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German Pages 244 [245] Year 2022
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Band 235
Klaus Haacker
Zeugnis und Zeitgeschichte Studien zum lukanischen Werk
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-041646-8 E-Book-Format: pdf: 978-3-17-041647-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt Vorwort ......................................................................................................................
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Zur Einstimmung: Wozu ist die Apostelgeschichte gut?....................................
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Schlüsselwort „Zeugnis“..........................................................................................
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte ....
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Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12) ..........................
62
Geographische Probleme im lukanischen Werk ..................................................
73
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission .......................................
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Respekt vor den Göttern der Anderen? ................................................................ 107 Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament ......................... 120 Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas .................................................................. 135 Der Geist und das Reich im lukanischen Werk. Konkurrenz oder Konvergenz zwischen Pneumatologie und Eschatologie?
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53) ......................... 171 Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas? .................................... 181 Licht aus Athen auf Lukas, Ad Theophilum? Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung ............................................. 200 Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen ............................. 213 Anhang: Bibliographie zum lukanischen Werk ................................................... 243
Vorwort Zu Beginn meines Theologiestudiums hatte ich alles Andere im Sinn als eine wissenschaftliche Laufbahn in der akademischen Theologie. Im Jahr vor meinem Abitur hatte ich noch mit dem Berufsziel „Missionar“ geliebäugelt. Das landeskirchliche Pfarramt, wie ich es erlebt hatte, war mir nicht besonders sympathisch. Da lernte ich in den Sommerferien 1960 eine Pfarrerstochter kennen (Dorothea Damrath, seit 1964 meine Frau), die mir von der Tätigkeit ihres Vaters so viel Positives erzählte, dass ich mich doch für diesen Beruf erwärmen konnte. Aber noch nicht für die Bibelwissenschaft. In meinem christlichen Umfeld hatte sie keinen guten Ruf. Das änderte sich beim Besuch von Vorlesungen Gustav Stählins über das Johannesevangelium und die Apostelgeschichte in den beiden ersten Semestern. Darauf folgte im dritten Semester (Sommer 1962) die Teilnahme an seinem Seminar über Probleme der lukanischen Theologie, bei dem er mich als „Senior“ (!) einspannte. Als solcher hatte ich die Aufgabe, die über jede Sitzung abgefassten Protokolle für die Vervielfältigung (noch ohne Kopierer!) druckfähig zu machen, am Ende ein zusammenfassendes Protokoll abzufassen und in der letzten Sitzung Ergebnisse vorzutragen. Die Fragestellung „lukanische Theologie“ war damals ein heiß diskutiertes Thema. Die Lektüre von einschlägiger Sekundärliteratur schärfte meinen Blick für Methodenprobleme der neutestamentlichen Wissenschaft. Seit diesem Seminar hinterfragte ich z. B. die verbreitete Gleichsetzung von „spezifisch lukanisch“ (oder „spezifisch paulinisch“) mit distinktiv lukanisch (oder paulinisch). Was nach unserer begrenzten Quellenlage nur durch Lukas belegt ist (im Evangelium sein „Sondergut“), muss ihm nicht wichtiger gewesen sein als das, was er von anderen übernommen oder mit anderen gemeinsam hat! Für die durchaus wichtige Frage nach dem charakteristisch Lukanischen wären andere Kriterien heranzuziehen, z.B. die Häufigkeit oder Breite einer Thematik oder Aussage und ihr Stellenwert in der Komposition seiner Schriften. Derartige Schwachstellen des Forschungsstandes stärkten mein Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit gegen jedes „Die Wissenschaft hat festgestellt“. Durch eine erst im folgenden Jahr abgelieferte Seminararbeit, die ich ein Jahr später zurückerhielt, blieb ich in Verbindung mit Gustav Stählin. Nach meinem Examen schlug er für das mir angebotene und von ihm ermöglichte Promotionsstudium einen Vergleich zwischen Lukas und Johannes vor. In der Dissertation durfte ich mich dann zwar (mit seiner Zustimmung) auf das Johannesevangelium konzentrieren, setzte aber die Beschäftigung mit der Apostelgeschichte fort (z.B. mit einem Beitrag zur Festschrift für seinen 70. Geburtstag).
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Vorwort
Unmittelbar nach dem Rigorosum durfte ich im April 1970 eine Stelle im Tübinger Institutum Judaicum antreten, die Otto Michel mir für die Fortsetzung wissenschaftlicher Arbeit angeboten hatte. Sie war mit einem Lehrauftrag über „Frühgeschichte des Judentums und Zusammenhang mit dem Urchristentum“ und dem Auftrag zur Fortsetzung seiner Josephus-Forschung verbunden. Diese gut vier Jahre wirken nach in der intensiven Heranziehung der Schriften des Josephus in den Lukas-Studien des vorliegenden Bandes. Meine Tübinger Einarbeitung in Probleme des Verhältnisses zwischen Urchristentum und Frühjudentum trugen auch zu meiner Berufung an die Kirchliche Hochschule Wuppertal (1974) bei, wo in den folgenden Jahren das Umdenken im Verhältnis zu Israel entschlossen vorangetrieben wurde. Das führte bei den Beratungen zur Gründung des Theologischen Kommentars zum Neuen Testament zu der Anfrage an mich, ob ich den Band über die Apostelgeschichte übernehmen könnte (bei Kohlhammer 2019 erschienen). Dessen Begrenzung auf gut 400 Seiten ließ jedoch wenig Raum für Exkurse und zur Diskussion umstrittener Themen über die Einzelexegese hinaus. Mein Gedanke an einen ergänzenden Aufsatzband stieß zu meiner Freude beim Verlag auf Interesse, so dass ich die jetzt vorliegenden neuen Studien abfassen und zusammen mit einigen Nachdrucken früherer Publikationen anbieten konnte. Mein Beitrag über den Lukas-Prolog beschließt diesen Band, weil er auf einem Brückenschlag vom Ende der Apostelgeschichte zum Anfang des Lukasevangeliums beruht. Die Tragweite dieser Inclusio wurde mir erst nach der Abfassung meines Kommentars bewusst. Sie ist keineswegs die Voraussetzung der Plausibilität der sonstigen Studien im vorliegenden Band, sondern eine „Spätlese“. Die Reihenfolge der übrigen Studien wurde nach variablen Gesichtspunkten festgelegt. Für die Aufnahme in die Reihe BWANT danke ich den Herausgebenden Reinhard von Bendemann und Marlis Gielen sehr herzlich. Um die weitgehende Anpassung meiner Texte an die formalen Vorgaben der Reihe hat sich Florian Specker (der auch „Geburtshelfer“ bei meinem Kommentar zur Apostelgeschichte war) sehr entgegenkommend verdient gemacht. Der Zugang zu neuerer Sekundärliteratur war mir durch die Corona-Beschränkungen erschwert. Hinweise, Feedbacks und Fehlermeldungen nehme ich gern über meine E-Mail-Adresse [email protected] entgegen. Berlin im Februar 2022
Klaus Haacker
Zur Gestaltung: Bei den Nachdrucken früherer Publikationen habe ich hin und wieder Verbesserungen oder Ergänzungen vorgenommen, ohne sie zu markieren. Zur Umschrift des Griechischen: Lange Vokale werden mit ā usw. wiedergegeben, bei Betonung in mehrsilbigen Wörtern mit â usw. – Wenn in Zitaten aus Publikationen Vokabeln im griechischen oder hebräischen Urtext standen, steht die Wiedergabe in eckigen Klammern: […].
Zur Einstimmung: Wozu ist die Apostelgeschichte gut? Zum Grundwissen über die Bibel gehört es, dass es im Neuen Testament eine Schrift namens „Apostelgeschichte“ gibt. Historisch betrachtet, ist das jedoch keineswegs selbstverständlich. Es hat lange gedauert, bis sie in den Kanon, d. h. in die Liste kirchlich anerkannter und zum Gebrauch empfohlener Schriften aufgenommen wurde.1 Bezugnahmen auf sie bei anderen Autoren der Alten Kirche sind im Laufe des 2. Jahrhunderts erst spät zu finden, z. T. nur vermutet.2 Das ist umso erstaunlicher, als das Lukasevangelium, das nach Lk 1,3 und Apg 1,1 denselben Verfasser hatte, viel früher anerkannt worden war, zusammen mit den drei anderen Evangelien nach Matthäus, Markus und Johannes. Texte der Apostelgeschichte spielten offenbar keine Rolle in der Verkündigung oder in der Diskussion umstrittener Auffassungen. Für eine relativ späte Anerkennung der Apg spricht auch, dass sie in den großen alten Handschriften keinen festen Platz in der Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften hat.3 Das regt zu der Überlegung an, was uns denn fehlen würde, wenn es die Apostelgeschichte nicht gäbe.
1.
Alleinstellungsmerkmale
Als Verfasser eines Evangeliums kann Lukas nicht über mangelnde Popularität klagen: Sein Bericht über die Geburt Jesu (Lk 2,1–20) erlebt als „Weihnachtsgeschichte“ jährlich Publikumserfolge, seine Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25–36) wurde zum Inbegriff der tatkräftigen Hilfe für Bedürftige, und das Gleichnis vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15,11–32) wurde zum Inbegriff für Generationenkonflikte und Lebenskrisen, die doch noch ein gutes Ende finden, von Malern gern eindrucksvoll vor Augen geführt. Aber was verdanken wir der Apostelgeschichte? Mehr als den meisten Menschen bewusst ist: Die Apostelgeschichte ist der einzige erhaltene Originalbericht über die Anfänge des Christentums. Die Evangelien betreffen nur die vorösterliche Zeit, also 1
2
3
Vgl. Schröter, Jens, Die Apostelgeschichte und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Beobachtungen zur Kanonisierung der Apostelgeschichte und ihrer Bedeutung als kanonischer Schrift, in: The Biblical Canons, hrsg. Von J.-M. Auwers und H. J. de Jonge, Leuven 2003, 395–427. Vgl. Schröter, a. a. O. 399–401. „Erste Bezugnahmen auf die Apg lassen sich frühestens in der Mitte des 2. Jahrhunderts feststellen.“ (398) Vgl. Schröter a. a. O. 412f.
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Zur Einstimmung
die Vorgeschichte des Christentums im Wirken und Schicksal Jesu. Die sonstigen Schriften des Neuen Testaments stammen zwar aus der Geschichte des Urchristentums4, liefern aber kaum Berichte über die nachösterliche Jesusbewegung. Die Briefe sind Gelegenheitsschriften aus bestimmten Anlässen mit ursprünglich begrenztem Adressatenkreis, sozusagen Momentaufnahmen aus der Geschichte des Urchristentums. Die Apostelgeschichte dagegen steht für Historiker in einer Reihe mit Suetonius und Tacitus (als Quellen über die frühe römische Kaiserzeit) und mit Flavius Josephus (dem jüdischen Chronisten der jüdischen Geschichte im 1. Jahrhundert). Wer sich für die Anfänge des Christentums interessiert, ist also auf die Apostelgeschichte als einzige zeitnahe Quelle angewiesen.5 Anderseits darf man dieses Buch auch nicht überschätzen oder überfordern! Es handelt sich nicht um eine zeitlich und räumlich flächendeckende „Geschichte des Urchristentums“, sondern um eine Sammlung von Geschichten aus dieser Geschichte. Die Erzählfolge muss darum auch nicht genau der chronologischen Folge der Ereignisse entsprechen, und zwischen den erzählten Ereignissen klaffen große Lücken. (Man spricht vom „Episodenstil“ des Lukas.) Und in geographischer Hinsicht erfahren wir nur etwas über Ereignisse im jüdischen Mutterland und über die Ausbreitung des Christentums im Mittelmeerraum nach Norden und nach Westen. Die Apostelgeschichte ist der zweite Teil eines größeren Werkes. Durch die Anrede an einen gewissen Theophilus in Apg 1,2 und zuvor in Lk 1,3 ist das Lukasevangelium als der erste Teil dieses Werkes erkennbar, die Apostelgeschichte als der zweite.6 Wir sprechen darum vom „lukanischen Werk“, um das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte zusammenfassend zu bezeichnen. Mit „Lukas“ ist ein zeitweiliger Mitarbeiter des Apostels Paulus gemeint, der dreimal im Neuen Testament erwähnt wird (Kol 4,14; Phlm 24; 2 Tim 4,11). In Kol 4,14 wird er als Arzt bezeichnet, und manche Forscher haben im Wortschatz des Lukanischen Werkes Vokabeln gefunden, die gut zu einem Arzt passen würden.7 Dass er das dritte Evangelium und die Apostelgeschichte verfasst habe, ist eine altkirchliche Tradition, die sich in der Überschrift des 3. Evangeliums niedergeschlagen hat. Gegen diese Tradition wird eingewandt, dass manche Züge seines Werkes nicht zu einem Mitarbeiter des Paulus passen. Aber dabei wird eine Übereinstimmung zum Maßstab erhoben, die nicht einmal bei einem Lehrer-
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Ich plädiere dafür, diesen Begriff auf die Zeitspanne zu begrenzen, die durch Schriften des Neuen Testaments erhellt wird. Vgl. Botermann, Helga, Der Heidenapostel und sein Historiker. Zur historischen Kritik der Apostelgeschichte, ThBeitr 24 (1993) 62–84, hier 65f. zur Unterscheidung zwischen „Überresten oder Monumentalquellen“ und „Tradition oder Geschichtsschreibung“. Zum Verständnis des Prologs in Lk 1,1–4 und zur Identität des Theophilus stelle ich unten S. 213–242 eine neue Hypothese zur Diskussion. Dabei muss es sich nicht um eine ständige Berufstätigkeit handeln, sondern es könnte auch eine gelegentlich praktizierte Fähigkeit gemeint sein.
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
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Schüler-Verhältnis garantiert wäre!8 Außerdem müssten die Unterschiede zwischen den jeweiligen Textgattungen stärker beachtet werden: Beispiele missionarischer Reden des Paulus (natürlich komprimiert) vor einem konkreten Publikum enthält nur die Apostelgeschichte, während die Briefe des Paulus (an christliche Gemeinden oder Einzelpersonen) nur knappe Zusammenfassungen der Hauptpunkte enthalten (die Paulus mehr oder weniger als bekannt voraussetzt und bekräftigt oder gegen Fehldeutungen verteidigt).
2.
Zur Überschrift
Die Überschrift „Apostelgeschichte“ ist keine genaue Übersetzung des griechischen Titels, und der stammt auch sicher nicht von Lukas. Genauer übersetzt, müsste sie lauten „Taten der Apostel“ oder „von Aposteln“. Das klingt nach christlichen Heldenlegenden. Lukas hätte diesem Buchtitel nicht zugestimmt. Er legt immer wieder großen Wert darauf, dass er keine menschlichen Großtaten zu berichten hat, sondern ein Handeln Gottes an Menschen und durch Menschen. Wenn Lukas erzählt, dass durch Petrus oder Paulus ein Wunder geschehen ist, dann verwahren sich die Apostel ausdrücklich gegen das Missverständnis, als ob sie die großen Magier wären und entsprechend verehrt werden müssten (vgl. Apg 3,12–16; 14,14f.) Auch die Erfolge der urchristlichen Missionspredigt werden nicht den Aposteln selbst zugeschrieben, sondern dem Handeln Gottes durch die Verkündiger bzw. seinem Wirken in den Herzen der Menschen (vgl. Apg 2,47; 11,21; 13,48; 16,14; 19,20). Man könnte die Apostelgeschichte als das Buch der frühen Ausbreitung der Christenheit bezeichnen. Aber auch dafür gebraucht Lukas einen anderen Ausdruck. Er sagt nicht: „Die Kirche wuchs“, sondern: „Das Wort Gottes breitete sich aus“ (Apg 6,7; 13,49) oder: „Das Wort Gottes wuchs.“ (12,24) Die Kirche ist eine „Gotteswort-Bewegung“, ihre Geschichte das Umsichgreifen des Wortes Gottes.
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Ob Lukas in Kol 4,14 überhaupt als „Mitarbeiter“ erwähnt wird, ist keineswegs sicher: Diese Vokabel kommt nur in V.11 vor.
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Zur Einstimmung
3.
Kenntnisse zur Geschichte des Urchristentums, die wir ausschließlich der Apostelgeschichte verdanken
3.1
Die chronologische Vernetzung des Urchristentums mit der Zeitgeschichte9
Wenn man Geschichte als Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen verstehen will, sind chronologische Daten unverzichtbar. Sie sind sozusagen das „Skelett“ der Geschichte. Aber wie kommen wir überhaupt dazu, Ereignisse der Antike mit einer Jahreszahl zu datieren? Das ist ein komplizierter Vorgang, der antike Zeitrechnungen in unsere christliche Zeitrechnung umsetzen muss. In der Antike aber gab es keine internationale Zeitrechnung. Die Griechen zählten nach Olympiaden, beginnend mit dem Jahr 776 v. Chr, die Römer datierten von der Gründung der Stadt Rom im Jahr 753 v. Chr. aus. In antiken Geschichtswerken wird aber in der Regel nicht mit entsprechenden Jahreszahlen datiert, sondern mit Regierungsjahren von Herrschern, die im Allgemeinen gut dokumentiert waren und sind. Das lukanische Werk zählt zwar nicht die Regierungsjahre, erwähnt aber eine Fülle von Machthabern und sonstigen Amtsträgern. Am lehrreichsten ist die Nennung mehrerer zu einem bestimmten Zeitpunkt amtierender Größen zur Datierung der Geburt Jesu (Lk 2,1f.) und – am ausführlichsten! – für die Berufung Johannes des Täufers zum Propheten (Lk 3,1f.). Das lukanische Werk im Ganzen nennt die Namen von fünf Kaisern, sechs römischen Statthaltern und von Mitgliedern der Dynastie des Herodes aus vier Generationen. Da diese Personen auch auf Grund außerbiblischer Quellen mehr oder weniger genau datierbar sind, ergibt sich für uns eine ungefähre Vorstellung vom Zeitraum und den zeitgeschichtlichen Umständen der Geschichte des Urchristentums.10 Eine einigermaßen verlässliche Jahreszahl ergibt sich jedoch nur für ein einziges Ereignis, nämlich auf Grund von Apg 18,12–17. Lukas erzählt dort von einer Anklage gegen Paulus vor dem römischen Statthalter von Achaia namens Gallio. Dieser Gallio wird in einer datierbaren Inschrift aus Delphi, einer Bekanntmachung des Kaisers Claudius, als Prokonsul erwähnt. Die Amtszeit eines Prokonsuls dauerte in aller Regel ein einziges Jahr. Auf Grund dieser Inschrift kann die Amtszeit des Gallio mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Jahre 51–52 n. Chr. datiert werden. Mit dieser Amtszeit des Gallio überschneiden sich die anderthalb Jahre des ersten Aufenthalts des Paulus in Korinth (vgl. Apg 18,11).11 Davon ausgehend kann man dann die Reisen des Paulus vorher und nachher auf Grund der Entfernungen und weiterer Angaben der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe in den 40er und 50er Jahren unterbringen. 9 10 11
Vgl. unten S. 29–61. Vgl. auch S. 62–72. Genaueres unten S. 48f.
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
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Kurz vor der Gallio-Episode, in Apg 18,2, erwähnt Lukas ein anderes Edikt des Kaisers Claudius, nämlich eine Ausweisung von Juden aus der Reichshauptstadt. Diese Maßnahme wird auch von Suetonius in seiner Claudius-Biographie (25,4) erwähnt, allerdings ohne Datierung. Infolge dieser Judenvertreibung sollen Priszilla und Aquila nach Lukas „vor kurzem“ aus Rom nach Korinth gekommen sein. Ein altkirchlicher Schriftsteller (Orosius) hat dieses Edikt ins 9. Regierungsjahr des Claudius (49 n. Chr.) datiert.12 Die Nähe zur Gallio-Episode erweist diese (relativ spät belegte) Datierung als vertrauenswürdig. Die Begegnungen des Paulus mit anderen Statthaltern liefern leider keine sicheren Datierungen, weil deren Amtszeiten umstritten sind.13
3.2
Nachrichten über die Jerusalemer Urgemeinde
Wenn wir nur auf die Briefe des Neuen Testaments angewiesen wären, besäßen wir fast keine Nachrichten über die nachösterliche Konsolidierung des Jüngerkreises unter Führung des Petrus, also über den eigentlichen Ursprung der Kirche. Denn die Evangelien schließen ja mit einem Bild des Jüngerkreises als einer ratlosen und verschüchterten Schar. Welche Konsequenzen sie aus den Erscheinungen des Auferstandenen zogen, wird erst in der Apostelgeschichte berichtet. Was Petrus persönlich betrifft, so wird außerhalb der Apg nur noch an vier Stellen des 1 Kor (1,12; 3,22; 9,5; 15,5) sowie in Gal 1,18; 2,7–9.11–14 etwas über ihn erzählt, wobei er in den letztgenannten Versen ziemlich schlecht wegkommt. Da auch die Evangelien von seinen Schattenseiten erzählen, bliebe diese Führungsgestalt der werdenden Kirche für uns weitgehend im Dunkeln.14 An Personalnachrichten ist noch erwähnenswert, dass nach Apg 1,14 die Familie Jesu (seine Mutter und Brüder) sich dem Jüngerkreis angeschlossen hat, während sie in den Evangelien dem Weg Jesu verständnislos gegenüberstand.15 Ein Bruder Jesu namens Jakobus wird neben und nach Petrus zur einflussreichsten Persönlichkeit der Jerusalemer Gemeinde (vgl. 12,17; 15,13–29; 21,18–26) Wichtiger als die Rolle einzelner Personen ist das Gesamtbild von den Beziehungen zwischen der Urkirche und dem jüdischen Volk in den ersten Kapiteln der Apg. Es ist das Bild einer ganz und gar innerjüdischen Bewegung. Vor dem Hintergrund der Kreuzigung Jesu handelt es sich um eine Protestbewegung gegenüber dem Hohen Rat, der Jesus an Pilatus ausgeliefert hatte (4,10; 5,30).16 Aber in diesem Protest haben die Jünger die Sympathien des Volkes auf ihrer Seite, obwohl sie den Bewohnern Jerusalems eine Mitschuld am gewaltsamen Ende Jesu vorhalten. Vor dem Amtssitz des Pilatus hatte es ja eine Demonstration 12 13 14 15 16
Vgl. Orosius, Hist. Contra Pag VII 6,15f. Vgl. unten S. 46–49. Ob die beiden Petrusbriefe von ihm stammen, gilt aus verschiedenen Gründen als äußerst fraglich. Das wird jedenfalls allgemein aus Mt 12, 46–50 par. Mk 3,31–35 und Lk 8,19–21geschlossen. Das ist auch der primäre Sinn des Jesuswortes in Apg 1,8: „Ihr werdet meine Zeugen sein …“
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Zur Einstimmung
zugunsten des Barrabas gegeben – und für dessen Freilassung wurde Jesus fallengelassen, ja sogar die Kreuzigung Jesu gefordert. Diese Mitschuld der organisierten Öffentlichkeit an der Kreuzigung Jesu wird in der Pfingstpredigt des Petrus (2,23) und v. a. in der Tempelrede (3,13–15) zum Anlass eines Bußrufes genommen (2,38;.3,26; vgl. 5,32). Tausende sollen darauf in sich gegangen sein und mit dem Bußritus der Taufe den Zuspruch der Vergebung angenommen haben. Auch über den Kreis derer hinaus, die sich taufen ließen, hat das Zeugnis der Apostel nach Lukas zunächst die ganze Bevölkerung beeindruckt (vgl. 2,47; 5,13). Als der Hohe Rat daran ging, das öffentliche Auftreten der Apostel zu unterbinden, hatte er die Stimmung im Volk gegen sich (vgl. 4,21; 5,26). Dieses Ansehen der Urgemeinde war nicht nur eine Folge der Verkündigung der Apostel. Auch die vorbildliche Sozialarbeit der Urgemeinde beeindruckte die Öffentlichkeit. Wohlhabende Gemeindeglieder steckten ihr Kapital in die Versorgung von Witwen und anderen Bedürftigen (vgl. 2,45; 4,32.34.35). Krankenheilungen, wie Jesus sie ausgeübt hatte, geschahen auch durch die Apostel (vgl. 2,43; 3,1–10; 5,12.15–16). All das wirkte zusammen zu einem rapiden Gemeindewachstum und zwang den weiterhin feindselig eingestellten Hohen Rat zur Zurückhaltung. Eine wichtige Voraussetzung dieser Stimmungslage war, dass die Urgemeinde sich in keiner Weise vom öffentlichen Gottesdienst im Tempel von Jerusalem absonderte (2,46). Man traf sich zwar auch in kleinen Gruppen in Privathäusern, beteiligte sich aber auch am Gebet im Tempel, das mit bestimmten Opfern zusammenfiel (3,1). Dieses Konzept, ganz bewusst Gemeinde Jesu im jüdischen Volk zu sein, blieb in Jerusalem lange bestimmend. Die ersten Christen waren – mit einem Begriff von heute gesagt – messianische Juden. Ihr Wunschziel war die Gewinnung ganz Israels im Sinne einer jüdischen Volkskirche. Die Lage änderte sich jedoch radikal im Konflikt um Stephanus (vgl. Apg 6– 7). Er war ein gebildeter und zugleich geistlich engagierter Jude aus der Diaspora (= “Hellenist“) und warb in Jerusalem unter anderen Diasporajuden für den Glauben an Jesus. Seine Gegner waren ihm intellektuell nicht gewachsen. Da beschlossen sie, ihn durch Verleumdungen „unschädlich“ zu machen. Sie stellten ihn als Feind des Tempels und des Gesetzes hin, klagten ihn vor dem Hohen Rat an und schickten falsche Zeugen ins Rennen, die angeblich blasphemische Äußerungen des Stephanus gehört hatten. Als Wahrheitskern der Vorwürfe lässt sich nur halten, dass Stephanus wie Jesus vor ihm die Zerstörung des Tempels vorausgesagt hatte.17 Obwohl Stephanus sich zunächst geschickt gegen die erho17
Die moderne Bibelwissenschaft hat den Hinweis des Lukas auf falsche Zeugen weithin ignoriert und die Anklagen gegen Stephanus ganz oder teilweise für berechtigt gehalten. Dabei war der Wunsch oft Vater des Gedankens: Man projizierte die eigene innere Distanz zum Judentum in diesen angeblichen Vorläufer des Paulus in der „Befreiung“ des Christentums von seinen jüdischen Eierschalen. Vgl. in meinem Buch Stephanus. Verleumdet, verehrt, verkannt, Leipzig 2014, 128–155.
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
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benen Vorwürfe verteidigte, endete die Verhandlung mit seiner Steinigung, möglicherweise in einem Akt des Volkszorns ohne ordentliche Verurteilung. Dieser Konflikt ließ das Ansehen der Urgemeinde in der Bevölkerung auf Null sinken (vgl. Apg 8,1). Es kam zu einer Verfolgung der Urgemeinde, bei der sich ein junger Mann namens Saulus (der spätere Apostel Paulus) besonders hervortat. Nur der Kern der Urgemeinde blieb in Jerusalem.
3.3
Kenntnisse zur Biographie des Paulus
Paulus ist der neutestamentliche Autor, der mit großem Abstand mehr über sich und sein Leben sagt als alle anderen. Aber was er darüber sagt, ist meistens auf Wesentliches konzentriert und liefert wenig konkrete Anschauung. Immerhin präzisiert er seine jüdische Identität als Zugehörigkeit zum Stamm Benjamin (Röm 11,1; Phil 3,5), und innerhalb des Spektrums religiöser Richtungen zählt er sich zu den Pharisäern (Phil 3,5). Dass er die Jesusbewegung einst verfolgt hat, und zwar als ein „Eiferer“ (zēlōtês), stellt ihn in die Tradition der Makkabäer (vgl. 1 Kor 15,9; Gal 1,13f.; Phil 3,6). Aber das Wo, Wann und Wie wird nicht konkretisiert. In 2 Kor 11,32 erwähnt er ausnahmsweise sehr plastisch von seiner Flucht über die Stadtmauer von Damaskus. Aber warum er von dort fliehen musste und was er dort eigentlich verloren hatte, wird anscheinend als bekannt vorausgesetzt. Wir wissen es aber nur aus der Apostelgeschichte (Apg 9 Parr.). Aus der Apostelgeschichte und nur aus ihr erfahren wir auch, dass Paulus in Tarsus in Zilizien geboren ist, also am Südrand der heutigen Türkei (Apg 9,11; 21,39; 22,3). Kein Paulusforscher stellt diese Angabe in Frage, und viele haben darin den Schlüssel zum Verständnis seiner Theologie gesehen: Ein Diasporajude ohne Vertrautheit mit dem Leben nach der Torah im Heiligen Lande, der hemmungslos hellenistische Vorstellungen auf den biblischen Gottesglauben aufgepfropft hat (so die Sicht der „Religionsgeschichtliche Schule“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts, am wirksamsten vertreten durch Rudolf Bultmann). Aber Lukas liefert uns noch eine andere Information, die in Spannung zu dieser Sicht steht: Nach Apg 22,3 hat Paulus in einer Rede in Jerusalem betont, dass er zwar in Tarsus geboren, aber in Jerusalem erzogen worden sei, und zwar unter den Augen des berühmten pharisäischen Torahgelehrten Gamaliel (vgl. Apg 5,34). Das ist eine Aussage über seine Schulzeit, vielleicht sogar im Kindesalter, und keineswegs eine Anspielung auf ein rabbinisches „Theologiestudium“, wie man oft behauptet hat! Damit füllt Lukas eine andernfalls unverständliche Selbstaussage des Paulus mit Anschauung: In Phil 3,5 bezeichnet er sich nämlich als „Hebräer von Hebräern“ – und das ist das Gegenteil von einem Hellenisten! (Vgl. Apg 6,1). Als solcher wird er die aramäische Volkssprache Judäas beherrscht haben und das Alte Testament auf Hebräisch gelesen haben, - auch wenn er es in seinen Briefen meistens nach der Septuaginta zitiert, d. h. in der Bibel der Adressaten. Darum kann er in der Heranziehung von Bibelstellen so
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Zur Einstimmung
aus dem Vollen schöpfen und geschickt argumentieren, wie er es in Teilen seiner Briefe vorführt. In der Apostelgeschichte und nur in ihr lesen wir auch, dass Paulus das römische Bürgerrecht besaß (Apg 16,37; 22,25–29; 23,27). Seltsamerweise wird das von manchen Exegeten, die in der Frage des Geburtsortes Tarsus dem Lukas blind vertrauen, bestritten, - aber mit schwachen Argumenten. Wenn man hellhörig ist, kann man sogar aus dem Römerbrief einen Hinweis auf dieses eigene Bürgerrecht heraushören. In Röm 13, wo Paulus die Notwendigkeit des Staates als Hort der Rechtsprechung hervorhebt, schreibt er in V.6: „Darum zahlt ihr ja auch Tribute.“ „Tribute“ zahlten nur die Glieder unterworfener Völker, nicht die Römer selbst. Paulus nimmt sich hier aus. Die Christen in Rom dürften bis auf wenige Ausnahmen zugewanderte Einwohner (incolae, peregrini) ohne Bürgerrecht gewesen sein. Dieses Bürgerrecht des Apostels dürfte der Grund dafür sein, dass Paulus bei der Wahl seiner missionarischen Standorte eine klare Strategie verfolgt: Es sind in aller Regel Provinzhauptstädte wie Ephesus und Thessaloniki oder sogenannte „Kolonien“ wie Philippi und Korinth, Städte mit einer römischen Oberschicht, nach dem Vorbild Roms verfasst, der römischen Kultur und den römischen Interessen verpflichtet. Hier konnte Paulus Zugang zur Oberschicht haben18 und in Konfliktfällen Rechtsschutz beanspruchen. Den Beamten, die ihn in Philippi misshandeln ließen, hätte er mit einer Anzeige in Rom die Hölle heiß machen können! (Vgl. Apg 16,22–24.37–39) Nach Lukas hat dieses Bürgerrecht dem Apostel in Jerusalem das Leben gerettet, als er in einer für ihn gefährlichen Prozesslage an den Kaiser appellierte (vgl. Apg 25,9–12). Darum wurde Paulus als Untersuchungshäftling nach Rom überführt. (Apg 27f.) Im Römerbrief spricht Paulus von seinem lang gehegten Wunsch, die Gemeinde in Rom zu besuchen (Röm 1,9–15; 15,23). Die Apostelgeschichte und nur sie berichtet uns, auf welche seltsame Weise dieser Wunsch in Erfüllung ging.
4.
Hintergrundwissen zum besseren Verständnis der Paulusbriefe
Im Folgenden möchte ich eine Reihe von Beispielen dafür skizzieren, wie Berichte der Apostelgeschichte uns helfen können, Aussagen der Paulusbriefe besser zu verstehen. Die Briefe des Apostels sind ja keine zeitlosen Lehrschreiben, sondern Instrumente und Ausschnitte seiner Missionsarbeit. Kenntnisse über die 18
Als römischer Bürger dürfte Paulus auch Lateinkenntnisse besessen haben. Die weitaus meisten Inschriften aus dem 1. Jahrhundert, die in Philippi und Korinth gefunden wurden, sind auf Latein verfasst.
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angeschriebenen Gemeinden und Informationen über die Situation des Apostels zur Abfassungszeit können daher verdeutlichen, warum und wozu Paulus etwas geschrieben hat, was ohne dieses Hintergrundwissen schwer verständlich ist.
4.1
1 Thess 2,14–16
Ich beginne mit dem ältesten Paulusbrief, dem 1. Thessalonicherbrief. Er enthält die wohl schroffste Pauschalpolemik gegen „die Juden“ im Neuen Testament. In 1 Thess 2,14–16a heißt es: „Liebe Geschwister, ihr seid Nachfolger der Gemeinden Gottes in Judäa geworden, zu Christus Jesus halten; denn ihr habt von euren Landsleuten dasselbe ertragen, was jene von den Judäern ertragen mussten. Die haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten und uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind, indem sie uns hindern, den Heiden zu predigen zu ihrem Heil. So sind sie dabei, das Maß ihrer Sünden voll zu machen. Aber jedes Mal hat sie schließlich der Zorn Gottes ereilt.“19
Hier ist eigentlich jede Aussage erklärungsbedürftig. Ich greife einen besonders ärgerlichen Punkt heraus: Der Vorwurf, die Juden seien bei Gott unbeliebt und Feinde aller Menschen, greift verbreitete Parolen des antiken Judenhasses auf! Wie konnte Paulus sich dazu hinreißen lassen? Wenn der Zusammenhang zwischen V.15 und V.16 durch genaue Übersetzung erhalten bleibt (was nicht immer der Fall ist), bekommen wir eine Erklärung: Die Juden sind „Feinde aller Menschen“, nicht weil das Leben nach der Torah sie von der Umwelt trennt (das meinte diese heidnische Parole!), sondern weil Juden die Mission des Apostels unter den Nichtjuden zu verhindern suchen. Wo hat Paulus das erlebt? Immer wieder, nach Apg 17,5–10 gerade auch in Thessaloniki, und schließlich in Korinth mit der Anklage vor Gallio (vgl. Apg 18,12f. nach EÜ): „Dieser verführt die Menschen zu einer Gottesverehrung, die gegen das Gesetz verstößt.“
Hätte Gallio dieser Anklage Recht gegeben, wäre die Missionsarbeit des Paulus von Staats wegen verboten worden, wie heute in islamischen Ländern. Kein Wunder, dass Paulus sich darüber empört und dieses Verhalten von Juden in die Reihe anderer jüdischer Untaten stellt. Die meisten Exegeten nehmen an, dass dieser Brief in Korinth während des ersten dortigen Aufenthalts des Paulus verfasst wurde. Ich vermute: nach der vergeblichen Anklage vor Gallio. Aber was bezweckt Paulus mit dieser Judenpolemik? Sein Thema in V.14 sind ja die Repressalien, denen die Adressaten ausgesetzt waren. Antwort: Mit dem Hinweis darauf, dass Gott die Sünden Israels immer wieder bestraft hat (so verstehe ich V.16b), deutet Paulus an, dass auch die Verfolger der Gemeinde von 19
Zu dieser Übersetzung von V.16 vgl. meinen Abschnitt am Ende des Artikels „Zorn“ im Theologischen Begriffslexikon zum Neuen Testament (Neuauflage), Wuppertal 2002, S. 2030.
18
Zur Einstimmung
Thessaloniki es einmal mit Gott zu tun bekommen werden (was dann in 2 Thess 1,6–9 in Klartext übersetzt wird).
4.2
Der Anlass des Galaterbriefs und die Lokalisierung der galatischen Gemeinden
Der Galaterbrief beginnt mit einem Paukenschlag: Anstelle der freundlichen Worte über die Adressaten, mit denen die sonstigen Paulusbriefe beginnen (was antiker Briefsitte entsprach), wirft Paulus den Galatern gleich nach dem Eingangsgruß vor, sie seien im Begriff, zu einem „anderen Evangelium“ überzulaufen. Über die Urheber dieser Entwicklung spricht er sogar einen feierlichen Fluch aus! Was steht dahinter? Der Brief selbst kommt mehrfach darauf zu sprechen, dass die Forderung im Raum stand, männliche Christen nichtjüdischer Abstammung müssten sich dem jüdischen Ritus der Beschneidung unterziehen. Das hieß: Konversion zum Judentum und Verpflichtung auf das Gesetz vom Sinai. Darum weist Paulus in der Fortsetzung die Idee einer „Rechtfertigung“ auf Grund von „Gesetzeswerken“ entschieden zurück (vgl. Gal 2,16.21). Dabei beruft er sich darauf, dass diese Forderung schon einmal bei einer Zusammenkunft führender Christen in Jerusalem abgelehnt worden sei (vgl. Gal 2,1–10). Über den Anlass und das Ergebnis dieser Zusammenkunft erfahren wir mehr in Apg 1520. In der christlichen Gemeinde von Antiochia, die aus Juden und Nichtjuden bestand, treten eines Tages „Brüder“ aus Judäa auf mit der These (Apg 15,1 EÜ) „Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden.“
Der um diese These aufbrechende Streit soll in Jerusalem, der „Mutter“ der Christenheit, geschlichtet werden. Dort bekräftigt eine Fraktion von Gemeindegliedern pharisäischer Herkunft diesen Standpunkt (Apg 15,5): „Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz des Mose zu halten.“
Beschneidung als heilsnotwendiges „Sakrament“ – kein Christsein ohne Übertritt zum Judentum? Nach Gal 2 und Apg 15 wurde diese Forderung von den Aposteln und der Mehrheit der Gemeinde zurückgewiesen. Aber diese Thesen standen offenbar in Galatien immer noch im Raum. Darauf bezieht sich die Argumentation des Paulus. Die „Werke des Gesetzes“, von denen Paulus nichts wissen will, sind nicht gute Taten im Sinne der Ethik, sondern spezielle von der Torah geforderte Handlungen und Verhaltensweisen (v. a. Beachtung bestimmter Tabus!), nach denen sich angeblich auch die Nichtjuden richten müssten.21 20 21
Zu diesem Kapitel vgl. unten S. 62–72 die Studie „Schicksalsjahr 44 n. Chr.?“ Diese Klarstellung oder Bekräftigung verdanken wir der „new perspective“ der Paulusforschung; vgl. u. a. Dunn, James G., The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
19
Aber wie ist es erklärlich, dass galatische Gemeinden in Kleinasien unter den Einfluss dieser „Judaisten“ gerieten? Hatte die pharisäische Fraktion der Jerusalemer Gemeinde einen so langen Arm? Zur Beantwortung dieser Frage muss man eine geographische Streitfrage klären: Der Begriff „Galatien“ kann in einem engeren oder einem weiteren Sinn verstanden werden. Das Wort „Galater“ ist gleichbedeutend mit „Kelten“, und keltische Stämme waren in vorchristlicher Zeit in das Gebiet um das heutige Ankara gewaltsam eingedrungen und dort sesshaft geworden. Zur Zeit des Paulus umfasste die römische Provinz Galatien aber auch Gebiete, die viel weiter südlich lagen. In diesem Teil der Provinz Galatien lagen die Gemeinden, die Paulus und Barnabas auf der ersten Missionsreise gegründet hatten. Von Gemeindegründungen im keltischen Siedlungsgebiet Nordgalatiens während der zweiten Missionsreise ist in der Apostelgeschichte nicht die Rede. Trotzdem halten viele Neutestamentler den Galaterbrief für ein Schreiben an Gemeinden im keltischen Siedlungsraum. Das scheitert jedoch m. E. an einem Vergleich zwischen Apg 16,6f mit der antiken Geographie Kleinasiens. Das Ergebnis dieser geographischen Klärung ist: Der Galaterbrief ist an die Gemeinden gerichtet, die auf der ersten Missionsreise gegründet und später wieder besucht wurden.22 Aus Apg 13–14 erfahren wir, dass es dort einflussreiche jüdische Gemeinden gab, die der paulinischen Mission Schwierigkeiten machten. In diesem Milieu können Judenchristen aus Judäa Fuß gefasst haben, um die von Paulus missionierten Heidenchristen zu jüdischen Vollproselyten zu machen. Das kann schon bald nach der Gründung dieser Gemeinden geschehen sein (vgl. Gal 1,6) und macht eine Frühdatierung des Galaterbriefs denkbar, – fordert sie aber nicht.
4.3
Das Bild der Gottesstadt in Phil 3,20f. und das römische Bürgerrecht
In Phil 3,18f wirft Paulus gewissen Leuten, die er als „Feinde des Kreuzes Christi“ bezeichnet, vor, sie seien „auf das Irdische ausgerichtet“. Dem stellt er in V.20 die These entgegen: „Unsere Heimatgemeinde (políteuma) befindet sich dagegen im Himmel. Aus ihr (kommend) erwarten wir auch als Retter (sōtêr) den Herrn Jesus Christus.“
Damit benutzt er die Rechtsverhältnisse des römischen Bürgerrechts, das er und die Oberschicht der Stadt Philippi besaßen, als Metapher für die Existenz der
22
185), Tübingen, dazu meine Stellungnahmen: Verdienste und Grenzen der „neuen Perspektive“ der Paulus-Auslegung, in: Bachmann, Michael unter Mitarbeit von Woyke, Johannes (Hrsg), Lutherische und Neue Paulusperspektive, Tübingen 2005, 1–15, sowie Hat Luther Paulus missverstanden? Zur „neuen Perspektive“ der Paulusauslegung, in: ThBeitr 44 (2013) 218–229. Vgl. Apg 16,6–8; mehr dazu unten S. 84–87 im Kapitel Geographische Probleme.
20
Zur Einstimmung
Gläubigen in dieser Welt. Obwohl fern von Rom lebend, gilt die Loyalität der römischen Bürger der Stadt Rom – egal, wo sie gerade leben. Auch ohne Abstammung von dort haben sie dort (auf Grund eines Rechtsaktes) Heimatrechte. Im Konfliktfall können sie sich auf den Schutz Roms verlassen (vgl. die Appellation des Paulus an den Kaiser in Apg 25,11). Von Feinden angegriffen, wird der Kaiser zu ihrer Rettung eingreifen. Nur hier im Philipperbrief bezeichnet Paulus Jesus als „sōtêr“ (Heiland, Retter). In Philippi hatte nach Apg 16,17 eine Wahrsagerin hinter Paulus und Silas hergerufen: „Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes, die euch einen Weg der Rettung verkünden.“
Und der Gefängniswärter, den Paulus vom Selbstmord abhielt, rief nach Apg 16,30 vor Schrecken zitternd aus: „Was muss ich tun, um gerettet zu werden?
Ist es ein Zufall, dass es dann in Phil 2,12 heißt: „Müht euch um euer Heil (sōtēría) mit Zittern und Zagen!“?
Wir sehen: Der Brief an die Philipper enthält Anspielungen auf den in der Apostelgeschichte erwähnten römischen Status der Stadt Philippi und auf die Anfänge dieser christlichen Gemeinde. Das will bei der Auslegung beachtet sein.
4.4
Röm 15,31 und die gespannte Lage zur Abfassungszeit des Römerbriefs
Zum Schluss ein Vers, der die Situation, in der Paulus seinen Römerbrief abgefasst hat, beleuchtet, wenn man die Apostelgeschichte heranzieht. In Röm 15,30f. schreibt Paulus an die Christen in Rom: „Ich bitte euch aber, Brüder, bei unserem Herrn Jesus Christus und der Liebe des Geistes, mir in den Gebeten zu Gott im Kampf beizustehen, damit ich vor den Ungehorsamen (oder: Ungläubigen) in Judäa errettet werde und damit mein Dienst an Jerusalem von den Heiligen freundlich aufgenommen wird, (32) damit ich (anschließend), so Gott will, in Freuden zu euch komme und mich mit euch zusammen erholen kann.“
Der Einleitung nach ist es eine inständige Bitte um Fürbitte, hinter der tiefe Sorgen des Apostels stehen müssen. Dabei sind zwei Sorgen zu unterscheiden:
4.4.1
Die Sorge um sein Leben
Aus den Paulusbriefen wissen wir: Paulus hat über einen längeren Zeitraum hinweg mit großem Engagement in den heidenchristlichen Gemeinden Spenden für die ärmeren Gemeinden in Judäa gesammelt. Bei Abfassung des Römerbriefes ist
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
21
er im Begriff, mit einigen Begleitern von Griechenland aus den Ertrag dieser Kollekte nach Jerusalem zu bringen. Von dort aus will er dann nach Rom reisen, um einen schon lange ersehnten Besuch in der Reichshauptstadt wahr zu machen (vgl. Röm 1,13–15 und 15,22–24). Dass er nach Röm 15,30 in Judäa um sein Leben fürchtet, hat einen ganz aktuellen Anlass, den wir aus Apg 20,3 erfahren. Paulus wollte ursprünglich per Schiff reisen wollte (vermutlich von Korinth aus). Da erfährt er, dass Juden bei dieser Gelegenheit einen Anschlag gegen ihn planen. Daraufhin entscheidet er sich für den mühsameren Landweg über Mazedonien und Kleinasien. Er weiß also, dass er bei Gegnern seiner Mission auf der Abschussliste steht. Das bestätigt sich nach Apg 21,27–36 in Jerusalem: Als er dabei ist, im Zusammenhang mit einem Gelübde im Tempel Opfer darzubringen, schlagen Juden aus Kleinasien Alarm. Sie schreien: „Ihr Männer von Israel, zu Hilfe! Das ist der Mensch, der in aller Welt Lehren verbreitet, die sich gegen das Volk und das Gesetz und gegen diesen Ort (den Tempel) richten …! (V.28)
Darauf hin schleifen sie Paulus aus dem heiligen Bezirk hinaus, um ihn draußen umzubringen (was die römischen Wachsoldaten mit Mühe verhindern können). So gerät Paulus aber in römische Haft. Das genügt seinen Feinden offenbar noch nicht: Nach Apg 23,12ff. planen ca. 40 jüdische Verschwörer, den Apostel bei Gelegenheit eines beantragten Verhörs durch den Hohen Rat umzubringen. (Das kann verhindert werden, weil ein junger Neffe des Paulus davon erfährt und den Militärkommandanten von Jerusalem darüber informiert.) Fazit: Paulus hatte bei der Abfassung des Römerbriefs realistische Vorstellungen von der Lebensgefahr, die ihm in Judäa droht. Dass er trotzdem nach Jerusalem reist, unterstreicht die Bedeutung, die er dieser Kollektenaktion beimaß. Mit ihr erfüllte er eine Vereinbarung, die nach Gal 2,10 beim „Apostelkonzil“ getroffen worden war. Umso befremdlicher ist die zweite Sorge, die er in Röm 15,31 den römischen Mitchristen zur Fürbitte ans Herz legt:
4.4.2
Die Sorge um den Erfolg seiner Kollektenaktion
Die römischen Hausgemeinden sollen dafür beten, dass „mein Dienst an Jerusalem von den Heiligen freundlich aufgenommen wird“. Das heißt: Paulus ist sich unsicher, ob die Spenden der heidenchristlichen Gemeinden den Judenchristen in Judäa überhaupt willkommen seien. Ein rätselhafter Satz! Hat es das jemals gegeben, dass eine Kirche Spenden anderer Christen abgewiesen hat! Allerdings – nämlich im Falle eines tief gestörten Verhältnisses. Zum Beispiel soll die Gemeinde von Rom im 2. Jahrhundert dem reichen Reeder Marcion eine große Summe aus der Gemeindekasse zurückgezahlt haben, als er sich als Irrlehrer entpuppte. Kann es sein, dass Paulus bei Abfassung des Römerbriefs auch für die Christen in Judäa zur Unperson geworden war?
22
Zur Einstimmung
In Apg 21,18ff lesen wir einen Bericht, der diesen Verdacht tatsächlich nahelegt. Paulus ist in Jerusalem angekommen und sucht gleich am nächsten Tag den Herrenbruder Jakobus auf, bei dem sich die Ältesten der Gemeinde einfinden. Er berichtet über seine Missionsarbeit, woraufhin die Versammelten Gott loben. Dann aber geben sie dem Paulus eine teils erfreuliche, teils aber alarmierende Schilderung der kirchlichen Lage in Judäa (V.20f.): „Du siehst, dass unter den Judäern Zehntausende zum Glauben gekommen sind – und sie sind alle Eiferer für das Gesetz! Ihnen ist jedoch über dich berichtet worden, dass du alle unter den Heiden lebenden Juden zum Abfall von Mose aufforderst, indem du sagst, sie sollten ihre Kinder nicht (mehr) beschneiden und nicht mehr nach den (jüdischen) Sitten leben.“
Diese Mitteilung hat zwei Teile. Der zweite bestätigt das schlechte Image des Paulus bei den fernstehenden Juden. Es beruht auf einem Missverständnis, das wir heute aus den Briefen des Paulus korrigieren können: Paulus hat nur die Heidenchristen von der Pflicht zur Beschneidung und zum Leben nach der Torah befreit. Aber waren die Christen in Judäa in der Lage, diese Fehldeutung seiner Position zu durchschauen und zurückzuweisen? Und hätten sie den richtig verstandenen Paulus in Schutz genommen, – wo doch schon die von Paulus selbst gegründeten Gemeinden Galatiens in dieser Frage ins Schleudern gekommen waren? Der erste Teil des Lageberichts über Judäa verstärkt diese Zweifel. Gewiss, es hat ein erfreuliches Gemeindewachstum gegeben. Aber um welchen Preis? „Sie sind alle Eiferer für das Gesetz:“ – War das nicht genau die religiöse Mentalität, die den jungen Paulus einst zum Verfolger der Jesusbewegung werden ließ (vgl. Gal 1,13f.; Phil 3,6; Apg 22,3)? Wenn das die Stimmung in der judenchristlichen „Kirche im Volk“ war, dann ist es durchaus denkbar, dass sie den Spenden der Heidenchristen skeptisch gegenüberstanden. Kirchen sollen ja nicht käuflich sein! Die Apostelgeschichte setzt uns hier auf eine Spur, die man bei Josephus, dem Historiker des jüdischen Aufstandes, weiterverfolgen kann. Nach Josephus hat es in der Zeit vor dem jüdischen Aufstand im Judentum eine Diskussion darüber gegeben, ob Israeliten Spenden von Heiden annehmen dürften. Diese Streitfrage betraf u. a. die regelmäßigen Zuschüsse des Kaisers (!) zu den Kosten des Opferkultes im Jerusalemer Tempel. Schließlich setzte sich in den frühen sechziger Jahren beim Tempelpersonal die ablehnende Haltung in dieser Frage durch, was von Josephus als Kriegserklärung an die Römer gewertet wird.23 Die gleiche Skepsis gegenüber heidnischen Gaben findet sich auch in einem Ausspruch, der dem damals einflussreichen Schriftgelehrten Jochanan ben Zakkai zugeschrieben wird.24 Mit der Annahme oder Ablehnung der heidenchristlichen Spenden hatte die Gemeinde von Jerusalem also eine Entscheidung in einem aktuellen innerjüdischen Streit zu fällen. Mit der Annahme der Spenden konnte sie 23 24
Vgl. Josephus, Bell. 2,408f. Vgl. TSota 14,10 (321).
Wozu ist die Apostelgeschichte gut?
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sich Sympathien im Volk verscherzen oder musste sogar mit Racheakten von Seiten der radikalen Kreise rechnen.25 Die „ökumenische“ Solidarität mit den „Weltchristen“ war also bedroht durch die Solidarität mit der Stimmung der Volksgenossen. Tatsächlich wissen wir nicht, wie sich die Jerusalemer Gemeinde entschieden hat. Die Apostelgeschichte erwähnt den Zweck dieser Jerusalemreise nur am Rande.26 Die Sorgen des Paulus, die er in Röm 15,31 äußert, waren also berechtigt. Die Lebensgefahr, mit der er in Judäa rechnen musste, hat wohl mit dazu beigetragen, dass man den Römerbrief als ein „Testament“ des Paulus verstehen kann, mit dem er vorsorglich seine theologischen Anliegen zusammengefasst und begründet hat. Die Stimmung unter den Gläubigen in Judäa ihm gegenüber liefert ferner einen Hintergrund für die breite theologische Diskussion des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden im Römerbrief. Beides steckt in dieser Bitte um Fürbitte, wird aber erst verständlich, wenn wir Nachrichten der Apostelgeschichte mit heranziehen.
5.
(Komprimierte) Wiedergaben (?) von Predigten und sonstigen Reden
Ein besonders auffälliges Alleinstellungsmerkmal der Apostelgeschichte sind die wörtlichen Reden von Wortführern der Jesusbewegung, besonders von Paulus. Für sie verwendet Lukas etwa ein Drittel der Textmenge dieses Buches! Ob und ggf. in welchem Maße es sich um Wiedergaben wirklich gehaltener Reden handelt, ist seit dem frühen 19. Jahrhundert umstritten.27 Gehen sie auf Ohrenzeugen oder mündliche Weiter-Erzählung zurück – oder hat Lukas sie nach seinen Vorstellungen (und Absichten) frei erfunden, vielleicht nach dem Predigtstil seines Umfeldes zur Abfassungszeit? Von dieser Frage handeln zwei Beiträge im vorliegenden Band als Ergebnis langjähriger Beschäftigung mit dem Problem der Reden in der antiken Geschichtsschreibung.28
25 26
27 28
Vgl. Josephus, Bell. 2,254ff. Vgl. Apg 24,17. Das könnte damit zusammenhängen, dass größere Geldtransfers von einer römischen Provinz in eine andere vom Staat genehmigt werden mussten. Wörtliche Wiedergabe ganzer Reden scheidet schon aus Gründen des Umfangs aus. Vgl. unten S. 181–199 und 200–212.
Schlüsselwort „Zeugnis“ Die Apostelgeschichte ist ein ganz besonderes Buch. Sie ist nicht nur innerhalb des Neuen Testaments „einmalig“: Seit vielen Jahren diskutieren Gelehrte über die Frage, in welche Rubrik der antiken Literaturgeschichte man sie mehr oder weniger zutreffend einordnen kann. Sie ist offenbar das Ergebnis einer Kreuzung sehr verschiedener „Erbmassen“ zu einem neuen Phänomen.1 Ein Artikel über sie von Jürgen Roloff trägt die Überschrift „Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt.“2 Das stimmt sogar buchstäblich: Sie ist der zweite Teil eines Werkes, das man irgendwann im Zuge seiner Verbreitung auseinandergenommen hat, als man die vier Schriften über das Leben Jesu zu einem Block zusammenstellen wollte. Damit fiel weithin unter den Tisch, dass der Prolog des Evangeliums (Lk 1,1–4) sehr viel über die Apostelgeschichte sagt, womöglich mehr als über das Evangelium.3 Als Ersatz für einen Prolog zum zweiten Teil des lukanischen Werkes kann man den letzten Satz der letzten Worte des Auferstandenen vor seiner Entrückung (Apg 1,8) deuten: „Ihr werdet Kraft empfangen, indem der heilige Geist über euch kommt, und werdet meine Zeugen sein – in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und so weit die Erde reicht.“
Dieser Ausspruch setzt ein Vorzeichen vor das, was wir heute Christentum oder Kirche nennen: Es geht in erster Linie um ein engagiertes Wortgeschehen zu dem Thema „Jesus“. Dabei will die Bedeutung des Wortfeldes „Zeuge/Zeugnis“ beachtet werden. In einer Predigthilfe zum Fest der „Himmelfahrt“4 habe ich einmal Folgendes zu dem Ausdruck „meine Zeugen“ geschrieben: „Dieser von Lukas (wie von Johannes) gern gebrauchte Begriff stammt aus dem Rechtsleben. Er besagt zunächst schlicht dies: daß der Prozeß um Jesus neu aufgerollt wird, daß die Jünger für Jesus eintreten, seinen Anspruch erneuern und seine Ankläger anklagen. Genau das geschieht in den ersten von Lukas gebotenen Reden vor dem Volk und dem Hohen Rat (vgl. Kap. 2–5). … Die Predigt von Jesus hat den Charakter eines Plädoyers, sie will überzeugen, die Hörer müssen ein Urteil fällen, eine Entscheidung treffen. Prediger und Hörer aber beugen sich einer sie beide verpflichtenden Norm: der Wahrheit der Geschichte.
1
2 3 4
Vgl. u. a. Phillips, Thomas E., The Genre of Acts: Moving towards a Consensus?, in: Currents in Biblical Research 4 (2006) 365–396. In Bibel und Kirche 55 (2000) 62–67. Vgl. unten S. 213–242. Himmelfahrt. Apostelgeschichte 1,3–4(5–7).8–11, in: hören und fragen. Eine Predigthilfe. Begründet von Georg Eichholz, Herausgegeben von Arnold Falkenroth und Heinz Joachim Held, Bd. 2: Erste Epistelreihe, Neukirchen-Vluyn 1979, 179–188, hier 184f. Ich bitte um Nachsicht mit dem (damals unreflektierten) Primat maskuliner Vokabeln.
Apg 1,8 als Motto
25
Diese Verpflichtung hat der Schriftsteller Lukas für sich selbst und für seine Leser im Prolog Lk 1,1–4 bekräftigt. Das Erzählen von Jesus ist darum die sachgemäße Form des als ‚Zeugnis‘ verstandenen Verkündigungsdienstes … Lukas hat mit der Abfassung des dritten Evangelium im ersten Teil seines Doppelwerkes als Schriftsteller auf der Linie von Apg 1,8 gearbeitet.“
Schon mein Doktorvater Gustav Stählin hatte in seinem Acta-Kommentar das Jesuswort aus Apg 1,8 als programmatisch für den Schriftsteller Lukas verstanden: „Der Verfasser will durchaus wie ein Geschichtsschreiber ein Geschehen der Vergangenheit darstellen, aber doch so, daß der Leser dabei das Wirken Christi glaubend miterlebt. Gerade als Zeuge gibt er gleichsam dem Geschehen selbst das Wort, so daß es als ein gegenwärtiges spricht, und erweist sich dabei um seines Zeugenauftrags willen frei im einzelnen, aber gebunden an die Sache. Ihrem Wesen nach ist also auch die Apg. nichts anderes als ein Evangelium, d. h. ein Glaubenszeugnis vom göttlichen Handeln in einem Abschnitt irdischer Geschichte.“5
Ebenso programmatisch für den Inhalt der Apostelgeschichte ist in Apg 1,8 die Ankündigung einer Geistbegabung für die Jünger – als Wiederholung und „Multiplikation“ der Geistbegabung, die Jesus selbst als Erfüllung eines Jesajawortes für sich beansprucht hatte (vgl. Lk 4,18–21 und Jes 61,1). Der heilige Geist, der durch die Apostel redet (vgl. Apg 4,31), kann selbst als ein Zeuge für Jesus bezeichnet werden (vgl. Apg 5,32). Er gibt auch Impulse für die geographischen Ausbreitung des aufgetragenen Zeugnisses (z. B. Apg 8, 29; 10,19;13,2). Dieser Weg des „Wortes“ (wie Lukas die Jesusbewegung gern bezeichnet) ist aber kein Ersatz für die Gottesherrschaft, die Jesus angekündigt hatte (vgl. zuletzt Apg 1,3): Zu Unrecht wurde missionarisches Wirken der Kirche oft mit dem Ausdruck „das Reich Gottes bauen“ tituliert!6 Die „Lehre“ von Jesus wird im letzten Satz der Apostelgeschichte (28,31) in einem Atemzug mit dem Reich Gottes als Inhalt der von Paulus verbreiteten Botschaft genannt. Der Auftrag zur Verbreitung des Zeugnisses von Jesus „bis an die Grenzen der Erde“ ist nicht einmal als Indiz für ein Hinausschieben der erwarteten Wiederkehr Jesu zu werten7: Die damalige Vorstellung von den Grenzen der bewohnten Erde erlaubte den Traum des Augustus von einer Weltherrschaft der Römer, und Alexander d. Gr. soll in Indien den östlichen 5
6
7
Vgl. Stählin, Gustav, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1962, S. 4; ähnlich Otto Bauernfeind, Die Apostelgeschichte, Leipzig 1939, S. 1: „Die AG will Zeugnis vom Kampf und Sieg des Evangeliums in der christusfremden Welt sein. Kein Abschnitt im ganzen Buch, der nicht im Dienst dieses Zeugnisses stünde.“ und S. 3: „Das verpflichtende und verheißende Wort 1,8 wird von der Autorität des Herrn selbst getragen und wenn unser Autor diesem Wort sein Buch unterordnet, so tut er das nicht als bloßer Chronist, sondern als Zeuge.“ Lang, Maria B., Protagonisten? Die Rolle der Zeugen in der Apostelgeschichte, in: NTS 62 (2016) 418–438, hier 427: „Die programmatische Ankündigung“ (Apg 1,8) „wird über den ganzen Erzählverlauf hinweg eingelöst.“ Vgl. u. a. Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der Deutschen Gemeinschaftsbewegung, Göttingen 1986. Vgl. meine Studie Der Geist und das Reich im Lukanischen Werk. Konkurrenz oder Konvergenz zwischen Pneumatologie und Eschatologie? In: NTS 59 (2013) 325–345 und unten S. 151–170.
26
Schlüsselwort „Zeugnis“
Rand der Erde erreicht haben. Apg 1,8 spricht ja nicht von einer Christianisierung ganzer oder gar aller Völker, sondern nur von einer Verbreitung der Botschaft von Jesus, die durchaus innerhalb einer Lebensdauer vorstellbar war.8 Die lukanische Verwendung des Wortes „Zeugnis“ hat dazu geführt, dass es im christlichen Sprachgebrauch zu einem Synonym für „Predigt“ werden konnte. Näher beim biblischen Ursprung liegt seine heutige Verwendung für individuelle Erzählungen über geistliche Erfahrungen wie Bekehrung oder Gebetserhörungen. Für ein kirchenfernes oder indifferentes Publikum hat das Vorzeichen „Zeugnis“ keinen positiven Beiklang. Seine wiederkehrende Verwendung im lukanischen Werk kann sogar Misstrauen gegenüber dem „Geschichtsschreiber“ Lukas wecken.9 Ist sein Werk mit diesem Stichwort nicht als Propagandaschrift einzuordnen? Für ernsthafte Geschichtsschreibung prägte Tacitus (Annalen 1,3) den Ausdruck „sine ira et studio“, d. h. ohne negative oder positive Voreingenommenheit. Und Thukydides schrieb die Geschichte des Kriegs zwischen Athen (seiner Heimat) und dem peloponnesischen Bund um Sparta, ohne mit Kritik an beiden zu sparen. Aber als normale Motivation für Geschichtsschreibung muss trotzdem eine angestrebte Wirkung auf das jeweils angesprochene Publikum vorausgesetzt werden. Darüber hat Lukas im Prolog zu seinem Werk (Lk 1,1–4) eine Auskunft gegeben: Über seinen Stoff − gewisse Ereignisse, über die schon allerlei erzählt wird – will er darstellen, was gesichert, fehlerfrei, verlässlich ist.10 Dieses Versprechen sagt mehr über das Wie als über das Was seines Schreibens. In Lk 1,1 ist von „Ereignissen unter uns“ die Rede. Lukas schöpft aus einer Fülle von Erlebnissen und Erinnerungen der nachösterlichen Jesusbewegung, dabei zum Teil aus seiner eigenen Lebenserfahrung.11 Besonders die in Wirform abgefassten Texte (meistens als von Lukas benutzte Quelle betrachtet) erwecken diesen Eindruck und wollen so gelesen werden. Das heißt: Das vorliegende Werk verdanken wir als Literatur bestimmten Absichten des Verfassers gegenüber einem Lesepublikum; aber die Inhalte beruhen auf einem „kollektiven Gedächtnis“ einer Bewegung, die aus dem Staunen über ihre Erfahrungen nicht herauskam. Das gilt besonders vom Anwachsen und der Ausbreitung der Jesusbewe-
8 9
10 11
Vgl. unten S. 83–84 zu Äthiopien. Clare K. Rothschild, Luke-Acts and the Rhetoric of History. An Investigation of Early Christian Historiography, Tübingen 2004, sieht in der häufigen Erwähnung von Augenzeugen bei Lukas eine verbreitete rhetorische Strategie, um die eigene Glaubwürdigkeit als Geschichtsschreiber zu erhöhen. Dabei wird zu wenig gewürdigt, dass es Lukas auch um die Glaubwürdigkeit bestimmter Personen der Handlung und ihrer Verkündigung geht. Vgl. unten S. 213–242. Vgl. unten S. 213–220.
Was bedeutet „Zeugnis“?
27
gung (oft abgekürzt durch den Ausdruck „das Wort“) trotz wiederholter Versuche der Unterdrückung (vgl. Apg 2,41.47; 4,4; 5,14; 6,1.7; 9,31; 12,24; 13,49; 16,5; 18,10; 19,20; 21,20).12 In der deutschen Allgemeinsprache steht Zeugnis für Bescheinigungen über Leistungen, vor allem im Schulbereich, aber auch im Berufsleben („Dienstzeugnis“ o. ä.). In historischer Fachliteratur werden schriftliche Quellen auch als Zeugnisse bezeichnet, aber auch Bauwerke und Ruinen gelten als "Zeugnisse der Vergangenheit". In der Justiz spielen vor allem Auskünfte von Zeugen eine große Rolle bei der Ermittlung von Tatsachen. In Strafprozessen können sie Zeugen der Anklage oder Zeugen im Dienst der Verteidigung sein. Ihr Auftreten ist häufig ein Ausdruck des Engagements für oder gegen die Person, über die ein Urteil gefällt werden soll. Dieser letztere Horizont liegt für den positiven lukanischen Gebrauch des Wortfeldes „Zeuge“ (Lk 24,48; Apg 1,8.22; 2,32; 3,15; 5,32; 10,39.41; 13,31; 22,15.20; 26,16) „Zeugnis“ (4,33; 22,18) und „bezeugen“ (23,11; 26,22) besonders nahe: Die nachösterliche Jesusbewegung kommt von dem gewaltsamen Ende Jesu am Kreuz her, von seiner Verurteilung und Hinrichtung als Verbrecher! Die Jünger, die weiterhin zu ihm halten, seine Lehre weitergeben und für seine Unschuld und Ehre eintreten, müssen diesen Prozess als einen Justizmord anfechten. Sie tun das öffentlich und fordern damit die Ankläger Jesu heraus.13 Dabei berufen sie sich auf ein Gottesurteil, indem sie auf die Erscheinungen des Auferstandenen verweisen, die sie erlebt haben und die ihnen die Kraft gegeben haben, ihrem Meister treu zu bleiben und den Sinn seiner Sendung erst richtig zu verstehen: Vergebung der Sünden auf sein Wort hin, also durch den Glauben an ihn (vgl. Apg 2,32–26.38; 3,15.19.26; 4,10–12; 5,30–32; 10,37–43; 13,27–39).14 Hinzu kommt, dass diese Zeugen für Jesus auch selber angeklagt werden, so dass ihr Eintreten für die Unschuld und Ehre Jesu zugleich eine Legitimation ihren eigenen Wirkens darstellt. Der Konflikt zwischen den „Uraposteln“ und dem 12
13
14
Vgl. Reinhardt, Wolfgang, Das Wachstum des Gottesvolkes. Biblische Theologie des Gemeindewachstums, Göttingen 1995, 143–307: Dritter Hauptteil: Exegese der Wachstumsangaben in der Apostelgeschichte. In römischen Strafprozessen gab es keinen Staatsanwalt, sondern nur private Ankläger, die mit scharfen Sanktionen rechnen mussten, wenn die Anklage sich später als grundlose Verleumdung herausstellte. Nach Robert Morgenthaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeugnis. Gestalt und Gehalt der Kunst des Lukas (2 Bde.), Zürich 1948, kommt der Begriff „Zeugnis“ im lukanischen Werk auch darin zum Ausdruck, dass Lukas mit Vorliebe Paare zusammen auftreten lässt (wie Petrus und Johannes oder Barnabas und Paulus) oder stillschweigend Parallelen zwischen zwei Zeugen (wie Petrus und Paulus) herstellt. Er deutet das als eine Wirkungsgeschichte der Forderung aus Dtn 19,15, dass ein Zeugnis nur „durch zweier oder dreier Zeugen Mund gültig“ sei (vgl. Num 35,30 und Dtn 17,6). Das leuchtete jedoch nicht ein, weil es an diesen Stellen nur um Belastungszeugen für irgendein Vergehen oder Verbrechen geht. Das kann kein Modell für das Zeugnis für Jesus gewesen sein, um das es bei Lukas geht.
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Schlüsselwort „Zeugnis“
Hohen Rat bringt sie in Lebensgefahr, die durch einen angesehenen pharisäischen Fürsprecher vorläufig abgewendet wird (Apg 4,1–5,42). Im Falle des Stephanus scheitert der Versuch eines „Burgfriedens“, weil verlogene Anklagen zu einer Hinrichtung im Tumult führen, ohne dass ein Gerichtsurteil erfolgt ist (Apg 6,8 – 7,60). Die letzten Kapitel der Apostelgeschichte handeln schließlich von einer (religiösen) Verleumdung des Paulus durch jüdische Gegner (Apg 21,21.28), die im weiteren Verlauf des Konflikts eine brisante politische Anklage gegen Paulus vor dem römischen Statthalter nachschieben (Apg 24,5). Gegen diese Anklage appelliert Paulus an die oberste Instanz römischer Rechtsprechung, den Kaiser (Apg 25,10f.). In diesem Konflikt gibt Lukas dem angeklagten Apostel wiederholt das Wort, sich selbst und seine Botschaft von Jesus zu verteidigen (vgl. Apg 22,1–21; 23, 1–6; 24,10–21; 25,8; 26,1–23). Durch menschliches Versagen der beteiligten römischen Beamten und eine Irrfahrt auf dem Meer zieht sich dieser Konflikt über mehrere Jahre hin. Dass Paulus mehrfach aus Lebensgefahr (vor Menschen- oder Naturgewalt) gerettet wurde, macht wiederum Gott zum Zeugen für seinen Missionsauftrag und seine Unschuld (vgl. Apg 27,22– 25). Umfang und Ausführlichkeit dieser Pauluskapitel lassen vermuten, dass der Erzähler ihnen eine besondere Bedeutung für sein Publikum beimisst. Seltsamer Weise erfahren wir am Ende der Apostelgeschichte nichts über den Ausgang seines Verfahrens vor dem kaiserlichen Gericht. Das lässt vermuten, dass diese Kapitel über Paulus (oder noch mehr?) zu einer Zeit abgefasst wurden, als der Prozess des Paulus noch unabgeschlossen war – möglicherweise mit dem Ziel, (einen?) Fürsprecher für Paulus zu gewinnen und zu seiner Verteidigung beizutragen.15
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Vgl. unten S. 213–242: Der Lukasprolog (Lk 1,1–4) neu gelesen.
Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte Das lukanische Werk ist, was die Vernetzung der Geschichte Jesu und des Urchristentums mit der Allgemeingeschichte betrifft, die ergiebigste Schrift des Neuen Testaments. Sie enthält auch Nachrichten über die Profangeschichte, die für Althistoriker interessant sind. Diese können die außerbiblischen Quellen ergänzen oder in Spannung zu ihnen stehen, ohne dadurch von vornherein verdächtig zu sein. Für die Interpretation des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte ist zu fragen, aus welchen Motiven die Erwähnung politischer Rahmenbedingungen und Einzelereignisse dem Lukas interessant und für sein Publikum eventuell relevant erschien.1 Im Folgenden geht es vorrangig um historische Kenntnisse, die bei der Interpretation berücksichtigt werden sollten.
1.
Herodes „der Große“2 (Lk 1,5)3
Nach dem Anfang des Prologs zu seinem Doppelwerk (Lk 1,1) umschreibt Lukas seinen Gegenstand mit „Ereignisse, die sich unter uns vollzogen haben“. Die auf
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Vgl. Zahn, Theodor, Einleitung in das Neue Testament, 3. Aufl., Leipzig 1907, Bd. 2, 381: „Ein weiteres Mittel, um dem Theoph. einen Eindruck von der christlichen Geschichtsüberlieferung zu verschaffen, ist die mannigfaltige Anknüpfung an die politische Geschichte. Kein ntl. Schriftsteller außer Lc nennt einen römischen Kaiser mit Namen … Die Verfügungen des Augustus (Lc 2,1) und des Claudius (AG 18,2) greifen in die Christentumsgeschichte ein. Diese schwebt nicht im Bereiche frommer Dichtung.“ Einen eindrucksvollen Überblick über die Wahrnehmung der Zeitgeschichte im lukanischen Werk bietet James R. Edwards, ‚Public Theology‘ in Luke-Acts: The Witness of the Gospel to Powers and Authorities, in: NTS 62 (2016), 227–252. Ob Lukas eine prorömische Grundeinstellung hat (oder vortäuscht?) oder implizit romkritische Impulse gibt, ist umstritten; vgl. Omerzu, Heike, Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand, in: ZNT 18 (9. Jg.) 2006,26–36. Dieser geläufige Beiname meint ursprünglich „der Ältere“ im Unterschied zu Nachkommen bzw. Nachfolgern. Vgl. neben den gebräuchlichen Lexika Metzner, Rainer, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, Göttingen 2008, 140–148: Ausführlicher u. a.: Schalit, Abraham, König Herodes. Der Mann und sein Werk, Berlin 1969; Vogel, Manuel, Herodes. König der Juden, Freund der Römer, Leipzig 2002; Zangenberg, Jürgen, Herodes. König von Judäa, Darmstadt (WBG) 2016. (lehrreich auch: ders. Hrsg., Herodes König von Judäa, Sonderheft von Antike Welt, 2016). Zu Herodes und seinen Nachfolgern vgl.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
den Prolog einsetzende Erzählung beginnt jedoch mit einer Datierung, die mehr als sechzig Jahre hinter die früheste mögliche Abfassungszeit zurückgreift. Der „König von Judäa“ dieses Namens regierte in den Jahren 37–4 v. Chr. und wird im Neuen Testament nur hier, mehrfach in Mt 2 und in Apg 23,35 erwähnt.4 Seinen Titel verdankt er einem Beschluss des Senats in Rom, der ihm auf Vorschlag von Marcus Antonius diese Würde verlieh5, als die mit Rom konkurrierende Großmacht der Parther um das Jahr 40 v. Chr. bestrebt war, die Kontrolle über Syrien und Judäa zu übernehmen.6 Dieser Großraum war um 63. v. Chr. durch Pompeius unter römische Herrschaft gekommen.7 Herodes war militärisch erfolgreich in der Sicherung dieser östlichen Reichgrenze und hatte dafür freie Hand in der Festigung seiner persönlichen Macht innerhalb seines Territoriums. Aus Treue zu seinem Gönner Antonius unterstützte Herodes den Antonius im Machtkampf gegen Octavian (den späteren „Kaiser Augustus“), was der Letztere ihm nach seinem Sieg aber verzieh.8 Um ein Königtum im Sinne von „Souverän eines freien Landes“ handelt es sich nicht: Herodes war jederzeit absetzbar, hatte finanzielle Verpflichtungen gegenüber dem römischen Fiskus9 und konnte einen Thronfolger dem Kaiser nur vorschlagen. Dass er sich in Jerusalem mit der Errichtung eines neuen Tempels auf einem aufwändig erweiterten Plateau ein Denkmal setzen wollte, wurde vom jüdischen Volk praktisch ignoriert: dieser im Jahr 70 n. Chr. von den Römern zerstörte Tempel wurde und wird bis heute als der „zweite (nämlich nachexilische) Tempel“ bezeichnet. Über Zerwürfnisse und Verbrechen innerhalb der Großfamilie des Herodes weiß Josephus wohl mehr zu erzählen, als der Bevölkerung bekannt sein konnte. Aufs
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Kokkinos, Nikos, The Herodian Dynasty. Origins, Role in Society and Eclipse, Sheffield 1998. Der offenbar (als Teil eines dreigliedrigen römischen Namens) erbliche Name „Herodes“ wird in den Evangelien und in Apg 4,27 auch für Herodes Antipas und in Apg 12 mehrmals für (Herodes) Agrippa I. gebraucht; das Attribut „der Große“ wurde zur Unterscheidung im Sinne von „der Ältere“ eingeführt. (Es entspricht dem lateinischen Adjektiv „maior“, nicht „magnus“.) Eine Stammtafel der regierenden oder nicht regierenden Nachkommen des Herodes bietet mein Acta-Kommentar von 2019 auf S. 207. Vgl. Josephus, Bell 1, 282–285. Vgl. u. a. Schalit (s. o. Anm. 3) 74f. Meyer, Eduard, Caesars Monarchie und das Principat des Pompejus: Innere Geschichte Roms von 66 bis 44 v. Chr., Stuttgart / Berlin 3. Aufl. 1922, 11: „(D)ie geordneten Zustände der Kaiserzeit beginnen für den römischen Orient mit Ausnahme Ägyptens … mit Pompeius.“ Vgl. Josephus Bell 1, 386–390. Vgl. Schalit (s. o. Anm. 1) 162: „Herodes wurde (sc. von Octavian) bestätigt als König, der für sein Königtum zu Steuerzahlung verpflichtet ist.“ Vgl. Schäfer, Peter, Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart / Neukirchen-Vluyn 1983, 104f.: „Sicher ist zunächst, daß Herodes wie auch seine Vorgänger / einen Tribut an Rom zu entrichten hatte … Er wurde über die verschiedenen Steuern eingetrieben, von deren Ertrag dann ein Teil an Rom abzuführen war.“
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Ganze gesehen spricht es Bände, dass nach seinem Tode eine Delegation von 50 Bürgern nach Rom reiste und vor Augustus darum bat, keinen Thronfolger einzusetzen, sondern das Land unter direkte römische Verwaltung zu stellen (was von 8000 in Rom ansässigen Juden unterstützt wurde).10
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Augustus und die Erfassung der Steuerpflichtigen
Das Selbstverständnis des römischen Reiches in augusteischer Zeit kommt in Lk 2,1 unverblümt zur Sprache, wo dem Machthaber in Rom eine Weisungsbefugnis gegenüber der ganzen „bewohnten Erde“ (oikouménē) zugeschrieben wird. Auf der Basis der vorherrschenden Vorstellung von der Erde als einer Scheibe konnte man sich vorstellen, seine Herrschaft bis zu deren Grenzen auszudehnen.11 Vergils Aeneis propagierte dieses Ziel in Form von Prophezeiungen.12 Eine Erfüllung dieser Weissagung suggeriert das Präskript der lateinischen Fassung der Res Gestae: „…von den Taten des göttlichen Augustus, durch welche er den Erdkreis der Herrschaft des römischen Volkes unterwarf“.13 Was die innenpolitische Machtfülle betrifft, konnte Lukas nicht wissen, dass der „junge Caesar (Octavianus14)“ viele Jahre brauchte, um nach seinem Sieg über den Konkurrenten Marcus Antonius (31 v. Chr.) zum Alleinherrscher zu werden, was (ab 27 v. Chr.) durch den Beinamen „Augustus“ = „der Erhabene“ zum Ausdruck kam.15 Obwohl dieser seine Sondervollmachten aus der Zeit der 10
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Vgl. Josephus, Bell 2, 80. Diese Zahl dürfte sich auf Juden mit römischem Bürgerrecht beziehen (größtenteils sicher Freigelassene). Jüdische peregrini hätten kaum die Möglichkeit gehabt, sich bei einer politischen Entscheidung des Kaisers zu Wort zu melden. Vgl. Mehl, Andreas, Imperium sine fine dedi – die augusteische Vorstellung von der Grenzenlosigkeit des Römischen Reiches, in: Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 4,1990 (Geographica Historica 7) Amsterdam 1994, 431–464. Vgl. Aeneis I 258f: Jupiter zu Venus über die Nachkommen des Aeneas: „diesen setze ich weder in Raum noch Zeit eine Grenze, endlos Reich hab ich ihnen verliehn.“ 287 über Augustus: „der ein Reich mit dem Weltmeer begrenzt, seinen Ruhm mit den Sternen“. (Übersetzung Johannes und Maria Götte, München 1972, 121. Vgl. Weber, Ekkehard, Augustus. Meine Taten. Res gestae divi Augusti (1985) 4. Aufl. München / Zürich 1985, 11. Der in der Forschung übliche „Beiname Octavianus wurde vom jungen Caesar nicht geführt und auch von seinen Anhängern nicht gebraucht. Er findet sich jedoch bei Cicero bis zum November 44 v. Chr.“ So Kienast, Dietmar, Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologe, Darmstadt 1990,61. Lukas vermeidet – im Gegensatz zu dem Statthalter Porcius Festus in Apg 25,21.25 das geläufige griechische Äquivalent Sebastós, das einen höheren religiösen Beiklang hatte. Vgl. Morris, Royce L. B., Why [Augustos]? A Note to Luke 2.1, NTS 38 (1992) 142–144, hier 143: “The transliterated form of Augustus does not occur in literature prior to Luke.” Marius Reiser, “Und er wurde vor ihren Augen verwandelt”. Fiktion und Wahrheit in neutes-
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Machtkämpfe nach dem Tod Gaius Julius Caesars klugerweise an den Senat zurückgab, gelang es ihm schrittweise, alle wichtigen Bereiche des Staatswesens unter seine Kontrolle zu bringen.16 Schon im Jahr 28 v. Chr. veranlasste Augustus seinen Census, d. h. eine Registrierung aller römischen Bürger.17 Einen erneuten Census ließ er im Jahr 8 v. Chr. durchführen.18 In diesem Jahr wurden wahrscheinlich auch die in den Provinzen lebenden römischen Bürger erfasst.19 Davon zu unterscheiden ist der „Provinzialcensus“, „der vor allem die Besteuerung der Provinzialen erleichtern sollte“20 und „zu verschiedenen Zeiten und in unregelmäßigen Abständen“ stattfand.21 Für die einheimische Bevölkerung der Provinzen war es förderlich, dass dabei die Einziehung der Steuern von den Steuerpächtern (Publikanen) auf örtliche Verwaltungsorgane verlagert wurde.22 Erstere hatten zuvor das Eintreiben eines vom Staat vorgegebenen Festbetrags ersteigert und konnten bei der Ausführung ihres Auftrags erhebliche Gewinne machen (daher das schlechte Image der „Zöllner“ im Neuen Testament).23 Die Registrierung der Personenzahl (apographê) und ihrer Einkommensverhältnisse (apotímēsis) diente einerseits zweifellos der Errechnung eines vom Staat erhofften Ertrags, anderseits aber auch der gerechten Verteilung auf die Bevölkerung.24
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tamentlichen Geschichtserzählungen, Freiburg 2021, 116f., weist darauf hin, dass der Begriff „Kaiser Augustus“ in unseren Übersetzungen von Lk 2,1 irreführend ist, weil „Cäsar“ „bei Augustus noch nicht der Kaisertitel“ ist, sondern der durch die Adoption geerbte Eigenname des Augustus. Vgl. Christ, Karl, Römische Geschichte, Darmstadt 1980, 144: „Die Armee war von Anfang an auf ihn eingeschworen, im Bereich der Finanzen, der Administration, der Rechtsprechung wuchs sein Einfluß ständig.“ Vgl. Kienast, Dietmar, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt, 2. Aufl. 1992, 146. Die Zählung ergab die Zahl von 4 063 000 Bürgern, wobei Frauen und Kinder wohl mitgezählt waren (vgl. Anm. 14). Vgl. Kienast, ebd. 95. Der nächste Census fiel in das Jahr 14 n. Chr. Kienast, ebd. 332, spricht von einer „erstmals durchgeführten ‚Reichsbürgerschätzung‘.“ Ders. ebd. Ders. ebd. 333. Ders. ebd. 333. Vgl. Badian. Ernst, Zöllner und Sünder. Unternehmer im Dienst der römischen Republik, Darmstadt 1997, besonders S. 85–106. N. N., in: Art. Provincia in KlPauly 4, 1199–1201, hier 1200: „In allen P. erhoben kaiserl. Procuratoren die Einnahmen des →fiscus … Da die Statthalter ein festes Gehalt erhielten …, der eingeführte Provinzialcensus und die Aufgabe der Steuerverpachtung die Ausbeutung minderte, wurde die Privinzialverwaltung der Kaiserzeit die ‚sauberste und anständigste, die bisher in der Regierung großer Gebiete verwirklicht worden war.‘ Kahrstedt, Ulrich, Kulturgesch. d. röm. Kaiserzeit2 1958, 52.“ Rohlfes, Joachim, Waren Imperien ‚Völkergefängnisse‘? Ein universalgeschichtlicher Vergleich, in: geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 4.2013, 20–48, 36: „Seine Stabilität verdankte das Reich nicht zuletzt seiner korrekten und effizienten Verwaltung, die ein Steuersystem unterhielt, das Strenge mit Gerechtigkeit verband und bemüht war, die Steuerzahler nicht zu überfordern.“ Ein Beispiel dafür erwähnt Sueton in seiner Tiberius-Vita, 32 Ende:
Caesar Augustus
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Was die Angaben des Lukas in Lk 2,1f. betrifft, gibt es bekanntlich einige Probleme. V.1 klingt nach einem einmaligen Erlass, alle Bewohner des römischen Machtbereichs unabhängig von ihrem bürgerlichen Status zu erfassen. Eine dahin gehende allgemein gehaltene Feststellung findet sich auch bei einem ausgewiesenen Kenner der Materie von heute: „Grundlage der Veranlagung war ein allgemeiner Reichscensus, der in den verschiedenen Provinzen gesondert unter der Leitung der Statthalter oder besonderer Kommissare meistens senatorischen Standes in bestimmten Zwischenräumen durchgeführt wurde, auch das eine der großen Neuerungen der Kaiserzeit.“25 Der knappe Satz des Lukas entspricht der Sache nach einer Erinnerung an die Frühzeit der Machtergreifung des Augustus (nach dem Sieg über Antonius), die von dem Historiker Cassius Dio (2. Jh. n. Chr.) in Form einer (mehr oder weniger fiktionalen) Beratung Octavians mit seinen Vertrauten Maecenas und Agrippa überliefert wird. Im Rahmen eines breit entfalteten Konzepts für die Organisation des Staates heißt es (Buch LII 28,5–7): „So müssen wir … auf alles, was dem Besitzer Gewinn abwirft, eine Abgabe legen und im ganzen Reich Steuern einführen. Denn es ist recht und billig, dass kein Privatmann oder Volk steuerfrei ist, wenn sie, gleich den anderen, die Vorteile der Besteuerung genießen. Es sind daher überall Steuereinnehmer zu bestellen, um die in den anberaumten Fristen fälligen Einkünfte beizutreiben.“26
Schwieriger erklärbar ist die Datierung „dieser“ Registrierung während der Amtszeit des Quirinius in Syrien, dabei temporal präzisiert durch ein (mehrdeutiges) prôtē. Im Allgemeinen wird das als eine Anspielung auf Tätigkeiten des Quirinius verstanden, über die Josephus in Ant 18,1–2 Folgendes berichtet: „Quirinius, ein Mitglied des Senats, der die anderen Ämter erreicht und durchlaufen hatte, um Konsul zu werden, und auch in anderer Hinsicht in hohem Ansehen stand, kam mit wenigen Begleitern im Auftrag des Kaisers nach Syrien, um für Recht und Ordnung sorgen,27 und die Vermögenslage zu erfassen. Gleichzeitig mit ihm kam Coponius, ein Mann ritterlichen Standes mit aller Vollmacht abgesandt, um Judäa zu verwalten. Auch Quirinius kam nach Judäa, das an Syrien angeschlossen wurde, um auch deren Besitzstände zu schätzen und die Güter des Archelaos zu veräußern.“
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„Den Statthaltern, die zu einer Steuererhöhung in den Provinzen rieten, schrieb er zurück, ein guter Hirte dürfe die Herde wohl scheren, aber nicht abhäuten.“ Vgl. Meyer, Ernst, Römischer Staat und Staatsgedanke, Darmstadt o. J. (= 2. Aufl. Zürich 1961) 404 über die Neuordnung unter Augustus. Zitiert nach Cassius Dio, Römische Geschichte. In der Übersetzung von Leonhard Tafel, bearbeitet von Lenelotte Möller, Wiesbaden 2012, 559. Vgl. Baatz, Dietwulf, „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Steuern im Römerreich, in: Schultz, Uwe (Hrsg.), Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer, München 1986, 38–63, hier 38: „Die Finanzen waren in den langen Jahren des Bürgerkriegs zerrüttet, das bisherige Steuersystem hatte sich zuletzt als wenig effektiv und sehr korrupt erwiesen. Augustus hat die Neuordnung des Reichs mit Energie betrieben.“ Der selten bezeugte Begriff dikaiodótēs ist in seiner Bedeutung m. W. nirgends erklärt.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Letzteres handelt eindeutig von Maßnahmen nach der Absetzung des Archelaos, des von den Römern bevorzugten Herodes-Erben, der im Jahr 6 n. Chr. nach zehn Jahren der Herrschaft über das Kernland Judäas abgesetzt und nach Gallien verbannt wurde.28 Daraus wird überwiegend geschlossen, dass Lukas die Geburt Jesu in das Jahr 6 n. Chr. datiert, was im Widerspruch zu Mt 2 steht. Das wird in der Regel als ein Irrtum des Lukas angesehen, der darauf zurückzuführen ist, dass Lukas sich nur eine einzige steuerliche Registrierung der jüdischen Bevölkerung vorstellen konnte. Dagegen spricht, dass schon nach dem Tod des Herodes d. Gr. (4 v. Chr.) bei der Einsetzung von Nachfolgern das Steueraufkommen der verschiedenen Territorien genau festgelegt war.29 Vielleicht liegt ein Irrtum aber gar nicht bei Lukas vor, sondern in der Weihnachtsgeschichte nach Luther, die wir im Ohr haben: „Da machet sich auf auch Joseph …“ Eine zeitliche Nähe der Bethlehem-Reise des Josef zum Wirken des Quirinius wird im griechischen Text durch nichts (wie etwa ein tóte) signalisiert. Warum übersetzen wir nicht mit: „So reiste auch der Galiläer Josef aus der Stadt Nazaret nach Judäa“?30 Dabei kann es sich um die Registrierung als Person (apographê) handeln, während die Erfassung der Vermögensverhältnisse erst unter Quirinius stattfand.31 Die Steuerveranlagung nach der Absetzung des Archelaos war für die Geschichte der Juden im 1. Jh. n. Chr. eine Zäsur, weil sie der Anlass für eine Volksbewegung war, die wesentlich zum Aufstand in den 60er Jahren und zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. beitrug.32 Nach dem Verlust politischer 28
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Vgl. Josephus, Ant 17, 342–344. Schon in Ant 17,355 hatte Josephus zum Abschluss dieses Kapitels geschrieben: „Die von Archelaos regierten Gebiete werden zu Syrien geschlagen und das Senatsmitglied Quirinius wird vom Kaiser entsandt, um die Vermögen in Syrien zu schätzen und seinen Besitz zu veräußern.“ Eine Verwaltungsunion mit Syrien bestand schon einmal während der Herrschaft von Herodes d. Gr.; vgl. Josephus, Bell 1,399. Vgl. Josephus, Bell 2,95; Ant 17, 318f. Für einen früheren Census plädiert u. a. Hans G. Kippenberg in ders. und Wewers, Gerd A., Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 1979, 45: „Die Übertragung der Herrschaft an Archelaos wurde mit einer Tributpflichtigkeit des Territoriums verbunden, wobei dessen Höhe von den Römern festgesetzt wurde. Ein Zensus muß daher vorausgegangen sein.“ Nach Sallust, Catilina 20,7 waren schon zur Zeit der Republik Klientelfürsten („Könige und Tetrarchen“) dem römischen Staat tributpflichtig. Die Elberfelder Bibel (2006) übersetzt: „Es ging aber auch Josef aus Galiläa …“, Die Neue Zürcher Bibel (2007): „Auch Josef ging von Galiläa aus der Stadt Nazaret hinauf nach Judäa …“ Das griechische de muss keinen Gegensatz signalisieren. Vielleicht galt für diese Registrierung schon das, was für eine spätere Zeit über den Provinzialzensus in Ägypten berichtet wird; vgl. Palme, Bernhard, Die Wacht am Nil. Soldaten des Kaisers in Ägypten, in: ders. (Hrsg.), Die Legionäre des Kaisers. Soldatenleben im römischen Ägypten, Wien 2011, 11–26, hier 22 über den Provinzialzensus: „Als begleitende Maßnahme zur Abwicklung des Zensus forderten die Statthalter per Dekret alle durch Steuerflucht oder Suche nach Arbeit in die Städte … abgewanderte Menschen auf, wieder in ihre Dörfer und auf die Felder zurückzukehren. Das Militär hatte diese Maßnahmen umzusetzen und zu kontrollieren.“ Grundlegend hierzu: Hengel, Martin, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., Leiden / Köln 1961.
Quirinius
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Selbständigkeit Israels bzw. Judäas waren Tribute an die jeweiligen Siegermächte nie ein religiöser Casus confessionis gewesen. Der „Erfinder“ dieses Novums war nach Josephus (Bell 2,118) „ein Mann aus Galiläa mit Namen Judas“. Er „verleitete … die Einwohner der soeben genannten Provinz“ (das vorher von Archelaos regierte jüdische Kernland) „zum Abfall, indem er es für einen Frevel erklärte, wenn sie bei der Steuerzahlung an die Römer bleiben und nach Gott irgendwelche sterbliche Gebieter auf sich nehmen würden.“33 In Bell 2,433 erwähnt Josephus diesen Judas noch einmal in Verbindung mit Quirinius: „ein sehr bedeutender Gelehrter, der einst zur Zeit des Quirinius die Juden geschmäht hatte, daß sie nicht Gott, sondern auch noch den Römern untertan sein wollten“.34 Der Kommandant der letzten Bastion des jüdischen Aufstandes (Masada) war nach Josephus (Bell 7,253) ein Eleazar, „ein Nachkomme jenes Judas, von dem bereits weiter oben berichtet wurde, daß er zu der Zeit, als Quirinius zur Festsetzung der Steuer nach Judäa gesandt worden war, eine nicht geringe Zahl von Juden dazu verleitet hatte, sich der Schätzung zu widersetzen.“35 Diese Assoziation des Census nach der Absetzung des Archelaos mit dem Auftreten dieses Judas Galilaios kommt auch in der Apostelgeschichte zur Sprache – im Plädoyer des Pharisäers Gamaliel zugunsten einer Toleranz gegenüber den Aposteln (Apg 5,34–39). Voraus ging ein Konflikt zwischen den Aposteln und dem Synhedrium wegen deren Verbreitung der Nachricht von der Auferweckung Jesu und ihrer Deutung als „Gottesurteil“ gegen die Verurteilung und Hinrichtung Jesu (vgl. Apg 4,1f.10–12; 5, 17–26). In ihrer Verteidigung (5,27–32) berufen sich die Apostel einleitend auf den Grundsatz, dass man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen.36 Dann beharren sie auf ihrem Vorwurf, dass die Kreuzigung Jesu ein Justizmord war, für den der Hohe Rat die Verantwortung trägt. Die anschließende Entrüstung der Anwesenden lässt um das Leben der Apostel fürchten.37 Gegen einen dahin gehenden Beschluss ergreift der angesehene pharisäische Schriftgelehrte Gamaliel („der Ältere“) das Wort. Er versucht den Hohen Rat damit zu beruhigen, dass eine Volksbewegung, die nicht im Sinne Gottes ist, nach dem Tod ihres Gründers bald von selbst wieder abebben und untergehen würde. Dafür führt er zwei Beispiele aus der jüngeren Geschichte an,
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Übersetzung nach Michel, Otto / Bauernfeind, Otto, De bello Judaico / der jüdische Krieg Griechisch und Deutsch Bd. I, München 1959, Bd. I, 205. Übersetzung ebd. S. 269. Übersetzung ebd. Bd. II,2 S, 121. Das erinnert an Sokrates vor Gericht; vgl. Apologie 29, D: „Gehorchen werde ich dem Gotte mehr als euch.“ Ist eine Anspielung auf Sokrates einem der Apostel zuzutrauen? Eher hat Lukas sie im Blick auf sein Publikum eingefügt, um auf die Parallele zu Sokrates hinzuweisen. Die Handschriften schwanken hier zwischen „sie wollten sie töten“ (so die Lutherbibel) und „sie beschlossen, sie zu töten“ (so die Einheitsübersetzung) und „sie tendierten zu einem Beschluss, sie zu töten“ (so die Mehrheit der Handschriften).
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
bei denen es so verlief. Im Blick auf die Jesusbewegung möchte er nicht ausschließen, dass sie gottgewollt oder von Gott geduldet sei, und warnt nachdrücklich vor der Gefahr, gegen eine Geschichtslenkung Gottes anzukämpfen. Eines seiner zeitgeschichtlichen Beispiele ist der Verweis auf den Widerstand gegen den Census nach der Absetzung des Archelaos (Apg 5,37):38 „Zur Zeit der Vermögenserfassung trat Judas der Galiläer auf und mobilisierte eine Menge von Leuten zum Aufstand unter seiner Führung. Er kam ums Leben, und alle, die er beeindruckt hatte, zerstreuten sich.“
Für das Publikum des Lukas ist bedeutsam, dass Gamaliel die Jesusbewegung damit klar von der Aufstandsbewegung im damaligen Judentum abgrenzt. Letztere war eindeutig „nicht von Gott“, weil sie nach dem Tod des Anführers von der Bildfläche verschwunden war. Im Blick auf die Jesusbewegung muss sich das noch zeigen. Bemerkenswert ist daran, dass Gamaliel nur zur Zeit dieser Verhandlung, in den ersten Jahren nach dem Tod Jesu so sprechen konnte: Zur Lage Judäas bis zum Jahr 37 n. Chr. gilt die Feststellung des Tacitus (Hist V 9,6): Sub Tiberio quies (zur Regierungszeit des Tiberius keine Unruhen).39 Vor dem Hintergrund dieser zeitgeschichtlichen Brisanz der staatlichen Erfassung der Steuerpflichtigen ist festzustellen, dass Lukas in der Fortsetzung V.4f. die Eltern Jesu als brave Untertanen des „erhabenen Kaisers“ einführt. Die Leser und Leserinnen sollen sich merken: Nicht alle Galiläer waren Anhänger des Judas Galilaios! Wenn in diesem Zusammenhang eine davidische Herkunft des Joseph erwähnt wird, kann man sich dazu ein zweites Ausrufezeichen vorstellen: Auch ein Davidide muss keine Sympathien für die jüdische „Freiheitsbewegung“ haben, – und in so einer Familie ist der Gründer der Jesusbewegung aufgewachsen! Die Geburtsgeschichte Jesu klingt somit wie eine Vorwegnahme des Ergebnisses der Vorladung von Verwandten Jesu zum Kaiser Domitian, der sie als harmlos wieder nach Hause schickte (vgl. Eusebs Kirchengeschichte III 20,1–7).40 38
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Das andere Beispiel (in V. 36) wird wegen des Namens „Theudas“ im Allgemeinen auf einen Aufrührer dieses Namens bezogen, der erst nach dem Zeitpunkt dieser Rede aufgetreten ist (vgl. Josephus Ant 20,97–99). Gamaliel spricht aber eindeutig von einem Vorgang vor dem Census, gegen den Judas der Galiläer protestierte. Der Name Theudas war nicht allzu selten, so dass er nicht auf den von Josephus erwähnten Theudas bezogen werden muss. Zu einer alternativen Identifizierung vgl. in meinem Kommentar zur Stelle S. 122f. Eine antirömische Protestwelle entsteht erst wieder, als der verrückt gewordene Kaiser Gaius (Caligula) den Plan fasste, sich im Tempel von Jerusalem in Form einer Statue als ein Gott verehren zu lassen; vgl. Ant 18,261f. In den vierziger Jahren wurde dann die Agitation des Judas Galilaios von zwei Söhnen weitergeführt, die unter dem Statthalter Tiberius Alexander (einem Neffen des Philon von Alexandrien) gekreuzigt wurden; vgl. Josephus, Ant 20,102. Vgl. Schlatter, Adolf, Das Evangelium des Lukas aus seinen Quellen erklärt, Stuttgart 1931, 185: „Josef unterwarf sich dem Befehl des Augustus. … Der Weg der Zeloten und der Weg Jesu scheiden sich von Anfang an.“ Ernst, Josef, Das Evangelium nach Lukas, Regensburg1977, 104f.: „Der Umstand, daß sich Josef den Anordnungen der Besatzungsmacht
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Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass auch Paulus das Recht der jeweiligen Regierungen bejaht, von ihren Untertanen Steuern einzutreiben (Röm 13,4– 7). Er verweist zur Begründung darauf, dass die Regierungen von Gott beauftragt seien, für die Rechtspflege zu sorgen, d. h. die braven Bürger zu belohnen und die Übeltäter zu bestrafen. Mit diesem Argument rechtfertigten die Römer ihre Tributforderungen gegenüber der Bevölkerung von Provinzen (vgl. Tacitus, Hist IV 73f.), und der Stolz der Römer auf ihre Rechtsordnung gipfelte in der Meinung, dass Völker dankbar sein konnten, wenn sie dem römischen Reich einverleibt wurden (vgl. Aelius Aristides, Romrede § 67).41
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Herodes Antipas42
In der Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu in den 20er Jahren blieb die Tributzahlung an die Römer ein Test für die Akzeptierung des politischen Status quo. Die Aufsicht dafür oblag in Galiläa und Peräa (östlich des Jordans) dem „Ethnarchen“ Herodes Antipas, der als solcher von 4 v. Chr. bis 37 n. Chr. im Amt war, und in Judäa und Samaria dem Präfekten für Judäa Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.). Nicht nur Pilatus, sondern auch Herodes Antipas war ein Beamter Roms, für den das Steueraufkommen seines Gebietes genau festgelegt war.43 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass nach Mt 22,15–17 par. Mk 12,13–14 Pharisäer gemeinsam mit „Herodianern“ Jesus aufs Glatteis führen wollten, indem sie ihn nach der religiösen Legitimität des Tributs an den Kaiser
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fügt und offenbar in ‚stiller Ergebung‘ die Unannehmlichkeiten der Reise auf sich nimmt, bekommt vor dem aktuellen zeitgeschichtlichen Hintergrund vielleicht / noch ein besonderes Gewicht. Für die Zeloten, deren entschiedener Widerstand (vgl. Apg 5,37; Flavius Josephus, Altertümer XVII 10,5) zutiefst in den messianischen Erwartungen begründet war, ist dieses Verhalten eines Angehörigen des Davidsstammes geradezu eine Provokation.“ Ernst geht auf S. 33 von einer Abfassung des Evangeliums nach dem Fall Jerusalems aus. Wo gab es da noch Zeloten (unter der Leserschaft), die Lukas provozieren konnte? Sogar ein ausgewiesener Ökonom von heute kann die „Steuerreform“ des Augustus in den höchsten Tönen loben; vgl. Hankel, Wilhelm, Caesar. Weltwirtschaft des alten Rom, Frankfurt 1992, 288: „Mit dem Census des Augustus wird die erste objektive Vermessung des dem Reiche zur Verfügung stehenden Steuerʻpotentialsʼ… vorgenommen … Des Augustus vielverkannte Steuerreform sichert die staatliche Daseinsfür- und vorsorge des römischen Bürgers, der im Römerreich beheimateten Provinzialen, Freigelassenen und sich selbst befreienden Sklaven volle drei Jahrhunderte lang.“ Vgl. Metzner, Prominente (s. o. Anm. 1) 29–36. 242–246. 264–267.286–293; Hoehner, Harold W., Herod Antipas. A Contemporary of Jesus Christ. Contemporary Evangelical Perspectives, Cambridge 1972; Jensen, Morten H., Herod Antipas in Galilee: the literary and archaeological sources on the reign of Herod Antipas and its socio-economic impact on Galilee, Tübingen 2010. S. o. bei und mit Anm. 21.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
befragten. Dass sie ihm damit eine Falle stellen wollten, geht aus der einleitenden Schmeichelei für die Unbestechlichkeit Jesu hervor. Die Antwort Jesu ignoriert die Vorgeschichte der Fragestellung seit dem Census und verweist auf römische Denar-Münze mit einem Abbild des Kaisers und seinem (abgekürzten) Namen mit den Worten: „Gebt dem Kaiser das Seine und Gott, was Gott gebührt!“ Der zeitgeschichtliche Hintergrund dieses Wortwechsels ist nicht nur die schon erwähnte Protestbewegung, sondern die Bedeutung der von Augustus vorangetriebenen (schrittweisen) „Währungsreform“.44 Inhaltlich bedeutet die Antwort Jesu, dass die gestellte Frage keine religiöse Bedeutung hat und dass stattdessen mehr danach gefragt werden sollte, was Gott erwartet oder fordert. Damit erklärt er – akademisch ausgedrückt – die Steuerfrage zu einem Adiaphoron, keiner Bekenntnisfrage, und definiert seine eigene Mission als unpolitisch. Damit konnte Herodes Antipas jedoch nicht zufrieden sein; es gab nämlich noch ein anderes Politikum in dessen Regierungszeit: Schon vor dem Auftreten Jesu gab es nämlich eine große Volksbewegung – durch die Predigt und Taufpraxis Johannes des Täufers. Alle vier Evangelien stellen dem Bericht über das Wirken und das Schicksal Jesu einen Vorspann über diesen Prediger voran, und auch die Apostelgeschichte erwähnt dieses „Vorspiel“ (vgl. Apg 10,37). Dass wir nur aus dem Neuen Testament über die Tauftätigkeit des Johannes informiert sind, kann darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um eine Bewegung handelte, die über Palästina hinaus ausstrahlte und Anhänger fand, z. B. im ägyptischen Alexandria (Apg 18,25) und im kleinasiatischen Ephesus (Apg 19,1–3). Ihre Bedeutung ist auch daran erkennbar, dass Lukas das Auftreten des Täufers in Lk 3,1–2 ausführlich genau (im 15. Jahr des Kaisers Tiberius) datiert45, während er das Auftreten Jesu nur ungefähr datieren kann (Lk 3,21: irgendwann während der Tätigkeit des Täufers).46 Im Unterschied zur Agitation des Judas Galilaios war diese Bewegung aber eine Bußbewegung ohne erklärte politische Ziele. Trotzdem wurde sie aber zu einer politischen Gefahr: für Herodes Antipas! Noch vor dem Beginn der Jesusgeschichte notiert Lukas in Lk 3,19f. einen öffentlich ausgetragenen Konflikt: „Johannes tadelte auch den Tetrarchen Herodes wegen der Herodias, der Frau seines Bruders, und wegen aller Schandtaten, die er verübt hatte.“ Lukas nimmt 44
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Vgl. Kienast (s. o. Anm. 11) 316: „Tatsache ist, daß unter Augustus die römische Währung zu einer Reichswährung wurde. Dies gilt vor allem für die auf dem Denar basierende Silberwährung.“ Die von Augustus veranlassten Münzprägungen mussten allerdings nicht durchweg das Kaiserbild tragen. Dass dabei häufig das Prädikat „divus“ vorkam, konnte für Juden anstößig sein (obwohl es von Hause aus nicht „göttlich“ bedeutete, sondern so etwas wie unser „der Selige“ für Verstorbene, vgl. Bethe, Erich, Ahnenbild und Familiengeschichte bei Römern und Griechen, München 1935, 31). Ergänzt durch eine Liste diverser anderer Machthaber dieser Zeit (Pontius Pilatus, Herodes Antipas, Philippus, Lysanias) und zweier Hohenpriester (Hannas und Kajaphas). Ähnliches gilt vom Alter Jesu: „etwa dreißig Jahre alt“ (Lk 3,23). Schon die Geburt Jesu wird in Lk 2,1 nur ungenau datiert mit „in jenen Tagen“, nämlich während Johannes aufwuchs (vgl. Lk 1,80).
Herodes Antipas
39
hier vorweg, was bei Matthäus und Markus erst im Rahmen der Jesusgeschichte erwähnt wird47: Herodes Antipas hatte auf einer Reise nach Rom einen (politisch unbedeutenden) Stiefbruder besucht, sich in dessen Frau Herodias verliebt und heimlich um sie geworben.48 Sie war zur Ehe mit ihm unter der Bedingung bereit, dass er seine bisherige Frau verstoßen würde.49 Letztere war eine Tochter des nabatäischen Königs Aretas. Diese ahnte, was ihr bevorstand, und setzte sich heimlich zu ihrem Vater ab. Daraufhin eskalierten Spannungen zwischen Aretas und Herodes Antipas zu einem militärischen Konflikt, indem eine Truppe des Herodes Antipas den Kürzeren zog.50 An diesen Konflikt zwischen Johannes dem Täufer und Herodes Antipas erinnert Lukas, wenn er in Lk 16,16–18 Jesus sagen lässt: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes verkündet … Aber eher werden Himmel und Erde vergehen, als dass auch nur ein Häkchen im Gesetz wegfällt. Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; auch wer eine Frau heiratet, die von ihrem Mann entlassen worden ist, begeht Ehebruch.“ (EÜ)
Mit dieser Bekräftigung der Position des Johannes gegenüber Herodes Antipas handelte sich Jesus dessen Feindschaft ein. Dieser hatte den Täufer verhaften lassen, um die öffentliche Agitation gegen ihn zu verhindern (vgl. Lk 3,20), und ihn in dieser Festungshaft später hinrichten lassen.51 Ihn musste es alarmieren oder wenigstens irritieren, dass das Wirken Jesu als oder wie eine Auferstehung Johannes des Täufers verstanden werden konnte (vgl. Mt 14,1f. par Mk 6,14–16; vorsichtiger Lk 9,7). Kein Wunder, dass einige Pharisäer Jesus rieten: „Geh weg, verlass dieses Gebiet; denn Herodes will dich töten.“ (Lk 13,31).52
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Vgl. Mt 14,3–4 par. Mk 6,17–18. Die Einzelheiten erfahren wir bei Josephus, Ant 18,109ff. Von Gefühlen der Herodias für Herodes Antipas ist dabei keine Rede. Ihr Ziel war ein gesellschaftlicher Statusgewinn. Aus demselben Motiv überredete sie später (mühsam!) ihren Mann, sich in Rom um den Königstitel zu bewerben, nachdem ihr Bruder Agrippa (I.) in Rom vom neuen Kaiser Gaius (Caligula) als Nachfolger von Philippus und Lysanias (vgl. Lk3,1) zum König eines Gebietes ernannt worden war. Daraufhin wurde Herodes Antipas vom Kaiser abgesetzt und nach Gallien verwiesen, wohin seine Frau ihn freiwillig begleitete. (Josephus, Ant 18,240–254. Vgl. Josephus 18,114. Die näheren Umstände nach Mt 14,6–12 par. Mk 6,10–29, von Malern, Schriftstellern und Komponisten lebhaft nachempfunden, werden von Lukas verschwiegen. Rivkin, Ellis, What Crucified Jesus? (Nashville 1984) London 1986, hat die Schicksale Johannes des Täufers und Jesu auf die gemeinsame Ursache zurückgeführt, dass jede Volksbewegung von damaligen Herrschern als politische Gefahr eingestuft wurde und unterdrückt werden musste, notfalls durch die Hinrichtung des Anführers.
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4.
Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Pontius Pilatus53
Dieser römische Statthalter (praefectus) für Judäa in den Jahren 26 – 36 n. Chr. könnte der am meisten mündlich erwähnte Mensch der Antike sein – wegen der Zeile „gelitten unter Pontius Pilatus“ im „apostolischen“ Glaubensbekenntnis.54 Dass (Jesus) „Christus unter der Herrschaft des Tiberius durch den Procurator Pontius Pilatus hingerichtet wurde“, ist die einzige Tat, die ihm von römischen Quellen zugeschrieben wurde (vgl. Tacitus, Annalen 15,44). Seine Vorlage für diese Notiz dürfte Josephus (Ant 18,64) gewesen sein, der über Jesus berichtet: „Auf die Anzeige der führenden Männer bei uns verurteilte er ihn zum Tode am Kreuz.“ Beide erwähnen diese Tatsache zur Erklärung des Namens „Christianer“ (oft fehlerhaft „Chrestianer“ geschrieben) für die im Kontext negativ beurteilte Jesusbewegung.55 Was die Politik des Pilatus betrifft, spricht die vergleichsweise lange Dauer seiner Dienstzeit in Judäa für eine aus römischer Sicht kluge Amtsführung. Aus jüdischer Sicht werden ihm aber vermeidbare Provokationen der Bevölkerung vorgeworfen. So soll er (gleich zu Beginn seiner Amtszeit?) der für den Standort Jerusalem vorgesehenen Truppeneinheit erlaubt haben, ihre Feldzeichen (religiösen Charakters, möglicherweise mit Kaiserbildern) in Jerusalem öffentlich aufzustellen. Gegen diese Provokation kam es zu einem fünf Tage langen massenhaften Protest von Juden an seinem Amtssitz Caesarea. Pilatus ließ sie von Soldaten mit gezückten Schwertern umzingeln. Erst als die Protestierenden sich zu Boden warfen und ihren Nacken für die angedrohte Tötung darboten, lenkte Pilatus ein und versprach, die Feldzeichen aus Jerusalem abzuziehen. (Josephus, Bell 2,169–174 und Ant 18,55–59) Auch eine von Philon von Alexandrien zitierte
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Als Monographien verdienen besondere Beachtung: Bond, Helen K., Pontius Pilate in history and interpretation, Cambridge 1998; Demandt, Alexander, Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte, Köln/Weimar/Wien 1999; Herzer, Jens, Pontius Pilatus. Henker und Heiliger, Leipzig 2020; vgl. ferner Yoder, Joshua, Representatives of Roman Rule. Roman Provincial Governors in Luke-Acts, Berlin 2014, 195–246. Vom Sinn her müsste eigentlich „unter Pontius Pilatus gekreuzigt“ zusammenhängend gesprochen werden, quasi als Todesanzeige. Das „gelitten“ schließt auch andere Leidenserfahrungen ein und betont seine wahre Menschennatur. Die Formulierungen des Josephus in diesem Zusammenhang sind zum Teil so positiv, dass man eine Bearbeitung durch Abschreiber vermutet, aber nicht typisch christlich. Für ihre Echtheit plädierte Dornseiff, Franz, Lukas der Schriftsteller, ZNW 35 (1936) 129–154, hier 145f. Vgl. Stanton, Graham, Gospel Truth. New Light on Jesus and the Gospels, London 1995, 157: “Later Christian additions to the text can be removed readily, leaving an authentic neutral or mildly hostile portrait of Jesus drawn by the Jewish historian himself.” Helen Bond (s. o. Anm. 53) 71: “Unfortunately the whole passage appears to have suffered at the hands of later Christian interpolators and the original wording of this section is now lost.”
Pontius Pilatus
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Quelle56 wirft dem Pilatus vor, religiöse Empfindlichkeiten des jüdischen Volkes durch die Aufstellung gewisser Weiheschilder verletzt zu haben (Legatio ad Gaium 299ff.). In diesem Zusammenhang spricht der Text beiläufig (322) von Befürchtungen des Pilatus, „dass die Abgesandten auch seine sonstige Amtsführung aufdecken würden, indem sie die Korruption, die Gewalt, die Beraubungen, die Misshandlungen, die Beleidigungen, die ständigen Morde ohne Urteil – ja, die endlose und unerträgliche Grausamkeit anzeigen würden.“57 Man muss hier mit Übertreibungen rechnen58, aber auch damit, dass sie in Teilen des lukanischen Publikums das Image des Pilatus beeinflussten. Von einem sicher nicht militärisch gerechtfertigten Blutvergießen durch Pilatus berichtet Lukas in Lk 13,1: „Es waren aber zu der Zeit einige da, die berichteten Jesus von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte.“
Der Kontext lässt vermuten, dass es sich um eine kleine Gruppe handelt (vgl. V.4), und die Erwähnung der Opfertiere spricht für eine Nähe zum Tempelareal. Näheres – besonders, was die Verantwortung des Pilatus für diesen Vorfall betrifft – ist leider nicht bekannt. Für das Lesepublikum des Lukas ist dies die erste narrative Erwähnung des Pilatus nach der bloßen Erwähnung im Datierungstext Lk 3,1 – und die einzige bis zur Anklage Jesu vor Pilatus in Lk 23,1! Warum und wozu wohl? Die Rolle des Pilatus in der Passionsgeschichte kann im Rahmen dieser Studie über „Zeitgeschichte“ nicht ausführlich besprochen werden.59 Eines aber lässt sich vor dem Hintergrund sonstiger Nachrichten über Pilatus ausschließen: Die verbreitete Meinung60, dass die Passionsgeschichten der Evangelisten von einer Tendenz geleitet seien, den Pilatus vom Verdacht der „Schuld am Tode Jesu“ zu „entlasten“, ist abwegig!61 Diese Schuldfrage stellte sich ja nur für Leute, die an die Unschuld Jesu glaubten, und nicht für eine breitere Öffentlichkeit. In einem Gebet der Gemeinde, das Lukas in Apg 4,24–31 wiedergibt, werden Worte aus Psalm 2 zitiert, die von der Feindschaft von Königen und Fürsten gegen den Gesalbten Gottes handeln, und als Voraussage einer Verschwörung zwischen
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Ein Brief des Agrippa (I.) an Gaius (Caligula) wenige Jahre nach der Absetzung des Pilatus. Übersetzung nach Herzer, s. o. Anm. 53, 110. Vgl. Demandt (s. o. Anm. 53) 65: „Philo zeichnet hier und in der Schrift gegen den praefectus Aegypti Flaccus die wirklichen und vermeintlichen Feinde der Juden in den finstersten Farben und scheut sich vor keiner Übertreibung.“ Mehr dazu in meinem Artikel Wer war schuld am Tode Jesu? In: ThBeitr 25 (1994) 23–36, sowie in: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2002, 33–48. Vgl. Stegemann, Wolfgang, Es herrsche Ruhe im Lande. Roms kurzer Prozeß mit Jesus von Nazareth, in: Schultz, Uwe, (Hrsg.), Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, München 1996 (2. Aufl. 1997) 41–54 und 427–429. Mehr dazu in meinem Artikel Sind die Passionsberichte der Evangelien antijüdisch tendenziös? in: ThBeitr 50, 5–6 (2019) 372–388.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Herodes (Antipas) und Pilatus gedeutet. Als wörtliche Rede muss das nicht unbedingt die Meinung des Lukas gewesen sein. Aber von Rücksichten auf das öffentliche Ansehen des Pilatus war er anscheinend nicht geplagt. Lehrreich ist auch der Anlass seiner Abberufung aus dem Amt: Nach Josephus (Ant 18,85–87) hatte er eine religiös motivierte Versammlung von Samaritanern an dem für sie heiligen Berg Garizim als Aufmarsch zu einem Aufstand missverstanden und Soldaten gegen sie eingesetzt. Führende Persönlichkeiten wurden dabei verhaftet und anschließend hingerichtet. Der (mit dem Jerusalemer Hohen Rat vergleichbare) „Rat“ der Samaritaner verklagte daraufhin den Pilatus beim (übergeordneten) Statthalter von Syrien und erwirkte seine Entlassung. Die Erinnerung daran, dass Jesus „unter Pilatus gekreuzigt“ worden sei, muss also keineswegs in der römischen Öffentlichkeit oder in Regierungskreisen einen Schatten auf die Jesusbewegung geworfen haben.
5.
(Herodes) Agrippa I.62
Der Name Agrippa taucht im lukanischen Werk erst in Kap 25–26 auf. Der dort erwähnte „König“ (von Roms Gnaden) über ein relativ bescheidenes Territorium ist jedoch der zweite dieses Namens und Titels.63 Sein Vater firmiert bei Lukas (wie auch Herodes Antipas) in Apg 12 unter dem Familiennamen „Herodes“.64 Der war ein Enkel von Herodes d. Gr., Sohn des Aristobulus,65 der wegen angeblicher Verschwörung gegen den Vater hingerichtet worden war,66 und Bruder der Herodias67. Im Alter von fünf Jahren siedelte er mit seiner Mutter Berenike und Geschwistern nach Rom über, wo auch sein Vater erzogen worden war.68 Dort lernte er den späteren Kaiser Claudius frühzeitig kennen.69 Trotz seiner von 62
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(10 v. Chr. – 44 n. Chr.) Umfassend orientiert über ihn Schwartz, Daniel R., Agrippa I. The Last King of Judaea, Tübingen 1990; vgl. ferner Metzner, Die Prominenten (s. o. Anm. 1) 393–405. Nach Schwartz, 31–37 kannte und benutzte Josephus eine Biographie des Agrippa; daher die Fülle an Nachrichten über ihn. Dass Söhne aus der Großfamilie Herodes diesen Namen bekamen, zeugt von der Verehrung des M. Vipsanius Agrippa, Jugendfreund und wichtigster Unterstützer des Caesar Octavianus auf dem Weg zur Alleinherrschaft (z. B. als Admiral in der Schlacht bei Aktium) und in seiner Regierungszeit, nach Josephus Ant 15,350 zeitweilig Generalbevollmächtigter für die östliche Reichshälfte. Nach Josephus, Ant 16,12–15 besuchte er auf Einladung des Herodes Judäa, insbesondere Caesarea und Jerusalem. Vgl. Apg 12,1.6.19.21. Vgl. Josephus Ant 18,126.131. Vgl. Josephus, Ant 16,394 Vgl. Josephus, Bell 1,552 (zweite Frau des Herodes Antipas, s. o.). Eine übliche römische Praxis bei Nachkommen (und möglichen Nachfolgern) von politischen Vasallen; vgl. Schwartz (s. o. Anm. 62) 41. Vgl. Josephus, Ant 18,165.
(Herodes) Agrippa I.
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Staats wegen gezielt griechisch-römischen Erziehung war er mit der hebräischen (oder aramäischen?) Sprache vertraut.70 Nach dem Tod seiner Mutter geriet er in finanzielle Engpässe und zog nach Judäa um, wo Herodias und ihr Mann Herodes Antipas ihm ein Pöstchen in Tiberias verschafften.71 Nach Konflikten mit diesen und anderen Unterstützern kehrte er schließlich (hoch verschuldet) im Jahr 33 oder 34 n. Chr. nach Rom zurück.72 Dort freundete er sich mit Gaius (Caligula), dem Enkel des Kaisers Tiberius an73 und hatte damit den „richtigen Riecher“, zog sich aber den Zorn des Tiberius zu, als er sich zu früh auf oder über den Tod des Tiberius freute.74 Nach dem Tod des Tiberius (37 n. Chr.) war eine der ersten Amtshandlungen des neuen Kaisers, dass er den Agrippa zum „König“ über die bisherigen Territorien des Philippus und des Lysanias machte.75 Das war aber nur der erste Akt seiner politischen Laufbahn. Als Herodes Antipas sich auf Wunsch seiner Frau Herodias ebenfalls um den Königstitel bewarb und damit beim Kaiser abblitzte76, wurden auch dessen Territorien dem Agrippa zugewiesen.77 Den in Apg 12 vorausgesetzten Höhepunkt seiner Karriere erreichte er aber erst nach dem gewaltsamen Tod des inzwischen geisteskranken Kaisers Gaius, indem er noch einmal geistesgegenwärtig auf den richtigen Nachfolger (Claudius) setzte. Dabei vermittelte er geschickt zwischen Claudius, der vom Militär favorisiert wurde, und Mitgliedern des Senats, die sich für eine Wiederherstellung der Republik stark machten.78 Dafür wurde er von Claudius damit belohnt, dass er die seit dem Jahr 6 n. Chr. (nach der Absetzung des Archelaus) direkte römische Verwaltung von Judäa, Samaria und Idumäa beendete und den Agrippa zum Alleinerben seines Großvaters Herodes d. Gr. machte.79 Agrippa ließ daraufhin Münzen prägen, die ihn als „Agrippa den Großen“ und „Freund des Kaisers“ proklamierten.80 Vor dem Hintergrund der einseitig römischen Erziehung des Agrippa ist es verwunderlich, dass Lukas von einer aggressiven Politik gegenüber der noch jungen Jesusbewegung berichtet. Es ist unwahrscheinlich, dass dabei religiöse Motive ausschlaggebend waren. Lukas erwähnt aber einen Faktor, der dabei eine
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Vgl. ebd. 18,228. Vgl. ebd. 18, 145–150. Vgl. Schwartz (s. o. Anm. 62) 45–53. Vgl. Josephus, Ant 18,166–168; Bell 2,178f. Vgl. ebd. 168f. Vgl. Josephus, Ant 17,237; darum deren Erwähnung in Lk 3,1! S. o. S. 39 Anm. 49. S. o. Anm. 49. Vgl. Josephus, Bell 2,206–213; Ant 19,236–247. Vgl. Bell 2,215; Ant 19, 274–275. Vgl. Schwartz (s. o. Anm. 62) 136, ferner: Das Heilige Land. Antike Münzen und Siegel aus einem Jahrtausend jüdischer Geschichte. Staatliche Münzsammlung München in Zusammenarbeit mit The Israel Museum Jerusalem 1993/94, S. 67.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Rolle gespielt haben kann: Nach Apg 12,3 konnte er sich damit bei der Bevölkerung beliebt machen, jedenfalls vor Ort, d. h. in Jerusalem.81 Darüber hinaus vermutet Daniel Schwartz, dass der neue König sich vor allem mit den Sadduzäern (d. h. der priesterlichen Aristokratie) gut stellen wollte82, und die waren ja die treibende Kraft im Versuch, die Jesusbewegung zu unterdrücken.83 Auffällig ist jedoch, dass in Apg 12,2 von einer Hinrichtung des (Zebedaiden) Jakobus mit dem Schwert die Rede ist. Enthauptung war keine von der Torah vorgesehene Strafe für ein religiöses Delikt. Sie lässt vielmehr einen politischen Anlass für das Vorgehen des Königs vermuten. Welche Befürchtungen konnte das Image der Jesusbewegung auslösen? Für einen Enkel von Herodes d. Gr. konnte es die Erwartung eines Königs davidischer Abstammung sein!84 Hatte man dem Jesus nicht beim Einzug nach Jerusalem als dem „Sohn Davids“ zugejubelt (Mt 21,9) und dabei „das Reich unseres Vaters David“ kommen sehen (Mk 11,10)? Hatte es sich herumgesprochen, dass man in der Urgemeinde (nach Apg 15,16) mit einer Erfüllung der Weissagung aus Am 9,11f. rechnete, die eine „Wiederaufrichtung der Hütte Davids“ versprach?85 Zurück zur politischen Geschichte: Das Kapitel 12 schließt mit einem Bericht über das plötzliche Lebensende des Agrippa, der Berührungen mit dem Bericht des Josephus (Ant 19,343–350) aufweist.86 Bemerkenswert ist, dass Lukas dieses Schicksal nicht als das typische Ende eines Verfolgers kommentiert.87 Allerdings hat es nach Lukas wie nach Josephus eine religiöse Komponente. Die Vorgeschichte ist allerdings rein politisch – und vielleicht auch die Todesursache: Voraus ging ein Konflikt mit den Hafenstädten Tyrus und Sidon. Nach Luthers Übersetzung und neuerdings leider auch der revidierten Lutherbibel plante Agrippa einen Krieg mit diesen beiden altehrwürdigen und bedeutenden Hafenstädten.88 Ein römischer Vasall, der innerhalb des Römischen Reiches gegen zwei Städte zu Felde zieht (die wahrscheinlich gar keine Truppen besaßen) – so verrückt dürfte Agrippa nicht gewesen sein. Die Wortwahl des Lukas gibt das auch gar nicht her: thymomachôn bedeutet „auf jemanden sauer sein“, allenfalls
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Von einem Abflauen der Stimmung nach der Steinigung des Stephanus ist jedenfalls nichts bekannt. Vgl. Schwartz (s. o. Anm. 62) 116–118. Vgl. Lk 22,66; 23,4; 24,20; Apg 4,1.6.23; 5,17; 9,1f. Vgl. Mt 2,1–12. Mehr dazu unten S. 62–72 in meinem Beitrag zum „Schicksalsjahr 44“. Vgl. Schwartz (s. o. Anm. 61) 145–149. Bemerkenswert zum Ganzen (S. 145): „There are some differences between the two accounts, but hardly a contradiction,” und (S.147): “It seems, therefore, that Luke’s account, as Josephus’, was based upon a friendly Jewish source.” Anders die Rezeption durch Euseb, Kirchengeschichte 2,10. Luther schrieb: „Er gedachte wider die von Tyro und Sidon zu kriegen.“ LÜ2017: „Er wollte aber Krieg führen gegen die Einwohner von Tyrus und Sidon.“
(Herodes) Agrippa I.
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„streitsüchtig“.89 Möglicherweise ließe sich der Konflikt heute als ein „Wirtschaftskrieg“ bezeichnen, weil es in Apg 12,20 heißt: Sie „baten um Frieden, weil ihr Land seine Nahrung aus dem Land des Königs bekam.“90 Im Beisein von Abgesandten der beiden Städte soll Agrippa nach Lukas und Josephus eine in doppelter Hinsicht „glänzende“ Rede gehalten haben: in einem glänzenden Gewand und in rhetorischer Hinsicht glänzend. Die Reaktion des Publikums nach Lukas (V.22): „Das ist die Stimme eines91 Gottes, nicht eines Menschen.“ So auch (der Sache nach, etwas umständlicher formuliert) nach Josephus. Kurz danach sollen unerträgliche Schmerzen eingesetzt haben, an denen der König nach wenigen Tagen starb. Lukas interpretiert das mit: „Da schlug ihn auf der Stelle der Engel des Herrn, weil er Gott nicht die Ehre gab.“ Josephus lässt (346) den Agrippa sich selbst die Schuld geben, weil er nicht gegen diese göttliche Verehrung protestiert hatte.92 In der Josephus-Forschung wird nicht ausgeschlossen, dass die medizinische Ursache seines Todes ein Giftanschlag war93, bei dem Interessen des Römischen Reiches hineinspielten. Josephus hatte sich aus römischer Sicht durch zwei Initiativen verdächtigt gemacht: Nach Josephus, Bell 2,218–219 und 5,147–160 hatte er begonnen, die Stadtmauer Jerusalems auszubauen, den Bau aber abgebrochen, weil er befürchtete, dass Claudius dies als Indiz von Unabhängigkeitsgelüsten missverstehen könnte. Vielleicht war es schon so weit gekommen! Zweitens hatte er einmal fünf „Könige“ von Roms Gnaden (die wie er von Claudius eingesetzt waren) zu sich nach Tiberias eingeladen. (Sie waren zum Teil mit ihm verwandtschaftlich verbunden oder befreundet.) Agrippa hatte in seinen jungen Jahren immer über seine Verhältnisse gelebt und wollte sich wohl als primus inter pares profilieren. Zufällig (?) besuchte auch der damalige Statthalter für Syrien (Marsus) diese Region und kam auch nach Tiberias. Er argwöhnte, dass die Zusammenkunft nicht im Interesse des Reiches sein könnte, und veranlasste die Gäste zu einer vorzeitigen Abreise (vgl. Josephus, Ant 19, 338–342). Womöglich konkurrierte Marsus mit Agrippa um die Rolle des führenden Repräsentanten Roms im Osten.94 Eine besondere Pointe hätte der Schluss von Kap. 12, wenn er darauf anspielen würde, dass bei Bühnenauftritten des Kaisers Nero Claqeure seine Stimme
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Vgl. Liddell-Scott-Jones s. v. “to be angry”. Im Blick auf Tyrus behauptet Josephus das in Ant 8,141 schon für die Zeit Salomos (wohl auf Grund von 1 Kön 5,23.25). Er soll zeitlebens – als Privatmann und als König – über seine Verhältnisse gelebt haben (vgl. Ant 18,145.167;19,352). Das „eines“ fehlt bei Luther und in LÜ, nicht in EÜ. Bei Josephus erkennt Agrippa sein bevorstehendes Sterben an einer Eule über seinem Kopf, die ihm bei früherer Gelegenheit als Todesbote angekündigt worden war; vgl. Ant 18,195. Womöglich durch den in Apg 12,20 erwähnten Kämmerer Blastus. So Schwartz (s. o. Anm. 62) 197; vgl. Josephus Ant 19,363 über diese Rivalität.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
als göttlich bejubelten (vgl. Tacitus Ann XIV 15,5).95 Bei einer Abfassung dieses Berichts nach dem Tode Neros hätte das einen Beiklang von Genugtuung; vorher wäre es riskant gewesen.
6.
Kaiser Claudius und L. Iunius Gallio
Über die von Agrippa I. unterstützte „Machtergreifung“ des Claudius ist oben schon berichtet worden. Das erste, das Lukas über seine Regierungszeit erwähnt, ist eine Versorgungskrise der ganzen „Ökumene“, was hier wie in Lk 2,1 das Römische Reich meinen dürfte. Sueton erwähnt lobend seine Maßnahmen, als wegen einer anhaltenden Trockenheit die Getreideversorgung der Stadt Rom gefährdet war.96 Da die Provinz Ägypten der Hauptlieferant des Getreides für Rom war, ist anzunehmen, dass vor allem dieses Land von Trockenheit betroffen war.97 Von einer Lebensmittelknappheit für Jerusalem berichtet Josephus (Ant 20,51f.), dass die Mutter des Königs von Adiabene namens Helena, die sich zum Judentum bekehrt hatte, damals in Jerusalem weilte und hohe Summen für Nahrungslieferungen aus Ägypten und Zypern spendete.98 Diese Krise dürfte im Jahr 46/47 n. Chr. stattgefunden haben.99 Die nächste Nachricht über Claudius findet sich ebenso beiläufig in Apg 18,2, ist aber für das Verhältnis zwischen der Jesusbewegung und dem jüdischen Volk von größerer Bedeutung. Die knappe Nebenbemerkung des Lukas, Claudius habe angeordnet, dass alle Juden Rom verlassen müssten, lässt aufhorchen und nach dem Datum, den Ursachen und den Folgen dieses Edikts fragen. Eine Ausweisung aller jüdischen Bewohner von Alexandrien hatte Claudius für den Fall angedroht, dass sie mehr Rechte beanspruchen würden als bisher und damit den Frieden in der Stadt gefährden würden.100 Dem war ein Rechtsstreit zwischen den 95
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Dieser Ansicht ist Klauck, Hans-Josef, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas, Stuttgart 1996, 57. Vgl. Sueton, Claudius 18. Insbesondere bezuschusste Claudius den riskanten Einsatz von Getreideschiffen zur Winterzeit und den Schiffbau für diesen Zweck. Konkret könnten die normalerweise vom Nil her kontrolliert überschwemmten Felder betroffen gewesen sein. Josephus sagt voraus, dass ihr Name im jüdischen Volk für immer berühmt sein werde – was heute eine Straße in Jerusalem bestätigt. Vgl. Feldman, Louis H., Josephus in nine volumes IX, Cambridge MA 1959, 416. Auf S. 443 hält Feldman auch einen Beginn im Jahr 45 für diskutabel. Die Unsicherheit ist textkritisch bedingt. Vgl. Schimanowski, Gottfried, Juden und Nichtjuden in Alexandrien. Koexistenz und Konflikte bis zum Pogrom unter Trajan (117 n. Chr.), Berlin 2006, hier 242–249: Brief des Kaisers Claudius an Alexandrien (41 n. Chr.) griechisch und deutsch, 49: „… Im anderen Falle will ich sie mit allen Mitteln vertreiben als Erreger einer allgemeinen Krankheit für die
Claudius
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beiden Bevölkerungsteilen vorausgegangen, die beide an den Kaiser appelliert hatten. Ein vergleichbarer Anlass für eine pauschale Ausweisung aus Rom ist nicht vorstellbar, weil die Juden hier eine Minderheit neben anderen Minderheiten waren und keine kommunale Vertretung besaßen. Ihre Anwesenheit in Rom beruhte auch nicht auf einer Registrierung als peregrini, weil es keine Zuzugskontrollen und Registrierungen gab. Nur die Bürger wurden durch den regelmäßigen Census erfasst und profitierten von der staatlichen Getreidezuteilung. Juden, die nicht in einem für jüdische peregrini typischen Viertel wohnten, konnten vielleicht untertauchen und so unbehelligt bleiben. Eine zahlenmäßige Begrenzung ergab sich außerdem, wenn Philon Recht hat mit der Aussage, dass die Mehrheit der in Rom lebenden Juden ehemalige jüdische Kriegsgefangene (d. h. Sklaven) waren, die nach ihrer Freilassung das römische Bürgerrecht erhalten hatten.101 Römische Bürger konnten nicht auf Grund einer ausländischen Abstammung en bloc ausgewiesen werden. Dass Aquila und Priszilla nach V. 2 der Ausweisung nachkamen, weist sie jedenfalls als angepasste Untertanen aus. Einen Anlass für die Ausweisung nennt Sueton (Claudius 25,4) mit den Worten: „Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis (!) Roma expulit.“ („[Die?] Juden, die von (einem?) Chrestus angestiftet ständig randalierten, vertrieb er aus Rom.“ Da es im Lateinischen keinen bestimmten Artikel gibt, ist unklar, ob hier eine generelle Ausweisung jüdischer peregrini gemeint ist oder eine partielle Maßnahme gegen unangenehm aufgefallene Juden. Das „alle“ des Lukas ist also durch Sueton nicht gedeckt. In der Forschung umstritten ist vor allem, ob „Chrestus“ hier „Christus“ meint, was nach Handschriftenbefunden möglich ist und durch die Verwendung von griechisch Eta für langes i erklärbar ist. Von dieser Möglichkeit ausgehend wird häufig angenommen, dass die Werbung für den Glauben an Jesus Christus in jüdischen Synagogen zu lautstarken Auseinandersetzungen geführt hat, die den sonstigen Einwohnern lästig waren und die Behörden auf den Plan riefen.102 Dagegen spricht allerdings, dass ein „impulsor“ ebenso persönlich handelt wie der Kaiser mit seinem „expulit“. Der Name „Chrestus“ war in der Antike weit verbreitet. Eine Entscheidung in dieser Frage ergibt sich vielleicht erst aus der Reaktion des Gallio auf eine Anklage von jüdi-
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102
ganze Welt.“ Vgl. Barrett, Charles K., (Hrsg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen, 2. Aufl. hrsg. von C.-J. Thornton, Tübingen 1991, S. 55–57. Vgl. Legatio ad Gaium 155. Beachtung verdient der Hinweis von Leonard Victor Rutgers, Roman Policy toward the Jews: Expulsion from the City of Rome during the First Century C. E., in: Karl P. Donfried / Peter Richardson (Ed.), Judaism and Christianity in First-Century Rome, Grand Rapids / Cambridge UK 1998, 93–116, hier S.97f., dass die Freilassung damals nicht mehr sofort alle bürgerrechtlichen Privilegien nach sich zog. Vgl. Cineira, David Alvarez, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission, Freiburg etc. 1999, „Die herrschende Meinung … behauptet, daß Chrestus sich an dieser Stelle auf Christus beziehe.“
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
scher Seite gegen Paulus (Apg 18,12–17). Eine kaiserliche Entscheidung gegenüber auffälligen Vorgängen bei den Juden musste einem Statthalter 2–3 Jahre später bekannt und juristisch relevant gewesen sein. L. Iunius Gallio Annaeanus, ein von Iunius Gallio adoptierter Bruder des berühmteren L. Annaeus Seneca103 war in der ersten Hälfte der 50er Jahre einmal Prokonsul von Achaja, wahrscheinlich mit Sitz in der römischen colonia Korinth.104 Seine von Lukas in Apg 18,12–17 erwähnte Begegnung mit Paulus ist ein Fixpunkt für die Chronologie der Paulusreisen, weil eine Inschrift aus Delphi, in der Gallio erwähnt wird, eine recht genaue Datierung enthält.105 Die Inschrift veröffentlicht einen Beschluss des Kaisers, die Stadt Delphi zu fördern, deren Einwohnerzahl bedenklich zurückgegangen war. Als Initiator dieses Beschlusses wird der Proconsul (und Freund des Kaisers) Gallio erwähnt. Für die Datierung des Beschlusses in das 12. Jahr der „tribunizischen Gewalt“ des Kaisers wird in der Regel das Frühjahr 52 n. Chr. angenommen, und der Verweis auf die 26. Ehrung als Imperator verlangt eine Datierung vor dem 1. August 52 n. Chr.106 Unklar ist, ob Gallio zur Zeit des Beschlusses noch im Amt ist oder schon wieder zurück in Rom. Die bei einem Proconsul normalerweise einjährige Amtszeit (vom 1. Juli bis zum nächsten 30. Juni) des Gallio ist höchstwahrscheinlich auf das Jahr 51–52 zu datieren. Die Folgerungen für die Chronologie des Paulus sind nicht so exakt, wie sie in vielen Publikationen vertreten werden107: Erstens wird aus Apg 18 häufig herausgelesen, dass eine Anklage gegen Paulus bei Gallio eingereicht wurde, als Gallio gerade sein Amt angetreten hatte. Das Partizip Präsenz óntos in V. 12 gibt das nicht her!108 Zweitens wird aus der Angabe in V.11, dass Paulus ein Jahr und sechs 103
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Mehr über ihn als im Folgenden in meinem Art. Gallio in: The Anchor Bible Dictionary, Vol 2, New York 1992, 901–903; vgl. ferner Yoder (s. o. Anm. 53), 258–277. Das alte Korinth war von den Römern 146 v. Chr. zerstört worden; den Befehl zur Neugründung gab Caesar kurz vor seinem Tode im Jahr 44 v. Chr. Den Inschriften des 1. Jh. n. Chr. zufolge war Latein die vorherrschende Sprache der Bürgerschaf; vgl. Gill, David W. J., Corinth: a Roman Colony in Achaea, in: BZ 37 (1993) 259–264; Wiseman, James, Corinth and Rome I: 228 B. C. to A. D. 267, in: ANRW II/7.1 (1979) 438–548, hier 507f. Vgl. Plassart, André, L’inscription de Delphes mentionnant le proconsul Gallio, in: Revue des Études Grecques 80 (1967) 372–378 und ders., Fouilles de Delphes Bd. 3, Paris 1970, Fasc. 4 Les inscriptions de la terrasse du temple et de la région nord du sanctuaire. Ältere Publikationen dazu (z. B. von Adolf Deissmann) basieren noch nicht auf allen heute vorhandenen Fragmenten; Barrett/Thornton (s. o. Anm. 100) 58–60; Riesner, Rainer, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, Tübingen 1994, 180–189. Vgl. Riesner a. a. O. 183f. Ich erspare mir die Aufzählung von „Tätern“! Riesner (s. o. Anm. 105) vermutet zwar S. 186f., dass die korinthischen Juden nur zu Anfang von Gallios Amtszeit erwarten konnten, dass er sie unterstützen würde; schließlich sei dessen Bruder Seneca antijüdisch eingestellt gewesen. Dabei wird der Einfluss des (jüngeren!) Bruders auf den Älteren überschätzt, zumal der Jüngere (unschuldig) sieben Jahre aus Rom nach Korsika verbannt war.
