157 StGB ist daher nicht, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheint, lex specialis zu § 35 StGB. 79 So Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1841.
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
sich die objektive Fassung des § 35 Abs. 1 StGB zwar nicht in eine individuelle, wohl aber in eine generell verstandene Theorie des "psychischen Drucks" ein. Der zweite Einwand gegen die Theorie des "psychischen Drucks" hat seinen Ausgangspunkt in der Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB: Auch auf den von § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfaßten Personen lastet in der konkreten Notstandssituation der gleiche Druck wie auf einem allgemein Gefahrtragungspflichtigen. Trotzdem sind jene im Gegensatz zu allgemein Gefahrtragungspflichtigen nicht vom Zurechnungsausschluß erfaßt. Jetzt aber kommt der von Jakobs 80 und Timpe 81 entwickelte Gedanke "fehlender Zufälligkeit" ins Spiel. Für die von § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfaßten Personen, d. h. sowohl für diejenigen, die eine Notstandsgefahr verursacht haben, als auch für die erhöht Gefahrtragungspflichtigen, sei es kraft Sonderverpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, sei es kraft Sonderpflicht gegenüber bestimmten Individuen, ist die Notstandslage nicht zufällig und infolgedessen - wenn auch individuell abgestuft - vorhersehbar. Eine Gefahr, die vorhergesehen wird oder jedenfalls vorhersehbar ist, löst aber nicht den gleichen Motivationsdruck aus wie ein "aus heiterem Himmel" kommendes Unglück. Wiederum kommt es dabei nicht auf eine Analyse der konkreten Notstandssituation an, sondern entscheidend ist eine abstrakte, generalisierende Betrachtungsweise. Daher gilt es, folgendes festzuhalten: § 35 StGB läßt sich, insoweit übereinstimmend mit den Vertretern der Theorie des "psychischen Drucks", als Entschuldigungsgrund für rechtswidrige Handlungen in außergewöhnlichen Situationen verstehen, die den Täter derart unter Druck setzen, daß die Vornahme der Notstandshandlung verzeihlich erscheint. Der Grad des auf dem Täter lastenden Motivationsdrucks wird freilich nicht konkret-individuell, sondern anhand abstrakter und genereller Kriterien bestimmt. Dieser Ansatz ist im besonderen durch die objektive Fassung des § 35 StGB, die Beschränkung auf qualifizierte Rechtsgüter und die Existenz des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB vorgezeichnet. Wir werden im folgenden noch sehen, daß eine weitere Einschränkung vom generellen Zurechnungsausschluß des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlich ist 82 ; diese sich aber zwanglos in den hier vertretenen Erklärungsansatz einfügt.
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Jakobs, Strafrecht, S. 471; siehe auch oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 4 a. Timpe, Strafmilderungen des AT, S. 297ff., 304. Siehe unten 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 1.
4. Kapitel
Untersuchung der relevanten Fälle hinsichtlich ihrer Zurechenbarkeit zur Schuld 1. Die FäUe der "Unverbältnismäßigkeit"
Eine Teilmenge aus der Menge aller rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen, die allgemein als auf der 2. Stufe zurechenbar angesehen werden, läßt sich dahingehend beschreiben, daß die von der Vorschrift des § 35 Abs. 1 Satz 1 StG B vorausgesetzte Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut unwesentlich ist, oder, daß das durch den Eingriff verletzte Rechtsgut unverhältnismäßig wertvoller ist als das bedrohte Rechtsgut, und deshalb - so jedenfalls die herrschende MeinungB3 - die Hinnahme der Gefahr zumutbar sei. Dazu zwei Beispiele aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung: Beispiel 1)84: Die Angeklagte sagte vor Gericht vorsätzlich falsch aus. Zu ihrer Verteidigung brachte sie vor, "H (der durch die Falschaussage Begünstigte) habe ihr gedroht, er werde sie schlagen und nicht mehr für den Unterhalt ihres von ihm erzeugten Kindes sorgen, wenn sie zu seinen Ungunsten aussage. "B5 Das Reichsgericht bestätigte im Ergebnis das Urteil der Vorinstanz, die unter Berufung darauf, daß die Angeklagte den H mehrmals aufgefordert habe, sie zu schlagen, wenn sie es verdiene, davon ausgegangen war, eine beachtliche Gefahr für den Leib der Angeklagten habe nicht vorgelegen. Das Reichsgericht begründete die Verurteilung wie folgt: Der Grundgedanke der Notstandsvorschriften führe zu der Forderung, "daß die Leibesgefahr nicht ganz unerheblich sein darf, da man sonst weder von ,Nötigen' noch von ,Notstand' sprechen kann, ferner zu der Forderung einer gewissen Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Gefahr und der Schwere der in der Abwehrhandlung gelegenen Rechtsgüterverletzung."86 Daraus folge, "daß regelmäßig zur Entschuldigung einer schwereren Straftat ... eine erheblichere und nachhaltigere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit vorausgesetzt wird als zur Entschuldigung einer leichteren Straftat."87 83 Vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 33, Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 62f., jeweils m.w. N; ähnlich Jakobs, Strafrecht, S. 472: "Leib und Freiheit müssen in einem Maß gefährdet sein, bei dem plausibel ist, daß der Täter auf die Güter anderer Personen keine Rücksicht mehr nimmt." 84 RGSt 66, S. 397ff. 8S RGSt 66, S. 397. 86 RGSt 66, S. 399f. 87 RGSt 66, S. 399f.
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
Beispiel 2)88: Die K war angeklagt wegen Beihilfe zu einem in Tateinheit mit Raub begangenen räuberischen Angriff auf Kraftfahrer. Sie wurde zur Beihilfehandlung durch die Drohung, sie werde geschlagen, falls sie sich weigere, bestimmt. Der Bundesgerichtshof verneinte in Übereinstimmung mit der Vorinstanz ein Vorliegen der Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB; er begründete dies aber im Gegensatz zur Tatsacheninstanz nicht damit, die Hinnahme der Leibesgefahr sei zumutbar gewesen, sondern führte zur Begründung aus: "Nach den getroffenen Feststellungen befand sich die Angeklagte indessen nicht in einer der Lebensgefahr vergleichbaren Leibesgefahr . Denn nicht jede gegenwärtige Leibesgefahr vermag die Annahme einer Notstandslage zu begründen. Insbesondere reicht nicht jede drohende einfache Körperverletzung hierfür aus."89 In beiden Fällen wurden die Angeklagten verurteilt, obwohl ihnen für den Fall der Unterlassung der Falschaussage bzw. der Beihilfe zum räuberischen Angriff auf Kraftfahrer Schläge angedroht worden waren. Die die Verurteilungen tragenden Begründungen der jeweiligen Instanz- bzw. Revisionsgerichte lassen sich in drei Kategorien einteilen: Der Bundesgerichtshof vertritt in Übereinstimmung mit der Vorinstanz in RGSt 66, S. 397ff. die Ansicht, nicht jede Drohung mit Schlägen sei eine "Leibesgefahr" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB und begründet diese These mit der systematischen Stellung des Begriffs der Leibes- neben dem der Lebensgefahr. Er greift dabei offensichtlich eine entsprechende Ansicht des Reichsgerichts zur Auslegung des Begriffs "Leibesgefahr" im Rahmen des § 255 StGB auf. In der einschlägigen Entscheidung heißt es, das Merkmal der Gefahr für den Leib sei "nicht in allen Fällen schon dann für erfüllt zu erachten ... , wenn eine Thätlichkeit angedroht wird, die sich als körperliche Mißhandlung im Sinne des § 223 StGB darstellt. Es muß vielmehr eine Drohung vorausgesetzt werden, deren Ausführung geeignet sein kann, eine, wenn auch nur vorübergehende, Beschädigung der leiblichen U nversehrtheit oder Gesundheit zu bewirken. "90 Läßt man die - in diesem Zusammenhang nicht weiter interessierende Frage außer acht, wie sich eine "Thätlichkeit ... , die sich als körperliche Mißhandlung im Sinne des § 223 StGB darstellt" 91 , unterscheidet von einer, "wenn auch nur vorübergehenden Beschädigung der leiblichen Unversehrtheit oder Gesundheit"92, so ist doch eines klar: Der Bundesgerichtshof geht ebenso wie das Reichsgericht davon aus, daß Körperverletzungshandlungen, deren Intensität eine, wie auch immer zu bestimmende, Bagatell- oder Geringfügig88 89 90
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BGH DAR 1981, S.226. BGH DAR 1981, S. 226. RGSt 29, S. 77f. RGSt 29, S. 77f. RGSt 29, S. 77f.
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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keitsgrenze nicht überschreitet, keine Gefahren für den Leib im Sinne des § 35 Abs.l Satz 1 StGB sind 93 • Bei der Begründung fällt die Parallele zur Begründung der Ansicht auf, auch im Rahmen des § 223 StGB seien solche Verletzungshandlungen aus dem Tatbestand auszuklammern, die sich in einem Bagatellbereich bewegten 94 • Diese Ansicht mag zwar dann zutreffend sein, wenn man mit der Rechtsprechung davon ausgeht, eine körperliche Mißhandlung sei "eine Einwirkung auf den Körper des Verletzten ... , die dessen körperliches Wohlbefinden mehr als bloß unerheblich beeinträchtigt. "95 Dann erfüllen freilich all diejenigen Handlungen nicht den objektiven Tatbestand des § 223 StGB, die zu keiner erheblichen Beeinträchtigung von Wohlbefinden oder Unversehrtheit führen. Einschlägige Beispiele aus der Rechtsprechung sind z. B. blaue Flecke 96 oder ein kaum merkliches Versengen des Kopfhaares 97 • Mag die Ausklammerung derartiger Bagatellfälle aus dem Anwendungsbereich des § 223 StGB noch mit der Begründung akzeptiert werden, schon in der Alltagssprache würden die in den angeführten Fällen verursachten Erfolge nicht als Körperverletzungshandlungen bezeichnet werden, so kann jedenfalls diese Begründung auf den Begriff der Leibesgefahr im § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB nicht übertragen werden. Schon der Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB steht einer solchen Auslegung entgegen. Unter "Gefahr für den Leib" ist jede drohende körperliche Beeinträchtigung zu verstehen. Eine Differenzierung danach, ob die Beeinträchtigung erheblich oder unerheblich ist, kann dem Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB gerade nicht entnommen werden. Auch aus der systematischen Stellung des Begriffs der Leibesgefahr neben dem der Lebensgefahr läßt sich hinsichtlich einer Unterscheidung von erheblichen und unerheblichen Gefahren nichts ableiten. Denn der Gesetzgeber hat gerade nicht nach der Erheblichkeit der Gefahr, sondern nach den gefährdeten Rechtsgütern differenziert. Danach führen einerseits selbst Gefahren, die zu Schäden an Sachwerten in Millionenhöhe führen können, nicht dazu, daß die Zurechnung zur Schuld ausgeschlossen ist. Andererseits kann dann aber die Erheblichkeit der Gefahr ebensowenig eine Rolle spielen, wenn ein qualifiziertes Rechtsgut, und sei es auch nur geringfügig, gefährdet ist. Es zeigt sich wieder, daß der Gesetzgeber hinsichtlich des Motivationsdrucks, der eine Zurechnung zur Schuld ausschließt, einen generellen und gerade keinen individualisierenden Maßstab angelegt hat. 93 Zustimmend Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 16; Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 8; Stratenwerth, Strafrecht, S. 180; Welzel, Strafrecht, S. 179; vgl. auch Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S. 24 Fn. 53 m. w. N. 94 Vgl. statt vieler Eser, in: SchönkejSchröder, StGB, § 223 Rdnr. 3,4 a m. W.N. 95 BGHSt 14, S. 269ff., 271; vgl. dazu auch Hirsch, in: LK § 223 Rdnr. 9 m. w. N. 96 Unveröffentlichte Entscheidung des BGH vom 30.5.1978, Az. 5 StR 270/78; zitiert bei DreherjTröndle, StGB, §223 Rdnr. 5. 97 Unveröffentlichte Entscheidung des BGH vom 16. 11.1973, Az. 2 StR 505/73; zitiert bei DreherjTröndle, StGB, §223 Rdnr. 5; vgl. auch OLG Köln, StV 1985, S.17, wo ein "heftiger Schlag oder Stoß vor die Brust" ohne Feststellung eventueller Folgen zur Annahme einer körperlichen Mißhandlung nicht ausgereicht hat.
108
3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
2. Die Abwägungsklausel in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB Auch besteht keine Notwendigkeit, die Fälle sogenannter Bagatellgefahren im Wege einer teleologischen Reduktion aus dem Bereich des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB auszuklammern 98 • Denn der Gesetzgeber hat durchaus gesehen, daß rechtswidrige qualifIZierte Notstandshandlungen denkbar sind, die dennoch zur Schuld zugerechnet werden können. Jedoch ist der dogmatische Standort dieser Fälle nicht § 35 Abs.1 Satz 1 StGB, sondern der Satz 2, insbesondere auch deshalb, weil die dort aufgezählten Beispiele möglicher Zurechnung zur Schuld nicht abschließend ("namentlich") sind 99. Die Vorinstanz in BGH DAR 1981, S. 226 hatte in teilweiser Übereinstimmung mit dem Reichsgericht lOO angenommen, es bestehe zwar eine Leibesgefahr, deren Hinnahme sei jedoch gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zumutbar. Sieht man einmal davon ab, daß es im Rahmen des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht um die Frage einer möglichen Zumutbarkeit, sondern um Zurechenbarkeit geht 101 , so läßt sich die Begründung folgendermaßen interpretieren: Beide Gerichte behaupten in bezug auf die Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut die Existenz einer Schwelle, unterhalb derer die Gefahr als unerheblich oder geringfügig angesehen wird. In jedem dieser Fälle ist die Hinnahme der Gefahr zumutbar, d. h. ein Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe findet nicht statt. Dabei ist bemerkenswert, daß die Erheblichkeitsgrenze dann jedoch ausschließlich von der Größe und dem Grad der Notstandsgefahr abhängig ist 102 • Daraus folgt, daß sowohl eine Totschlagshandlung als auch eine Sachbeschädigungshandlung l03 in gleicher Weise gemäß § 35 Abs. 1 StGB zur Schuld zurechenbar sind (oder auch nicht). Einziges Kriterium ist die Beurteilung der Gefahr als erheblich oder unerheblich. Die daraus folgenden merkwürdigen Konsequenzen seien an Hand von zwei Beispielsfallen erläutert: 98 So aber Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1843. Gegen "Erheblichkeitsschwellen" und "Proportionalitätserwägungen" im Rahmen des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB wendet sich jetzt auch Bemsmann, Entschuldigung, S. 68ff., 390. 99 So auch Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 62 a. E.; sowie Horstkotte, Prot. V (92. Sitzung), S. 1846. Horstkotte will offenbar das Problem leichter und leichtester Leibes- und Freiheitsgefahren sowohl in § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB als auch in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB ansiedeln. Das aber scheint mir nicht möglich zu sein: Entweder ist eine solche Bagatellgefahr aufgrund der teleologischen Reduktion keine Gefahr im Sinne des § 35 Abs.1 Satz 1 StGB; dann aber stellt sich schon die Frage nicht, ob die Hinnahme dieser Gefahr im Rahmen der § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB "zumutbar" ist, da die Prüfung des § 35 Abs.1 Satz 2 StGB die Bejahung des § 35 Abs.1 Satz 1 StGB voraussetzt. Oder eine Bagatellgefahr ist doch ein Problem des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB; die Richtigkeit dieser Prämisse impliziert jedoch die Bejahung einer qualifizierten Notstandsgefahr im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB. 100 In RGSt 66, S. 397ff.; siehe oben 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 1. 101 Siehe dazu ausführlich oben 3. Abschnitt 2. Kapitel. 102 So ausdrücklich bei Timpe, JUS 1984, S. 859ff., 864. 103 Vorausgesetzt ist, daß beide Handlungen Elemente der Menge aller rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen sind.
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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Beispiel 1): A droht dem B damit, ihm den kleinen Finger der linken Hand zu brechen. Diese Gefahr kann der B nur dadurch abwenden, daß er a) seinerseits den kleinen Finger der linken Hand des C bricht; b) C tötet. Sowohl die Körperverletzungshandlung als auch die Totschlagshandlung sind Elemente der Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen. Auch greift zugunsten des B in keinem der beiden Fälle der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB ein, da das gefährdete Rechtsgut des B, also die Unversehrtheit seines Fingers, weder wesentlich wertvoller ist als das in Beispiel 1 a) noch als das in Beispiel 1 b) beeinträchtigte Rechtsgut. Akzeptiert man die Prämisse, die Gefahr eines Fingerbruchs sei kein Fall einer "geringfügigen" oder "unerheblichen" Gefahr, als richtig, so ist dem B gemäß § 35 Abs. 1 StGB weder die Körperverletzungs- noch die Totschlagshandlung zur Schuld zuzurechnen. Beispiel 2): A droht B damit, ihn zu rempeln. Diese Gefahr ist für B nur dadurch abzuwenden, daß er a) seinerseits den C rempelt; b) C tötet. Da aus den oben genannten Gründen § 34 StGB wiederum nicht einschlägig ist, sind auch diese, zur Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen gehörenden Fälle als rechtswidrig zu beurteilen. Außerdem ist vorausgesetzt, daß die in den Beispielen 2 a) und 2 b) beschriebenen Notstandsgefahren solche sind, die unterhalb der Erheblichkeitsschwelle liegen 104. Damit greift in bezug auf beide Varianten des Falles § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB ein: Die Hinnahme der Notstandsgefahr ist jeweils "zumutbar"; beide Notstandshandlungen können zur Schuld zugerechnet werden.
a) Der Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" ist auch im Rahmen der Zurechnung auf der 2. Stufe von Bedeutung Die Lösungen der Beispiele 1) und 2) stellen in zweierlei Hinsicht nicht zufrieden: Man ist eher geneigt, im Beispiel 1 b) im Hinblick auf die Größe des Unrechts der Tötungshandlung auch den Ausschluß der Zurechnung zu versagen; umgekehrt liegt bei Beispiel 2 a) ein Zurechnungsausschluß nahe. Dieses Unbehagen ist auf der Basis der Theorie, die den Grund für den Zurechnungsausschluß in der durch eine besondere Zwangslage erzeugten psychischen Ausnahmesituation des Täters ("übermäßiger Motivationsdruck" lOS) sieht, auch durchaus begründ bar . Denn so wenig man im Beispiel 1 b) von einem übermäßigen Motivationsdruck zur Tötung bei der Gefahr "nur" So auch OLG Köln, StV 1985, S. 17; vgl. 3. Abschnitt Fn. 97. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, Vor §§ 32ff. Rdnr. 110; ausführlich zur Theorie des "psychischen Drucks" oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 1. 104 105
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
eines Fingerbruchs sprechen kann, so sehr ist man geneigt, dies im Beispiel 2 a) im Hinblick auf die Gleichwertigkeit der Rechtsgüter zu tun. Neben dem "Rechtsgefühl"l06 kann als ein weiteres (und gewichtigeres) Gegenargument die anderenfalls bestehende Inkonsequenz mit der Regelung des § 34 Satz 1 StGB ins Feld geführt werden. Während es dort auf das Resultat einer Abwägung der beiden kollidierenden Rechtsgüter ankommt, beeinflußt das beeinträchtigte Rechtsgut die Abwägung im Rahmen des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB nach dieser Ansicht nicht. Dagegen könnte allerdings eingewandt werden, auch dieser Unterschied basiere auf der prinzipiellen Unterscheidung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen 107 : Während die Regelung des § 34 StGB sowie die der allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis auf einer Rechtsgüterabwägung beruhen, trägt § 35 StGB der außergewöhnlichen psychischen Situation des Handelnden Rechnung. Ist aber die Annahme tatsächlich richtig, daß der psychische Druck für den Handelnden in den BeispielsfaUen 1 a) und 1 b) gleich stark ist und entsprechend auch in den Beispielsfällen 2 a) und 2 b)? Oder ist nicht doch die "Hemmschwelle" im Beispiel 1 b) höher als im Beispiella) sowie im Beispiel 2 a) niedriger als im Beispiel 2 b)? Sind die Notstandshandlungen in den Beispielen 1 a) und 1 b) in gleicher Weise verzeihlich 108, also nicht zur Schuld zurechenbar, und umgekehrt die N otstandshandlungen in den Beispielen 2 a) und 2 b) nicht zu verzeihen, also zurechenbar, oder spielt die Größe des durch die Notstandshandlung verwirklichten Unrechts doch eine Rolle? Nimmt man die These ernst, ratio des § 35 StGB sei die Anerkennung der abnormen Motivationslage, wird man die Ansicht, die Erheblichkeits- oder Bagatellgrenze sei unabhängig vom beeinträchtigten Rechtsgut zu bestimmen, nicht mehr aufrechterhalten können. Man versetze sich nur in die Situation des Handelnden: Der Täter sieht die Gefahr für seine körperliche Unversehrtheit auf sich zukommen. Ebenso erkennt er, daß es nur die unter 1 a) bis 2 b) beschriebenen Möglichkeiten gibt, die Gefahr abzuwenden. Dann aber ist der in der Notstandssituation Handelnde doch wohl eher in den Beispielen 1 a) und 2 a) bereit, die rechtswidrige Handlung vorzunehmen als in den Beispielen 1 b) und 2 b), da bei ersteren die "Hemmschwelle" aufgrund des damit verbundenen geringeren Unrechts niedriger ist 1(J9. 106 Zum Rechtsgefühl als einem relevanten Indikator für die "Richtigkeit" einer Entscheidung vgl. Obermayer, JZ 1986, S. 1 ff. 107 Zur logischen Differenz von Rechtfertigungsgründen und Gründen, die die Zurechnung zur Schuld ausschließen, Hruschka, Imputation, sowie ders./ Joerden, ARSP 1987, S. 121 ff. 108 Schröder, SchwZfStr Bd. 76 (1960), S. 1 ff., 4 ist im Ergebnis der gleichen Meinung: "Der Täter findet nicht die Billigung der Rechtsordnung, wohl aber ihre Nachsicht." 109 Für eine Abwägung der beiden, in einer qualifizierten Notstandslage kollidierenden Rechtsgüter, allerdings ohne hinreichende Begründung schon von Weber, Die Grenzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, S. 8; vgl. auch Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 251 f.; Welze1, Strafrecht, S. 180; Jescheck, Strafrecht, S. 391 f. sowie Jakobs, Strafrecht, S.472. Auch Bernsmann, Entschuldigung, S.406 warnt vor einem
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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Neben diesem, auf der Basis des "psychischen Drucks" entwickelten Argument sprechen zwei weitere Argumente für die Ansicht, auch im Rahmen des § 35 StG B komme es auf eine Abwägung der beiden betroffenen Rechtsgüter an: Auch bei anderen Regelungen, die eine Zurechnung zur Schuld ausschließen, finden Abwägungen statt zwischen dem primären Grund für eine eventuell ausgeschlossene Zurechenbarkeit und der Größe des durch die rechtswidrige Notstandshandlung verursachten Unrechts. Ein Beispiel hierfür ist § 20 Alt. 2 StGB, die "fehlende Steuerungsfähigkeit". Auch dort ist der Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe nicht allein vom Grad der "schweren seelischen Abartigkeit"110 abhängig. Es gibt keine absolute Grenze der Intensität des Defektzustandes, bei deren Überschreitung eine beliebige rechtswidrige Tat nicht mehr zur Schuld zugerechnet werden kann. Die Entscheidung über den Zurechnungsausschluß ist vielmehr wiederum das Resultat einer Abwägung des Faktors "Intensität des Defektzustandes" und der Größe des Unrechts der in diesem Zustand vorgenommenen Handlung. So ist z. B. für den Zurechnungsausschluß auf der 2. Stufe im Falle einer Totschlagshandlung ein höheres Maß an "schwerer seelischer Abartigkeit" erforderlich als in den Fällen einer Sachbeschädigungshandlung lll . Damit aber sind die Gemeinsamkeiten zwischen § 20 Alt. 2 StGB und § 35 StGB nicht mehr zu übersehen. Grund für den Zurechnungs ausschluß ist jeweils die - normativ zu verstehende 112 - U nfähigkeit des Handelnden, die Vornahme der rechtswidrigen Handlung zu unterlassen. Diese normative Unfähigkeit beruht in beiden Fällen auf einem atypischen Sachverhalt: Ist die Atypizität in der Person des Handelnden begründet, d. h. leidet der Handelnde an einem in § 20 StGB genannten Defekt, so wird die für den Zurechnungsausschluß hinreichende Unfähigkeit an Hand der Intensität des Defektzustandes und der Größe des durch die Notstandshandlung verwirklichten Unrechts ermittelt. Haben wir es demgegenüber mit einer atypischen Situation zu tun, d. h. befindet sich der Handelnde in einer qualifizierten Notstandssituation, so ist eine normative Unfähigkeit stets das Ergebnis einer Abwägung der Intensität der Notstandsgefahr (dem durch die Notstandshand"eindimensional" in Ansatz gebrachten Proportionalitätsgedanken, also der Ansicht, man könne sich mit "der Prüfung einer maßgeblich auf die Täterperspektive abhebenden Disproportionalität" begnügen. 110 Die "schwere seelische Abartigkeit" ist dabei als Gattungsbegriff zu den in § 20 StGB aufgezählten Defektzuständen zu verstehen. 111 So z. B. BGH NStZ 1981, S. 298f., 299: Es "darfallerdings nicht übersehen werden, daß erfahrungsgemäß auch erhebliche Alkoholmengen gewöhnlich nicht die Hemmungen erheblich zu lösen vermögen, die jeden Menschen ... davon abhalten, schwerste Angriffe gegen Leib und Leben zu begehen." Der BGH geht also davon aus, daß der Täter z.B. einer Sachbeschädigungshandlung bei einer bestimmten Alkoholmenge gemäß § 20 2. Alt. StG B entschuldigt ist, während dies bei demselben Täter mit derselben Alkoholmenge im Falle einer Totschlagshandlung nicht notwendig der Fall ist. Die normativ zu verstehende Handlungsunfähigkeit ist daher notwendig auch abhängig von der Größe des im Defektzustand verwirklichten Unrechts. 112 Siehe dazu oben 3. Abschnitt Fn. 21.
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
lung geschützten Rechtsgut) und wiederum der Größe des Unrechts, das durch die Notstandshandlung verwirklicht wird. Diese offensichtliche Parallelität wird lediglich durch die unterschiedlichen Formulierungen verdeckt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB ist jede in einer qualifizierten Notstandssituation vorgenommene Handlung nicht zur Schuld zurechenbar; die Reduzierung dieses als zu weitgehend empfundenen Ergebnisses auf die Fälle tatsächlicher normativer Unfähigkeit des Handelnden findet mit Hilfe der Zumutbarkeitsklausel des Satzes 2 statt. Die Funktion der ZumutbarkeitsklauseI des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erfüllt in § 20 StGB der Begriff der "Unfähigkeit". Die inhaltlichen Gemeinsamkeiten werden dann offenkundig, wenn man § 35 Abs. 1 StGB1l3 in der Terminologie des § 20 StGB formuliert: Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, handelt ohne Schuld, wenn er unfähig ist, seiner Unrechtseinsicht gemäß zu handeln. 114 Es ist deshalb alles andere als verwunderlich, wenn sich bei den beiden Vorschriften auch parallele Probleme stellen: Wie ist die Frage nach einem Ausschluß der Zurechnung zur Schuld z. B. bei dem Täter zu beantworten, der den Defektzustand bzw. die qualifizierte Notstandssituation selbst (zurechenbar) herbeigeführt hat? Die "actio libera in causa"ll5 stellt sich aus diesem Blickwinkel lediglich als ein Surrogat 116 für eine fehlende Parallelvorschrift zu § 35 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 StGBl17 dar. Als ein weiteres Argument kann die schon in anderem Zusammenhang 118 erwähnte Vorschrift des § 157 StGB, der sog. Aussagenotstand, angeführt werden. Diese Vorschrift schließt bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen zwar nicht die Zurechnung zur Schuld aus, sondern ist Strafmilderungs- bzw. Strafausschließungsgrund 119 , betrifft jedoch, wie der Name Aussage- "Notstand" schon andeutet, eine der Vorschrift des § 35 StGB verwandte Kollisionssituation 120 • Denn auch die im Rahmen des § 157 StGB in Rede stehende Rechtsfolge eines Strafausschlusses bzw. einer Strafmilderung ist nicht nur von 113 Ausgeklammert ist die in diesem Zusammenhang nicht weiter interessierende Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen. 114 Die Prüfung der Unrechtseinsicht, § 17 StGB, geht der Prüfung der Voraussetzungen der §§ 20, 35 StGB deshalb notwendig vor. 115 Zu den mit der Problematik der "actio libera in causa" zusammenhängenden Fragen siehe die in der Einleitung bei Fn. 22 angeführten Literaturhinweise. 116 § 323 a StGB ist für die Anhänger der "actio libera in causa" offenbar deshalb nicht ausreichend, weil dort lediglich die Berauschung dann bestraft wird, wenn in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begangen wird, nicht aber die Rauschtat selbst. 117 "Gefahr selbst verursacht". 118 Siehe oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 6. 119 Zur Rechtsnatur des § 157 StGB vgl. Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 157 Rdnr.1. 120 § 157 StGB setzt keine echte Notstandslage voraus; siehe dazu ausführlich oben 3. Abschnitt Fn. 78.
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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der Zwangslage des Handelnden, sondern ebenso von der Größe des Unrechts des jeweiligen Aussagedeliktes abhängig. Dies wird im besonderen deutlich an den unterschiedlichen Rechtsfolgen der Vorschrift des § 157 StGB bei falscher uneidlicher Aussage, § 153 StGB, einerseits und Meineid, § 154 StGB, andererseits. Während bei letzterem nur eine fakultative Strafmilderung in Betracht kommt, ist bei ersterem sogar ein völliger Ausschluß der Strafe möglich. Diese Differenzierung kann nur mit dem erhöhten Unrechtsgehalt des Verbrechens des Meineides gegenüber dem Vergehen der falschen uneidlichen Aussage begründet werden. Auch im Rahmen des § 157 StGB wird also die Größe des Unrechts der in der Zwangssituation begangenen Straftat in eine anzustellende Abwägung einbezogen. Ein Blick über die bundesrepublikanische Grenze hinüber zu unseren südlichen Nachbarn liefert ein weiteres Argument für die Richtigkeit der "Abwägungsthese". Die dem § 35 StGB entsprechende Vorschrift im österreichischen Strafgesetzbuch (§ 10 ÖStGB) lautet: "Wer eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, um einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil von sich oder einem anderen abzuwenden, ist entschuldigt, wenn der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie abwenden soll, und in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war." Die Entschuldigung einer rechtswidrigen Notstandshandlung im österreichischen Recht l2l ist danach insbesondere davon abhängig, daß "der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil" 122. Im österreichischen Recht findet also eine Abwägung zwischen dem gefährdeten Rechtsgut 123 und dem durch die Notstandshandlung beeinträchtigten Rechtsgut l24 statt. Genau diese Bestimmung fehlt im deutschen Recht. Deshalb und wegen der mit der "Zumutbarkeitsklausel" verbundenen Unklarheiten kommt es zu den oben beschriebenen verschiedenen Begründungsansätzen. Die Frage, ob eine Notstandshandlung zur Schuld zugerechnet werden kann, ist daher ebenso wie die Frage nach einer Notstandsbefugnis nur, wenn auch nicht ausschließlich, auf der Grundlage einer Abwägung der kollidierenden Rechtsgü121 Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich die in § 10 ÖStGB beschriebene Notstandssituation in wichtigen Punkten von der in § 35 StG B vorausgesetzten qualifIZierten Notstandssituation unterscheidet: Die Anwendung des § 10 Abs. 1 ÖStGB setzt im Gegensatz zu § 35 StGB keine Gefahr für ein qualifiziertes Rechtsgut voraus; ausreichend ist das Bestehen einer Gefahr für ein beliebiges Rechtsgut. Auf diese Differenz kommt es aber in dem hier interessierenden Zusammenhang nicht an. 122 § 10 ÖStGB. 123 In den Worten des § 10 ÖStGB: "der Nachteil". 124 In den Worten des § 10 ÖStGB: "der aus der Tat drohende Schaden"; vgl. LeukaufjSteininger, ÖStGB, § 10 Rdnr. 4, 15f.
8 Lugert
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3. Abschn.: Zur Entschuldigung von allgemein Gefahrtragungspflichtigen
ter zu beantworten. Der Parameter "Abwägung der betroffenen Rechtsgüter" ist infolgedessen auch auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld von Bedeutung. Dogmatischer Standort der vorzunehmenden Abwägung ist jedoch nicht § 35 Abs.1 Satz 1 StGB, da auch Bagatellgefahren begrifflich Gefahren sind, sondern § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB. Damit ist aber erst grundsätzlich geklärt, daß eine bestimmte Schwelle existiert, bei deren Unterschreitung eine rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlung zur Schuld zugerechnet werden kann. Ebenso steht fest, daß diese Schwelle Resultat einer Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter ist. Wo aber ist diese Schwelle anzusiedeln? Wie muß infolgedessen eine Abwägungsklausel formuliert werden?
b) Der Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" in § 35 Abs.l Satz 2 StGB Im Zusammenhang mit der bereits oben beschriebenen 125 "Fünfer-Tafel" wurde dargelegt, daß ein Ausschluß von der Zurechnung zur Schuld grundsätzlich für die Menge aller rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen in Betracht kommt. Das sind im einzelnen: In einer Aggressivnotstandssituation diejenigen qualifizierten Notstandshandlungen, in bezug auf die nicht festgestellt worden ist, daß das geschützte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte Rechtsgut; in einer Defensivnotstandssituation hingegen diejenigen qualifizierten Notstandshandlungen, in bezug auf die festgestellt worden ist, daß das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte Rechtsgut. Die für eine Zurechnung zur Schuld geeigneten qualifizierten N otstandshandlungen zeichnen sich nun dadurch aus, daß die "Forderung einer gewissen Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Gefahr und der Schwere der in der Abwehrhandlung gelegenen Rechtsgüterverletzung" 126 nicht erfüllt ist. Dies deckt sich mit dem Wortlaut des § 10 ÖStGB. Dort ist eine rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlung dann zur Schuld zuzurechnen, "wenn der aus der Tat drohende Schaden ... unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie (die Notstandshandlung) abwenden soll". M.a.W., die "Schwere der in der Abwehrhandlung gelegenen Rechtsgüterverletzung" oder "der aus der Tat drohende Schaden"127 ist unverhältnismäßig zur "Schwere der Gefahr" oder dem "Nachteil, den sie (die Notstandshandlung) abwenden soll128. Unverhältnismäßig ist eine Notstandshandlung danach stets dann, wenn das beeinträch125 126 127 128
Siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2. RGSt 66, S. 399. In der Terminologie des § 34 Satz 1 StGB: das beeinträchtigte Interesse. In der Terminologie des § 34 Satz 1 StGB: das geschützte Interesse.