Gallio
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Monate in Korinth gewirkt hatte, zu Unrecht geschlossen, dass die folgende Episode ans Ende dieser anderthalb Jahre zu datieren sei.109 Als Bestätigung dieser Annahme wird zusätzlich V. 18 angeführt, wo es heißt, dass Paulus nach der (gescheiterten) Anklage vor Gallio noch hēméras hikanȃs in Korinth geblieben sei. Luther hatte das richtig übersetzt mit „Paulus aber blieb noch lange daselbs(t).“ Aber weil wir heute im Deutschen „Tage“ nur bei kurzen Zeiträumen zu benutzen pflegen, hören viele Übersetzer und Exegeten hier eine baldige Abreise heraus.110 Das in V.9f zitierte „Fürchte dich nicht …, denn ich bin mit dir …“ war für Paulus durch die Anklage vor Gallio sicher nicht widerlegt, sondern eher bestätigt worden. Was den Zeitpunkt innerhalb seines Wirkens betrifft, ist natürlich anzunehmen, dass der Versuch, die missionarische Tätigkeit des Paulus von Staats wegen verbieten zu lassen, erst nach dem in V.6f. erwähnten Konflikt mit der Synagoge und auf Grund seiner Erfolge (vgl. V.8) unternommen wurde. Wichtiger als die chronologischen Folgerungen ist die Frage, was die „GallioEpisode“ zur Biographie des Paulus beiträgt und ob sie womöglich etwas Grundsätzliches über das Verhältnis zwischen dem Urchristentum und römischen Staatsorganen aussagt. Das hängt von der Formulierung der Anklage gegen Paulus in V.13 und der Antwort des Gallio in V. 14–15 ab. Erstere lautet: „Gegen das Gesetz überredet dieser die Menschen, den Gott zu verehren.“
Letzteres: „Ach ihr Juden! Wenn es um irgendeinen Rechtsbruch oder ein schlimme Schandtat ginge, würde ich mich eurer Sache annehmen. Wenn es aber um eine Streitfrage um Lehre, Personen oder ein Gesetz bei euch geht, müsst ihr selbst damit klarkommen. Über solche Dinge will ich nicht Richter sein.“
Diese Weigerung, einen Prozess zu eröffnen, ist aus zwei Gründen nachvollziehbar: Erstens: Die Wendung „gegen das Gesetz“ ist nur als innerjüdische Aussage verständlich, weil es für Römer nicht das Gesetz gab, sondern eine Fülle von Gesetzen. Eine Anklage nach römischem Recht hätte ein konkretes Gesetz nennen müssen. Die Antwort des Gallio ist treffend, indem sie von einem Gesetz bei euch spricht. Zweitens: Eine Verehrung „des“ Gottes ist eine monotheistische Formulierung, mit der ein römischer Richter nichts anfangen konnte.
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Ein ähnlicher Fall: In Apg 19,10 wird ebenfalls eine Gesamtdauer für das Wirken des Paulus an einem Ort angegeben (2 Jahre). Die anschließend in V. 13–17 erzählte Begebenheit liegt innerhalb dieser Zeit, deren dramatisches Ende erst in 19,23 – 20,1 berichtet wird. Vgl. Wilckens, Ulrich, Das Neue Testament, Hamburg 1970: „Paulus blieb noch einige Tage dort.“ Wenn man das „Tage“ erhalten möchte, müsste man mindestens mit „erhebliche Tage“ übersetzen. Für „Tage“ für einen längeren Zeitraum vgl. Lk 15,13; 21,22f.; Apg 2,15.17 u. ö. Einen vergleichbaren Gebrauch des Plurals „Tage“ kennen wir in Texten über mehr oder weniger weit zurückliegende Zeiten.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Beachtung verdient die freundliche Anrede:111 Gallio beschimpft die Juden nicht, sondern stellt nur klar, weshalb er keinen Prozess eröffnen kann. Das entspricht einer Grundhaltung im Römischen Reich gegenüber privater Religiosität.112 Auch die Wortwahl der Aufforderung, den Platz vor seinem Podest zu räumen, muss nicht unfreundlich gemeint sein113, sondern kann zugunsten anderer Verhandlungen bei diesem Sitzungstermin des Proconsuls erfolgt sein. Die Statthalter hatten nicht nur an einem Ort ihrer Provinz Recht zu sprechen. Es ist nicht einmal klar, ob Korinth damals die Hauptstadt der Provinz Achaja war. Die Relevanz, die Lukas diesem Bericht beimisst, ergibt sich aus der Bedeutung von Präzedenzfällen in der Rechtsprechung. Der Brief des Jerusalemer Stadtkommandanten an den Statthalter Antonius Felix, der wahrscheinlich zu den Akten für den Prozess gegen Paulus gehörte, enthielt nach Apg 23,29 als Ergebnis der bisherigen Ermittlungen: „Ich stellte fest, dass er wegen Streitfragen über ihr Gesetz beschuldigt wurde und dass keine Anklage gegen ihn vorlag, die eine Todesstrafe oder (auch nur) Verhaftung zur Folge hätte.“114
Die Anklagen, die dann nach Apg 24,5f durch den Anwalt Tertullus vor Antonius Felix vorgebracht werden, enthalten zwei innerjüdische Streitpunkte: die innerjüdische Bewegung der „Nazoräer“ (Anhänger des Jesus von Nazaret) und Vorschriften für den Aufenthalt im Tempel. Diese Anklagepunkte gehörten zweifellos zu den Akten, die Felix seinem Nachfolger Porcius Festus hinterlassen hatte und die von diesem für den Prozess in Rom weitergegeben wurden. Die abschließende Bemerkung über die aggressive Reaktion des Publikums gegenüber dem Synagogenleiter Sosthenes betrifft ein Detail ohne politische Relevanz. Möglicherweise betrifft sie den Sosthenes, der in 1 Kor 1,1 erwähnt wird115 und dann als Quelle der von Lukas aufgenommenen Überlieferung in Frage kommt. Das „alle“ in V.17 dürfte dem Erzählfluss nach die anwesenden Mitglieder der jüdischen Gemeinde meinen, und ihr Unmut könnte sich gegen die Formulierung der Anklage richten, die eine Steilvorlage für den Statthalter
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Vgl. Winter, Bruce, Rehabilitating Gallio and his judgement, in: Tyndale bulletin 57 (2006) 291–308, hier 301: “Gallio politely addressed them as ‘O Jews’ and explained that he simply could not proceed because there was no case to answer under Roman law.” Vgl. Judge, Edwin A., Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft. Die Sozialstruktur christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert, Wuppertal 1964, 41 zu dieser Stelle: „Ein offizielles Desinteresse an der Religion ihrer Untertanen war charakteristisch für die römische Regierung.“ Letzteres ergibt sich in Josephus, Bell 1,245 erst durch die adverbiale Bestimmung „mit Schimpf und Schande“. (Anders in meinem Kommentar z. St. S. 311.) Es handelt sich um eine Übersetzung oder inhaltliche Wiedergabe des lateinischen Originals. Die interne Korrespondenz des römischen Militärs wurde ausschließlich auf Lateinisch geführt. Vgl. Metzner (s. o. Anm. 3) 450–452.
Judäa römische Provinz
51
war.116 Das könnte ein Beispiel für die innerjüdischen Kontroversen sein, die nach V. 2 zur Ausweisung von Juden durch Claudius geführt haben können.117 Dass Gallio sich um diesen innerjüdischen Konflikt nicht kümmerte, entspricht seiner inneren Distanz zu den vorgetragenen Anklagepunkten.118 Unruhen in der jüdischen Population der Hauptstadt Rom waren dagegen wohl deshalb unerwünscht, weil diese einen größeren Anteil an der Einwohnerschaft stellte. Lukas könnte diesen Bericht in sein Werk aufgenommen haben, weil die Entscheidung des Gallio das vorwegnimmt, was ihm als gerechte Lösung des römischen Prozesses gegen Paulus vorschwebt, den er mit wiederholten Selbstaussagen des Paulus auf einen innerjüdischen Disput zurückführt.
7.
Die Umwandlung Judäas in eine römische Provinz
Als Agrippa I. im Jahr 44 n. Chr. starb, war sein Sohn Marcus Iulius Agrippa erst knapp 17 Jahre alt.119 Das war vielleicht nicht der einzige Grund dafür, dass Claudius ihn nicht zum Nachfolger seines Vaters einsetzte, sondern ihm nur ein kleines gerade vakant gewordenes Territorium (Chalkis) anvertraute. Agrippa I. war in der nichtjüdischen Bevölkerung der Städte Caesarea und Sebaste und bei den ihm unterstellten Truppen nicht beliebt gewesen.120 Diese internen Spannungen und die Lage nahe der Ostgrenze des römischen Reiches erforderten eine feste und erfahrene Hand, die nur ein bewährter Beamter des Kaisers versprechen konnte. Darum verwandelte Claudius Judäa wieder in eine direkt verwaltete Provinz.121 Vom ersten neuen Statthalter Cuspius Fadus ist nichts Näheres bekannt. Der zweite, Tiberius Julius Alexander, war ein gebürtiger Jude aus einer reichen und
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Die nicht erst moderne gelegentlich vertretene Gleichsetzung des Sosthenes in V.17 mit dem Crispus in V.8 unterstellt dem Lukas eine Fahrlässigkeit als Erzähler, für die es keine überzeugende Erklärung gibt. S. o. S. 46–48. Bruce Winter (s. o. Anm. 111) 302f versteht die Schlussbemerkung über Gallio als Bekräftigung seiner vorher zitierten Entscheidung. Dann müsste der Satz aber am Beginn von V.16 stehen. Vgl. Josephus, Ant 19,354. Nach Josephus, Ant 19,355–358 löste sein Tod in diesen Kreisen Jubel aus, wobei es zu einer öffentlichen Verhöhnung seiner Töchter kam. Er schreibt diesen Truppen in Ant 19,366 auch eine erhebliche Mitschuld am Ausbruch des jüdischen Aufstandes im Jahr 66 n. Chr. zu. Die Gebiete, die dem „König“ Agrippa II. (schrittweise) als Lehen zugeteilt wurden, lagen (abgesehen vom Gebiet um Tiberias) östlich der Jordansenke und ihrer Verlängerung nach Norden; vgl. die Karte bei Blaiklock, Edward M., The Century of the New Testament, London 1962, 105.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
berühmten Familie in Alexandrien,122 der in Rom in militärischen Diensten Karriere gemacht hatte und später während des jüdischen Aufstandes Präfekt von Alexandrien und Ägypten war.123 In dieser Funktion unterstützte er die Erhebung Vespasians zum Kaiser, indem er die Legionen Ägyptens auf diesen vereidigte.124 Beim Kampf um Jerusalem hatte er (neben Titus) das Oberkommando der römischen Truppen.125 Schon als Statthalter Ende der 40er Jahre hatte er (in zeitlicher Nähe zur Versorgungskrise in Judäa) die von Judas dem Galiläer ausgelöste romfeindliche Bewegung bekämpft, indem er dessen Söhne Jakobus und Simon zum Tod am Kreuz verurteilte.126 Von tatsächlichen Unruhen in Judäa berichtet Josephus erst für die Zeit des nächsten Statthalters Alexander Cumanus.127 Ein erstes Blutvergießen war die Folge einer unanständigen Provokation jüdischer Pilger beim Passahfest im Tempelbereich durch einen Soldaten der Jerusalemer Garnison. In Unkenntnis des Anlasses lies Cumanus seine Truppe auf die empörte Menge los, was eine Massenflucht auslöste, bei der nach Josephus Tausende ums Leben kamen.128 Ein Konflikt größeren Ausmaßes, der schließlich zur Abberufung des Cumanus führte, hatte einen anderen Anlass, deren Ursprung Jahrhunderte alt war: in der Teilung des Reiches nach dem Tode Salomos in ein Königtum Nordisrael auf der einen Seite und Judäa samt Benjamin auf der anderen.129 Das Nordreich wurde zuerst von den Assyrern annektiert, das Südreich später von den Babyloniern.130 Die lange Zeit getrennter Entwicklungen führte zum Scheitern einer Zusammenarbeit zwischen der nördlichen Bevölkerung und den aus Babylonien heimgekehrten Judäern beim Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem gegen Ende des 6. Jh. v. Chr.131 So kam es zum bleibenden politischen Konflikt zwischen Judäa
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Er war ein Neffe des Religionsphilosophen Philon von Alexandrien. Vgl. Josephus, Bell 2,309 Vgl. ebd. 4.616–618. Vgl. ebd. 5,45f.; der junge Titus hatte noch nicht den dafür notwendigen militärischen Rang. Vgl. Josephus, Ant 20,102. Wie es zu dem Prozess gegen diese kam, ist nicht überliefert. Vgl. Josephus, Bell 2,223–240. Vgl. Josephus, Bell 2,223–227. Im Fall einer weiteren Provokation (ein Soldat hatte bei einer Fahndung nach „Räubern“ eine Torahrolle zerrissen und ins Feuer geworfen) gab er den Protesten des Volkes Recht und ließ den Schuldigen hinrichten (vgl. Bell 2,228–231). Vgl. 1 Kön 12. Zu Unrecht sprechen judäische Quellen (z. B. 2 Kön 17,23b) von einer Deportation der ganzen nordisraelischen Bevölkerung (der „zehn Stämme“). Vgl. Ben-Zvi, Jizhak, The Origin of the Samaritans and their Tribal Divisions, in: Dexinger, Ferdinand / Pummer, Reinhard, Die Samaritaner, Darmstadt 1992,187–197; Kippenberg, Hans Georg, Garizim und Synagoge. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur samaritanischen Religion der aramäischen Periode, Berlin 1971, 37; Japhet, Sara, People and Land in the Restoration Period, in: Strecker, Georg, Das Land Israel in biblischer Zeit. Jerusalem-Symposion 1981, Göttingen 1983, 103–125, 105. Vgl. Esra 4–6.
Cumanus
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und „Samaria“ und der religiösen Konkurrenz zwischen dem Tempel in Jerusalem und dem Heiligtum der Samaritaner auf dem Berg Garizim beim alten Sichem.132 Beispiele der gegenseitigen Abgrenzung sind das Jesuswort in Mt 10,5 („Betretet keine Stadt der Samaritaner!“) und die Weigerung eines samaritanischen Dorfes, Jesus und sein Gefolge auf dem Weg nach Jerusalem zu beherbergen (Lk 9,52). Ein Umschlagen der Distanz in aktive Aggression führte nach Josephus (Bell 2,232–246) zu einer Eskalation des Blutvergießens, die einen Prozess vor Claudius nach sich zog, nach dem Cumanus schließlich abberufen wurde. Auslöser dieser Auseinandersetzung war die Ermordung eines Galiläers auf der Wallfahrt nach Jerusalem, woraufhin empörte Galiläer sich anschickten, einen Krieg gegen die Samaritaner zu beginnen. Um das zu verhindern, wurden angesehene Samaritaner bei Cumanus vorstellig mit der Bitte, die an dem Mord Schuldigen zu bestrafen. Als der Statthalter die Sache auf die lange Bank schob und der Mord in Jerusalem bekannt wurde, verübten empörte Judäer ein Blutbad in der samaritanischen Gegend des Mordes, woraufhin berittene Soldaten des Statthalters eingriffen und viele Judäer töteten oder gefangen nahmen (Bell 2,234–236). Der Konflikt verlagerte sich auf eine höhere Ebene, weil führende Vertreter der Samaritaner beim Statthalter von Syrien, Ummidius Quadratus, Beschwerde einlegten, woraufhin die Honoratioren Jerusalems ihrerseits an diesen herantraten (Bell 2,239). Als dieser sich mit dem Fall befasste, ließ er die von Cumanus gefangen genommenen Juden und weitere 18 Juden hinrichten. Danach veranlasste er einen Prozess vor dem Kaiser, zu dem hohe Vertreter der jüdischen und der samaritanischen Seite anreisen mussten. Dort wurde Cumanus wurde von vielen einflussreichen Personen unterstützt; aber die Fürsprache von Agrippa II. gab den Ausschlag mit dem Ergebnis, dass drei führende Samaritaner hingerichtet wurden und Cumanus abgesetzt und mit Exil bestraft wurde (Bell 2,243–245). Was trägt dieser Konflikt zum Verständnis des lukanischen Werkes bei? Erstens ist er eine dunkle Folie, vor der sich Lk 9,52–54 leuchtend abhebt: Als Jesus in einem samaritanischen Dorf übernachten will, bekommen seine Boten eine Abfuhr, und die Jünger Jakobus und Johannes reagieren darauf mit den Worten: „Herr, sollen wir sagen: Feuer falle vom Himmel und verzehre sie!“133 Das verbietet Jesus ihnen bei Strafe! Zweitens wählt sich Jesus in Lk 10,30–37 ausgerechnet einen Samaritaner als leuchtendes Vorbild der Barmherzigkeit gegenüber einem Opfer von Gewalt (und Jerusalemer Kultpersonal zu Beispielen der Herzlosigkeit gegenüber dem hilflosen Nächsten). 132
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Vgl. Joh 4,20. Hinzu kam, dass die Samaritaner die judäische Sammlung heiliger Schriften über den Pentateuch hinaus ablehnten und sich konsequent (bis heute) zum „Gott Israels und seinem Gesandten Mose“ bekannten (was vom frühen Islam formal imitiert wurde, mit Mohammed anstelle von Mose!). Eine Anspielung auf 2 Kön 1,10 und 12.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
Drittens lässt Lukas in Lk 17,15f. nach einer Heilung von zwölf Aussätzigen nur einen von ihnen Gott loben und sich bei Jesus bedanken, und der ist ein Samaritaner!134 Viertens zitiert Lukas in Apg 1,8 einen Auftrag Jesu an seine Gesandten, in Jerusalem und in ganz Judäa und in Samarien … als Zeugen für ihn zu wirken. Von der Ausführung dieses Auftrags in Samarien berichtet Lukas dann in Apg 8,5–25 und 9,31 und 15,3. Diese Texte lesen sich wie eine Ausmalung der Überschrift des Petrus zu seiner Ansprache in Caesarea (im Hause eines Offiziers vor geladenen Gästen!) über die „Mission“ Jesu in seinem irdischen Wirken: Proklamation des Friedens im Auftrag Gottes! (Apg 10,36)
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Judäa unter Antonius Felix (49 oder 52 – 58 n. Chr.)135
Als Paulus nach turbulenten Ereignissen in Jerusalem vermutlich im Jahr 57 n. Chr. vor dem Statthalter Antonius Felix angeklagt wurde, eröffnete der Anwalt seiner Gegner (Tertullus) seine Rede mit den Worten: „Dass wir in großem Frieden leben dürfen, verdanken wir dir, erhabener Felix, und durch deine Fürsorge geht es dem Volk hier nun besser.“
Im Lichte dessen, was der Zeitgenosse Josephus zu berichten weiß, ist das eine Schmeichelei, um den Richter günstig zu stimmen. Man kann es als Gratulation zu einem „harten Durchgreifen“ verstehen; denn Josephus schreibt über ihn (Bell 2,253): „Dieser fing den Räuberhauptmann Eleazar, der 20 Jahr lang das Land heimgesucht hatte, lebendig mit vielen seiner Spießgesellen und sandte sie nach Rom.136 Die Zahl der von ihm gekreuzigten Räuber und der Einwohner, denen eine Verbindung mit diesen nachgewiesen werden konnte und die er darum bestrafte, stieg ins Ungeheure.“137
Dass dieser „Räuberhauptmann“ und seine Komplizen nach Rom überstellt wurden, lässt erkennen, dass es sich nicht um private Kriminalität, sondern um eine 134
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Bemerkenswert ist hier, dass Juden und Samaritaner in einer gemeinsamen Notlage zusammenleben können! Vgl. Metzner (s. o. Anm. 3) 497–502; Omerzu, Heike, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, Berlin 2002, 404–406. Zur Unsicherheit des Beginns seiner Amtszeit vgl. Riesner (s. o. Anm. 105) 196f. Für das frühere Datum spricht die Aussage des Paulus in Apg 24,10: „Da ich weiß, dass du für dieses Volk schon viele Jahre Recht sprichst …“; vgl. Yoder (s. o. Anm. 52) 178–181 und 277–303. Genauere Angaben macht Josephus in Ant 20, 160f., beginnend mit: „In Judäa verschlechterte sich die Lage zunehmend.“ Übersetzung Michel/Bauernfeind Bd. I, 231.
Felix
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politische Angelegenheit handelte. Möglicherweise handelte es sich um Nachfolger der beiden Söhne des Judas Galilaios, die zehn Jahr zuvor Tiberius Alexander kreuzigen ließ.138 Nach dieser „Säuberung“ soll eine neue Variante des „Räuberwesens“ gewachsen sein, die Josephus als „Sikarier“ bezeichnet, weil sie die Bevölkerung durch Messerattacken terrorisierte.139 Eine dieser Mordtaten – an einem Hohenpriester! – soll vom Statthalter höchstpersönlich angestiftet worden sein.140 Als weitere Ursache von Unheil beschreibt Josephus „Schwarmgeister und Betrüger, die unter dem Vorwand göttlicher Eingebung Unruhe und Aufruhr hervorriefen und die Menge durch ihr Wort in dämonische Begeisterung versetzten“, so dass Felix Truppen gegen sie einsetzte, die ein Blutbad unter ihnen anrichteten.141 Als Beispiel erwähnt Josephus einen politischen Charismatiker aus Ägypten, der auch in Apg 21,28 erwähnt wird. Er soll das Volk zu einer „neuen Landnahme von der Wüste aus“ aufgerufen haben, wurde aber beim Vormarsch auf Jerusalem von Soldaten des Felix abgefangen und in die Flucht geschlagen.142 Nach diesem Vorfall soll es zu einer Koalition zwischen den religiösen Charismatikern und den politischen Agitatoren gekommen sein – mit dem erklärten Ziel der Freiheit von der römischen Vorherrschaft. Dabei nahmen sie die Oberschicht, die sich mit Rom arrangiert hatte, als erstes Ziel von Gewalt ins Visier. Josephus bezeichnet das als einen Bürgerkrieg.143 Von wegen „Frieden“ unter Felix! Wer war dieser Mann eigentlich? Antwort: Ein „homo novus“, Beispiel einer steilen Karriere, die in republikanischer Zeit undenkbar gewesen wäre. Er war wohl der erste Provinzgouverneur, der nicht als freier Bürger geboren war, sondern ein Freigelassener. Allerdings ein Freigelassener der Mutter des Kaisers Claudius! Seine Einsetzung zum Statthalter für Judäa verdankt er wohl seinem Bruder Antonius Pallas, der bis 55 n. Chr. großen Einfluss „bei Hofe“ hatte. Tacitus (Hist V 9,3) bescheinigte ihm trotz Freilassung eine „sklavenhafte Gesinnung“ und warf ihm Grausamkeit und Willkür vor. Er wurde abgelöst, als er eine Eskalation der Spannungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen (syrischen) Einwohnern von Caesarea am Meer nicht ohne Blutvergießen in den Griff bekommen hatte.144 Darunter
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S. o. S. 52. Vgl. Josephus Bell 2,254. So Josephus, Ant 20, 162–164 Vgl. Bell 2,258–260. Deshalb kam der Stadtkommandant von Jerusalem bei der Festnahme des Paulus auf den Gedanken, er hätte diesen Ägypter verhaftet. Vgl. Josephus, Bell 2,264f. Vgl. Josephus, Bell 2,266–270 und Ant 20, 173–178.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
hatten vor allem die jüdischen Bürger Caesareas gelitten, und aus Angst vor ihren Beschwerden über ihn ließ er bei seiner Abreise den Paulus als Häftling zurück, obwohl er ihn hätte freilassen müssen.145 Seinem Geltungsbedürfnis als „Emporkömmling“ entspricht es, dass Felix nach Sueton (Claudius 28) in seinem Leben mit drei Königinnen verheiratet gewesen sei. Eine jedenfalls wird in Apg 24,24 erwähnt: Drusilla, die jüngste Tochter von Agrippa I., die zuvor mit einem König von Emesa verheiratet worden war, der sich ihr zuliebe zum Judentum bekehrt (und die Beschneidung auf sich genommen) hatte.146 Als Mittelsmann spielte dabei ein zyprischer Jude eine Rolle, der als „Magier“ bezeichnet wird und mit dem jüdischen „Magier“ identisch gewesen sein kann, dem Paulus nach Apg 13,8ff in Paphos auf Zypern begegnet war.147 Diese Vorgeschichte klingt vermutlich an, wenn in der ungewöhnlichen und darum wohl ursprünglichen Lesart von V. 24 Drusilla als „die eigene Frau“ (tē idía gynaikí) bezeichnet wird. Auch das erschrockene Abwinken des Felix, als Paulus die Themen „Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und Gericht“ anschneidet (V.25), ist vor diesem Hintergrund verständlich.148 Ein Sohn aus dieser Ehe wurde nach Josephus (Ant 20,144) nach dem Ausbruch des Vesuvs als vermisst gemeldet.149
9.
Porcius Festus, Agrippa II und Berenike150
Der Wechsel von Antonius Felix zu Porcius Festus ist nach neueren Münzfunden im Frühsommer des Jahres 59 n. Chr. anzusetzen.151 Seine Amtszeit endete vorzeitig durch den Tod im Jahr 62 n. Chr., was eine vorübergehende Vakanz dieses 145
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Dass er Paulus gegen Bestechung freigelassen hätte (so Apg 24,26), könnte der Grund sein, aus dem Paulus nach Phil 4,18 keine weiteren Spenden von Philippi bekommen möchte. (Vgl. die Erwähnung eines Prätoriums in Apg 23,35 und Phil 1,13.) Vgl. Josephus Ant 20,139 und 141–143. Eine weitere Gattin des Felix hieß nach Tacitus Hist V 9,3 ebenfalls Drusilla. Nach Josephus hieß er „Atomos“, und in Apg 13,8 hat Codex Bezae die Lesart „Etoimas“. Eine schwach bezeugte Lesart in den Minuskeln 614 und 2147 deutet es als eine Gefälligkeit gegenüber Drusilla, dass Paulus von Felix nicht freigelassen wurde. Die Angabe „mit der Frau“ kann sich auf dessen Frau oder auf die vorher erwähnte Drusilla (dessen Mutter) beziehen. Man ist versucht, das Graffito SODOMA GOMORA aus Pompeji dieser Frau zuzuschreiben; vgl. Hunink, Vincent, Glücklich ist dieser Ort! 1000 Graffiti aus Pompeji, Stuttgart: Reclam 2011, S. 282 (Nr.837). Vgl. Metzner (s. o. Anm. 3) 539–550; Yoder (s. o. Anm. 52) 303–332. Vgl. Scriba, Albrecht, Von Korinth nach Rom. Die Chronologie der letzten Jahre des Paulus, in: Horn, Friedrich Wilhelm (Hrsg.), Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106) 2001, 157–173, hier 163f unter Berufung auf Meshorer, Ya’akob, Jewish Coins of the Second Temple Period, Tel Aviv 1967, 103; ders., Ancient Jewish Coinage, 2 vol., New York 1982, II 183: „Palästinische Münzfunde
Festus
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Postens nach sich zog.152 Er bekämpfte die Sikarier ebenso energisch wie sein Vorgänger Felix,153 - aus der Sicht des Josephus (und Roms) ein Lob, für uns ein Anzeichen der anhaltenden Unruhe im Volk, die wenige Jahre später (66 n. Chr.) in offenen Aufstand umschlug. Dass er dem Prozessbegehren gegen Paulus unverzüglich nachgab und nur auf eine Verhandlung an seinem Amtssitz Caesarea Wert legte, lässt erkennen, dass er eine gute Zusammenarbeit mit den Organen jüdischer Selbstverwaltung anstrebte. Allerdings hatte er sich vor der Eröffnung des Prozesses wohl nicht genug mit den Akten über den Fall befasst, die Felix hinterlassen haben muss (oder: müsste?).154 Darum ignorierte er die Lebensgefahr für Paulus, die mit einer Verlegung der Verhandlung nach Jerusalem verbunden gewesen wäre.155 Das nötigte diesen zu der Appellation an den Kaiser, womit die Person und das Wirken des Paulus zu einem Politikum auf höchster Ebene wurden. Dabei musste Paulus damit rechnen, dass die religiösen Streitfragen zwischen ihm und anderen Juden in den Hintergrund treten würden und stattdessen der Vorwurf der „Unruhestiftung“ (vgl. Apg 24,5) zum springenden Punkt werden konnte. Diese höhere Ebene des Prozessverlaufs tritt sofort in Erscheinung, als der König Agrippa II mit seiner Schwester Berenike anreiste, um dem neuen Stellvertreter des Kaisers zu gratulieren (Apg 25,13). Einen solchen Besuch zu einem Amtsantritt machte Agrippa auch einige Jahre später in Alexandria, als Tiberius Alexander (der Neffe Philons von Alexandria) von Nero zum Präfekten für Alexandria und Ägypten eingesetzt worden war.156 Wir sehen, dass die höchsten Ränge der Repräsentanten des Kaisers in einer Region Kontakte untereinander
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erlauben aufgrund einer Wandlung in den Motiven der Prägung, diesen Wechsel im Amt des Prokurators von Felix zu Festus / recht verlässlich auf das Jahr 59 n. Chr. zu datieren.“ Siehe auch H. Omerzu (s. o. Anm. 135) 468. Kokkinos, Nikos, (s. o. Anm. 3) 385 datiert den Wechsel ein Jahr früher. Zu den Konsequenzen für die Ereignisse der Folgezeit vgl. die Rezension durch Johann Maier, ThLZ 124 (1999) 720–722, hier 721. Vgl. unten S. 58 und 72. Vgl. Josephus, Ant 20, 185–188. Vgl. Apg 23,12–35 Vgl. Apg 25,9–11; vgl. Reese, Boyd, The Apostle Paul’s Exercise of his Rights as a Roman Citizen as Recorded in the Book of Acts, in: EvQ 47 (1975) 138–145, hier 143: “There would have been nothing to prevent Festus from using the Sanhedrin as his private consilium, which could have had disastrous results for Paul.” Das ganze Synhedrium kam dafür natürlich nicht in Frage, sondern nur eine gezielte Auswahl von jüdischen Honoratioren. Vgl. Josephus, Bell 2, 309. Agrippas Schwester Berenike hielt sich damals wegen eines Gelübdes in Jerusalem auf und wurde Zeugin eines Massakers an friedlichen Bürgern, das der Statthalter Gessius Florus seinen Soldaten erlaubt hatte, wobei sie selbst in Lebensgefahr geriet (ebd. 309–314).
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
pflegten.157 In religiöser Hinsicht hatte der Kaiser seine Statthalter entlastet, indem er den jungen Agrippa zum Schirmherrn des Tempels ernannte.158 Das prädestinierte ihn zum „Sachverständigen“ für die Anklagen gegen Paulus in Apg 21,28f.; 24,6; 25,8; 26,21. Außerdem war er befugt, Hohepriester ein- und abzusetzen. Davon machte er u. a. im Jahr 62 n. Chr. Gebrauch, als der sadduzäisch eingestellte Hohepriester Ananos nach dem Tod des Festus die Vakanz im Statthalteramt dazu ausnutzte, um Jakobus, den Bruder Jesu, und andere vor Gericht zu stellen und steinigen zu lassen. Empörte Bürger Jerusalems meldeten das dem Agrippa und dem noch gar nicht eingetroffenen neuen Statthalter Albinus. Agrippa setzte daraufhin diesen Hohenpriester nach nur dreimonatiger Amtszeit ab.159 Dass Agrippa diese Kriminalisierung der Jesusbewegung ablehnte, ist insofern bemerkenswert, als er über das brutale Vorgehen seines Vaters gegen den Jesusjünger Jakobus und weitere Gemeindeglieder160 aus familiären Quellen informiert sein musste. Die knappe Schilderung des Streitfalles durch Festus (V. 25) verrät Zweifel an der juristischen Zulässigkeit der Anklage161. Die Bitte um Amtshilfe durch Agrippa II (V. 26) signalisiert auch eine Bereitschaft, jüdischen Interessen Rechnung zu tragen, für die sich Agrippa beim Kaiser einsetzen könnte.162 Beachtung verdient, dass Festus in V. 26 vom Kaiser als „dem Herrn“ spricht: Dieses titulare ho kýrios für den Kaiser hat erst in der Regierungszeit Neros um sich gegriffen und näherte sich einer göttlichen Verehrung des amtierenden Kaisers an.163 Die Bedeutung, die Festus dem Fall Paulus nach dessen Appellation beimisst, geht daraus hervor, dass er nicht nur Agrippa und seine Schwester Berenike164, sondern auch ein Publikum von höheren Offizieren und örtlichen Honoratioren einlädt, vor denen Paulus sich zu seiner Person und den Anklagen gegen ihn äußern darf. Bei diesem Publikum konnte Paulus wahrscheinlich mit Aversionen gegenüber jüdischen Anklägern rechnen. Die Bevölkerung der Stadt war zahlenmäßig eher nichtjüdisch und die dort stationierten Hilfstruppen waren aus dem
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Dass der Statthalter für Syrien das gegenüber Agrippa I. missbilligte, dürfte auf persönliche Rivalität zurückzuführen sein (vgl. oben S. 45). Vgl. Josephus, Bell 2,220; Ant 19 20,15.16.22. Vgl. Josephus Ant 20, Vgl. Apg 12,1ff. Vgl. Apg 18,14f. Nach Josephus, Bell 2,245f. hatte sich der noch junge Agrippa II. bei Claudius erfolgreich für Beschwerden von jüdischer Seite eingesetzt. Vgl. Foerster, Werner, Götter und Herrscher als [kýrioi], in: ThWNT III (1938) 1045–1056, 1053,38–40; vgl. Lukan, Bürgerkrieg I,63: „Für mich bist du jetzt schon ein Gott (numen).“ Leider wird dieses absolute „der Herr“ sowohl in der Lutherbibel als auch in der Einheitsübersetzung unterschlagen; trotz Revision heißt es immer noch „meinem Herrn“. Dass Lukas sie in Apg 25,13.23; 26,30 als bekannt voraussetzt, verdient Beachtung.
Agrippa II.
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syrischen Raum angeworben und unterstützten in Konfliktfällen die Nichtjuden.165 Für Berenike konnte das Zusammensein einen alten Groll aufleben lassen: Als ihr Vater Agrippa I. starb, jubelten die Soldaten und machten sich öffentlich in obszöner Weise über die drei Töchter des Agrippa lustig.166 Berenike war damals 16 und jetzt 30 Jahre alt. Im Blick auf „Zeitgeschichte“ ist erwähnenswert, dass Paulus in V.26 den öffentlichen Charakter der Jesusgeschichte betont. Die Antwort des Agrippa in V.28 bestätigt das, indem er die Bezeichnung „Christianos“ verwendet, die nach Apg 11,26 in Antiochien vermutlich von Außenstehenden für die Jesusbewegung aufgekommen war.167 Agrippa war nicht mit seinem Vater nach Rom umgezogen, als dieser sich dort (noch unter Tiberius) um eine politische Karriere bemühte, sondern blieb mit seiner Mutter und den Schwestern zunächst in Judäa.168 Die Gruppenbildung von Anhängern Jesu wird er als Kind vermutlich wahrgenommen haben. Das abschließende Urteil des informellen „consiliums“169 über die Unschuld des Paulus170 konnte für die Leserschaft der Apostelgeschichte u. a. deshalb von hohem Wert sein, als Agrippa II. bis in die Mitte der 90er Jahre am Leben war171 und befragt werden konnte. Dass auch Berenike (nach 25,24 die einzige Frau unter den Anwesenden) in diesem Zusammenhang wieder erwähnt wird, macht sie zur Zeugin für die Unschuld des Paulus172 – und wirft Probleme auf: Nach Josephus (Ant 20,145) und Juvenal (Sat VI,158) gab es ein Gerücht, nach dem Aprippa II. und Berenike (zweimal verwitwet!173) in einem intimen Verhältnis zusammenlebten. Das wäre aus
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Ein solcher Konflikt hatte zuletzt zur Abberufung des Felix geführt; vgl. Josephus, Bell 2,266–270. Vgl. Josephus Ant 19,356f. Da die Wortbildung –ianos normalerweise die Anhänger eines noch lebenden und aktiven Anführers bezeichnet, konnte daraus die oben erwähnte Notiz bei Sueton (Claudius 25,4) über die Ursache der Ausweisung von Juden aus Rom entstanden sein. S. o. S. 46–48. Vgl. Josephus, Ant 18,160. Um eine neue „Vernehmung“ des Paulus handelt es sich nicht. An diesem Fazit scheitert das von Dicken, Frank, Herod as a Composite Character in LukeActs, Tübingen 2014, entworfene Bild von einer durchgängigen „satanischen Opposition“ gegen die Jesusbewegung bei allen Herrschern aus der Dynastie Herodes. Sein negatives Bild von Agrippa II. auf S. 157–159 hält einer Überprüfung nicht stand. Vgl. Kokkinos (s. o. Anm. 3) 440 und Das heilige Land. Antike Münzen und Siegel aus einem Jahrtausend jüdischer Geschichte, München 1993/94, 88. Nach Quintilian, Inst IV 1,19 gehörte Berenike in den 70er Jahren in Rom einmal zum consilium eines Prozesses, bei dem Quintilian mitwirkte. Sie dürfte also auch an dem informellen Urteil über Paulus aktiv beteiligt gewesen sein. Noch weiter geht F. Morgan Gillman, Berenice as Paul’s Witness to the Resurrection (Acts 25–26), in: R. Bieringer et al (Hrsg.) Resurrection in the New Testament. FS J. Lambrecht (BEThL 165) Leuven / Paris 2002, 249–264. Vgl. Josephus, Ant 19,276f. und 20,104.
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Jesusgeschichte und „Apostelgeschichte“ im Kontext der Zeitgeschichte
jüdischer Sicht (vgl. Lev 18,9; Dtn 27,22174) ein schwerer Tabubruch und für Römer ein Verstoß gegen die „guten alten Sitten“ (mores majorum) gewesen. Viele Ausleger halten dieses Gerücht für zutreffend.175 Aber wie konnte das Votum dieser Frau zum Ansehen des Paulus betragen?176 Die communis opinio heutiger Kommentare erinnert an die Illustrationen zu Lk 15, die das Leben des verschollenen Sohnes nach der Phantasie seines älteren Bruders ausmalen (vgl. Lk 15,30).177 Dabei wären zweifelhafte Ursachen für diese Verdächtigungen zu bedenken: Erstens eine Verhöhnung der noch jungen Töchter Agrippas I. in Caesarea nach dessen Tod.178 Zweitens nach dem Jahr 70: Bei der Belagerung Jerusalems war zwischen Berenike und dem späteren Kaiser Titus eine Liebesbeziehung entstanden. Dass daraus eine Ehe werden konnte – und ein jüdische „First Lady“ in Rom, wenn Titus die Nachfolge seines Vaters Vespasian antreten würde – das weckte wohl ungute Erinnerungen an die Rolle der Kleopatra in ihren intimen Beziehungen zuerst zu C. Julius Caesar und dann zu Marcus Antonius. Dass damals Gerüchte über Berenike im Umlauf gesetzt wurden, verwundert nicht – und war offenbar erfolgreich. Drittens: Josephus war auf Berenike vielleicht deshalb nicht gut zu sprechen, weil nach dem Ende des Krieges in Judäa ein Todesurteil für seinen verhassten Gegner Justus von Tiberias zweimal auf Grund der Fürsprache von Berenike nicht vollzogen worden war (vgl. Vita 343 und 355). Die negativen Aussagen über Berenike stehen alle in seinem Spätwerk Antiquitates, nicht im Bellum.179 Ihren vergeblichen Einsatz zur Verhinderung des jüdischen Aufstandes (unter Lebensgefahr!) erwähnt Josephus in Bell 2, 310–314.333.405 noch lobend.180 Es könnte
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Jetztere Stelle ist als Fluch über die Übertreter dieses Verbots formuliert. Vgl. Roloff, Jürgen, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1981, 345: „Seine Schwester Berenike …, mit der er im Inzest zusammenlebte, war eine bekannte femme fatale jener Epoche …“ Pesch, Rudolf, Die Apostelgeschichte, Bd. 2, Zürich etc. / Neukirchen-Vluyn 1986, 269: „Berenike … lebte damals mit ihrem Bruder zusammen, in einer den Juden höchst anstößigen inzestuösen Verbindung.“ Alfons Weiser, Alfons, Die Apostelgeschichte Kapitel 13– 28, Gütersloh / Würzburg 1985, 644 über Agrippa II.: „Sein Privatleben erregte Anstoß durch den Inzest, in dem er mit seiner verwitweten Schwester Berenike lebte.“ Gustav Stählin, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1961, 302 erwähnt, dass Theodor Mommsen Berenike eine „Kleopatra im kleinen“ genannt hatte. Rudolf Pesch (s. o. Anm. 175) vermutet: „Lukas hat sich dieses anrüchige Paar kaum als Kulisse für einen weiteren Auftritt des Paulus ausgesucht“, sondern habe einen ihm vorgegebenen Bericht aufgegriffen. Bedenkenlos? Jesus selbst spricht vorher nur von einer Verschwendung des ererbten Vermögens. Vgl. Josephus Ant 19,357. Vgl. Ebel, Eva, Lydia und Berenike, Leipzig 2009, 148–153. Leider hält Eva Edel den Inzest-Vorwurf für zutreffend und verwendet das MommsenZitat (s. o. Anm. 150) sogar für die Überschrift der Hälfte ihres Buches. Einen Bericht über Berenikes Erfüllung eines Gelübdes (nach Art von Paulus nach Apg 18,18 und 21,23–26) kommentiert sie (S. 125) ohne Begründung mit Zweifeln an der Echtheit ihrer Religiosität.
Berenike
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sein, dass sie die bedeutendste jüdische Frau in der Geschichte des ersten Jahrhunderts war! Titus (zehn Jahre jünger als sie) trennte sich vor seiner Thronbesteigung schweren Herzens von Berenike181. Dio Cassius schreibt darüber in seiner Römischen Geschichte (66,15): „Berenike, die jüdische Fürstin, stand in der Blüte ihrer Schönheit und kam deshalb mit ihrem Bruder Agrippa nach Rom. Hier erhielt dieser die Prätorenwürde, sie selbst aber durfte im Palast wohnen und kam in vertraulichen Umgang mit Titus. Man erwartete sogar, dass sie sich mit ihm vermählen würde, und sie benahm sich schon ganz als seine Gemahlin, so dass er sie, weil sich in Rom darüber allgemeine Unzufriedenheit äußerte, entlassen musste.“
Über Berenikes Leben nach dem Jahr 79 n. Chr. gibt es keine Nachrichten.182 Dass Lukas sie dreimal erwähnt, ist auffällig und eher verständlich bei einer Abfassung der Apostelgeschichte vor der Verbreitung der Gerüchte über ihr Verhältnis zu ihrem Bruder.183 Dass es über Berenike positivere Überlieferungen gab als die damals verbreiteten und von vielen Forschern für zutreffend gehaltenen Gerüchte, dürfte der Grund sein, warum der Berg, der sich über dem Gelände des antiken Tiberias erhebt, heute „Berenike“ heißt.184 Dort stand das von Herodes Antipas erbaute und von Agrippa II. und Berenike bewohnte Schloss, das im jüdischen Aufstand von Eiferern zerstört wurde.
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Befremdlich ist auch, dass sie (S. 121) der Berenike vorwirft, ihre dritte Ehe (im Unterschied zu ihren zwei vorherigen glücklosen Verheiratungen) selbst angestrebt zu haben. Wäre das nicht aus heutiger (v. a. weiblicher!) Sicht positiv zu werten? Der Werbetext auf der Rückseite des Buches unterstellt Berenike sogar ein „Desinteresse an der Verkündigung des Paulus“, das aus Apg 26 nicht zu entnehmen ist! Vielleicht war dieser Schritt gemeint, wenn Titus nach Sueton, Titus 10, vor seinem Tode gesagt hat, dass er keine Handlung zu bereuen habe außer einer. Sueton berichtet von einer völligen Verwandlung seiner Persönlichkeit und Lebensweise ab seiner Inthronisation: hin zu Milde im Urteil und Mitgefühl (auch beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr.). Das ist nicht verwunderlich. Zum Vergleich: Das Letzte, was man von Caesars Witwe weiß, sind ihre düsteren Vorahnungen am Morgen des Attentats. Geschichtsschreibung beschränkt sich überwiegend auf ein Wirken in der Öffentlichkeit (oder mit öffentlichen Folgen), und Geschichte wurde eben überwiegend von Männern „gemacht“ (und/oder von ihnen so erzählt). In Apg 24,25 hatte er durchblicken lassen, was er von der Ehe Felix-Drusilla hielt! Vgl. Fortner, Sandra, Tiberias – eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: Fassbeck, Gabriele, Fortner, Sandra, Rottlof, Andrea, Zangenberg, Jürgen (Hrsg.), Leben am See Gennesaret. Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region, Mainz 2003, 86–92, hier 86: „Das antike Tiberias lag südlich der kreuzfahrerzeitlichen und heutigen Stadt und erstreckte sich zwischen dem Westufer des Sees und dem Höhenzug des Berges Berenike im Westen.“
Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12) Als Fixpunkt der Chronologie des Paulus (und damit der Ausbreitung der Jesusbewegung über Judäa und Galiläa hinaus) gilt weithin die Begegnung des Paulus mit dem Statthalter Gallio in Korinth nach Apg 18,12–17, der in einer datierten Inschrift erwähnt wird, von der Bruchteile in Delphi gefunden wurden.1 Dabei ist allerdings ein Deutungsspielraum von einem Jahr im Auge zu behalten. Immerhin kann mit großer Zuversicht angenommen werden, dass diese Begegnung Anfang der fünfziger Jahre stattfand. Ein anderer Schnittpunkt mit der datierbaren politischen Geschichte im 1. Jh. n. Chr. hat dagegen vergleichsweise wenig Beachtung gefunden: Es ist die Erzählung über den Tod des letzten jüdischen Königs über ganz Judäa in Apg 12,20– 23, die im Kern mit einem Bericht bei Josephus (Ant 19,343–350) übereinstimmt. Dieser Tod lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den 6. August 44 n. Chr. datieren.2 Nach dem Gang der Erzählung bei Lukas erfolgte dieser Tod nicht lange nach einem Versuch des Königs, die Jesusbewegung durch die Tötung ihrer führenden Persönlichkeiten zu unterdrücken (vgl. Apg 12,1–23). Dies war die erste Kriminalisierung der Jesusbewegung von Staats wegen. In diesem Zusammenhang ist in V. 2 nämlich von der Hinrichtung des Jüngers Jakobus aus dem Zwölferkreis (des Bruders von Johannes) die Rede, die durch Enthauptung erfolgte: eine Todesstrafe, für die es keine religiöse Ermächtigung durch die Torah gab.3 Für die innere Entwicklung der Urgemeinde wird allgemein für bedeutsam gehalten, dass Petrus nach einer wunderhaften Bewahrung vor dem gleichen 1
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Die sog. Gallio-Inschrift gibt einen Erlass des Kaisers Claudius aus dem ersten Halbjahr 52 n. Chr. zur Förderung der Stadt Delphi bekannt, den L. Iunius Gallio Annaeanus (ein Bruder Senecas) als Statthalter von Achaia angeregt hatte. Unklar und darum umstritten ist, ob die Maßnahme noch während des Amtszeit (in der Regel ein Jahr von Frühsommer bis Frühsommer) oder danach erfolgte. Verbreitete Fehlerquellen bei der chronologischen Verwendung dieser Inschrift sind erstens die Annahme, dass Paulus (gegen Apg 18,18) am Ende der (nach Apg 18,11) anderthalb Jahre in Korinth vor Gallio angeklagt wurde, zweitens die Missachtung des Partizips Präsens óntos in Apg 18,12, so dass vom „Beginn“ der Amtszeit des Gallio gesprochen wird. Vgl. mein Artikel Gallio in ABD 2, New York etc. 1992, 901–903 und die dort angegebene Literatur. Vgl. N. Kokkinos, The Herodian Dynasty: Origins, Role in Society and Eclipse, Sheffield 1998, 378–380. Manche Ausleger nehmen an, dass in dieser Krise auch dessen Bruder Johannes Märtyrer geworden sei, weil in Mt 20,23 par. Mk 10,39 nicht nur dem Jakobus, sondern auch dem Johannes ein Märtyrertod vorausgesagt wird. Das liefert aber kein Indiz für einen gemeinsamen oder zeitlich nahe beieinander erfolgten Tod.
Barnabas und Paulus
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Schicksal (vgl. Apg 12, 3–12) aus Jerusalem flüchtet und dies einem anderen Jakobus mitteilen lässt, bei dem es sich nach allgemeiner Überzeugung um den Bruder Jesu dieses Namens handelt. Das wird weithin als der Startschuss für den Aufstieg dieses Jakobus zu einer Führungsrolle in der Jerusalemer Gemeinde gewertet, die in Apg 15,13–29 und 21,18 erkennbar wird und auch bei Josephus Beachtung gefunden hat (vgl. den Bericht über seinen Märtyrertod in Ant 20,200– 203).4 Dieser Stabwechsel wird oft als ein Wendepunkt in der nachösterlichen Jesusbewegung gewertet.5 Allerdings spielt in Apg 15 Petrus (wieder in Jerusalem!) noch einmal eine maßgebliche Rolle (vgl. dort V.7–12), in der er von Jakobus im Prinzip unterstützt wird (wobei Jakobus allerdings nach V. 13–29 Sonderwünsche äußert und durchsetzt). Wenig Beachtung findet im Allgemeinen, dass der Bericht von der Krise unter Agrippa I. eingerahmt ist von zwei Notizen über eine Reise von Barnabas und Paulus nach Jerusalem. Dort hatten sie im Auftrag der Gemeinde von Antiochien eine Geldspende wegen einer erwarteten Versorgungskrise zu überbringen (vgl. Apg 11,27–30 und 12,25). Der relativ knappe Reisebericht hat zur Folge, dass Lukas in der Apostelgeschichte im Vergleich mit Gal 1–2 eine Jerusalemreise des Paulus zu viel überliefert. Dieses narrative Problem vermehrt die Probleme beim Versuch, die Verhandlungen über die Mission unter Nichtjuden in Apg 15 mit den Angaben des Paulus in Gal 2 inhaltlich auf dasselbe Ereignis zu beziehen.6 Im Folgenden soll ein schon älterer literarkritischer Vorschlag zur Lösung dieses narrativen Problems auf seine historischen Folgen hin durchdacht werden, was bisher m. W. noch nicht befriedigend geschehen ist. Es handelt sich um den Vorschlag, die Jerusalemreise von Barnabas und Paulus nach Apg 11/12 mit der Jerusalemreise nach Apg 15 zu identifizieren – unter verschiedenen inhaltlichen Gesichtspunkten mündlich überliefert und von Lukas womöglich nicht als eine und dieselbe Reise erkannt.7 Für diese Hypothese spricht unter anderem, dass 4
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Roland Deines, Jakobus, Im Schatten eines Größeren, Leipzig 2017, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Inthronisation des Jakobus (S. 198, ähnlich S. 200). Vgl. Schnabel, Eckhard J., Urchristliche Mission, Wuppertal 2002, 513. „Das 12. Kapitel der Apostelgeschichte stellt einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Jerusalemer Gemeinde und in der Geschichte der urchristlichen Mission dar …“. Ähnlich ebd. S. 415f. sowie 702 und 972. Diese m. E. nicht unlösbaren Probleme habe ich in meinem Acta-Kommentar in einem Exkurs S. 266–268 besprochen. Vgl. u. a. Jeremias, Joachim, Untersuchungen zum Quellenproblem der Apostelgeschichte, in: ZNW 36 (1937) 205–221, 217 sowie in: ders. ABBA. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 238–255, hier 251 unter Berufung auf J. Wellhausen, E. Schwartz, E. Meyer, H. Lietzmann, K. Lake und A. Oepke : „Es ist heute fast allgemein anerkannt, daß Apg. 11,30/12,25 einerseits, Apg 15,1–33 andererseits, ein und dieselbe Jerusalemreise des Paulus beschrieben wird.“ Wellhausen, Julius, Kritische Analyse der Apostelgeschichte, Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse NF Bd. XV Nr. 2, Berlin 1914, 21 zu Apg 11,27–30: „Diese Reise des Paulus nach Jerusalem ist die zweite, zusammen mit Barnabas
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Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12)
der Brief, der das Ergebnis der Jerusalemer „Missionskonferenz“ bekannt gibt, „an die Geschwister aus der Völkerwelt in Antiochia, Syrien und Zilizien“ adressiert ist, also noch keineswegs an Gemeinden, die auf der Missionsreise des Barnabas und Paulus nach Apg 13–14 gegründet wurden. Nach Apg 16,4 hat Paulus zwar „die Beschlüsse der Apostel und Älteren in Jerusalem“ auf seiner zweiten Missionsreise den Gemeinden im südlichen Kleinasien mitgeteilt und ans Herz gelegt. Sie werden damit als Nutznießer, aber nicht als ursprüngliche Adressaten hingestellt.8 Die wichtigste Voraussetzung der Gleichsetzung der beiden Reisen ist eine Überschneidung der beteiligten Personen; sie ist gegeben durch die Namen Barnabas, Paulus, Petrus und Jakobus in Apg 11f. und Gal 2.9 Ohne die Gleichsetzung der beiden Reisen wird zum Problem, dass Petrus in Apg 12,17 von der lukanischen Bildfläche verschwindet, aber in 15,7 plötzlich wieder in Jerusalem ist, danach aber nie mehr.10 Dass in Gal 2,2 die Reise von Antiochien nach Jerusalem auf „eine Offenbarung“ zurückgeführt wird, könnte eine Anspielung auf die Weissagung einer Hungersnot durch den „Propheten“ Agabus sein (vgl. Apg 11,28). Ein Echo des diakonischen Zwecks dieser Reise kann in Gal 2,10 gesehen werden. Dort wird nämlich eine Absprache über getrennte Arbeitsbereiche (Petrus als Evangelist für Juden, Paulus für Nichtjuden) um die Bemerkung ergänzt: „Nur sollten wir die Armen im Blick behalten“: Mit „wir“ sind hier die Antiochener gemeint, mit den „Armen“ die Jerusalemer.11
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unternommen; also identisch mit der in Gal 2,1 erwähnten. Dieser entspricht aber zugleich die in Apg 15 berichtete, so daß 11,27 ss. und 15,1 ss. als Varianten erscheinen.“ Ferner S. 30: „Es bleibt noch übrig, die Reise des Paulus und Barnabas nach Jerusalem zu datieren. Sie ist nach dem Galaterbrief identisch mit der in 11,27ss berichteten, und sie hat dort ihre richtige Stelle. Denn in 15,24.41 wird, wie im Galaterbrief (1,21), nur die … Mission in Syrien und Cilicien vorausgesetzt, nicht die in Pisidien und Lykaonien (Kap. 13. 14)… Also ist der Tod des Agrippa im Frühjahr 44 der terminus post quem non für den Apostelkonvent.“ Für diese Annahme plädierte Gustav Stählin, Die Apostelgeschichte, Göttingen1962, 209f. Joachim Jeremias plädierte für eine Gleichsetzung der Kollektenreise von Barnabas und Paulus mit der Reise zum „Apostelkonzil“, datierte sie aber auf Grund der „Hungersnot“ auf „etwa 48“ (vgl. Sabbathjahr und neutestamentliche Chronologie, in: ZNW 27 [1928] 98–103, nachgedruckt in ders., ABBA. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 233–238). Das ist jedoch nicht zwingend; denn schon die Erwartung einer Lebensmittelknappheit kann zu einer vorsorglichen Spende motivieren. Ein Johannes wird nur in Gal 2,9 erwähnt, nicht in Apg 12 und 15. Nach Martin Hengel, Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 2006, 85 lässt Lukas den Petrus „nach dessen propaulinischer Rede auf dem Apostelkonzil Apg 15, 7–11 abrupt von der Bühne abtreten.“ Nach Gal 2,11–12 hielt er sich vorübergehend im syrischen Antiochia auf, und 1 Kor 9,5 spielt darauf an, dass Petrus („Kephas“) mit Gattin auf Reisen ging. Die in 1 Kor 1,12 erwähnten Anhänger des Petrus (=Kephas) dürften diesen Apostel wohl nicht aus Jerusalem gekannt haben. In Röm 15,26 bezeichnet Paulus die Empfänger seiner groß angelegten Kollektenaktion
Agabus
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Was diese Gleichsetzung der beiden Reisen für die Erhellung der Interaktionen innerhalb der ersten nachösterlichen Generation bedeutet, ist m. E. noch kaum überlegt worden. Als erstes Thema legt sich die Veranlassung der Jerusalemreise nahe. In beiden Berichten sind es Leute aus Jerusalem (11,27) bzw. aus Judäa (15,1) die durch Äußerungen in Antiochia den Impuls zu der Reise geben. Sie genießen zunächst großes Vertrauen12, so dass ihr implizites Hilfegesuch bereitwillig befolgt wird (11,29). Gleichzeitig stellen sie die Lebensordnung ihrer Gastgeber radikal in Frage (15,1), was bei Barnabas und Paulus, den herausragenden Lehrern der dortigen Gemeinde (vgl. Apg 11,25f.) auf heftigen Protest stößt (15,2). Der Wortführer dieser Besucher namens Agabus taucht in Apg 21,10 in einer fragwürdigen Rolle wieder auf: Er versucht Paulus von einem Besuch in Jerusalem abzuhalten und weissagt ihm für den Fall des Besuchs ein bedrohliches Schicksal.13 In V.21 erfahren wir dann, dass Paulus bei den dortigen Gläubigen ein denkbar schlechtes Image hat, weil er angeblich die jüdischen Gemeinden in der Diaspora zum Abfall von Mose verleitet und den Verzicht auf die Beschneidung und auf die jüdische Lebensweise propagiert. Das ist die Thematik von Apg 15,1.5! Man könnte meinen, dass Lukas die beiden „Rollen“ der Delegation aus Jerusalem bewusst auf zwei Erzählungen verteilt hat. Einen wichtigen Denkanstoß gibt Wellhausen (a. a. O.), indem er vermerkt, dass „die Verhandlung in Jerusalem der Verfolgung durch Agrippa vorausging“. Die Konsequenz ist, dass der Jakobus von Kap. 15 der Jünger Jakobus aus dem Zwölferkreis sein könnte!!14 Die Jakobusrede in Apg 15,13–21 wäre dann nicht der erste (schon sehr selbstbewusste) Auftritt des Herrenbruders Jakobus in einer quasi „kirchenleitenden“ Rolle15, sondern eher der „Schwanengesang“ des Zebedaiden Jakobus, von dem wir sonst kein nachösterliches Auftreten kennen. Dass dieser Jakobus beim „Apostelkonvent“ noch mitgewirkt haben könnte, wird
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als „die Armen der Heiligen in Jerusalem“. Die Adresse des 1. Petrusbriefes bringt diesen Apostel mit den Landschaften „Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asia und Bithynien“ in Verbindung, wobei auffällig ist, dass Asia und Bithynien nach Apg 16.6f. für Paulus off limits waren. Die Lesart des Codex Bezae in V.28 lässt die Propheten aus Jerusalem sogar unter Jubel begrüßt werden! Genau betrachtet, hat sich die Weissagung des Agabus nicht erfüllt: Er sagt voraus, dass „die Juden“ in Jerusalem den Paulus verhaften und an die Heiden ausliefern würden. In Wirklichkeit haben nach Apg 21,31ff. römische Soldaten den Paulus aus akuter Lebensgefahr durch jüdische „Volkswut“ gerettet. Vgl. Sahlin, Harald, Der Messias und das Gottesvolk. Studien zur protolukanischen Theologie, Uppsala 1945, 369: „Dann ist aber der Jakobus von AG 15:13 mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht der Herrenbruder, sondern der Zebedaide.“ Dazu Sahlin, a. a. O.: „Wäre der Jakobus von AG 15 dagegen der Herrenbruder, müsste man sich zu der Annahme bequemen, dass dieser Jakobus ganz plötzlich eine führende Stellung in der Urgemeinde gewonnen hätte, ohne dass dies auch nur mit einem Wort angedeutet worden wäre.“
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Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12)
auch durch Gal 2,9 nahegelegt, wo das Trio „Jakobus, Kephas (=Petrus) und Johannes“ als „die Säulen“ bezeichnet werden. Diese drei Namen bezeichnen in den synoptischen Evangelien einen innersten Kern des Zwölferkreises; sie waren in bestimmten Situationen die einzigen Begleiter Jesu.16 Wenn mit Petrus die Metapher „Fels“ gebraucht wurde, passt es gut, dass mit den „Säulen“ in Gal 2,9 diese drei vorösterlichen Jünger Jesu gemeint sein könnten.17 Damit stellt sich die Frage, ob die Jakobusrede aus Apg 15,13–21 in einem veränderten Licht erscheint, wenn sie als eine Rede des Zebedaiden zu interpretieren ist. Im Munde des Herrenbruders Jakobus konnte es nicht überraschen, dass die Rede mit einem Schriftzitat arbeitet, das eine Erneuerung der davidischen Dynastie verspricht. Roland Deines kann darum mit vollem Recht auf die Pflege davidischer Traditionen in der Familie Jesu verweisen, die von ihrer Abstammung von David überzeugt war.18 Beim Zebedaiden Jakobus ist kein derartiger Familienhintergrund erkennbar. Allerdings ist von diesem Brüderpaar eine höchst persönliche Hoffnung im Zusammenhang mit einer künftigen messianischen Herrschaft Jesu überliefert: Nach Mk 10,35–37 traten diese beiden einmal an Jesus heran mit der Bitte: „Lass in deiner Glanzzeit einen von uns rechts und den anderen links neben dir sitzen!“19 Das lässt eindeutig eine Erwartung des politischen „Königreiches für Israel“ erkennen, wie sie im letzten Gespräch mit dem irdischen Jesus in Apg 1,6 zum Ausdruck kommt. Gut zehn Jahre nach dem Abschied von Jesus wird diese – von Jesus hier nicht kritisierte – nationale Heilserwartung noch sehr lebendig gewesen sein. Eine lukanische Sonderüberlieferung in Lk 9, 51–56 lässt erkennen, dass die Zebedaiden ihre Traumrolle als „Vizekönige“ als ein unter Umständen recht robustes Mandat verstanden hätten. Als Jesus und den Seinen auf der Wanderung von Galiläa nach Jerusalem in einem samaritanischen Dorf die Gastfreundschaft verweigert wurde, fragen die beiden den Meister: „Herr, willst du, dass wir Feuer vom Himmel herabrufen, das sie verzehre?“ (V.55) Was die Rede des Jakobus in Apg 15,13–21 betrifft, ist zu fragen, ob sie im Munde des Zebedaiden eine andere Bedeutung haben könnte als in dem des Her16
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Vgl. Mk 5,37 par. Lk 8,51; Mk 9,2 par. Mt 17,1 und Lk 9,28; Mk 14,33 par. Mt 26,37. Roger D. Aus (Three Pillars and Three Patriarchs: A Proposal Converning Gal 2 9, in: ZNW70 (1979) 252–291) versteht die Metapher der “drei Säulen“ als eine Anleihe bei der Hochschätzung der drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob im frühen Judentum. Das passt nur zu der Rolle des Trios „Petrus und die Zebedaiden“ und nicht zu einem relativ neuen Triumvirat „Petrus, Johannes und der Herrenbruder Jakobus“. Vgl. Sahlin, a. a. O. 369. Vgl. Deines (s. o. Anm. 4) 252: „Die intensive und spezifische Schriftanwendung, wie sie bei Jesus, aber auch bei Jakobus und Judas (und anderen Angehörigen dieses Familienclans im Neuen Testament) erkennbar ist, lässt die begründete Annahme zu, dass in ihrer Herkunftsfamilie die biblischen Erwartungen eines ‚Sprosses‘ bzw. ‚Sohnes‘ aus dem Haus Davids aktiv gepflegt und an die nachfolgenden Generationen … auch vermittelt wurde.“ In der Parallele Mt 20,20f. geht die ehrgeizige Bitte von der Mutter der beiden aus. Die Antwort Jesu kündigt den beiden ein Märtyrerschicksal an.
Welcher Jakobus?
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renbruders. In stilistischer Hinsicht fällt auf, dass das einleitende akoúsate mou („Hört mir zu!“ oder „Hört auf mich!“) ein wichtiges Votum ankündigt. Auf das Bibelzitat folgt eine erneute Ich-Aussage (mit einem im Griechischen nicht notwendigen, also betontem egô). Die Verbindung des Verbums krínein mit einem Infinitiv steht in den lukanischen Parallelen (3,13; 20,16; 25,25) sowie in 1 Kor 2,2; 5,3–5; Tit 3,12 nicht für bloße Vorschläge (so allenfalls in 3,13), sondern für entschiedene Urteile! Das „meine ich“ in LÜ und auch das „halte ich es für richtig“ klingen dafür zu unverbindlich/unmaßgeblich. Tatsächlich beschließt danach die Versammlung fast wortwörtlich, was Jakobus vorgeschlagen hat. Das passt (gut zehn Jahre nach Jesu Tod und Auferstehung) besser zu dem Mitglied des „Triumvirats“ aus vorösterlicher Zeit als zu dem Herrenbruder, der sich neben anderen Verwandten erst nach Ostern dem Jüngerkreis angeschlossen hat.20 Das Zitat aus Amos 9,11–12 wirft viele Fragen auf, die im vorliegenden Zusammenhang nicht diskutiert werden können. Ein schwieriges Problem ist die Differenz zwischen dem hebräischen Text von V.12 und seiner im lukanischen Text zitierten Septuaginta-Fassung. Dass Lukas normalerweise nach der Septuaginta zitiert, ist nicht verwunderlich; es entspricht heutiger Praxis, vorzugsweise nach der Lutherbibel oder der katholischen Einheitsübersetzung zu zitieren. Aber in einer in Jerusalem im Jahr 44 n. Chr. gehaltenen Rede ist eher mit der Zitierung des hebräischen Textes zu rechnen. In ihm war nicht davon die Rede, dass „die übrigen Menschen den Herrn suchen“, sondern „damit sie den Rest von Edom unterwerfen.“ Hinter dieser Sinnverschiebung stehen minimale Abänderungen der hebräischen Vorlage: Statt „Edom“ lies „adam“, und statt des Verbums jarásch lies darásch! Die hebräische Fassung handelt von der territorialen Wiederherstellung von Zuständen wie unter Davids Regierungszeit21, die griechische von einer Zuwendung der Weltvölker zum Gott Israels. Brisant an der hebräischen Fassung ist, dass sie im späten 2. Jh. v. Chr. in praktische Politik umgesetzt worden war: Nach Josephus (Ant 13,257f.) hatte Johannes Hyrkan I. (135/134 – 104) im späten 2. Jh. v. Chr. die Idumäer unterworfen und unter Androhung ihrer Vertreibung gezwungen, die jüdische Religion zu übernehmen.22 Die von Lukas zitierte Septuaginta-Fassung distanziert sich offenbar von der hasmonäischen Politik zugunsten einer religiösen Ausstrahlung auf andere Völker.23 Das passt zu dem in Jerusalem beschlossenen Verzicht auf die Beschnei-
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Vgl. Mt 12,46 par. Mk 3,31 und Lk 8,19; Apg 1,14. Vgl. 2 Sam 8,14; 1 Chr 18,13; Josephus Ant 8,200.203. Die Edomiter=Idumäer hatten ihr Siedlungsgebiet nach Westen verlagert und wohnten damit in Gegenden, die von der Tradition dem Stamm Juda zugesprochen wurden. Auch der Historiker Ptolemäus der Historiker bezeugt die erzwungene „Judaisierung“ der Idumäer; vgl. Menachem. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. edited with Introduction, Translations and Commentary, Jerusalem 1976, Bd. I Nr. 146. Die Ptolemäer, in deren Machtbereich die Septuaginta-Übersetzung stattfand, dürften von der Expansionspolitik der Hasmonäer nicht gerade begeistert gewesen sein!
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dungsforderung bei der Gewinnung von Nichtjuden für den Glauben an Jesus, wofür Petrus und Jakobus nach Lukas votiert haben. Allerdings hat Jakobus mit seiner Zustimmung zur Rede des Petrus einige Sonderwünsche verbunden, die von der Versammlung akzeptiert wurden. Er begründet sie mit Problemen des Zusammenlebens mit Juden, wobei er voraussetzt, dass es „in allen Städten“ eine jüdische Gemeinde („Synagoge“) gibt. Eine weltweite Jesusbewegung über das Verbreitungsgebiet der jüdischen Diaspora hinaus liegt anscheinend außerhalb seines Horizonts.24 Das lässt vermuten, dass Jakobus die nichtjüdischen Glaubensgenossen auf der Linie der „Beisassen“ in biblischen Texten betrachtet. Gewaltsame Konflikte zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerungsteilen hatten häufig ihre Ursache in der – z. T. provozierenden – Missachtung religiös begründeter Tabus.25 Für Jakobus spielen territoriale Fragen vielleicht eine größere Rolle als für Petrus. Nicht auszuschließen ist, dass jüdische „Davidisten“ die römische Provinz Syrien (mit der Hauptstadt Antochien) als Nachfolgestaat des Aramäer-Staates mit der Hauptstadt Damaskus betrachteten, der nach 2 Sam 8,5–6; 10,19 dem David tributpflichtig wurde.26 Der Schluss der Jakobusrede schlägt eine (für uns) überraschende Brücke von David zu Mose, wobei davon die Rede ist, dass Mose „verkündigt“ wird. Das Verbum kērýssein wird im übrigen Neuen Testament bevorzugt für das Evangelium verwendet, und als personales Akkusativobjekt ist sonst nur Jesus Christus belegt.27 Dieser Brückenschlag berührt sich mit der rabbinischen Rezeption der Davidgestalt, die ihn zum Ausleger der Torah machte, z. B. durch halakhische Auslegungen der Psalmen, die pauschal dem David zugeschrieben wurden.28 In der Diskussionslage von Apg 15 kann das als ein rhetorischer Kunstgriff gegenüber den pharisäischen Beschwerdeführern aus V.5 und ihren nach V.1 in Antiochia aufgetretenen Gesinnungsfreunden verstanden werden. Er lässt vielleicht (bewusst?) einen Türspalt offen zu möglichen anderen Forderungen mit ähnlicher Begründung (vgl. unten zu Gal 2,11–14). Zurück zum Konflikt zwischen Agrippa I. und der Jesusbewegung, die zwar in Galiläa entstanden war, aber gut zehn Jahre nach dem gewaltsamen Tod ihres Gründers immer noch ihr Zentrum in Jerusalem hatte: Wenn das sogenannte „Apostelkonzil“ oder besser „die erste Missionskonferenz der Kirchengeschichte“ vor diesem Konflikt zu datieren ist, legt sich die Frage nahe, ob diese
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Schon für Spanien, wo Paulus nach Röm 15,24 missionieren wollte, gibt es für die damalige Zeit kaum Indizien für organisierte jüdische Gemeinden. Ein solcher Konflikt in Caesarea am Meer hatte nach Josephus wesentlich zum Beginn des jüdischen Aufstands im Jahr 66 n. Chr. beigetragen; vgl. Bell 2,266–270. 284–292; Ant 20,182–184. Vgl. 2 Kön 14,28. Vgl. Apg 8,5; 9,20; 19,13; 1 Kor 1,23; 15,12; 2 Kor 1,19; 4,5; 11,4; Phil 1,15; 1 Tim 3,16. Vgl. Thoma, Clemens, Art. David II. Judentum, in: TRE 8 (1981) 384–387, 385.
Agrippa I.