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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tigte das geschützte Interesse wesentlich überwiegt 129. Dieses Ergebnis wird von der ganz herrschenden Meinung der Sache nach auch bejaht 130, freilich ohne daraus den notwendigen Schluß zu ziehen, daß die von ihr postulierte Grenze der" U nverhältnismäßigkeit" exakt mit der Grenze der Eingriffsbefugnisse eines allgemein Gefahrtragungspflichtigen in einer Defensivnotstandssituation übereinstimmt 131 • Als Ergebnis der Überlegungen steht damit eine Fallgruppe von Handlungen fest, die, obwohl sie Elemente der Menge aller rechtswidrigen qualifIzierten Notstandshandlungen sind, dennoch aufgrund der Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zur Schuld zugerechnet werden können. Diese Fälle zeichnen sich dadurch aus, daß das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte Rechtsgut. 3. Zum Parameter "Art der Notstandssituation" Bei der Entscheidung über die Zurechnung einer rechtswidrigen qualifIzierten Notstandshandlung eines allgemein Gefahrtragungspflichtigen zur Schuld ist also der Parameter "Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" von Bedeutung. Im Gegensatz dazu ist der Parameter "Art der Notstandssituation" offensichtlich irrelevant; eine entsprechende Differenzierung wird jedenfalls, soweit ersichtlich, nicht vertreten. Die hier für richtig gehaltene modifIzierte Theorie des "psychischen Drucks" kann dafür auch eine Begründung liefern: Ist entscheidend für den Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe der abnorme Motivationsdruck des Täters oder, schlichter formuliert, seine Angst, so kann es auf den Parameter "Art der Notstandssituation" nicht ankommen, denn die Furcht des Notstandstäters ist in einer Aggressivnotstandssituation ebenso groß wie in einer Defensivnotstandssituation. Das Maß an Motivationsdruck, dessen Überschreitung den Zurechnungsausschluß auslöst, ist mit anderen Worten unabhängig von der Entscheidung, ob die Notstandshandlung Rechtsgüter dessen beeinträchtigt, von dessen Sphäre auch die Notstandsgefahr ausgeht, oder Rechtsgüter eines an der Notstandsgefahr unbeteiligten Dritten gefährdet. 4. Zusammenfassung QualifIzierte Notstandshandlungen in einer Aggressivnotstandssituation sind a) rechtmäßig unter der Voraussetzung, daß das geschützte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte Rechtsgut; So jetzt explizit Bernsmann, Entschuldigung, S.415f. Lenckner, in: Schönke j Schröder, StGB, § 35 Rdnr. 33; Dreher jTröndle, StGB, § 35 Rdnr. 14 sowie Lackner, StGB, § 35 Anm. 3 b; vgl. auch Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 291 f. 131 Zu§ 228 BGB und dem Rechtsgedanken einer allgemeinen Defensivnotstandsbefugnis siehe oben 1. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 1 b bb. 129
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b) rechtswidrig, aber nicht zur Schuld zurechenbar unter der Voraussetzung, daß das eine Rechtsgut das jeweils andere schlicht überwiegt oder beide gleichwertig sind; c) rechtswidrig und zur Schuld zurechenbar unter der Voraussetzung, daß das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte Rechtsgut. Qualifizierte Notstandshandlungen in einer Defensivnotstandssituation sind hingegen a) rechtmäßig unter der Voraussetzung, daß es nicht der Fall ist, daß das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte Rechtsgut; b) rechtswidrig und zur Schuld zurechenbar unter der Voraussetzung, daß das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte Rechtsgut. Zur Verdeutlichung das Fallsystem III (" / ": die Handlung ist rechtmäßig; schon die Frage eines Zurechnungsausschlusses stellt sich nicht; ,,+ ": die rechtswidrige Handlung ist zur Schuld zurechenbar; ,,- ": die rechtswidrige Handlung ist nicht zur Schuld zurechenbar): Fallsystem III
Menge aller qualifizierten Notstandshandlungen gl>bI
Aggressiv-
Defensivnotstandssituation
I
I
gI = bI
-
gI < bI
-
I
gl ~ bI
+
+
gl > bI
I I
Eine Zurechnung zur Schuld ist in dem bereits zitierten Fall des Reichsgerichts 132 also nur dann möglich, wenn das durch die Ableistung des Meineides beeinträchtigte Rechtsgut "Funktionsfähigkeit der Rechtspflege"133 wesentlich mehr wert ist als das durch die angedrohten Schläge gefährdete Rechtsgut "körperliche Unversehrtheit". Gleiches gilt für die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1981 134 . Auch dort ist die Beihilfehandlung dann zur Schuld zuzurechnen, falls das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut "körperliche Unversehrtheit" des Kraftfahrers wesentlich wertvoller 132 RGSt 66, S. 397ff. 133 Zu dem von den §§ 153ff. StGB geschützten Rechtsgut vgl. Rudolphi, in: SK Vor §§ 153ff. Rdnr. 2ff. 134 BGR DAR 1981, S. 226.
4. Kap.: Die relevanten Fälle und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
117
ist als das Rechtsgut "körperliche U nversehrtheit" der Notstandstäterin, was bei der erforderlichen Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter durchaus auch dann der Fall sein kann, wenn auf beiden Seiten das Rechtsgut "körperliche Unversehrtheit" betroffen ist. Ob dies tatsächlich zutrifft, ist im wesentlichen eine Sachverhalts- und Wertungsfrage. Daher kann für die vorliegenden Fälle aufgrund der insoweit nicht hinreichenden Kenntnis des Sachverhalts lediglich die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit der richterlichen Überlegungen konstatiert werden. Drei Thesen verdienen es, am Ende des Abschnitts zur Frage der Zurechnung zur Schuld bei Notstandshandlungen allgemein Gefahrtragungspflichtiger besonders hervorgehoben zu werden: Zum einen stellt sich die Frage eines möglichen Zurechnungsausschlusses in den Fällen nicht, in denen das geschützte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte Rechtsgut. Denn diese Fälle sind stets als rechtmäßig zu beurteilen; der Parameter "Art der Notstandssituation" ist dabei für die Bestimmung der Notstandsbefugnisse ohne Bedeutung. Zum anderen ist eine qualifizierte Notstandshandlung stets dann als rechtswidrig zu beurteilen, wenn das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich mehr wert ist als das geschützte Rechtsgut. Und dies gilt wiederum sowohl in einer Aggressiv- als auch in einer Defensivnotstandssituation. Überdies ist jede dieser Notstandshandlungen gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zur Schuld zurechenbar, weil der für den Zurechnungsausschluß notwendige Grad an Motivationsdruck nicht erreicht wird. Aus beiden Thesen folgt: In einer Defensivnotstandssituation sind keine qualifizierten Notstandshandlungen denkbar, deren Zurechnung zur Schuld gemäß § 35 StGB ausgeschlossen ist.
4. Abschnitt
Zur Entschuldigung von Handlungen erhöht Gefahrtragungspflichtiger im Notstand 1. Kapitel
Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem IV Die im 2. Abschnitt erfolgte Untersuchung der der Gruppe der erhöht Gefahrtragungspflichtigen zustehenden Notstandsbefugnisse und der damit korrelierenden Notstandsduldungspflichten beantwortet die Frage nach deren strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Notstandssituationen nur zum Teil. Auch mit der Beurteilung einer Tat als rechtswidrig steht noch keineswegs fest, daß der Täter eine Straftat l begangen hat. Diese Aussage ist erst dann möglich, wenn die rechtswidrige Tat auch zur Schuld zugerechnet werden kann. Daraus folgt für die in unserem Zusammenhang interessierenden Fälle der Vornahme einer qualifizierten Notstandshandlung 2 durch einen erhöht Gefahrtragungspflichtigen, daß der im Notstand Handelnde stets dann strafbar ist, wenn - wie vorausgesetzt - zwar § 35 Abs. 1 Satz 1 StG Beinschlägig ist 3 , gleichzeitig aber auch die Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB eingreift. Die Frage, die in diesem 4. Abschnitt aufgeworfen wird, ist also die nach der Reichweite des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe bei qualiftzierten Notstandshandlungen, die von erhöht Gefahrtragungspflichtigen vorgenommen werden. Im Hinblick auf die diesbezüglich relevanten Fallvarianten von rechtswidrigen qualiftzierten Notstandshandlungen ist es nützlich, sich das im 2. Abschnitt entwickelte Fallsystem II4 noch einmal vor Augen zu führen. Dabei ist aufgrund der im 1. und 2. Abschnitt herausgearbeiteten Notstandsbefugnisse klar, daß von den dreißig relevant voneinander verschiedenen Fallvarianten elf als rechtmäßig zu beurteilen sind und daher für die folgende Untersuchung außer Betracht bleiben. Übrig bleiben neunzehn als rechtswidrig zu beurteilende und 1 Eine Straftat ist "eine (objektiv und subjektiv) deliktstatbestandsmäßige, rechtswidrige und zur Schuld zuzurechnende Vornahme oder Unterlassung einer Handlung"; so Hruschka, Strafrecht, Vorbemerkung S. XI. 2 Zum Begriff der qualifizierten Notstandshandlung siehe oben 3. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 1. 3 Die Vornahme einer qualifizierten Notstandshandlung erfüllt per definitionem die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB; siehe oben 3. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 1. 4 Siehe 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3 b ce a. E.
1. Kap.: Ausarbeitung der relevanten Fälle; das Fallsystem IV
119
damit im Bereich der Zurechnung zur Schuld relevante Fallvarianten. Diese neunzehn Fallvarianten reduzieren sich um weitere fünf Fallvarianten, nämlich die Fallvarianten B I, C I, D I, E I und E 11. Diese Fallvarianten, die ausnahmslos qualifizierte Notstandshandlungen von allgemein Gefahrtragungspflichtigen repräsentieren, sind hinsichtlich einer Zurechnung zur Schuld bereits im 3. Abschnitt untersucht worden. Als Ergebnis hat sich dort herausgestellt, daß eine Zurechnung auf der 2. Stufe zwar grundsätzlich ausgeschlossen ist; jedoch dann nicht, wenn das durch den Notstandseingriff beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das geschützte RechtsgutS . Lediglich vierzehn Fallvarianten sind somit Fälle rechtswidriger qualifizierter Notstandshandlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen. Ihnen gilt im folgenden unser Augenmerk. ("I": rechtmäßige qualifizierte Notstandshandlungen; ,,- ": nicht zur Schuld zurechenbar; ,,+ ": zur Schuld zurechenbar). Fallsystem IV Menge aller Notstandshandlungen
allgemein gefahrtragungspflichtig
Aggr.- I Def.notstandssituation
erhöht gefahrtragungspflichtig spezielle Obhutspflicht Aggr.- I Def.notstandssituation
besonderes Rechtsverhältnis Aggr.- I Def.notstandssituation
I
11
III
IV
V
VI
bl
I
I
I
I
I
I
> bl gI = bl gI < bl
-
I
I
-
I
I
-
I
D
bl
+
+
E
gl
~
gI
gI
5
~
Vgl. dazu oben 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 4.
A B C
2. Kapitel
Untersuchung der FaUvarianten III bis VI des Fallsystems IV hinsichtlich ihrer Zurechenbarkeit zur Schuld 1. Einidhrung
So sehr die Frage nach einer Beschränkung der Notstandsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen umstritten ist 6 , so eindeutig scheint sie jedenfalls auf den ersten Blick - beantwortet werden zu können, wenn die Zurechnung einer rechtswidrigen Notstandshandlung zur Schuld in Rede steht. Denn in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB hat der Gesetzgeber explizit Ausnahmen vom grundsätzlichen Zurechnungsausschluß des § 35 Abs. 1 Satz 1 StG B vorgesehen. Sieht man einmal davon ab, daß der Begriff der "Zumutbarkeit" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB keinen semantischen Sinn ergibt und daher untauglich ist, die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen zu beantworten 7 , so ist doch allein durch die Existenz der Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB eines klargestellt: Es sind qualifizierte Notstandshandlungen denkbar, die dem Täter mit Blick auf eine zwischen ihm und dem Inhaber des beeinträchtigten Rechtsgutes bestehende Sonderbeziehung zur Schuld zugerechnet werden. Offen ist jedoch, ob eine bestehende Sonderpflicht, sei es der Allgemeinheit, sei es einem oder mehreren bestimmten Rechtsgutsträgern gegenüber, dazu führt, daß die entsprechende qualifizierte Notstandshandlung stets und ausnahmslos zur Schuld zurechenbar ist oder ob sich eine erhöhte Gefahrtragungspflicht lediglich in einer relativen Ausweitung der Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe niederschlägt. Aufgeworfen ist damit die Frage nach dem Umfang der Zurechnung zur Schuld bei qualifizierten Notstandshandlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen. Wiederum ist es erforderlich, zwischen einer erhöhten Gefahrtragungspflicht aufgrund eines bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses einerseits und einer solchen aufgrund einer speziellen Obhutspflicht andererseits zu differenzieren.
Siehe dazu oben 2. Abschnitt 1. Kapitel. Vgl. Bemsmann, Entschuldigung, S. 111: Die Zumutbarkeitsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StG B beweist nur, "daß es unter dem Generalnenner der Zumutbarkeit Ausnahmen von der Straffreiheit für Handlungen im rechtsgutspezifischen Notstand gibt"; siehe dazu auch oben 3. Abschnitt 2. Kapitel. 6
7
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
121
2. Zur Entschuldigung von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen (FaUvarianten V und VI) a) Der Meinungsstand
aa) In den Partikularrechten und in der Literatur des 19. Jahrhunderts Schon in den partikularrechtlichen Regelungen des 19. Jahrhunderts sind explizit oder implizit Ausnahmen vom grundsätzlichen Zurechnungsausschluß auf der 2. Stufe bei Notstandshandlungen erhöht Gefahrtragungspflichtiger gemacht worden. Ausdrückliche Regelungen finden sich in den Strafgesetzbüchern des Großherzogturns BadenS sowie des Königreichs Sachsen 9 • In den jeweils einschlägigen Vorschriften ist der Notstandstäter stets dann nicht entschuldigt, wenn er erhöht gefahrtragungspflichtig ist. Diese prinzipielle Exemtion vom Entschuldigungsprivileg in den Fällen einer Sonderpflicht der Allgemeinheit gegenüber beantwortet zwar die Frage nach dem Umfang der Reichweite des Zurechnungsausschlusses von erhöht Gefahrtragungspflichtigen, verlagert aber im übrigen lediglich die Problemstellung. Entscheidend ist nun, ob der im Notstand Handelnde allgemein gefahrtragungspflichtig (und damit in der Regel entschuldigt) oder sonderpflichtig (und damit ausnahmslos von einer Entschuldigung ausgeschlossen) ist. Die meisten Kommentatoren hielten dabei eine restriktive Auslegung für richtig: Zu Art. 92 SächsStGB meint z. B. von Waechter, eine solche "besondere Verpflichtung" 10 bestünde nur dann, wenn "das Gesetz ausdrücklich die Pflicht ausspricht, einen Nothstand oder gewisse Nothstände zu bestehen."ll Eine solche ausdrückliche Pflicht nimmt von Waechter nur bei "Militärpersonen" 12 an. Auch J anka geht offenbar davon aus, daß Notstandshandlungen von Personen, die heutzutage als erhöht Gefahrtragungspflichtige aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses bezeichnet werden, prinzipiell zur Schuld zugerechnet werden können: "Dem 8 Strafgesetzbuch für das Großherzogturn Baden vom 6. März 1845, § 83: "Die Zurechnung fällt in den Fällen der §§ 81 und 82 (Regelungen über ,Nothstand' und ,Zwang'; Vorläufer der späteren §§ 52, 54 RStGB; Anm. des Verf.) nicht weg, wenn zur Uebemahme der Gefahr, zu deren Abwendung die Uebertretung geschah, für den Gefährdeten eine besondere Rechtspflicht vorhanden war." 9 Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 13. August 1855, Art. 92: "Auch außer dem Falle der Nothwehr ist derjenige nicht strafbar, welcher eine gesetzwidrige Handlung in einem auf andere Weise nicht abwendbaren Nothstande, zur Rettung aus einer gegenwärtigen dringenden Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder seiner Angehörigen vorgenommen hat, vorausgesetzt, daß./Ur den Gefährdeten nicht eine besondere Verpflichtung zum Bestehen solcher Gefahren obwaltete, und nicht die Gefahr als unmittelbare Folge einer von ihm begangenen strafbaren Handlung eingetreten ist. " 10 Art. 92 SächsStGB, vgl. oben 4. Abschnitt Fn. 9. 11 Von Waechter, Das Königlich Sächsische und das Thüringische Strafrecht, S. 378f. 12 Von Waechter, a.a.O. (Fn. 11), S. 379.
122
4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Soldaten, der, um sein Leben zu erhalten, dem Feinde den Rücken kehrt, kommt sein Notstand nicht zu Statten."13 Janka plädiert deshalb - insoweit in Übereinstimmung mit von Waechter - ausdrücklich für eine einschränkende Auslegung des Begriffs der "besonderen Rechtspflicht"14 bzw. des der "besonderen Verpflichtung"15 16. Die Thesen von Waechters und Jankas sind in sich stimmig und leuchten ein: Sind Notstandshandlungen von Personen, denen eine "besondere Verpflichtung" auferlegt ist, stets zur Schuld zurechenbar, dann muß dieser Begriff restriktiv ausgelegt werden, da andernfalls das Postulat des grundsätzlichen Zurechnungsausschlusses ausgehöhlt werden würde. 17 bb) Die These Bindings Von diesem Lösungsmodell distanziert sich als einer der ersten Binding; er hält einen Zurechnungsausschluß trotz einer bestehenden Sonderpflicht der Allgemeinheit gegenüber für möglich: "Wo es an ausdrücklichen Bestimmungen überhaupt fehlt, ist darauf zu sehen, ob die Person, die ihre Pflicht ihrer Errettung opferte, sei's durch Amt (Sicherheitsbeamte, Forstwarte), sei's durch Vertrag (freiwillige Feuerwehr, Krankenwärter, Lokomotivführer u.s.w.) das Bestehen der Gefahr entweder absolut oder in bestimmtem Umfange übernommen hat." 18 Kriterien für die Differenzierung von Notstandshandlungen erhöht Gefahrtragungspflichtiger der Allgemeinheit gegenüber, deren Zurechnung zur Schuld möglich, und solchen, deren Zurechnung ausgeschlossen ist, sind bei Binding freilich nicht zu finden. Diejenigen Autoren, die auch im Falle einer erhöhten Gefahrtragungspflicht einen Ausschluß von der Zurechnung zur Schuld unter bestimmten Voraussetzungen für möglich halten l9 , tendieren in aller Regel auch zu einer Ausdehnung des Personenkreises, der mit einer erhöhten Gefahrtragungspflicht belastet ist. Dies ist nur konsequent: Hat man sich die Entscheidung über die Zurechnung zur Schuld trotz Bejahung einer 13 Janka, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 256; ebenso Feuerbach, Lehrbuch, § 91 Anm. c; Marquardsen, Die Lehre vom Nothstande, S. 412ff.; Bemer, Strafrecht, S. 106. 14 § 83 BadStGB; vgl. oben 4. Abschnitt Fn. 8. 15 Art. 92 SächsStGB; vgl. oben 4. Abschnitt Fn. 9. 16 Janka, a.a.O. (Fn. 13), S.255; so auch schon Wessely, Die Befugnisse des Nothstandes und der Nothwehr, S. 21 ff.; Göb, GA Bd. 28 (1880), S. 183ff.; Tobler, Die Grenzgebiete zwischen Notstand und Notwehr, S.17, 23; Neubecker, Zwang und Notstand, Bd. I, S. 337. 17 So auch Janka, a.a.O. (Fn. 13), S. 255. 18 Binding, Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, Erster Bd., S. 780 ff., 782; für eine nicht ausnahmslose Zurechnurig von Notstandshandlungen erhöht Gefahrtragungspflichtiger auch Haelschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. I, S. 501 f., 502 Fn. 1; Würzburger, Das Recht des strafrechtlichen Notstandes, S. 61 f.; Broglio, Der strafrechtliche Notstand im Lichte der Strafrechtsreform, S. 51. 19 Vgl. Zitate bei Fn. 18.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
123
erhöhten Gefahrtragungspflicht offen gehalten, so ist man natürlich eher geneigt, den Kreis der erhöht Gefahrtragungspflichtigen zu erweitern. ce) Der Einfluß der "normativen Schuldlehre" Mit der These der "normativen Schuldlehre"20, der materielle Gehalt der Schuld sei generell mit Hilfe des Begriffs der "Zumutbarkeit" zu bestimmen, und der darauf aufbauenden Ansicht, die Notstandsregelungen der §§ 52, 54 StGB a. F. seien nur eine kodifizierte Ausprägung eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes der Unzumutbarkeit 21 , geht, wie nicht anders zu erwarten, eine Ausweitung der Personengruppe, die erhöht gefahrtragungspflichtig ist, einher. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Mit Hilfe des schillernden Begriffs der "Zumutbarkeit", einem "wertfreien, inhaltsleeren, nur formalen und regulativen Prinzip" 22 , kann die Frage einer Zurechnung zur Schuld einer qualifizierten Notstandshandlung bei Bejahung einer erhöhten Gefahrtragungspflicht nicht rational nachvollziehbar beantwortet werden. Der nichtssagende und dazu auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld deplazierte Begriff der "Zumutbarkeit"23 leistet nur eines: Mit seiner Hilfe läßt sich jedes vom Urteiler gewünschte Ergebnis - scheinbar - begründen. Die mit dem Begriff der "Zumutbarkeit" untrennbar verknüpfte "normative Schuldlehre" ist nach alledem nicht in der Lage, die Frage nach der Reichweite des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe hinreichend zu beantworten. dd) Die Literatur heute Das Problem einer möglicherweise unterschiedlichen Reichweite des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe einerseits von Personen, denen der Allgemeinheit gegenüber Sonderpflichten auferlegt sind, und andererseits den speziell Obhutspflichtigen wird in neuerer Zeit, bedingt durch den konturlosen Begriff der "Zumutbarkeit" in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB24, kaum noch diskutiert. Zur "normativen Schuldlehre" siehe oben 3. Abschnitt Fn. 21. So Goldschmidt, in: Festschrift für von Frank, S. 447ff.; ders., Der Notstand, ein Schuldproblem, S.33ff.; siehe auch Freudenthai, Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht, S.7; von Weber, Das Notstandsproblem, S. 91 ff., 93; von Liszt/Schmidt, Strafrecht, S. 266ff., 268f.; Marcetus, in: Strafrechtliche Abhandlungen Heft 243, S. 44; Mezger, Strafrecht, S. 370 ff.; Siegert, Notstand und Putativnotstand, S.44ff. Gegen einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit Schaffstein, Die Nichtzumutbarkeit als allgemeiner übergesetzlicher Schuldausschließungsgrund, S.78f. 22 Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 305. 23 Siehe dazu ausführlich oben im 3. Abschnitt 2. Kapitel. 24 In der 92. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (Prot. V, S. 1858) vertrat Horstkotte, ohne dafür Widerspruch hinnehmen zu müssen, die folgende Meinung: "Die Zumutbarkeitsklausel bedeute ... aber auch, daß nicht in allen Fällen, wo eine besondere rechtliche Pflicht gegeben sei, dem Täter das Notstandsprivileg zu versagen sei". Diese Ansicht kann als die heute herrschende Meinung bezeichnet werden. 20 21
124
4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Stellvertretend für den Meinungsstand in der Literatur sei Lenckner zitiert: Es "erfolgt die Zumutbarkeitsprüfung durch eine Abwägung der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte, wobei die beiden in Satz 2 genannten Beispiele nur den Sinn haben, den sachlichen Gehalt des Zumutbarkeitskriteriums zu verdeutlichen. "25 Die Behauptung Lenckners stellt alles andere als intellektuell zufrieden; wirft sie doch mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Welche Kriterien sind denn für die Frage eines möglichen Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe nach Lenckner relevant? Und daran anschließend: Mit welcher Gewichtung fließen die als relevant erkannten Faktoren in die Abwägung ein? Auch die im übrigen hierzu vertretenen Lehrmeinungen sind wenig erhellend. Jescheck z. B. meint, im Falle eines bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses sei "die Hinnahme der Gefahr regelmäßig ... zuzumuten."26. Welche Fälle jedoch von der von ihm aufgestellten Regel abweichen und welche Kriterien hierfür bestimmend sind, bleibt auch bei Jescheck offen. ee) Die Rechtsprechung Auch die Judikatur hat zur Frage der Reichweite des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe bei qualifizierten Notstandshandlungen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, keine klaren und nachvollziehbaren Kriterien entwickelt, sondern argumentiert meist unter Rückgriff auf den als untauglich erkannten Begriff der Zumutbarkeit. Schon das Reichsgericht verstand die von §§ 52, 54 StGB a. F. erfaßten Fälle als solche, bei denen dem Täter "normgemäßes Verhalten nicht zumutbar"27 sei. Auch in neueren Urteilen werden keine über den Stand der reichsgerichtlichen Rechtsprechung hinausgehenden und weiterführenden Begründungsansätze sichtbar. Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Das AG Walkenried wies den Einwand eines wehrpflichtigen Soldaten, er habe einen Befehl aus Angst um seine körperliche Integrität verweigert, mit der folgenden knappen Begründung zurück: "Diese Einlassung vermag den Angeklagten nicht zu entlasten, da nach § 6 des Wehrstrafgesetzes Furcht vor persönlicher Gefahr eine Tat nicht entschuldigt... "28. Auch der Bundesgerichtshof ist in einem obiter dictum der Meinung gewesen, daß qualifizierte Notstandshandlungen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, grundsätzlich zur Schuld zugerechnet werden können: "Der Polizeivollzugsbeamte muß unter Umständen sein Leben 2S Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 35 Rdnr. 18; vgl. auch Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 56: "es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an. "; Dreher /Tröndle, StGB, § 35 Rdnr. 12: "Trotz des besonderen (Rechts-) Verhältnisses gibt es auch hier, wenn auch selten, Fälle der Unzurnutbarkeit." 26 Jescheck, Strafrecht, S. 438f.; vgl. ders., SchwZfStR 1975, S. 1 ft., 28 Fn. 75. Im Ergebnis ebenso Blei, Strafrecht, S. 210 und Maurach/Zipf, Strafrecht, S. 444f., 447. 27 RGSt 66, S. 222ft., 225. 28 AG Walkenried, Urt. v. 17.10.1961 2 MS 23/61 - zitiert bei: KohIhaas/Schwenck, WStG, § 6 Nr. 1.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
125
einsetzen, wenn er an der Festnahme eines bewaffneten Verbrechers ... beteiligt ist. "29 Eine Konkretisierung der vom Bundesgerichtshof geforderten Umstände erfolgt jedoch nicht. Dem Urteil ist nur eines zu entnehmen: Auch der Bundesgerichtshof ist, wie der Begriff "unter Umständen" zeigt, offensichtlich der Meinung, daß ein bestehendes besonderes Rechtsverhältnis nicht notwendig und stets eine Zurechnung auf der 2. Stufe zur Folge hat. Zusammenfassend läßt sich daher nur feststellen, daß auch die Rechtsprechung keinen über den bereits als unzureichend abgelehnten Begriff der "Zumutbarkeit" hinausgehenden Begründungsansatz entwickelt hat 30 . ff) Der Alternativvorschlag Hruschkas
Als Alternative zu den im obigen Abschnitt dargelegten Literaturmeinungen steht der tnit den Regelungen des § 83 BadStGB31 und des Art. 92 SächsStGB32 inhaltlich weitgehend übereinstimmende Vorschlag von Hruschka im Raum, der, um das Ergebnis vorwegzunehmen, eine generelle Zurechenbarkeit von qualifizierten Notstandshandlungen erhöht Gefahrtragungspflichtiger zur Folge hat. Hruschka hat vorgeschlagen, § 35 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 StGB neu zu formulieren: "Dies gilt nicht, soweit der Täter in einem besonderen Rechtsverhältnis stand. "33 Da nach der hier vertretenen Meinung die Gruppe der speziell Obhutspflichtigen, also die Gruppe derer, denen eine Sonderpflicht gegenüber bestimmten, individualisierten Rechtsgütern auferlegt ist, den erhöht Gefahrtragungspflichtigen zugerechnet werden muß, diese aber nicht als Inhaber eines besonderen Rechtsverhältnisses anzusehen sind 34, wäre die vorgeschlagene Klausel um den Begriff "namentlich" zu ergänzen. Der Gesetzesvorschlag Hruschkas stimmt insoweit tnit den Regelungen des § 83 BadStGB sowie des Art. 92 SächsStGB überein, als er unter Verzicht auf den sinn- und inhaltslosen Zumutbarkeitsbegriff einen Zurechnungsausschluß auf der 2. Stufe immer dann verneint, wenn der im Notstand Handelnde erhöht gefahrtragungspflichtig ist. An der Richtigkeit seiner These zweifelt jedoch Hruschka selbst. Ein genereller Ausschluß vom BGH NJW 1964, S. 730f., 731. Zum Kriterium der Zumutbarkeit bei Notstandshandlungen vgl. auch RGSt 41, S. 214fT.; RGSt54, S. 338ff.; RGSt66, S. 397 ff.; RGSt 72, S. 19ff. sowieOLG GeraHESt 1, S. 19ff.; BGH NJW 1952, S. 111 ff.; BGH ROW 1958, S. 33f. mit Anm. Westram (S. 34 f.) und RosenthaI (S. 82); BGH ROW 1958, S. 81 f.; BGH DAR 1981, S. 226 sowie OLG Oldenburg NJW 1988, S. 3217f. = StV 1988, S. 206. Die Begründungen sind durchweg parallel zu den im Text ausführlicher dargelegten Judikaten. 31 Siehe oben 4. Abschnitt Fn. 8. 32 Siehe oben 4. Abschnitt Fn. 9. 33 Hruschka, Strafrecht, S. 284. 34 Zum Verhältnis einer erhöhten Gefahrtragungspflicht aufgrund eines besonderen Rechtsverhältniss.es sowie einer speziellen Obhutspflicht siehe oben 2. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 3 c. 29
30
126
4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Entschuldigungsprivileg des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB sei - so Hruschka 35 zwar dann gerechtfertigt, wenn es sich um einen erhöht Gefahrtragungspflichtigen kraft Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe handelt. Im Gegensatz dazu dächte man jedoch nicht daran, "auch Müttern (als Beispiel für eine speziell Obhutspflichtige; Anm. des Verf.) auf diese Weise jede Entschuldigung abzuschneiden."36 Eine solche differenzierende Lösung ist jedoch, wie Hruschka selbst einräumen muß 37 , mit der von ihm vorgeschlagenen Klausel nicht zu vereinbaren. Um es vorwegzunehmen: Es wird sich im folgenden als lohnend herausstellen, dieser - auf den ersten Blick als zu weitgehend und zu starr empfundenen Regelung größere Aufmerksamkeit zu schenken. b) Eigener Lösungsvorschlag
aa) Die Sondervorschriften für Seeleute, Zivildienstleistende und Soldaten Regelungen, die eine generelle Zurechnung qualifizierter Notstandshandlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen zur Folge haben, sind nicht nur in den Partikularrechten sowie bei Hruschka zu finden. Sie sind auch Bestandteil der lex lata. Es gibt Personengruppen, deren erhöhte Gefahrtragungspflicht das Gesetz ausdrücklich festschreibt. Es sind dies Soldaten, § 6 WStG38, Seeleute, §§ 106 Abs.3, 109 Abs.l SeemannsG39 und Zivildienstleistende, § 27 Abs.3 ZDG40. Hruschka, Strafrecht, S. 285. Hruschka, Strafrecht, S. 285. 37 Hruschka, Strafrecht, S. 284. 38 WehrstraJgesetz vom 24. Mai 1974: § 6: "Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen." VorläuJer sind die §§ 49,87 MilStGBfür das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872: § 49 Abs. 1: "Die Verletzung einer Dienstpflicht aus Furcht vor persönlicher Gefahr ist ebenso zu bestrafen, wie die Verletzung einer Dienstpflicht aus Vorsatz." § 87: "Wer ... aus Besorgniß vor persönlicher Gefahr eine militärische Dienstpflicht verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft." Vgl. auch den Vorgänger des MilitärstraJgesetzbuches für das Deutsche Reich, das Preußische MilitärstraJgesetzbuch: § 116: "Die Nichtbeachtung jeder persönlichen Gefahr ist eine Berufspflicht der Personen des Soldatenstandes, welche in Kollisionsfällen höher gestellt werden muss als die Pflicht der Selbsterhaltung." 39 Seemannsgesetz vom 26. Juli 1957: § 106 Abs. 3: "Droht Menschen oder dem Schiff eine unmittelbare Gefahr, so kann der Kapitän die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Anordnungen notfalls mit den erforderlichen Zwangsmitteln durchsetzen." § 109 Abs. 1: "Die Besatzungsmitglieder sind verpflichtet, die Anordnungen der Vorgesetzten zu befolgen; in den Fällen des § 106 Abs. 2 und 3 sind sie zur Beistandsleistung verpflichtet." 3S
36
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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Geht man vom Wortlaut dieser Vorschriften aus, so verwundert es, daß sie beinahe einhellig als ausdrückliche Regelungen für eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Zurechnungsausschluß des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB angesehen werden 41 • Wenn sich in § 109 Abs. 1 SeemannsG (und seinem Vorgänger) die Formulierung findet, die Besatzungsmitglieder seien "verpflichtet", auch bei Gefahren den Anweisungen des Kapitäns zu folgen, oder in § 27 Abs. 3 ZDG vom Zivildienstleistenden gefordert wird, er "muß ... Gefahren auf sich nehmen", so spricht das eher für eine erhöhte Duldungspflicht, also für eine Einschränkung der Eingriffsbefugnisse in Notstandssituationen, als für eine erweiterte Zurechnung zur Schuld 42 • Nun werden solche Einschränkungen, wie sich im 3. Abschnitt herausgestellt hat, auch durchaus gemacht und müssen in einem konsistenten System von Notstandsbefugnissen auch gemacht werden; sie werden in aller Regel aber nicht mit den oben zitierten Vorschriften begründet. Im Gegensatz dazu ist dem Wortlaut des § 6 WStG eine explizite Ausnahme vom Zurechnungsausschluß gemäß §§ 33, 35 Abs. 1 Satz 1 StGB für den Fall zu entnehmen, daß das Motiv des Täters für die Notwehrüberschreitung bzw. Notstandshandlung Furcht ist, und "die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen."43 Bei dieser Formulierung ist einmal zweifelhaft, was unter einer "soldatischen Pflicht" zu verstehen ist. Im Einklang mit der einschlägigen Literatur44 und der Amtlichen Begründung zu dem Entwurf eines WehrstrafgeVorgänger sind die §§ 34.41 SeemannsO vom 2. Juni 1902: § 34: "Der Schiffsmann ist verpflichtet, in Ansehung des Schiffsdienstes den Anordnungen des Kapitäns, der Schiffsoffiziere und seiner sonstigen Dienstvorgesetzten unweigerlich Gehorsam zu leisten und zu jeder Zeit alle für Schiff und Ladung ihm übertragenen Arbeiten zu verrichten." §41: "Bei Seegefahr, besonders bei drohendem Schiffbruche, sowie bei Gewalt und Angriff gegen Schiff oder Ladung hat der Schiffsmann alle befohlene Hülfe zur Erhaltung von Schiff und Ladung unweigerlich zu leisten und darf ohne Einwilligung des Kapitäns, solange dieser selbst an Bord bleibt, das Schiff nicht verlassen. Er bleibt verbunden bei Schiffbruch für Rettung der Personen und ihrer Sachen sowie für Sicherstellung der Schiffstheile, der Geräthschaften und der Ladung, den Anordnungen des Kapitäns gemäß, nach besten Kräften zu sorgen und bei der Bergung gegen Fortbezug der Heuer und der Verpflegung Hülfe zu leisten." 40 Zivildienstgesetz vom 31. Juli 1986: § 27 Abs.3: "Er (der Zivildienstleistende; Anm. des Verf.) muß die mit dem Dienst verbundenen Gefahren auf sich nehmen, insbesondere, wenn es zur Rettung anderer aus Lebensgefahr oder zur Abwendung von Schäden, die der Allgemeinheit drohen, erforderlich ist." 41 Vgl. statt vieler Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 34 Rdnr. 34, § 35 Rdnr. 23; Dreher jTröndle, StGB, § 34 Rdnr. 13 f., § 35 Rdnr. 12. 42 Auch die einschlägige Kommentarliteratur verwendet die Begriffe "Pflicht" und "verpflichten", ohne auf die damit verbundene Problematik einzugehen. Vgl. z. B. Brecht, ZDG, § 27 Rdnr. 41: "Die Pflicht des Zivildienstleistenden, die mit dem Dienst verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen, geht über die alle Staatsbürger treffende Pflicht ... hinaus."; SchwedesjFranz, Seemannsgesetz, § 109 Rdnr. 5: "Das Besatzungsmitglied ist grundsätzlich verpflichtet, Anordnungen der zuständigen Vorgesetzten zu befolgen." 43 Vgl. § 6 WStG.