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Konferenz oder schon ihre Vorgeschichte zu den Auslösern für das Vorgehen des Königs gegen diese Gruppe gehörte. Agrippa hatte viele Jahre seines Lebens in Rom verbracht. Er wird bei der Übernahme seiner Regierungsgeschäfte in Judäa ein gutes Einvernehmen mit der Oberschicht und der örtlichen Verwaltung angestrebt haben. Dieses Interesse konnte sich zum Nachteil einer umstrittenen Minderheit auswirken.29 Es gibt Anzeichen dafür, dass Agrippa im Laufe seiner Regierungszeit zunehmend am jüdischen Teil seines Herrschaftsgebietes interessiert war.30 Sein plötzlicher Tod löste in Caesarea bei den nichtjüdischen Bürgern der Stadt Jubel aus.31 Zu der Frage, warum Agrippa I. gegen einige aus der Gemeinde Jesu gewaltsam vorgegangen war und sich dabei speziell den Jünger Jakobus herausgegriffen hatte, erinnert Daniel R. Schwartz unter Hinweis auf Lk 9,54 daran, dass die beiden Söhne des Zebedäus „Zeloten“ unter den Aposteln gewesen seien.32 Ein entsprechender Beiname ist aber nur für einen gewissen Simon überliefert (vgl. Lk 6,15; Apg 1.13), zur Unterscheidung von Simon Petrus. Anhaltspunkte für die Gründe der Kriminalisierung einiger Jesusjünger ergeben sich vielleicht, wenn die „Missions-Konferenz“ von Apg 15 tatsächlich vor dem Tode des Jüngers Jakobus stattgefunden hat, also in einer chronologischen Berichterstattung zwischen Apg 11,30 und 12,1 zu platzieren ist. Dieser Jünger aus dem vorösterlichen „Triumvirat“ konnte so selbstbewusst auftreten, wie Lukas das schildert, und sein Auftreten bei dieser möglicherweise war möglicherweise der Anlass für seine Hinrichtung! Ein Bekenntnis zur Hoffnung auf eine Wiederaufrichtung des davidischen Königtums konnte einem Enkel von Herodes d. Gr. nur als Hochverrat erscheinen, auch wenn sie von Gott erwartet wurde und nicht Ziel eines Aufstandes war (vgl. Mt 2,1–12). Außerdem konnte man aus der Zitierung von Amos 9,12 einen antirömischen Zungenschlag heraushören, weil der Volksname Edom in der hebräischen Fassung für das antike Judentum ein Deckname für das Römische Reich war.33 Die Rede von einem „Rest Edoms“ 29
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DOCKX, S., Chronologie zum Leben des heiligen Petrus, in: Thiede, Carsten Peter, Das Petrusbild in der neueren Forschung, Wuppertal 1987, 85–108, hier 89f., nimmt an, dass Agrippa schon bei seinem „Antrittsbesuch“ als König in Jerusalem im Frühjahr 41 n. Chr. Jakobus verhaften und hinrichten ließ. Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Vgl. Kasher, Aryeh, Jews, Idumaeans, and Arabs. Relations of the Jews in Eretz-Israel with the Nations of the Frontier and the Desert during the Hellenistic and Roman Era (332 BCE – 70 CE), Tübingen 1988, 190: “With ever-growing Jewish nationalist trends in his kingdom he increasingly inclined to be drawn to the Jews.” Vgl. Josephus, Ant 19, 355–359. Vgl. Schwartz, Daniel R., Agrippa I. The Last King of Judaea, Tübingen 1990, 123. Mit Recht vermutet Schwartz, dass Lukas aus apologetischen Gründen dieses mögliche Motiv nicht erwähnen konnte. Lukas legt ja größten Wert darauf, dass die Jesusbewegung nichts mit dem politischen Widerstand gegen die römische Herrschaft zu tun hat; vgl. Lk 20,20–25; Apg. 21,38f. Vgl. Avemarie, Friedrich, Esaus Hände, Jakobs Stimme: Edom als Sinnbild Roms in der frühen rabbinischen Literatur, in: Reinhard Feldmeier / Ulrich Heckel (Hrsg.), Die Heiden.
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konnte den Gedanken an eine Zerschlagung des Römischen Reiches nahelegen, was für einen König von Roms Gnaden ebenfalls staatsfeindlich war.34 Ein Zebedaide (und nicht nur er) könnte davon geträumt haben! Die griechische Fassung des Amoswortes lässt davon nichts erkennen. Steht deren Zitierung vielleicht im Dienst eines Abschieds von allzu kurzfristigen Hoffnungen auf die Wiederaufrichtung des Königtums für Israel (Apg 1,6)? Gegen die Annahme, dass es der Zebedaide Jakobus war, der in Jerusalem nach Petrus auftrat und seinen erfolgreichen Antrag einbrachte, spricht scheinbar Gal 2,12, wo es heißt, dass „welche von Jakobus“ kamen. Das muss doch wohl der noch lebende Jakobus sein, und muss dieser dann nicht auch in Gal 2,9 gemeint sein? Nein: Das apó Jakôbou muss nicht mit eltheín (kommen) in Verbindung gebracht werden, sondern das tínes apó Jakôbou kann auch die Anhänger des (nicht mehr lebenden!) Apostels Jakobus bezeichnen, die nach Antiochia kamen!35 Die Stelle belegt dann einen bleibenden Einfluss des Zebedaiden Jakobus über seinen Tod hinaus und damit den Beginn von personalisierten Richtungskämpfen innerhalb des Christentums.36 Ansätze dazu werden auch in 1 Kor 1,10– 17 von Paulus kritisch kommentiert, wobei es aber primär um konkurrierende Orientierungen an noch lebenden Autoritäten wie Paulus, Apollos und Kephas (Petrus) geht.37 Der Streit, der durch das Auftreten dieser „Jakobäer“ in Antiochien ausbrach, liegt auf den ersten Blick auf einer anderen Ebene als die „Klauseln“ des „Aposteldekrets“ nach Apg 15,20.29. Ging es dort u. a. um das, was man essen dürfe (nämlich kein Blut oder bluthaltiges Fleisch), so geht es jetzt in Antiochien darum, mit wem man gemeinsam speisen darf, nämlich um die Tischgemeinschaft zwischen
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Juden, Christen und das Problem des Fremden, 177–208; Stemberger, Günter, Die römische Herrschaft im Urteil der Juden, Darmstadt 1983, 65f. Wenn diese Verwendung von „Edom“ als Chiffre für Rom im 1. Jh. n. Chr. noch nicht verbreitet war, könnte die Art der Erwähnung Edoms für Agrippa I. auch aus dem Grunde anstößig sein, weil die Familie Herodes edomitischer Herkunft war, was aus der Sicht mancher Juden ein Makel war; vgl. Josephus, Ant 19, 332–334 und dazu Schwartz (s. o. Anm. 27) 124–130. Vgl. hoi apó Pythagórou bei Lucian, Herm 14 oder hoi apó Plátōnos bei Plutarch, Brut 2. Wenn diese Jakobäer fern von Jerusalem als Gruppe auftraten und Diasporagemeinden zu beeinflussten suchten, dann ist ihnen vielleicht auch die Abfassung eines pseudonymen Jakobusbriefes zuzutrauen. Vgl. Niebuhr, Karl-Wilhelm, Der Jakobusbrief im Licht frühjüdischer Diasporabriefe, in: NTS 44 (1998) 420–443. Ich halte Röm 4,1–5 für eine Kritik des Paulus an Auslegungen von Gen 15,6 auf der Linie von Jak 2,14–26 und nicht umgekehrt. Vgl. meine Studien Justification, salut et foi. Étude sur les rapports entre Paul, Jacques et Pierre, ETR 73 (1998) 177–188 und Rettender Glaube und Abrahams Rechtfertigung Zum Verhältnis zwischen Paulus und Jakobus (und Petrus?), in: Christoph Barnbrock, Werner Klän (Hrsg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten. Festschrift für Volker Stolle, Münster 2005, 209–225. Die Nennung des Christus am Ende der Aufzählung in V. 12 ist in seiner Bedeutung umstritten. Könnte es sein, dass die „Jakobäer“ sich als die authentischen Jünger Jesu ausgaben?
Jakobus (Apostel!)
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jüdischen und nichtjüdischen Christen. Aber wenn gemeinsame Mahlzeiten wirklich als „Tischgemeinschaft“ gemeint sind, ist es schwer vorstellbar, dass man nebeneinander liegend oder sitzend zum Teil koschere und zum Teil nicht koschere Speisen zu sich nehmen konnte.38 Wir wüssten gerne, wie Paulus sein Prinzip aus 1 Kor 9,20f. „den Juden wie ein Jude – den Nichtjuden wie einer ohne die Torah“ praktiziert hat, wenn er an einer gemischten Mahlgemeinschaft teilnehmen wollte. Setzt seine Formulierung nicht voraus, dass er an getrennte Zusammenkünfte denkt? Gal 2,11–14 ist vielleicht der erste Beleg für den in der Kirchengeschichte immer wieder aufgebrochenen Streit um sogenannte Adiaphora, d. h. um die Grenze zwischen allzeit gültigen Normen und verhandelbaren Abweichungen von Normen mit Rücksicht auf veränderte Situationen.39 Was erfahren wir sonst im Neuen Testament über den Herrenbruder Jakobus? Eingeführt wird er Mt 13,55 par. Mk 6,3 neben drei anderen Brüdern Jesu. In Mt 27,56 par Mk 15,40 könnte er gemeint sein, obwohl die dort als Mutter erwähnte Maria nicht als Mutter Jesu bezeichnet wird. Eindeutig ist seine Erwähnung als Bruder Jesu in Gal 1,19.40 In Apg 12,17 und 21,18 ist er sicher gemeint, wenn auch nicht ausdrücklich als Bruder Jesu bezeichnet, weil der früher genannte Zebedaide Jakobus nicht mehr am Leben ist. Wie steht es aber um die Erwähnung eines Jakobus in der Liste der Zeugen, die den Auferstandenen gesehen haben (1 Kor 15,7)? Wolfgang Schrage schreibt dazu: „Damit kann wegen seiner Sonderstellung trotz zahlreicher Träger dieses Namens im frühen Christentum nur der Herrenbruder gemeint sein.“41 Warum eigentlich? Die Liste der Zeugen lautet: Kephas, die Zwölf, 500 Brüder, Jakobus, dann alle Apostel, zuletzt (verspätet) Paulus. Hier spricht nichts dagegen, an den Apostel Jakobus zu denken, der in den Evangelien wiederholt neben Petrus (=Kephas) als „Intimus“ Jesu erwähnt wird.42 Mehr noch: Dass aus dem Zwölferkreis nur diese beiden als Einzelpersonen aus dem vorösterlichen Jüngerkreis als Zeugen der Auferstehung genannt werden, passt zu dem Nebeneinander gerade dieser beiden in der Verhandlung in Apg 15! Die häufig geäußerte Vermutung, dass der Herrenbruder Jakobus durch eine Christusvision aus seiner früheren Distanz zum Wirken Jesu43 herausgerissen wurde, ist verlockend, scheint aber auf einer 38
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Ich erinnere mich an mehrere Situationen, in denen ich an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal mit einem jüdischen Gastprofessor (wie z. B. Michael Wyschogrod) nur Kaffee trinken konnte! Um solche Fragen geht es für Paulus in Rom 14,1 – 15,7. Umstritten ist, ob Paulus ihn dort als einen Apostel bezeichnet oder zu übersetzen ist: „Von den andern Aposteln sah ich keinen, sondern nur noch Jakobus, den Bruder des Herrn. Vgl. Schrage, Wolfgang, Der erste Brief an die Korinther, 4. Teilband 1 Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Düsseldorf / Neukirchen-Vluyn 2001, 58. Dass sein Bruder Johannes nicht erwähnt wird, lässt erkennen, dass hier nicht fiktional den führenden Persönlichkeiten eine Vision des Auferstandenen angedichtet wurde. Vgl. Joh 7,5.
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Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12)
Angleichung an das Damaskuserlebnis des Paulus zu beruhen44: schön, aber darum nicht historisch! Alles in allem ergibt sich: Vorstellungen von einer „Machtergreifung“ des Herrenbruders in Jerusalem haben wenig Anlass in den vorliegenden Quellen. Von einem „Schicksalsjahr“ 44 n. Chr. kann trotzdem gesprochen werden: Wenn das sogenannte „Apostelkonzil“ in diesem Jahr stattfand, dann ist die erste Missionsreise des Paulus (die einzige mit Barnabas zusammen) als Frucht der Grundsatzentscheidung für die „beschneidungsfreie“ Mission unter Nichtjuden anzusehen. Nachdem in Jerusalem ein dahingehender Beschluss auf den heiligen Geist zurückgeführt (vgl. Apg 15,28) und brieflich nach Antiochia gemeldet worden war (Apg 15,30f.), brauchte es wohl nicht lange, bis derselbe heilige Geist dort in einer Gemeindeversammlung den Auftrag erteilte, Barnabas und Paulus zur ersten missionarischen Expedition der Kirchengeschichte auszusenden (Apg 13,2f.). Die in Jerusalem verhandelten Probleme lagen dabei aber nicht hinter ihnen, sondern reisten mit, wie vor allem der Galaterbrief erkennen lässt. Auch Petrus wird nach dem Krisengipfel in Jerusalem auf Missionsreise geschickt. Er hatte schon vorher durch Gottes Führung zum Auftreten in Caesarea den Mut zur Predigt vor Nichtjuden gefasst und ihre Taufe veranlasst und anschließend in Jerusalem gerechtfertigt (vgl. Apg 10f.). Dass er sich zu noch weiteren Reisen auf den Weg machte, war die Folge der Lebensgefahr durch Agrippa I., aus der Gott ihn gerettet hatte (vgl. Apg 12,17). Leider wissen wir nichts darüber, wo Petrus nach seinem Aufenthalt in Antiochia (Gal 2,11) gewirkt hat45, bis er schließlich (wie Paulus) in Rom als Märtyrer starb (vgl. 1 Clem 5,4–7). Noch eine andere Biographie verdient abschließend Erwähnung: Ein Mann, der mit 17 Jahren über das Vorgehen Agrippas I. gegen Jakobus und andere Jünger aus erster Hand informiert sein konnte, hat sich später mindestens zweimal für Toleranz gegenüber der Jesusbewegung eingesetzt. Es ist dessen Sohn Agrippa II., der nach Apg 26,28 über die „Christianer“ informiert war und sich in Caesarea gegenüber dem Statthalter Porcius Festus für die Unschuld des Paulus aussprach (Apg 26,32). Als 2–3 Jahre später (62 n. Chr.) in Jerusalem ein Hoherpriester den Herrenbruder Jakobus und einige andere Jesusjünger wegen angeblicher Verstöße gegen die Torah anklagte und steinigen ließ, verfügte Agrippa II. dessen Absetzung (vgl. Josephus, Ant 20,200–203).46
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Für Roland Deines (s. o. Anm. 4) 140 „liegt es nahe, hier an den Herrenbruder Jakobus zu denken. Auch er hatte eine Begegnung mit dem Auferstandenen, und – so darf man wohl schließen – auch er erfuhr durch ihn seine Beauftragung.“ Eine „Kephaspartei“ in Korinth (vgl. 1 Kor 1,12) könnte auf einen Besuch des Petrus in dieser Stadt zurückgehen. Der 1. Petrusbrief schreibt ihm im Präskript Kontakte zu Gemeinden in fünf kleinasiatischen Provinzen zu. Nach Ant 20,201 gab es damals auch in der Bevölkerung Proteste gegen diese Aktion (vermutlich in pharisäischen Kreisen, die sich bekanntlich für eine mildere Auslegung biblischer Strafgesetze aussprachen).
Geographische Probleme im lukanischen Werk 1.
Nazaret alias (Gen)nesaret alias Tiberias? (Zu Lk 1,26; 2,4.39.51; 4,16–29; Joh 1,45–46; Apg 10,38)
Der Ortsname Nazaret ist außerhalb christlicher Schriften in der Antike nicht bezeugt,1 durch die Ausbreitung des Christentums dagegen weltbekannt als Ort der Herkunft Jesu, was zu seinem Beinamen „der Nazarener“2 geführt hat. Nach dem Neuen Testament handelt es sich nicht um den Geburtsort, für den nur Bethlehem angegeben wird3, sondern um den Ort, an dem er aufgewachsen ist (vgl. v. a. Lk 4,16).4 Nach Lk 1,26 wohnte Jesu Mutter Maria vor seiner Geburt in Nazaret, und aus Lk 2,4 geht hervor, dass auch Josef dort wohnte oder jedenfalls sich von dort aus mit Maria auf die Reise nach Bethlehem machte.5 Wo dieses Nazaret lag, gilt auf Grund der uralten Ortstradition des heutigen Nazareth als geklärt. Ein Problem dieser Lokalisierung ist jedoch eine Angabe in Lk 4,29, wonach die Stadt der Nazarener auf einem Berg lag, von dessen Abhang man Jesus hinabstürzen wollte. Michael Wolter schreibt dazu: „Der Ort, zu dem 1
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Vgl. Barr, George, K. Jesus in Nazareth, in: Irish Biblical Studies 26 (2005) 93–104, 95: “The village of Nazareth is not mentioned in any documents outside the gospels and Early Christian texts that rely on them, until the time of Constantine. It is never referred to by Josephus, by Jewish rabbis or in the Christian Old Testament.” (= Septuaginta?) Frankemölle, Hubert, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.), Stuttgart 2006, 88f: „Nazaret war ein Dorf, das außer im NT in keiner griechischen, römischen oder jüdischen Schrift der Antike bis ins 3. Jh. n. Chr. belegt ist.“ Zur Forschungslage bezüglich Nazaret vgl. Riesner, Rainer, „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ (Joh 1,46) Archäologie und Geschichte des Heimatortes Jesu, in: ThBeitr 48 (2017) 324–339, sowie ders., Messias Jesus. Seine Geschichte, seine Botschaft und ihre Überlieferung, Gießen 2019, 81–83: Exkurs 5: Nazareth. Im Neuen Testament auch häufig „Nazoräer“ (Nazoraios). Vgl. Mt 2,1; Lk 2,4.15. Auf Grund des Beinamens wird oft bezweifelt, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde; aber es gab in der Antike auch andere Beinamen, die auf den Ort der Erziehung und kulturellen Prägung verweisen, z. B. „Antiochos Euergetes Sidetes“ und „Antiochos Philopator Kyzikenos“ (zu Letzterem vgl. Josephus Ant 13,271). Noch häufiger sind Beinamen nach dem Ort oder Land einer späteren (z. T. ruhmvollen) Tätigkeit oder Leistung. Dass die beiden miteinander „verlobt“ waren oder Maria bereits sein „vertrautes Weib“ war, ist eine verbreitete Fehlübersetzung. Das Verbum mnēsteúein, das Lukas hier gebraucht, besagt, dass Josef um sie warb (oder durch eine andere Person werben ließ). Nach Lk 1,34 lag der Gedanke an eine Ehe der Maria zunächst noch fern, vielleicht aus Altersgründen; vgl. meine Studie Rätsel um Maria. Überlegungen zu Lk 1,34 und 1,27; 2,5, in: ThBeitr 49 (2018) 326–331.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
Jesus geführt und von dem er herabgestürzt werden sollte …, ist topographisch nicht verifizierbar, und das antike Nazareth lag auch nicht auf einem Berg, sondern in einem Hochtal. Die diesbezüglichen Angaben sind reine Fiktion.“6 Etwas konkreter wird das Problem von Josef Ernst beschrieben: „Die topographischen Verhältnisse von Nazareth machen es schwer, sich den Ablauf des Geschehens realistisch zu verdeutlichen. Nazareth liegt nordöstlich von der Ebene Jesreel in einem Hochtal am Rande des galiläischen Berglandes. Der von den Pilgern aufgesuchte ‚Berg des Absturzes‘ … ist so weit von der Stadt entfernt (2,5 km), daß ein Minimum an Organisation für die Durchführung der Exekution erforderlich gewesen wäre. Offenbar legt die Erzählung auf solche Einzelheiten jedoch gar keinen Wert.“7 Josef Schmid hatte (mit ähnlicher Begründung) geschrieben: „Der ‚Berg‘, von dem die Nazarener Jesus hinabstürzen wollen, kann nicht als genaue Beschreibung der Lage ihrer ‚Stadt‘, die in Wirklichkeit nur ein bescheidenes Dorf gewesen sein wird, angesehen werden.“8 Die Angabe, dass die Stadt auf einem Berg gelegen habe, ist jedoch zu hinterfragen: Bei Gemoll lesen wir, dass epí mit Genitiv in örtlicher Bedeutung auf die Frage wo? „auf, an, bei, in, in der Nähe“ bedeutet.9 Merkwürdig, dass die Bedeutungsbreite von epí mit Genitiv bisher kaum (oder gar nicht?) für die Lokalisation Nazareths in Betracht gezogen wurde! Ob die archäologisch gesicherten Spuren antiker Besiedelung im Raum des heutigen Nazaret eine Lokalisierung des antiken Ortes „an“ oder „bei“ einem bestimmten Berg nahelegen, sollten die Ortskundigen prüfen und für die interessierte Öffentlichkeit beurteilen. Die größte Spannung zwischen den literarischen Zeugnissen des antiken Nazaret und dessen heutiger Lokalisierung und Erforschung ergibt sich jedoch aus der Erwähnung in Joh 1,45f. Dort lesen wir über ein Gespräch zwischen einem schon von Jesus überzeugten Johannesjünger und einem noch Fernstehenden: „Philippus findet den Natanael und sagt zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose in der Torah geschrieben hat (wie) auch die Propheten: Jesus, des Josefs Sohn, aus Nazaret. Da sagte Natanael zu ihm: Kann denn aus Nazaret etwas Gutes kommen? Da sagt Philippus zu ihm: Komm und sieh!“
Die Frage des Natanael wird mit Recht als Einwand gegen die Meinung des Philippus über Jesus verstanden und impliziert, dass die Herkunft aus Nazaret gegen eine so hohe Bedeutung Jesu spricht. Wäre damit bloß darauf angespielt, dass 6 7 8
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Vgl. Wolter, Michael, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 198. Vgl. Ernst, Josef, Das Evangelium nach Lukas, Regensburg 1977, 174. Vgl. Schmid, Josef, Das Evangelium nach Lukas, Regensburg 1955, 114. Auch Heinrich Schürmann, Das Lukasevangelium. Erster Teil, Freiburg etc. 2. Aufl. 1981, 240 erwähnt das Problem dieser Angaben. Gemoll, Wilhelm / Vretska, Karl, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, 10. Aufl., München 2006, 317; vgl. Bauer-Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl. Berlin etc. 1988, 579: „an bei von der unmittelbaren Nähe“, z. B. Joh 21,1 epì tēs thalássēs Tiberiádos – „am See von Tiberias“.
Nazaret
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Nazaret damals nur ein unbedeutendes Dorf war (was die archäologischen Befunde nahelegen), dann sollte die (zweifellos rhetorische) Frage des Natanael eher lauten: „Was kann aus Nazaret Großes kommen?!“ Die implizierte Antithese zu „Gutes“ ist höchstwahrscheinlich „Schlechtes“.10 Der spontane Einwand des Natanael (ob historisch oder nur dem Erzähler zuzuschreiben) lässt also darauf schließen, dass der Heimatort Jesu einen schlechten Ruf hatte!11 R. Riesner meint zwar (nicht als erster!), der Zweifel des Nathanael sei „offensichtlich darin begründet, dass Nazareth im Alten Testament überhaupt nicht erwähnt wird und im Gegensatz zu Bethlehem … auch mit keiner messianischen Verheißung verbunden war“.12 Diese Vermutung (deren erster Teil etwas voraussetzt, das wir erst heute aus Konkordanzen zum Alten Testament wissen) überschätzt die Frage des Geburtsortes für die Erwartung des Messias. Die Geburt Jesu in Betlehem erfüllte zwar nach Joh 7,40–42 eine entsprechende Erwartung. Diese ist aber nicht als allgemein verbreitet belegt.13 Ältere Ausleger hatten aus dem Ausspruch des Nathanael kein Votum für Bethlehem herausgehört: H. A. W. Meyer: “Frage des Befremdens darüber, dass der Messias aus Nazareth sein soll. Nicht … weil es wegen seiner Kleinheit zum Geburtsort des Messias zu unbedeutend sei … oder weil die prophetische Weissagung von der Geburt des Messias nicht auf Nazar. laute …, sondern, wie das allgemeine [ti agathón]… beweist, weil Nathanael, und mit ihm wohl die öffentliche Meinung, das Städtchen für sittlich verkommen hielt.“14 Theodor Zahn: „Die Frage, ‘Aus Nazareth kann etwas gutes (sic!) sein?‘ ist in ihrer allgemeinen Fassung nicht dadurch schon erklärt, daß Naz. im AT nie erwähnt ist und mit keiner auf den Messias zu deutenden Weissagung bis dahin im Vorstellungskreis des Volks in Beziehung gesetzt worden war, wie etwa Bethlehem.“15 Weiter: „Naz. muß vielmehr aus irgend welchen uns unbekannten Anlässen in seiner Nachbarschaft als das gegolten haben, was wir ein ‚verrufenes
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Im Neuen Testament meistens mit kakós oder ponērós erwähnt, vor allem in moralischer Hinsicht. Vgl. Schlatter, Adolf, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum vierten Evangelium, 3. Aufl. 1960, 58: „Der Satz ist schwerlich als Frage zu lesen, sondern wohl als abwehrende Ironie gedacht, da das Neutrum [ti agathón] einen spöttischen Ton hat.“ S. o. Anm. 1, 325 Vgl. Grund, Alexandra, Der Friedensherrscher aus Bethlehem (Mi 4,14 – 5,3), in: B. Kollmann (Hrsg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, Göttingen 2010, 262–274. Vgl. Meyer, Heinrich August Wilhelm, Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Evangelium des Johannes, 5. Aufl. Göttingen 1869, 123. Vgl. Zahn, Theodor, Das Evangelium des Johannes ausgelegt, 3. und 4. berichtigte Auflage, Leipzig 1912, 137.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
Nest‘ nennen.“16 Dazu Anm. 53: “Thdr wollte wissen, daß Nazareth wegen starker Beimischung heidnischer Einwohner bei den Juden verrufen war.“17 Walter Bauer: „Die skeptische Frage des Nathanael ist so angelegt, daß sich darin schwerlich der Zweifel einkleidet, ob der Messias aus Galiläa kommen könne (vgl. 7 41). Es handelt sich speziell um Nazaret, dem nichts Gutes zugetraut wird.“18 Neuere Kommentare schenken dem Ausspruch des Nathanael nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient hat.19 Gewiss: Unter der Voraussetzung guter Bibelkenntnis kann uns einfallen, dass das Misstrauen des Natanael berechtigt war. Nach Mk 6,1–6 par. Mt 13,57 weckte sein Auftreten in der Synagoge seiner „Heimat“ zwar Aufsehen; aber er konnte dort „wegen ihres Unglaubens“ kaum Heilungswunder tun. Jesus soll darüber gesagt haben, dass ein Prophet in seiner Heimatstadt nun einmal keine Anerkennung findet. Der Erzähler, der in Joh 1 über Natanaels Misstrauen berichtet, könnte von dieser Episode im Wirken Jesu gewusst haben. Er schreibt immerhin in Joh 1,11: „Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Er stellt Natanael (im Gegensatz zu Johannes dem Täufer!) nicht als einen Propheten hin. Aber er lässt Jesus in 1,47 über Nathanael sagen: „Ein wahrer Israelit, der sich nicht verstellt!“ Steckt in diesem Lob womöglich eine Zustimmung zu dessen Urteil über Nazaret? Exegeten rätseln daran herum, womit Natanael dieses Lob Jesu verdient hatte. Warum nicht mit dem, was der Evangelist gerade von ihm zitiert hat?20 Wir wüssten gern mehr über Nazaret: Es gibt m. W. auffälliger Weise auch keine jüdischen Texte, die sich zu dieser Herkunft Jesu kritisch äußern.21 Grabungen im Gelände des heutigen Nazaret haben nichts Nachteiliges über diese
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Ebd. 138. „Thdr“ steht für Theodoret von Kyrrhos, 393–460, nach C. Moreschini, C. / Enrico Norelli, Enrico, Handbuch der antiken christlichen Literatur, Gütersloh 2007, 341 “der letzte große Exeget der antiochenischen Schule“. Zu den Ausgrabungsbefunden im heutigen Nazaret scheint das wenig zu passen. Bauer, Walter, Das Johannesevangelium, 3., verbesserte und vermehrte Aufl. Tübingen 1933, 41. Barrett, Charles Kingsley, The Gospel According to St. John. An Introduction with Commentary and Notes on the Greek Text, London 1967, 153f. plädiert immerhin nicht für eine Anspielung auf die Bethlehem-Weissagung: “The words are a scornful question: Can there be any good thing … which has Nazareth for its origin? They sound like a proverb …” Die Evangelisten setzen ja sogar voraus, dass Jesus Gedanken lesen kann (vgl. Mt 9,4 par. Mk 2,8 und Lk 5,22). Vgl. Maier, Johann, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, Darmstadt 1978, 270 zur Bezeichnung Jesu als „ha noşri“ und zum Ortsnamen Nazareth: „… letzterer ist in der rabbinischen Literatur nicht belegt und auch sprachlich sind Bedenken am Platz, es sei denn, man setzt eine andere Form des Ortsnamens hypothetisch voraus.“ Nach Maier (ebd. S. 271) bedeutet der Beiname ha noşri nur Jesus der Christ oder der christliche Jesus.
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Ansiedlung ans Licht gebracht. Archäologische Befunden lassen darauf schließen, dass hier etwa seit dem 1. Jh. v. Chr. eine jüdische Siedlung war.22 Aber auf die nahe liegende Frage, welche Stadt bei Juden zur Zeit Jesu einen schlechten Ruf hatte, dürfte jeder Kenner der damaligen Zeitgeschichte nur eine Antwort auf Lager haben: Tiberias! Über ihre Gründung schreibt Josephus (Ant 18,36–38): „Der Tetrarch Herodes (sc. Antipas), der bei Tiberius eine besondere Freundesstellung hatte, baut(e) eine nach diesem ‚Tiberias‘ benannte Stadt aus, die er am See Gennesaret in bester Lage „aufgegründet“23 hatte. Nicht weit von ihr gibt es eine heiße Quelle bei dem Dorf Ammathus. Dort ließ sich ein zusammengewürfeltes Volk nieder, aber nicht wenige davon aus Galiläa, dazu alle möglichen unfreiwilligen Umsiedler aus dem von ihm (Herodes) regierten Territorium, zur (dortigen) Ansiedlung gezwungen. Manche davon gehörten der Oberschicht an. Er akzeptierte aber auch andere Mitbürger und mittellose Leute, die von überall her zusammengebracht wurden. Dabei wurde nicht einmal genau darauf geachtet, ob es sich um Freie (also keine Sklaven) handelte. Solchen verlieh er oft erst großzügig die bürgerliche Freiheit unter der Bedingung, dass sie nicht aus der Stadt wegziehen durften, und versorgte sie mit Häusern und Grundstücken. Er war sich dessen bewusst, dass die (dortige) Ansiedlung gegen das Gesetz verstieß und jüdische Tradition ignorierte, weil die Stadt über vielen ehemaligen Grabstätten, die beseitigt wurden, gegründet worden war.“24
Josephus merkt noch an, dass das Wohnen in dieser Stadt kultisch unrein macht: ein Urteil, das erst in rabbinischer Zeit aufgehoben wurde.25 Das Lob für Nathanael in Joh 1,47 („Wahrhaftig: ein Israelit, der sich nicht verstellt“) für das im Kontext kein anderer Grund angedeutet wird, passt auf dessen abfälliges Urteil in V.46, wenn damit das verrufene Tiberias gemeint war.26 Dass Herodes Antipas bei seinen Baumaßnahmen gegen traditionelle jüdische Normen verstieß, geht auch daraus hervor, dass der Palast, den er in Tiberias bauen ließ, Wandgemälde mit Tierbildern enthielt. Das wurde zu Beginn des Jüdischen Aufstandes zum Anlass genommen, den Palast auf Befehl aus Jerusalem zu zerstören.27 Die Verfassung der Stadt entsprach einer griechischen Polis.
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Vgl. Riesner (s. o. Anm. 1). Die Vokabel epiktízō steht für eine „Neugründung“ einer Stadt auf der Basis einer schon bestehenden; vgl. Strabo X 1,10 und XIV 1,12 (beide Male verbunden mit einer Umbenennung!). Die verbreitete Übersetzung der Antiquitates durch Heinrich Clementz unterschlägt diese Mitteilung und fasst beide Verben zusammen mit „erbaute er eine Stadt“. Vgl. Hirschfeld, Yizhar / Gator, Katharina, New Excavations in Roman, Byzantine and Early Tiberias, in: Zangenberg, Jürgen / Attridge, H. W. / Martin, D. B., (Ed.), Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee, Tübingen 2007, 207–229, hier 229: “Though officially founded by Herod Antipas as the capital of his tetrarchy in 18 or 19 C. E. a settlement existed there prior to this date.” So nach dem Jerusalemer Talmud, Traktat Schebu’ot 9,1 (38d). Auf Tiberias würde passen, was August Tholuck, Commentar zum Evangelio Johannis, 5. umgearbeitete Aufl. 1837, 77f. zu dieser Stelle schrieb: „Es gehört zur Oekonomie Gottes, daß der Welterlöser unter dem verachtetsten Volk, in der verachtetesten Provinz seines Landes, in der verachtetsten Stadt dieser Provinz auftritt.“ Vgl. Josephus, Vita 65f.
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Die grundlegenden Baumaßnahmen werden in die Jahre 17–22 n. Chr. datiert28 − also in die Jugendjahre Jesu, den seine Mitbürger in der Heimatstadt nach Mk 6,3 als Handwerker kannten. Tiberias ist nicht die einzige Städte-Umgründung der Dynastie des Herodes. Häufig überliefern die einschlägigen Quellen den früheren Namen der betreffenden Ortschaft oder Stadt. Aus „Stratonsturm“ wurde Caesarea am Meer,29 aus Samaria Sebaste30, aus Paneas Caesarea Philippi31. Nicht so im Falle von Tiberias. Hieß die ältere Stadt (deren Gräberfeld überbaut wurde) vielleicht Gennesaret, weil der danach genannte See später „See von Tiberias“ genannt wurde?32 In Mt 14,34 par. Mk 6,53 ist Gennesaret zweifellos der Name eines Ortes am Ufer des Sees, bei dem Jesus mit seinen Jüngern an Land ging. Eine rabbinische Quelle erwähnt einen Rabbi „Jonathan b. Charscha aus Genezaret“ (Isch Ginnosar).33 Jürgen Zangenberg ist der Frage nachgegangen, wo das antike Gennesaret gelegen haben könnte.34 Er kommt u. a. zu dem Schluss, dass „zur Zeit der Rabbinen … keine Ortschaft mit diesem Namen (mehr) existiert hat“…35 Aber sie erinnerten sich an diesen Ortsnamen und wussten nur nicht mehr genau, wo er zu lokalisieren war. Nach GenR 98 (62c) hat R, Jehuda b. Simon gesagt: „Es ist Sennabris.“36 Dieses Sennabris lokalisiert Josephus in Bell 3,447 „30 Stadien (= ca. 3 km) von Tiberias“. In die gleiche Richtung weisen Angaben aus der Zeit der Kreuzfahrer.37 28
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So Kügerl, Johannes, Art. Tiberias, in: Neues Bibel-Lexikon, hrsg. von Görg, Manfred u. Lang, Bernhard, Düsseldorf 2001, III (2001) 846. Vgl. Josephus, Bell I,80.156; Ant 15,293 Vgl. Josephus, Ant 15,292. Vgl. Josephus Bell 2,168. Siehe oben! Nach Billerbeck I (1926) 537 TBB 5,6 (595) (in einem Atemzug mit Theudas aus Rom!). Zangenberg, Jürgen, Wo liegt das neutestamentliche Gennesaret? Exegetisch-landeskundlicher Ausflug ans Nordwestufer des „Galiläischen Meeres“, in: Freundesgabe zum 70sten Geburtstag von Prof. Dr. Wilfried Eckey, Wuppertal 2000, 90–104. Vgl. ebd. 97. Vgl. Billerbeck I (1926) 184. Vgl. Zangenberg (s. o. Anm. 34) 98: „In der Beschreibung De situ urbis Jerusalem aus dem Jahr 1130 ist nach der Erwähnung des stagnum Genezareth zu lesen: „Miliario secundo a Genezaret Magdalum, a quo Maria Magdalena (…). Secundo miliaro a Magdalo Cynereth civitas quae est Tiberias (Baldi, Enchiridion, 263 Nr. 371; vgl. Nr. 372 Johannes von Würzburg 1165 und Nr. 373 Theoderich 1172). Offensichtlich setzte man also Cynereth mit Tiberias gleich und vermochte seit dem frühen 12. Jahrhundert … von einem eigenständigen Ort namens Genezareth zu berichten.“ In Anm. 23 (S. 102) heißt es dann: „(I)n der von Röhricht, Karten veröffentlichten florentiner Karte der Zeit um 1300 ist Genezaret mit Tiberias identifiziert und mit eine Stadtvignette versehen …“ Eine Faltkarte, die dem Reisebericht des Bernhard von Breydenbach beigegeben ist, bildet am Rande des „Mare galileee vel mare Tiberiadis“ einige Gebäude ab, denen die Worte „genezaret“ und „Thiberias“ beigegeben sind; vgl. Berhard von Breydenbach Die Reise ins Heilige Land. Ein Reisebericht aus dem Jahre 1483 mit 17 Holzschnitten, 5 Faltkarten und 6 Textseiten in Faksimile, Übertragung und Nachwort von Elisabeth Geck, Wiesbaden 1977.
Tiberias
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Oder hieß die Stadt mit dem Gräberfeld, auf dem Antipas Bauten errichten ließ, am Ende Nazaret? Die gelegentlich mit einem Fragezeichen versehene Bezeichnung Nazarets als einer pólis in Mt 2,23; Lk 1,26; 2,3; 4,29 wäre dann als zutreffend rehabilitiert.38 Der Name „Gennesaret“ ist ja eine Zusammensetzung aus „gan“ (Garten, wie in Gan Eden) und nesaret. (Die Umschriften hebräischer Namen durch griechische Buchstaben variieren erheblich!) Angesichts der Bedeutung, die dieser Ortsname in der christlichen Überlieferung bekommen hat, ist es denkbar, dass er bei jüdischen Autoren später mit einem Tabu belegt oder jedenfalls als ein pudendum lieber verschwiegen wurde. Umgekehrt konnte in der Frühzeit der Stadt Tiberias die Benennung nach einem Kaiser bei frommen Juden anstößig gewesen sein.39 Aus ähnlichen Gründen stieß die Umbenennung der Stadt Samaria in Sebaste (nach Sebastos ≈ Augustus) auf Abneigung, weshalb noch in Apg 8,5 nach den besseren Textzeugen von „der Stadt Samaria“ die Rede ist.40 Die ungewöhnlich distanzierte Haltung der Mehrheit der Bewohner von Nazaret gegenüber dem Auftreten Jesu könnte mit der von Josephus kritisch kommentierten Zusammensetzung der dortigen Stadtbevölkerung zusammenhängen.41 Dass der ursprüngliche Name der von Herodes Antipas ausgebauten und umbenannten Stadt spurlos verloren gegangen sei, wäre ein ungelöstes Rätsel. Hat Josephus den Namen womöglich bewusst vermieden, weil er im Beinamen Jesu weiterlebt? Vielleicht wird vor diesem Hintergrund auch das notorische Rätsel von Mt 4,12f. lösbar. Nach seiner Taufe durch Johannes in der Wüste am Jordan, die nach Matthäus mit einer Geistbegabung und einer himmlischen Stimme verbunden war (Mt 3,13–17), zog sich Jesus in die Wüste zurück und widerstand dort allen Versuchungen des Satans (Mt 4,1–11). Warum „verließ“ er dann bei seiner Rückkehr seine Heimatstadt Nazaret und wählte Kapharnaum als neuen Wohnsitz? War dort etwas schiefgelaufen und wird nicht erzählt? Das katalipôn in V. 13 lässt sich nicht im Sinne eines Reiseweges (beiseitelassen oder ähnlich) auf das heutige Nazaret beziehen, weil dieses nicht auf dem Weg von der Taufgegend am Jordan nach Kapharnaum lag. Das Verbum kataleípō kann hier aber auch im 38
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Dass Jesus durch Beinamen wie Nazarener oder Nazoraíos identifiziert wurde, lässt darauf schließen, dass der Ortsname Nazaret in der Öffentlichkeit hinreichend bekannt war, was bei einem kleinen Dorf im Gebirge nicht ohne Weiteres angenommen werden kann. Im Neuen Testament wird die Stadt selbst nur einmal (in Joh 6,23) unter diesem Namen erwähnt, indirekt daneben zweimal in dem Ausdruck „See von Tiberias“ (Joh 6,1; 21,1) – anstelle von „See Gennesaret“ (Lk 5,1). Martin Hengel plädiert allerdings in Der Historiker Lukas und die Geographie Palästinas in der Apostelgeschichte, in: ZDPV 99 (1983) 147–183, hier 177, für die Übersetzung: „Er ging hinab in die (Haupt)stadt Samariens.“ und beruft sich dafür (unter Hinweis auf Josephus) darauf, „daß der Name Sebaste den alten Stadtnamen ganz rasch verdrängte“ (S. 178). Mit Interesse lese ich in dem Buch Palästina in der Antike, hrsg. von Ariel Lewin (Mit Beiträgen von William H. C. Propp und Leah Di Segni. Fotos von Dinu, Sandu und Radu Mendrea,), Stuttgart 2004, 76: „Mitte des 4. Jahrhunderts scheiterte ein Versuch, das Christentum in Tiberias heimisch zu machen:“
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Sinne von „aufgeben“ gemeint sein. Ein Bruch mit Nazaret würde zum Image Nazarets in Joh 1,46 passen.42 So verstanden ist Mt 4,12f. ein Pendant zu Lk 4,16– 31, wenn nicht gar eine Erklärung für die dort zur Sprache kommende Konkurrenz zwischen Nazareth und Kapharnaum. Alles in allem: Könnte es nicht sein, dass die neutestamentlichen Bezugnahmen auf Nazaret sich auf eine Stadt (!) am Westufer des Sees Gennesaret beziehen?43 An einem für Steinigungen geeigneten Berghang (Lk 4,29) hätte es beim antiken Tiberias jedenfalls nicht gefehlt!44 Ich brauche an dieser Stelle nicht auszuführen, dass diese Annahme für den Bildungsstand eines dort aufgewachsenen jungen Mannes bedeutsam wäre. Dass Jesus seine immense Kenntnis der Hebräischen Bibel in einem abgelegenen galiläischen Dorf erworben haben könnte, ist zu bezweifeln. In neueren Forschungen wird ihm auch zunehmend eine (begrenzte) Kenntnis der griechischen Sprache zugeschrieben, die man nur im Umgang mit entsprechenden Kontaktpersonen erwerben konnte.45 Auch das in Mt 2,13–15.19 erwähnte Exil der Familie Jesu in Ägypten ist ohne Griechisch-Kenntnisse kaum vorstellbar. Anklänge an gemein-antike Sprichwörter46 sind nach einer Jugend in einem Milieu am See Gennesaret leichter erklärbar als bei einem Zögling aus einem Dorf im Bergland.47 42
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Vgl. Schröter, Jens, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig, 6. vollst. überarb. u. aktualis. Auflage 2017, 89 über Nazaret: „In der Jesusüberlieferung spielt dieser Ort … nur eine untergeordnete Rolle … Das geringe Interesse der frühen Überlieferung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Jesus sich, als er öffentlich aufzutreten begann, von seinem Heimatort und seiner Familie trennte.“ Vgl. unten zu Mt 4,12f.! Rainer Riesner, Art. Nazaret, in NBL II 1995, 909–912, 910 schätzt die Einwohnerzahl in neutestamentlicher Zeit auf 200–500 Personen und erwähnt dabei das ungelöste Problem der Bezeichnung als Polis in Mt 2,23; Lk 1,26; 2,4; 2,39; 4,29. Vgl. Fortner, Sandra, Tiberias – eine Stadt zu Ehren des Kaisers, in: Fassbeck, Gabriele, Fortner, Sandra, Andrea Rottlof, Andrea, Zangenberg, Jürgen (Hrsg.), Leben am See Gennesaret. Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region, Mainz 2003, 86– 92, hier 86: „Das antike Tiberias lag südlich der kreuzfahrerzeitlichen und heutigen Stadt und erstreckte sich zwischen dem Westufer des Sees und dem Höhenzug des Berges Berenike im Westen … Dieser … bildete einen wichtigen Bestandteil des Stadtgebiets.“ Von einem Dolmetscher ist im Verhör durch Pilatus an keiner Stelle die Rede. Vgl. u. a. Carlston, Charles E., Proverbs, Maxims, and the Historical Jesus, in: JBL 99 (1980) 87–105; Ehrhardt, Arnold A., Greek Proverbs in the Gospels, in: HThR 46 (1953) 59–77 ; S. J. Noorda, S. J., “Cure yourself, doctor!” (Luke 4,23). Classical Parallels to an Alleged Saying of Jesus, in : BETL 32 (1981) 459–467 ; Cuany, Monique, “Physician, Heal Yourself!” – Jesus’ Challenge to His Own : A Re-examination of the Offense of Nazareth in Light of Ancient Parallels (Luke 4 :22–30), in : NT 58 (2016) 347–368. – Nach meiner Überzeugung (vgl. Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet, Neukirchen-Vluyn 2010, 83f.) hat Jesus in Lk 17,21 die Metapher des „trojanischen Pferdes“ auf seine Rolle im Vorfeld der kommenden Königsherrschaft Gottes angewandt. Vgl. die Verwendung dieser Metapher durch Cicero, Pro Murena 78: „Intus, intus est equus Troianus.“ (Er meint damit die drohende Machtergreifung durch die Catilinarier innerhalb der Stadt.) Vgl. Frankemölle, Hubert, Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.), Stuttgart 2006, 89: „Wie
Lk 17,11
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Diese und andere Überlegungen zur Relevanz einer Lokalisierung von Nazaret in oder bei Tiberias sind jedoch kein Grund für meine dahingehende Vermutung. Entscheidend ist der in Joh 1,45f. vorausgesetzte schlechte Ruf Nazarets. Dass eine Infragestellung des heutigen Nazaret als Heimatstadt Jesu an einer Jahrhunderte alten Tradition rüttelt und für Einheimische und Israelreisende verstörend wirken muss, ist mir bewusst.48 Könnte es sein, dass die Familie Jesu aus der Stadt Nazaret, von der sich Jesus losgesagt hatte, in ein abgelegenes Dorf umgezogen ist und den Namen der Stadt mitgenommen hat?
2.
Zwischen Galiläa und Samaria? (Lk 17,11)
Die Notiz in Lk 17,11 über den Reiseweg Jesu nach Jerusalem hat schon manche Abschreiber irritiert, woraus ein schwieriger textkritischer Befund entstand. Hans Conzelmann schrieb dazu: „Ob man übersetzt: „mitten durch“ (Samarien und Galiläa) oder „zwischen … durch“ (Samarien und Galiläa), – es bleibt seltsam, daß Samaria vorangestellt ist.“49 Seine Erklärung lautet: „Das ganze Land scheint von Übersee her gesehen zu sein. Lukas … scheint sich Galiläa landeinwärts, aber an Judäa stoßend, vorzustellen, Samaria aber nördlich von Judäa.“50 Dass ein „zwischen durch“ (wie es der Mehrheitstext bietet) ursprünglich sein könnte, liegt nach der Abweisung in einem samaritanischen Dorf (vgl. Lk 9,51–56) nahe, obwohl dort nicht von einem Verlassen Samarias die Rede ist. Aber konnte man überhaupt „zwischen Samaria und Galiläa hindurch“ reisen? Ja, nach der Karte über “Palästina zur Zeit des Neuen Testaments“ im Nestle-Aland musste man sogar durch eine „Weder-noch-Zone“ reisen, deren östlicher Teil zur Dekapolis,
48
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50
stand es in seleukidischer und römischer Zeit um den Einfluss des Hellenismus in Nazaret? Nazaret lag idyllisch abgelegen in einem Seitental der Berge Galiläas, 343 m ü. d. M., oberhalb der Jesreel-Ebene, nur 5 km von Sepphoris … entfernt … 5 bis 10 km sind für uns heute keine nennenswerte Entfernung. Früher bedeuteten sie jedoch eine erkennbare Distanz. Aus eigener Erfahrung …in den 50er Jahren … kann ich bestätigen, wie kultur- und kommunikationstrennend selbst 6–10 km Entfernung zum Nachbarort waren … Bedenkt man die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten … in der Antike, kann weder der ländlich geprägte Charakter der Verkündigung Jesu in seiner ersten Phase überraschen noch darf man die kulturelle und religiöse Welt von Sepphoris auf Nazaret übertragen.“ Darum publiziere ich sie nicht als separaten Artikel für eine breite Öffentlichkeit, womöglich mit reißerischer Überschrift, sondern stelle sie für ein Fachpublikum zur Diskussion. Vgl. Conzelmann, Hans, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen (1954).3. überarbeitete Auflage 1960, 61; Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Lukas, Göttingen 1982, 177: „Die geographische Angabe ist völlig unklar.“ Vgl. ebd. S. 62. Das könnte eine Subsummierung von Peräa unter „Galiläa“ voraussetzen, weil beides von Antipas regiert wurde.
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nämlich zum Stadtgebiet von Skythopolis (früher Bet-Scheȃn) gehörte.51 Dass Jesus nach Lukas diese östliche Route wählte, geht daraus hervor, dass er nach Lk 18,35 in die Nähe von Jericho kam und nach Lk 19,5–9 in Jericho übernachtete. Lukas wird das einzig Sinnvolle gemeint haben, egal ob das auf einem Teil der Handschriften beruht oder eine Konjektur ist.
3.
Ein Judäa in der Diaspora? (Apg 2,9)
Der lukanische Bericht über die erste Erfahrung „heiliger Begeisterung“ in der Jerusalemer Gemeinde spricht davon, dass das Loben Gottes (vgl. V.11) in einer Vielzahl von Sprachen oder Dialekten (V.6) erfolgt sei – zum Erstaunen der versammelten Diasporajuden. Die Aufzählung der verschiedenen Herkunftsländer in V.9–11 beruht natürlich nicht auf einer Anwesenheitsliste vor Ort, sondern auf einer Vorlage aus anderem historischen Anlass.52 Irritierend ist, dass Judäa in dieser Liste in V. 9 zwischen Mesopotamien (im heutigen Iraq) und Kappodozien (in Kleinasien östlich von Lykaonien) erwähnt wird. Bei Tertullian und z. T. Augustinus wird stattdessen an dieser Stelle Armenien genannt, bei Euseb z. T. Syrien.53 Für den Fall, dass es sich um einen Abschreibfehler handelt, könnte eine Verwechslung zwischen IOUDAIA und INDIA stattgefunden haben. Im Buch Esther (8,9) gehört Indien zu den persischen Provinzen, an die ein Erlass des Königs verschickt wurde, der allen Juden in seinem Reich erlaubte, sich gegen ihre Feinde zur Wehr zu setzen. Dabei ist die Verschiedenheit der Sprachen eigens erwähnt: „für jede einzelne Provinz in ihrer eigenen Schrift und für jedes einzelne Volk in seiner eigenen Sprache, an die Juden in ihrer Schrift und Sprache“, was gut zu einer Erwähnung in der Liste der Sprachgebiete in Apg 2,9 passen würde. In Apg 15, 21 scheint Jakobus jüdische Gemeinden in jeder Stadt der Welt vorauszusetzen. Die Voraussetzungen dazu könnten durch den schon in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. blühenden Handel zwischen Rom und Indien gegeben gewesen sein.54 Indien kommt in Frage als „das Ende der Erde“ (Apg1,8).55 Eben 51
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Rengstorf, Karl Heinrich, Das Evangelium nach Lukas übersetzt und erklärt (Göttingen 1937),181 plädierte für die (westliche) Jesreel-Ebene. Görg, Manfred, Apg 2,9–11in außerbiblischer Sicht, in: BN 1 (1976) 15–18, vermutet eine Quelle über das persische Großreich. Vgl. Nestle-Aland im Apparat zur Stelle. Martin Dibelius, Der Text der Apostelgeschichte, in: Aufsätze zur Apostelgeschichte, 4. Aufl. 1961, 76–83, hier 82, vermutet, dass hier ursprünglich Galatian (oder Gallian) zu lesen war. Vgl. Heimberg, Ursula, Gewürze, Weihrauch, Seide. Welthandel in der Antike, Waiblingen 1981, 30–34. Vgl. Apuleius, Florida 6 (vgl. Stern, Menahem, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Edited with Introductions, Translations and Commentary, Jerusalem 1980 II S. 204f. )
Apg 2,9 und 8,37
83
deshalb wäre eine Erwähnung innerhalb der Liste zwischen Mesopotamien und Kappadozien seltsam. Wenn man ohne diese oder eine andere Konjektur anstelle von IOUDAIA auskommen möchte, kommt noch eine andere Erklärung in Frage: ein Verständnis als Adjektiv! Könnten die Leute von einem „jüdischen Mesopotamien“ gesprochen haben? Gab es damals so etwas? Ja, durchaus! Unter dem Partherkönig Artabanes III. (ca. 12 – 38 n. Chr.) hatten zwei jüdische Brüder namens Asinaios und Anilaios in „Mesopotamien“ (und hier vor allem in „Babylonien“) eine jüdische Miliz gebildet, die der König aus innenpolitischen Gründen anerkannte.56 In Ant 18,339 schreibt Josephus über Asinaios: „Er genoss Ansehen und Einfluss, und alle Angelegenheiten Mesopotamiens wurden ihm übertragen, und fünfzehn Jahre lang wurde das Glück der beiden immer größer.“ Nach deren Tod kam es jedoch zu verlustreichen Pogromen und Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung von dort (vgl. Ant. 18,371–379). In den dreißiger Jahren des 1. Jh. (und nur damals - zur Zeit der Handlung von Apg 2) konnte man die jüdische Diaspora in Babylonien also sehr wohl als die bezeichnen, „die das jüdische Mesopotamien bewohnen“.
4.
Ein Mann aus Äthiopien? (Apg 8,37)
Seit den 70er Jahren kommt der Minister der Königin Kandake in der Lutherbibel nicht mehr aus dem klangvollen „Mohrenland“, sondern aus „Äthiopien“. Da weiß man wenigstens, wo man im Atlas nachschauen muss. Und wir Älteren denken dabei an den Kaiser Haile Selassie (was „Kraft der Dreieinigkeit“ bedeutet), der angeblich von Salomo abstammte und 1954 als erstes ausländisches Staatsoberhaupt die Bundesrepublik besuchte. Fehlanzeige! Lukas gebraucht hier keinen Ländernamen, sondern (zweimal) die Personenbeschreibung Aethiops, was „dunkelhäutig“ oder „sonnenverbrannt“ bedeutet.57 In anderen Worten: Es geht um den ersten „Schwarzen“, von dessen Taufe berichtet wird, lange vor den ersten Germanen!
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Vgl. Josephus, Ant 18, 310–370. Zur Frage der Zuverlässigkeit der Nachrichten des Josephus über Ereignisse in Babylonien und zu den Gründen der Duldung dieser informellen Selbstverwaltung der Juden vgl. Colpe, Carsten, Die Arsakiden bei Josephus, in: JosephusStudien. Untersuchungen zu Josephus, dem antiken Judentum und dem Neuen Testament. Otto Michel zum 70. Geburtstag gewidmet, hrsg. von Otto Betz, Klaus Haacker und Martin Hengel, Göttingen 1974, 97–108, hier 105f. Die katholische Einheitsübersetzung hält sich genauer an den Grundtext, der gar keinen Ländernamen enthält, übersetzt aber auch mit „Äthiopier“. In meinem Kommentar (S. 166) hatte ich versehentlich der Luther-Revision von 2017 den Verzicht auf die Wortwahl „Äthiopien“ zugeschrieben.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
In geographischer Hinsicht ist seit Langem geklärt, dass er aus einem Staat südlich der römischen Provinz Ägypten kam und dorthin zurückreiste. Es handelt sich um ein Gebiet, dem der Begriff Nubien entspricht, in etwa dem heutigen „Nordsudan“ entsprechend. Uns interessiert, welche Vorstellung davon Lukas bei seinen Adressaten voraussetzt und was ihm daran wichtig ist. Gebildete dürften über dieses Land Einiges gewusst haben, seitdem Nero eine Expedition in dieses Gebiet gesandt hatte, die mit genauen Entfernungsangaben nach Hause kam.58 Weiter verbreitet können Vorstellungen von den Aithiopen gewesen sein, die auf Homer (Ilias I 423–424; XXIII 205–207) zurückgehen. Dort wird ihnen ein Wohnsitz nahe am Okeanos (also am Rand der bewohnten Erdscheibe) und eine Nähe zu den Göttern zugeschrieben. Herodot unterscheidet zwischen Aithiopen am Ostrand der Erde und denen am Südrand der Erde (d. h. südlich von Ägypten oder „Lybien“, was bei Herodot unserem „Afrika“ entspricht59). Bei der Lektüre von Apg 8,26ff. konnten Leute mit Schulbildung an Herodot III 114 erinnert werden, wo es heißt: „Im Südwesten ist Aithiopien das äußerste Land der bewohnten Erde (chôrē eschátē tōn oikeoménōn).“ Wir können daraus lernen: Die als Auftrag gemeinte Ankündigung des Auferstandenen aus Apg 1,8 („Ihr werdet meine Zeugen sein … bis an das Ende der Erde“) ist nicht der Auftakt zu einer von Lukas angeblich vorausgesagten „Parusieverzögerung“, sondern formuliert ein Programm, das nach dem verbreiteten Weltbild der Mittelmeer-Anrainer60 theoretisch in einigen Jahrzehnten erfüllbar war.
5.
Groß- oder Kleingalatien? (Apg 16,6–8)
Wer Anfang der 80er Jahre eine Neuauflage der Bibel oder des griechischen Neuen Testaments kaufte und sich besonders für die Reisen des Paulus interessierte, könnte über eine Landkarte im Anhang gestutzt haben: Die zweite Missionsreise des Paulus führte den Apostel in Kleinasien neuerdings viel weiter nach Nordosten, in die Nähe von Ankyra (heute Ankara) und erst von dort gradlinig westwärts nach Mysien und zur Hafenstadt Troas. Diese Neuerung signalisiert einen Stimmungswandel in einer Streitfrage der Paulusforschung, was die Ad58 59 60
Vgl. Plinius der Ältere, Naturgeschichte 6, 183–192.; Seneca, Nat. Quaest. 6,8,3–8. Vgl. Herodot III 17,1. Vgl. Bichler, Reinhold, Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte. Mit Beilagen von Dieter Feil und Wido Sieberer, Berlin 2001, Teil I Die Länder und Völker am Rande der Welt (S. 15–60); ferner Schaefer, Christoph, Die Zukunft Israels bei Lukas. Biblisch-frühjüdische Zukunftsvorstellungen im lukanischen Doppelwerk im Vergleich zu Röm 9–11, Berlin 2012 S. 194: „Der Äthiopier kommt – wie die Königin von Saba – vom Ende der Erde (vgl. Lk 11,31).“
Groß- oder Kleingalatien? (Apg 16,6–8)
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ressaten des Galaterbrief betrifft: Paulus redet sie in Gal 3,1 an mit: „Ihr unvernünftigen Galater!“ Die Bezeichnung „Galater“ war das griechische Äquivalent zu lateinisch Celtae, deutsch Kelten. Im 3. Jh. v. Chr. waren einige kriegerische Stämme dieser Herkunft in Kleinasien eingedrungen und nach einigen Kämpfen in der dünn besiedelten Mitte Kleinasiens sesshaft geworden. Die sogenannte „nordgalatische Theorie“ nimmt an, dass Paulus in diese Gegend gekommen ist und dort Gemeinden gegründet hat. Die „südgalatische“ Alternative zu dieser Annahme ergibt sich daraus, dass diese Kelten im 1. Jh. v. Chr. ihre politische Herrschaft weit nach Süden ausdehnen konnten. Bei der politischen Neuordnung des östlichen Mittelmeerraumes durch Pompeius wurde daraus zunächst ein Vasallenstaat, um 25. v. Chr. die römische Provinz „Galatien“.61 Zu ihr gehörten die Städte, in denen Paulus in der zweiten Hälfte der 40er Jahre auf der Missionsreise zusammen mit Barnabas Gemeinden gegründet hatte (vgl. Apg 13–14), die er auf seiner zweiten Reise stabilisieren wollt (vgl. Apg 15,36). In demographischer Hinsicht waren das v. a. Leute jüdischer oder phrygischer oder lykaonischer Herkunft. Als zusammenfassende Anrede kam dafür „Galater“ in Frage. Dem entsprechend war in früheren Bibel-Landkarten die zweite Reise des Paulus durch Kleinasien durch eine (z. T. gestrichelte) Linie von Südosten nach Nordwesten (durch Phrygien und Mysien nach Troas) eingezeichnet. Wie kam es zur Konkurrenz zweier Galatien-Theorien und welche Entscheidungen wurden bei der Interpretation der Quellen getroffen? Unbestrittener Ausgangspunkt der Kontroverse ist die Aussage in Apg 16,6, dass dem PaulusTeam das Missionieren in der Provinz Asien vom heiligen Geist verboten worden sei. Der neben Rudolf Bultmann vielleicht einflussreichste deutsche Neutestamentler Martin Dibelius gibt den Vorgang wie folgt wieder:62 „Dann wird erzählt, es sei ihm vom heiligen Geist gewehrt worden, nach der Westküste Kleinasiens zu gehen (d. h. auf der großen Straße durch das Lykostal in die kleinasiatischen Griechen Städte Ephesus, Smyrna, Pergamon). Infolgedessen zieht er mit seinen Gefährten durch Phrygien und das galatische Land und will nach der Nordküste Kleinasiens, Bithynien gelangen“
Diese Wiedergabe liest an entscheidender Stelle etwas in den Text hinein, das nicht im griechischen Text steht. Dort ist nämlich nicht von einem Reiseverbot, sondern nur von einem Predigtverbot die Rede! Die Fortsetzung lautet: „Wieder heißt es: ‘Der Geist Jesu ließ es nicht zu.‘ So bleibt ihnen nur der Ausweg, in Nordwest-Richtung über Mysien nach Troas zu gehen.“
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Vgl. die Landkarten in: Marek, Christian (Unter Mitarbeit von Peter Frei), Geschichte Kleinasiens in der Antike, München 2010, zwischen S. 464 und 465. Ihr Gebiet reichte bis zur Südküste bei Antalia. Vgl. Dibelius, Martin, Der erste christliche Historiker (1948), in: Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrsg. von Heinrich Greeven, Göttingen 1951, 108–119, hier 113.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
Leider hat Dibelius hier in seiner Wiedergabe der Apostelgeschichte die Landschaft Mysien „verschoben“: Lukas lokalisiert nach V.7 den Versuch, nach Bithynien zu reisen, in oder bei Mysien: „Als sie dann nach Mysien kamen (oder: durch Mysien zogen“), versuchten sie nach Bithynien zu reisen.“
Mysien war nach allen einschlägigen Atlanten ein Gebiet an oder nahe der Westküste Kleinasiens, nördlich von Lydien63, im Nordosten an Bithynien und im Nordwesten an die Landschaft Troas angrenzend.64 In politischer Hinsicht war es das Kernland des expansiven Königreichs von Pergamon gewesen, das Attalos III. im Jahr 133 v. Chr. testamentarisch den Römern vermachte, so dass es zum Kern der Provinz Asia wurde.65 Mysien grenzte im Osten nicht an das Siedlungsgebiet keltischer Stämme oder an die Westgrenze der Provinz Galatien. Dazwischen lagen auch Gebirgszüge, weshalb hier keine Straßen in Ost-Westrichtung verliefen.66 Wenn die Paulusgruppe auf dieser Reise Mysien betraten oder auch nur berührten, dann hatten sie die Provinz Galatien längst verlassen und die Provinz Asia betreten!67 Haben sie damit das Veto des Geistes missachtet? Oder war Letzteres nur ein Predigtverbot und gar kein Einreiseverbot? Warum sollen sie dann in das Gebiet der Kelten gezogen sein (in dem für diese Zeit keine jüdischen Gemeinden nachgewiesen sind, bei denen Paulus sonst nach Möglichkeit Fuß zu fassen suchte68)? Falls die Paulusgruppe das ethnische Galatien betreten hätte und danach die Absicht gehabt, nach Bithynien weiterzuziehen, dann hätte es direkte Straßen nach Bithynien gegeben, z. B. von Ankyra nach Nikaia.69 Ein im Ganzen plausibler Reiseweg ergibt sich nur dann, wenn das erste Veto des Geistes kein Reiseverbot war, sondern nur die Missionstätigkeit betraf (womöglich erst nach der Einreise in die Asia).70 Dann bot sich im Norden Bithynien (seit 74 63
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Vgl. Calder, W. M. and Bean, G. E., A Classical Map of Asia Minor, London 1958; Knaurs großer historischer Weltatlas, ed. Geoffrey Barraclough, München/Zürich 1979; Historischer Weltatlas ed. Walter Leisering (Berlin 1979) 27. Vgl. u. a. Leisering, Walter, (Hrsg.), Historischer Weltatlas, Wiesbaden 2004, 27. Vgl. Marek (s. o. Anm. 59) passim, v. a. 320–329; E. Schwertheim, E., Art. Mysia, in: Der neue Pauly 8, Stuttgart/Weimar 2000, 608–610. Josephus spricht in Bell. 1,425 von „Pergamon in Mysien“ (tó katá Mysían Pergamon). In Witte, Anne-Maria u. a., Historischer Atlas der antiken Welt, Stuttgart 2012, 197 (Straßen und Wege im Imperium Romanum) ist zwischen dem Siedlungsgebiet der Galater und Mysien keine Straße in Ost-West-Richtung eingezeichnet. Darauf hatte schon Otto Bauernfeind z. St. S. 206 hingewiesen. Vgl. Breytenbach, Cilliers, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13f; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes, Leiden 1996, 145f. Vgl. Pekáry, Th., „Kleinasien unter römischer Herrschaft,“ in ANRW I, 7, 2 (1980) 59–657, zwischen S. 600 and 601; Mitchell, Stephen, Population and Land in Roman Galatia, in: ANRW II, 7, 2 (1980) 1053–1081, zwischen S. 1056 and 1057. Eine bloße Durchreise unter Beachtung eines Predigtverbotes behauptet Codex Bezae (D) auch in Apg 17,15 für Thessalien.
Philippi
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v. Chr. römische Provinz) als Alternative an.71 Erst hierzu berichtet Lukas von einem Einreiseverbot!72 Das Paulusteam kann also vom „pisidischen“ Antiochia zunächst der Via Sebaste in Richtung Ephesus gefolgt sein, von der man zur Straße nach Sardes wechseln konnte. Anschließend konnte man über Thyatira in Richtung Bithynien reisen. Von Pergamon führten mehrere Routen nach Bithynien.73 Fazit: Die Darstellung der „zweiten Missionsreise“ des Paulus in den meisten biblischen Landkarten ist, was die Durchquerung Kleinasiens betrifft, dringend revisionsbedürftig.74 Das gleiche gilt von Auslegungen des Galaterbriefes, die ohne jede Kenntnis der Gemeindegründungen auskommen müssen. Diese sind zu einer späteren Datierung des Briefes gezwungen und auf Spekulationen angewiesen, was das Auftreten von Paulusgegnern in Nordgalatien betrifft. Näher liegt es, die auf der ersten Missionsreise gegründeten Gemeinden als Adressaten anzunehmen, was dann eine frühere Datierung des Galaterbriefes ermöglicht als auf der Basis der Nordgalatien-Theorie (aber nicht fordert).
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Philippi – das Tor zu Europa?
In der ersten Auflage der Einheitsübersetzung (1979) liest man zu Apg 16,6–10 die Fußnote: „Der Abschnitt schildert einen Vorgang von weltgeschichtlicher Bedeutung: Das Evangelium gelangt nach Europa.“75 Gustav Stählin wählte in der Überschrift zu seiner Kommentierung (S. 215) die bescheideneren Worte „das
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Mitchell, Stephen, Anatolia. Land, Men, and Gods in Asia Minor, Oxford 1993, Vol. II, The Rise of the Church, 3 “There is virtually nothing to be said for the North Galatian theory. There is no evidence in Acts or any non-testamentary source that Paul ever evangelized the region of Ancyra and Pessinus … It is hardly conceivable that the [Galatiké chóra] mentioned here is the region of north Galatia, which lay some 200 kilometres as the crow flies northeast of any natural route between Lystra and the region of Mysia.” Vgl. Overbeck, Franz, Kurze Erklärung der Apostelgeschichte von W. M. L. de Wette, 4. Aufl. bearbeitet und stark erweitert, Leipzig 1870, 254: „Nachdem die Reisenden von Galatien durch das dazwischen liegende Phrygien nach Asien, d. h. Asia procons. … gekommen waren, wurden sie vom Geiste … verhindert daselbst zu predigen. Als sie nun an der nördlichen Grenze von As. proc. gegen Mysien hin gekommen, machten sie den Versuch nordwärts nach Bithynien zu gehen, aber auch davon wurden sie durch den Geist abgehalten.“ Vgl. Witte (s. o. Anm. 64) 197: (Straßen und Wege im Imperium Romanum). Zwischen Nordgalatien und Mysien ist hier keine Ost-West-Verbindung eingezeichnet. Ich hatte während der Revision der Lutherbibel gegenüber der Deutschen Bibelgesellschaft dringend auf diesen Revisionsbedarf hingewiesen – leider vergeblich. Die revidierte Einheitsübersetzung (2017) verzichtet auf diese Fußnote.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
erste Kapitel der europäischen Kirchengeschichte“. Pathetischer äußerte sich Hermann Wolfgang Beyer76 zu V.9: „Hier … hat er nun das Traumgesicht, das alle bisher auf dieser Reise erschauten zur Erfüllung bringt und dem Paulus bestätigt, was ihn innerlich wahrscheinlich schon seit langem beschäftigt hat: das nächste große Ziel müsse für ihn der Übergang nach Europa sein. Diese Erkenntnis im Herzen des vom Traumschlaf Erwachenden bedeutet eine Wende von ungeahnter Größe für die Geschichte des Christentums, aber auch für die Geschichte der Welt.“77
Gegen diese Deutung spricht nicht nur das Fehlen der Vokabel „Europa“ im ganzen Neuen Testament, sondern vor allem die Tatsache, dass auch der geographische Gegenbegriff „Asien“ nirgends vorkommt, weil Asia immer die römische Provinz im Westteil Kleinasiens meint.78 Dass Philippi trotzdem für Lukas besondere Bedeutung hat, geht daraus hervor, dass er der Stadt eine herausragende Bedeutung innerhalb der Provinz Mazedonien zuschreibt.79 Als Grund dieser Berühmtheit darf angenommen werden, dass mit der Schlacht bei Philippi 42 v. Chr. der Versuch einer Wiederherstellung der römischen Republik endgültig gescheitert war. Zur (allmählichen) Etablierung des Kaisertums fehlte nur noch der Sieg des jungen Caesar Octavianus80 (später „Augustus“) über Marcus Antonius. Geschichtsträchtig ist die Gründung der Gemeinde in Philippi in einer Hinsicht: durch den ersten Zusammenprall christlicher Mission mit einem selbstbewussten Römertum – aber noch nicht mit dem Feindbild „Christentum“, sondern aus der Wahrnehmung der Gegner als Konflikt zwischen „Römertum und Judentum“ (vgl. Apg 16,20).