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4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
setzes, der später dann auch Gesetz geworden ist, muß der Begriff der "soldatischen Pflicht" aus den Generalklauseln der §§ 7, 12 SoldG entwickelt werden, die eine Pflicht des Soldaten enthalten, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen" sowie den Kameraden "in Not und Gefahr beizustehen"45. Dies gilt nach herrschender Meinung im Unterschied zu § 49 Abs. 1 MilStGB sowohl innerhalb als auch außerhalb des Dienstes 46 • So heißt es etwa in der Amtlichen Begründung, daß eine "soldatische Pflicht" etwa auch im Falle eines drohenden Schiffsunterganges bestünde, "wenn sich ein Soldat außerdienstlich auf dem Schiff befindet. "47 Ist das Bestehen einer "soldatischen Pflicht" aber unabhängig davon, ob der Soldat sich im Dienst befindet oder nicht, und umfaßt die "soldatische Pflicht" überdies "die Pflicht, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen"48, d. h. die Pflicht, jedes rechtlich geschützte Gut zu verteidigen, so besteht eine "soldatische Pflicht" jedenfalls immer dann, wenn die Gefährdung oder Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter in Rede steht49 • Ist aber der Begriff der "soldatischen Pflicht" derart extensiv auszulegen, so ist es nur gerechtfertigt, in dem hier interessierenden Zusammenhang diesen Begriff mit dem entsprechenden Gattungsbegriff "Pflicht" gleichzusetzen. 50 Das Erfordernis, "die Gefahr zu bestehen", bedeutet für den Soldaten, der sich in einer Notstandssituation befindet, daß ihm verboten ist, die drohende Gefahr auf Dritte überzuwälzen. Handelt er diesem Verbot zuwider, dann verletzt er seine Unterlassungspflicht; die Tat ist rechtswidrig. § 6 WStG kann also ohne inhaltliche Änderung noch knapper gefaßt werden: "Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die Handlung verboten (und damit aus der ex-post Perspektive die Tat rechtswidrig) ist. Bei dieser Formulierung aber wird die Parallele zu § 83 BadStGB51 und Art. 92 SächsStGB52 sowie zu dem Gesetzesvorschlag Hruschkas 53 offenkundig: So wie die letzteren ausdrücklich eine generelle Ausnahme vom grundsätzlichen Zurechnungsausschluß einer rechtswidrigen qualifizierten Notstands44 Vgl. Schölz(Lingens, WStG, § 6 Rdnr. 6; Schwenck, Wehrstrafrecht, S. 115 Fn. 10, S.148. 45 BT-Drucksache, II (3040, S.18. 46 So die ganz herrschende Meinung, vgl. statt vieler Schölz( Lingens, WStG, § 6 Rdnr. 6. 47 BT-Drucksache, II(3040, S. 18. 48 § 7 SoldG. 49 Vgl. Schölz(Lingens, WStG, § 6 Rdnr. 3: "Es kann sich dabei um eine Straftat jeder Art handeln." so § 6 WStG könnte also folgendermaßen formuliert werden: "Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen." 51 Siehe oben 4. Abschnitt Fn. 8. 52 Siehe oben 4. Abschnitt Fn. 9. 53 Siehe oben 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2 a ff.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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handlung zur Schuld konstituieren, so führt die durch § 6 WStG bewirkte Verkoppelung der Rechtswidrigkeit der Notstandshandlung und ihrer Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe zum gleichen Ergebnis. Entscheidend ist, daß auch in den Fällen des § 6 WStG, jedenfalls dann, wenn man seinen Wortlaut ernst nimmt, jede als rechtswidrig beurteilte qualifizierte Notstandshandlung zur Schuld zugerechnet werden kann. 54 Noch deutlicher wird dieses Ergebnis bei der Vorschrift des § 116 des Preußischen Militärstrafgesetzbuches, die die "Berufspflicht" des Soldaten ausnahmslos höher stellt "als die Pflicht der Selbsterhaltung" 55. Auch diese Vorschrift kann trotz ihrer überaus unglücklichen Formulierung nur als eine generelle Ausnahme vom Zurechnungsausschluß auf der 2. Stufe ausgelegt werden. Gegenausnahmen, d. h. die Existenz von Fällen ausgeschlossener Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe trotz einer bestehenden Soldateneigenschaft, widersprechen nicht nur dem Wortlaut des § 6 WStG; sie sind darüber hinaus weder strafrechtsdogmatisch begründbar noch strafrechtspolitisch erwünscht. Die herkömmliche Begründung, Gegenausnahmen seien unter Rückgriff auf das Kriterium der "Zumutbarkeit" und unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles zu ermitteln, hat sich als nicht tragfähig und als bloße Scheinbegründung erwiesen. Einerseits ist der Begriff der Zumutbarkeit "nichts-sagend"56, lediglich "regulatives Prinzip" 57 und daher nicht imstande, materiale Kriterien zu liefern. Andererseits hat sich der Zumutbarkeitsbegriff im Zusammenhang mit der Frage nach der Zurechnung einer Tat zur Schuld als eine Formel herausgestellt, die "semantisch sinnlos"58 ist. Aber auch ein (wie auch immer zu formulierendes) Surrogat für den untauglichen Zumutbarkeitsbegriff ist strafrechtspolitisch nicht wünschenswert, noch gar erforderlich. Denn die Fallbeispiele, die von der einschlägigen Literatur als Fälle ausgeschlossener Zurechnung auf der 2. Stufe angesehen werden, sind nach dem hier vertretenen Lösungsansatz als rechtmäßig zu beurteilende Notstandshandlungen und stehen deshalb außerhalb des Anwendungsbereichs des § 35 StGB. Insbesondere mit Blick auf die Fälle vermeintlich "sicheren" Todes hat sich zum einen gezeigt, daß es unmöglich ist, die Realisierung einer Gefahr als Schaden aus der Sicht eines objektiven ex-ante Beobachters als "sicher" zu beurteilen, es sich vielmehr stets um ein Wahrscheinlichkeitsurteil handelt 59. Andererseits zeichnen sich diese Fälle in aller Regel dadurch aus, daß die Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter unter Berücksichtigung des jeweiligen Gefahrengrades, 54 So schonzu§ 49 Abs. 1 MiiStGB(vgl. dazuoben4. AbschnittFn. 38) bei Waiter, Die Furcht vor persönlicher Gefahr, S. 56: "Aber eben wegen dieser Furcht vor Gefahr erkennt das Militärstrafrecht einen Notstand für Militärpersonen ... nicht an." 55 Siehe oben 4. Abschnitt Fn. 38. S6 Hruschka, Strafrecht, S. 282. 57 Vgl. nur Henkels Beitrag, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, S. 249 u.ö. 58 Hruschka, Strafrecht, S. 28t. 59 Siehe dazu ausführlich oben 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3 b bb.
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4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
also der Wahrscheinlichkeit, daß sich die Gefahr in einem Schaden niederschlägt, im Ergebnis zu einem wesentlichen Überwiegen des - ex-ante betrachtet - ohne Notstandseingriff gefährdeten Rechtsgutes über das durch den Notstandseingriff beeinträchtigte Rechtsgut führt. In diesen, den Fallvarianten A V und A VI zuzuordnenden Fällen steht dem Täter aber nach dem im 2. Abschnitt entwickelten System der Notstandsbefugnisse von erhöht Gefahrtragungspflichtigen eine Eingriffsbefugnis zu; die Notstandshandlungen sind m. a. W. als rechtmäßig zu beurteilen. Dem stimmt die überwiegende Literaturmeinung zwar der Sache nach zu, wenn sie pflichtrelevante Begriffe, wie z. B. "Unzumutbarkeit"60 verwendet oder auch behauptet, daß "vom Soldaten nicht verlangt werden könne, in den sicheren Tod zu gehen"61. Die Autoren siedeln die Problematik jedoch nicht auf der Rechtfertigungsebene, sondern auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld an. Die Differenz der herkömmlichen Meinung und des hier für richtig erachteten Ansatzes manifestiert sich also nicht in einem unterschiedlichen Ergebnis (der in einer qualifizierten Notstandssituation handelnde Soldat hat nach beiden Meinungen keine Straftat begangen!), sondern in verschiedenen Begründungen: Die bei qualifizierten Notstandshandlungen von Soldaten erforderliche Differenzierung in - im Ergebnis - solche, die strafbar, und solche, die straflos sind, hat nach der hier vertretenen Meinung schon bei der Festlegung der Notstandsbefugnisse und der damit korrelierenden Duldungspflichten stattzufinden und nicht erst im Rahmen der Zurechnung zur Schuld. Nur eine Differenzierung bei der Bestimmung der Notstandsrechte ist ohne Inkaufnahme argumentativer Brüche begründbar und verstößt nicht gegen den Wortlaut der Vorschrift des § 6 WStG. bb) § 6 WStG als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens Ist es aber zulässig, auch im Hinblick auf andere, in einem besonderen Rechtsverhältnis stehende Personen, wie z. B. Zivildienstleistende, Feuerwehrleute, Seeleute etc. die Zurechenbarkeit jeder rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlung anzunehmen? Ist die Vorschrift des § 6 WStG m. a. W. analogiefähig oder hat sie den Charakter einer Ausnahmevorschrift? Bejaht man die Zulässigkeit einer Analogie, wäre damit der schon erwähnte Vorschlag Hruschkas zur Formulierung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB62, jedenfalls im Hinblick auf Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, verifiziert. Schon die Amtliche Begründung zum Entwurf des Wehrstrafgesetzes geht von einem insoweit bestehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz aus und betont deshalb den lediglich deklaratorischen Charakter des § 6 WStG: "Auch ohne 60 61 62
Schwenck, Wehrstrafrecht, S. 148. SchölzjLingens, WStG, § 6 Rdnr. 6. Siehe oben 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2 a ff.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
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eine besondere Bestimmung des Entwurfs würde daher auf Soldaten die Rechtsprechung anzuwenden sein, die etwa bei einem Seemann, Polizei beamten, Feuerwehrmann oder Bergführer, der seine besondere Pflicht aus Furcht vor Gefahr verletzt, einen Entschuldigungsgrund nicht anerkennt. Gleichwohl sieht der Entwurf aus Gründen der Klarheit und Rechtssicherheit eine ausdrückliche Regelung vor"63. Dem stimmt die Literatur beinahe einhellig ZUM. Es gibt, so z.B. Timpe, "berufsspezifische Gefahrtragungspflichten, wobei die Sonderpflicht ... teils schon gesetzlich ausformuliert ist, etwa für Soldaten (§ 6 WStG), Zivildienstleistende (§ 27 Abs.3 Satz 3 ZDG), Polizeibeamte im Vollzugsdienst, Seeleute (§§ 29 Abs.2, 106, 109 SeemannsG), Feuerwehrleute etc."65 Diesen, auf eine Verallgemeinerung des in § 6 WStG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens hinauslaufenden Überlegungen kann man nur uneingeschränkt zustimmen. Ist Gemeinsamkeit aller in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen eine gegenüber der Allgemeinheit bestehende Sonderpflicht und ist desweiteren ratio des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB die fehlende "Zufälligkeit" der von § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB vorausgesetzten qualifizierten Notstandssituation 66 , so ist die Kollision der Rechtsgüter für Zivildienstleistende, Feuerwehrleute, Seeleute etc. ebensowenig "zufällig", wie sie es für Soldaten ist. Damit aber liegen beide Voraussetzungen für die Annahme eines insoweit bestehenden allgemeinen Rechtsgedankens vor. Die lex lata enthält also im Hinblick auf die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen eine Regelungslücke, da sich die Ausnahmeregel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB aufgrund des mehr als unglücklich gewählten Zumutbarkeitsbegriffs als zur Bestimmung der Reichweite des Zurechnungsausschlusses untauglich erwiesen hat. Diese Regelungslücke kann jedoch wegen der parallelen Interessenlage in Anlehnung an die Vorschrift des § 6 WStG geschlossen werden. Entscheidend kann dabei gerade nicht sein, ob eine generelle Ausnahme vom Ausschluß der Zurechnung auf der 2. Stufe explizit geregelt ist (so § 6 WStG), zwar sprachlich unglücklich, aber immerhin kodifiziert ist (so bei § 27 Abs. 3 ZDG, §§ 106,109 SeemannsG) oder überhaupt keinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat (so z. B. bei Polizeibeamten und Feuerwehrleuten). § 6 WStG muß deshalb in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Meinung als ein kodifizierter Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgedankens aufgefaßt werden. Man halte dem nicht entgegen, die Analogie verstoße gegen das aus dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" entwickelte Analogieverbot. 67 Zum einen ist schon zweifelhaft, ob das AnalogieBT-Drucksache 11/3040, S. 18. Schö!z/Lingens, WStG, § 6 Rdnr. 1; Schwenck, Wehrstrafrecht, S. 148; so auch schon Janka, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Notstandes, S. 255. 65 Timpe, JUS 1985, S. 35. 66 Siehe dazu oben 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 4 und 6. 67 Der Meinung ist offenbar Kuhnt, "Pflichten zum Bestehen des strafrechtlichen Notstands (§§ 52, 54 StG B)", der einerseits auf S. 177 eine Analogie zu § 6 WStG wegen Verstoßes gegen das Analogieverbot, § 2 Abs. 1 StGB, Art. 103 Abs. 2 GG, für unzulässig 63
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verbot im Allgemeinen Teil Geltung beanspruchen kann 68. Aber auch wenn man dieser Meinung sein sollte, wäre der Einwand nicht durchschlagend. Denn der Gesetzgeber hat eine Ausnahmevorschrift von der Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB geschaffen, um eine erweiterte Zurechenbarkeit zur Schuld bei Notstandshandlungen von erhöht Gefahrtragungspflichtigen festzuschreiben. Er hat lediglich diese Ausnahmeregel derart unglücklich formuliert, daß aus ihrem Wortlaut zur Lösung der einschlägigen Fälle nichts abgeleitet werden kann. Konkretisiert man nun diese, als "Hülse" zu bezeichnende Vorschrift mit Hilfe eines in § 6 WStG zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgedankens, so ist damit das Analogieverbot nicht tangiert. ce) Zusammenfassung der Überlegungen Rechtswidrige, qualifizierte Notstandshandlungen von Personen, denen eine Sonderpflicht der Allgemeinheit gegenüber obliegt, die m. a. W. in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, sind vom Zurechnungsausschluß des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB generell und ohne Ausnahmen nicht erfaßt. Dies ist einem allgemeinen Rechtsgedanken zu entnehmen, der in der Vorschrift des § 6 WStG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Gegenausnahmen, die von der herrschenden Meinung unter Zugrundelegung des Zumutbarkeitsbegriffs in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB behauptet werden, sind strafrechtsdogmatisch nicht zu begründen und überdies strafrechtspolitisch auch gar nicht wünschenswert. Die Fallvarianten B V, B VI, C V, C VI, D V, D VI, E V und E VI repräsentieren also rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlungen, die stets zur Schuld zugerechnet werden können. Deshalb kann dem von Hruschka gemachten Vorschlag, jedenfalls im Hinblick auf Personen, die in emem besonderen Rechtsverhältnis stehen, uneingeschränkt gefolgt werden. 3. Zur Entschuldigung von Personen, die speziell obhutspflichtig sind (FaUvarianten III und IV) Schwieriger scheint auf den ersten Blick die Frage nach der Reichweite des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe bei den Personen zu sein, die eine Sonderpflicht nicht gegenüber der Allgemeinheit, sondern individualisierten Rechtsgutsträgern gegenüber innehaben. Man könnte einmal daran denken, ihnen in Übereinstimmung mit denjenigen Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, jeglichen Ausschluß hält; andererseits aber aufgrund "besonderer Sozialpflichtigkeit" des erhöht Gefahrtragungspflichtigen auf S. 189 eine "immanente Schranke" des entschuldigenden Notstandes postuliert. Warum eine damit notwendige teleologische Reduktion des entschuldigenden Notstandes aber im Gegensatz zu einer Verallgemeinerung des § 6 WStG nicht gegen das Analogieverbot verstößt, bleibt freilich offen. 68 Vgl. dazu Eser, in: SchönkejSchröder, StGB, § 1 Rdnr.28.