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Die Apostelgeschichte, Göttingen 1951, 99. Berechtige Kritik an diesem Pathos äußerte Gerhard Jankowski, Das Evangelium kommt nach Europa. Anmerkungen zu Apostelgeschichte 16,6–13, in: Texte und Kontexte 11, Nr. 42 (1989) 31–38, hier 31f. Vgl. Apg 2,9; (6,9;) 16,6; 19, (1.)10.22.26.27; 20, (4.) 16.18; 21,27; 24,19; 27,2; Röm 16,5; 1 Kor 16,19; 2 Kor 1,8; 2 Tim 1,15; 1 Petr 1,1; Offb 1,4. Der Zusatz „die Provinz“ in unseren Übersetzungen dient der Vermeidung von Missverständnissen. Diese Hervorhebung ist in den Handschriften merkwürdig uneinheitlich formuliert. Der heutige „Standardtext“ (Nestle-Aland) entscheidet sich (singulär?) für einen Wortlaut, den keine griechische Handschrift bietet, nämlich für eine Rückübersetzung aus einer Vulgata-Lesart (!), die man eigentlich als Konjektur kenntlich machen müsste. Diesen Beinamen „geb. Octavius“ hat Augustus nie geführt.
Malta
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Melítē nicht Malta? (Apg 28,1)81
Für den Sommer 2019 bot die Firma Biblische Reisen GmbH eine Reise „auf den Spuren des Apostels Paulus“ zu der westgriechischen Insel Kefalonia an. Im Begleittext dazu hieß es: „1987 identifizierte … Heinz Warnecke in seiner Dissertation … die Insel Melite, bekannt aus der Apostelgeschichte, als die Insel Kefalonia und widerlegte mit zahlreichen … Argumenten die etablierte Malta-Theorie. Die ‚Kefalonia-Theorie‘, der zufolge Paulus während seiner Romreise vor Kefalonia Schiffbruch erlitt, eroberte daraufhin die neutestamentliche Wissenschaft.“ Man wüsste gern, welcher Fachkundige der Firma den letzten Satz eingeflüstert hatte. Ich habe damals die Firma vor etwaigen Schadenersatzansprüchen enttäuschter Kunden gewarnt. Für den Bildungsstand der Kundschaft spricht die Auskunft in einem Antwortschreiben an mich: „Beide Kefalonia-Reisetermine wurden übrigens mangels Teilnehmer – leider – abgesagt.“ Unbestreitbar ist, dass die Monographie von Heinz Warnecke auf der Kenntnis einiger antiker Quellen und Teilen der Sekundärliteratur beruht und Erfahrungen mit den Wind- und Wetterverhältnissen auf dem Mittelmeer erkennen lässt. In den Vorarbeiten für das Buch wurde er von dem Neutestamentler und erfahrenen Segler Alfred Suhl unterstützt (und beeinflusst).82 Warnecke beginnt seine Abhandlung mit einer Infragestellung der bisherigen Lokalisierungen des Hafens Phönix, der nach Apg 27,12 als das Wunschziel für die Überwinterung der Reisegesellschaft genannt wird. Sie plädieren für einen Ort an der westlichen Südküste Kretas. Das passt nicht zu der Angabe des Lukas, dass es sich um einen Hafen handelt, „der nach Südwesten und Nordwesten offen ist“. Damit hat Warnecke recht!83 Als Alternative schlägt er aber in der Fortsetzung vor, dass der Ausdruck „ein Hafen Kretas“ einen Hafen bezeichne, von dem aus man nach Kreta 81
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Warnecke, Heinz, Die tatsächliche Romfahrt des Apostels Paulus, Stuttgart 1987; Wehnert, Jürgen, Gestrandet. Zu einer neuen These über den Schiffbruch des Apostels Paulus auf dem Wege nach Rom (Apg 27–28), in: ZThK 87 (1990) 67–99; Schwank, Benedikt, Also doch Malta? Spurensuche auf Kefalonia, in: BiKi 45,1 (1990) 43–46; Suhl, Alfred, Bemerkungen zum Streit über die Romfahrt des Paulus, in: ZThK 88,1 (1991) 1–21; Wehnert, Jürgen, „… und da erfuhren wir, daß die Insel Kephallenia heißt“. Zur neuesten Auslegung von Apg 27–28 und ihrer Methode, in: ZThK 88,2 (1991) 169–180; Rapske, Brian M., Acts, Travel and Shipwreck, in: Gill, David W. J. / Gempf, Conrad (Ed.), The Book of Acts in its GraecoRoman Setting, Grand Rapids / Carlisle 1994, 1–47; Seul, Peter, Rettung für alle. Die Romreise des Paulus nach Apg 27,1 – 28,16, Berlin 2003; Börsighaus, Jens, Sturmfahrt und Schiffbruch: zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1 – 28,6, Tübingen 2010; Reiser, Marius, „Und er wurde vor ihren Augen verwandelt“. Fiktion und Wahrheit in neutestamentlichen Geschichtserzählungen, Freiburg etc. 2021, hier S. 192–247: Von Caesarea nach Malta. Vgl. dessen Geleitwort S. 13f. Vgl. S. 23f. Anschließend führt W. noch aus, dass die dortigen Wetterverhältnisse für eine Überwinterung ungeeignet wären.
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Geographische Probleme im lukanischen Werk
fahren konnte.84 Als Konkretion dieses Gedankens bietet er einen Hafen Phoinikus an der Südspitze der Peloponnes an.85 Auf diese Weise „verifiziert“ er den Vorschlag Alfred Suhls86, nach dem „das Paulus-Schiff in ein nördlich von Kreta vorüberziehendes Sturmtief geriet“. Stattdessen hätte er sich darüber wundern können, dass die Bezeichnung eines Hafens mit „Phönix“ (oder ähnlich) in der Antike offenbar beliebt war.87 Claus-Jürgen Thornton plädierte für ein Phönix auf der griechischen Insel Kythera.88 Thukydides (VIII 34) erwähnt ein Phoinikus an der Westküste Kleinasiens. An der Südküste der Türkei gibt es heute einen Ort namens Finike, über den zu lesen ist, dass „der Name der Stadt vom griechischen Phoinix, Dattelpalme, kommen soll“.89 Jetzt verstehen wir den riskanten Mehrheitsbeschluss von Apg 27,11f.: Ein Hafen mit Dattelpalmen – da könnte man gut überwintern!90 Als Lokalisierung habe ich in meinem Kommentar (S. 410) für einen Hafen an einer Küste in Nord-Süd-Richtung plädiert, der „nach Südwesten und Nordwesten offen“ sein konnte. Als angestrebtes Ziel schlage ich das antike Kommos nördlich von Matala vor, das damals eine ca. 350 m. ins Meer ragende Landzunge besaß.91 Auf der Fahrt entlang dieser Küste in Richtung Norden konnte dann, wie berichtet, ein Nordoststurm von den Bergen der Insel herab das Schiff erfassen und nach Westen ins offene Meer treiben.92 Gegen die traditionelle Gleichsetzung von Melite mit Malta argumentiert Warnecke auf S. 69–74 mit Auskünften über die Bedeutungsbreite des Namens „Adria“ in der Antike. Unstrittig ist, dass dieser Name ursprünglich nur den nördlichen Teil des heute als „Adria“ bezeichneten Meeres bezeichnete. Warnecke spricht auf S. 74 von einer „mißbräuchlichen Erweiterung des Begriffs Adria“, die aber „auf das Jonische Meer und den Osten des Sizilischen Meeres beschränkt“ blieb. Nach Pausanias (V 25,3) ist jedoch die Straße von Messina die 84 85 86 87 88
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Für diese Deutung des Genitivs nennt er aber keinen antiken Beleg. Vgl. S. 29. Vgl. S. 13. Darum die Näherbestimmung: „ein Phönix von Kreta“! Vgl. Thornton, Claus-Jürgen, Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen, Tübingen 1991, 334. Vgl. Neumeister, Werner / Amode, Martin, Traumstraßen durch die Türkei, München 1985, 85. Auch das (schon von den Römern so bezeichnete) „Palma“ auf Mallorca gehört in diese Reihe von Hafenstädten. Nach Mühlenkamp, Christine, Art. Palme, in: RAC 26 (2015) 831– 848, hier 832, liebt die Dattelpalme salzhaltigen Boden. Das erklärt ihre Verbreitung an Küsten (und in der Nähe des Toten Meeres). Vgl. Nollé, Margret Karola, Kreta in Flugbildern von Georg Gerster, Mainz 2009, 58: Kommos. Kretas Tor nach Ägypten, mit Abb. 20 auf der gegenüber liegenden Seite. Von der Landzunge ist heute nur noch die Felsspitze vorhanden, weil der Meeresspiegel seit der Antike um mehr als 2 m gestiegen ist. Vgl. V.14–16 und dazu White, R. W., A Meteorological Appraisal of Acts 27:5–26, in: Expository Times 113 (2002), 403–407.
Malta
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Grenze zwischen der Adria und dem „Tyrsenischen“ Meer (nördlich von Sizilien). Prokop (Vandalenkrieg“ I 14,16) lokalisiert Malta zwischen dem Adriatischen und dem Tyrrhenischen Meer. Er berichtete auch darüber, dass ein von Kephalonia mit dem Ziel Sizilien abgefahrenes byzantinisches Schiff von einem Sturm erfasst und von der Strömung nach Malta abgetrieben worden sei (vgl. Gotenkrieg III 40). Diese unfreiwillige Sturmfahrt aus dem Jonischen Meer nach Malta hat vielleicht eine literarische Parallele in einem Erlebnis des Odysseus und seiner Gefährten, – wenn Homers „Insel des Aiolos“ mit Malta zu identifizieren ist.93 Im Übrigen: Wenn ein Mitreisender in Apg 27,27 davon spricht, dass „wir schon die vierzehnte Nacht auf der Adria trieben“, dann hatte er keine Meereskarte vorliegen und kein Gerät zur Standortbestimmung zur Hand (das noch erfunden werden musste!). Was die Ankunft der Schiffbrüchigen auf Malta betrifft, wo sie den Namen der Insel erfahren, liefert die Rede von dortigen „barbaroi“ in Apg 28,2.4 einen Anhaltspunkt, der schwer auf Anwohner der westgriechischen Küste zu beziehen ist; auch nicht in einem übertragenen, abwertenden Sinne. Als ein Indiz für eine Insel (oder Halbinsel) vor der griechischen Küste wertet Warnecke (S. 118– 119) die Erwähnung der Göttin Dike, die nach Meinung der Einheimischen im Begriff war, Paulus doch noch für irgendeine Untat mit dem Tode zu bestrafen, wo er gerade vor dem Ertrinken gerettet worden war (V. 3.4). Von einer Göttin ist hier im Griechischen aber nicht die Rede (darum ist díkē im Nestle-Aland auch nicht großgeschrieben!). Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, nach dem ein Übeltäter früher oder später seine gerechte Strafe erlebt, musste keineswegs in einer Gottheit personifiziert werden.94 Diese Beispiele mögen genügen, um von weiteren Kefalonia-Reisen „auf den Spuren des Paulus“ abzuraten. Zum Reisebericht in Apg 27 im Ganzen hat Marius Reiser einen Vergleich mit anderen antiken Seereiseberichten vorgelegt, der dessen Einstufung als „romanhaft“ und darum fiktional überzeugend zurückweist.95
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So Wolf, Armin und Hans-Helmut, Die wirkliche Reise des Odysseus. Zur Rekonstruktion des Homerischen Weltbildes, von A. Wolf erweitert und neu bearbeitet, München / Wien 1990, 34–39 zu Homer, Od 10, 1–79, zum Sturmerlebnis 47–55. Merkmale dieser Insel nach Homer scheinen tatsächlich zu Malta zu passen. Der entsprechende Begriff Ma-at im Ägyptischen ist auch keine göttliche Person. Vgl. Assmann, Jan, Art. Ma’at, in: RGG4 (2004) V, 633–634. Vgl. Reiser (s. o. Anm. 79) 195: „In diesem Kapitel liegt uns der bei weitem genaueste und umfangreichste Bericht über eine Seereise aus der Antike vor.“ Ferner S. 209: „Die Darstellung in Apg 27 hat nichts Romanhaftes an sich; literarische Topoi aus der Tradition der Seesturm-Ekphrasis seit Homer fehlen völlig … Die viel gerühmte ‚Dramatik‘ des Berichts besteht in der genauen Beobachtung und einer sachlich knappen Darstellung, die in der überlieferten antiken Literatur ohne wirkliche Parallele dasteht.“
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission Dass die Reformation des 16. Jahrhunderts nicht nur ein geistlicher Aufbruch, sondern auch von einer „Bildungsoffensive“ getragen und begleitet war, ist unter „Gebildeten“ bekannt. Aber welchen Stellenwert hatte die Bildung im Urchristentum? Spielten Bildungsfaktoren bei der frühen Ausbreitung des christlichen Glaubens eine nennenswerte Rolle? Zu dieser Frage soll im Folgenden das Neue Testament befragt werden.1
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Traditionelle Vorurteile – kritisch beleuchtet
Unsere Erwartungen bei diesem Vorhaben werden von vornherein gedämpft durch einige Textstellen, die auf eine geringe Bedeutung der Bildung in der Jesusbewegung schließen lassen. Eine verbreitete, auch in wissenschaftlichen Arbeiten vertretene Tradition betrachtet das Urchristentum als eine Bewegung der relativ ungebildeten Unterschicht.2 Diese Annahme gehörte zu den soziologischen Voraussetzung der klassischen Formgeschichte, nach der die Schriften des Urchristentums noch nicht „Literatur“, sondern nur „Kleinliteratur“ ohne schriftstellerischen Anspruch waren.3 Einen Beleg für diese Einstufung zumindest der frühen Jesusbewegung sah man in Apg 4,13, wonach Mitglieder des Synhedriums die Apostel Petrus und Johannes als agrámmatoi kai idiôtai erkannten. Das könnte bedeuten, dass die Apostel Analphabeten waren,4 kann sich aber auf 1
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Die Begrenztheit dieser Quellenbasis darf nicht verschwiegen werden: Wir wissen aus dem Neuen Testament nur etwas über die Ausbreitung des Christentums in nordwestlicher Richtung und damit im hellenistisch-römischen Kulturraum. Für Ägypten und Nordafrika kann noch mit ähnlichen Bedingungen gerechnet werden, nicht aber für die Ausbreitung nach Osten. Vgl. Stegemann, Ekkehard W. / Stegemann, Wolfgang, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart etc. 1995, S. 249f. über „ältere Forschungspositionen“. Besonders einflussreich war Deissmann, Adolf, Das Urchristentum und die unteren Schichten, Göttingen 2. Aufl. 1908. Vgl. Dibelius, Martin, Formgeschichte des Evangeliums, 5. Aufl. 1966, S. 2 und 5 in Anlehnung an Franz Overbeck. Vgl. Kraus, Thomas J.‚Uneducated’, ‚Ignorant’, or even ‚Illiterate’? Aspects and Background for an Understanding of [agrámmatoi] and [idiôtai ] in Acts 4.13, NTS 45 (1999) 434– 49. Kraus warnt aber davor, in den Text den sozialen Makel hineinzulesen, den Analphabetentum heute bei uns hat.
1 Kor 1,26
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eine bloß fehlerhafte Beherrschung der grammatischen Regeln beziehen.5 Im jüdischen Milieu der Urgemeinde könnte auch gemeint sein, dass die Apostel keine Schriftgelehrten waren.6 Wie hoch der Bildungsgrad galiläischer Fischer am See Gennesaret veranschlagt werden kann, ist heute eine offene Frage. Zweifellos meint die lukanische Erzählung einen Gegensatz zum Bildungsstand der Mitglieder des Synhedriums, vor dem sich die Apostel verantworten müssen. Aber dieses Defizit wird nach Apg 4,8 dadurch ausgeglichen, dass Petrus für seine Rede „von heiligem Geist erfüllt“ wird. Das entspricht dem programmatischen Wort des Auferstandenen in Apg 1,8: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, der über euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein …“ Die zweite klassische Belegstelle für die Platzierung des Urchristentums in der Unterschicht ist 1 Kor 1,26, wo Paulus die Christen in Korinth auffordert, ihre eigene soziale Schichtung zu betrachten,7 und selbst das Fazit ausspricht: „Nicht viele Weise nach dem Fleisch (d. h. in weltlichen Kategorien), nicht viele Einflussreiche, nicht viele Adlige.“ Das bedeutet zweifellos, dass die Mehrheit der Gemeindeglieder in Korinth nicht zur Elite der damaligen Gesellschaft gehörten. Aber was ist daran auffällig? Das Gegenteil wäre verwunderlich!8 Paulus unterstreicht nur, dass nicht nur diese Minderheit eine „erlesene Schar“ ist, sondern die ganze Gemeinde eine „Elite Gottes“ darstellt, nicht durch irdische Qualitäten, sondern als von Gott Erwählte. In soziologischer Hinsicht ist an 1 Kor 1,26 bedeutsam, dass es tatsächlich Gebildete in dieser Gemeinde gab - und dass sie eine Rolle spielten, die Paulus meinte etwas dämpfen zu müssen.9
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Vgl. Xenophon, Mem. IV 2,20. Mangelnde Torahkenntnis konnte im hier vorliegenden forensischen Kontext als mildernder Umstand gewertet werden. Vgl. Jeremias, Joachim, Untersuchungen zum Quellenproblem der Apostelgeschichte, ZNW 36 (1937), S. 205–221, sowie in: ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, S. 238–255, hier 242–247. Der Oberbegriff klêsis, der hier die drei Gruppenbezeichnungen (und ihre Negation) umfasst, kehrt in 1 Kor 7, 20 wieder als Oberbegriff für die Alternativen Jude oder Nichtjude, Sklave oder freier Bürger. Obwohl im Kontext von Gottes Rufen die Rede ist, scheint es doch ein Formalbegriff für eine Gruppenzugehörigkeit mit einem Statuscharakter zu sein. Ich vermute einen Latinismus in Anknüpfung an eine Spezialbedeutung von lat. classis (vgl. Cicero, Rep. IV 2,2: classes neben ordines). Vgl. Theißen, Gerd, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des Hellenistischen Urchristentums, ZNW 65 (1974) S. 232–272, und in ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19) Tübingen 1979, S. 231–271, hier 232–234; Sänger, Dieter, Pagane Bildungsinstitutionen und die Kommunikation des Evangeliums. Erwägungen zu einem Aspekt der paulinischen Verkündigung, in: W. Härle /B.M. Haese/K. Hansen u. E. Herms (Hrsg.), Systematisch praktisch. Festschrift für Reiner Preul zum 65. Geburtstag, Marburg 2005, 71–90, hier 83–85 Vgl. Tidball, Derek, An Introduction to the Sociology of the New Testament, Exeter 1983, 98–103: A Case Study: Corinth.
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Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
Das veranlasst den Apostel allerdings zu einer sehr grundsätzlichen Infragestellung weltlicher Weisheit. Er macht sie dafür verantwortlich, dass „die Griechen“ das Wort vom Kreuz ablehnen (vgl. 1 Kor 1,18–31). Darauf folgt eine Absage an rhetorische Kunst (1 Kor 2,1–5) – und damit an ein Unterrichtsfach, das im höheren Schulwesen der Antike breiten Raum einnahm.10 Ohne rhetorische Fähigkeiten war in der römischen Republik keine politische Laufbahn denkbar gewesen, und es fragt sich, wie eine Verbreitung neuer religiöser Lehren überhaupt auf das Handwerkszeug überzeugender Rede verzichten konnte. Vielleicht hat Paulus hier seine rhetorischen Fähigkeiten nur verleugnet und damit gerade einen rhetorischen Kunstgriff angewandt. In Ciceros Dialog De oratore (Über den Redner) bekennt sich ein hoch gebildeter Römer (Q. Lutatius Catulus) zu folgender Strategie (II 153): „Ich glaubte immer, auf unser Publikum wirke ein Redner sympathischer und überzeugender, der erstens möglichst wenig an Kunstfertigkeit und zweitens keinerlei griechische Bildung zu erkennen gebe.“11 Man bedenke: die Oberschicht der Stadt Korinth zur Abfassungszeit der Paulusbriefe bestand aus römischen Bürgern! Paulus stellt in der Fortsetzung der weltlichen Weisheit, die das Wort vom Kreuz nicht begreift, nicht einfach ein Defizit oder eine Bildungsaskese gegenüber, sondern den positiven Gegenbegriff der Weisheit Gottes, die den Glaubenden durch den Geist Gottes erschlossen wird (vgl. 1 Kor 2,6–16). Das ermöglicht ein „Wissen, was uns von Gott geschenkt ist“ (2,12). Das deutet auf einen Gegensatz der Inhalte, nicht aber auf ein Minus an intellektueller Fähigkeit oder Anstrengung. Die Mitglieder urchristlicher Gemeinden waren vielleicht „ungebildet“ in dem Sinne, dass sie dem paganen Bildungskanon der griechisch-römischen Welt (in dem bekanntlich die Homerlektüre eine große Bedeutung hatte) kritisch gegenüberstanden. Die Frage nach ihren intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten (und nach deren Erwerb, Pflege und Weitergabe) ist damit noch nicht beantwortet, sondern nur gestellt. Das „Zerrbild des Christentums als einer proletarischen Religion“ wurde nachweislich von Gegnern wie Celsus verbreitet, aber kann nicht als bare Münze betrachtet werden.12 10
11 12
Einen Verzicht auf eine bestimmte eindrucksvolle Rhetorik schreibt Philon von Alexandrien auch der von ihm gerühmten jüdischen Gruppe der Therapeuten zu; vgl. Vit. Cont. 75. Ähnliches findet sich ebenda in II 156. Vgl. später Quintilian, Inst. Or. IV 1,60. Vgl. Vogt, Joseph, Der Vorwurf der sozialen Niedrigkeit des frühen Christentums, in: Gymnasium 82 (Heft 5) Oktober 1975, 401–411, (Zitat von S. 403), 405: „Daß die christliche Mission von Anfang an den Weg auch in die mittleren Schichten der städtischen Bevölkerung und dann in den höchsten Gesellschaftsstand gesucht hat, ist auf der durch Harnack gegebenen Grundlage neuerdings durch E. A. Judge, H. Kreissig, W. Eck und andere klargestellt worden.“ Vgl. Grimm, Bernhard, Untersuchungen zur sozialen Stellung der frühen Christen in der römischen Gesellschaft, Bamberg 1975; Judge, Edwin A., The Social Identity of the First Christians: A Question of Method in Religious History, in: JRH 11 (1980) 201–217, sowie in Scholer, David M. (Ed.), Social Distinctives of the Christians in the First Century. Pivotal Essays by E. A. Judge, Peabody MA 2008, 117–135,
Zweisprachigkeit im Jüngerkreis
2.
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Missionare
2.1
Zweisprachigkeit im vorösterlichen Jüngerkreis Jesu?
95
In welchem Maße der vorösterliche Jüngerkreis Jesu bei der Ausbreitung des christlichen Glaubens aktiv wurde, ist ungewiss. Das Neue Testament bezeugt dies nur für Petrus (vgl. Apg 3–5 und 10f.), wobei Gal 2,7–9 nur von einer innerjüdischen Missionstätigkeit des Petrus spricht, was den Besuch des Petrus im Hause des Cornelius (vgl. Apg 10f.) als Ausnahme erscheinen lässt. Der in Apg 8 als Missionar auftretende Philippus wird allgemein nicht mit dem gleichnamigen Apostel, sondern mit dem zuvor in Apg 6,5 erwähnten Mitglied des Siebenerkreises identifiziert. Apokryphe Akten über eine Missionstätigkeit des Zwölferkreises stellen keine verlässlichen Quellen dar. Wir müssen uns also damit begnügen, dass bei galiläischen Jüngern Jesu eine gewisse Zweisprachigkeit vermutet werden kann, weil das dortige Wirtschaftsleben (je nach Beruf) eine Verständigung auf Griechisch notwendig machte.13 Ob daraus eine Beherrschung des Griechischen hervorging, die zu Gesprächen und Predigten über den Glauben befähigte, wird allgemein bezweifelt. Dass das auch für Petrus gilt, wird aus der Papias-Notiz über Markus als Dolmetscher des Petrus14 geschlossen; daher die Zweifel an der Echtheit der Petrusbriefe und am historischen Wert der geographischen Angaben in 1 Petr 1,1.15
2.2
Stephanus und die urchristlichen „Hellenisten“
Zweisprachigkeit ist dagegen bei den in Apg 6,1 erwähnten „Hellenisten“ in der Urgemeinde anzunehmen. Es dürfte sich um Diasporajuden aus dem Mittelmeerraum (nicht Mesopotamien) handeln, die das Griechische als Alltagssprache gebrauchten. Ihre Rückkehr nach Judäa wird aber eine gewisse Vertrautheit mit der dortigen Volkssprache Aramäisch entweder zur Voraussetzung oder zur Folge gehabt haben. Dieser Personenkreis wird bei der Verschriftung der Jesusüberlieferung auf Griechisch eine große Rolle gespielt und damit der urchristlichen Mission nachhaltig vorgearbeitet haben. Nach Apg 6,1–7 wurde aus diesem Teil der Gemeinde ein Gremium gebildet, das die Versorgung der Witwen effektiv und gerecht organisieren sollte, was eine gewisse Erfahrung in Buchhaltung 13
14 15
Vgl. Joh 12,20: „Griechische“ Festpilger, die eine Begegnung mit Jesus wünschen, wenden sich an den Jünger Philippus aus Bethsaida. Vgl. Euseb, Hist. III,39,15; vgl. Aland, Kurt, (Hrsg.), Synopsis quattuor Evangeliorum, S. 531. Vgl. Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 20055, 446.
96
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
und Gruppenleitung voraussetzt. Wenn als Qualifikation für diese Aufgabe in Apg 6,3 verlangt wird, die Kandidaten müssten „voll Geist und Weisheit“ sein, so kam es den Aposteln bei diesem Vorschlag sowohl auf die spirituelle Haltung als auch auf intellektuelle Fähigkeiten an. Der in Apg 6,2 erwähnte „Tischdienst“ wird zwar meistens auf die Austeilung von Mahlzeiten bezogen. Viel näher liegt es jedoch, an die Verwaltung und Verteilung von Geldern zu denken: Das griechische trápeza hatte die gleiche Doppelbedeutung wie unser Wort „Bank“: Möbelstück und Geldinstitut (so auch einmal im Neuen Testament: Lk 19,23). Unter diesen sieben Beauftragten16 wird Stephanus in V. 5 als besonders begabt hervorgehoben, und in V. 10ff erfahren wir, dass „Weisheit und Geist“ ihn in Disputationen mit anderen Juden haushoch überlegen machten, woraufhin die Unterlegenen sich durch Verleumdungen rächten (was dann zu seinem Martyrium führte).17 Vergleicht man die Rede, die Stephanus nach Apg 7 zu seiner Verteidigung gehalten hat, mit den Anklagepunkten, so erweist sie sich als eine äußerst geschickte „Narratio“, die durch ihre selektive Nacherzählung der Frühgeschichte Israels den Anklägern den Wind aus den Segeln nehmen und sie ins Unrecht setzen soll.18 Diese intellektuelle Meisterleistung steigert nach Apg 7,54ff den Hass der Gegner und lässt den Konflikt bis zum blutigen Ende eskalieren. Interessanterweise drohte dem Paulus aus ähnlichen Gründen das gleiche Schicksal, als er in Damaskus nach seiner Bekehrung sofort missionarisch in die Offensive ging und die Messianität Jesu zu beweisen suchte (vgl. Apg 9,22f.; ähnlich später in Jerusalem, vgl. V. 29). Diese beiden biblischen „Exempel“ lehren, dass erfolgreiche Mission nicht im „Sieg“ der Missionare besteht, bei dem die Adressaten der Verkündigung beschämt werden, sondern im Sieg Gottes!19 Nach dem Martyrium des Stephanus wird der Boden Jerusalems für die meisten Jesusjünger zu heiß, und sie fliehen in andere Städte, zunächst in Judäa und Samarien (Apg 8,1), dann weiter nach Phönizien, Zypern und nach Antiochia, der Hauptstadt Syriens (Apg 11,19). In diesem Zusammenhang erfahren wir, dass Jünger, die bereits aus der westlichen Diaspora stammten, also „Hellenisten“, mit großem Erfolg zur Mission unter Nichtjuden übergegangen seien (Apg 11,20f). Die Zweisprachigkeit und die Erfahrungen im Zusammenleben mit 16
17
18 19
Die Übersetzung mit „Diakone“ verleitet zu Missverständnissen auf der Linie dieser heutigen Berufsbezeichnung. Dieser Hergang ist psychologisch so plausibel („Frustrations-Aggressions-Hypothese“!), dass es befremdet, wie eine breite exegetische Tradition die Vorwürfe gegen Stephanus ganz oder teilweise für berechtigt hält; vgl. meine Studie Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. v. Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 1515–1552, hier 1544–1548. Vgl. ebd. 1533–1540 und unten S. 171–180 und 195f.197. Vgl. die Liedstrophe von Otto Riethmüller (1889–1939): „Du brauchst uns alle nicht zum Siegen und führst uns doch in deinen Krieg, dass wir an unsrer Kunst erliegen und leben nur von deinem Sieg.“ (Aus dem Lied „Wie sollen wir die Schlachten schlagen …“, u. a. in: Wachet auf! Liederbuch christlicher Jugend, Kassel-Wilhelmshöhe 1954, Nr. 183.
Apollos
97
Nichtjuden verringerten offenbar die innere Distanz zu diesen „Heiden“ und erlaubten eine vertrauensbildende Kommunikation, zu der konservativere Judenchristen weniger fähig oder willens waren (vgl. Apg 15,1.5).
2.3
Apollos von Alexandrien
Ein besonders hoher Bildungsgrad wird einem Juden namens Apollos aus Alexandrien zugeschrieben, der nach Apg 18,24–28 vorübergehend in Ephesus und Korinth wirkte. Er wird von Lukas als redegewandt (lógios) und „in den Schriften befähigt“ (dynatòs en taîs graphaîs) bezeichnet.20 Letzteres dürfte sich auf die heiligen Schriften Israels (unser „Altes Testament“) beziehen. Deren Auslegung wurde in Alexandrien auf hohem Niveau betrieben, wie die Schriften Philons von Alexandrien und (z. T. nur in Fragmenten erhalten) anderer Schriftsteller der dortigen Diaspora belegen. Brauchte er in Ephesus noch einen „christlichen Nachhilfeunterricht“ durch das Ehepaar Aquila und Priszilla (V. 25f.), so soll er anschließend in Korinth den Juden in öffentlicher Disputation durch Schriftauslegung bewiesen haben, dass Jesus der Messias sei (V. 28). Die Formulierung lässt offen, ob dies nur ein rhetorischer Sieg oder auch ein missionarischer Erfolg gewesen ist. Aus dem 1. Korintherbrief lässt sich nur entnehmen, dass Teile der christlichen Gemeinde von Korinth von Apollos begeistert waren, was zu der von Paulus kritisierten Fraktionsbildung in der dortigen Gemeinde beitrug (vgl. 1 Kor 1–4). Möglicherweise zielt die Kritik des Paulus an weltlicher (und „griechischer“) Weisheit in 1 Kor 1f. besonders auf das Bildungsideal dieser Kreise. Es ist ja fraglich, ob eine religionsphilosophische Auslegung des Alten Testaments, wie sie durch Philon für Alexandrien bezeugt wird, tatsächlich oder in den Augen des Paulus missionarisch fruchtbar sein konnte. Paulus selbst hat die von Philon eingesetzte allegorische Auslegung (im engeren Sinne) nicht angewandt.21
20
21
Zu dynatós und sein Gegensatz asthenês als Wertung eines Bildungsstandes vgl. die Verwendung in Röm 15,1; vgl. die Verwendung von robustior und firmior im Lateinischen (Seneca, De ira II 21,9; Ep Mr. 25,1; Quintilian, I 12,1: firmiores in litteris). Auch in Gal 4,21–31 liegt – trotz des Stichworts allēgoroúmena in V. 24 – keine Allegorie, sondern typologische Exegese vor.
98
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
2.4
Die jüdische und hellenistische Bildung des Apostels Paulus22
2.4.1
Zur jüdischen Bildung des Paulus23
Dass Paulus über eine profunde Kenntnis des Alten Testaments verfügte, lehren die zahlreichen Zitate und Anspielungen in seinen Briefen, besonders im Römerund Galaterbrief. Obwohl beide Briefe primär an Heidenchristen adressiert sind, spielt die schriftgelehrte Argumentation in ihnen eine große Rolle. Einschlägige Bildung war also mindestens zur Stabilisierung „junger“ Gemeinden wichtig, für ihre Gründung überall dort, wo Paulus zunächst in Synagogengemeinden Fuß zu fassen suchte, – was nach Apg 17,2 seine reguläre Praxis war. Letzteres war für ihn sicher keine bloße Strategie, sondern entsprach seiner jüdischen Sozialisation: In Phil 3,5 bekennt er sich zu seiner pharisäischen Herkunft (vgl. Apg 23,6; 26,5), und nach Apg 23,6 (pharisaîos … hyios pharisaíōn) waren auch seine Eltern oder gar Vorfahren Pharisäer.24 Der wöchentliche Besuch der Synagoge, die häufig auch der Ort eines Lehrhauses gewesen sein dürfte, muss ihm von Klein auf selbstverständlich gewesen sein. Eine darüber hinausgehende Schulung zum Schriftgelehrten (oft als „Theologiestudium“ oder Ausbildung zum Rabbi interpretiert) wird (seit Hieronymus, De viris illustribus 5) oft aus der Angabe in Apg 22,3 erschlossen, wonach der junge Paulus „zu Füßen des Gamaliel streng nach dem väterlichen Gesetz erzogen“ worden sei. Dabei wird jedoch das Partizip pepaideuménos zu Unrecht mit der Vorstellung einer gelehrten Ausbildung befrachtet.25 Dass Gamaliel (sc. der Ältere) in Apg 5,34 (in Übereinstimmung mit rabbinischen Nachrichten) als hoch angesehener Torahlehrer bezeichnet wird26, schließt nicht aus, dass er beruflich für die schulische Bildung junger Juden tätig war. Nach rabbinischer Überlieferung (bSota 49b; BQ 83a) soll sein Enkel Gamaliel II. je 500 Kindern Torahunterricht und hellenistische Bildung vermittelt haben.27 22
23
24
25
26
27
Vgl. aus neuerer Zeit Hock, Ronald F., Paul and Greco-Roman Education, in: Sampley, J. Paul (Hrsg.), Paul in the Greco-Roman World, Harrisburg / London / New York 2003, 198– 227; Vegge, Tor, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, Berlin / New York 2006. Zum Folgenden vgl. mein Buch Paulus. Der Werdegang eines Apostels, Stuttgart 1997, 45–59 oder dessen Überarbeitung Paulus, der Apostel. Wie er wurde, was er war, Stuttgart 2008, 37– 40 (auf der Basis meines Beitrags Zum Werdegang des Apostels Paulus. Biographische Daten und ihre theologische Relevanz in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. von Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 815–938 und 1924–1933. Im Gegensatz zu Josephus, der sich erst im Interesse einer politischen Laufbahn den Pharisäern anschloss; vgl. Vit. 12. Vgl. Burchard, Christoph, Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, Göttingen 1970, 32f. Vgl. Neusner, Jacob, The Rabbinic Traditions about the Pharisees before 70 (3 Bde.), Leiden 1971, I S. 373. Vgl. Hengel, Martin, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 71.
Paulus
99
In die Selbstaussage in Gal 1,14, wonach Paulus „vielen Altersgenossen voraus war“, wird oft hineingelesen, dass er sich intellektuell gegenüber Mitschülern ausgezeichnet habe.28 Das Verbum prokóptein (Fortschritte machen) ist auch tatsächlich in solchen Kontexten belegt (vgl. etwa Josephus, Vit 8f.), aber keineswegs in sich ein Beleg für schulische Vorgänge.29 Der hier vorliegende Rückblick des Apostels auf die Zeit vor seiner Berufung spricht mit keinem Wort von kognitiven Leistungen; vielmehr erinnert Paulus in V. 13 an seine einstige Verfolgerrolle, und das „Eifern für die väterlichen Überlieferungen“ (V.14) entspricht der Nennung des „Eifers“ (zêlos) als Motiv des Verfolgens in Phil 3,6 (vgl. zēlōtês in Apg 22,3 als Rückverweis auf Apg 21,27–31).30 Nicht durch herausragenden Lerneifer, sondern durch seinen (gewaltbereiten) Einsatz für die Erhaltung jüdischer Identität war der junge Paulus seinen Altersgenossen (oder gar seiner Generation) voraus. Aber schon die Selbstbezeichnung als Pharisäer impliziert eine ständige Beschäftigung mit der Torah und damit eine Einübung in genaue Lektüre und exegetische Argumentation.
2.4.2
Zur hellenistischen Bildung des Paulus
Auszugehen ist zunächst vom Zeugnis der Briefe, nach denen Paulus „das Griechische zwar eigenwillig, aber doch zugleich … meisterhaft beherrscht“.31 Nichts deutet darauf hin, dass er dabei auf „Assistenten“ angewiesen war (wie Josephus in Ap I 50 für seine Person freimütig einräumt). Umstritten ist nur die Frage, ob Paulus diese Sprachkompetenz während seiner Erziehung in Jerusalem oder schon vorher in seiner Geburtsstadt Tarsus – oder erst nach seiner Bekehrung wiederum dort erworben hat (vgl. Apg 9,30; 11,25). Unstrittig sollte jedoch sein, dass die einzige Quelle, die den Paulus überhaupt in Tarsus geboren sein lässt (Apg 21,39; 22,3; 23,34), seine gesamte Sozialisation in Jerusalem lokalisiert (Apg 22,3).32 Auch Apg 26,4f. spricht von einem Aufwachsen in einem jüdischen Milieu 28 29
30
31
32
So z. B. Vegge (s. o. Anm. 22), 465.468.485. Vgl. im N. T. 2 Tim 2,16 ; 3,13 ; Weiteres bei Spicq, Ceslas, Notes de Lexicographie NéoTestamentaire, Göttingen 1978, II 752–755. Vgl. Haacker 1997 (s. o. Anm. 23) 78–97 zur religiösen Tradition, in die sich Paulus damit hineinstellt. So Hengel, Martin, Der vorchristliche Paulus, in: Martin Hengel und Ulrich Heckel (Hrsg.), Paulus und das antike Judentum, Tübingen 1992, 177–291, hier 233. Das gilt unabhängig von der Frage, ob Apg 22,3 zwei Phasen der Erziehung unterscheidet (so van Unnik, Willem Cornelis, Tarsus or Jerusalem. The City of Paul’s Youth, London 1962, 17–45, unter Hinweis auf ein verbreitetes dreigliedriges biographisches Schema: Geburt – frühkindliche Erziehung – schulische Bildung) oder die beiden Partizipien anatethramménos und pepaideuménos hier wie in manchen anderen Texten zusammenfassend den ganzen Erziehungsverlauf umfassen; für Letzteres plädiert du Toit, Andrie B., A Tale of Two Cities: ‚Tarsus or Jerusalem’ Revisited, NTS 46 (2000) 375–402, hier 378–383 (= ders. Focusing on Paul. Persuasion and Theological Design in Romans and Galatians, ed. by C. Breytenbach, Cilliers and du Toit, David S. [BZNW 151], Berlin / New York 2007, 3–33, hier
100
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
und nennt dabei eigens Jerusalem. Dazu passt die Selbstbezeichnung als „Hebräer von Hebräern“ in Phil 3,5, die in der Regel (unter Hinweis auf den Gegenbegriff „Hellenisten“ Apg 6,1) dahingehend gedeutet wird, dass Paulus die Sprache des jüdischen Mutterlandes (Aramäisch) von Kind auf beherrschte. Anderseits diskutierte der neu bekehrte Paulus nach Apg 9,29 in Jerusalem mit hellenistischen Juden. Es führt wohl kein plausibler Weg daran vorbei, Paulus als einen außergewöhnlichen „Zweisprachler“ einzustufen, der auch darum zu einem „auserwählten Werkzeug“ der Missio Dei werden konnte (vgl. Apg 9,15). Genau genommen könnte man ihn sogar als polyglott bezeichnen: Mindestens das biblische Hebräisch war ihm geläufig, wahrscheinlich auch das mischnische, und darüber hinaus spricht Einiges dafür, dass er als römischer Bürger Lateinkenntnisse besaß, die ihm bei der Mission in vorzugsweise römisch geprägten Städten zugutekamen. (Claudius soll in seiner Eigenschaft als Censor einem angesehenen Griechen wegen fehlender Lateinkenntnisse das römische Bürgerrecht aberkannt haben.33) Vielleicht hat der Apostel auch derartige biographische Vorgaben im Blick, wenn er sich in Gal 1,15 überzeugt zeigt, dass Gott ihn „von Mutterleibe an“ zu seinem späteren missionarischen Dienst „ausgesondert“, also besondere Wege geführt habe. Dass dann seine Berufung ihn speziell zum Evangelisten der Nichtjuden bestimmt hat (ebd. V. 16; nach Apg 22,17–21 gegen seine eigenen Vorstellungen), könnte ihn motiviert haben, seine sprachliche und kulturelle Kompetenz für die Mission in einem hellenistischen Milieu noch einmal gezielt weiterzuentwickeln. Der Aufenthalt in Tarsus zwischen den Ereignissen von Apg 9,30 und 11,25, dessen Dauer unbestimmt bleibt, lässt dafür Raum und könnte unter anderem diesem Ziel gedient haben.34 Dass unsere Quellen nichts darüber berichten, darf niemanden verwundern: sie hielten nur besonders frühe Bildungserfolge für erwähnenswert (vgl. Lk 2,41–52; Josephus, Vit 8f). Was die kommunikativen Fähigkeiten des Apostels betrifft, hat die Paulusforschung der letzten 30 Jahre eine Welle von Untersuchungen zur Rhetorik der Paulusbriefe hervorgebracht, die trotz einiger Meinungsverschiedenheiten keinen Zweifel daran lassen, dass Paulus mit rhetorischen Strategien vertraut war und sie anzuwenden wusste.35 Ob dies auf einen förmlichen Rhetorik-Unterricht
33
34
35
6–11). Das relativiert dann die ansonsten brisante Frage, welchem der beiden Partizipien die Angabe “zu Füßen des Gamaliel” zuzuordnen ist (vgl. ebd. 383–385 bzw. 11–14). Vgl. Sueton, Vit. Caes., Claudius 16: „Einen angesehenen Mann, der in der Provinz Griechenland eine führende Rolle spielte, aber nicht lateinisch konnte, strich er nicht nur aus der Richterliste, sondern nahm ihm auch das Bürgerrecht; jedermann musste nämlich persönlich, so gut er es konnte, ohne Beistand Rechenschaft über seine Lebensführung ablegen.“ (Übs. A. Lambert) Auch das Erlernen seines Handwerks als Zeltmacher (vgl. Apg 18,2) könnte – als Basis für eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit – in diese Zeit fallen. Aus der Fülle an Sekundärliteratur seien genannt: Betz, Hans Dieter, The Literary Composition and Function of Paul’s Letter to the Galatians, NTS 21 (1975) 353–379; Siegert, Folker, Argumentation bei Paulus: gezeigt an Röm 9–11, Tübingen 1985; Classen, Carl Joachim, Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82 (1991) 1–33; Porter, Stanley E., / Olbricht,
Paulus
101
zurückgehen muss, wie er zur „höheren Schulbildung“ der griechisch-römischen Welt gehörte36, ist umstritten.37 Gegen eine solche Annahme könnte man sich auf 2 Kor 11,6 berufen, wo Paulus sich als idiôtēs tō lógō bezeichnet, was man mit „rhetorischer Laie“ (also Autodidakt) übersetzen kann. Aber erstens könnte Paulus hier ein abfälliges Urteil seiner Gegner in Korinth aufgreifen (vgl. 1 Kor 10,10)38, das wir in Anführungszeichen setzen müssten und dessen Wahrheitsgehalt dahingestellt bleibt. Wichtiger ist die Tatsache, dass ein Herunterspielen der eigenen rhetorischen Kunst (vgl. 1 Kor 2,4) gerade zu einer nur scheinbar unrhetorischen Tradition gehört, die auf die Auseinandersetzung des Sokrates mit der Sophistik zurückgeht und besonders von den Kynikern weitergeführt wurde.39 Wenn Paulus diese Tradition aufnimmt, dann ist das ein bemerkenswertes Anzeichen seiner philosophischen Bildung. Als biographischer Ort für das Erlernen rhetorischer Fähigkeiten kommt nicht nur Tarsus in Frage: Judäa war über 300 Jahre nach Alexander d. Gr. hinreichend hellenisiert, um an diesem Kulturgut teilzuhaben.40 Davon abgesehen gehörte ein reflektierter, an der Wirkung orientierter Umgang mit mündlicher Rede schon zum alttestamentlichen und altorientalischen Erbe des frühen Judentums, auch wenn es dort noch nicht zu einer ausgefeilten Systematik mit einschlägigen Fachausdrücken gekommen war.41 Darüber hinaus ist bei dem Apostel, der um den fragmentarischen Charakter nicht nur des kindlichen Erkennens, sondern auch der Erkenntnis Erwachsener weiß (vgl. 1 Kor 13,9–12),
36 37
38 39
40
41
Thomas H., (Hrsg.), Rhetoric and the New Testament. Essays from the 1992 Heidelberg Conference (JSNT.SS 90) Sheffield 1993; Watson, Duane F., Rhetorical Criticism of the Pauline Epistles since 1975, in: Currents in Research. Biblical Studies 3 (1995) 219–248; Porter, Stanley E., / Stamps, Denis L., (Hrsg.), The Rhetorical Interpretation of Scripture. Essays from the 1996 Malibu Conference, Sheffield 1999; Anderson, David R., Ancient rhetorical theory and Paul, Leuven 1998; Kremendahl, Dieter, Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief, Freiburg (Schweiz) 2000; Vos, Johan S., Die Kunst der Argumentation bei Paulus. Studien zur antiken Rhetoric, Tübingen 2002. Vgl. Hommel, Hildebrecht, Art. Rhetorik, in: LAW III (1990) Sp. 2611–2626, hier 2621f. Nach Classen, Carl Joachim, Rhetorical Criticism of the New Testament, Tübingen 2000, 29–44, verwendet Paulus eine Reihe von rhetorischen Fachausdrücken in bemerkenswerter Übereinstimmung mit paganen Autoren. Vgl. Wolff, Christian, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, Berlin 1989, 218. Vgl. Betz, Hans Dieter, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition. Eine exegetische Untersuchung zu seiner „Apologie“ 2 Korinther 10–13, Tübingen 1972, 59–66. Vgl. Hengel, Martin, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., Tübingen 1969; knapper ders., Die Begegnung von Judentum und Hellenismus im Palästina der vorchristlichen Zeit, in: Verborum Veritas. Festschrift für Gustav Stählin zum 70. Geburtstag, hrsg. von O. Böcher und K. Haacker, Wuppertal 1970, 329–348. Vgl. Wuellner, Wilhelm H., Der vorchristliche Paulus und die Rhetorik, in: S. Lauer / H. Ernst, Tempelkult und Tempelzerstörung (70 n. Chr.). Festschrift für Clemens Thoma zum 60. Geburtstag, Bern etc. 1995, 133–165.
102
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
mit einem lebenslangen Lernen zu rechnen, für das er aus seiner Umwelt viele Impulse aufnehmen konnte. Rhetorische Fähigkeiten wurden in der Antike nicht nur in schulischen Übungen erworben, sondern auch durch das „Lernen am Modell“ beim Hören gehaltener Reden. Wer weiß, ob Paulus in Ephesus im Lehrsaal des Tyrannus (vgl. Apg 19,9) nicht auch andere als seine eigenen Vorträge gehört hat? Eine weitere Ebene, auf der Bildungsfaktoren zu missionarischer Kompetenz beitragen, ist das Wissen um die Kultur der jeweiligen Zielgruppen oder (traditionell gesagt) „Missionsfelder“. Viele Beobachtungen, die man in der Vergangenheit vorzugsweise auf der Linie „religionsgeschichtlicher Einflüsse“ auf das Neue Testament verbuchte, rufen nach einer Neubewertung unter der Fragestellung „kontextuelle Theologie“. Hat Paulus Kenntnisse von Kultur und Religion seiner Missionsgebiete gezielt eingesetzt, um Anknüpfungspunkte zu nutzen, populäre Schlagwörter aufzugreifen und vertraute Denkformen für die Verkündigung des Evangeliums in Dienst zu nehmen? In meinem Buch über die Theologie des Römerbriefs42 habe ich inhaltliche Besonderheiten des Römerbriefs als Indiz dafür gedeutet, dass Paulus bei der Abfassung dieses Briefes ein Konzept dafür entwickelt, wie die Verkündigung des Evangeliums im römischen Milieu akzentuiert werden könnte. Dafür spricht unter anderem die Dominanz der Wortfelder „Frieden, Versöhnung, Eintracht“43 sowie „Gerechtigkeit“44, die im Selbstverständnis der römischen Gesellschaft (und der damit operierenden staatlichen Propaganda) eine große Rolle spielten. Zum pessimistischen Gesamturteil über den moralischen Zustand der Menschheit finden sich frappierende Parallelen bei Seneca, und die zugespitzte These von Röm 7,7–11, wonach Gebote zum Tun des Verbotenen reizen (für Paulus durch Gen 3 biblisch begründet), deckt sich mit Aussagen bei römischen Autoren wie Cicero (Pro M. Tullio 9; Pro domo sua 49.127), Publilius Syrus (N 7), Ovid (Amores II 19,3 u. ö.) und Seneca (De clementia I 23,1). Sogar die Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25 könnte ungeachtet ihres alttestamentlich-frühjüdischen Hintergrundes gleichzeitig auf römische Traditionen vom Opfertod für das Volk anspielen.45 Solche Zugriffe auf die 42
43
44
45
The Theology of Paul’s Letter to the Romans, Cambridge 2003, 113–134, sowie in meinen Studien One Gospel – Different People – Manifold Preaching: Paul’s Missionary Strategy, in: Missionalia 33 (2005) 249–262, und Den Römern ein Römer. Paulus als Pionier der Kontextualisierung, in: ThBeitr 46 (2015) 122–138. Dazu vgl. auch meine Studie Der Römerbrief als Friedensmemorandum in: NTS 36 (1990) 25– 41, sowie in meinem Buch Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Wuppertal / Neukirchen-Vluyn 2002, 111–126. Vgl. Schellong, Dieter, Paulus und das Gesetz nach dem Römerbrief, JBTh 6, 1991, 69–87, hier 74: „Die durchgehende Betonung der Gerechtigkeit in einer reichen Palette von Worten des Stammes dikaio- ist Eigenart des Römerbriefes und nicht der gängige paulinische Sprachstil … Dieser Befund verlangt nach einer Erklärung.“ Ich denke hier an die so genannte devotio von Heerführern vor einer Schlacht, wie sie vor allem drei Mitgliedern der Familie der Decier nachgesagt wurde. Vgl. Winkler, Klaus, Art. Devotio A. Nichtchristlich, RAC III Sp. 849–858.
Paulus
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aktuelle Mentalität und das kulturelle Gedächtnis eines „Missionsfeldes“ setzen ein keineswegs selbstverständliches Wissen voraus, über das Paulus offenbar verfügte. Vor diesem Hintergrund, der sich durch neuere Studien zum „Lokalkolorit“ anderer Paulusbriefe verbreitern ließe, ist das Bild, das Lukas in Apg 17 vom Auftreten des Paulus in Athen zeichnet, in der Sache keineswegs so abwegig, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft hingestellt wurde. Die berühmte Rede auf dem Areshügel greift vor den Intellektuellen stoischer oder epikureischer Färbung46 einige Gemeinplätze der damaligen Popularphilosophie auf, die an diesem Ort des antiken Bildungstourismus in der Luft lagen, und zitiert sogar ein Dichterwort (Aratus, Phainomena 5). Paulus verleugnet aber keineswegs die Herausforderung, vor die das Evangelium diese Zielgruppe stellt: Einen personalen ethischen Monotheismus und die Zuspitzung der Offenbarung Gottes in einem bestimmten Menschen (auch wenn dessen Name Jesus am Ende der Rede noch nicht ausgesprochen wird), dessen Auferweckung vom Tode an der Schranke rüttelt, vor der sowohl stoisches als auch epikureisches Denken heroisch zu kapitulieren lehrte.47 Zu den „Bildungsfaktoren“, von denen die Missionstätigkeit des Paulus profitierte, ist schließlich auch zu rechnen, dass Paulus seinen Status als römischer Bürger geschickt einzusetzen wusste: in der Wahl der Standorte seiner Mission in Städten, die als Provinzhauptstädte und/oder römische Kolonien eine römische Prägung aufwiesen, im Zugang zu gesellschaftlichen Kreisen, die anderen urchristlichen Missionaren eher verschlossen waren48, und in der Nutzung von juristischen Privilegien zu seinem persönlichen Schutz und zugunsten weiterer Missionstätigkeit.49 Kein Wunder, dass Paulus in Röm 13,1–7 vor jedem Konflikt mit staatlichen Instanzen warnt und sich dabei nicht scheut, in V. 6 eine Parole der imperialen Propaganda aufzugreifen: Die Tribute der unterworfenen Völker finanzieren die Wohltaten der Rechtspflege, die den braven Untertanen zugute kommt.50
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Von „Philosophen“ im heutigen Wortsinn sollte man in der Übersetzung von philósophoi nicht sprechen! Vgl. meine Studien Urchristliche Mission und kulturelle Identität. Beobachtungen zur Strategie und Homiletik des Apostels Paulus, in: ThBeitr 19 (1988) 61–72, sowie Paulus und die „gebildeten Verächter der Religion“ seiner Zeit, in: Friedrich Huber (Hrsg.), Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionsverständnis, Wuppertal /Neukirchen-Vluyn 2000, 10–115. Vgl. Apg 19,31: Protektion durch die „Asiarchen“ von Ephesus; Apg 13,7: Audienz beim Statthalter Sergius Paulus auf Zypern (dessen verwandtschaftliche Beziehungen nach Antiochien bei Pisidien vielleicht die Weiterreise von Paulus und Barnabas ins Innere Kleinasiens beeinflussten); Apg 24,24–26: Gespräche mit Antonius Felix. Vgl. Apg 22,22–29; 23,12–35; 24,23; 25,10. Vgl. meine Kommentierung in: Der Brief des Paulus an die Römer, Leipzig (1999) 42012, 320f. Mit dem gleichzeitigen Appell an das Gewissen als eine von gesellschaftlichen Sanktionen
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3.
Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
Bildungsvoraussetzungen bei den Adressaten der urchristlichen Mission
Meine bisherigen Ausführungen galten den Bildungsvoraussetzungen der Akteure der urchristlichen Mission. Ebenso wichtig, wenn auch schwieriger zu beantworten, ist die Frage nach den Voraussetzungen auf Seiten der Adressaten ihrer Verkündigung. Aus 1 Kor 1,26 konnte schon entnommen werden, dass de facto in Korinth nur wenige Mitglieder der Bildungselite vom Evangelium erfasst worden waren. Die Frage stellt sich jedoch, ob nicht zum bloßen Verstehen des Kerygmas ein Basiswissen vorgegeben sein musste, das nicht überall vorausgesetzt werden konnte. Immerhin liefert der Bericht vom Auftreten von Paulus und Barnabas in Lykaonien (Apg 14,8–18) ein Beispiel für einen missionarischen Misserfolg, der zum Teil wohl auf sprachliche Verständigungsprobleme zurückzuführen war (vgl. V.11), zugleich aber mit religiösen Erwartungen zusammenhing, denen die beiden Missionare nicht entsprechen konnten: Wer den einen Gott der biblischen Offenbarung verkündigt, kann sich nicht darauf einlassen, die Rolle vom Himmel herabgestiegener Gottheiten zu spielen. Das positive Gegenbeispiel liefern die Berichte, nach denen sich vor allem die heidnischen Sympathisanten jüdischer Gemeinden für das Evangelium aufgeschlossen zeigten (vgl. Apg 13,43; 16,14; 17,4; 18,7). Ihnen konnten die Fragen vertraut sein, auf die das Evangelium eine Antwort gibt, weil sie aus den Schriftlesungen und Ansprachen in der Synagoge (vgl. Apg 13,15) den Denkhorizont kennen konnten, den die urchristliche Botschaft voraussetzt: das personale Verhältnis zwischen dem einen Gott und der von ihm geschaffenen Menschheit, die Untrennbarkeit von Religion und Ethik, das Wissen um Schuld und Gericht, aber auch Gnade und Vergebung. Die bahnbrechende Vorarbeit für die Verbreitung dieses Vorwissens hatten die Verfasser der Septuaginta geleistet, die in einem jahrzehntelangen Prozess ein biblisches Buch nach dem anderen in ein hellenistisches Griechisch übersetzt und so für ein breiteres Publikum (mehr oder weniger) zugänglich gemacht hatten. Die neutestamentlichen Zitate aus dem Alten Testament entsprechen weitgehend der (oder einer) Textform, die in Handschriften der Septuaginta belegt ist. Darum wird auch die mündliche Missionstätigkeit mit dieser Fassung des Alten Testaments gearbeitet haben. In der Begegnung mit Menschen, die noch nicht unter dem Einfluss von jüdischen Gemeinden mit biblischen Traditionen vertraut waren, musste die christliche Verkündigung selbst zunächst theozentrisch angelegt sein. Darum handelt das Summarium paulinischer Heidenpredigt in 1 Thess 1,9f. primär von
unabhängige Instanz (V. 5) berührt sich Paulus wiederum mit Äußerungen römischer Autoren. Vgl. Hahn, Hans Christoph / Karrer, Martin, Art. Gewissen, in: ThBLNT, Neubearbeitung 1997–2002, 774–778.
Bildungsstand der Umwelt
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der Bekehrung zu dem einen Gott und kommt erst in einem zweiten Schritt (syntaktisch untergeordnet!) auf die Bedeutung Jesu zu sprechen. Die Areopagrede des Paulus in Apg 17 illustriert (ausführlicher als die stark situationsbezogene Ansprache in Apg 14,15–17), wie eine Rede vor solchen Fernstehenden konzipiert werden konnte. Sie nutzt gezielt Motive eines philosophischen Gottesbegriffs, z. B. den Gedanken der Bedürfnislosigkeit (V.25), und Vorbehalte gegenüber Kultbildern (V.29) sowie den kosmopolitischen Gedanken von der einen Menschheit (V.26) zur Heranführung an die Botschaft von dem einen Schöpfergott, den allein alle Menschen verehren sollten. Solche Anknüpfungspunkte waren nur in gebildeten Kreisen vorgegeben. Zu Unrecht wird die zum Teil spöttische Reaktion der Adressaten dieser Rede oft dahingehend gewertet, dass die Strategie der Anknüpfung an populäres Bildungsgut gescheitert sei. (Gelegentlich wird die Absage an Rhetorik in 1 Kor 2,4 sogar als die „Lektion“ gedeutet, die Paulus in Athen gelernt hatte, um anschließend in Korinth das homiletische Steuer zugunsten eines konfrontativen Kurses herumzureißen.) Wenn Lukas abschließend berichtet, dass ein Teil der Zuhörer an weiteren Begegnungen mit Paulus interessiert war und einige (später) auch zum Glauben kamen, so kann man das nicht als Misserfolg werten. Welcher Missionar könnte bei einer Zufallsbegegnung mit Fernstehenden, die ihm die Gelegenheit zu einer längeren Rede gibt, einen größeren Erfolg erwarten? Eine andere „Zufallsbegegnung“, die Lukas auf massive übernatürliche Impulse zurückführt, illustriert noch einmal eindrücklich die „praeparatio evangelica“ durch die Septuaginta. Es ist die Geschichte von der Bekehrung des dunkelhäutigen Afrikaners51, der auf der Rückreise von einer Wallfahrt zum Jerusalemer Tempel von Philippus bei der Lektüre von Jes 53 „ertappt“ wird (vgl. Apg 8,26–40). Es dürfte sich um den vorher in Apg 6,5 erwähnten „Armenpfleger“52 aus dem Kreis der „Hellenisten“ handeln, und die Jesajarolle, aus der der weit gereiste Minister gerade las, dürfte eine Septuagintafassung dieses Prophetenbuches gewesen sein. Diesmal dient das Alte Testament nicht nur als die umfassende theozentrische Grundlage der Botschaft von Jesus, sondern als Basis für eine gezielt christologische Auslegung.53 Das Stichwort dazu liefert die bis heute exegetisch umstrittene Frage des Afrikaners: „Von wem sagt der Prophet das –
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Die Übersetzung von aithiops durch „Äthiopier“ ist irreführend. Das Herkunftsland des Reisenden war (wie aus dem Titel der Königin „Kandake“ hervorgeht) das Königreich Meroë im Bereich des heutigen Sudan. Entgegen einer verbreiteten Vorstellung von diesen diákonoi als Küchenpersonal oder Kellnern war der Kreis der Sieben zuständig für die korrekte Führung der Kassen (trápezai); vgl. in meinem Kommentar zur Stelle (S. 130). Die seelsorgliche und zugleich kirchenrechtliche Dimension dieser Erzählung (in deren Mittelpunkt ein Kastrat steht) wurde häufig übersehen; vgl. meine Studie Dibelius und Cornelius. Ein Beispiel formgeschichtlicher Überlieferungskritik, BZ NF 24 (1980) 234–251.
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Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission
von sich selbst oder von einem anderen?“ (V.34) Wir wüssten gerne, wie Philippus seine christologische Auslegung begründet hat! Auf jeden Fall dürfte das Gespräch auf der Ebene zeitgenössischer Auslegungsmethoden verlaufen sein – offenbar mit Erfolg (vgl. V.36–39). Jörg Ohlemacher hat zwar in seiner Greifswalder Antrittsvorlesung54 davor gewarnt, diese Erzählung im Sinne eines verkirchlichten Missionsbegriffs als „Missionsgeschichte“ zu bezeichnen, weil am Ende offen bleibt, was aus dem Getauften anschließend geworden ist. Aber das bleibt auch bei anderen Episoden der Apostelgeschichte offen, und wir sollten den Begriff der Mission nicht auf das Ergebnis bleibender Gemeindegründung einengen. Wichtig ist aber, dass auf der narrativen Ebene der Missionar Philippus entrückt wird, also den Weg seines Täuflings nicht weiterverfolgen kann: eine Grenze, die für viele seelsorglichen Begegnungen gilt. Das tragende Kontinuum einer Lebensgeschichte mit Gott ist nur Gott selbst.
4.
Migration und Mission heute
Die Bedeutung der jüdischen Diaspora und ihrer Übersetzungsleistung in Gestalt der Septuaginta als „praeparatio evangelica“ für die urchristliche Mission und die Bedeutung der Zweisprachigkeit am Beispiel des Apostels Paulus geben m. E. einen Denkanstoß zur Frage der Weltmission heute. Wir leben in einer Zeit gewaltiger Migrationen infolge von Kriegen, wirtschaftlichen Notlagen und klimatischen Veränderungen. Mission als Expedition aus christlichen Zentren in unerreichte Gebiete – wie im Falle der paulinischen (oder jedenfalls der antiochenischen) Mission und im Normalfall neuzeitlicher Missionsgesellschaften – könnte in den Hintergrund treten, wenn Millionen von Nichtchristen zu Nachbarn christlicher Gemeinden werden und selbst die Sprache dieser Gemeinden lernen. An die Stelle des „Geh hin, ich will dich zu fernen Völkern senden“ (Apg 22,21) könnte der Ruf treten: „Macht die Augen und den Mund auf: sie sind schon da!“ Daneben ist jetzt schon eine Entwicklung zu beobachten, in der Migranten aus Übersee in ehemals christlichen europäischen Ländern eine missionarische Aufgabe erkennen und eine „Retro-Mission“ (reverse mission) in Angriff nehmen, auf deren Früchte man gespannt sein darf.55
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„Religion verstehen – von den Bedingungen, Chancen und Grenzen des Religionsunterrichts im öffentlichen Schulwesen“, ThBeitr 26 (1995) 206–217, hier 210. Vgl. Währisch-Oblau, Claudia, Mission und Migration(skirchen), in: Dahling-Sander et al. (Hrsg.), Leitfaden ökumenischer Missionstheologie, Gütersloh 2003, 363–383.
Respekt vor den Göttern der Anderen? (Zu Apg 17,16–34; 14,8–20; 1 Thess 1,9; 1 Kor 8,4–6) In seinem einflussreichen Akademievortrag von 19441 hat Martin Dibelius die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,22–31) als Beispiel dafür angeführt, dass die Reden der Apostelgeschichte u. a. durch ihre „Situationsfremdheit“ als fiktional erkennbar seien. Er schreibt dazu (S. 151): „Bekannt ist eine solche Unstimmigkeit aus der Areopagrede: Paulus ist nach der Erzählung empört über die an Götzenbildern reiche Stadt; aber als er dann zu den ob ihrer Frömmigkeit bekannten Athenern spricht, lobt er sie in der einleitenden captatio benevolentiae wegen ihrer frommen Haltung gegen die Götter. Das kann weder auf einem plötzlichen Gesinnungswechsel beruhen noch auf Heuchelei …! Vielmehr ist es die relative Selbständigkeit der Rede, die dieses Lob trotz der vorangehenden Entrüstung erwünscht erscheinen läßt.“
Meinte Dibelius im Ernst, dass der historische oder ideale Paulus die an seiner „neuen Lehre“ interessierten Intellektuellen von Athen gleich zu Beginn seiner Rede vor den Kopf gestoßen hätte, indem er sie mit seinen frommen jüdischen Gefühlen konfrontierte? Eine derart miserable Rhetorik ist dem Apostel nicht zuzutrauen; er muss wenigstens die elementarsten Regeln antiker Rhetorik gekannt haben. Was Quintilian (IV 1,5) in erster Linie für den Anfang einer Gerichtsrede schreibt, gilt zweifellos auch für andere Reden, die ein Publikum zu überzeugen suchen: „Gegenstand der Einleitung ist es …, den Hörer so vorzubereiten, daß er bei den übrigen Teilen der Rede leichter für uns gewonnen wird.“2 Die captatio benevolentiae, die Paulus in V. 22f. wählt, wertet die Furcht der Athener vor der Vernachlässigung eines Gottes ohne Heuchelei positiv, weil die Gottesfurcht und Warnungen vor einer Vernachlässigung Gottes zum religiösen Erbe Israels gehören.3 Es ist kein Zufall, sondern sachgemäß, dass Nichtjuden, die von der Religion der Juden beeindruckt waren, als „Gottesfürchtige“ (oder 1
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Dibelius, Martin, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Jahrgang 1949, 1. Abhandlung, Heidelberg 1949, 5–59 (vorgetragen am 19. 2. 1944), sowie in: Ders. Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrsg. von Heinrich Greeven, Göttingen 4. Aufl. 1961, 120–162, hier 151. Übs. nach Rahn, Helmut, Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher Lateinisch und deutsch, Darmstadt 2011, I, 407. Vgl. Zweck, Dean, The Exordium of the Areopagus Speech, Acts 17.22,23, in: NTS 35 (1989) 94–103, hier 101, unter Hinweis auf die Rhetorica ad Alexandrum 1436a und auf die Rhetorik des Aristoteles 3.15.1. Vgl. Plath, Siegfried, Furcht Gottes, Stuttgart 1963. – Dass Lukas hier mit seiner Wortwahl einem christlichen Publikum zuliebe einen spöttischen Nebenton beabsichtigt habe, ist unwahrscheinlich; so jedoch Given, Mark D., ‚Not Either/Or but Both/And in Paul’s Areopagus Speech, in: Biblical Interpretation 3 (1995) 356–372.
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Respekt vor den Göttern der Anderen?
„Gott fürchtende“) bezeichnet wurden!4 Die Rede schließt dann auch in V.30f. mit einer Warnung vor den Konsequenzen einer weiteren Vernachlässigung des Gottes, den Paulus verkündigt, was auf eine rhetorische inclusio hinausläuft. Die bildlichen Darstellungen von Göttern, die Paulus bei seinem Stadtbummel mit Abscheu wahrgenommen hatte, werden in V.29 unpolemisch als Verkennung des göttlichen Wesens5 abgewertet. Dieser behutsame Umgang mit der Religiosität der Athener ist kein Bruch mit Traditionen, die Paulus als Spross einer jüdischen Familie in der hellenistischen Diaspora verinnerlicht hatte.6 Der ältere Zeitgenosse des Paulus Philon von Alexandrien schreibt im Anschluss an ein Plädoyer für die völlige Gleichstellung der Proselyten mit den geborenen Juden) in Einzelgesetze I,53: „Während er aber diesen, die den Wahn ihrer Väter und Vorfahren verwerfen, gleiche Rechte und Pflichten gewährt, verbietet er, die Götter, an welche andere glauben, mit frechem Munde und zügelloser Zunge zu lästern, damit nicht auch jene in ihrer Erregung gegen den wahrhaft Seienden unerlaubte Reden führen.“7
Josephus, der wesentlich jüngere Zeitgenosse des Paulus, kommt mehrmals auf dieses Anliegen zu sprechen: „Niemand soll Götter verhöhnen, an die andere Städte glauben, auch nicht fremde Heiligtümer berauben oder eine Wertsache wegnehmen, die irgendeiner Gottheit zugedacht ist.“ (Ant 4,207)8 „Die Gutgesinnten müssen in der Frömmigkeit an den einheimischen Gesetzen genau festhalten, dürfen die der anderen aber nicht verhöhnen.“ (Ap 2,144) „Uns hat der Gesetzgeber aus Rücksicht auf das bloße Wort „Gott“9 streng verboten, die von anderen Leuten verehrten Götter lächerlich zu machen oder zu verhöhnen.“ (Ap 2,237)10
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Vgl. Van Henten, Jan Willem, Art. Gottesfürchtige, in: RGG4 III, Tübingen 2000, 1219; Siegert, Folker, Art. Gottesfürchtige, in: NBL I (1991) 931–932. Paulus benutzt hier – singulär im Neuen Testament – das Neutrum tò theion („das Göttliche“). Zum Folgenden vgl. besonders Delling, Gerhard, Josephus und die heidnischen Religionen, in: Klio 43 (1965) 263–269, sowie in: ders. Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950–1968, hrsg. von Ferdinand Hahn, Traugott Holtz und Nikolaus Walter, Berlin 1970, 45–52. Übersetzung nach Leopold Cohn (1910). In Vit Mos II 203–205 legt Philon auch Lev 24,1f. in diesem Sinne aus (205 nach Cohn: „Offenbar hat das vorliegende Gesetz mit dem Wort ‚Gott‘ nicht den Höchsten, den Schöpfer des Alls, sondern die heidnischen Götter im Sinn“). In Röm 2,22 konstruiert Paulus den Fall eines Juden, der die fremden Götter (eídōla) verabscheut, sich aber an Heiligem vergreift.“ Diesen Gesichtspunkt erwähnt auch Philon an der letztgenannten Stelle. Das hindert Josephus aber nicht, in der Fortsetzung Kritik an den griechischen Göttergeschichten aufzugreifen, die von gebildeten Griechen selbst geübt wird.
Edikt des Claudius
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Ein Edikt des Kaisers Claudius? Nach Josephus hat Claudius nicht nur kurz nach seinem Regierungsantritt die jüdischen und nichtjüdischen Einwohner von Alexandrien brieflich zu gegenseitiger Toleranz aufgerufen11, sondern darüber hinaus in einem Edikt für das ganze römische Reich die gleichen Prinzipien verkündet. Nur in diesem Text werden ausdrücklich die Juden vor Gehässigkeit gegenüber der Religion anderer Völker gewarnt (Ant 19, 290): „Ich wünsche, dass die Juden in unserem ganzen Herrschaftsgebiet ihre überlieferten Sitten ungehindert beachten können, und verlange von ihnen, dass sie von dieser meiner Freundlichkeit (ihrerseits) geziemend Gebrauch machen und ihre Gesetze einhalten, ohne die Religiosität (deisidaimonías) der anderen Völker verächtlich zu machen.“12
Claudius soll dieses (nur von Josephus überlieferte) Edikt auf eine Anregung seiner jüdischen „Freunde“ Agrippa (I.) und Herodes (Herodes von Chalkis) erlassen und im ganzen Reich verbreitet haben.13 Wenn historisch, wäre es keine Neuerung, sondern eine Bekräftigung einer Entscheidung von Markus Vipsanius Agrippa, dem Stellvertreter des Augustus in einem Konflikt zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bewohnern von Jonien (vgl. Josephus, Ant 16,60).14 In Ant 19,303ff. lässt Josephus den Statthalter von Syrien Publius Petronius − auf eine Provokation gegen die jüdische Gemeinde im phönizischen Dora hin15 − mit scharfen Worten an diesen Erlass des Claudius erinnern. Dabei wird wiederholt, dass das Recht, nach den jüdischen Bräuchen zu leben, mit der Pflicht zu friedlichem Mitbürgertum verknüpft war (306). Die Wiederholung dieses Themas lässt auf ein Interesse des Josephus schließen, dieses jüdische Wohlverhalten als Dank für die Religionsfreiheit zu bejahen und im öffentlichen Image seines Volkes zu verankern. Bekanntlich wurde das treue Festhalten der Diasporajuden an Verhaltensregeln der Torah, die den Umgang mit Nichtjuden erschwerten, als Symptome von Misanthropie wahrgenommen.16 Verbale Angriffe gegen reli-
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Vgl. Pap. Lond. 1912, 11 14–108 in Charlesworth, Martin Percival, (Ed.), Documents illustrating the reigns of Claudius & Nero, Cambridge 1939, 3–5 sowie Schimanowski, Gottfried, Juden und Nichtjuden in Alexandrien, Koexistenz und Konflikte bis zum Pogrom unter Trajan (117 n. Chr.), Berlin 2006, 242–249. In Frage kommt auch die Übersetzung mit „verachten“ Könnte die Rede von Edikten des Kaisers in Apg 17,7 auf diesen Erlass anspielen? Der anschließende Verweis auf Jesus als „König“ könnte dann (zur üblichen Predigt von Jesus unpassend!) so gemeint sein, dass die Christen den (Missions-)Befehl Jesu über die Edikte des Kaiser stellten. Die jüdischen Anliegen waren nach Ant 16,31–57 durch Nikolaus von Damaskus ausführlich mit historischen und grundsätzlichen Argumenten vertreten worden. Nichtjüdische Jünglinge hatten in der örtlichen Synagoge eine Statue des Kaisers aufgestellt! Vgl. Josephus, Ant 11,211; Philostrat, Vita Apollonii 5,33.
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Respekt vor den Göttern der Anderen?
giöse Überzeugungen und Lebensformen der Umwelt hätten diesen Eindruck bestätigen und verstärken können. Die Parole, auf religiöse Polemik zu verzichten, ist als kluge pragmatische Strategie nachvollziehbar.17 Für sie hat das Diasporajudentum auch einen biblischen Beleg gefunden, der vom hebräischen Text wohl nicht so gemeint war, aber im griechischen der Septuaginta vorliegt: (Ex 22,28 (27), LXX.D)18 „Götter sollst du nicht lästern, und von den Anführern deines Volkes sollst du nicht übel reden.“
Ein Konfliktfall in Ephesus Dass die Lästerung einer griechischen Gottheit von jüdischer Seite ein öffentliches Ärgernis und strafbar wäre, kommt im Bericht des Lukas vom „Aufruhr der Silberschmiede“ in Ephesus klar zur Sprache. Der Sekretär der Bürgerschaft, der die aufgebrachte Menge im Theater von Ephesus beruhigen und nach Hause schicken will, sagt nach Apg 19,37: „Ihr habt diese Menschen19 weder als Tempelräuber noch als Lästerer unserer Göttin vorgeführt.“20
Andernfalls wäre die Aufregung also berechtigt gewesen. Aber davon ist bisher offenbar noch nicht die Rede gewesen.21 In der Auslegung von Apg 19,37 wird allerdings weithin angenommen, dass der Beamte die Mitarbeiter des Paulus von 17
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Vgl. Stoops, Robert F. Jr., Riot and Assembly: The Social Context of Acts 19:23–41, in: JBL 108 (1989) 73–91, hier 87: “(T)he Jews of the Hellenistic diaspora were warned to avoid blasphemy and sacrilege. Respect for the traditions of others was a condition of their own special status.” Vgl. Schaper, Joachim, in: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare I, Stuttgart 2011, 307: „Götter: Die LXX übersetzt ‚Götter‘, wo in der Tradition das [elohîm] des MT oft mit ‚Gott‘ wiedergegeben wird … WEVERS, N-Ex, 355, weist mit Blick auf den MT zu Recht darauf hin, dass der Sg. [nasî] das Verständnis von [elohîm] als Sg. impliziere. Nun verstehe aber die LXX [elohîm] als Pl. …; der Gebrauch des Pl. könne auf den kulturellen Einfluss der Umgebung des Übersetzers zurückgehen, Tatsächlich könnte die Übs. das Ergebnis einer ge-/wissen Toleranz gegenüber dem hell. Polytheismus im jüd. Milieu Ägyptens sein …; vgl. Le DÉAUT, 1984, 181.“ Gemeint sind die in V. 29 erwähnten Mitarbeiter des Paulus, die man hergeschleppt hatte. Der doppelte Akkusativ (der Personen in ihrer Eigenschaft als …) beschreibt den Vorgang und enthält keine Stellungnahme des Beamten. Auch die Übersetzung mit „verhaftet“ kommt in Frage; vgl. Platon, Gorgias 527a. Möglicherweise liegt ein Latinismus in Anlehnung an agere im Sinne von „Klage erheben“ (einen Prozess veranlassen) zugrunde. Das geht aus den in V. 35f. vorausgehenden Sätzen des Beamten hervor: „Wo gibt es einen Menschen, der nicht weiß, dass die Stadt Ephesus die Tempelhüterin der großen Artemis … ist? Da das nicht umstritten ist, müsst ihr Ruhe bewahren und dürft nichts Unbedachtes tun.“
Konflikt in Ephesus
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diesem Vorwurf freispricht.22 Der Beamte der Stadt hat sich jedoch – ohne eine Untersuchung des Falles − keineswegs so weit vorgewagt. Nichts im Kontext deutet darauf hin, dass er die Beschuldigten kennt.23 Natürlich will Lukas bei seinem Publikum den Eindruck erwecken, dass die urchristliche Evangelisation unter Nichtjuden die Lästerung fremder Gottheiten vermeidet!24 Was hatte man dem Paulus vorgeworfen? Nach V. 26 soll er die These verbreitet haben, dass die „handwerklichen Gebilde“ keine Götter seien. Das Gegenteil hätte kein gebildeter Grieche behauptet, auch wenn die „Pflege“ der Statuen in den Tempeln als eine Wohltat gegenüber den Gottheiten bezeichnet werden konnte (vgl. Apg 17,25). Die Frage stellt sich aber, wie das Gespräch des Paulus mit den aufgeschlossenen Intellektuellen von Athen weitergegangen sein könnte, ohne abfällig von den Göttern zu sprechen, die an den zahlreichen Heiligtümern in Athen verehrt wurden! Die Anknüpfung an den „unbekannten Gott“ des einen Altars lieferte das Stichwort für die Hinführung zu einem neuen Gott, den Paulus aber nicht als Ergänzung des griechischen Pantheons stehen lassen konnte, sondern früher oder später als dessen Infragestellung verkündigen musste. Von einer derartigen Konfrontation erzählt Lukas im Bericht über einen Vorfall beim Aufenthalt des Paulus in Lystra (Apg 14,8–20): Auf eine wunderhafte Krankenheilung durch Paulus hin verbreitet sich das Gerücht, dass Götter in 22
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So jedoch sowohl die Lutherbibel als auch die katholische Einheitsübersetzung sowie die Kommentare von Bauernfeind, Conzelmann, Eckey, Haenchen (besonders triumphalistisch!), Jervell, Roloff, Schmithals, Schneider, Stählin u. a. jeweils zur Stelle; so schon Cadbury, Henry J., The Making of Luke-Acts (1927), London 1961, 314; ebenso Trebilco, Paul, Asia, in: D. Gill & C. Gempf (Ed.), The Book of Acts in its Greco-Roman Setting, Grand Rapids 1995, 291–362, hier 354: „In Acts 19:37 the town clerk says that the Christians are neither sacrilegious nor blasphemers of our goddess.“ Etwas vorsichtiger formuliert Rick Strelan, Paul, Artemis, and the Jews in Ephesus, Berlin / New York 1996, 151: „(T)he grammateus does not believe that Paul’s companions are either blaspheming Artemis or robbing her temple.” Das wäre anders, wenn er zu den „Asiarchen“ gehörte, die dem Paulus wohlgesonnen waren und ihn nach V.31 davor gewarnt hatten, sich persönlich ins Theater zu begeben. Aber V. 37 spricht gar nicht von Paulus persönlich. Vgl. Löning, Karl, Das Evangelium und die Kulturen. Heilsgeschichtliche und kulturelle Aspekte kirchlicher Realität in der Apostelgeschichte, in: ANRW II 25,3, Berlin / New York 1985, 2604–2646, hier 2631: „Damit ist zunächst sicher beabsichtigt, den Missionaren aus amtlichem Munde ein Zeugnis bürgerlichen Wohlverhaltens auszustellen … Darüber hinaus versichert aber Lukas seinem Leser, die christliche Lehre sei kein bilderstürmender Angriff auf den heidnischen Polytheismus und seine Einrichtungen. Lukas legt also Wert darauf, daß das christliche Evangelium nicht als Zerstörer der Religion erscheint, was für ihn eine Frage bürgerlicher Loyalität ist.“ Ferner Selinger, Reinhard, Die Demetriusunruhen (Apg 19,23–40) Eine Fallstudie aus rechtshistorischer Perspektive, in: ZNW 88/3–4 (1997) 242–259, hier 258: „Da weder ein dringender Handlungsbedarf besteht noch ein begründeter Anlaß vorliegt, löst er … die Volksversammlung auf.“ Dazu in Anm. 79: „Beim Leser soll jedoch der Eindruck erweckt werden, daß durch die Entlassung der beiden Aposteljünger die Unschuld des Paulus erwiesen ist.“
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Respekt vor den Göttern der Anderen?
menschlicher Gestalt auf die Erde herabgestiegen seien – nicht irgendwelche unbekannten, sondern Zeus und der Götterbote Hermes.25 Das nimmt der Priester des Zeus-Heiligtums vor den Toren der Stadt zum Anlass, zu Ehren des Gottes eine Opferfeier vorzubereiten (V. 11–13). Paulus und Barnabas sind darüber entsetzt und bekennen sich dazu, einfache Menschen wie sie zu sein. Dabei geben sie aber zu, immerhin Boten eines Gottes zu sein, nämlich des Schöpfers (V. 14– 17). In diesem Zusammenhang fällt die abfällige Vokabel mataios für das, wovon die Menschen sich zugunsten des lebendigen Gottes abwenden sollen. Der Plural apò toútōn tōn mataíōn könnte sich auf die vorher genannten Götter Zeus und Hermes beziehen26 oder als Neutrum auf die Vorbereitungen zur Opferfeier27. Ersteres wäre aber für das anwesende Publikum (soweit es Griechisch konnte) nicht in diesem Sinne „herübergekommen“, weil die Vokabel in der Profangräzität nicht in diesem Sinne gebraucht wurde.28 Dass die Lykaonier nur mit Mühe von ihren Opfervorbereitungen abgebracht werden konnten (V.18), lässt vermuten, dass die kurze Rede der beiden in den Wind gesprochen war. In Frage kommt allerdings, dass die später von Antiochia und Ikonion angereisten jüdischen Gegner der beiden Apostel die Lykaonier über die Gefährdung des örtlichen ZeusKults durch die christliche Mission aufklärten und zur Gewalt gegen Paulus aufhetzten. Auch die Anklage der jüdischen Gemeinde von Korinth gegen Paulus vor dem Tribunal des Statthalters Gallio könnte den Grund gehabt haben, dass die gezielte Infragestellung der traditionellen griechischen und römischen Kulte als Gefahr für die Rechtssicherheit der jüdischen Observanz gegenüber der Torah eingestuft wurde. Die Anklage gegen Paulus, dass er „gegen das Gesetz“ Menschen für die Gottesverehrung zu gewinnen suche (Apg 18,13), kann sich nur auf die Torah beziehen; für das römische Recht gab es nämlich nicht „das Gesetz“, sondern nur eine Vielzahl von Gesetzen zu bestimmten Fragen. Eben deshalb lehnte Gallio auch die Eröffnung eines Prozesses ab (vgl. Apg 18,15). Als Bibelstelle, mit der die Ankläger argumentieren wollten, kommt Ex 22,27 (nach dem Wortlaut der Septuaginta 28) in Frage.29
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Diese griechischen Götternamen stehen vermutlich für vergleichbare Gottheiten, die bei den Lykaoniern untern anderen Namen verehrt wurden. So Barrett, Charles K., The Acts of the Apostles, Vol. I (Acts 1–14), London 1994, 680, sowie Haenchen, Jervell, Pesch, Roloff, Schneider, Weiser (II,341), Wikenhauser jeweils z. St. So Stählin z. St. (1962): „dieses nichtige Wesen“. James Moffat übersetzte in V.15: „The gospel we are preaching to you is to turn from such futile ways to the living God …” (The New Testament in the Moffat Translation, London 1954, 195), die New English Bible (1961) wählte “to turn from these follies to the living God”, die English Standard Version (2007) “you should turn from these vain things to a (!) living God”. Vgl. Barrett (s. o. Anm. 26).: “In non-biblical Greek it does not have this sense of ‘false god’.” Vgl. unten S. 132.
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Probleme der Wortwahl Paulus selbst gibt in seinem Schreiben an die Gemeinde in Thessalonich klare Auskunft darüber, wie im innerchristlichen Diskurs über die Evangelisation unter Nichtjuden gesprochen wurde: „Man erzählt sich überall, welche Aufnahme wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, − Jesus, den er von den Toten auferweckt hat und der uns dem kommenden Zorn entreißt.“ (1 Thess 1,9–10 EÜ).
Das altertümliche Wort „Götze“ hat in der deutschen Sprache eindeutig einen abfälligen Klang und entspricht insofern der inneren Distanz, mit der im Alten Testament und im antiken Judentum von den Göttern der Umwelt gesprochen wurde (analog zu unserem Wort „Heiden“ für die Völker mit nichtchristlicher Religion). Die Lutherbibel hält an Luthers Wortwahl „Abgötter“ fest, die die Vorstellung „eine Abart von Göttern“ nahelegt. Das steht der Wortwahl des Paulus im Griechischen – eídōla – näher. Ein eídōlon ist etwas Abgeleitetes, eine Imitation, ein Schattenbild oder gar Trugbild.30 Darum wird oft angenommen, dass die jüdisch-christliche Polemik gegen fremde Götter hauptsächlich die Verehrung der Götter durch Kultbilder als fehlgeleitet und verabscheuenswert herausgreift und auf diese Weise vermeidet, von den Göttern selbst abfällig zu reden.31 Dagegen spricht, dass eídōlon keineswegs als Ausdruck für Kultbilder gebräuchlich war. Die einschlägigen Belege gebrauchen eídōlon oft mit einem Zusatz im Genetiv, was schlicht „Abbildung von“ oder „Nachbildung von“ bedeutet. Dass es sich um eine Statue oder etwas Ähnliches handeln könnte, geht höchstens aus anderen Vokabeln im Zusammenhang hervor. Leider „übersetzen“ manche Autoren in ihren Beiträgen über eídōlon diese Vokabel (in Verbindung mit einem Gen.)
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Vgl. Gemoll Wilhelm und Vretska, Karl, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, bearbeitet von Therese Aigner u. a. m., München etc. 2006, 255; von Dobschütz, Ernst, Die Thessalonischer-Briefe, Nachdruck der Ausgabe von 1909. Mit einem Literaturverzeichnis von Otto Merk hrsg. von Ferdinand Hahn, Göttingen 1974, 77: „[eídōlon] bei Profanschriftstellern nicht = Götterbild ([ágalma]) oder Portrait ([eikôn]) gebraucht, sondern nur = Trugbild, Schattenbild, steht bei LXX für alle Arten verbotener Götterbilder … aus Holz, Stein, Edelmetall, aber es bezeichnet dann auch den falschen Gott selber, den die Polemik wie die naive Frömmigkeit mit dem Kultbilde identifiziert … in demselben Sinne der Nichtigkeit und Verächtlichkeit wie die heidnischen Götter … Nichtse oder …Klötze genannt werden.“ Vgl. Büchsel, Friedrich, Art. [eídōlon], in: ThWNT II (1935) 373–375, 374: „Augenscheinlich steht hinter diesem Sprachgebrauch von [eídōlon] die Polemik gegen das Heidentum, die das Vorhandensein von Götterbildern, denen ein Kultus gewidmet wird, dazu benützt, um die Wesenlosigkeit des heidnischen Götterglaubens bzw. der heidnischen Götter darzutun.“
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schon in der Wiedergabe der Belege mit „Statue“.32 Die Vokabel hat jedoch nicht die Bedeutung „Götterbild“, sondern bezeichnet allenfalls die Relation des Kultobjekts zu dem, wofür es steht.33 Gegen diese allzu enge Festlegung des jüdischen Gebrauchs von eídōlon im religionskritischen Diskurs spricht, dass Philon von Alexandrien diesen Begriff „im Zusammenhang mit Götterbildern meidet“.34 Auch die Belege bei Josephus enthalten keinen Bezug zu Götterbildern, sondern kritisieren nur die Verehrung anderer Götter wie Baal oder Aschera (Ant 10,65) oder Kulthöhen (10,69) oder Opfer auf illegitimen Altären (9,243). Auch in der Krise unter Antiochus Epiphanes spielten Statuen von Göttern keine besondere Rolle; der Casus confessionis waren Opfer auf Altären, die anderen Göttern geweiht waren (oder dahingehend umgeweiht wurden).35 Auch in der griechischen und römischen Religiosität spielten Götterbilder keine beherrschende Rolle.36 Von daher überzeugt es nicht, dass Woyke die (dem Paulus vorgegebene)„Hauptbedeutung“ von eídōlon als „die des ‚Götterbildes‘ bzw. der ‚in ihrem Kultbild manifesten oder sich manifestierenden Gottheit“ ansieht.37 In 1 Thess 1,9 steht eídōlon für etwas, das dem „wahren“ Gott, den Paulus verkündigt, Konkurrenz macht (bzw. von ihm her in Frage gestellt wird). In der Septuaginta wird eídōlon für eine Mehrzahl von abfälligen und z. T. drastischen 32
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Vgl. Griffith, Terry, eídōlon as ‘Idol’ in non-Jewish and non-Christian Greek, in: JThSt 53 (2002) 95–101, S. 96 unten, S. 97 unten, S. 98 oben. Ihm folgt wiederholt Johannes Woyke, Götter, “Götzen”, Götterbilder. Aspekte einer Theologie der Religionen, Berlin 2005 in der Wiedergabe von Belegen, z. B. S. 50f. Das gilt auch von Polybios 31,3, 13–15, nach Büchsel, ebd. 373 Anm. 2, die „einzige nachgewiesene Stelle, an der ein heidnischer Grieche [eídolon] für Götterbild gebraucht“. Dass es dort um Kultbilder geht, ist im vorangehenden Text durch [ágalma] vorgegeben. Mit eídolon teilt Polybios anschließend mit, wer oder was durch diese Kultbilder abgebildet wurde. Das ist etwas Anderes als Synonymität! So Woyke (s. o. Anm. 32) 96 unter Berufung auf Tatum, W. B., The LXX Version of the Second Commandment (Ex. 20,3–6 = Deut. 5,7–10): A Polemic Against Idols, Not Images, in: JSJ 17 (1986) 177–195, hier 193. Vgl. 1 Makk 1,51–59; 2,15–28. Vgl. Victor, Ulrich, Die Religionen und religiösen Vorstellungen im Römischen Reich im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., in: Victor, Ulrich, Thiede, Carsten Peter, Stingelin, Urs, Antike Kultur und Neues Testament. Die wichtigsten Hintergründe und Hilfsmittel zum Verständnis der neutestamentlichen Schriften, Basel 2003, 87–170, hier 98: „Es gab eine riesige Menge von Kultplätzen ohne Tempel, deren Zentrum der Altar eines Gottes unter freiem Himmel war. Eine Statue dieses Gottes war nicht erforderlich. In Olympia z. B. gab es jahrhundertelang keine Statue, sondern nur einen Altar. Der Altar darf deshalb nicht fehlen, weil das Tieropfer der Kern der Verehrung der Götter ist.“ So a. a. O. S. 103. Entschiedenen Widerspruch verdient der Vorschlag Woykes (s. o. Anm. 32) auf S. 90: „Dementsprechend sollten (sic!) eídōla … im Deutschen deskriptiv mit ‚Götter(bilder)‘ wiedergegeben werden.“ Vgl. dagegen Schrage, Wolfgang, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 6,12 – 11,16) (EKK VII/2), Solothurn/Düsseldorf und NeukirchenVluyn 1995, 236 zu 1 Kor,8,4: „An unserer Stelle gäbe Götzen- oder Kultbild keinen Sinn, da deren Vorhandensein nicht gut bestritten werden kann.“
eídōla für Fremdgötter
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hebräischen Vokabeln für Gottheiten der Umwelt verwendet, die keineswegs auf der Linie der profangriechischen Bedeutung von eídōlon liegen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Verfasser der Septuaginta es vermeiden wollten, die Gefühle ihrer nichtjüdischen Mitbürger durch wörtliche Übersetzungen zu verletzen, und durch ihre Übersetzung das Ziel verfolgten, einen rücksichtsvolleren Sprachgebrauch zu fördern.38 Der abstraktere Begriff enthält aber immer noch eine gedanklich und emotional scharfe Abwertung der nichtjüdischen Religiosität.39 Nicht umsonst spricht Lukas in Apg 17,16 von der Abscheu des Paulus angesichts der zahlreichen Tempel, Altäre und Statuen in Athen und gebraucht dabei für die Stadt das von eídōlon abgeleitete Adjektiv kateídōlon! Die Frage ist, ob auch dieser Sprachgebrauch nicht doch den Tatbestand der Lästerung fremder Gottheiten erfüllte. Paulus spricht in Röm 2,22 einen allzu selbstbewussten Juden an mit den Worten: „Du verabscheust die eídōla …“.40 Vor diesem Hintergrund ist zu überlegen, ob die speziell jüdische Verwendung der Vokabel eídōlon einen bestimmten Ausschnitt der Verwendung dieses Wortes in der Profangräzität aufgreift, der auf ein nichtjüdisches Publikum nicht als Beleidigung der Götter wirken musste. Es gab in der Antike eine Verwendung von eídōlon, die zwar ein Defizit beinhaltet, aber nicht mit Verachtung verknüpft war, sondern eher mit Mitleid: als Ausdruck für die Seinsweise der Verstorbenen,41 manchmal wechselnd mit der Metapher „Schatten“.42 Eine Einstufung der griechisch-römischen Gottheiten auf dieser Ebene würde sie nicht als „Nichtse“ beschimpfen, aber zugleich durch den Gegensatz zum „lebendigen“ Gott herabsetzen und gegen ihre Verehrung sprechen. Von dieser Wortbedeutung her könnte die Ablehnung der eídōla aus biblischer Sicht eine besondere Spitze gegen die Divinisierung verstorbener Kaiser gehabt haben, von der das jüdische Volk mit Duldung durch den römischen Staat Abstand nehmen durfte. Aber durften Nichtjuden auf Grund eines freiwilligen
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Eine persönliche Lektüre der LXX-Schriften durch Nichtjuden ist kaum vorstellbar; vgl. Siegert, Folker, Register zur „Einführung in die Septuaginta“ Mit einem Kapitel zur Wirkungsgeschichte, Münster etc. 2003, 359–361. Vgl. Fredouille, Jean-Claude, Art. Götzendienst (übersetzt von Michael Durst und Heinzgerd Brakmann), RAC 11 (1981) Sp. 828–895, 849: „Da [eídolon] schon im klassischen Griechisch weniger das Bild … als die Illusion, das Produkt der Phantasie, bezeichnet, griffen die Übersetzer des AT diesen Ausdruck mit Vorliebe auf, um in abwertender, polemischer Weise den nichtigen Glauben an falsche Götter, gleich ob bildlich dargestellt oder nicht, zu bezeichnen.“ Man könnte die Wortwahl auch mit „du ekelst dich“ übersetzen. Vgl. Woyke (s. o. Anm. 32) 42–43 unter Hinweis auf Homer, Od 11,83.213.476.601; 24,14; Il 23,72. Stanford, William Bedell,The Odyssey of Homer Vol. I, New York 1967 kommentiert 11,213–14 auf S. 389: “An [eídolon] was an illusive and insubstantial image …, less real than a [psyche].” Vgl. Homer, Od 11,207.
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Anschlusses an die jüdische „Religion“43 sich von dieser Pflichtübung befreit fühlen?? Zum Glück war die praktische Durchführung des Kaiserkults zunächst eine Sache, mit der bestimmte römische Bürger betraut wurden. Erst in den späteren gezielten Verfolgungen wurden Verdächtige daran als Christen erkannt, dass sie sich weigerten, bestimmte Kulthandlungen zu Ehren der Kaiser auszuführen. Diese waren eben bloße eídōla im Sinne der oben genannten homerischen Wortverwendung für die Seinsweise der Verstorbenen. Zur Abfassungszeit der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel und der gleich auf Griechisch verfassten Schriften der Septuaginta war diese Entwicklung des griechischen und römischen Kultbetriebs noch nicht aktuell. Es handelt sich um einen Sonderfall göttlicher Verehrung, der eine Göttlichkeit „zweiten Grades“ betraf und nicht die antiken „Hochgötter“.44 Allerdings gab es eine antike Theorie über die Entstehung der olympischen Götter, die an den Gedanken der Divinisierung verstorbener Herrscher anknüpfte. Hekataios von Abdera hielt einen Teil der Götter für „Sterbliche, die um ihrer Verdienste willen zu Göttern erhoben wurden“, darunter Zeus (!) und Hera, Dionysos und Demeter.45 Der Philosoph und Schriftsteller Euhemeros (ca. 340–260 v. Chr.) hat diesen Denkansatz in einem fiktionalen Reiseroman einer angeblich uralten Inschrift auf einer goldenen Säule zugeschrieben.46 Ein Anhaltspunkt für diese Theorie war ein angebliches Grab des Zeus auf der Insel Kreta.47
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Dieser Begriff im heutigen Sinne (mit „Konfession“ synonym) war der Antike fremd; vgl. Mason, Steve, Das antike Judentum als Hintergrund des frühen Christentums, in: ZNW 37 (2016) 11–22, hier 19. Beachtung verdient, dass das Prädikat divus für einen verstorbenen Kaiser noch keine Vergöttlichung bedeutet: Es war die übliche Form der Verehrung eines Verstorbenen durch seine Familie (vergleichbar der ähnlichen Verwendung von „der selige NN“) im Deutschen; vgl. Bethe, Ehrich, Ahnenbild und Familiengeschichte bei Römern und Griechen, München1935, 31: „So ist denn jeder Römer nach seinem Tode ‚divus‘, freilich nur seinen Nachkommen.“ Die Ausweitung bei Kaisern auf das ganze Volk ergab sich (ab 42 v. Chr.) aus der Bezeichnung „parens populi Romani“ für Caesar. Vgl. Nestle, Wilhelm, Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian. In ihrer Entfaltung vom mythischen zum rationalen Denke dargestellt, Stuttgart 1944, 408. Vgl. Nestle, Wilhelm, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 2. Aufl. 1942, 543: „Da man in den hellenistischen Königen leibhaftige Götter sah, so zog Euhemeros aus Messene daraus den naheliegenden Schluß, daß die Götter überhaupt von Hause aus nichts anderes als Fürsten und Volksführer der Urzeit, die wegen ihrer Verdienste zu göttlichen Ehren erhoben worden seien. Diese Lehre wollte er in dem Heiligtum einer Insel im fernen Osten auf einer Inschrift an einer goldenen Säule gefunden haben, womit er ihr eine Art Offenbarungscharakter zu verleihen suchte.“ So Cicero, De natura deorum III 53; vgl. Nestle, Wilhelm (s. o. Anm. 45) 411.
Euhemeros
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Das Interesse an dieser Theorie, die in der Antike kontrovers, aber ernsthaft diskutiert wurde48, ist daran erkennbar, dass Ennius das Buch ins Lateinische übersetzt bzw. nachgedichtet hatte.49 Möglicherweise haben die Kirchenväter, denen wir Fragmente dieser Schrift verdanken, die Gedanken des Euhemeros in religionskritischem Sinne verschärft wiedergegeben50, wobei sie jüdische Vorgänger gehabt haben können.51 Da die Vokabel eídōlon unter anderem für die „schattenhafte“ Daseinsweise der Verstorbenen gebraucht wurde52, kann sie – auf Gottheiten angewandt – als ein Kürzel für diese Erklärung der griechisch-römischen Götterwelt gemeint sein. Von paganer Seite musste das nicht als „Lästerung“ dieser Gottheiten kriminalisiert werden, weil es sich ja um eine (umstrittene, aber sozusagen salonfähige) „wissenschaftliche“ Theorie handelte.53 Aus jüdischer Sicht dagegen implizierte das nicht nur eine Degradierung, sondern ein absolutes Verbot der kultischen Verehrung, weil das Anrufen von Totengeistern als „Gräuelsünde“ galt, für die in Israel kein Platz ist (vgl. Lev 19,31; 20,6; 1 Sam 28,3.9). Sollte diese herkömmlich als Euhemerismus bezeichnete Götterlehre der Hintergrund für die jüdische Wortwahl eídōlon für die griechisch-römischen Götter sein54, dann trifft
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Vgl. Nestle, Wilhelm, (s. o. Anm. 45) 411: „Über die weite Verbreitung und den weitgehenden Einfluß seiner Lehre, besonders auch auf zahlreiche Geschichtsschreiber der hellenistischen Zeit, kann … kein Zweifel bestehen.“ Vgl. u. a. Jacoby, Art. Euhemeros 3: Euhemeros von Messene, in: Pauly-Wissowa VI,1, Stuttgart 1907, 952–972; Thraede, Klaus, Art. Euhemerismus, in: RAC 6 (1966) 87–890; Müller, Roland. J., Überlegungen zur „Hiera Anagraphe“ des Euhemeros von Messene, in: Hermes 121 (1993) 276–300; Colpe, Carsten, Utopie und Atheismus in der Euhemeros-Tradition, in: JAC Erg.-Bd. 22 (Festschrift für Klaus Thraede, 1995) 32–44; Kany-Turpin, José, Theologie und Divination, in: Das Wissen der Griechen. Eine Enzyklopädie, hrsg. von Jacques Brunschwig u. Geofrey Lloyd unter Mitarbeit von Pierre Pellegrin, München 2000, 444–463, 462: „Vielleicht war es ihre scheinbare Unbefangenheit, die der Erzählung des Euhemeros einen solchen Erfolg bescherte, nicht nur in Griechenland, sondern auch in Rom, wo Ennius sie aufgriff und verbreitete.“ Vgl. Dochhorn, Jan, Zur Entstehungsgeschichte der Religion bei Euhemeros – mit einem Ausblick auf Philo von Byblos, in: ZRGG 53 (2001), 289–301. Vgl. Rose, Herbert Jennings, Griechische Mythologie. Ein Handbuch, München 1961, 6: „In der Antike war der Euhemerismus weit verbreitet. So konnten sich die christlichen Apologeten mit Freude auf die aus heidnischen Quellen stammende Feststellung stürzen, daß die bekanntesten heidnischen Götter nichts anderes als Menschen seien.“ Vgl. Josephus, Bell 7,452: Ein Statthalter, der viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte, wurde zuletzt wahnsinnig und „schrie ununterbrochen, er sähe die Schatten (eídōla) der von ihm ermordeten Menschen vor sich stehen“. Nach Bosworth, Brian, Augustus, the Res Gestae and Hellenistic theories of apotheosis, in: JRS 89 (1999) 1–18, soll Augustus mit seinen Res Gestae einer Vergöttlichung nach seinem Tode vorgearbeitet und dabei die Apotheose des Zeus nach Euhemeros als Vorbild im Sinn gehabt haben. Jacoby (s. o. Anm. 49) 968f. nimmt an, dass Euhemeros Göttervorstellungen aus Ägypten aufgegriffen hat – also aus dem Umfeld der Übersetzer der Septuaginta!
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Paulus den Nagel auf den Kopf, wenn er in 1 Thess 1,9 den eídōla den lebendigen Gott“ genüberstellt. Die breitere Bedeutung von eídōlon hat einen negativen Beiklang im Sinne von „minderwertiges Abbild“ oder „bloße Imitation“ und bezeichnet jedenfalls in 1 Thess 1,9 den Gegensatz zum „wahren“ oder „wirklichen“ Gott. Diese Bedeutung von eídōlon verwendet Euripides in seinem Drama Helena (683) für die Aussage, dass der Anlass des trojanischen Krieges auf einer Täuschung beruht habe: die wahre Helena sei gar nicht entführt worden, sondern nur eine von der Göttin Hera untergeschobene Dublette. Auch bei Platon ist die Vokabel eídōlon im Kontrast zu alēthinós („wahr“ oder „wirklich“) belegt55 oder mit pseúdos (Lüge) koordiniert.56 In der Diskussion darüber, ob den Fremdgöttern (bei Opferfeiern) geweihtes Fleisch (das auf dem Markt verkauft wurde) verzehrt werden darf, spricht Paulus den eídōla das Vorhandensein „in der Welt“ ab – im Gegensatz zu dem einen Gott (1 Kor 8,4). Die Fortsetzung in V.5–6 ist nicht ganz so eindeutig formuliert. Wolfgang Schrage übersetzt: „Denn selbst wenn es auch sogenannte Götter gibt, sei es im Himmel, sei es auf Erden, wie es ja (wirklich) viele Götter und Herren gibt, so ist doch für uns (nur) der eine Gott, der Vater, aus dem alles ist und wir zu ihm …“57
Das kann so verstanden werden, dass es die vielen Götter gibt, − aber sie gehen uns nichts an! Die heutige Lutherbibel übersetzt: „Und obwohl es solche gibt, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater …“58
Die heutige Einheitsübersetzung: „Und selbst wenn es im Himmel oder auf der Erde sogenannte Götter gibt – und solche Götter und Herren gibt es viele −, so haben doch wir nur einen Gott, den Vater …“
Das klingt nach einem Verzicht auf aggressive Polemik zugunsten eines bescheidenen oder trotzigen „bei uns nicht!“ Das passt jedoch nicht in den Zusammenhang: In der unmittelbaren Fortsetzung in V.7 spricht Paulus von einem „Wissen“, wovon schon vorher in V.1.2.3.4 die Rede war, weitergeführt in V.10.11. Durchgehend ist damit gemeint, dass man vor den eídōla keine Angst haben muss, weil sie eben bloße Schemen sind. Das Prädikat „Götter“ (und Götter sind ja zu fürchten!) ist ihnen abzusprechen! Für eine treffendere Übersetzung schlage ich vor, das legómenoi theoí nicht mit „sogenannte Götter“, sondern mit 55
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Vgl. Platon, Gastmahl 212 A.; Sophist 234 C; Staat 586 B.; ferner eidōlopoieín bei Philo, Somn II 97. Vgl. Platon, Theätet 150 E. Vgl. Schrage, Wolfgang, Der erste Brief an die Korinther, 2. Teilband 1Kor 6,12 – 11,16, Solothurn/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 1995, Für diese Übersetzung kann man sich auf Josephus, Ap 2,237 (s. o.) berufen.
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„angebliche Götter“ zu übersetzen59 und für das anschließende hôsper die Bedeutung „als ob“ vorzuziehen60: „Und obwohl es im Himmel oder auf der Erde angeblich(e) Götter gibt – als ob es viele Götter und viele Herren gäbe! – so ist für uns (nur) Einer Gott, der Vater, aus dem alles hervorging, auch wir selbst.“
In diesen Sätzen im Rahmen einer Korrespondenz mit Geschwistern im Glauben kann Paulus die Existenz anderer Götter bestreiten, in der Tradition des Schemá Jisrael (Dtn 6,4f.) und in Vorwegnahme des christlichen Redens von „Gott“ ohne Artikel, weil als Name dieses Einen empfunden (im Englischen “God“ und nicht „god“).61 Dieses Reden von „Gott“ ohne Hinzufügung eines Namens (weil theós nicht mehr das Prädikat von Vielen ist!) mussten Nichtjuden als neuen Sprachgebrauch lernen, wenn sie von den Aposteln für die Hinwendung zu dem Gott Israels gewonnen wurden. Die Areopagrede des Paulus schweigt (beim ersten Kontakt mit Interessierten) noch davon, dass es neben dem „unbekannten Gott“, den die Athener noch nicht kennen, gar keinen Platz mehr für weitere „Götter“ gibt. Wir wüssten gern, wie der „Katechismus-Unterricht“ des Urchristentums sprachlich gestaltet wurde, damit die Attraktivität der „Frohen Botschaft“ die traditionellen Bilder von der (allzu menschlich gemalten) antiken Götterwelt verblassen ließ. Vielleicht ließ die Fülle der Botschaft Jesu von Gott, komprimiert weitergegeben durch das Vaterunser, alle Gedanken an weitere Götter als überflüssig erscheinen. Für Fernstehende blieb das schwer nachvollziehbar, und so erbte die Jesusbewegung die als „asozial“ verachtete „Fremdheit“ des jüdischen Volkes in einer Welt, die den Einen GOTT noch nicht kennt.
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Vgl. Xenophon, Hellenika VI, 3, 8 Vgl. Xenophon, Anabasis III 1,14. Bezeichnenderweise ist im Neuen Testament der Ausdruck „der höchste Gott“ (zu unterscheiden von „der Höchste“ als Gottesbezeichnung) abgesehen von einem Zitat in Hebr 7,1 nur im Munde einer nichtjüdischen Sklavin belegt, die in Philippi Paulus und seine Mitarbeiter öffentlich als „Diener des höchsten Gottes“ bekannt macht, - woraufhin Paulus diese Propaganda durch ein Machtwort „abstellt“ (Apg 16,16–18). Die Septuaginta gebraucht diese Gottesbezeichnung zur Wiedergabe von El eljon (das im Hebräischen kein Superlativ ist); vgl. Bertram, Georg, Art. [hýpsistos], in ThWNT VIII (1969) 613–619, hier 615f.
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament 1.
Einstieg
Wir schreiben das zehnte Regierungsjahr des Kaisers Nero, nach unserer Zeitrechnung das Jahr 64 n. Chr. Der Playboy auf dem Kaiserthron hat viel von seiner anfänglichen Beliebtheit im Volk verloren. Da bricht eine furchtbare Katastrophe über Rom herein: Eine zehntätige Feuersbrunst legt große Teile der Stadt in Schutt und Asche. Überraschend schnell liegen Pläne für einen großzügigen Wiederaufbau der Stadt auf dem Tisch. Da kommt der Verdacht auf, dass das Unglück auf Brandstiftung zurückgehe – auf Befehl des Kaisers! Wie reagiert Nero? – Er findet einen anderen Sündenbock: die Christen. Darüber Tacitus (Ann XV 44,2) wörtlich: „Um dem Gerede ein Ende zu machen, schob Nero andere als Schuldige vor und belegte die mit ausgesuchtesten Strafen, die – wegen ihrer Schandtaten verhasst – vom Volk „Chrestianer“ genannt wurden.“1
Es folgt der erste von Staats wegen befohlene Massenmord an Christen. Die Opfer erwecken Mitgefühl wegen der Grausamkeiten, die sie erdulden müssen, aber von Zweifeln an ihrer Schuld ist nicht die Rede. Das Image der römischen Christenheit scheint so schlecht gewesen zu sein, dass man ihr ein solches Verbrechen zutraute. Welche Katastrophen der Kommunikation müssen dem Blutbad des Jahres 64 vorausgegangen sein?!2 Leider wissen wir zu wenig über diese Vorgeschichte, um Lehren aus dem Ereignis ziehen zu können. Möglicherweise hatte der Prozess gegen Paulus vor dem kaiserlichen Gericht zu einer negativen Meinungsbildung geführt, wenn schon nicht über seine Person, dann über die von ihm vertretene Bewegung. Sueton schreibt über Neros Politik gegenüber dem Christentum ganz unabhängig vom Brand Roms (Sueton, Nero 16):
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In lateinischen Handschriften mit „Christus“ oder „christianus“ im Text gibt es häufig Varianten mit einem „e“ statt „i“ in der ersten Silbe. Vgl. Sueton, Vit Caes, Claudius 25,4 (impulsore Chresto). Vgl. Lampe, Peter, Die stadtrömischen Christen in den beiden ersten Jahrhunderten, Tübingen 1987, 2., überarb. u. erg. Aufl. 1989, 67: „Das Geschehen unter Nero setzt voraus, dass die Christen nicht nur bereits in einer beträchtlichen Anzahl existieren, sondern auch in der Öffentlichkeit bekannt sind und dort einen im ganzen negativen Eindruck gemacht haben, so dass sie sich zu Sündenböcken eignen.“
Tacitus und Sueton über die Christen
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„Über (die?) Christen, Menschen, die sich einem neuen und gefährlichen Aberglauben ergeben hatten, wurde die Todesstrafe verhängt.“
„Aberglaube“ (superstitio) war in Rom der Sammelname für alle neuen religiösen Bewegungen, besonders wenn sie auf den Einfluss unterworfener Völker zurückzuführen waren.3 Tacitus (Ann XIII 32,2) berichtet für das Jahr 57 n. Chr. von einer Anklage gegen die Römerin Pomponia Graecina wegen „ausländischen Aberglaubens“. Der Prozess wurde einem traditionellen Familiengericht unter dem Vorsitz ihres Gatten übertragen und führte zu ihrem Freispruch. Viele Forscher nehmen christlichen Einfluss als Hintergrund des Falles an. Dass der Fall nicht vor einem staatlichen Gericht verhandelt wurde, lässt erkennen, dass superstitio kein gesetzlich definierter Straftatbestand war. Lohnt es sich, nach weiteren Gründen für das schlechte Image der ersten Christen zu fragen? Soll unser christliches Verhalten von der Reflexion über die Wirkung auf Außenstehende beeinflusst sein?
2.
Vorüberlegungen
Bei der Lektüre des Neue Testaments kann man den Eindruck gewinnen, dass die Urkirche sich mit der Feindschaft der Umwelt abgefunden hatte. Die innere Verarbeitung der Konflikte nimmt jedenfalls mehr Raum ein als das Nachdenken über Strategien der Konfliktvermeidung und des Abbaus von Spannungen. Verfolgung verbindet die Jünger mit dem Schicksal des Meisters (Joh 15.18f.): „Wenn die Welt euch hasst, dann bleibt euch bewusst: mich hat sie schon vor euch gehasst. Wärt ihr auf Seiten der Welt, dann würde die Welt (euch als) ihre Mitglieder lieben. Weil ihr aber nicht zur Welt gehört, weil ich euch aus der Welt heraus erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“
In manchen Texten wird den verfolgten Christen sogar ein umso höheres Selbstbewusstsein nahegelegt, zum Beispiel in der abschließenden Seligpreisung in Mt 5,11: „Selig seid ihr, wenn man euch um meinetwillen beschimpft und verfolgt und allerhand Schlechtes über euch redet, wenn das gelogen ist. Freut euch und jubelt; denn im Himmel liegt schon eine große Belohnung für euch bereit. Genau so haben sie ja die Propheten verfolgt, die vor euch gelebt haben.“
Solche Worte können ein harmonisches Zusammenleben mit der Umwelt geradezu als bedenklich erscheinen lassen.4 Ist es womöglich ein Indiz für mangelhafte Nachfolge Jesu? 3
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Vgl. Janssen, L. F., „Superstitio“ and the Persecution of Christians, VC 33 (1979) 131–159; Lührmann, Dieter, SUPERSTITIO – die Beurteilung des frühen Christentums durch die Römer, ThZ 42 (1986) 193–213 Vgl. 1 Joh 2,15–17; Jak 4,4.
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Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Allerdings sollten wir in Mt 5,11 der Vorbehalt („wenn sie damit lügen“) nicht überhören! Die ablehnende Grundhaltung oder Voreingenommenheit der Umwelt darf keinen Angriffspunkt in wirklichen Verfehlungen der Gemeindeglieder finden. In 1. Petr 4,14–16 wird das ausdrücklich eingeschärft: „Wenn ihr wegen des Namens Christi beschimpft werdet – Heil euch! Denn der Geist der Herrlichkeit, der Geist Gottes, ruht auf euch. Dass nur ja niemand von euch leiden muss als Mörder, oder Dieb oder (sonstiger) Übeltäter oder wegen Kompetenzüberschreitung! Wenn einer aber als Christ leidet, soll er sich nicht schämen, sondern Gott in dieser Eigenschaft die Ehre geben.“
Es kann der Kirche darum nicht gleichgültig sein, welche ethischen und rechtlichen Normen in der jeweiligen Umwelt in Geltung stehen. Christliche Ethik steht keineswegs in grundsätzlichem Gegensatz zu allgemein-menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse, wie schon die Zehn Gebote zeigen. In Röm 12,17f ist diese Annahme eines weitgehenden Grundkonsenses im Urtext deutlicher ausgesprochen als in unseren kirchlichen Übersetzungen. In der Lutherbibel lauten die Verse: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, so viel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“
Ähnlich die Einheitsübersetzung und die Neue Zürcher Bibel. Dabei ist jedoch das „gegenüber“ ungenau. Im Griechischen steht da enôpion, und das heißt nicht „gegenüber“, sondern „vor“ oder „aus der Sicht“. Christen sollen auf das bedacht sein, was „in den Augen aller Menschen“ gut ist.5 In Phil 4,8 schreibt der Apostel generalisierend: „Weiter, Brüder und Schwestern, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert, was einen guten Ruf hat, … darauf seid bedacht!“
Dass es ein übertriebenes Streben nach Anerkennung geben kann, muss man dabei im Auge behalten. Jesus kritisierte die demonstrative Frömmigkeit der Pharisäer, mit der sie um Ansehen im jüdischen Volk warben (vgl. Mt 23,5–7); und Paulus betont in Gal 1,10, dass es ihm nicht darum geht, Menschen zu gefallen. Eine Leitlinie christlicher Ethik ist es, vor allem Gott zu gefallen (vgl. Röm 12,2; 1 Thess 1,4; Kol 1,10). Diese Priorität muss klar sein; aber im Idealfall stößt das Tun des Guten bei Gott und Menschen auf Anklang, wie es z. B. in Lk 2,52 über Jesus heißt: „Jesus nahm zu an Weisheit, Reife und Anerkennung bei Gott und bei Menschen.“
Darum kann auch Paulus in Röm 14,17f schreiben:
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Nach Bauer, Walter, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. … Auflage hrsg. von Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin 1988, Sp. 546 kommt auch die Übersetzung „nach d. Meinung, nach dem Urteil“ in Frage.
Einstellungen gegenüber der Umwelt
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„Beim Reich Gottes geht es nicht um Essen und Trinken, sondern um Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. Wer in diesem (Geist)6 dem Christus dient, gefällt Gott und ist bei den Menschen geachtet.“
Christen sollten Konflikte mit ihrer Umwelt also nicht suchen, als ob solche Konflikte ein Wert in sich wären. Die latente Spannung zwischen „Kirche“ und „Welt“ darf nur in solchen Fragen virulent werden und zum Konflikt eskalieren, wo es sachlich geboten ist. Religiös indifferente oder konsensfähige Fragen sollten nicht von den wirklichen Streitpunkten und notwendigen Konfrontationen ablenken. Aber die Geschichte ist oft anders verlaufen! Mit diesem Problembewusstsein im Hinterkopf können wir dankbar dafür sein, dass ein Autor des Neuen Testaments uns eine ganze Reihe von Konfliktberichten liefert, in denen ein negatives Image von Christen zur Sprache kommt: der Verfasser der Apostelgeschichte. Natürlich teilt Lukas die negativen Urteile Außenstehender nicht, die er referiert. Meistens traut er den Lesern und Leserinnen zu, deren Haltlosigkeit zu durchschauen.7 Vielleicht will er die Mitchristen „impfen“, damit sie lernen, auf ähnliche Vorwürfe zu antworten. Wiederholt deckt er fingierte Anklagen auf, hinter denen sich fragwürdige Interessen verbergen.8 Das ändert jedoch nichts an der öffentlichen Wirkung solcher Anklagen, wie vor allem der Konflikt um Stephanus zeigt. Die Verleumdungen gegen ihn, die ursprünglich nur eine persönliche Rache seiner ihm intellektuell nicht gewachsenen Gegner waren, zerstören die anfängliche Beliebtheit der Urgemeinde (vgl. Apg 8,1–3). Für uns sind diese lukanischen Berichte von unschätzbarem Wert: 1. als Beispiel für die Aufmerksamkeit, die das Urchristentum seiner Außenwahrnehmung beigemessen hat; 2. als Einblicke in die faktischen Konflikte der frühesten Kirchengeschichte; 3. als Denkanstöße für die Frage, ob Außenstehenden nicht manchmal ein Gespür für ein Konfliktpotential haben, das uns Christen zu wenig bewusst ist.
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7
8
Ich ziehe die Lesart en toútō der Plural-Variante des Mehrheitstextes vor; vgl. die Einzelexegese. In Lk 23,2 wird Jesus bei Pilatus mit den Worten angeklagt: „Wir haben festgestellt, dass dieser Mensch unser Volk verführt, indem er verbietet, dem Kaiser Tribute zu entrichten, und behauptet, er sei ein gesalbter König“ (oder: zum König gesalbt?). Wer das Evangelium bis hierher gelesen hat, weiß aus Lk 20,20–26, dass Jesus keineswegs die Tributzahlung als bedenklich und mit „dem Weg Gottes“ unvereinbar hingestellt hat. Das kommt auch schon in Lk 2,4f. narrativ zum Ausdruck, indem Joseph zu seiner „Steuererklärung“ nach Bethlehem reist. Vgl. Apg 6,10–14; 16,16–21.
124
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
3.
Kritik an Christen in der Apostelgeschichte
3.1
Spott
Den Auftakt mag ein relativ harmloses Beispiel kritischer Außenwahrnehmung bilden: der Spott der Ohrenzeugen des Sprachenwunders an Pfingsten. Nach Apg 2,1ff. äußert sich die erste kollektive Erfahrung des Heiligen Geistes in einem enthusiastischen Gotteslob in verschiedensten Sprachen.9 Ein Teil des irritierten Publikums kommentiert das mit der lakonischen Bemerkung: „Die sind wohl besoffen!“ (V.13) Das ist nicht böse gemeint, aber abfällig.10 Ähnlich abfällig lautet die Reaktion eines römischen Statthalters auf eine Rede des Paulus in Apg 26,24: „Paulus, du spinnst! Die vielen Bücher bringen dich um den Verstand!“
Ein Lehrstück für Theologiestudierende: Paulus hat sich in dieser Rede vor allem an den anwesenden (noch recht jungen) jüdischen König Agrippa gewandt, den Porcius Festus um einen sachverständigen Rat zum Prozess gegen Paulus gebeten hatte. Was Paulus vorträgt, sind für den Römer „böhmische Dörfer“, und irgendwann verliert der die Geduld. Insider-Jargon macht Außenstehende sauer.
3.2
Rache für den Tod Jesu
Aus der frühesten nachösterlichen Zeit berichtet Lukas über einen Konflikt zwischen den Aposteln und dem Hohen Rat von Jerusalem. Petrus hatte in mindestens zwei öffentlichen Predigten das gewaltsame Ende Jesu als einen Justizmord angeprangert. Mehr noch: als ein Sakrileg, weil Jesu Anspruch, von Gott gesandt zu sein, durch seine Auferweckung von Gott bestätigt worden sei. (Vgl. Apg 2,22– 24.36; 3,13–15) Die Hauptschuld an diesem himmelschreienden Unrecht warf Petrus dem Hohen Rat vor, der Jesus vor Pilatus angeklagt hatte (vgl. 4,10–12; 5,30), dazu den Einwohnern Jerusalems, die vor Pilatus die Freilassung des Barabbas und die Kreuzigung Jesu verlangt hatten (vgl. 3,13). Den Aposteln wird darauf hin bei Strafe verboten, weiter öffentlich für die Rehabilitation Jesus einzutreten. Ihnen wird dabei vorgeworfen (5,28): 9
10
Dass wirklich sinnhaltige (aber unbekannte und ungelernte) Sprache gemeint ist und nicht ein inhaltsloses ekstatisches Gestammel, sollte nicht bestritten werden (auch nicht für die Parallelstellen in Apg 10,46; 19,6 und 1 Kor 12,10.28; 13,1; 14 passim). Vgl. meine Studie Das Pfingstwunder als exegetisches Problem, in: Verborum Veritas. Festschrift für Gustav Stählin zum 70. Geburtstag, Wuppertal 1970, 125–131. Der Ausdruck „betrunken von Most“ ist wohl spöttisch gemeint, im Sinne von „viel Lärm um nichts!“
Nachwirkungen des Schicksals Jesu
125
„Ihr wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen.“
Das ist eine alte biblische Formel11 und bedeutet: Ihr wollt uns den Tod Jesu büßen lassen.12 Wie das aussehen könnte, wird nicht gesagt. Eine Anklage gegen die jüdischen Honoratioren beim Statthalter war wohl unwahrscheinlich. Aber eine Volksbewegung gegen den amtierenden Hohen Rat war schon eher denkbar. Auch Herodes Antipas hatte die Hinrichtung Johannes des Täufers damit bezahlen müssen, dass er bei seinen Untertanen „unten durch“ war.13 Die Apostel hatten sicher nicht die Absicht, den Hohen Rat zu stürzen. Aber der Schluss der Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2,33) appelliert an „das ganze Haus Israel“, die Kreuzigung Jesu durch die Jerusalemer („ihr“) als Mord an einem Gesandten Gottes zu erkennen. Eine dadurch ausgelöste Protestbewegung hätte für einige der Verantwortlichen Folgen haben können.14 Das uneingestandene Schuldbewusstsein der Jerusalemer Führung weckte Ängste, die nicht ganz unbegründet waren. Was sie noch nicht ahnen konnten: Jahrhunderte später erwiesen sich diese Ängste als allzu begründet: In immer neuen Pogromen haben Christen sich als die „Hinterbliebenen“ Jesu aufgespielt, die auf der Linie einer Kollektivschuld-Idee an späteren Juden grausame Blutrache übten! Zur Legitimierung ihrer Gräuel interpretierten sie Mt 27,25 als eine „Selbstverfluchung“ der Juden und als Einladung, alle späteren Generationen des ganzen jüdischen Volkes für die Mitschuld am Tode Jesu zu bestrafen.15
3.3
Verrat an jüdischer Tradition und Identität
Während der Hohe Rat in dieser Frühzeit die Volksmeinung gegen sich hatte, kippte die Stimmung, als es gelang, die Jesusbewegung in den Geruch eines
11 12
13
14
15
Meistens mit „kommen“ formuliert, mit „bringen“ in 2 Sam 16,8. Sie steht auch hinter dem in der Regel falsch übersetzten Ruf der Demonstranten vor Pilatus in Mt 27,25: „Sein Blut über uns …“ Dort handelt es sich um eine Bekräftigung der Anklagen gegen Jesus, frei übersetzt: „Wir halten unseren Kopf dafür hin …“ Vgl. Josephus, Ant 18, 116f. Welche politische Dimensionen die Blutrache für einen Ermordeten durch einen Angehörigen annehmen konnte, lehrt das Beispiel Octavians, dessen gnadenloser Feldzug gegen die Mörder Caesars zunächst ganz im Zeichen der Rache für den Mord an seinem Adoptivvater stand. Im Jahr 62 n. Chr. ließ der sadduzäische Hohepriester Ananos während einer Vakanz des Statthalteramtes den Herrenbruder Jakobus und einige andere Christen zum Tode verurteilen und steinigen. Nach Protesten aus der Bevölkerung wurde er daraufhin abgesetzt; vgl. Josephus, Ant 20, 200–203. Matthäus wird in Mt 27,25 an die Katastrophe Jerusalems als ein Gericht über die Stadt wegen des Todes Jesu gedacht haben. Zur Einbeziehung der Kinder (nicht Kindeskinder oder alle Nachkommen!) vgl. meine Studie „Sein Blut über uns“. Erwägungen zu Matthäus 27,35, in: Kirche und Israel 1 (1986) 47–50, sowie in meinem Buch Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Wuppertal / Neukirchen-Vluyn 2002, 29–32.
126
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Bruchs mit den heiligsten Werten des Judentums zu bringen. Dieser Stimmungsumschwung wird von Lukas mit dem Auftreten und Schicksal des ersten Märtyrers Stephanus in Verbindung gebracht. Ihm wurde nach Apg 6,11 vorgeworfen, lästerliche Reden gegen Mose und gegen Gott selbst im Munde zu führen. Eine formale Anklage vor dem Hohen Rat präzisiert das mit den Worten (Apg 6,13f.): „Dieser Mensch hört nicht auf, Worte gegen diesen heiligen Ort (d. h. den Tempel) und das Gesetz zu äußern. Wir haben selbst gehört, wie er gesagt hat: Dieser Jesus … wird diesen Ort zerstören und die Lebensordnungen ändern, auf die uns Mose verpflichtet hat.“
Diese Vorwürfe mussten bei allen frommen Juden die Alarmglocken läuten lassen: Mit dem Tempel würde nicht nur ein Gebäude, sondern der von Gott selbst in der Torah gestiftete Gottesdienst verschwinden (wie es später tatsächlich geschehen ist). Und die Abschaffung der auf Mose zurückgeführten Lebensordnung wäre das Ende jüdischer Identität. Einen dahin gehenden Versuch hatte im 2. Jahrhundert v. Chr. Antiochus Epiphanes mit Unterstützung hellenisierter Juden unternommen. Damals erlitten viele torahtreue Juden das Martyrium. Der makkabäische Aufstand schaltete die Kollaborateure aus und wehrte die Überfremdung des Judentums auch militärisch ab. Und jetzt sollte das alles durch die in Galiläa entstandene Jesusbewegung wieder in Frage gestellt werden? Diese Verleumdungen kosteten den Stephanus das Leben und bestimmten von da an die Außenwahrnehmung des Christentums, so dass Jerusalem für Jesusjünger zu einem heißen Boden wurde. Ein junger Mann namens Saulus mischte dabei kräftig mit (vgl. Apg 8,1–3). Aber hatten die Anklagen gegen Stephanus Hand und Fuß? Lukas referiert sie ausdrücklich als frei erfundene falsche Anklagen. Er erklärt sie psychologisch plausibel als eine Rache dafür, dass Stephanus in Streitgesprächen regelmäßig seinen Kontrahenten überlegen war.16 Wir können daraus lernen, dass intellektuelle Überlegenheit auf christlicher Seite bei den Unterlegenen Aggressionen wecken kann, die ein Feindbild vom Christentum entstehen lassen.17 Paradoxerweise hat die moderne Exegese den Vorwürfen gegen Stephanus mehr oder weniger Recht gegeben? Warum? Weil man das Christentum als Gegensatz zum Judentum interpretierte, das Gesetz für überholt hielt und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht als einen Verlust empfand. Stephanus wurde - von und seit Ferdinand Christian Baur - zum Pionier der Überwindung des Judentums hochstilisiert, darin angeblich ein Vorläufer des Apostels Paulus.18 16
17
18
Ihre Reaktion entspricht einem Deutungsmodell der modernen psychologischen Konfliktforschung. Nach der „Frustrations-Aggressions-Hypothese“ steigt oft die Bereitschaft zu aggressiven Handlungen, wenn zielgerichtete Anstrengungen mit Misserfolgen enden. Vgl. Kornadt, Hans Joachim, (Hrsg.), Aggression und Frustration als psychologisches Problem, Darmstadt 1981, 2 Bde. Vgl. Apg 9,22f über eine ähnliche Reaktion jüdischer Gegner auf die argumentative Überlegenheit des Paulus. Vgl. meine Monographie Stephanus – verleumdet, verehrt, verkannt, Leipzig 2014, hier besonders S. 128–155 zur Auslegungsgeschichte.
Bruch mit jüdischen Traditionen
127
Ähnliche Vorwürfe wie gegen Stephanus werden später auch gegen Paulus erhoben. Bei seinem letzten Besuch in Jerusalem wird ihm gleich bei der Begrüßung im „Presbyterium“ geschildert, welches Paulusbild den Gläubigen in Judäa unter die Nase gehalten wird (21,21): „Ihnen ist über dich berichtet worden, dass du alle Diasporajuden zum Abfall von Mose aufforderst und sagst, sie sollten ihre Kinder nicht mehr beschneiden und nicht mehr nach den Lebensordnungen leben.“
Wenig später im gleichen Kapitel lautet die öffentliche Polemik gegen Paulus noch massiver (V.28): „Das ist der Mensch, der in aller Welt Lehren verbreitet, die sich gegen das Volk, das Gesetz und gegen diesen Ort richten.“
Die Apostelgeschichte liefert keine Anhaltspunkte für dieses Paulusbild. Nach Apg 16,3 soll Paulus sogar die Beschneidung eines jungen Mannes namens Timotheus veranlasst haben – was manche Exegeten nicht wahrhaben wollen. Aber in den Briefen des Apostels kann man Äußerungen finden, die sich als respektlos gegenüber dem Gesetz deuten lassen.19 Allerdings ging es Paulus nicht darum, die jüdische Religion zu kritisieren: Seine Gegner waren Judenchristen, die von den Heidenchristen die Konversion zum Judentum verlangten. Die Torah enthält zwar universell konsensfähige ethische Maßstäbe, ist aber mit zahlreichen Regeln für die Lebensgestaltung eine Aufgabe und Gabe nur für Israel im Rahmen des Bundes vom Sinai (Röm 9,4). In der Praxis der späteren Kirche wurde jedoch von Juden, die Christen wurden, der völlige Bruch mit jüdischer Lebensweise verlangt. Christlich getaufte Juden, die noch den Sabbat einhielten, wurden Opfer der Inquisition.20 Auch ohne solche Gewaltandrohung haben viele jüdische Familien nach ihrem Übertritt zum Christentum ihre jüdische Identität verloren und ihre jüdischen Wurzeln sogar vergessen. Christianisierung war der Preis für gesellschaftliche Emanzipation, Konversion der Austritt aus dem jüdischen Volk. Vor diesem Hintergrund versteht man, dass gezielte Evangelisation unter Juden auf jüdischer Seite als Aggression verstanden und leidenschaftlich abgelehnt wird.21 Die Gegner des
19
20 21
Paulus benutzt negative Konnotationen des profanen Gesetzesbegriffs, um den Gedanken einer Heilsbedeutung der Torah als abwegig hinzustellen: Gesetze gibt es nicht seit Beginn der Menschheit (vgl. Röm 5,13f.20); sie sind Instrumente zur Bestrafung von Missetätern (Röm 4,15: 2 Kor,36), reizen aber paradoxerweise zum Tun des Verbotenen (Röm 7,7–11), anstatt es zu verhindern. Vgl. meine Studie Der „Antinomismus“ des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: Geschichte - Tradition - Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Hubert Cancik, Hermann Lichtenberger, Peter Schäfer, Bd. III Frühes Christentum, Tübingen 1996, 387–404. Vgl. Beinart, Haim, Art. Conversos (Marranos), in: RGG 4. Aufl. Bd. 2 (1999) 454–456. Das ist der Sinn der bitteren Deutung von Judenmission als „Holocaust mit geistigen Mitteln“.
128
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Paulus hatten den Apostel karikiert, aber vielleicht etwas gerochen von der späteren Wirkungsgeschichte seiner Theologie. So viel zum „Schatten“ des Christentums aus jüdischer Sicht. Aus der Sicht der paganen Umwelt konnte ein genau entgegen gesetztes Feindbild entstehen: das Christentum als eine jüdische Sekte, die den Rahmen einer Volksreligion sprengt, Jüdisches exportiert und damit den kulturellen Status quo gefährdet:
3.4
Unerlaubte Verbreitung jüdischer Kultur in der römischen Welt
In Apg 16 berichtet Lukas von der Entstehung der Gemeinde in Philippi, der ersten Gemeindegründung des Paulus auf europäischem Boden. Für unsere Frage ergiebig sind die Umstände, die den Apostel zur Weiterreise nötigten (V.16–40). Eine Sklavin, die offenbar wahrsagen konnte, hatte längere Zeit geradezu zwanghaft für Paulus und seine Mitarbeiter Reklame gemacht, indem sie ausrief: „Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes, die euch einen Weg des Heils verkünden.“ Paulus verbittet sich diese dämonische Schützenhilfe, indem er den Geist, der aus dieser Frau redete, austreibt. Doch damit verlieren die Besitzer dieser Sklavin eine Einnahmequelle und klagen den Apostel an. Aber nicht wegen Geschäftsschädigung! Vielmehr lautet die Anklage (Apg 16,20f.): „Diese Menschen stiften Unruhe in unserer Stadt - und dabei sind sie Juden! Sie propagieren Sitten, die wir als Römer weder zulassen noch praktizieren dürfen!“
Die Ankläger appellieren also an den römischen Charakter der Stadt. Philippi war seit der Schlacht bei Philippi im Jahr 42 v. Chr. eine colonia, d. h. eine römische „Pflanzstadt“ mit einer römischen Oberschicht. Das Judentum wurde dort nur als Randerscheinung geduldet; ein jüdischer Versammlungsplatz lag außerhalb eines Stadttores, vielleicht unter freiem Himmel. Nur staatlich anerkannte Kulte durften innerhalb der Stadtmauern bzw. des Pomeriums (der kultisch geweihten Stadtgrenze) ausgeübt werden. In Philippi genoss die jüdische Religion diese Anerkennung offenbar nicht, so wie auch alle Synagogen der Reichshauptstadt Rom außerhalb des Stadtgebietes lagen.22 Nun malen die Gegner des Paulus das Schreckgespenst einer kulturellen Überfremdung der Stadt an die Wand. Dabei machen sie keinen Unterschied zwischen jüdischem und christlichem Einfluss: Es soll dabei bleiben, dass die Juden innerhalb der Stadt nichts zu suchen haben, jedenfalls nicht im öffentlichen Leben.
22
Vgl. Lampe, Peter, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, Tübingen 1987, 2. Aufl. überarbeitet und ergänzt 1989, 31.
Jüdische Kulturmission?
129
Für die Leserschaft des Lukas ist es sonnenklar, dass Paulus keine jüdische Kulturmission betreibt. In Kap. 15 hat Paulus beim „Apostelkonzil“ volle Rückendeckung dafür bekommen, dass Heidenchristen nicht nach dem mosaischen Gesetz leben müssen, wie es christliche Pharisäer verlangt hatten (vgl. Apg 15,5). Und trotzdem: So sehr die Anklage in Philippi eine Verschleierung der eigentlichen Motive und Interessen der Gegner war – einen Wahrheitskern können wir ihr nicht abstreiten: Dass wir heute weit über die Kirchengrenzen hinaus in aller Welt einen wöchentlichen Feiertag haben, ist Folge eines jüdischen Kulturexports, Nachahmung der Heiligung des Sabbats. Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen, etwa die organisierte Fürsorge für Bedürftige, die die Kirche vom Judentum übernommen und später an den Staat weitergegeben hat. Die Christianisierung einer Gesellschaft verändert deren Kultur und verpflanzt nicht nur den Glauben, sondern auch Wertvorstellungen und Lebensgewohnheiten. In der modernen Missionsgeschichte hatte das zur Folge, dass mit dem Evangelium auch westeuropäische Bräuche (z. T. auf dem Umweg über Nordamerika) in andere Erdteile exportiert wurden. Kultureller Kolonialismus als Begleiterscheinung christlicher Mission – in Philippi zum ersten Mal als Gefahr an die Wand gemalt – ist ein „Schatten“ des Christentums, der unsere Aufmerksamkeit verlangt. Dabei muss hinzugefügt werden, dass zu dem Repertoire nationaler „Bräuche“ immer auch Traditionen gehören, die aus ethischen oder religiösen Gründen in Frage zu stellen sind. Die kulturelle Identität eines Gemeinwesens ist kein höchster Wert, der um jeden Preis zu verteidigen ist, sondern häufig das interessengeleitete Konstrukt herrschender Kreise.23
3.5
Hochverrat
Die gefährlichsten Vorwürfe gegen das frühe Christentum außerhalb Judäas lagen auf der Ebene der staatlichen Ordnung und Ideologie. In den späteren Christenverfolgungen wurde die Verweigerung staatlich verordneter Kulthandlungen vor allem als bürgerlicher Ungehorsam bestraft. Dem jüdischen Volk wurde seine seltsame Abstinenz gegenüber den üblichen Kulten als Lohn für politische Loyalität zugestanden, nicht aber dem „internationalen“ Ableger des Judentums namens Christentum. Im Neuen Testament zeichnet sich der Konflikt mit dem römischen Statt und seiner religiösen Ideologie erst als schwaches Wetterleuchten am Horizont ab. So wird bei einem Protest gegen die christliche Mission in Thessaloniki nach Apg 17,7 der Vorwurf erhoben: „Diese Leute verstoßen gegen die Edikte des Kaisers, indem sie behaupten, ein anderer sei König, nämlich Jesus.“
23
Darum müssen Inkulturation des Evangeliums und Evangelisation der Kultur Hand in Hand gehen.
130
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Im Unterschied zur Verfolgung in Philippi stützt sich die Anklage hier auf einen Kernpunkt christlicher Verkündigung, nämlich die Christologie. Allerdings wird sie ins Politische umgedeutet. Das war gewiss kein Zitat aus einer Predigt des Paulus; denn der Titel basileus spielt im Bekenntnis der Urkirche keine Rolle. Der Königstitel war dem Kaiser vorbehalten und wurde allenfalls von ihm an Klientelfürsten verliehen (z. B. an Herodes d. Gr. und Agrippa I.). Ein Anhaltspunkt konnte aber in der Verehrung Jesu als „Herr“ gesehen werden; denn nach Apg 25,26 war das absolute ho kýrios („der Herr“) im Munde eines Römers ein respektvoller Ausdruck für den Kaiser (vergleichbar einem deutschen „Seine Majestät“). Die Unterstellung, dass das Christentum einen Gegenkaiser proklamiere, war trotzdem eine böswillige Verleumdung, weil irdische Machtergreifung außerhalb des Horizontes der frühen Christenheit lag. Diese politische Umdeutung des Christentums hat zwar zur Ausweisung von Paulus und Silas aus Thessaloniki und zu Repressalien gegen die dortige Gemeinde geführt24, aber m. W. keine erkennbare Breitenwirkung gehabt. Gefährlicher waren die Folgen eines anderen politischen Vorwurfs:
3.6
Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung
Schon in Philippi wurde dem Paulus vorgeworfen, er habe in der Stadt Aufregung oder Verwirrung gestiftet. Das klingt wie ein Echo der Begründung, mit der Claudius etwa um die gleiche Zeit Juden aus Rom ausgewiesen hatte.25 Ihnen war vorgeworfen worden, sie hätten „ständig Unruhe gestiftet“ (assidue tumultuantis, vgl. Sueton, Claudius 25,4). Möglicherweise waren diese Unruhen in der Hauptstadt durch Judenchristen ausgelöst, die in den dortigen Synagogen aufgetreten waren; denn Sueton gibt einem gewissen „Chrestus“ die Schuld an diesen Unruhen, und dahinter könnte sich der Titel „Christus“ verstecken, der nicht selten versehentlich „Chrestus“ geschrieben wurde.26 Auf dieser Linie „Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung“ liegt dann auch die Anklage, die nach Apg 24,5 in Caesarea vor dem Statthalter Antonius Felix gegen Paulus erhoben wird: „Wir haben festgestellt, dass dieser Mann eine Pest ist und dass er unter allen Juden der bewohnten Welt Tumulte auslöst.“
24 25
26
Vgl. Apg 17,8–10; 1 Thess 1,6; 2,14; 3,3f. Davon waren die zahlreichen Juden mit römischem Bürgerrecht (Nachkommen freigelassener Sklaven) sicher nicht betroffen. Zu den Betroffenen gehörte aber nach Apg 18,2 das Ehepaar Aquila und Priscilla, bei denen Paulus in Korinth seinem Handwerk nachging. Vgl. oben S. 120 Anm. 1. Der Ausdruck „Jesus Christus“, in dem ursprünglich „Jesus“ der Name und „Christus“ ein Titel (=Messias) war, konnte von Römern als zweiteiliger Name wie „Pontius Pilatus“ missverstanden werden.