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von der Zurechnung zur Schuld abzuschneiden. Dagegen spricht jedoch zweierlei: Zum einen hat sich im 2. Abschnitt herausgestellt, daß Personen, die der Allgemeinheit gegenüber sonderpflichtig sind, und Personen, die bestimmten Rechtsgutsträgern gegenüber sonderpflichtig sind, unterschiedliche Notstandsbefugnisse und damit auch unterschiedliche Duldungspflichten in Notstandssituationen haben. Es spricht daher vieles dafür, daß sich diese Differenzierung auch im Rahmen des § 35 StGB fortsetzt. Zum anderen kritisiert insbesondere Hruschka die Annahme eines generellen Ausschlusses vom Entschuldigungsprivileg für spezieli Obhutspflichtige mit der Begründung, dies würde sich "mit den in der heutigen Gesellschaft herrschenden Wertvorstellungen nicht mehr decken. "69 "Man denkt zur Zeit nicht daran, auch Müttern (als Beispiel für speziell Obhutspflichtige; Anm. des Verf.) ... jede Entschuldigung abzuschneiden. "70 Hruschka meint also, es seien Handlungen von speziell Obhutspflichtigen in einer qualifizierten Notstandssituation denkbar, die trotz einer bestehenden erhöhten Gefahrtragungspflicht nicht zur Schuld zugerechnet werden können. Ist jedoch Hruschkas These richtig, ist sein eigener Gesetzesvorschlag 71 freilich hinfällig, da der Wortlaut seiner Fassung keine Gegenausnahme zuläßt.
a) Der Meinungsstand aa) Die Literatur um die lahrhundertwende Die ältere Literatur hierzu kann nur als spärlich bezeichnet werden. So eingehend sich die Autoren mit der Frage einer erhöhten Gefahrtragungspflicht aufgrund einer der Allgemeinheit gegenüber bestehenden Sonderpflicht beschäftigt haben, so wenig ergiebig sind die Ausführungen zur Gruppe der speziell Obhutspflichtigen. Lediglich Oetker bezieht ausführlicher dazu Stellung. Er nimmt offensichtlich dann eine "Notpflicht" , d. h. eine Ausnahme vom grundsätzlichen Zurechnungsausschluß an, wenn der Täter "durch spezifischen Vertrag einem andern für den Fall einer diesen treffenden Not seinen Beistand zugesichert ... hat"72. In diesem Fall sei Beistand auch unter Aufopferung des eigenen Lebens zu leisten. Ist der Obhutspflichtige kraft vertraglicher Übernahme aber selbst dann nicht entschuldigt, wenn er einer bestehenden Handlungspflicht nicht nachkommt, so kann er - auf der Basis der Argumentation Oetkers - erst recht dann nicht entschuldigt sein, wenn er zur Rettung des eigenen Lebens den Schützling tötet. Oetker geht offensichtlich von einem generellen Ausschluß vom EntschuldiHruschka, Strafrecht, S. 284. Hruschka, Strafrecht, S. 285. 71 Zur Erinnerung: Hruschka schlägt vor, § 35 Abs. 1 Satz 2 StOB wie folgt zu formulieren: "Dies gilt nicht, soweit der Täter in einem besonderen Rechtsverhältnis stand." Vgl. hierzu 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 2 a ff. 72 Oetker, Notwehr und Notstand, S. 371. 69
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gungsprivileg aus. Gleichzeitig ist er jedoch der Meinung, eine Mutter dürfe sich am "Kinde vergreifen "73, wenn sie mit dem Tode bedroht ist. Offen bleibt, ob die Differenzierung von Obhutsgaranten kraft familiärer Bindung und solchen kraft vertraglicher Übernahme lediglich auf einem (redaktionellen) Versehen beruht oder ob sie - nach Ansicht Oetkers - durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Letzteres ist schwer vorstellbar, da dann eine Obhutsgarantin aufgrund vertraglicher Übernahme, z. B. das Kindermädchen, schlechter stünde als z. B. die Mutter des Kindes; ein offensichtlicher Wertungswiderspruch. bb) Die Literatur heute Auch in der neueren Literatur wird das Problem eher stiefmütterlich behandelt. Watzka 74 hält eine erhöhte Gefahrtragungspflicht aufgrund einer bestehenden GarantensteIlung, sei es "durch Ehe, Familie oder Vaterschaft" 75, sei es aus Vertrag 76 begründet, für grundsätzlich möglich, will den Umfang der Ausnahme vom Zurechnungsausschluß aber im Anschluß an die normative Schuldlehre mit dem Begriff der Zumutbarkeit, den er als "Regulativ zur Entscheidung von gesetzlich nicht erfaßbaren Grenzfallen"77 verstanden wissen will, bestimmen. Hirsch hingegen meint, erhöhte Gefahrtragungspflichten "könnten ... begründet sein durch eine GarantensteIlung im Sinne von § 13, wie der Gefahrengemeinschaft, der freiwilligen Übernahme von Obhuts- und Sorgfaltspflichten, der Personensorgepflicht der Eltern "78. Deshalb seien Eltern grundsätzlich nicht entschuldigt, wenn sie sich auf Kosten ihrer minderjährigen Kinder retten würden. 79 Wiederum fehlt es an konkreten Anhaltspunkten, in welchen Fällen die qualifizierte Notstandshandlung eines speziell Obhutspflichtigen zur Schuld zugerechnet werden kann und in welchen nicht. ce) Die Rechtsprechung Auch die Judikatur zu dieser Frage ist alles andere als ergiebig. Zwar findet sich ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung zur Problematik des "verOetker, a. a. O. (Fn. 72), S. 369. Watzka, Die Zumutbarkeit nonngemässen Verhaltens im strafrechtlichen Notstand, S.62ff., 140ff.; vgl. auch Stratenwerth, Strafrecht, S. 182; Jescheck, Strafrecht, S.439: "Endlich kann sich aus dem Bestehen einer Garantenpflicht zugunsten des Opfers der Notstandstat ergeben, daß der Notstandstäter die Gefahr hinzunehmen hat." 75 Watzka, a. a. O. (Fn. 74), S. 62 Fn. 3. 76 Watzka, a.a.O. (Fn. 74), S.l40ff. 77 Watzka, a.a.O. (Fn. 74), S. 64. 78 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 59. 79 Hirsch, in: LK § 35 Rdnr. 59; ihm stimmen zu Lenckner, in: SchönkejSchröder, StGB, § 35 Rdnr. 32; Rudolphi, in: SK § 35 Rdnr. 18 und Jescheck, Strafrecht, S. 439, alle unter Berufung auf den Eltern-Kind Fall; zweifelnd Jakobs, Strafrecht, S. 474 f. Unklar bleibt die Reichweite des Zurechnungsausschlusses auch bei Timpe, Strafmilderungen des AT, S.214f.: Der speziell Obhutspflichtige dürfe sich "nicht stets auf Kosten der Sympathieperson aus einer Gefahrenlage befreien." 73
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schuldeten" Notstandes 80 sowie zu Notstandshandlungen von Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen 81 ; jedoch beschäftigen sich nur wenige Urteile mit der Frage, ob aus einer speziellen Obhutspflicht z. B. wegen einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft eine Ausnahme vom Zurechnungsausschluß des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB abzuleiten ist. Eines der hier einschlägigen Urteile ist die sog. Wetterrnann-Entscheidung 82 • Das Reichsgericht geht in diesem Fall von einer Zurechenbarkeit zur Schuld aus, greift aber wieder auf den untauglichen Begriff der "Zumutbarkeit" zurück: "Besteht die berufliche Aufgabe aber gerade darin, eine bestimmte Tätigkeit unter Einsatz von Leib und Leben auszuführen, so kann sich der Verpflichtete dieser Aufgabe nicht mit der Begründung entziehen, es sei ihm nicht zuzumuten, sich dieser Gefahr auszusetzen. "83 Diese vom Reichsgericht herangezogene Begründung wird auch nach dem 2. Weltkrieg von der Rechtsprechung wieder aufgegriffen. Schon 1949 machte das OLG Freiburg im Breisgau eine Zurechnung zur Schuld explizit wieder von der Frage der Zumutbarkeit abhängig 84 • Dort hatte der Angeklagte Genossen, die während der Zeit nationalsozialistischer Diktatur Mitglieder der damals verbotenen SPD bzw. SAP waren, der Gestapo verraten. Er tat dies, um eine ihm drohende Reststrafe von 20 Monaten Zuchthaus nicht absitzen zu müssen. Überdies drohte ihm im Anschluß an die Haft Einweisung in ein Konzentrationslager. Die vom Angeklagten Verratenen wurden von der Gestapo gefoltert und offensichtlich später getötet. Das Gericht billigte dem Angeklagten zu, die drohende Haft stelle eine Gefahr für Leib und Leben dar, hielt aber dennoch die §§ 52, 54 StGB a. F. mit folgender Begründung für nicht einschlägig: "Der Angeklagte hatte dadurch, daß er in der geheimen SPD- und SAP-Organisation eine führende Rolle übernahm, gegenüber seinen ihm vertrauenden Gesinnungsgenossen die Pflicht, die Gefahren des illegalen politischen Kampfes für seine Person zu ertragen und sich nicht im Falle einer Verurteilung durch Verrat seiner Kameraden auf ihre Kosten zu befreien. Diese freiwillig übernommene Pflicht ... führt daher auch zu einer erhöhten Zumutbarkeit im Bestehen der mit dem illegalen politischen Kampf verbundenen Gefahren. "85 Zwei Dinge sind es wert, in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben zu werden: Zum 80 Vgl. nur RGSt 54, S. 338fT.; RGSt 72, S. 19fT.; RGSt 72, S. 246 fT.; BGH ROW 1958, S. 33f., 81f.; OLG Oldenburg NJW 1988, S.3217f. = StV 1988, S. 206. 81 BGH NJW 1964, S. 730f.;AG Walkenried, Urt. v.17.10.1961- 2 MS 23/61-zitiert in: Kohlhaas/Schwenck, WStG, § 6 Nr. 1; siehe ausführlich oben 4. Abschnitt 2. Kapitel ZifTer 2 a ee. 82 Zur Erinnerung: Der Wettermann ist nach der hier vertretenen Ansicht nicht einer unbestimmten Vielzahl von Rechtsgutsträgern gegenüber sonderpflichtig, sondern individualisierten Personen. Er steht deshalb in keinem besonderen Rechtsverhältnis, sondern ist speziell obhutspflichtig; siehe dazu oben 2. Abschnitt 1. Kapitel ZifTer 3 c a. E. 83 RGSt 72, S. 246fT., 249f. 84 OLG Freiburg im Breisgau HESt 2, S. 200ff., 202. 85 OLG Freiburg im Breisgau HESt 2, S. 202.
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einen leitet das Gericht aus einer bestehenden Gefahrengemeinschaft eine erhöhte Gefahrtragungspflicht ab. Zum anderen geht diese erhöhte Gefahrtragungspflicht sogar so weit, daß eine Entschuldigung auch dann ausgeschlossen ist, wenn für den Angeklagten eine Leibes-, ja unter Umständen sogar dann, wenn eine Lebensgefahr bestanden haben sollte 86 . Ähnlich argumentierte der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone 87 in einem parallel gelagerten Sachverhalt. Dort war der Angeklagte Mitglied der KPD "und hatte sich nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus illegal als Zellenleiter und Abwehrmann betätigt."88 Er wurde von der Gestapo verhaftet und schwer mißhandelt. Außerdem drohte man die Verhaftung seiner Familie und die Durchführung medizinischer Experimente an ihnen an. Um diese Gefahren abzuwenden, leistete der Angeklagte "Spitzeldienste"89 und wirkte so an Mißhandlungen sowie am Tode von 16 Personen mit. Das Gericht lehnte im Ergebnis eine Anwendung der §§ 52, 54 StGB a. F. ab: Der Angeklagte habe seine "verbotene, politische Arbeit in voller Kenntnis der Natur und der Methoden dieses Gewalt- und Willkürregimes aufgenommen und fortgesetzt. Er wußte, was er tat; er kannte das Schicksal, das ihm im Falle der Festnahme drohte, und ging sehenden Auges in die Gefahr. Wenn nun die offenkundige Gefahr verwirklicht wurde, in die der Angeklagte sich - sei es auch ohne materielle Pflicht, sie zu vermeiden - freiwillig begeben hatte, ... , so kann ihm nicht gestattet werden, sich aus dieser vorhersehbaren und vorhergesehenen Zwangslage seinerseits dadurch zu befreien, daß er andere dem gleichen Schicksal auslieferte. "90 Das Gericht nimmt also an, eine erhöhte Gefahrtragungspflicht bestehe nicht etwa deshalb, weil der Angeklagte die Notstandslage pflichtwidrig verursacht hatte; denn, so das Gericht, es habe keine "materielle Pflicht" bestanden, die Gefahr (der Festnahme) zu vermeiden. Es meint vielmehr, die erhöhte Gefahrtragungspflicht resultiere aus der durch Mitgliedschaft bei der verbotenen KPD eingegangenen Gefahrengemeinschaft 91 . OLG Freiburg im Breisgau HESt 2, S. 20t. OGHSt 3, S. 121 ff., 129ff. 88 OGHSt 3, S. 127. 89 OGHSt 3, S. 129. 90 OGHSt 3, S. 129. 91 Dem widerspricht Neumann. Neumann möchte die Fälle illegaler politischer Tätigkeit in einem totalitären Staat der ersten Alternative des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zuordnen. Eine Subsumtion unter die zweite Alternative hätte, so Neumann, S. 237 f., zur Folge, daß ein "verhaftetes Mitglied einer Widerstandsgruppe dann, um einer mehrjährigen Haft zu entgehen, zwar nicht ein anderes Mitglied der Gruppe, wohl aber einen Unbeteiligten, ... , der Widerstandshandlung bezichtigen" dürfe, "deren er selbst beschuldigt wird." Eine straflose, weil entschuldigte Risikoabwälzung auf einen unbeteiligten Dritten hält Neumann für nicht hinnehmbar. Ist es aber richtig, daß die erhöhte Gefahrtragungspflicht gerade denjenigen Personen gegenüber besteht, deren Enttarnungswahrscheinlichkeit durch die politische Tätigkeit des Täters erhöht wird, also den Mitgliedern der Widerstandsgruppe gegenüber, ist es widersprüchlich, gleichzeitig eine erhöhte Gefahrtragungspflicht gegenüber der gesamten Bevölkerung anzunehmen. Eine 86 8?