Störung von Ruhe und Ordnung
131
Diese Anklage traf einen sensiblen Nerv des römischen Lebensgefühls im 1. Jahrhundert. Mit Augustus hatten Jahrzehnte des Bürgerkriegs ein Ende gefunden. Die Verwandlung des Staates aus einer Stadtrepublik in eine imperiale Monarchie hatte einen hohen Blutzoll gefordert; aber seitdem hatte die Bevölkerung mehr oder weniger Ruhe. Exzesse einzelner Kaiser betrafen mehr die Oberschicht als die Masse des Volkes. Vor diesem Hintergrund wurden Gruppenbildungen oder gar Bewegungen „von unten“ äußerst argwöhnisch beobachtet. Rückzug ins Privatleben war angesagt, und wer sich daran hielt, konnte ziemlich ungestört leben. In Kenntnis dieser Sensibilität der römischen Gesellschaft legt Paulus in 1 Thess 4,11f. den Thessalonichern ans Herz, es als Ehrensache zu betrachten, „ein stilles Leben zu führen, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, mit eigenen Händen zu arbeiten …, euch gegenüber den Außenstehenden anständig zu verhalten und auf niemanden angewiesen zu sein.“
Das entspricht vor allem den Forderungen Ciceros in De officiis I 34,125 an die Adresse der Einwohner ohne Bürgerrecht (der peregrini): „Ein Fremder aber und ein Einwohner ohne Bürgerrecht hat die Verpflichtung, außerhalb seiner Aufgabe nichts zu betreiben, nichts über einen anderen auszuforschen und sich auf keinen Fall in ein fremdes Gemeinwesen einzumischen.“27
Die christlichen Gruppen wurden zum Problem, solange sie im Verborgenen blühten. Aber wenn sie die Öffentlichkeit polarisierten, schrillten die Alarmglocken. Dann wurde nicht lange nach individuellen Schuldigen gesucht, sondern zur Abschreckung das Mittel der Kollektivstrafe eingesetzt. Möglicherweise war das die Linie, auf der sich die Christen in Rom so unbeliebt gemacht hatten, dass Nero sie als Brandstifter denunzieren konnte. Lukas überliefert uns aber auch ein Gegenbeispiel, bei dem der „schwarze Peter“ bei den Gegnern der christlichen Mission gefunden wurde: den Konflikt, der Paulus einige Jahre später zur eiligen Abreise aus Ephesus veranlasste (vgl. Apg 20,1). In Ephesus spielen wie in Philippi wirtschaftliche Interessen eine Rolle, aber nicht heimlich wie in Philippi, sondern offen ausgesprochen. Die Gilde der Silberschmiede fürchtet um ihr Geschäft, wenn Paulus weiterhin den Polytheismus in Frage stellt. Es kommt zu einer lautstarken Protestkundgebung im Theater der Stadt. Der Sprecher der Silberschmiede, Demetrius, schlägt Alarm im Namen der Göttin Artemis (V.27): „Dem Heiligtum der großen Göttin Artemis droht Gefahr, nichts mehr zu gelten, ja sie selbst, die von der ganzen Provinz Asien und von der ganzen Welt verehrt wird, wird ihre göttliche Majestät verlieren.“
27
Zitiert nach: Marcus Tullis Cicero, De officiis Vom pflichtgemäßen Handeln Lateinisch und Deutsch, übersetzt, kommentiert und hrsg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 1976, 2. Aufl. 1984, 109.
132
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Daraufhin kommt es zu einer spontanen Demonstration im Theater, bei der an die zwei Stunden lang im Sprechchor skandiert wurde: „Groß ist die Artemis der Epheser!“. Daraufhin hält der Stadtsekretär eine beschwichtigende Rede, die mit einer ernsten Warnung an die Demonstranten schließt (V. 40): „Wir riskieren wegen des heutigen Tages eine Anklage wegen Aufruhr (stásis), weil kein Grund vorliegt, mit dem wir uns für diese Zusammenrottung rechtfertigen könnten.“
Lukas hat diesen Bericht wohl gezielt in sein Werk aufgenommen, um der Verteidigung des Paulus in Kap. 24 vorzuarbeiten: Der Tumult im Tempel, durch den Paulus in die Maschine römischer Justiz geriet (vgl. Apg 21), war nicht der erste, für den nicht er, sondern seine Feinde die Verantwortung trugen. Wir müssen allerdings auf ein Kriterium achten, das der Stadtsekretär in seiner Rede zur Besänftigung der Gemüter ins Spiel bringt (V.37): Eine Anklage wäre berechtigt, wenn Paulus sich am Heiligtum vergriffen oder die Göttin Artemis öffentlich gelästert hätte. Davon könne aber keine Rede sein! Der kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Kulten waren also durch das geltende Recht gewisse Grenzen gezogen, die Paulus respektiert haben soll.28 Nach Apg 19,26 wurde dem Paulus nur vorgeworfen, die Gleichsetzung der Götterstatuen mit Göttern kritisiert zu haben; für gebildete Griechen und Römer war das eine Selbstverständlichkeit. Die Existenz der olympischen Götter explizit zu bestreiten, wäre dagegen gefährlich gewesen. Das hellenistische Judentum hatte schon lange gelernt, um des Friedens mit der nichtjüdischen Umwelt willen Verbalinjurien gegen die Götter anderer Völker zu vermeiden. Eine biblische Begründung dafür fand man in einer Stelle der Torah, die ursprünglich etwas anderes meinte. In Ex 22,27 heißt es, man solle „elohim nicht lästern und einen Fürsten in deinem Volk nicht verfluchen“. Der Parallelismus lässt darauf schließen, dass elohim hier für ein Amt gebraucht ist, und tatsächlich scheint elohim vorher in V.8 einen Richter zu meinen. Die Septuaginta geht hier aber von der religiösen Wortbedeutung aus und versteht den Plural (der sonst auch für JHWH gebraucht wird) in V. 27 als einen echten Plural: „Götter sollst du nicht lästern!“ Nach Josephus und Philon von Alexandrien hat das antike Judentum diese Regel ernst genommen,29 und nach Lukas hat sich
28
29
Vgl. meine Studie „Respekt vor den Göttern der Anderen“ (oben S. 107–119). Beachtung verdient, dass nach Apg 19,31 einige von den „Asiarchen“ (Spitzenbeamten der Provinz Asia) mit Paulus sympathisierten und ihm rieten, vorsichtshalber zu Hause zu bleiben. Zum Aufgabenbereich dieser Beamten gehörte auch der Kaiserkult. Vgl. Josephus, Ant 4,207; Ap 2,237; Philon, Vit Mos 2,205; Spec Leg 1,53. Zu den damit verbundenen Reflexionen vgl. Zeller, Dieter, Schöpfungsglaube und fremde Religion bei Philo von Alexandrien, in: ders., Studien zu Philo und Paulus, Göttingen 2011, 37–54, hier 49– 50. Josephus zitiert sogar ein reichsweit veröffentlichtes Edikt des Kaisers Claudius, das den Juden einerseits gestattet, nach ihren Traditionen und Gesetzen zu leben, ihnen anderseits aber verbietet, die religiösen Überzeugungen anderer Völker zu verachten (Jos Ant 19,290f.).
Denkanstöße für heute
133
auch Paulus in Ephesus an diese Ethik respektvoller Nachbarschaft trotz religiöser Konkurrenz gehalten.30 Dagegen soll Timotheus nach einem altkirchlichen Text als Bischof von Ephesus Märtyrer geworden sein, weil er eine öffentliche heidnische Kultveranstaltung aggressiv gestört habe.31
4.
Denkanstöße für uns heute
Der Weg zum Glauben scheitert oft an Hindernissen, die mit dem Kern des Evangeliums überhaupt nichts zu tun haben. Erste Eindrücke vom Christentum werden in den Denkhorizont der Fernstehenden eingeordnet, falsch gedeutet und als gefährlich eingestuft. Entsprechende Feedbacks müssen ernst genommen und geduldig beantwortet werden. Wir müssen freilich dazu stehen, dass das Ernstmachen mit Gott zur Relativierung anderer Werte führt, die gesellschaftlich ein hohes Ansehen genießen. Dieser Werte-Konflikt ist aber nicht durch aggressive Rhetorik anzuheizen, sondern als echte Not zu respektieren. Es geht darum, nachvollziehbar zu machen, wieso das Reich Gottes die kostbare Perle ist, für die kein Preis zu hoch ist (vgl. Mt 13,45f). Das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit muss immer neu mit dem gespeist werden, was für Christen im Mittelpunkt steht, und nicht von davon abgeleiteten, aber untergeordneten Differenzen zur political correctness. Wir sollten nicht schlecht von Menschen denken und reden, die das Evangelium nicht als frohe Botschaft begreifen, die womöglich nicht genug Mut zum Umdenken haben oder vor den sozialen Konsequenzen des Umdenkens zurückschrecken.32 Wenn Glaube keine menschliche Leistung, sondern ein Geschenk Gottes ist, dann bleibt kein Raum für die Verachtung von Menschen, die den Zugang zum Glauben nicht finden. Wir können sie nur der Geduld und Barmherzigkeit Gottes überlassen.
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31
32
Auch die Areopagrede des Paulus in Apg 17,22–31 kommt ohne Polemik gegen die Götter der Athener aus, sondern kritisiert nur Formen ihrer Verehrung, ruft aber klar zur Bekehrung zum Gott der Bibel auf. Vgl. von Lips, Hermann, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus, Leipzig 2008,159– 164. Darum ist die Fehlübersetzung von Apg 18,6 in der ersten Auflage der „Bibel in gerechter Sprache“ zu kritisieren: Paulus antwortet auf den Widerstand gegen seine Verkündigung nicht mit einer Strafandrohung („Euch wird Vergeltung treffen“), sondern betont, dass er seine Pflicht getan hat und nicht schuld ist, wenn diese Predigthörer das Heil verfehlen. Die traditionelle Wendung „Blut-über-N. N.“ ist hier keine Ankündigung, sondern eine Klarstellung der Verantwortung für die (eventuellen) Folgen. Vgl. oben Anm. 15.
134
Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament
Summary Starting with Nero’s successful defamation of Christians in A. D. 64, the article discusses the negative image of early Christians according to the New Testament, including slanderous accusations which influenced public opinion. In a striking number of cases what was wrong in New Testament times came true in later history.
Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas1 An vier Stellen der Apostelgeschichte des Lukas (Apg 23,6; 24,25f: 26,6f; 28,20) beteuert der angeklagte Apostel Paulus, daß er nur „wegen der Hoffnung Israels“ vor Gericht stehe. Wie ist diese Beteuerung zu verstehen? Was besagt sie im Kontext der erzählten Handlung? Und was bedeutet sie für den Erzähler Lukas und für die Leserschaft seines Werkes? - Eine Klärung dieser Fragen ist ja als schriftstellerischer Hinweis auf die Wichtigkeit der Sache zu werten. Darüber hinaus liegt das Problem dieser vier Texte im Schnittpunkt aktueller Auseinandersetzungen: Innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft geht es hier um einen Abschnitt aus dem viel diskutierten Problem ‘Paulus und Lukas’.2 Man fragt hier einerseits, ob Lukas über Paulus hinreichend informiert war, daß wir die Apostelgeschichte als historische Quelle zum Leben des Paulus heranziehen können. Andererseits ist umstritten, ob Lukas den Apostel theologisch verstanden hat und ob er also ein Mitarbeiter des Paulus gewesen sein kann, wie die kirchliche Tradition seit alters annimmt. Im weiteren Rahmen kirchlich-theologischer Meinungsbildung verdienen diese vier Texte Beachtung, weil sie eine dezidierte Aussage zum Verhältnis von 1
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Gastvortrag an der Universität Basel vom 16.12.1983 und Referat im Acta-Seminar des SNTS-Kongresses in Basel am 22.8.1984; Beitrag zu einer Freundesgabe für Eberhard Bethge aus Anlass seines 75. Geburtstages am 28.8.1984. Zur Diskussion der letzten zehn Jahre vgl. unter anderem Barrett, Charles K., Acts and the Pauline Corpus, in ET 88 (1976) 2–5; Bruce, Frederick Fyvie, Is the Paul of Acts the Real Paul?, BJRL 58 (1976) 282–305; Burchard, Christoph, Paulus in der Apostelgeschichte, ThLZ 100 (1975) 881–895; Jervell, Jacob, Der unbekannte Paulus, in: Die Paulinische Literatur und Theologie / The Pauline Literature and Theology, ed. Sigfred Pederson (1980) 29–49; Jeske, Richard L., Luke and Paul on the Apostle Paul, CThMi 4 (1977) 28–38; Lindemann, Andreas, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, Tübingen 1979; Löning, Karl, Paulinismus in der Apostelgeschichte, in: Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften, QD 89 (1981) 202–232; Mattill, Andrew Jacob, The Value of Acts as a Source for the Studies of Paul, in: Perspectives on Luke-Acts ed. Talbert, Charles H., (1978) 76–98; Müller, Paul-Gerhard, Der Paulinismus in der Apostelgeschichte. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, in: Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften, QD 89 (1981) 157–201; Roloff, Jürgen, Die Paulus-Darstellung des Lukas. Ihre geschichtlichen Voraussetzungen und ihr theologisches Ziel, EvTh 39 (1979) 510–531; Schille, Gottfried, Das älteste Paulusbild. Beobachtungen zur lukanischen und zur deuteropaulinischen PaulusDarstellung, Berlin 1979; Wilson, Stephen G., The Portrait of Paul in Acts and the Pastorals, SBL Seminar Papers (1976) 397–411.
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Christen und Juden enthalten. Wir begegnen hier einer urchristlichen Stimme zu einer Frage, die uns durch die Geschichte gerade unseres Jahrhunderts unabweisbar gestellt ist. Das Wissen um die Bedeutung dieser Thematik kann und darf freilich das Ergebnis der Exegese nicht präjudizieren. Es sollte uns aber zu besonderer Sorgfalt motivieren, damit die Texte selber zu Gehör kommen, - wenn es sein muss, gegen die Auslegungsgeschichte.3 Die folgenden Ausführungen haben drei Teile: 1. eine kurze Übersicht über die Situationen, in denen die vier Äußerungen des Paulus platziert sind, und die Darstellung einer einflussreichen These zu diesen Texten; 2. eine ausführliche Darlegung von Argumenten für eine gegenteilige Sicht der Dinge; 3. die Begründung eines eigenen Lösungsvorschlags zu einem speziellen Problem dieser vier Texte.
I Die Bekenntnisse des Paulus zur Hoffnung Israels stehen im Kontext seines Prozesses oder – wie wir auch sagen können – im Kontext seiner Leidensgeschichte. In Apg 23 steht Paulus vor dem Hohen Rat, wo er im Auftrag der Römer und unter römischer Aufsicht verhört werden soll. In Kap. 24 steht er vor dem Statthalter Felix in Caesarea und muss sich zu den Anklagen äußern, die ein Berufsanwalt im Namen des Hohen Rates vorgebracht hatte. In Kap. 26 hat der neue Statthalter Festus den König Agrippa II. aus der Dynastie des Herodes hinzugezogen, um sich von ihm in Fragen der jüdischen Religion beraten zu lassen; die Rede des Paulus richtet sich darum an Agrippa II. In Kap. 28 ist Paulus schließlich als Gefangener der Römer nach Rom gelangt, weil er im Interesse seiner Sicherheit an den Kaiser appelliert hatte. Nur wenige Tage nach seiner Ankunft nimmt der Apostel mit führenden Männern der jüdischen Gemeinden Roms Kontakt auf, um sie über die Hintergründe seines Prozesses aufzuklären. In diesem Zusammenhang beteuert er ihnen gegenüber: „Um der Hoffnung Israels willen trage ich diese Fesseln.“ (V. 20) Die Situationen sind also recht unterschiedlich, aber gemeinsam ist ihnen der direkte Zusammenhang mit dem Prozess des Paulus. 3
Vgl. Haacker, Klaus, Die neutestamentliche Wissenschaft und die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden, ThBeitr 14 (1983) 188–201; ders., Der Glaube im Hebräerbrief und die hermeneutische Bedeutung des Holocausts, ThZ 39 (1983) 152–165; Stegemann, Ekkehard, Der Jude Paulus und seine antijüdische Auslegung, Ausschwitz - Krise der christlichen Theologie. Eine Vortragsreihe, hrsg. v. Rolf Rendtorff und Ekkehard Stegemann (1980) 117–139; Thyen, Hartwig, Exegese des Neuen Testaments nach dem Holocaust, ebd. 140–158.
Apologetische Interessen des Lukas
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Die fraglichen Aussagen des Paulus haben dabei durchweg einen apologetischen Zweck. Apologetische Zwecke verfolgte aber auch Lukas mit seinem ganzen Werk.4 Darum liegt es nahe, die Apologien des Paulus innerhalb der Apostelgeschichte als einen Beitrag zu der Apologetik zu lesen, die Lukas mit seinem ganzen Werk treibt. Von diesem Ansatz her hat Ernst Haenchen unsere Texte zu erklären versucht. In seinem Aufsatz „Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte“ von 19635 schreibt er unter Hinweis darauf, dass das Judentum eine zwar nicht formell „erlaubte“, aber doch praktisch geduldete Religion war: „Wenn es Lukas gelang nachzuweisen, dass der christliche „Weg“ nicht von dem abwich, was die Kronzeugen der jüdischen Religion, Moses und die Propheten, verkündet hatten (Act. 26,22), dann bestand - so scheint es - für Rom, kein Anlass mehr, die christliche Glaubensgemeinschaft anders zu behandeln als die jüdische: auch sie musste toleriert werden. Das für die Christusbotschaft zu erwirken, hat sich Lukas in der Apostelgeschichte bemüht, bis zu deren letztem Wort.“
Diesem Bemühen des Lukas stand freilich das Problem im Wege, dass es unbestreitbare Konflikte zwischen der jungen Kirche und dem Judentum gegeben hat. Zur Lösung genau dieses Problems, meint Haenchen, legt Lukas dem Apostel Paulus die genannten Beteuerungen in den Mund. Sie bezeugen die „Übereinstimmungen der Christen mit dem Pharisäismus, der strengsten Richtung im Judentum, durch die Gemeinsamkeit der Auferstehungshoffnung“.6 Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels wäre also nur ein Beleg für eine religionsgeschichtliche Kontinuität zwischen Judentum und Christentum. Und die Behauptung dieser Kontinuität wäre ein religionspolitisches Argument für staatliche Toleranz gegenüber den Christen zur Zeit des Lukas.7 Die Frage stellt sich dann, ob Lukas hier die christliche Botschaft nicht in unverantwortlicher Weise für
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Welchen Stellenwert und welche konkreten Ziele die apologetische Zielsetzung des lukanischen Werkes hatte, ist umstritten. Das lukanische Werk hat auf keinen Fall den Charakter einer direkten und argumentativen Denkschrift oder Eingabe bei einer Behörde. Es sollte aber nicht bestritten werden, daß es Lukas um eine für die Öffentlichkeit attraktive und gesellschaftlich akzeptable Selbstdarstellung des Christentums geht. Den apologetischen Zweck des lukanischen Werkes – oder wenigstens wichtiger Teile – betonen Sahlin, Harald, Der Messias und das Gottesvolk (1945); Easton, Burton Scott, London 1936; Cadbury, Henry J., The Making of Luke-Acts (1958) 299ff; Trites, Allison A., The Importance of Legal Scenes and Language in the Book of Acts, NT 16 (1974) 278–284. Besonders skeptisch ist in dieser Hinsicht R. Maddox, Robert, The Purpose of Luke-Acts, Göttingen 1982, 91ff. ZNW 54 (1963) 155–187; zitiert nach Haenchen, Ernst, Die Bibel und wir. Gesammelte Aufsätze 2. Band (1968) 338–374, hier die abschließenden Sätze 373f. Vgl. ebd. 374 Anm. Ähnlich Dibelius, Martin, Paulus in der Apostelgeschichte, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte, ed. Greeven, Heinrich, Göttingen 4. Aufl 1961, 175–180, hier 179f; Stählin, Gustav, Die Apostelgeschichte. Übersetzt und erklärt, Göttingen 1962, 296; Roloff, Jürgen, Die Apostelgeschichte. Übersetzt und erklärt, Göttingen 1981, 337.
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seine apologetischen Absichten verkürzt oder „frisiert“ hat, indem er die Auferstehung Jesu als einen bloßen Sonderfall des allgemeinen Auferstehungsdogmas anführen lässt.8 In diesem Sinne urteilte schon Philipp Vielhauer in seinem Aufsatz ‘Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte’9 von 1950: „Die Aussagen des Paulus über seine Lehre bei dem Prozess sind apologetisch formuliert, reduzieren sie auf die jüdische „Hoffnung“ der Totenauferstehung … und verschweigen die wesentliche Differenz vom Judentum, seinem Gesetz und seiner Hoffnung, die mit dem Glauben an Jesus als den Messias gesetzt war.“
Einer Generation von Auslegern, die einen Konflikt zwischen Kirche und Staat erlebt hatte, musste diese apologetische Erklärung der fraglichen Texte besonders plausibel erscheinen.10 Die Frage ist dennoch, ob sie einer sorgfältigen Überprüfung standhält. Darum soll es im Folgenden gehen.
II Im Folgenden werde ich sechs Bedenken vortragen, die gegen die Annahmen von Haenchen und Vielhauer sprechen. Diese Bedenken lösen noch nicht das Problem der vier untersuchten Texte, begründen aber die Notwendigkeit einer anderen Interpretation. 1. Mir scheint, dass die Szene von Kap. 23, in der Paulus durch seine Beteuerung tatsächlich einen Vorteil gewinnt, zu stark die Marschroute für die Auslegung der übrigen Texte bestimmt hat. Demgegenüber bekommen die Reden des Paulus in diesen Kapiteln zunehmend den Charakter der Verkündigung, während der juristische Kontext zurücktritt. Schon in Kap. 24 führt die Verteidigungsrede vor Felix zu Gesprächen über den christlichen Glauben (V. 24). Die Rede von Kap. 26 stellt den angeredeten König Agrippa persönlich vor die Glaubensfrage (V. 27f). Und die Begegnung des Paulus mit den führenden Juden von Rom hat den Prozess nur mehr zum Anlass, zielt jedoch auf eine eindeutig missionarisch motivierte Zusammenkunft (V. 23ff). 8
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In der ersten Auflage seiner Acta-Auslegung von 1956 (S. 625) gibt Haenchen noch eine Art Ehrenerklärung für Lukas ab: „Wir täten Lukas schweres Unrecht an, wenn wir vermuteten, er habe gegen sein besseres Wissen das Christentum auf das Judentum zurückgeführt, weil nur die Einordnung in die religio licita des Judentums die Verfolgung der neuen Religion abwenden könne. Es ist vielmehr sein eigenes Verständnis des christlichen Glaubens, das ihm jene rettende Zuordnung aufzuweisen erlaubt.“ Diese Erklärung fehlt in neueren Auflagen des Kommentars. EvTh 10 (1950/1) 1–15, hier S. 8. Der Aufsatz ist nachgedruckt in: Vielhauer, Philipp, Aufsätze zum Neuen Testament, München 1965, 9–27. Bemerkenswert ist der Widerspruch von Hans Conzelmann, Die Apostelgeschichte, Tübingen 2. Aufl. 1972, 12.
Apologie mit jüdischer Adresse
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2. Zweitens ist zu bedenken, daß nur in einem der vier Fälle ein Römer angesprochen ist (Felix in Kap. 24), während die Beteuerungen des Paulus sich sonst an eine jüdische Adresse richten. (Auch Agrippa II. wird in Kap. 26 von Paulus als bibelgläubiger Jude angesprochen; vgl. V. 27!) Es wäre also zu fragen, ob diese Texte sich nicht eher an jüdische Leser des lukanischen Werkes wenden als an römische Behörden, wie Haenchen voraussetzt.11 3. Drittens redet Paulus mit diesen Beteuerungen genau zur Sache seines Prozesses. Denn nicht nur zu Beginn seiner Leidensgeschichte wird ihm vorgeworfen, sich gegen das Volk und das Gesetz und den Tempel vergangen zu haben (Apg. 21,28); auch der vom Synhedrium bestellte Redner Tertullus findet keine gravierendere Anklage als die, dass Paulus Zwietracht unter den Juden stifte und versucht habe, den Tempel zu entweihen (Apg 24,5f). Entsprechend verwahrt sich Paulus gegen den Vorwurf des Sektierertums (vgl. Apg 24,14 mit V. 5) und nimmt für sich in Anspruch, mit „Bibel und Bekenntnis“ des Judentums übereinzustimmen (V. 14f). Der Vorwurf, dass das Christentum gegen staatliches Recht verstoßen könnte und deshalb von Staats wegen verfolgt werden müsste, steht überhaupt nicht im Raum. Der Ankläger appelliert lediglich an das politische Interesse der Römer an innerem Frieden in der Gesellschaft (vgl. Apg 19,40; 24,2).12 Vor diesem Hintergrund ist es von entscheidender Bedeutung, wer in einem Konfliktfall die Tradition und den bisherigen Konsensus der Gemeinschaft auf seiner Seite hat. Dieser juristische Aspekt des Prozesses gegen Paulus lässt sich jedoch kaum in die Verhältnisse zur Abfassungszeit der Apostelgeschichte übertragen. 4. Viertens ist es aus sprachlichen Gründen ganz unwahrscheinlich, dass der Ausdruck „die Hoffnung Israels“ nicht mehr bedeutet als „die jüdische Lehre von den letzten Dingen“. Zwar ist elpís in der Profangräzität zuweilen ein Formalbegriff für Erwartungen jeder Art. Aber schon die Septuaginta gebraucht das Wort fast nur für positive Erwartungen, und das Neue Testament folgt ihr darin konsequent.13 Wie Claus Westermann14 für das Alte Testament gezeigt hat, spricht die Bibel insbesondere dort von Hoffnung, wo es um die Behebung eines bedrängenden Notstandes geht. Von Hoffnung ist vor allem in Klagen und Bittgebeten 11
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Vgl. Jervell, Jacob, Paulus – der Lehrer Israels. Zu den apologetischen Paulusreden in der Apostelgeschichte, NT 10 (1968) 164–190; Englisch: Paul – The Teacher of Israel, in: ders., J. Jervell, Luke and the People of God. A New Look at Luke-Acts (1972) 153–183. Der Begriff der stásis bedarf noch einer genaueren juristischen Abklärung. Haenchen (zu Apg 24,5) setzt ihn im Anschluss an Preuschen mit seditio gleich. Das entspräche Mk 15,7; Lk 23. 19,25(?). In Apg 15,2; 19,40; 23,7 ist dagegen eindeutig „Zwietracht“, „heftige Diskussion“, „Tumult“ gemeint. Das liegt auf der Linie des Claudius-Ediktes nach Sueton, Claud 25: „Judaeos impulsore Chresto assidue tumultantes Roma expulit“. Für Apg 24,5 scheint mir diese Bedeutung näher zu liegen. Bultmann, Rudolf, Art.[elpís] in ThWNT II (1935) 518 Anm. 28 nennt als Ausnahme Jes 28,19. Zum N. T. vgl. E. Hoffmann, Art. [elpís] in ThBLNT I (1967) 722–726. Vgl. Westermann, Claus, „Das Hoffen im Alten Testament“, in: ders., Forschung am Alten Testament (1964) 219–265; ders., Art. qwh hoffen, in: THAT II (1976) 619–629.
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die Rede. Der Ausdruck „die Hoffnung Israels“ dürfte vor diesem Hintergrund zu umschreiben sein mit „die gespannte Erwartung, mit der Israel nach einem Ende seiner gegenwärtigen Notlage Ausschau hält“. Oder wenn man „Hoffnung“ hier als „das Erhoffte“ verstehen will, was sprachlich ebenso möglich ist, meint der Begriff „das, was Israel für sich als Wendung seinen Schicksals zum Guten dringend erwartet“. Auf jeden Fall ist es ganz ausgeschlossen, dass das Subjekt dieser Hoffnung – Israel – aus dem Blickfeld verschwindet, wenn man sich die Erfüllung dieser Hoffnung konkret vorstellt. Das Moment existentieller Betroffenheit gehört durchweg zum biblischen Gebrauch dieses Begriffes. In unserem Zusammenhang bestätigt sich das besonders in Apg 26,6f, wo Paulus davon spricht, dass der Gottesdienst Israels ganz von der Hoffnung bestimmt ist, dass Israel sich Tag und Nacht nach der Erfüllung der Verheißungen an die Väter ausstreckt. Der Wortlaut der Beteuerungen des Paulus erlaubt also semantisch kein anderes Verständnis als dies, dass der Apostel hier ein Bekenntnis tiefer Solidarität mit den wirklichen Anliegen jüdischer Existenz vor Gott ablegt. 5. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass Lukas dem Apostel etwas in den Mund legt, was er selbst nicht mehr voll bejaht, sondern nur zu bestimmten (apologetischen) Zwecken gebrauchen kann. Wörtliche Reden in einem Erzählwerk können nie unbesehen als Meinung des Erzählers verbucht werden.15 Wir müssen also fragen, ob denn das lukanische Werk im Ganzen etwas von der Solidarität spüren lässt, die Paulus hier ausspricht. Haenchen hatte davon gesprochen, dass Lukas die Juden als die „erbitterten Feinde der Christen“ schildere.16 Dass Lukas in der Tat zahlreiche Konflikte mit Vertretern des Judentums berichtet, lässt sich nicht bestreiten. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass es entsprechende Fakten gab, an denen er nicht vorbeigehen konnte.17 Auch ließe sich zeigen, dass Lukas fast durchweg nur die jeweils beteiligten oder verantwortlichen Personen oder Gruppen nennt und mit Pauschalanklagen gegen das jüdische Volk äußerst vorsichtig ist.18 Erst die Ausleger gebrauchen vielfach den Ausdruck „die Juden“, wo Lukas konkret vom Synhedrium spricht. 15
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Sogar scheinbare Tatsachenbehauptungen können in Grenzfällen die subjektive (und objektiv falsche) Wahrnehmung einer Person der Handlung schildern; vgl. meine Studie Einige Fälle von „erlebter Rede“ im Neuen Testament, NT 12 (1970) 70–77, v. a. 74–77 zu Apg 19,1– 7. (Der ähnliche Fall in Apg 20,9f. ist dort noch nicht berücksichtigt, aber jetzt in meinem Kommentar von 2019.) Vgl. a. a. O. 374 Anm. Vgl. 2 Kor 11,24; Gal 4,29; 5,11; 1 Thess 2,15f sowie die Befürchtungen des Paulus nach Röm 15,31, deren Berechtigung die Apostelgeschichte zeigt. Die Pfingstpredigt des Petrus, die zweimal ihre Hörer der Schuld am Tode Jesu bezichtigt (vgl. Apg 2,23.36), spricht primär die in Jerusalem wohnhaften Juden an (vgl. V. 5.14). Die Petrus-Rede im Tempel (Apg 3,12–26) spricht in V. 13f gezielt die Bürger an, die sich vor Pilatus für Barrabas eingesetzt und die Hinrichtung Jesu gefordert hatten. In Apg 4,10; 5,30; 7,52 ist der Hohe Rat auf seine Verantwortung für den Tod Jesu hin angesprochen. Gegenüber den Diasporajuden im pisidischen Antiochia spricht Paulus - wiederum unter Anspielung auf die Szene vor Pilatus - von den „Einwohnern von Jerusalem und ihren
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Das Wichtigste ist jedoch, dass alle diese Konflikte Lukas nicht davon abhalten, die ganze Jesusgeschichte in den Kontext der Hoffnungen Israels einzuzeichnen. Das ergibt sich besonders aus der „Ouvertüre“, die Lukas mit seinen Vorgeschichten (Lk 1–2) dem Wirken Jesu vorangestellt hat. Die Anknüpfung an die Davidsverheißung dient hier keineswegs nur dazu, den christologischen Titel „Sohn Gottes“ einzuführen.19 Vielmehr wird in den Lobgesängen der Maria und des Zacharias in Lk 1 geradezu enthusiastisch die Erlösung Israels besungen.20 Auch die Freude, die der Engel den Hirten von Bethlehem verkündet, soll zunächst keineswegs „allem Volk“ widerfahren (was jeder normale Bibelleser universalistisch verstehen muss), sondern dem „ganzen Volk“, nämlich Israel.21 (Schließlich ist da auch vom Messias und von der Stadt Davids die Rede!) Auf derselben Linie liegen die Erzählungen von Simeon und Hanna in Lk 2. Diese beiden Alten warten auf den „Trost Israels“ (2,25) bzw. „die Erlösung“ (2,38) und erkennen in dem Jesuskind die Erfüllung ihrer Hoffnungen, Gottes Heil für sein Volk Israel. Auch das Wirken Jesu ließ keinen Zweifel daran, dass Jesus der war, auf den Israel gewartet hatte, wie vor allem Jesu Antwort an Johannes den Täufer unmissverständlich ausspricht (Lk 7,18–23). Es kommt darum für keinen Leser des dritten Evangeliums überraschend, wenn die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus im Rückblick auf die Jesusgeschichte - zunächst resignierend - bekennen: „Wir aber haben gehofft, dass er Israel erlösen werde.“ (Lk 24,21) In der Fortsetzung wird diese Erwartung der Jünger keineswegs getadelt;22 der einzige Vorwurf, der ihnen gemacht wird, ist der, dass sie nicht die Notwendigkeit des messianischen Leidens begriffen hatten, von der doch schon die Propheten geredet hätten (V. 25f).
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Führern“ (Apg 13,27; das kai erklärt sich hier und in Apg 2,14 als präzisierende Konjunktion; vgl. Bauer, Walter, Wörterbuch 774: „z. Ganzen den [bes. wichtigen] Teil hinzufügend“). In Apg 28,17–19 wird in auffälliger Weise unterschieden zwischen „dem Volk“ des Paulus auf der einen Seite und „den Juden“ auf der anderen. Es scheint sich hier um denselben Sprachgebrauch von hoi Ioudaioi zu handeln, der auch im Johannesevangelium vorliegt; vgl. Lowe, Malcom, Who were the [IOUDAIOI]?, NT 18 (1976) 101–130 und bereits Lütgert, Wilhelm, Die Juden im Johannesevangelium, in: Deißmann, Adolf / Windisch Hans (Hrsg.), Neutestamentliche Studien Georg Heinrici zu seinem 70. Geburtstag … dargebracht, Leipzig 1914, 147–154. Vgl. Lk 1,27.32.35 vor dem Hintergrund von 2 Sam 7,14; vgl. Hengel, Martin, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975, 100f. Vgl. Lk 1,46–55.68–79. Vgl. Lk 2,10. Luthers – bewusst? - unscharfe Übersetzung der Stelle ist weder in der Revision von 1984 noch in der neuesten (2017) verbessert worden. Vgl. O’Toole, Robert F., Acts 26 The Christological Climax of Paul’s Defence (Act 22,1 – 26,32), Rom 1978, 92: „In no way does Luke want to say that the hope of these men was false … The error of the two disciples is that they no longer believe their hope was justified or has been realized.“ Das „has been realized“ und die Fortsetzung „But Jesus has redeemed Israel!“ verkennt freilich den Inhalt dieser auf Israel gerichteten Hoffnung.
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Darum führen die Erscheinungen des Auferstandenen auch folgerichtig zu einer Wiederbelebung der messianischen Hoffnungen der Jünger. Ihre letzte Frage vor der Entrückung Jesu war nach Apg 1,6: „Wirst du in dieser Zeit (d. h. in Kürze)23 das Königtum für Israel wieder herstellen“? Auch hier wird in der Antwort Jesu das eigentliche Anliegen der Jünger nicht verworfen. Jesus warnt sie nur vor Ungeduld und Neugier und erteilt ihnen eine Belehrung über ihre Aufgabe in dem Stadium der Heilsgeschichte, das nunmehr erreicht ist (V. 7f).24 Eine auch öffentliche Bekräftigung der messianischen Erwartungen Israels finden wir in der Predigt des Petrus im Tempel (Apg 3,19–21): „Also kehrt um und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden. Dann kommen Zeiten des Aufatmens vom Angesichts des Herrn her, dann sendet er den für euch bestimmten Messias - Jesus, den jetzt zwar der Himmel aufnehmen muss, bis die Zeiten der Wiederherstellung von allem kommen …“
Die traditionelle Messiaserwartung wird durch diesen Text insofern abgewandelt, als erst das zweite Kommen des verheißenen Messias das Heil für Israel bringt. Jesu erstes Kommen wird als eine prophetische Sendung auf der Linie des verheißenen „Propheten wie Mose“ interpretiert (V. 22–26). Erwähnenswert ist schließlich, dass nicht einmal der Durchbruch zur universalen Heidenmission für Lukas eine Preisgabe der messianischen Erwartungen bedeutet. Im Bericht vom „Apostelkonzil“ lässt er ausgerechnet den Herrenbruder Jakobus die Bekehrung der Heiden als eine Erfüllung der Davidsverheißung hinstellen (vgl. das Zitat von Am 9,11f in Apg 15,16f). Leser und Leserinnen des lukanischen Werkes, die alle diese Hinweise aufgenommen und ernstgenommen haben, bevor sie zur Leidensgeschichte des Paulus kommen, sollten beim Lesen der Bekenntnisse des Paulus zur Hoffnung Israels eigentlich nur zu einem Verständnis fähig sein: Paulus tritt hier an die Seite von Maria und Zacharias, Simeon und Hanna und gesellt sich zu den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus. Er stimmt auch in diesem Punkt mit Petrus überein - und auf diese Übereinstimmung hat Lukas bekanntlich Wert gelegt, auch in weniger bedeutenden Dingen.25 Dass Lukas alle diese Stimmen nur als Historiker referiert hätte, ohne sie innerlich zu bejahen, scheidet vollends aus, wenn wir die lukanische Fassung der synoptischen Endzeitrede betrachten:
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Vgl.: V. 5 Ende. Alttestamentliche Weissagungen wie Joel 3,1–5 (zitiert in Apg 2,17ff!); Jes 44,3; Ez 11,19; 36,27; 39,29; Sach 12,10 sprachen von einer Geistausgießung in Verbindung mit der erwarteten Erlösung Israels, besonders der Heimholung der Deportierten. Die Antwort Jesu in Apg 1,7f stellt die Geistesgabe in einen anderen heilsgeschichtlichen Kontext und korrigiert damit den Gedankensprung von V. 5 zu V. 6 als zu direkt; das Thema von V. 6 wird damit jedoch nicht als solches abgelehnt. Zum Zusammenhang zwischen der Königsherrschaft Gottes und dem Königtum Israels vgl. vor allem Mi 4,7f und 1 Chr 17,14; zur Formulierung der Frage Dan 4,36 LXX. Vgl. Stählin (s. o. Anm. 6) 5.
Israels Hoffnung – für Rom ein Reizwort
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Nach Lukas und nur nach Lukas spricht Jesus in dieser Rede davon, dass die Heiden - und das heißt: die Römer - das von ihnen zerstörte Jerusalem nur für eine begrenzte Zeit „zertreten“ dürfen, bis der Menschensohn kommt und die „Erlösung“ bringt (Lk 21, 24.28). Nicht nur der engere Kontext und Wortlaut der Beteuerungen des Paulus, sondern auch die Durchsicht des ganzen lukanischen Werkes ergibt also, dass das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels ehrlich gemeint ist, d. h. daß Paulus hier sagt, was Lukas selber denkt. 6. Ein letzter, sechster Einwand gegen die Auffassung von Haenchen und Vielhauer liefert gewissermaßen die Gegenprobe. Beide setzen ja voraus, dass die Römer dem Judentum zur Zeit des Lukas wohlgesonnen waren und dass eine Kontinuität mit dem Judentum der Kirche zugute kommen würde im Sinne der Partizipation an jüdischen Privilegien. Der Zeitraum, der für die Abfassung der Apostelgeschichte in Frage kommt, ist jedoch eine Zeit, in der die römisch-jüdischen Beziehungen auf ihrem Tiefpunkt sind.26 Ich muss das hier nicht weiter ausführen, weil es kaum zu bestreiten ist, und beschränke mich auf einige Hinweise aus dem lukanischen Werk selbst. Wie sieht Lukas das Verhältnis der Römer zu den Juden? Schon das erwähnte Jesuswort aus der synoptischen Endzeitrede verrät eine äußerst negative Wertung des römischen Reiches in apokalyptischen Kategorien. Was aber die konkrete Politik betrifft, so erwähnt Lukas in Apg 18,2 die Ausweisung aller Juden aus Rom durch das Claudius-Edikt, und entsprechend verhält sich in Apg 18,12–17 auch der Prokonsul Gallio gegenüber den Juden, die bei ihm einen Prozess gegen Paulus einleiten wollten.27 Vor allem aber die Erzählung vom Schicksal des Paulus und Silas in Philippi in Apg 16 spricht Bände: In dieser besonders „römischen“ Stadt werden die beiden Missionare wider alles Recht misshandelt und eingekerkert - nicht etwa, weil sie Christen sind! Ihnen wird vielmehr vorgeworfen, sie seien Juden und propagierten jüdische Sitten, die für Römer unannehmbar seien (Apg 16,21).28 Ich meine, deutlicher
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Das gilt umso mehr, je später man die Abfassung der Apostelgeschichte ansetzt, sofern man innerhalb der Regierungszeit des Domitian (81–96 n. Chr.) bleibt. Vgl. Smallwood, E. Mary, The Jews under Roman Rule: From Pompey to Diocletian, Leiden 1976, Kap. 14 (356– 388). Das Verhalten des Gallio wird zu Unrecht meistens primär als Stellungnahme gegenüber dem Christentum gewertet (vgl. u. a. Judge, Edgar E., Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft, Wuppertal 1964, 67f), während es dem Textbefund nach in erster Linie eine Politik gegenüber dem Judentum zum Ausdruck bringt und die jüdische Gemeinde in ihre Grenzen weist. apelaúnō (V. 16) bezeichnet ein ziemlich grobes Verhalten (vgl. Jos. Bell. 1,245!) und erinnert sehr an das expulit von Sueton Claud. 25. Die angenommene Toleranz des Gallio gegenüber den Christen ist, wie V. 17 zeigt, die Kehrseite seiner „Toleranz“ gegenüber dem Antijudaismus, der sich auf seine Entscheidung hin spontan entlädt. * Allerdings verdient die Variante im Codex Bezae Beachtung, nach der Gallio die jüdischen Ankläger nur „entließ“ oder „verabschiedete“ (apélysen). Schon die Lage der Gebetsstätte nach Apg 16,12, archäologisch identifiziert ca. 2 km außerhalb des Wohngebietes, juristisch außerhalb des Pommerisch, deutet auf eine juden-
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kann nicht gezeigt werden, dass die Juden für Lukas alles andere als die Günstlinge der Römer sind, unter deren Fittichen die Christen gegenüber der Staatsmacht Schutz suchen konnten.
III Nach diesem klaren Ergebnis stehen wir freilich vor dem Problem, dass das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels immer wieder mit dem Glauben an die Auferstehung der Toten verknüpft ist. Wird hier nicht doch eine künstliche Verbindung hergestellt zwischen dem christlichen Glauben an die Auferstehung Jesu und der jüdischen Eschatologie? Und was hat innerhalb dieser Eschatologie das Thema Auferstehung zu tun mit den Hoffnungen auf eine Heilszeit für das Volk Israel? Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass das Thema Auferstehung in alttestamentlich-jüdischer Tradition tatsächlich eng verknüpft ist mit den Hoffnungen des Volkes Israel als Volk. Dabei sind jedoch zwei Traditionen zu unterscheiden: 1. Es gibt eine Tradition, in der das Kommen der Heilszeit für Israel bildhaft mit der Metapher „Auferstehung“ oder „Wiederbelebung“ umschrieben wird. 2. Es gibt daneben eine (jüngere) Tradition, in der die reale Totenauferweckung mit der Erlösung des Volkes zusammenfällt. Bei einzelnen Texten ist es umstritten, ob sie metaphorisch oder realistisch von der Auferweckung sprechen. Wir brauchen das nicht im Einzelnen zu diskutieren, denn die Tendenz der Wirkungsgeschichte förderte auf jeden Fall in neutestamentlicher Zeit ein realistisches Verständnis, wo immer das in Frage kam.29
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feindliche Einstellung der örtlichen Behörden; vgl. Elliger, Wilfried, Paulus in Griechenland. Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth, Stuttgart 1978, 50. Denkbar ist, daß Philippi als römische colonia die im Judenedikt des Claudius vollzogene Ausweisung von Juden nachahmte; das religiöse Spektrum der Stadt war ja im Ganzen recht farbig und offenbar nur gegenüber dem Judentum verschlossen (vgl. ebd. 62ff). Die Abwehr gegen jüdische Proselytenwerbung steht wohl auch hinter der Judenvertreibung unter Tiberius im Jahre 19 n. Chr.; vgl. Smallwood (s. o. Anm. 25) 201ff. Nach Josephus, Ap 2,218, lebt jeder Jude mit der Gewissheit, dass denen, die die Gesetze treu beachtet haben und, wenn es denn sein musste, willig für sie gestorben sind, eine neue und bessere Existenz bevorsteht. Damit verallgemeinert zwar Josephus den pharisäischen Standpunkt, den er selbst teilt, während in Wirklichkeit zu seiner Zeit die innerjüdische Diskussion über den Auferstehungsglauben noch nicht abgeschlossen war; vgl. Cavallin, Hans C. C., Life after Death. Paul’s Argument for Resurrection of the Dead in 1 Cor 15, Part I An Enquiry into the Jewish Background, Lund 1974, 194f. Aber gerade mit dieser Verallgemeinerung belegt die Stelle den Trend der Diskussion zur Abfassungszeit der Apostelgeschichte.
„Auferstehung“ im Alten Testament
145
Ich beschränke mich im folgenden auf ganz knappe Bemerkungen zu den zitierten Texten, weil es uns nur um den einen Gesichtspunkt geht, inwiefern der Auferstehungsgedanke zum Komplex der nationalen Hoffnungen Israels gehört.
1.
Die metaphorische Tradition:
Hier ist an erster Stelle Hos 6,1f zu nennen: Kommt, wir wollen zurück zu Jahwe, denn er zerriss, er wird uns heilen; er schlug, er wird uns verbinden, wird uns am Leben erhalten. Nach zwei Tagen, am dritten Tage wird er uns aufstehen lassen, dass wir leben vor ihm.30
Hier liegt, strenggenommen, eigentlich nur das Bild der Heilung eines Verwundeten vor. Aber Krankheit und Lebensgefahr wurden in Israel als reale Begegnung mit dem Tod erfahren, sodass Heilung und Bewahrung vor dem Tod auch metaphorisch als Auferstehung beschrieben werden konnten (vgl. Ps 30,4). „Auferstehung“ ist also hier eine Metapher in der Metapher Heilung, die für eine Wende im Schicksal des Volkes steht.31 Als nächster Text ist die Vision des Ezechiel von der Wiederbelebung der Totengebeine zu nennen (Ez 37,1–14). Die metaphorische Bedeutung und der Bezug zur Hoffnung Israels geht aus der Deutung in V. 11–14 klar hervor: Da sprach er zu mir: Menschensohn, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sagen: Vertrocknet sind unsere Gebeine, zunichte ist unsere Hoffnung, wir sind abgehauen. Darum prophezeie und sage zu ihnen: So hat der Herr Jahwe gesprochen: Siehe, ich öffne eure Gräber und führe euch aus euren Gräbern heraus (als mein Volk) und bringe euch ins Land Israels. Und ihr werdet erkennen, dass ich Jahwe hin, wenn ich eure Gräber öffne und wenn ich euch aus euren Gräbern herausführe (als mein Volk). Und ich lege meinen Geist in euch, dass ihr Leben bekommt, und ich setze euch in euer Land, und ihr sollt erkennen, dass ich, Jahwe, geredet habe und es tue, spricht Jahwe.32
Es sei angemerkt, dass der für unsere Fragestellung wichtige Begriff der Hoffnung (V. 11) auch in Jer 29,11; 31,17 und Sach 9,12 mit der Erwartung der Sammlung Israels aus der Zerstreuung gefüllt wird. Mit Sicherheit liegt auch eine Metapher vor, wenn in Esra 9,8f der Anfang der Rückwanderung aus dem Exil als eine „kleine Wiederbelebung“ bezeichnet wird. Die Einschränkung ist verständlich angesichts des geringen Umfangs und der ärmlichen Verhältnisse dieser „Renaissance“.33 30
31
32 33
Übersetzung nach Wolff, Hans Walter, Dodekapropheton I Hosea (Neukirchen-Vluyn, 3. Aufl. 1976) 132. Vgl. Dtn 32,39: „Ich bin es, der tötet und lebendig macht. Ich habe verwundet; nur ich werde heilen.“ Zur Tradition vgl. Hempel, Johannes, Heilung als Symbol und Wirklichkeit im biblischen Schrifttum, Göttingen 1965. Übersetzung nach Zimmerli, Walther, Ezechiel (1972) 2. Aufl. 1979, 886. Jedenfalls verglichen mit den grandiosen Visionen Deuterojesajas von neuem Exodus oder der Schau Ezechiels von einer sakral geordneten neuen Heilszeit.
146
Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apg
Als Verlängerung derselben metaphorischen Sprachtradition lässt sich auch Mt 19,28 verstehen, so Jesus den Aposteln für die Zeit der „Wiedergeburt“ verspricht, dass sie auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden. Das setzt die Wiedervereinigung der Stämme voraus.34 Umstritten ist die Frage, ob die beiden einschlägigen Worte aus der JesajaApokalypse metaphorisch oder realistisch gemeint sind. Unbestritten ist dabei jedoch, dass es um das künftige Schicksal des Volkes geht. Das ist besonders deutlich in Jes 25,8: Und er vernichtet für immer den Tod. Und abwischen wird der Herr Jahwe die Tränen von jedem Angesicht, und die Schmach seines Volkes nimmt er von der ganzen Erde hinweg. Wahrlich, Jahwe hat’s gesagt.35
Für unsere Fragestellung ist bedeutsam, dass die Fortsetzung in V. 9 zweimal vom Hoffen auf Jahwe redet. – In Jes 26,19 lautet die Botschaft für das Volk: Deine Toten werden leben, (meine Leichen) werden auferstehen, aufwachen und jubeln werden die Bewohner des Staubes.36
Nach Wildberger37 steht Israel hier „an der Schwelle des Glaubens an eine tatsächliche Wiederbelebung nach dem Tode“. Der Kontext erlaubt jedoch keinen Zweifel daran, dass es um das Land und seine Bewohner in einer geschichtlichen Notzeit geht. Jes 25,8 wird in 1 Kor 15,54; Offb 7,17; 21,4 zitiert. Für die neutestamentliche Wirkungsgeschichte dieser Jesaja-Stellen ist ferner der Zusammenhang mit der Königsherrschaft Gottes bedeutsam, auf den Peter Welten kürzlich hingewiesen hat.38 In Apg 28 wird die in V. 20 erwähnte „Hoffnung Israels“ in V. 23 als Erwartung des Reiches Gottes präzisiert.
2.
Die Erwartung realer Totenauferweckung:
Der älteste Text, der mit Sicherheit eine reale Totenauferweckung meint, steht in Dan 12,1f. Der Zusammenhang mit der Volksgeschichte ist hier unüberhörbar:
34
35 36 37
38
Vgl. Vögtle, Anton, Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos, Düsseldorf 1970, 165. Übersetzung nach Wildberger, Hans, Jesaja (13–27), Neukirchen-Vluyn 1978, 959. Übersetzung ebd. 982. Ebd. 996. Stemberger, Günter, Art. „Auferstehung I. Auferstehung der Toten I/2. Judentum“, TRE 4 (1979) 443–450, hier 444 versteht Jes 26,19 im Sinne „einer konkreten Auferstehung zu einem neuen Leben auf dieser Erde“, aber nur für Mitglieder des Volkes, so daß gleichzeitig vom „Erstarken des Volkes“ die Rede ist. Vgl. Welten, Peter, „Die Vernichtung des Todes und die Königsherrschaft Gottes. Eine traditionsgeschichtliche Studie zu Jes 25,6–8; 24,21–23 und Ex 24,9–11“, ThZ 38 (1982), 129– 146. - Auch Lk 7,22 spielt wohl auf Jes 26,19 an.
„Auferstehung“ im frühen Judentum
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In jener Zeit tritt Michael auf, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Und es wird eine Notzeit sein, wie es noch keine gab, seitdem es Völker gibt, bis zu dieser Zeit. Und in jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, jeder, der im Buch verzeichnet ist. Und viele, die im Land des Staubes schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewiger Schande.
Ebenso deutlich haben die Belege aus den Testamenten der XII Patriarchen zum Thema Auferstehung ihren Ort im Kontext der Zukunft des Volkes:39 Daraufhin werden Abraham, Isaak und Jakob zum Leben auferstehen, und ich und meine Brüder werden Herrscher unserer Stämme in Israel sein. (Test Jud 25) Dann werdet ihr sehen Henoch, Noah und Sem und Abraham und Isaak und Jakob auferstehen zur Rechten mit Jubel. Dann werden auch wir auferstehen, jeder zu seinem Stamm … Ihr nun, wenn ihr in der Heiligung vor dem Angesicht des Herrn wandelt, werdet ihr wiederum auf Hoffnung in mir wohnen und ganz Israel wird sich zum Herrn versammeln. (Test Benj 10,6–11)
Wir sehen auch hier: Die Auferweckung der Toten löst die Volksgemeinschaft Israels nicht auf. Im Blick auf Apg 26,7 ist besonders auch die Erhaltung der Struktur des Volkes als Zwölfstämmeverband erwähnenswert. Dieselbe Stelle läßt uns nach liturgischen Texten Ausschau halten, in denen die Erwartung der Auferstehung mit den übrigen Hoffnungen desVolkes verknüpft ist. Ein solcher liturgischer Text liegt vor in der 2. Benediktion des 18Bitten-Gebets: Du bist mächtig, erniedrigst Stolze, stark, und richtest Gewaltige, du lebst ewig, lässt Tote auferstehen, den Wind wehen, den Tau herabfallen, du ernährst die Lebenden und machst die Toten lebendig. In einem Augenblick möge uns Hilfe sprossen. Gepriesen seist du, Herr, der die Toten lebendig macht.40
Wahrscheinlich liegt in Röm 4,17 ein Anklang an dieses uralte Gebet vor, wenn Paulus den Glauben Abrahams an die ihm gegebene Verheißung inhaltlich füllt als Glauben an den Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft.41 Es spricht darum nichts dagegen, diese 2. Benediktion des 18-Bitten-Gebets auch als die Grundlage der Aussage von Apg 26,7 anzusehen,42 dass Israel die
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42
Übersetzung nach Becker, Jürgen, Die Testamente der 12 Patriarchen. Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit III/I, Gütersloh 1980, 77 und 136. Übersetzung nach Schäfer, Peter, Der synagogale Gottesdienst, in: J. Maier, Johann und Schreiner, Josef (Hrsg.), Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg 1973, 391– 413, hier 404. Vgl. Hofius, Otfried, Eine altjüdische Parallele zu Röm iv 17b, NTS 18 (1971/72) 93f; Stuhlmacher, Peter, Das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu von den Toten und die Biblische Theologie, ZThK 70 (1973) 365–403, auch in: ders., Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie, Göttingen 1975, 128–166, bes. 387 bzw. 150. So Preuschen, Erwin, Die Apostelgeschichte, Tübingen 1912, 146.
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Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apg
Hoffnung auf die Erfüllung der Väterverheißungen (inklusive die Auferstehungshoffnung) „Tag und Nacht“ gottesdienstlich, d. h. wohl: im Gebet zum Ausdruck bringt.43 Zur Abrundung sei noch ein weiterer Satz aus dem Römerbrief zitiert, der nach Meinung vieler Exegeten bedeutet, dass die Auferstehung der Toten mit der Vollendung der Geschichte Israels zusammenfällt. In Röm 11,15 sagt Paulus: Wenn schon ihr Verlust die Welt versöhnt hat, was kann dann ihr Gewinn anderes bedeuten als Leben aus den Toten?!44
Angesichts dieser langen Reihe von Belegen können wir feststellen, dass es traditionsgeschichtlich überhaupt nicht befremdet, wenn Paulus sein Bekenntnis zur Hoffnung Israels als Glauben an die Auferstehung der Toten präzisiert. Konnte aber auch die Auferstehung Jesu als Vorgriff auf die allgemeine Totenauferstehung in diesen Kontext nationaler Hoffnungen eingezeichnet werden? Es ist schwer zu sagen, wie neu dieser Gedanke war. Für unsere Fragestellung genügt die Feststellung, daß jedenfalls Lukas hier kein Problem gesehen hat. In Lk 7,11–17 bereitet er die Antwort Jesu an Johannes den Täufer durch die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain vor. Wenn Jesus in dieser Antwort anschließend den Satz „Tote stehen auf“ aus Jes 26,19 zitiert (Lk 7,22), so wird ja eine einzelne Auferweckung als Zeichen der erwarteten Heilszeit gewertet.45 Was aber die Auferstehung Jesu betrifft, so hat Lukas sie in der Apostelgeschichte wiederholt als Erfüllung der Natansweissagung und anderer davidischer Verheißungen gedeutet (vgl. 2,25–36; 13,23.32–37). Die messianischen Hoffnungen Israels, die Lukas in seinen Vorgeschichten so betont aufgegriffen hat, verbinden sich für ihn also ganz besonders mit der Auferstehung Jesu. In Apg 13 ist es gerade Paulus, dem diese Sicht in den Mund gelegt wird, so daß sein Bekenntnis zur Hoffnung Israels in der Situation des Prozesses nur eine Aussage 43
44
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Marshall, I. Howard, The Acts of the Apostles. An Introduction and Commentary, Leicester 1980, 392 verweist zu Recht auf Lk 2,37; vgl. ferner Jdt 11,17: thērapeúusa nyktós kai hēméras und die 15. Benediktion des 18-Gebets (bab. Rezension): „… auf deine Hilfe hoffen wir jeden Tag“. apobolê und próslēmpsis sind korrespondierende Begriffe der Geschäftssprache wie „Soll und Haben“; vgl. Liddell-Scott s. v. gegen Bauer, Wörterbuch s. v., der zu apobolê ≈ „Verwerfung“ (nämlich „der Juden durch Gott“) zu Unrecht auf Jos Ant 4,314 verweist. Röm 11,15 handelt also weder, wie traditionell angenommen, von der Verwerfung und Wiederannahme Israels durch Gott (was in Spannung zu Röm 11,1 stünde) noch, wie neuerdings vorgeschlagen, von Israels Ablehnung und späterer Annahme des Evangeliums, sondern variiert nur die Gegenüberstellung von hêttēma und plêrōma in V. 12. Die Anspielung auf Jes 26,19 ist Teil einer Q-Tradition, für deren Zurückführung auf Jesus keine gravierende Hindernisse bestehen; vgl. Kümmel, Werner Georg, Jesu Antwort an Johannes den Täufer. Ein Beispiel zum Methodenproblem in der Jesusforschung, SbWGF 9,4 (1974) 129–159, sowie in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte Bd. 2, Gesammelte Aufsätze 1965–1977, Marburg 1978, 177–200. Kümmel bezieht dieses positive historische Urteil ausdrücklich auch auf die Erwähnung von Totenauferweckungen in Lk 7,22 Par (vgl. aaO. 200). - Zur Sache ist vielleicht auch Mt 27,52f heranzuziehen.
Israels Hoffnung – auch heute relevant!
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bekräftigt, die er nach Lukas vorher schon in einer repräsentativen Synagogenpredigt gemacht hat. Diese Verbindung von Davidsverheißung und Auferstehung ist jedoch nicht nur ein konstantes Anliegen des lukanischen Paulus: Aus Röm 1,3f geht hervor, dass der wirkliche Paulus sich diesen Gedanken in einer bestimmten Form auch zu eigen gemacht hat.46 Unsere Interpretation der untersuchten Texte als Ausdruck wirklicher Solidarität mit Israel hat also den Nebenertrag, dass ein angeblicher Gegensatz zwischen dem lukanischen Paulusbild und dem Paulus der Briefe47 sich als konstruiert erweist. Das zeigen die traditionsgeschichtlichen Querverbindungen zu Röm 1,3f; 4,17 und 11,15, auf die wir gestoßen sind. Abschließend möchte ich an dieser Stelle nur eine Spur anzeigen, auf der nach der kirchlichen Bedeutung unseres exegetischen Ergebnisses gefragt werden müsste: Auf der Weltkirchenkonferenz von Evanston im Jahre 1954 wurde der Versuch gemacht, ein Bekenntnis zur Hoffnung Israels zum Beschluss zu erheben. Der Versuch scheiterte wegen der Befürchtung, dass dieses Bekenntnis zu direkt politisch verstanden werden könnte, als vorbehaltlose Bejahung des Staates Israels und seiner Politik.48 Solche Befürchtungen sind verständlich, dürfen aber nicht dazu führen, dass überhaupt keine Solidarität mit dem jüdischen Volk und seinen Hoffnungen zum Ausdruck kommt. Wirkliche Solidarität mit einem Volk kann sich nicht überzeugend in völlig unpolitischen Kategorien aussprechen. Seit 1954 hat es immer wieder einmal kirchliche Erklärungen zum Thema „Hoffnung“ gegeben, desgleichen zum Thema „Israel“. Beide Themen sind dabei in ein helleres Licht gerückt worden. Mir scheint jedoch, dass Paulus mit seinem Bekenntnis zur Hoffnung Israels, wie Lukas es uns überliefert, der Kirche im großen und ganzen immer noch weit voraus ist.
46
47
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Zur exegetischen Logik dieser Anbindung des Osterkerygmas an die Davidverheißung (auf der Basis von 2 Sam 7,12) vgl. Betz, Otto, Was wissen wir von Jesus? (2. Aufl. Stuttgart / Berlin 1967) 64–68; Hengel, Martin, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975, 100f. Für unsere Fragestellung beachtlich ist die Formulierung ex anastáseōs nekrôn in Röm 1,4: Die Auferstehung Jesu ist Teil und Anfang der allgemeinen Auferweckung der Toten durch Gott; vgl. 1 Kor 15,13.20 und Apg 26,23. Vor einer kurzschlüssigen Gleichsetzung des Paulus der Briefe mit dem historischen Paulus warnt mit Recht Jakob Jervell, Der unbekannte Paulus, in: Die Paulinische Literatur und Theologie / The Pauline Literatur and Theology, hrsg. S. Pedersen, Arhus 1980, 29– 49. Daran erinnert Markus Barth, Das Volk Gottes. Juden und Christen in der Botschaft des Paulus, in: Barth, Markus et al., Paulus - Apostat oder Apostel? Jüdische und christliche Antworten, Regensburg 1977, 45–134, hier 96 bei gleichzeitigem Hinweis auf die hier verhandelten Acta-Stellen sowie Eph 1,12; 4,14 als Belege für die „Einheit der Hoffnung der Juden und Christen“.
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Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apg
Die Schwierigkeiten, in der Israel-Frage zu einem ökumenischen Konsensus zu kommen, bestehen offenbar unvermindert weiter; vgl. das Schlussdokument „Eine gemeinsame Hoffnung“ der Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in Bangalore 1978: „Wer in der Hoffnung lebt, riskiert den Dialog … Der Dialog mit den Juden ist besonders verheißungsvoll und schwierig; verheißungsvoll, weil nur mit diesem Volk unsere gemeinsamen Wurzeln so tief sind; schwierig, weil die theologischen und politischen Fragen, die sich stellen, uns voneinander und von den Juden zu trennen drohen.“49 Die gemeinsame Hoffnung auf „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (nach 2 Petr 3,13) betont sowohl der Beschluss der Rheinischen Landessynode zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden von Januar 1980 als auch die katholische Erklärung der deutschen Bischöfe über das Verhältnis der Kirche zum Judentum vom April 1980. Die hier untersuchten Paulustexte der Apostelgeschichte sprechen demgegenüber von einer christlichen Bekräftigung der besonderen Hoffnung des Volkes Israel auf eine Segenszeit als Vollendung seiner Geschichte.
49
Bangalore 1978. Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. Berichte, Reden, Dokumente, hrsg. v. Müller-Fahrenholz, Geiko, 1979, 59.
Der Geist und das Reich im lukanischen Werk Konkurrenz oder Konvergenz zwischen Pneumatologie und Eschatologie?1 1.
Zur Vorgeschichte der Fragestellung
Das Reden vom Heiligen Geist war Jahrhunderte lang unter dem Einfluss der altkirchlichen Trinitätslehre ein Teil der Lehre von Gott. Mit dem Zurücktreten dogmatischer Normen wurde dieser Ansatz bei vielen Autoren verdrängt von philosophischen Traditionen, die zwischen dem Geist Gottes und dem menschlichen Geist nicht streng unterschieden. Besonders unter dem Einfluss der idealistischen Philosophie Hegels im19. Jahrhundert wurde der Begriff „Geist“ aufs Engste mit dem des „Bewusstseins“ verknüpft. Aus diesen dogmatischen oder philosophischen Traditionen wurde die Auslegung biblischer Texte zum Heiligen Geist abrupt herausgerissen durch die Monographie von Hermann Gunkel über Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus“ von 1888.2 Hier kam der „übernatürliche“ Charakter des Heiligen Geistes neu in den Blick, aber nur als die Kraft Gottes, die in Menschen und durch die Menschen Wunder wirkt, keineswegs als die „dritte Person“ der Trinität. Damit wurde die neutestamentliche Pneumatologie eng verzahnt mit alttestamentlichen und frühjüdischen Anschauungen. Darin wurde Gunkels Monographie richtungsweisend für die religionsgeschichtliche Interpretation des gesamten Neuen Testaments.3 Diese Neuausrichtung der Exegese führt auch zur Wiederentdeckung der futurischen Eschatologie als fundamentaler Voraussetzung der Verkündigung Jesu und der Urkirche. Dazu trug die Entdeckung oder erstmalige allgemeinverständliche Publikation von apokalyptischen Schriften des frühen Judentums bei. Den wirksamsten Startschuss gab Johannes Weiß mit seiner Schrift Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes von 1892.4 Während die traditionelle Kirchenlehre immer eine 1
2 3
4
Eine kürzere englische Fassung dieser Studie wurde unter der Überschrift The Spirit in Luke–Acts: Substitute for or Prelude to the Kingdom? beim General Meeting der Studiorum Novi Testamenti Societas in Annandale, NY im August 2011 vorgetragen. Die ersten Impulse zur Beschäftigung mit diesem Thema bekam ich durch ein Seminar bei meinem späteren Doktorvater Gustav Stählin im Sommer 1962. Göttingen 1888, 2. Auflage 1899. Vgl. Kümmel, Werner Georg, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 2. Auflage München 1970, 275f. Göttingen 1892. Vgl. Kümmel, a. a. O. 286–290.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
„Lehre von den letzten Dingen“ hatte, wurde jetzt das unmittelbare Bevorstehen der kommenden Gottesherrschaft als Kern der Botschaft Jesu erkannt. Die Überlieferung einschlägiger Jesusworte lässt erkennen, dass die Urgemeinde diese Naherwartung des Reiches Gottes (und nach Ostern der Wiederkunft Jesu) teilte. Früher oder später musste dann auch einmal die Frage nach dem Verhältnis zwischen Pneumatologie und Eschatologie gestellt werden. Die Frage nach einer spezifisch lukanischen Pneumatologie wurde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mehrfach thematisiert, zuerst in der Monographie von Heinrich von Baer, Der Heilige Geist in den Lukasschriften von 1926.5 Lange vor dem Aufkommen des Begriffs „Redaktionsgeschichte“ hat von Baer auf der Linie dieser späteren „Methode“ das Lukasevangelium durch synoptische Vergleiche auf spezifisch lukanische Anliegen hin ausgewertet. Er konstatiert einen engen Zusammenhang zwischen Pneumatologie und Eschatologie: „Die Begleiterscheinungen des Geistes in der letzten Heilsepoche charakterisieren diese als die abschließende, der nur noch das Endgericht und die Wiederkunft Jesu zur endgültigen Aufrichtung des Reiches folgen. Mit dem Pfingsttage ist die letzte Zeit angebrochen, die durch Joel prophezeit wurde, dadurch ist auch der Geist, der in den Aposteln wirkte, als eine Erfüllung der jüdischen eschatologischen Weissagungen von Lukas angesehen worden.“6 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam im gleichen Jahr Friedrich Büchsel im Rahmen seiner umfassenden Monographie Der Geist Gottes im Neuen Testament7: „Weil Jesus das Kommen des Gottesreiches in naher Zukunft erwarten gelehrt hatte, / erzeugte die Gewißheit seiner Auferstehung den Gedanken: jetzt bricht die Heilszeit an. Jesus hatte den Geistgedanken bei seinen Jüngern neu lebendig gemacht. Selbst wenn die Worte des Täufers und sogar die Worte Jesu, nach denen die Jünger eine Geistmitteilung zu erwarten hatten, nicht echt sein sollten, so mußte schon die bloße Tatsache, daß Jesus Pneumatiker war, den Geistgedanken wichtig werden und unter den Verheißungen für die Endzeit die Geistverheißungen neu auftauchen lassen …“ Im folgenden Jahr äußerte sich auch Henry J. Cadbury in seinem Werk The Making of Luke-Acts8 im gleichen Sinne: “Attention has already been called to Luke’s interest in the holy Spirit. It is important here to notice its association with eschatology. Luke makes plain that it belongs not to the message of the past, but to that of the future. As the Fourth Gospel says, ‘the spirit was not yet’ when Jesus died, rose and ascended. It was still to come, / and come it did ‘not many days’ afterward at Pentecost … (286f.). “We may say that such associations of Spirit and kingdom tend to spiritualize eschatology, but they have also the tendency to eschatologize the Spirit.” (288). 5 6 7 8
Stuttgart 1926. Vgl. a. a. O. 209. Gütersloh 1926, Zitate von S. 236f. London 1927 (repr. 1958 & 1961).
Notwendige Begriffsklärungen
153
Seit diesem quasi einvernehmlichen Auftakt9 sind die Meinungen über die lukanische Pneumatologie und Eschatologie stark auseinander gegangen. Die Gründe dafür liegen auf drei verschiedenen Ebenen: 1. auf der Ebene der exegetischen Wahrnehmung konkreter Texte über den Heiligen Geist; 2. auf der Ebene der Interpretation des lukanischen Werkes und seiner Theologie im Ganzen; 3. auf der Ebene der Begriffsbestimmung von „Eschatologie“ bzw. „eschatologisch“. Ich beginne mit Letzterem:
2.