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Das Gericht stimmt insoweit mit dem oben zitierten Urteil des OLG Freiburg im Breisgau 92 überein. Es unterscheidet sich von obigem jedoch hinsichtlich der Reichweite des Zurechnungsausschlusses: "Dabei kann es für die Schuldfrage nicht einmal in Betracht kommen, wie stark die angewendeten Zwangsmittel und wie groß die Widerstandskraft des Angeklagten gewesen ist. Solange der Angeklagte überhaupt verantwortlich handeln konnte, solange war er zum Widerstande gegen das Ansinnen der Gestapo verpflichtet. "93 Das bedeutet, dem Angeklagten wird die Tat stets zur Schuld zugerechnet, unabhängig davon, ob für ihn eine Gefahr nur für den Leib oder für das Leben bestanden hat. Das Gericht nimmt damit einen generellen Ausschluß von der Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB dann an, wenn sich der Täter freiwillig der Gefahrengemeinschaft anschließt; das Ergebnis der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter spielt dabei keine Rolle; ein Gedanke, der uns noch beschäftigen wird. 94b) Zur Lösung der Fallvariante C III unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen in Rechtsprechung und Lehre
Die 1949 bzw. 1950 ergangenen Urteile überraschen, da sie in Übereinstimmung mit den oben dargelegten Lehrmeinungen 95 davon ausgehen, daß eine qualifizierte Notstandshandlung eines speziell Obhutspflichtigen, sei es aus enger persönlicher Bindung im Eltern-Kind Fall, sei es aus freiwillig eingegangener Gefahrengemeinschaft in den Verratsfällen, dann zur Schuld zugerechnet werden kann, wenn auf beiden Seiten Gefahren für das Leben im Spiel sind, wenn also das geschützte und das beeinträchtigte Rechtsgut als gleichwertig anzusehen sind. Es scheint also eine insoweit übereinstimmende Wertvorstellung zu geben. Da es sowohl im Eltern-Kind Fall als auch in den Verratsfällen stets um qualifizierte Notstandshandlungen bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter geht, kommen grundsätzlich die Fallvarianten C III bzw. C IV als einschlägig in Frage. Die Fallvariante C IV, also Notstandshandlungen in Defensivnotstandssituationen, scheidet jedoch schon deshalb aus, da sie im 2. Abschnitt als Kategorie rechtmäßiger Handlungen herausgearbeitet wurde. 96 Übrig bleibt solche, dann gegenüber der Allgemeinheit bestehende erhöhte Gefahrtragungspflicht wäre nur begründbar, wenn man behaupten würde, der Angeklagte stehe in einem besonderen Rechtsverhältnis. Diese These aber stellt auch Neumann nicht auf. Überdies scheint mir eine Subsumtion unter § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB schon deshalb nicht möglich zu sein, weil es an der Rechtswidrigkeit des vorangegangenen Verhaltens fehlt. Dieses Problem sieht auch Neumann, ohne jedoch dafür eine Lösung parat zu haben: Erforderlich sei, so Neumann auf S. 238, ein "spezifisches Verständnis des Begriffs der ,Verursachung' der Gefahr". Offen bleibt, wie dies nach der Meinung von Neumann auszusehen hat. 92 Siehe oben 4. Abschnitt Text zu Fn. 84. 93 OGHSt 3, S. 129f. 94 Siehe unten 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 3 c. 95 Siehe oben 4. Abschnitt Text zu Fn. 79. 96 Siehe oben Fallsystem 11 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3 b ce a. E.
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4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
daher allein die Fallvariante C 111. Nun sind die oben angeführten Fälle aber auch ausnahmslos Handlungen in Aggressivnotstandssituationen. Ganz deutlich ist dies bei den Verratsfällen, denn die Notstandsgefahr geht jeweils von den Angehörigen der Gestapo aus, beeinträchtigt werden hingegen die Rechtsgüter der Regimegegner. Jedenfalls implizit ist eine Aggressivnotstandssituation aber auch im Eltern-Kind Fall vorausgesetzt, da wohl nicht davon ausgegangen werden kann, daß gerade das Kind für die Gefahr, die den Eltern droht, verantwortlich ist. Deutlich wird dies bei der Jescheckschen Fallschilderung 97 • Jescheck macht eine Ausnahme von § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB dann, wenn sich der Vater bei einer Schiffskatastrophe auf Kosten des Lebens seines Kindes rettet, das Kind für die Schiffskatastrophe aber nicht verantwortlich ist. Die erwähnten Fälle sind daher als Notstandshandlungen in Aggressivnotstandssituationen ausnahmslos der Fallvariante C 111 zuzurechnen. Gehen wir einmal wegen der bestehenden übereinstimmenden Wertvorstellung von der Richtigkeit dieser These aus, die ja so unplausibel nicht ist. Dann aber können Fälle der Fallvariante C 111 stets auf der 2. Stufe zugerechnet werden, d. h. wir nehmen speziell Obhutspflichtige vom Entschuldigungsprivileg des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB jedenfalls dann aus, wenn die konkret kollidierenden Rechtsgüter gleichwertig sind. Damit stellt sich die Frage eines Zurechnungsausschlusses nur noch im Hinblick auf die Fallvarianten B III, D III, D IV, E III und E IV. c) Zur Lösung der Fallvarianten BIll, D III, E III, D IV und E IV
unter Berücksichtigung der Wertentscheidungen in Rechtsprechung und Lehre aa) Die Fallvarianten D III, E III und E IV
Hinsichtlich der Fallvarianten E 111 und E IV ist die Lösung durch die in den vorigen Abschnitten erarbeiteten Ergebnisse schon vorgezeichnet: Ist schon die Notstandshandlung eines allgemein Gefahrtragungspflichtigen aufgrund einer in § 35 Abs.l Satz 2 StGB hineinzulesenden Abwägungsklausel zur Schuld zurechenbar 98 , so muß dies erst recht für eine unter sonst gleichen Bedingungen vorgenommene Notstandshandlung eines kraft spezieller Obhutspflicht erhöht Gefahrtragungspflichtigen gelten. Anders ausgedrückt: Die Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe von Fällen der Fallvariante E I impliziert die Zurechenbarkeit von Fällen der Fallvariante E 111; eine parallele Implikationsbeziehung besteht zwischen der Fallvariante Ellund der Fallvariante E IV. Ein ähnlicher Schluß kann von der Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe von Fällen der Fallvariante C 111 99 auf die Fälle der Fallvariante D 111 gezogen werden. Ist ein speziell Obhutspflichtiger schon dann nicht entschuldigt, wenn 97
9B
99
leseheck, Strafrecht, S. 439. Siehe oben das Fallsystem III 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 4. Siehe oben 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 3 b.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
139
sein Rechtsgut und das ihm anvertraute Rechtsgut gleichwertig sind, so muß dies erst recht dann gelten, wenn das Rechtsgut des speziell Obhutspflichtigen schlicht geringwertiger ist als das seines Schützlings. Auch in den Fällen der Fallvariante 0 In kann dem Täter die Notstandshandlung daher zur Schuld zugerechnet werden. bb) Die Fallvarianten BIlIund 0 IV Schwierig gestaltet sich die Lösung hinsichtlich der Fallvarianten B In und 0 IV. Hier führt weder ein "erst-recht Schluß", ausgehend von den entsprechenden Fallvarianten der allgemein Gefahrtragungspflichtigen, noch von den aufgrund eines besonderen Rechtsverhältnisses erhöht Gefahrtragungspflichtigen zu einem eindeutigen Ergebnis. Notwendig ist daher ein Rückgriff auf die im 3. Abschnitt entwickelte ratio des § 35 StGBlOO. Eine unterschiedliche Behandlung der Fallvarianten B In und 0 IV hinsichtlich des Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe, verglichen mit den Fallvarianten C III, 0 III, E III und E IV, ist nur dann gerechtfertigt, wenn sich hierfür nachvollziehbare Gründe finden lassen. Sollte dies nicht der Fall sein, bliebe nur der Rekurs auf den Grundsatz, und das heißt in diesem Zusammenhang, in jeder Fallvariante einer erhöhten Gefahrtragungspflicht ist wegen der fehlenden Zufälligkeit der Rechtsgüterkollision eine Ausnahme von der Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB zu machen. Denn in diesem Fall könnten die Fälle der Fallvarianten B In und 0 IV ebenso wie die der Fallvarianten C III, 0 III, E III und E IV stets auf der 2. Stufe zugerechnet werden. Die hier für richtig gehaltene Theorie des "psychischen Drucks" vermag kein Kriterium für eine Differenzierung zu liefern. Ist Grund für die Entschuldigung einer in einer qualifizierten Notstandssituation vorgenommenen Handlung die "besondere Motivationslage" 101 des Täters, die Anerkennung einer "durch eine besondere Zwangslage erzeugte psychische Ausnahmesituation des Täters"102, d. h. die Berücksichtigung des Motivs für die Notstandshandlung, nämlich die Angst um ein ihm oder einem qualifizierten Dritten zustehendes qualifiziertes Rechtsgut, so ist, wie sich schon im 3. Abschnitt herausgestellt hat, der Parameter "Art der Notstandssituation" bedeutungslos. Denn für die Furcht des Täters spielt es gerade keine Rolle, aus welcher Richtung die Gefahr kommt. Der "Motivationsdruck" ist nicht abhängig davon, ob der Täter die Gefahr in die Sphäre des Rechtsgutsinhabers zurückgibt, aus dessen Sphäre auch die Notstandsgefahr kommt (Defensivnotstandssituation), oder ob er die Gefahr auf Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten abwälzt (Aggressivnotstandssituation). Das aber bedeutet, daß auf der Basis der Theorie des "psychischen Drucks" die Fallvarianten 0 In und 0 IV, die sich ja nur hinsichtlich der Art der 100 101 102
Siehe dazu ausführlich 3. Abschnitt 3. Kapitel. Den Begriff hat wohl Brauneck, GA 1959, S. 261 ff., 269 geprägt. Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vor §§ 32ff. Rdnr. 111.
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4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
Notstandssituation unterscheiden, auf der Ebene der Zurechnung auf der 2. Stufe parallel gelöst werden müssen. Sind also Fälle der Fallvarianten D In stets zur Schuld zurechenbar, so gilt dies in gleicher Weise auch für die Fälle der Fallvariante D IV. Hinsichtlich der Fallvariante B In läßt sich mit der Theorie des "psychischen Drucks" sowohl eine Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe als auch deren Ausschluß begründen: Aus der Zurechenbarkeit der Fälle der Fallvariante C In läßt sich in bezug auf die Fälle der Fallvariante B In nichts ableiten. Zwar haben wir hinsichtlich der Fallvariante C In festgestellt, daß - auf der Basis der herrschenden Meinung 103 - bei Gleichwertigkeit der konkret betroffenen Rechtsgüter kein Zurechnungsausschluß stattfindet. Da jedoch der Motivationsdruck nicht nur von der Art des gefährdeten Rechtsguts (dem "geschützten Interesse"), sondern auch von der Art des durch die Notstandshandlung verletzten Rechtsguts (dem "beeinträchtigten Interesse"), also vom Ergebnis einer Rechtsgutsabwägung abhängig ist 104, ist der Motivationsdruck in der Fallvariante B In größer als in der Fallvariante C In. Dann aber ist die Annahme eines Zurechnungsausschlusses auf der 2. Stufe durchaus nicht unplausibel, umgekehrt aber auch nicht zwingend. Hinsichtlich der Fallvariante B In bleibt es danach auf der Basis der Theorie des "psychischen Drucks" bei dem oben beschriebenen Grundsatz: Mangels eines tauglichen Differenzierungskriteriums sind auch Fälle dieser Fallvariante wegen fehlender Zufälligkeit der Rechtsgüterkollision zur Schuld zurechenbar. Hilfsweise soll im folgenden untersucht werden, ob die im 3. Abschnitt angeführten und dort als unzureichend verworfenen alternativen Theorien zur ratio des § 35 StGB im Hinblick auf die Fallvarianten D IV und B III zu Lösungen führen, die denen der Theorie des "psychischen Drucks" überlegen sind. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Dies ist nicht der Fall. Hinsichtlich der Fallvariante D IV führt die Theorie der "doppelten Schuldminderung" zu demselben Ergebnis wie die Theorie des "psychischen Drucks". Erinnern wir uns: Die Theorie der "doppelten Schuldminderung" erklärt den Zurechnungsausschluß gemäß § 35 StGB aus einer Kumulation eines Schuldminderungsgrundes, der aus einem Unrechtsminderungsgrund resultiert, der seinerseits auf der mit der Notstandshandlung verbundenen Rettung eines Rechtsguts basiert, und eines weiteren Schuldminderungsgrundes, der der außergewöhnlichen Motivationslage des Täters Rechnung trägt. Treffen diese beiden Schuldminderungsgründe zusammen, sind "weder Unrecht noch Schuld ausgeschlossen, sondern" es wird "nur Nachsicht gewährt, und das nur grundsätzlich, nicht aber stets und notwendig."IOs Die Theorie der "doppelten Schuldminderung" greift also den von der Theorie des "psychischen Drucks" in Rechnung gestellten Aspekt der abnormen Motivationslage auf und verbindet ihn mit einem 103 104 lOS
Siehe oben 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 3 b. Siehe oben 3. Abschnitt 4. Kapitel Ziffer 2. So die Formulierung bei Welzel, Strafrecht, S. 178f., 179.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
141
zusätzlichen Unrechtsminderungsgrund. Nun muß aber einerseits für die Theorie der "doppelten Schuldminderung" dasselbe gelten, was bereits zur Theorie des "psychischen Drucks" dargelegt wurde, soweit es um die Relevanz der abnormen Motivationslage geht. Der Schuldminderungsgrund der Theorie der "doppelten Schuldminderung" ist daher ebensowenig wie der der Theorie des "psychischen Drucks" in der Lage, ein taugliches Differenzierungskriterium für die Fallvarianten D In und D IV zu liefern. Eine Differenzierung müßte sich auf der Basis der Theorie der "doppelten Schuldminderung" auf den Schuldminderungsgrund zurückführen lassen, der auf dem Unrechtsminderungsgrund beruht. Dies aber ist nicht möglich. Die Vertreter der Theorie der "doppelten Schuldminderung" entwickeln den verminderten Handlungsunwert aus der Intention des in einer Notstandssituation Handelnden, jedenfalls ein - wenn auch nicht notwendig wesentlich höherwertiges 106 - Rechtsgut zu erhalten: Das "Verfolgen des an sich nicht mißbilligenswerten (,verständlichen') Zweckes mindert den Handlungsunwert und damit auch das von diesem abhängige Maß des Schuldvorwurfs."lo7 Der Unrechtsminderungsgrund resultiert also aus dem Motiv des Täters, ein Rechtsgut zu retten; ob dies in einer Aggressiv- oder Defensivnotstandssituation geschieht, ist für die Vertreter der Theorie des "doppelten Schuldminderungsgrundes" ohne Bedeutung. Dann aber führt auch diese Theorie nicht zu einer unterschiedlichen Beurteilung der Fallvarianten D In und D IV; es bleibt daher auch insoweit bei einer generellen Zurechenbarkeit der Fälle der Fallvariante D IV zur Schuld. Hinsichtlich der Fallvariante B In kommt die Theorie des "doppelten Schuldminderungsgrundes" ebensowenig wie die des "psychischen Drucks" zu einer eindeutigen Antwort. Der Grund hierfür ist letztlich derselbe wie derjenige, der auch auf die Fallvariante D IV zutrifft. Ist es richtig, daß das verminderte Unrecht ausschließlich auf der Rettung jedenfalls eines Rechtsgutes basiert, spielen weder der Parameter "Art der Notstandssituation" noch der "der Abwägung der konkret betroffenen Rechtsgüter" eine Rolle. Ob insbesondere die involvierten Rechtsgüter gleichwertig sind (Fallvariante C III) oder ob das geschützte Rechtsgut das beeinträchtigte schlicht überwiegt (Fallvariante BIll), ist für die Frage, ob das Unrecht gemindert ist, ohne Belang. Die Rechtsgüterabwägung gewinnt erst dann - so die Vertreter der Theorie des "doppelten Schuldminderungsgrundes" - Bedeutung, wenn es um die Frage nicht von quantifizierbarem Unrecht, sondern um den Unrechtsausschluß, d.h. den Ausschluß der Rechtswidrigkeit geht. Diese Konsequenz überrascht etwas. Hätte man doch eher erwartet, daß die Größe des Unrechts auch vom Ergebnis der Rechtsgüterabwägung abhängig 106 In diesen Fällen wäre die Notstandshandlung rechtmäßig, vgl. die Fallvarianten AI bis A VI. 107 Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 157; vgl. dazu auch ders., Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 204f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S.35ff.; Rudolphi, in: Festschrift für Welzel, S.605ff., 631; Achenbach, Schuldlehre, S.4f., 10ff.; ders., JR 1975, S. 492ff., 494.
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4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
gemacht wird und nicht der Standpunkt "alles oder nichts" eingenommen wird. Auf diese Streitfrage kommt es aber letztlich nicht an. Selbst wenn man die Größe des Unrechts der Notstandshandlung und damit die aus der Notstandshandlung resultierende Schuldminderung unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Rechtsgüterabwägung ermittelt, ist eine eindeutige Entscheidung bezüglich der Fälle der Fallvariante B 111 nicht begründbar. Zwar könnte man sich dann auf den Standpunkt stellen, das durch die Notstandshandlung verwirklichte Unrecht und damit auch der Schuldvorwurf seien dann geringer, wenn das geschützte Rechtsgut das beeinträchtigte, wenn auch nur schlicht, überwiegt, verglichen mit den Fällen der Gleichwertigkeit der Rechtsgüter (Fallvariante C 111). Damit steht aber noch keineswegs fest, daß der aus dem Unrechtsminderungsgrund entwickelte Schuldvorwurf in Fällen der Fallvariante B 111 sowie der aus der psychischen Drucksituation resultierende Schuldminderungsgrund zu einem Zurechnungsausschluß führen. Auch die Theorie der "doppelten Schuldminderung" ermöglicht damit keine an Hand rationaler Kriterien begründbare Differenzierung bei der Frage der Zurechnung zur Schuld von qualifizierten Notstandshandlungen. Heranzuziehen sind zuletzt noch die Meinungen, die die ratio des § 35 StGB mit Blick auf Strafzwecke zu erklären versuchen. Dabei wurden im 3. Abschnitt zwei sich voneinander unterscheidende Begründungsansätze dargelegt: Zum einen die Theorie Roxins 108 , der von § 35 StGB alle diejenigen Fälle erfaßt sieht, bei denen eine Sanktionierung der Tat weder aus den Strafzwecken der Spezialnoch der Generalprävention erforderlich ist. Zum anderen der Ansatz von Jakobs 109 , der als relevanten Strafzweck ausschließlich die "positive Generalprävention" , d. h. die Stärkung der Rechtstreue der Rechtsunterworfenen gelten läßt. So bestechend der strafzweckorientierte oder "funktionale"llo Schuldbegriff auf den ersten Blick ist, so zeigen doch beide Theorien ihre Schwächen bei der Anwendung auf konkrete Fälle. Die Frage, ob qualifizierte Notstandshandlungen der Fallvarianten B 111 und D IV zur Schuld zurechenbar sind, bleibt nämlich auch auf der Basis des strafzweckorientierten Schuldbegriffs unbeantwortet. Sie bleibt vor allem deshalb unbeantwortet, weil die Vertreter eines strafzweckorientierten Schuldbegriffs keine Kriterien nennen, an Hand derer beurteilt werden kann, wann eine Sanktion aus general- (oder auch spezial-) präventiven Gründen sinnlos und damit die Notstandshandlung nicht zur Schuld zuzurechnen ist. Da aber jedenfalls Jakobs in allen Fällen gleichwertiger Rechtsgüter (Fallvariante C III) trotz bestehender eigener Zweifel 111 von einer generellen Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe ausgeht und überdies auch die "funktionale Schuldlehre" keine Kriterien für eine Differenzierung von Fällen der Fallvariante C 111 einerseits und denen der Fallvarianten B 111 sowie D IV 108 109 110 111
Siehe dazu ausführlich 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3. Siehe dazu ausführlich 3. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 4. Jakobs, Strafrecht, S. 392 ff. Dazu unten 4. Abschnitt 2. Kapitel Ziffer 3 d.
2. Kap.: Fallvarianten III bis VI und ihre Zurechenbarkeit zur Schuld
143
andererseits liefert, kann davon ausgegangen werden, daß auch die Vertreter eines strafzweckorientierten Schuldbegriffs eine grundsätzliche Zurechenbarkeit auf der 2. Stufe aller rechtswidrigen qualifizierten Notstandshandlungen von speziell Obhutspflichtigen 112 annehmen. Als vorläufiges Ergebnis wäre damit festzustellen, daß - ebenso wie bei den in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen - auch bei speziell Obhutspflichtigen ein genereller Ausschluß von der Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB stattfindet. d) Einwände und Replik Gegen eine Gleichstellung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen aufgrund einer speziellen Obhutspflicht und solchen kraft eines besonderen Rechtsverhältnisses auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld wendet sich ausdrücklich Hruschka; aber auch Jakobs meldet Zweifel an. Daher ist es notwendig, sich an dieser Stelle mit ihren Einwänden auseinanderzusetzen. Jakobs hält einen Ausschluß von der Regel des § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB schon bei Gleichwertigkeit der Rechtsgüter für "zweifelhaft"; "jedenfalls verbietet sich wegen der nur schwachen, scil. nicht organisationsnotwendigen Beziehung zur Institution eine volle Gleichstellung mit den organisationsnotwendigen besonderen Rechtsverhältnissen. "113 Die Einwände Hruschkas gehen in die gleiche Richtung. Er meint, eine generelle Zurechenbarkeit zur Schuld von qualifizierten Notstandshandlungen speziell Obhutspflichtiger "würde sich ... mit den in der heutigen Gesellschaft herrschenden Wertvorstellungen nicht mehr decken." 114 Hruschka begründet seine These unter Rückgriff auf § 94 ÖStGB, der eine Zurechnung zur Schuld sogar von Notstandshandlungen eines "Sicherungsgaranten" bei Vorliegen bestimmter Umstände ausschließt 115. Dies müsse erst recht im Hinblick auf Notstandshandlungen von speziell Obhutspflichtigen gelten, da die Pflichten von Sicherungsgaranten tendenziell umfangreicher sind als die von Obhutsgaranten. Eine ausnahmslose Zurechnung zur Schuld sei deshalb ein Wertungswiderspruch. Nun vermag aber jedenfalls § 94 ÖStGB den von Hruschka Also die Fälle der Fallvarianten BIlIbis E III sowie D IV bis E IV. Jakobs, Strafrecht, S.474f. 114 Hruschka, Strafrecht, S. 284. 1lS § 94 ÖStGB: ,,(1) Wer es unterläßt, einem anderen, dessen Verletzung am Körper er, wenn auch nicht widerrechtlich, verursacht hat, die erforderliche Hilfe zu leisten, ist ... zu bestrafen. (3) Der Täter ist entschuldigt, wenn ihm die Hilfeleistung nicht zuzumuten ist. Die Hilfeleistung ist insbesondere dann nicht zuzumuten, wenn sie nur unter der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung oder unter Verletzung anderer überwiegender Interessen möglich wäre." Das ÖStGB geht also ganz offensichtlich von der Existenz von Fällen aus, die sich dadurch auszeichnen, daß der Täter einerseits eine rechtswidrige Körperverletzung begangen hat, andererseits aber das Imstichlassen des Verletzten dennoch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 3 entschuldigt ist. 112
113
144
4. Abschn.: Zur Entschuldigung von erhöht Gefahrtragungspflichtigen
konstatierten Wertungswiderspruch nicht zu begründen. Wenn in § 94 Abs. 3 Satz 2 ÖStGB als Beispiel für fehlende Zumutbarkeit der Fall einer Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung genannt ist, so sind damit doch genau die Fälle beschrieben, bei denen - in der Begriffiichkeit des § 34 StGB - das durch die unterlassene Hilfeleistung geschützte Interesse des Täters das beeinträchtigte Interesse des Verletzten wesentlich überwiegt. Sieht man einmal davon ab, daß § 94 Abs. 1 ÖStGB eine Handlungspflicht umschreibt und die Regelungen des rechtfertigenden Notstandes schon deshalb nicht passen 116, so wäre die Handlung selbst als Begehungstat eines speziell Obhutspflichtigen nicht rechtswidrig. Denn nach der hier für richtig gehaltenen Auffassung ist jede Notstandshandlung eines erhöht Gefahrtragungspflichtigen, sei es aus spezieller Obhutspflicht, sei es aufgrund eines bestehenden besonderen Rechtsverhältnisses, dann rechtmäßig, wenn das geschützte Rechtsgut wesentlich wertvoller ist als das beeinträchtigte Rechtsgut (Fallvarianten A III bis A VI). Die Frage einer möglichen Zurechnung zur Schuld stellt sich schon nicht. Dennoch ist das sowohl von Hruschka als auch von Jakobs geäußerte Unbehagen berechtigt; nur äußert es sich an der dogmatisch falschen Stelle. Zwar sind auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld Differenzierungen zwischen den beiden als erhöht gefahrtragungspflichtig definierten Personengruppen nicht begründbar, es finden aber bei der Bestimmung der Notstandsbefugnisse durchaus Differenzierungen statt. Als Ergebnis des 2. Abschnitts ist festgehalten worden, daß die Eingriffsbefugnisse von speziell Obhutspflichtigen in ihrer Reichweite zwischen denen der allgemein Gefahrtragungspflichtigen und den in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen anzusiedeln sind 117. Dies zeigt im besonderen ein Vergleich der Fallvarianten B IV und C IV einerseits und B VI und C VI andererseits. Im Gegensatz zu den Personen, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, ist ein speziell Obhutspflichtiger dann berechtigt, zur Rettung seines oder eines Dritt-Interesses einzugreifen, wenn es sich zum einen um eine Defensivnotstandssituation handelt und zum anderen das geschützte Rechtsgut schlicht mehr wert ist als das beeinträchtigte Rechtsgut oder wenn beide Rechtsgüter gleichwertig sind. Insoweit wird dem von Hruschka und Jakobs geäußerten Unbehagen durchaus Rechnung getragen; die unhaltbare, weil rational nicht begründ bare Differenzierung auf der Ebene der Zurechnung zur Schuld ist wohl auf den irreführenden und sinnlosen Zumutbarkeitsbegriff in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zurückzuführen.
116 Die Rechtfertigungsgründe der Notwehr, § 32 StGB, sowie des rechtfertigenden Notstandes, § 34 StGB, § 228 BOB, sind nach ihrem Wortlaut nur bei der Verletzung von Unterlassungspflichten einschlägig; siehe dazu oben 1. Abschnitt 1. Kapitel Ziffer 2. 117 Siehe oben das Fallsystem 11 2. Abschnitt 3. Kapitel Ziffer 3 b cc a. E.
3. Kapitel
Zusammenfassung des 4. Abschnitts 1) Jede rechtswidrige qualifizierte Notstandshandlung eines erhöht Gefahttragungspflichtigen, sei es aufgrund einer Sonderpflicht der Allgemeinheit, sei es einem oder mehreren individualisierten Rechtsgutsträgern gegenüber, ist stets und ausnahmslos zur Schuld zurechenbar. 2) Die erforderlichen Differenzierungen finden nicht auf der 2. Zurechnungsstufe statt, sondern im Rahmen der Bestimmung der Notstandsbefugnisse. 3) Aufzugreifen ist daher der (modifizierte) Vorschlag Hruschkas zur Formulierung des § 35 Abs.1 Satz 2 StGB, der inhaltlich gleichlautende Vorgänger in den Partikularrechten hat. Die von Hruschka selbst geäußerten Bedenken haben sich demgegenüber insbesondere mit Blick auf die Differenzierungen bei den Notstandsbefugnissen als nicht durchschlagend erwiesen. Das Ergebnis der Überlegungen läßt sich im Rahmen des Fallsystems IV wie folgt darstellen ("I": rechtmäßige qualifizierte Notstandshandlung; ,,-": nicht zur Schuld zurechenbar; ,,+ ": zur Schuld zurechenbar): Fallsystem IV Menge aller Notstandshandlungen
allgemein gefahrtragungspflichtig
I
Def.Aggr.notstandssituation
erhöht gefahrtragungspflichtig spezielle Obhutspflicht
I
Aggr.Def.notstandssituation
besonderes Rechtsverhältnis
I
Aggr.Def.notstandssituation
I
11
III
N
V
VI
gI ~ bI
/
/
/
/
/
/
A
> bI
/
+
/
+
+
B
/
+
/
+
+
C
/
+
+
+
+
D
+
+
+
+
+
E
gI
< bI
-
gI
~
bI
+
gI
gI = bI
10 Lugert
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Sachverzeichnis (Berücksichtigt sind jeweils nur die wichtigsten Stellen, bei neu eingeftihrten Begritfen vor allem die ihrer Definition. Die Zahlenangaben beziehen sich auf die Seiten dieser Untersuchung und, sofern sie eingeklammert sind, auf die Anmerkungen.) Abartigkeit, seelische 111 (110) Abwägung der betrotfenen Rechtsgüter 29 tf., 109 tf., 114 tf. Abwägungsmaterial 34 Actio illicita in causa 18 Actio libera in causa 18 (22), 112 (115) Äquivalenztheorie 94 f Aggressivnotstandssituation 30 tf., 60 tf., 115 Akzessorietät, limitierte 15 (6) Alternativ-Entwurf zum Strafgesetzbuch (AE) 91 (26), 102 Analogieverbot 131 f. Angemessenheitsklausel17 (14), 78tf. Argumentum a maiore ad minus 52, 58 Argumentum ad absurdum 87 (9) Art der Gefahrtragungspflicht 40 tf., 47 f Art der Notstandssituation 30ff., 115 Aussagenotstand 103 (78), 112 f Bagatellgefahren 106 tf., 108 (99) Bedingung, hinreichende 21 (2) Bedingung, notwendige 21 (2) "Begehen" i.S.d. § 34 StGB 25 tf. Bergführer-Fall 45 f Black box 91 (22) Communio opinionis 37 Defektzustand 111 Defensivnotstandsbefugnis, allgemeine 34tf. Defensivnotstandssituation 30 tf., 52 tf. Deliktstatbestand 29 (38), 42 f. Dienstverhältnis, ötfentlich-rechtliches 44
Ditferenzierungstheorie 15 tf. Disjunktion 45 (38) Duldungspflicht 17 (13) Duldungspflicht, absolute 61 tf., 66 tf. Duldungspflicht, institutionel1e 18 tf. Duldungspflicht, relative 67 tf. EingritTsbefugnis 16 (13) Einheitslösung 40 f Eltern/Kind-Fall 134 (79), 137f Entschuldigungsgrund, übergesetzlicher 57 Erlaubnistatbestandsirrtum 102 (77) Ex-ante Perspektive 25 (25), 69 (137) Fallvarianten, relevante 21 tf., 49 f., 83 tf., 118f Fristenregelung 55 Fünfer-Tafel36f Garantenstellung 17 f., 53 tf. Gefahr, abstrakte 75 (158), 77 (160) Gefahr, konkrete 75 (158), 77 (160) Gefahrgemeinschaft 45 f, 100, 134 tf. Gefahrtragungspflicht, allgemeine 17 f, 21tf. Gefahrtragungspflicht, erhöhte 17 f, 40 tf., 118 tf. Gefahrverursachungsklausel 19 f. Gefreiten-Fall 71 Gegensatz, kontradiktorischer 18 (21) Generalprävention 97 f, 142 Generalprävention, positive 98f, 142 Handlungsqualität 21 tf. Handlungsunrecht 93
156
Sachverzeichnis
Handlungsunwert 141 Implikation 44 Impossibilium nulla obligatio est 25 (20), 87 (8) Indikation, medizinische 53 Ingerenz 94 f. Interessenabwägung 21, 36 f. Karneades-Fal123 (16),26 (26) Kausalität, hypothetische 22 (6) Kontravalenz 18 (21) Leistungsgrenze 23 t1 Lichtgeschwindigkeit 70 Logik, deontische 29 (36) Mignonette-Fall 24 (17) Motivationsdruck 90 ff., 103f. Näherungsformeln 70 f. Nasciturus 53 ff. Nidation 55 (69) Normenlogik 29 (36) Notpflicht 133 Notstandshandlung, einfache 83 (2) Notstandshandlung, qualifIzierte 83 ff., 118f. Notstandssituation 27 ff. Notwehrprobe 15 (7) Nullum crimen sine lege 131 Obhutsgarant 40 Obhutspflicht, spezielle 18 (19), 40 ff., 43 f., 52 ff., 132 ff. Operatoren, deontische 29 (36) Parameter 28 (35) Partikularrechte 121 f. Perforation 56 ff. Pflicht, soldatische 127 f. Präventionslehre 97 Rechtfertigungsgründe, berufsspezillsche 42f. Rechtfertigungstatbestand 29 (38) Rechtsgeflihl 34 (57), 110 (106) Rechtsverhältnis, besonderes 17, 42f., 65ff., 130ff.
Reduktion, teleologische 108 (99) Relativitätstheorie 70 Sachverhalt, atypischer 111 Schuldausschließungsgrund, übergesetzlicher 90 (21) Schuldlehre, normative 90 (21), 123 Schuldtheorie, eingeschränkte 102 (77) Schwangerschaftsabbruch 15, 52 ff. Sicherer Tod 69 ff., 129 f. Sicherungsgarant 96 Sicherungsprinzip 38 (70) Situation, atypische III f. Skifahrer-Fall 71 (148) Sonderpflicht 40, 45 Sonderverbrechen 42 (22 f.) Spezialprävention 98 (63), 142 Sphärenrechtsgut 34 (54) Status, deontischer 29 ff., 51 ff. Steuerungsfähigkeit, fehlende III Strafmilderung, fakultative 44 ff. Straftat 118 (1) Strafzweck 96 ff. "Tat" LS.d. § 34 StGB 21 ff. Teilmenge 27 (34) Terra incognita 48 Theorie der "doppelten Schuldminderung" 92ff. Theorie der "strafzweckorientierten Schuld" 96 ff. Theorie des "funktionalen Schuldbegriffs" 98 ff. Theorie des "psychischen Drucks" 90 ff. Typizität der Selbstgefährdung 40 f. Unrechtseinsicht 23 Unrechtsminderungsgrund 92 ff. Unterlassungsdelikte, unechte 43 Unterlassungshandlungen 21 (4), 22 (10) Unverhältnismäßigkeit 105 ff. Unzumutbarkeit 26, 86 ff. Utilitarismus 62 (101) Verrats-Fall 135 ff. Vis absoluta 25 Vorwerfbarkeit 90 (21), 93 (35),97 (61)
Sachverzeichnis Wahrscheinlichkeitsurteil 71, 129 Wetterrnann-Fall 46f., 135 (82) Wiederaufnahmeverfahren 20 Wissen, nomologisches 70 Wissen, ontologisches 70 Zufall 98 ff., 102 ff., 131 Zumutbarkeit 86 ff.
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Zurechnung auf der ersten Stufe 23 ff. Zurechnung auf der zweiten Stufe 23 ff. Zurechnungsausschluß 86 ff. Zurechnungsregel 88 Zurechnungsstufen 22 (9), 23 ff. Zweites Strafrechtsreformgesetz 15 (5), 66 (110)