Semantische Probleme der Fragestellung
Die Begriffe „Pneumatologie“ und „Eschatologie“ sind zwei ungleiche Brüder: Über den Begriff „Pneumatologie“ lässt sich relativ leicht eine Sprachregelung im Konsens erzielen: wir verstehen darunter keine bloße lexikalische Bestandsaufnahme zur Vokabel [pneúma] in ihrer ganzen Bedeutungsbreite, sondern meinen damit das Reden vom „Heiligen Geist“ alias „Geist Gottes“. Welche Texte als Belege dabei in Frage kommen, ist anhand einer Konkordanz leicht zu ermitteln. Als Sonderfall kann man auch den singulären Ausdruck „der Geist Jesu“ aus Apg 16,7 mit einbeziehen.10 Anders stehen die Dinge beim Begriff „Eschatologie“, bei dem es sich nicht um eine Vokabel im Wortschatz der Texte, sondern um ein Kunstwort der Wissenschaftssprache handelt. Von der Wortbildung her lässt sich natürlich eine Umschreibung durch „Lehre von den letzten Dingen“ vorschlagen, die für die Dogmatik vielleicht noch befriedigen kann. Im Sprachgebrauch der Bibelwissenschaft ist dieser Begriff jedoch viel breiter und vor allem variabler. Eine rein temporale Erklärung im Sinne des Endpunktes oder letzten Abschnitts einer
9
10
Vgl. auch Schniewind, Julius, Zur Synoptiker-Exegese, ThR N. F. 2 (1930) 129–189, hier 155f.: „Man erwartet ein richtendes Eingreifen Gottes zur letzten Zeit, und die Lebensgestalt dieser eschatologischen praesentia Dei heißt Pneuma. Die Geistaussagen der Evangelien, überhaupt des N. T., wollen primär verstanden sein aus dem Bewußtsein, daß die / Eschata Gegenwart geworden sind. Von da aus ist die Pneumatologie des Lk. primär pneumatische Christologie; das eschatologische Eingreifen Gottes … bedeutet, daß er den Pneumatiker kat’exocheen sendet.“ Vgl. Stählin, Gustav, [to pneúma Jēsoú] (Apostelgeschichte 16:7), in: Christ and Spirit in the New Testament, ed. B. Lindars & S. S. Smalley in Honour of Charles Francis Digby Moule, Cambridge 1973, 229–252.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
Zeitlinie genügt nicht.11 Vielmehr kommt meistens der Aspekt eines qualitativen Kontrastes hinzu. Er bedingt eine starke emotionale Komponente – je nach Standpunkt als Hoffnung oder Furcht. Dieser emotionale Aspekt beeinflusst wiederum die Einschätzung des empfundenen zeitlichen Abstandes zu der erwarteten Zukunft. In der Anwendung auf das Neue Testament kommt der Bezug auf alttestamentliche Prophetien oder frühjüdische Zukunftserwartungen hinzu, die man als „eschatologisch“ bezeichnen konnte. Wenn solche Zukunftsaussagen oder -vorstellungen im Neuen Testament als „erfüllt“ hingestellt werden, bekommen gegenwärtige Erfahrungen (z. B. Krankenheilungen) und sogar Ereignisse der jüngsten Vergangenheit (wie die Auferweckung Jesu) eine „eschatologische“ Qualität. Davon sind, wie sich im Folgenden zeigen wird, auch Texte über den Heiligen Geist betroffen. Über das Zeitgefühl der Verfasser gegenüber der noch ausstehenden Zukunft ist damit noch nicht entschieden, weil es keinen feststehenden „Fahrplan“ der eschatologischen Ereignisse gibt. Das Verhältnis zwischen „präsentischer“ oder „perfektischer“ Eschatologie (erfüllte eschatologische Verheißungen) und „futurischer“ Eschatologie muss von Fall zu Fall bestimmt werden. Darüber hinaus gibt es einen theologischen Sprachgebrauch von „eschatologisch“, der die Bedeutungskomponente „Ende“ ausklammert und den Aspekt des Kontrastes zum Schwerpunkt der Wortbedeutung macht. „Eschatologisch“ wird dabei zur Chiffre für einen – wie auch immer definierten – radikalen Umbruch, eine einschneidende existentielle Veränderung verwendet („neue Schöpfung“, „neues Selbstverständnis“ usw.). Das ist dann auch auf den Geistempfang und seine Wirkungen anwendbar, unabhängig von allen geschichtstheologischen oder gar apokalyptischen Vorstellungen. Nicht zuletzt wegen solcher Unschärfen im Gebrauch der Kategorie „Eschatologie“ schwanken die Meinungen der Exegeten über das Vorhandensein oder Fehlen oder das relative Gewicht eschatologischer Züge im lukanischen Reden vom Heiligen Geist. Wo der eschatologische Charakter der Geistphänomene und –aussagen im lukanischen Werk bejaht wird, da beruht das meistens auf dem Bezug zu biblischen Weissagungen oder frühjüdischen Erwartungen, die nach Lukas in der Geistbegabung Jesu und/oder der Geist-Erfahrung der Urkirche eingetroffen waren und als gezielte „Erfüllung“ durch Gott gedeutet werden. Die Bestreitung oder Einschränkung der eschatologischen Dimension lukanischer Pneumatologie geht in der Regel einher mit Hinweisen auf die Länge der – aus der Sicht des Lukas oder seiner handelnden Personen – noch ausstehenden Zeit 11
Vgl. Smend, Rudolf, Art. Eschatologie II. Altes Testament, in: TRE 10 (1982) 256–264, hier 257: „Nur wenige Exegeten … beharren konsequent auf dem [éschaton], das der Begriff Eschatologie enthält, und halten den Begriff nur dort für anwendbar, wo von einem völligen Ende geredet werden kann.“ – Klein, Günter, Art. Eschatologie IV. Neues Testament, ebd. 270–299, hier 270: „Die Funktionsfähigkeit des Begriffs ‚Eschatologie’ als einer exegetischen Deutekategorie ist neutestamentlich nicht überall vorbehaltlos anerkannt …“
Heiliger Geist als Endzeiterfahrung
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bis zum Ende der Geschichte (dem Kommen des Reiches Gottes oder der Wiederkunft Jesu). Je nachdem, wie der Akzent gesetzt wird, sind die narrativen oder lehrhaften Geistaussagen im Lukanischen Werk darum „schon“ eschatologisch oder „noch nicht“ eschatologisch. Hinzu kommt die spezielle Denkfigur eines „Nicht-mehr-eschatologisch“, die besonders durch Hans Conzelmanns Buch Die Mitte der Zeit (1954)12 verbreitet, vorher schon von Philipp Vielhauer (1950) vertreten13 und in Erich Gräßers Studie über die Parusieverzögerung (1957)14 bekräftigt wurde. Danach hat das Erlebnis enttäuschter Naherwartung der Wiederkunft Jesu und der von Jesus angekündigten Gottesherrschaft bei Lukas (und nicht nur bei ihm) zu einem Herunterspielen eschatologischer Töne geführt. Diese Theorie einer gezielten oder jedenfalls bewussten Reduktion eschatologischer Bezüge bei ursprünglich „eschatologischen“ Themen als Tribut an die (unglücklich so genannte) „Parusieverzögerung“ war lange Zeit so etwas wie die Leitwährung der Lukas-Interpretation.15 Wie weit ihr Einfluss heute noch reicht, ist eine offene Frage.
3.
Manifestationen des Geistes als eschatologisches Phänomen
Auf der Basis einer nicht zu engen Definition von „eschatologisch“ (Stichworte „Verheißung“ und „radikale Zäsur“) gibt es zweifellos lukanische Texte, die für ein eschatologisches Verständnis der Wirkungen des Heiligen Geistes sprechen: 1. Wenn man davon ausgehen kann, die Messiaserwartungen des frühen Judentums und die einschlägige Deutung ihrer alttestamentlichen Basistexte als eschatologisch zu bezeichnen, dann ist auch die Rolle des Heiligen Geistes im Zusammenhang mit der ganzen Mission Jesu ein eschatologisches Phänomen. Die lange erwartete, sehnlichst erhoffte Erlösung Israels wird in seiner Person durch das Wirken des Geistes in Gang gesetzt: – Schon die Geburt und das Wirken des Vorläufers Johannes trägt diese Signatur (Lk 1,15.17). – Die Geburt Jesu wird als ein Wunder des Heiligen Geistes angekündigt (Lk 1,35) und von geistbegabten Menschen begrüßt (Lk 1,41; 2,25–27). 12
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Vgl. Conzelmann, Hans, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 1954, 3. Aufl. 1960. Vgl. Vielhauer, Philipp, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, in: EvTh 10 (1950/51) 1–15. Vgl. Gräßer, Erich, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte, Berlin 1957. Vgl. Klein, Günter, Art. Eschatologie IV. Neues Testament, in: TRE 10 (1982) 270–299, hier 292–294.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
Die Taufe Jesu ist mit einem Geistempfang verbunden (3,22), und von da an lenkt und beflügelt der Geist die Schritte Jesu (Lk 4,1.14). – Beim von Lukas programmatisch an den Anfang gesetzten Auftritt in der Synagoge von Nazareth bezieht Jesus Jes 61,1f. auf sich und interpretiert damit den Messiasbegriff als Inbegriff von Geistbegabung (Lk 4,18). – Das greift Lukas in der Petrusrede im Haus des Cornelius auf mit der Aussage, dass „Gott Jesus von Nazaret gesalbt hat mit heiligem Geist und mit Kraft“ (Apg 10,38). – Die nachösterliche Geistbegabung der Jünger wird als Geschenk des Erhöhten gedeutet (Apg 2,33.38). Darum kann dieser Geist auch einmal abgekürzt als „der Geist Jesu“ bezeichnet werden (Apg 16,7). 2. Eschatologisch ist auch der Horizont, vor dem Johannes der Täufer – die Stimme, die im Sinne von Jes 40,3–5 das Kommen Gottes und sein Heil ankündigt (Lk 3,4– 6) – den „Stärkeren“ ankündigt, der „mit heiligem Geist und mit Feuer“ taufen wird (Lk 3,16). – In Apg 1,5 deutet Lukas das als Ankündigung der baldigen Geist-Taufe der Jünger, die sich nach Apg 2 an Pfingsten erfüllt. – Auch die Schilderung dieser Geistausgießung an Pfingsten spielt mit dem Motiv feuerartiger Lichterscheinungen vermutlich auf dieses Täuferwort an (Apg 2,3). – Nach Apg 1,4 ist die Umschreibung des Heiligen Geistes als „das vom Vater Verheißene“ in Lk 24,48 und Apg 2,33 eine Anspielung auf dieses Täuferwort. – In Apg 11,16 wird es von Petrus in Jerusalem im Rahmen seiner Rechtfertigung seiner Mission im Hause des Cornelius erneut zitiert. – Unter Berufung auf das Zeugnis des Täufers führt Paulus in Apg 19,1–7 eine Gruppe von Johannesjüngern zur Jesus-Taufe mit anschließendem Geistempfang. Diese Häufung erweist das zweifellos eschatologisch gemeinte Täuferwort von der Geisttaufe als einen Schlüsseltext der lukanischen Auffassung vom Heiligen Geist. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass Lukas das Joelzitat in der Pfingstrede des Petrus ausdrücklich als eschatologische Weissagung präzisiert. (Apg 2,17)16 Die Lesart [en tais hēmérais eschátais] ist hier sicher ursprünglicher als die mit dem überlieferten LXX-Text übereinstimmende Variante [metà taúta] (obwohl wir bei Abweichungen vom traditionellen Standardtext der Septuaginta mit der Annahme gezielter redaktioneller Veränderungen grundsätzlich vorsichtiger geworden sind). Aber selbst wenn Lukas hier einer ihm vorliegenden –
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Vgl. u. a. Kirsopp Lake, William A., Note X. The Gift of the Spirit on the Day of Pentecost, in: The Beginnings of Christianity Part I The Acts of the Apostles, ed. by F. J. Foakes Jackson and W. A. Kirsopp Lake, Vol. V Additional Notes to the Commentary ed. by Kirsopp Lake and Henry J. Cadbury, London 1933, 111–121, p.113: The Spirit as eschatological.
Verdrängung oder Eschatologie?
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Handschrift folgen würde, änderte das nichts daran, dass er eben diesen Wortlaut als zutreffend rezipiert hat, um das Pfingstgeschehen zu deuten. Eschatologisch ist schließlich auch der Hinweis auf den kommenden großen Tag des Herrn gegen Ende des Zitats in V. 20.17 Man beachte aber den Unterschied zwischen den „letzten Tagen“, die als ein Zeitraum zu verstehen sind und der Metapher des einen Tages, die ein einschneidendes großes Ereignis meint (nicht im Sinne einer 24-Stunden-Zeitspanne).
4.
Pneumatologie kontra Eschatologie?
Es ist nicht zu bestreiten, dass in der Geschichte christlicher Frömmigkeit und Theologie auf weiten Strecken die eschatologische Dimension des Heiligen Geistes in Vergessenheit geriet. Dass die Geistbegabung nur der Vorgeschmack des Reiches Gottes und eine „Anzahlung“ auf die versprochene eigentliche Erlösung sei (so jedenfalls Paulus18), wurde verdrängt durch eine Reduktion des Heils auf „Geistliches“, wobei „Geist“ allzu leicht mit „Innerlichkeit“ oder „Frömmigkeit“ gleichgesetzt wurde. Wo „Gott und die Seele“ alles war, konnte die Welt vernachlässigt werden, um deren radikale Veränderung es in der Botschaft vom kommenden Reich Gottes ursprünglich ging. Jesus hatte zwar dieses Reich angekündigt, aber in Abwandlung eines viel zitierten Wortes von Alfred Loisy konnte man sagen: Es kam immerhin der Geist. Hat Lukas dieser Entwicklung den Weg bereitet? Es gibt Befunde im lukanischen Werk, die man so deuten könnte. Ob überzeugend, soll im Folgenden geprüft werden. Am massivsten weist eine Variante im lukanischen Wortlaut des Vaterunsers in diese Richtung. Anstelle der Bitte: „Dein Reich komme!“ heißt es in Lk 11,2 vl.: „Dein heiliger Geist komme auf uns und reinige uns!“
Wenn diese Lesart ursprünglich wäre, dann hätten wir Lukas sozusagen auf frischer Tat (mit einer „smoking gun“) ertappt! G. W. H. Lampe ist zwar nicht der
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Vgl. Sæbø, Magne, Art. jôm, in: ThWANT III (1982) Sp. 559–586, hier 585: “Wie der ‘Tag JHWHs’ allmählich der Kristallisationskern eines mehrphasigen eschatologischen Dramas wird, machen vor allem Jo 1–4 und Sach 12–14 kenntlich; dabei kann der ‘Tag JHWHs’ sowohl Unheil wie Heil bringen, sich auf Israel wie auch auf die ‚Völker’ beziehen … Die Endstation ist die Apokalyptik des Dan, wo jôm JHWH durch qez ‚Ende’ und andere festgeprägte Termini ersetzt ist.“ Dazu vgl. jetzt Arzt-Grabner, Peter, Gott als verlässlicher Käufer: Einige papyrologische Anmerkungen und bibeltheologische Schlussfolgerungen zum Gottesbild der Paulusbriefe, in: NTS 57 (2011) 392–414.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
Einzige, der dafür plädiert19 – und damit viel anfangen kann.20 Aber es ist doch gewagt, zwei Minuskeln und einer Nachricht über Marcion bei Tertullian plus Gregor von Nyssa und Maximus Confessor gegen den Rest der Handschriften Glauben zu schenken.21 Nach Apg 15,8f reinigt Gott die Herzen der Menschen nicht durch den Geist, sondern durch den Glauben, und die Geistbegabung ist das Zeugnis Gottes für die Echtheit dieses Glaubens.22 Mehr Beachtung verdient, dass das Summarium der Inhalte der Verkündigung Jesu in Galiläa bei Matthäus (4,17) und Markus (1,15) keine Parallele bei Lukas hat. Der dritte Evangelist begnügt sich an der entsprechenden Stelle mit narrativen Aussagen über die Predigttätigkeit Jesu (Lk 4,14f.) und schließt dann in Lk 4,16–30 seine Fassung des Berichts über Jesu Auftreten in der Synagoge von Nazaret an (par. Mt 13,54–58; Mk 6,1–6a). Damit entfällt inhaltlich bei Lukas an dieser Stelle die Ansage der Nähe des Reiches Gottes und die Dringlichkeit das damit verbundenen Rufs zur Umkehr. Das könnte ein Indiz für eine bewusste Abschwächung apokalyptischer Naherwartung sein. An die Stelle der unmittelbar bevorstehenden [êngiken23) Machtergreifung Gottes24 träte demnach die Geistbegabung Jesu, die sich nach Lk 3,22 in der Taufe Jesu vollzogen hat und sein weiteres Wirken „inspiriert“.
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Vgl. Lampe, Geoffrey W. H., The Holy Spirit in the Writings of St. Luke, in: Nineham, Dennis (Ed.), Studies in the Gospels: Essays in Memory of R. H. Lightfoot, Oxford 1957, 159– 200, hier 170 (nach der Besprechung von Lk 11,13): “It also seems likely (though this is, of course, a much more controversial matter) that the petition ‘May thy holy Spirit come upon us and cleanse us’ is part of Luke’s own version of the Lord’s prayer.” Vgl. Lang, Bernhard, Art. Vaterunser, in: Neues Bibellexikon Bd. 3 (2001), 994–997, hier 995: “Dagegen hat der … Zusatz ‘es komme dein heiliger Geist über uns und reinige uns’ (Lk 11,2) Anspruch auf Ursprünglichkeit.” Vgl. ebd. 184: “The second petition of the Lord’s prayer, assuming that the prayer for the Holy Spirit to come upon us and cleanse us represents St. Luke’s own interpretation of the clause ‘Thy Kingdom come’, which he found in his source, supports the Lucan identification of the Kingdom of God with the operation of the Spirit.” Vgl. Wolter, Michael, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 407: „Alle Erwägungen, die zugunsten der Ursprünglichkeit dieser Lesart angeführt werden (vgl. die Zusammenstellung bei Marshall 458), können selbst zusammengenommen nicht die Schwäche der äußeren Bezeugung aufwiegen.“ Die Herausgeber des Greek New Testament (4. Aufl. 1983) sind sich einig, dass es sich um eine sekundäre varia lectio handelt („the text is virtually certain“); in der dritten Auflage (1975) war die Entscheidung noch mit der Note „B“ versehen („there is some degree of doubt“). Der Gedanke einer Reinigung durch den heiligen Geist ist dagegen in verschiedenen Qumranschriften belegt; vgl. Schnackenburg, Rudolf, Johannesevangelium I, Freiburg 1965, 472 zu Joh 4,23. Dass das Perfekt dieses Verbums noch nicht das Gekommensein des Reiches, sondern nur sein Nahesein feststellt, geht aus Parallelstellen wie Lk 21,20; Röm 13,12 und Jak 5,7 hervor. Zum Sinn der Redeweise vom „Kommen“ einer basileía als Ausdruck für eine Inthronisation vgl. Mk 11,10 sowie Josephus, Ant 9,243 und 17,66.
Fragen zu Lk 4,16–30 und 17,20f.
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In dem anschließenden Sondergut der Nazaret-Perikope mit der Zitierung und Deutung von Jes 61,1f. und Jes 58,6 bietet Lukas allerdings ein messianisches Selbstzeugnis Jesu, das zweifellos eine von Israel lang ersehnte Heilszeit ankündigt.25 Einzelne Elemente der Jesaja-Prophetie erfüllen sich nach der Darstellung des Evangelisten in später berichteten Handlungen Jesu, so jedenfalls die Heilsverkündigung für die Armen (vgl. Lk 6,20 par. Mt 5,3 mit singulär lukanischer Ergänzung in Lk 6,24) und die Heilungen von Blinden (in Lk 7,21 diff. Mt 11 redaktionell hervorgehoben). Die durch Jesaja angekündigte Befreiung von Gefangenen sah Lukas wahrscheinlich in der Heilung Besessener erfüllt, die nach Apg 10,38 bis dahin „in der Gewalt des Teufels“ waren und von Jesus durch die Kraft des Heiligen Geistes befreit wurden. Das Prädikat „eschatologisch“ in seiner weiteren Bedeutung ist also mit der pneumatologischen Deutung des Wirkens Jesu in Lk 4,16ff. zweifellos gerechtfertigt. Ob auch die engere temporale Bedeutung vertretbar ist, hängt von der Beurteilung des Schlusses der Jesaja-Zitierungen ab: Ist das „Gnadenjahr des Herrn“ eine – womöglich letzte – Gnadenfrist vor dem Kommen der Gottesherrschaft mit ihrem in Mt 4,17 und Mk 1,15 angedeuteten Gerichtspotential? Das Motiv des „einen Jahres Geduld“ im Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum in Lk 13,6– 9 (Sondergut) könnte so zu verstehen sein. Dass Lukas die Zitierung von Jes 61 vor der Erwähnung des „Tages der Vergeltung“ abbrechen lässt, muss nicht bedeuten, dass Lukas diesen wichtigen Inhalt eschatologischer Erwartungen (vgl. Dtn 32,35; Jes 34,8; 63,4; Jer 46,10) ablehnt. Im Gegenteil: In Lk 18,1–8 (Sondergut) greift er ihn mit der Vokabel ekdíkēsis ungebrochen auf – mit einer Bekräftigung der Naherwartung (V.8a)!26 Eine pneumatologisch-präsentische Umdeutung des für die Zukunft erwarteten Gottesreiches hat man auch in Lk 17,20f. (Sondergut) angenommen, wenn man das dortige entós hymôn mit „inwendig in euch“ übersetzte (so u. a. Luther; Authorized Version: „within you“). Die Antithese zu metá paratērêseōs wurde entweder auf das Ausschauhalten nach apokalyptischen Vorzeichen hin gedeutet oder auf die welthafte Sichtbarkeit des erwarteten Reiches. Dieses Verständnis wird jedoch dem Kontext nicht gerecht: V. 21 ist ja eine Antwort Jesu auf eine Frage der Pharisäer und kann (im Sinne des Lukas) unmöglich diesen Fragestellern die Geistbegabung zuschreiben, die sogar die Jünger erst nachösterlich empfangen haben. Darum hat sich in der neueren Exegese die Übersetzung „mitten unter euch“ weithin durchgesetzt (LÜ, EÜ, NEB, NRSV: „among you“, ESV: „in the midst of you“). Das wird einhellig dahingehend verstanden, dass in der
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Vgl. Wolter, Michael (s. o. Anm. 21) 192: Lukas benutzt die Zitatenkombination, um „zum Ausdruck zu bringen, dass der Inhalt von Jesu Sendungsauftrag in nichts anderem besteht, als die eschatische (sic!) Verwandlung von Unheil in Heil, die Gott seinem Volk verheißen hat, zu vollziehen (vgl. auch den entsprechenden Gebrauch von Jes 61,2–3 in 11Q13).“ Mehr zu diesem Text unten auf S. 164–165.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
Person Jesu das Reich Gottes schon da ist (was immer das bedeutet) oder (besser:) in seinem Wirken Gottes Machtergreifung in der Welt (punktuell, je und dann) stattfindet (vgl. Lk 11,2027). Gegen diese Auslegung des entós hymôn hat jedoch Tom Holmén 1996 gravierende Bedenken erhoben28. Die Präposition wäre danach an dieser Stelle in völlig unüblicher Weise für etwas braucht, das im Neuen Testament sonst mit [en mésō] ausgedrückt wird – auch bei Lukas (vgl. Lk 2,46; 24,30; Apg 1,15; 2,22; 27,21). Vor dem Hintergrund dieses Dilemmas habe ich dafür plädiert, das entòs hymôn als Anspielung auf die Metapher des „trojanischen Pferdes“ zu verstehen, die in der Antike geläufig war.29 Jesus hätte damit sein Kommen als den entscheidenden Einbruch in das Reich des Satans (vgl. Lk 11,17f. Parr.) gedeutet, durch den die Durchsetzung der Gottesherrschaft schon im Gange ist, während die Pharisäer noch nach einem künftigen Datum dieses Ereignisses fragen.30 Die damit gegebene quasi „präsentische“ Interpretation des Reiches Gottes richtet sich keineswegs gegen eine Naherwartung, sondern intensiviert sie gerade. Sie hat etwas mit dem Heiligen Geist zu tun, durch dessen Kraft Jesus nach Apg 10,38 die Dämonen besiegt. Als „Kronzeuge“ für die Verdrängung der eschatologischen Naherwartung (oder der temporalen Eschatologie überhaupt) durch das Konzept einer „Zeit des Geistes“ wird vor allem Apg 1,4–8 ins Rennen geschickt. Der Anfang der Apostelgeschichte bietet sich auch geradezu an für eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung zwischen „Reich“ und „Geist“: Nach V.3 dienten die Erscheinungen des Auferstandenen in den „40 Tagen“ zwischen seiner Auferweckung der Belehrung der Jünger über das Reich Gottes. Unter dieser Überschrift steht auch 27
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Lukas spricht hier auffälliger Weise nicht wie Mt 12,28 vom Geist Gottes, sondern vom Finger Gottes, mit dem Jesus die bösen Geister austreibt und so das Reich Gottes zu einzelnen Menschen bringt; dazu vgl. J. E. Yates, Luke’s Pneumatology and Lk. 11,20, in: Studia Evangelica II (TU 87), Berlin 1964, 295–299, und Woods, Edward, The ‚Finger of God‘ and Pneumatology in Luke-Acts, Sheffield 2001. Lukas hat das Logion sicher in dieser Fassung vorgefunden und übernommen; die „pneumatologische“ Fassung des Matthäus hätte gut zu Apg 10,38 gepasst. Vgl. Holmén, Tom,The Alternatives of the Kingdom. Encountering the semantic restrictions of Luke 17,20–21([entós hymôn]), in: ZNW 87 (1996) 204–229. Skeptisch äußerte sich bereits Nigel Turner, Grammatical Insights into the New Testament, London [u. a.] o. J., 63: “I see little evidence for the common interpretation ‘in your midst’ (adopted in the margin of the R. V., in the RSV, by Moffatt, by Knox in the margin, and by N. E. B. in the text).” Vgl. vor allem Cicero, Pro Murena 78 (im Blick auf die Catilinarische Verschwörung): „Intus, intus est equus Troianus!“. Zur Übertragbarkeit der Metapher auf völlig unmilitärische Lebensbereiche vgl. u. a. Plautus, Bacchides 941f.; Ovid, Ars. Am. 1,364. Homer verwendet die Präposition entós häufig für die Ortsangabe „innerhalb der Stadt“ oder „innerhalb der Mauern“. Euripides, Troerinnen 12, gebraucht entós im Zusammenhang mit dem trojanischen Pferd. Vgl. die Besprechung der Stelle in meinem Buch Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet, Neukirchen-Vluyn 2010, 83f.
Apg 1,4–8 als Abschied von der Eschatologie?
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die Ankündigung der „Taufe“ mit dem Heiligen Geist in V.5.31 Diese zieht in V. 6 eine Rückfrage der Jünger nach dem „Reich für Israel“ nach sich, was vor dem Hintergrund alttestamentlicher Aussagen zum Königtum Gottes kein Themawechsel ist.32 Das Interesse der Jünger gilt dem Wann dieser Wiederherstellung der Unabhängigkeit Israels von fremden Herren (für deren Regierungsform kein anderes Konzept zur Verfügung stand als das eines Königtums33). Die nahe bevorstehende Geistverleihung weckt bei ihnen die Vorstellung einer ebenso nahe bevorstehenden politischen Erlösung. Die Antwort Jesu in V.7f. wird weithin als eine doppelte Absage an die Interessen der Jünger verstanden: als Zurückweisung ihrer politischen Heilserwartung zugunsten der Geistverheißung und als Korrektur ihrer (eigentlich nur hypothetischen) Naherwartung zugunsten eines längerfristigen Auftrags in der Welt. Ersteres hat eine alte und „ehrwürdige“ Tradition in reformatorischer Bibelauslegung. Zwei Predigten Luthers, die er in den Jahren 1531 und 1544 jeweils am Fest der Himmelfahrt Christi gehalten hat, liegen auf dieser Linie.34 Nicht anders urteilte Johannes Calvin:35 “Noch eine zweite Zurechtweisung enthält aber Christi Wort. Es will den Jüngern die falsche Einbildung von einem irdischen Reich austreiben, indem es ganz kurz sagt, dass das Reich in der Predigt des Evangeliums besteht. Darum sollen sie nicht von Reichtum, Genuß, äußerer Macht oder anderen irdischen Dingen träumen; sie hören ja, dass Christus seine Herrschaft ausübt, wo er durch die Lehre des Evangeliums sich die Welt untertänig macht. Daraus ergibt sich, dass er in geistlicher, nicht weltlicher Weise herrscht …“
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Die Metapher „Taufe“ hat hier nichts mit der Vorstellung eines Untertauchens zu tun, sondern meint ein „Überschüttetwerden“ = „Überwältigtwerden“, wie es dann auch in Apg 2 geschildert und in 2,33 gedeutet wird. Vgl. Mi 4,7–8: „Der HERR wird König sein über sie auf dem Berg Zion von nun an bis in Ewigkeit … Zu dir wird sie gelangen und kommen, die frühere Herrschaft, die Königsherrschaft für die Tochter Jerusalem.“ (NZÜ) Wenn Josephus die ideale Verfassung Israels in Contra Apionem II 165–167 als eine „Theokratie“ bezeichnet, das aber als Priesterherrschaft auslegt, so entspricht das seiner priesterlichen Abstammung und seinem Abstandnehmen von dem vergeblichen Aufstand gegen die Römer. Vgl. WA 34/1, S. 404: „Sie verstehen nicht, was er saget. Er redet vom Reich Gottes, So fragen sie vom Reich Israel. Das Reich Israel heisst der Juden Konigreich und Priesterthum, Welches Herodes zu sich gerissen hatte. Gottes Reich aber heisst, das Johannes … getaufft hat mit Wasser, Sie aber sollen mit dem heiligen Geist getaufft werden, Und wie er Lucae 24 sagt, das er predigen lasse in seinem Namen Busse und Vergebung der Sünde, unter allen Volckern und anheben zu Jerusalem. Das sind andere Worte, welche nit sagen von auffrichtung des Reichs Israel, wie man krieg und harnisch füren solle, Heuser und Schlosser bawen auff Erden, Sondern sagen vom Reich Gottes, wie die Menschen sich sollen zu Gott bekeren, Vergebung der Sunden erlangen, gerecht und selig werden und ewig leben bey Got.“ Ähnlich WA 49, S. 416. Vgl. Johannes Calvins Auslegung der Heiligen. Schrift in deutscher Übersetzung, hrsg.von Otto Weber, Bd.11, Neukirchen-Vluyn (1979) 16.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
In dieser Tradition stehen u. a. die Bemerkungen von Geoffrey H. Lampe36, James D. G. Dunn37 und Stephen S. Smalley38 zu Apg 1,6–8. Dieser Auslegungstradition ist entgegenzuhalten, dass der Gedanke der „Wiederherstellung“ Israels (V. 6: [apokathistáneis]) in Apg 3,21 ([apokatástasis]) in einer Petrusrede wiederkehrt – im Zusammenhang mit dem Zweiten Kommen des jetzt in den Himmel aufgenommenen Messias. Die lukanische Endzeitrede enthält denn auch – jenseits der „Tage der Vergeltung“ (Lk 21,22) – den Ausblick auf ein Ende der militärischen Unterwerfung Israels unter die Heiden (Lk 21,24). Das von Lukas wiederholt dem Paulus in den Mund gelegte Bekenntnis zur Hoffnung Israels in Apg 23,6; 24,15f.; 26,6f. und 28,20 ist seiner Intention nach also kein (apologetisch motivierter) Etikettenschwindel, sondern eine von Lukas bejahte Implikation der Messianität Jesu.39 Dass es in Apg 1,6–8 um eine Korrektur der urchristlichen Naherwartung zugunsten der Erwartung einer längeren Kirchengeschichte gehe, ist eine relativ „junge“ These der Auslegungsgeschichte. Wenn Otto Bauernfeind 1939 im Blick auf Apg 1,8 von „dieser jetzt einsetzenden Epoche der Erdenwelt“ sprach, so meinte er damit keinen „Verrat an der christlichen Weltüberlegenheit und an der brennenden Hoffnung auf die neue Welt“.40 Betrachtet man die Verse Apg 1,6–8 genauer, so erscheint das Pathos, mit dem das Problem der Parusieverzögerung in diesen Text hineingelesen wurde, als von anderswoher herangetragen. Die Rückfrage der Jünger in V.6 nach einer denkbaren Zeitgleichheit von Geistverleihung und Israel-Befreiung verrät nur ihr existentielles Engagement auf der Linie von Lk 24,21: „Wir aber hatten gehofft, dass er der wäre, der Israel erlösen sollte.“ Die Antwort Jesu in Apg 1,7 36
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G. W. H. Lampe (s. o. Anm. 19) 171f.: “It is clear, therefore, that St. Luke brings the ideas of the power of the Kingdom and the working of the Spirit of God into a very close relationship with each other; / they are in fact virtually identical.” Ferner 184: “The Kingdom is defined in terms of the preaching of the gospel in the power of the Spirit instead of in terms of a nationalistic restoration such as the disciples had hitherto expected.” Dunn, James D. G., Spirit and Kingdom, in: ExpT 82 (1970–71) 36–70, repr. in: Dunn, The Christ and the Spirit. Vol. 2 Pneumatology, Edinburgh 1998, 133–141, hier 137: “We might even say that v. 7 and v. 8 are the answer to the question of v.6: Do not concern yourselves about the when of the kingdom; as to the what of the kingdom, that which concerns you is that you shall receive power when the Holy Spirit comes upon you.” Allerdings stellt Dunn klar: “Jesus … does not reject or rebuke their concern about the kingdom.” Smalley, Stephen S., Spirit, Kingdom and Prayer in Luke-Acts, NT XV (1973), 59–71, hier 68: “Luke’s theological understanding … is such that he … views the activity of the Spirit among men and the arrival of the kingdom of God as aligned if not synonymous. Where the Spirit is, there is the kingdom. God’s eschatological reign in history is both mediated and characterized by the Spirit …” Vgl. dazu meine Studie „Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas“ in: NTS 31 (1985) 437–451; s. o. S. 135–150. Vgl Bauernfeind, Otto, Die Apostelgeschichte (1939) in: ders., Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte mit einer Einführung von Martin Hengel hrsg. v. Volker Metelmann, Tübingen 1980, 22.
Endzeit oder „Mitte der Zeit“?
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korrigiert auch keine vermeintliche Naherwartung, sondern verbietet ihnen nur das Wissen-Wollen in Fragen der souveränen Geschichtslenkung Gottes. Insofern ist es korrekt, wenn Hans Conzelmann den „Hinweis auf den Geist“ zunächst nur als „Ersatz … des eschatologischen Wissens“ bezeichnet41 und Erich Gräßer das fast wörtlich aufnimmt.42 Daraus ergibt sich aber nicht die unmittelbare Fortsetzung bei beiden (!): „Als erster beruft sich Lukas bewußt auf das Geistphänomen zur Bewältigung des Parusieproblems.“ Die Akzente sind aber verschieden: Während es Conzelmann darum ging, das irdische Wirken Jesu als eigene Epoche in der „Mitte der Zeit“ (und zugleich als vorläufigen, inzwischen vergangenen Höhepunkt der Geschichte) zu etablieren und die Kirchengeschichte als dritte Epoche davon abzuheben, bekommt bei Gräßer (ebd.) die so genannte „Parusieverzögerung“ die Deutungshoheit: „Sie war für die gesamte Entwicklung der Kirche von eminenter Bedeutung. Denn im Besitz des Geistes nahm sie das Ende vorweg, so daß sie in der Tat ‚keine reine Zukunft mehr’ hat, ‚denn sie hat ja bereits den Geist’43. Als Kraft der zukünftigen Welt gibt dieser überhaupt erst die Möglichkeit zum Durchhalten in der Welt. Er ist der gegenwärtige Ersatz für die auf unbestimmte Zeit verschobene Aufrichtung des Reiches.“44 (207) „Damit ist die Thematik des Lukas im zweiten Teil seines Geschichtswerkes programmatisch dargelegt: die nahe Parusie fällt aus! An ihre Stelle tritt der Entwurf einer Heilsgeschichte nach Gottes Plan, der durch zwei Faktoren wesentlich bestimmt ist: durch die Zeit des Geistes und die fortschreitende Missionierung der Welt.“45
An dieser Stelle erliegt Gräßer einer Gefahr, in der wir alle bei der Exegese von Apg 1,8 stehen, weil wir auf eine Kirchengeschichte zurückblicken (und dabei die ganz anders formulierten Missionsbefehle Mt 28,18–20 und Mk 16,15f. mehr oder weniger im Ohr haben). Ähnliches zeigt sich auch in der Kommentierung des Verses durch Rudolf Pesch (1986) mit den Worten: „Die Frage, die das Heil auf Israel zu beschränken scheint, ist nur dazu da, die Antwort zu provozieren, die das Heil für die Heiden in den Blick bringt.“46 Von „Heil“ ist in Apg 1,8 ebenso wenig die Rede wie von „Missionierung“. „Zeugen Jesu sein“ hieß zunächst nur: für Jesus eintreten, für seine Rehabilitation nach ungerechter Verurteilung und
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Conzelmann, Hans, Die Mitte der Zeit (s. o. Anm. 12) 87. Hervorhebung von mir. Gräßer, Erich, Das Problem der Parusieverzögerung … (s. o. Anm. 14), 206. So Hans von Campenhausen, Tradition und Geist im Urchristentum, Studium Generale 4 (1951) 353. Vgl. Anm. 5 auf derselben S. 206 (gegen W. Michaelis): „Act 1 6–8 modifiziert nicht, sondern transponiert die Naherwartung aus dem Zentrum an das äußerste Ende. Der Ersatz der Parusie (durch den Geist) kommt einer Eliminierung gleich.“ Gräßer folgt hier fast wörtlich Philipp Vielhauer (s. o. Anm. 13) 13: „Die Zeit zwischen Pfingsten und Parusie ist die Zeit des Geistes und der progressiven Missionierung der Welt, also sich steigernde Heilsgeschichte.“ Vgl. Pesch, Rudolf, Die Apostelgeschichte (Apg 1–12), Zürich etc. und Neukirchen-Vluyn 1986, 68.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
für seine Beglaubigung durch Gott.47 Das Ziel, ganze Völker und Länder und womöglich die ganze Welt zu „christianisieren“, war Lukas fremd. Im Übrigen: die Grenzen der Welt waren für Lukas der Ozean westlich von Spanien, östlich von Indien, nördlich von Britannien und südlich von Afrika (dessen Ausdehnung nach Süden unterschätzt wurde). Unter den Verkehrsbedingungen der Antike konnte eine dynamische Bewegung wie das Urchristentum den Namen Christi in weniger als einem Jahrhundert bis an diese Grenzen tragen. Apg 1,8 liefert darum keine Relativierung des Zeitgefühls, in der Endzeit zu leben. Paulus hatte nach Röm 15,20.24 offenbar das Ziel, die Kenntnis (und Anerkennung: vgl. Röm 1,5) dieses Namens bis an die westliche Grenze der Erde auszubreiten. Die anderen Grenzen der Erde musste er anderen „Zeugen“ überlassen, über die wir leider fast nichts wissen. Alles in allem stimme ich dem Urteil von Udo Schnelle zu, wenn er zu Apg 1,6–8 schreibt: „Nicht die Parusiererwartung als solche, sondern allein die Terminierung/Berechenbarkeit der Parusie lehnt Lukas ab! Das Endgeschehen wird nach Apg 1,6–8 nicht einsetzen, bevor nicht die Missionare die Enden der Erde erreicht haben. Wann dies sein wird und dann in diesem Kontext die Parusie beginnt, lässt sich nicht chronologisch fixieren. Positiv bedeutet dies aber, dass Gott einen Zeit-/raum schafft, in dem die Evangeliumsverkündigung vonstatten gehen kann und auch die Völker Anteil bekommen ‚am Heil für Israel’ (Lk 2,30; Apg 28,28)“ … „Das Werden der Kirche ist somit für Lukas weder direkt noch indirekt ein Ersatz für die Parusieerwartung.“48
Als ein Eingehen auf das Problem der noch länger ausbleibenden Aufrichtung des Reiches Gottes bzw. des Kommens des Menschensohnes wird manchmal auch das Gleichnis von der hartnäckigen bittenden Witwe in Lk 18,1–8 interpretiert.49 Dem Verhalten der Witwe im Gleichnis entspricht die Rede vom ausdauernden Beten der „Auserwählten“ im Deutewort V.7 und in der redaktionellen Einleitung in V.1 („allezeit beten und nicht nachlassen“). Dabei stellt die Vokabel [makrothymeín] mit Gott als Subjekt in V.7 vor ein Rätsel: Die positive Normalbedeutung „Lang-mut beweisen“, „geduldig sein“, ergibt hier keinen Sinn. Die Lösung fand man in Sir 35,19 (32,22) LXX, wo die Vokabel anscheinend pejorativ im Sinne von „zaudern“, „zögern“ verwendet ist.50 Darum heißt es in der Einheitsübersetzung: „Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern?“ (Ähnlich die Lutherbibel. NRSV: „Will he delay long in helping them?“ - ESV: “Will he delay long over them?”) 47
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Im Hintergrund des „Ihr werdet meine Zeugen sein“ steht Jes 43,10 („Ihr seid meine Zeugen“), wo ein (eschatologischer?) Rechtsstreit Gottes mit der Völkerwelt an die Wand gemalt wird. Vgl. Schnelle, Udo, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 485f. Vgl. u. a. Schneider, Gerhard, Parusiegleichnisse im Lukas-Evangelium, Stuttgart 1975, 71–78; Vgl. Riesenfeld, Harald, Zu [makrothymeín] (Lk 18,7), in: Neutestamentliche Aufsätze. Festschrift für Josef Schmid zum 70. Geburtstag, Regensburg 1963, 214–217; Ljungvik, Herman, Zur Erklärung einer Lukas-Stelle (Luk. XVIII.7), in: NTS 10 (1963/64) 289–294.
Probleme in Lk 18,1–8
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Gegen diese annähernde communis opinio hat Max Rogland mit ernstzunehmenden Argumenten Widerspruch eingelegt.51 Er greift die Selbstverständlichkeit an, mit der für Sir 35,19 (32,22) ein synthetischer Parallelismus angenommen wird.52 Für seine gegenteilige Meinung beruft er sich auf den an dieser Stelle zugrunde liegenden hebräischen Text, in dem als vermutliche Vorlage für das [makrothymeín] der Septuaginta die hebräische Vokabel [afáq] im Hitpa‘el gebraucht ist, wofür die Bedeutung „to restrain oneself“ oder „to control oneself“ bezeugt ist.53 Die sonstige Verwendung dieser Verbform im Alten Testament steht für eine vorläufige Beherrschung und Geheimhaltung der Gefühle eines Menschen (vgl. Gen 43,31; 45,1; Est 5,10) oder Gottes (Jes 42,14; 63,15; 64,11). Die von Rogland leider noch nicht gezogene Konsequenz daraus ist, dass Lk 18,7 – wenn vom Sinn der Sirachstelle her zu erklären – nicht von einer Geduldsprobe für die Beter im langen Warten auf die Hilfe Gottes handelt, sondern von der Anfechtung durch die Erfahrung des Deus absconditus.54 Das ständige Bittgebet „bei Tag und Nacht“ ist, wie Apg 26,6 zeigt, unabhängig von der Annahme lebendiger oder enttäuschter Naherwartung, sondern illustriert die Intensität des Anliegens und das unbeirrte Festhalten am Vertrauen auf Gott gegen den Augenschein.55 Die feierliche Versicherung Jesu von V.8a, dass Gott seinen Auserwählten in Kürze Recht verschaffen werde, steht also nicht in Spannung zu einer Tendenz der „Parusieverschiebung“ im vorangehenden Text, sondern ist das Diktum, auf das die Perikope hinführt und hinausläuft. Gottes Handeln entspricht eben nicht dem des ungerechten Richters im Gleichnis, - auch wenn die Lutherbibel dieses Missverständnis durch ein hinzugedichtetes „auch“ nahelegt. Ein programmatischer Abschied von der urchristlichen Naherwartung wird manchmal auch aus der bloßen Tatsache der Abfassung der Apostelgeschichte abgeleitet, so z. B. durch Philipp Vielhauer56: „Wie uneschatologisch Lukas denkt, geht nicht nur aus dem Inhalt, sondern vor allem aus dem Faktum der AG hervor. Die ersten Christengemeinden, die das nahe Weltende erwar-
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Vgl. Rogland, Max, “[makrothymeín] in Ben Sira 35:19 and Luke 18:7. A Lexicographical Note,” in: NT 51 (2009) 296–301. Die Septuaginta Deutsch übersetzt (S. 1138): „Und der Herr wird gewiss nicht zögern, und gewiss wird er keine Geduld mit ihnen haben.“ Vgl. op. cit. 298f. Vgl. meine Studie Lukas 18,7 als Anspielung auf den Deus absconditus in: NT 53,3 (2011) 267– 272. Am Ende von V.7 entscheide ich mich textkritisch gegen den Standardtext und übersetze mit „auch wenn er sich ihnen gegenüber bedeckt hält“. Vgl. Lk 17,22. Vgl. Vielhauer (s. o. Anm. 13) 13 unter Berufung auf Martin Dibelius, Geschichte der urchristlichen Literatur II Apostolisches und Nachapostolisches, Berlin / Leipzig 1926, S. 9. Im Hintergrund steht hier Friedrich Overbecks Theorie von den Anfängen und der Entwicklung des Urchristentums; vgl. Erlemann, Kurt, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, Tübingen / Basel 1995, 3f.
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk teten, hatten kein Interesse daran, der Nachwelt Berichte über ihre Entstehung und Entwicklung zu hinterlassen. Nur ein Mann, der mit dem Fortbestand der Welt rechnete, konnte das unternehmen.“
Das ist eine kurzschlüssige, vielleicht an Thukydides (I 22 Ende) angelehnte Konsequenz der Einstufung der Apostelgeschichte als „Geschichtsschreibung“ für kommende Generationen. Lukas schreibt Zeitgeschichte für Zeitgenossen, - für Mitchristen und wahrscheinlich auch für ein breiteres interessiertes Publikum, personifiziert in dem (realen oder fiktiven) Adressaten der Widmung Theophilus.57 Eine Positionierung im Spektrum variabler Endzeitstimmungen ergibt sich daraus nicht. Auch eine apokalyptische Bewegung mit gespannter Naherwartung kann ein Interesse an einer Selbstdarstellung in schriftlicher Form haben, sei es aus missionarischen oder aus apologetischen Gründen. Eine „Weltfremdheit“, die das ausschließt, ist ein auf das Urchristentum projiziertes Hirngespinst.58 Die Frage sei erlaubt, warum die Behauptung einer (mehr oder weniger radikalen) Ent-Eschatologisierung (zugunsten von Pneumatologie und Ekklesiologie) bei deutschen protestantischen Autoren nicht mit mehr Sympathie für Lukas einherging: Schließlich gehört die Erwartung der Parusie Christi oder eines Reiches Gottes, das die Welt wunderhaft verwandelt, zu den Inhalten neutestamentlicher Theologie, die weithin als mythologisch eingestuft und damit abgewertet wurden.59 Ich vermute, dass der Streit um die lukanische Eschatologie allzu eng mit den Kontroversen um die Begriffe „Heilsgeschichte“ und „Frühkatholizismus“ zusammenhing, die, wenn ich recht sehe, inzwischen ihren Charakter als theologische Reizwörter verloren haben und als allzu unscharf lieber vermieden werden. Beachtung verdient allerdings, dass Stephen G. Wilson eine Spannung zwischen „two strands in Luke’s eschatology“ beobachtet, „one which quite definitely allows for a delay of the Parousia and one which, with equal firmness, asserts that the End will come soon.”60 Er kommt zu dem Ergebnis (S. 85): “To summarise, both strands in Luke’s eschatology are well attested and neither can legitimately be ignored; more especially, neither should be overrated at the expense of the other. Both strands are motivated essentially by practical, pastoral problems which faced Luke in the Church of his day … It was both necessary and possible for Luke on the one 57
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Auch Josephus schrieb sein Bellum Judaicum nicht für die Nachwelt, sondern für seine Zeitgenossen (um seiner Meinung nach falsche Darstellungen zu korrigieren, was auch zum Stichwort [aspháleia] in Lk 1,4 passen würde); vgl. Jos Bell 1,1–4. Erlemann (s. o. Anm. 56) 413 kritisiert mit Recht die Übertreibung der urchristlichen Naherwartung zu einer „Soforterwartung“. Vgl. Bultmann, Rudolf, Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, Hamburg 1948, 15–53, hier 18f.: „Die mythische Eschatologie ist im Grunde durch die einfache Tatsache erledigt, daß Christi Parusie nicht, wie das Neue Testament erwartet, alsbald stattgefunden hat, sondern daß die Weltgeschichte weiterlief und – wie jeder Zurechnungsfähige überzeugt ist – weiterlaufen wird …“ Vgl. Wilson, Stephen G., The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, (SNTS.MS 23) Cambridge 1973, 67.
Zwei Trends in der Eschatologie des Lukas?
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hand to allow for a delayed Parousia and on the other to insist that the Lord would come soon … He did not expect the Church to continue existing for some 2,000 years. For him the End was a sure hope, which he expected to be fulfilled in the near future. To define it any further would be to go beyond what the facts warrant.”
Allerdings registriert er (S. 78) eine Akzentverschiebung in der Apostelgeschichte: “One of the most striking characteristics of Acts is the complete absence of imminent expectation … The kingdom of God is mentioned in Acts but it is never said that it is imminent.”61
Als Erklärung vertritt Wilson die Annahme einer Entwicklung im Denken des Verfassers weg von der angespannten Naherwartung des Endes: „The correct explanation seems to be that in Acts we have a further development of one of the strands we found in Luke’s Gospel to the exclusion of the other. Luke has moved away from belief in an imminent end.”62
Das würde einen längeren Zeitabstand zwischen der Abfassung der beiden Bücher des lukanischen Werkes und den Verzicht auf eine Endredaktion des Gesamtwerkes voraussetzen, was natürlich denkbar ist. Angemessener finde ich eine Reflexion über die Unterschiede zwischen dem Evangelium und der Apostelgeschichte in literarischer Hinsicht. Zwar haben beide Teile des Doppelwerkes ein narratives „Rückgrat“, an das als „Fleisch und Blut“ eine Fülle von wörtlichen Reden angelagert ist. Aber während der Anfang der Apostelgeschichte auf die im Evangelium überlieferten Taten und Lehren Jesu zurückverweist, verspricht der Prolog zum Gesamtwerk dem angesprochenen Leser einen Bericht über vom Autor oder seinen Gewährsleuten miterlebte [prágmata]. Könnte es sein, dass das Evangelium mehr auf die binnenkirchliche Vergewisserung über das lehrhafte Erbe Jesu zielt, während die Apostelgeschichte den interessierten Sympathisanten oder gar Kritikern eine Visitenkarte der nachösterlichen Jesusbewegung präsentiert?63 In diese Richtung weist die Tatsache, dass die von Christen gehaltenen Reden der Apostelgeschichte meistens an Außenstehende adressiert sind, 61
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Zu der vereinzelt geäußerten Vermutung, dass die Apostelgeschichte vor dem Evangelium verfasst sein könnte, würde es passen, den Prolog Lk 1,1–4 literarkritisch als ursprünglichen Anfang der Apostelgeschichte einzustufen. Vgl. H. G. Russell, Which Was Written First, Luke or Acts? In: HThR 48 (1955) 167–174; Wehnert, Jürgen, Das MarkusEvangelium als Quelle der Apostelgeschichte, in: Historische Wahrheit und theologische Wissenschaft. Gerd Lüdemann zum 50. Geburtstag, hrsg. v. A. Özen, Berlin etc 1996, 21–40. Vgl. a. a. O. S. 80. Vgl. Lang, Manfred, Die Kunst des christlichen Lebens: rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, Leipzig 2008, 24: „Der angesprochene Zug der Apologetik (ist) einer, der die Apostelgeschichte durchzieht, aber eben nur einer, neben anderen.“; Marguerat, Daniel, Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, Zürich 2011, 62: „Die These einer politischen Apologie abzulehnen, bedeutet nicht, die apologetische Tendenz, welche die gesamte Apostelgeschichte unbestreitbar durchzieht, auszublenden.“ Zur Unterscheidung verschiedener Adressen lukanischer Apologetik vgl. Alexander, Loveday C. A., The Acts of the Apostles as an Apologetic Text, in: Jewish and
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Der Geist und das Reich im lukanischen Werk
die als implizite Leser zu verstehen sind.64 Viele Ausleger der Apostelgeschichte betrachten die Reden als das bevorzugte Mittel des Lukas, seine eigenen Anschauungen zum Ausdruck zu bringen. Die großen Unterschiede zwischen diesen Reden verbieten jedoch deren Erklärung als Ausdruck einer konsistenten „lukanischen Theologie“. Näher liegt es, sie als Botschaften an unterschiedliche Leserkreise zu verstehen. Bezeichnender Weise nehmen dabei die apologetischen Reden des Paulus in den hinteren Kapitel breiten Raum ein. Zum Wesen öffentlicher Literatur im Unterschied zu Briefen und binnenkirchlichen Gebrauchstexten gehört es, dass ihre Inhalte nicht für alle Lesenden gleichmäßig relevant sein können. Von daher könnte Lukas in der Darstellung der Urkirche mit futurisch-eschatologischen Aussagen apokalyptischer Natur und vor allem mit Äußerungen der Naherwartung bewusst vorsichtiger umgegangen sein als im Bericht vom Wirken und Schicksal Jesu. Immerhin registriert er in Apg 17,7 den in Thessaloniki gezielt gestreuten Verdacht, dass es in der Mission des Paulus um die Proklamation eines Königtums gehe, das mit dem des Kaisers konkurriert.65 Zwar wird Jesus nach Lukas von keinem nachösterlichen Prediger als König bezeichnet66, aber die Königsherrschaft Gottes wird nicht weniger als achtmal als Inhalt der Lehre Jesu und urchristlicher Predigt erwähnt, also abgesehen von den Synoptikern häufiger als in jeder anderen neutestamentlichen Schrift! Dass der Inhalt der christlichen Verkündigung dreimal in zwei Schwerpunkten namens „Reich Gottes“ und „Jesus“ zusammengefasst wird (vgl. Apg 8,12; 28,23.31), aber auch zu „Reich Gottes“ verkürzt werden kann (Apg 19,8; 20,25), setzt einen theozentrisch-eschatologischen Akzent. Es ist schwer vorstellbar, dass die Grundbedeutung der Metapher „Königtum Gottes“ oder „Königsherrschaft Gottes“ dabei ausgeblendet wäre, d. h. der Gedanke an eine künftige Machtergreifung Gottes in globalen Dimensionen.67 Musste eine solche Parole nicht in den Augen des
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Christian Apologetic in the Graeco-Roman World, hrsg. V. M. J. Edwards et al., Oxford 1999, 15–44. Die Ausnahmen sind Apg 1,16–22; 15,7–11 und 14–21; 20,18–35; 21,20–25. Zu diesem Konflikt vgl. Tellbe, Mikael, Paul between Synagogue and State. Christians, Jews, and Civic Authorities in 1 Thessalonians, Romans, and Philippians, Stockholm 2001, 118–123; Hardin, Justin R., Decrees and Drachmas at Thessalonica: An Illegal Assembly in Jason’s House (Acts 17.1–10a), NTS 52 (2006) 29–49; Metzner, Rainer, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, Göttingen 2008, 426–430. Man beachte aber die Verweise auf die davidische Dynastie und auf sie bezogenen Prophetien in Lk 1,32; Apg 13,22f. Ihre Erwähnung konnte eine politische Deutung der Jesusbewegung nahelegen; vgl. Lk 19,38f. mit 23,2. Eine Reduktion dieser Zukunftsvision auf innergeschichtliche Entwicklungen (nämlich die Ausbreitung des Christentums) steht hinter einem frommen Sprachgebrauch, für den geistliche Lieder pauschal „Reichslieder“ genannt wurden und Mission als „Ausbreitung“ oder „Bau“ des Reiches Gottes gedeutet wurde. Eine ähnliche Umdeutung des Reiches Gottes vertritt Bruce W. Longenecker unter sozialethischen Vorzeichen, die er dem pro-
Akzentverschiebung innerhalb des lukanischen Werks
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römischen Reiches bedrohlich klingen, wenn man bedenkt, dass die Kaiser sich verbal als Herren der Oikumene stilisierten (vgl. Lk 2,1)? Josephus zeigt ein Gespür für die politische Brisanz apokalyptischer Aussagen, wenn er bei der Nacherzählung des Buches Daniel, wo aus Kapitel 2 der Traum von den vier Weltreichen zu referieren war, eine genauere Wiedergabe vermeidet und interessierte Leser auf die Lektüre der heiligen Schrift selbst verweist (vgl. Jos. Ant. 10,210). Damit unterschlägt er wohlweislich die Prophetie von Dan 2,44: „Zur Zeit dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber es selbst wird ewig bleiben.“
Im Evangelium hat Lukas es dagegen gewagt, dem Teufel die Behauptung in den Mund zu legen, dass er befugt sei, die Weltherrschaft zu verleihen (vgl. Lk 4,6). Die Durchsetzung der Gottesherrschaft würde diesem Zustand der Welt gewiss ein Ende machen. Aber man kann von Lukas nicht erwarten, dass er einem breiteren Publikum diese Wende für die nahe Zukunft ankündigt.68 Damit könnte es zusammenhängen, dass Lukas eschatologische Erwartungen globaler Dimension anspricht, ohne sie auszumalen. Für die Leserschaft der Apostelgeschichte stellt er die spirituellen Segnungen in den Vordergrund, die durch das Evangelium in den Gemeinden und im Leben Einzelner vermittelt werden und die als Vorgeschmack der Welterlösung verstanden wurden. Überlegungen dieser Art sprechen m. E. dafür, Akzentverschiebungen innerhalb des lukanischen Werkes nicht auf ein grundsätzliches Umdenken zurückzuführen, sondern stärker mit variablen Kommunikationszielen gegenüber dem anvisierten gemischten Publikum zu rechnen.69 Dass Lukas eschatologische Erwartungen apokalyptischer Prägung nicht aufgegeben hat und dabei auch an der Naherwartung festhält, geht für „Insider“ aus Apg 14,22 hervor, wo Paulus den noch jungen Gemeinden in Kleinasien zum Abschied verkündet: „Durch viele Bedrängnisse müssen wir in das Reich Gottes eingehen.“
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grammatischen Text Lk 4,16–30 entnimmt; vgl. seine Studie Rome’s Victory and God’s Honour: The Jerusalem Temple and the Spirit of God in Lukan Theology, in: The Holy Spirit and Christian Origins : Essays in Honor of James D. G. Dunn, ed. by Graham N. Stanton et al, Grand Rapids 2004, 90–102, hier 101: „For Luke, the Spirit of God is instrumental and essential in bringing all varieties of needy people into the empire of God – embodied most clearly in Christian communities of goodness, generosity, and service … The empire of God progresses steadily and surely … as ever-new permutations of Christian community become established throughout the world.” Auch Paulus sagt in Röm 13,1–7 sicher nicht alles, was er über das Römische Reich denkt. Als eine Folge reflektierten Umgangs mit jüdisch-christlicher Sondersprache habe ich in NT 30 (1988) 9–38, die „Verwendung und Vermeidung des Apostelbegriffs im lukanischen Werk“ erklärt.
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Die Wir-Form dieser Aussage ist wie in 1 Thess 4,15 ein Ausdruck der Naherwartung70, so dass von einer „complete absence of imminent expectation“ in der Apostelgeschichte (Wilson) eben doch nicht geredet werden kann! 1 Thess 3,3f. belegt, dass Paulus tatsächlich die von ihm gegründeten Gemeinden auf unvermeidliche Bedrängnisse vorbereitet hat, wie Lukas in Apg 14,22 erzählt.71 2 Thess 1,4f. stellt wie Apg 14,22 einen Zusammenhang zwischen den Bedrängnissen und der Teilhabe am Reich Gottes her. (Es folgt dort eine Ausmalung der Parusie und ihrer Folgen.) Auch Offb 1,9 nennt die Teilhabe an der [thlípsis] und am Reich Gottes in einem Atemzug. Umdeutungen von Apg 14,22 auf das Eingehen ins ewige Leben (oder ins Paradies wie in Lk 23,43) unmittelbar nach dem Sterben überzeugen daher nicht. Fazit: Die präsentische (oder perfektische) Eschatologie mancher lukanischer Aussagen über den Heiligen Geist verdrängt die futurische Eschatologie nicht und schließt auch eine Naherwartung nicht aus. Damit entfällt der Gedanke an eine Leserschaft in ferner Zukunft, an ewigen Nachruhm des Autors oder seiner Helden, und das könnte einer der Gründe dafür sein, dass die Apostelgeschichte in literarischer Hinsicht als ein Unikum bezeichnet werden kann.72
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Anders Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998, 382: „Die [thlípseis] haben immer noch die apokalyptische Bedeutung, sind Endzeitdrangsale, Mk 4,17; 13,19; 1 Thess 3,3, es ist aber nicht gesagt, wie nahe das Reich ist.“ Dass Lukas in Apg 14,22 von der indirekten Rede zur wörtlichen Rede übergeht, könnte als Signal für eine ipsissima vox gemeint sein (vgl. Apg 1,4). So Marguerat, Daniel, (s. o. Anm. 63) 65 unter Verweis auf Marshall, I. Howard, Acts and the Former Treatise, in: The Book of Acts in Its First Century Setting I., hrsg. Von B. W. Winter u. A. C. Clarke, Grand Rapids / Carlisle 1993, 163–182, hier 179: “a new type of work, of which it is the only example”.
Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)1 Das folgende Referat ist nicht als Vorwegnahme einer in Kürze auch schriftlich verfügbaren Veröffentlichung gemeint, sondern als Einstieg in die Diskussion bestimmter Problemen im Rahmen dieser neu gebildeten Arbeitsgruppe über die Apostelgeschichte. Insbesondere hoffe ich damit einen Anstoß zu geben zu einer längerfristigen Beschäftigung mit den Reden der Apostelgeschichte in diesem Kreise. Die Bedeutung, die C. H. Dodd einst diesen Reden für das Ganze der neutestamentlichen Theologie beigemessen hatte2, ist zwar durch Ulrich Wilckens bestritten worden.3 Ich glaube jedoch, dass wir in der Revision der Wilckens’schen Auffassung noch wesentlich weiter gehen müssen, als Wilckens selbst in der dritten Auflage seines Buches gegangen ist. Als Gegenpol zu C. H. Dodd ist Wilckens in dieser Frage allerdings nur der Vollender der Arbeit von Martin Dibelius.4 Wenn Wilckens die Missionsreden der Apostelgeschichte als lukanische Schöpfungen erklärt, so dehnt er nur das Urteil von Dibelius über die sonstigen Reden auf die Missionsreden aus.5 Der eigentliche Wendepunkt in der Beurteilung der Acta-Reden in unserem Jahrhundert scheint mir bei Dibelius zu liegen. Eine positivere Bewertung dieser Reden in historischer Hinsicht muss sich darum primär mit den Gründen auseinandersetzen, die Dibelius zu seinem skeptischen Gesamturteil veranlasst hatten. An Ansätzen dazu fehlt es nicht, z. B. in Form von Rückfragen an die Interpretation
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Referat in einer von Jacob Jervell geleiteten seminar group beim Jahrestreffen der Society for New Testament Studies in Leuven 1982. Eine ausführliche Untersuchung über die Stephanus-Tradition habe ich unter der Überschrift Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums vorgelegt in Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), hrsg. von Haase, Wolfgang und Temporini, Hildegard Teil II: Principat Bd. 26,2, Berlin / New York 1995, 1515–1553. Unter Einschluss der Wirkungsgeschichte behandle ich diesen Stoff in: Stephanus. Verleumdet, verehrt, verkannt (Biblische Gestalten 28) Leipzig 2014. Vgl. Dodd, Charles H. The Apostolic Preaching and its Developments, London 1936, besonders Kap. 1 (S. 7–35): “The Primitive Preaching”. Vgl. Wilckens, Ulrich, Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen, Neukirchen-Vluyn 1961, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 1974 (danach im Folgenden zitiert). Vgl. Dibelius, Martin, Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrsg. von Heinrich Greeven, Göttingen 1951 u. ö.; dort besonders Nr.9 (S. 120–162): Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung (ein im Februar 1944 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehaltener Vortrag). Vgl. Wilckens, a. a. O. S.12ff. und 72ff. sowie 100. Lediglich das in Apg 14 und 17 erkennbare Schema der Predigt vor Heiden war Lukas aus seinem kirchlichen Milieu vorgegeben.
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)
und Verwendung von Thukydides I,22 bei Dibelius6, vor allem aber im Aufweis alter und unterschiedlicher jüdischer Traditionen als Grundlage verschiedener Reden.7 Wilckens selber hat im Blick auf die Stephanusrede die traditionsgeschichtlichen Untersuchungen von Odil Hannes Steck über „Israel und das gewaltsame Geschickt der Propheten“ (1967)8 zum Anlass erheblicher Korrekturen an seinem Buch genommen (vgl. die 3. Auflage 1974).9 Auch meine Beobachtungen zur Stephanusrede laufen darauf hinaus, in dieser Rede weitere jüdische Traditionen zu erkennen, die nicht ohne Weiteres als lukanische Konzeptionen erklärbar sind. Gleichzeitig geht es mir dabei um die Frage nach den Beziehungen zwischen der Stephanusrede und der Stephanuserzählung. Dibelius hatte seine Vergleiche zwischen den Acta-Reden und ihrem Kontext dahingehend zusammengefasst, dass von einer „relativen Situationsfremdheit dieser Reden“ gesprochen werden müsse (Aufsätze S. 151). Speziell zur Stephanusrede schrieb er (mit Recht, wie ein Blick in die erste Auflage des Meyer‘schen Acta-Kommentars von 1835, S. 143 zeigt!): „Hier ist die Beziehungslosigkeit des allergrößten Teils der Rede von jeher das eigentliche Problem gewesen.“ Diesem Problem ist es zuzuschreiben, dass die Forschungen zum Stephanuskreis bzw. den Jerusalemer Hellenisten vielfach die Rede ausklammern,10 während bei der Erforschung der Rede umgekehrt der Kontext im lukanischen Bericht beiseitegelassen wird,11 zum Beispiel im Zuge einer samaritanischen Herleitung12. In den letzten Jahren sind jedoch 6
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Vgl. Dibelius, Aufsätze S. 122f.; kritisch dazu Crehan, J. H., The Purpose of Luke in Acts, in: Studia Evangelica II, ed. Cross, Frank L., Berlin 1964, 354–368, hier 367f.; Bruce, Frederic F., The Speeches in Acts – Thirty Years after, in: Reconciliation and Hope. N. T. Essays on Atonement and Eschatology presented to Leon Morris, hrsg. von Banks, Robert, Grand Rapids MI 1974, 53–68. Vgl. z. B. Bowker, Speeches in Acts: A Study in Proem and Yelammedenu Form, in: NTS 14 (1967/68) 96–111; Ellis, E. Earle, Midraschartige Züge in den Reden der Apostelgeschichte, in: ZNW 62 (1971) 94–104. Steck, Odil Hannes, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, Neukirchen-Vluyn 1967. Die neuen Akzente sind v. a. ab S. 200 festzustellen; sie relativieren auch manche Aussagen, die in den vorderen Partien des Buches unverändert stehen geblieben sind. Vgl. z. B. Hengel, Martin, Zwischen Jesus und Paulus. Die ‚Hellenisten‘, die ‚Sieben‘ und Stephanus (Apg 6,1–15; 7,54–8,3), in: ZThK 72 (1975) 151–206, und die noch ungedruckte Tübinger Dissertation von Werner Neudorfer, Der Stephanuskreis in der Forschungsgeschichte seit F. C. Baur (→ Gießen 1983). Vgl. Simon, Marcel, St. Stephen and the Hellenists in the Primitive Church, London 1958, 3f. Vgl. Spiro, Abraham, Stephen’s Samaritan Background, in: Munck, Johannes, The Acts of the Apostles, New York 1967, 285–300; Scobie, Charles H. H., The Origin and Development of Samaritan Christianity, in: NTS 19 (1972/73) 390–414. Ich habe zu dieser Herleitung kritisch Stellung genommen im Art. Samaritan, Samaria, in: The New International Dictionary of New Testament Theology III (1978) 449–467, hier 464–466.
Stephanusrede und Stephanuserzählung
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etliche Beiträge vorgelegt worden, in denen an der Überbrückung dieser Kluft zwischen Rede und Kontext in Apg 6–8 gearbeitet wird. Ich denke hier an das Referat von H. J. Combrink vom SNTS-Kongress 1977 in Tübingen („The Structure of Acts 6:8 – 8:3“)13, an das Referat von Graham Stanton vom Kongress in Oxford im April 1978 („Stephen in Lucan Perspective“)14 und an den Beitrag von Marie-Émile Boismard in „La parole de grȃce“ (RSR 69, 1981, 181–194): „Le martyre d’Étienne. Actes 6,8 – 8,2“15. Meine Beobachtungen decken sich teilweise mit Hinweisen dieser Kollegen. Auch der Aufsatz von Franz Mußner, „Wohnung Gottes und Menschensohn nach der Stephanusperikope (Apg 6,8 – 8,2)“ in der Festschrift für Anton Vögtle von 1975 trägt Wertvolles zu diesen Bemühungen bei, die lukanische Stephanuserzählung einschließlich der Rede als Ganzheit zu verstehen.16 Allerdings ist die narrative Vorbereitung der Rede in sich keineswegs ohne Probleme. Der Versuch, die Rede als Erwiderung auf die Anklagen gegen Stephanus zu verstehen, stößt auf die Schwierigkeit, dass diese Anklagen in Apg 6,11.13 und 14 variiert werden. Nach V.11 soll Stephanus Lästerungen gegen Mose und Gott ausgesprochen haben (womit natürlich nicht die Intentionen des Stephanus beschrieben werden, sondern ein Urteil über den „objektiven“ Gehalt seiner Verkündigung gefällt wird). In V. 13 dagegen lautet die förmliche Anklage: „Dieser Mensch redet unaufhörlich (Worte) gegen diesen heiligen Ort und das Gesetz.“ Das wird in V.14 durch ein angebliches Zitat belegt, wonach Stephanus gesagt haben soll: „Jesus der Nazoräer, der wird diesen Ort zerstören und die Sitten ändern, die uns Mose gegeben hat.“17 In der eigentlichen Verhandlung 13
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Vgl. Combrink, H. J. Bernard, Structural Analysis of Acts 6:8 – 8:3, Stellenbosch Theol. Studies 4, August 1979. Stanton, Graham, Stephen in Lucan Perspective, in: Studia Biblica 1978 III. Papers on Paul and Other N. T. Authors. Sixth International Congress on Biblical Studies, Oxford 3. – 7. April 1978, ed. E. A. Livingstone, Sheffield 1980, 345–360. Boismard, Marie-Émile, Le Martyre d‘Étienne. Actes 6,8 – 8,2, in: La parole de grȃce. Études lucaniennes à la mémoire d’ Augustin George (RSR 69), Paris 1981, 181–194. Mußner, Franz, Wohnung Gottes und Menschensohn nach der Stephanusperikope (Apg 6,8 – 8,2), in: Jesus und der Menschensohn. Für Anton Vögtle hrsg. von R. Pesch und R. Schnackenburg in Zusammenarbeit mit O. Kaiser, Freiburg etc. 1975, 283–299. Das Wahrheitsmoment in dieser Unterstellung ist, was den Tempel betrifft, in dem Jesuswort Mk 13,2 Parr. zu sehen. Beachtenswert ist, dass die johanneische Fassung dieses Logions (Joh 2,19) auch eine Aussage in der Ichform enthält; sie bezieht sich aber auf den Wiederaufbau und nicht auf die Zerstörung des Tempels. Immerhin zeigt Joh 2,19, dass die Überlieferung dieses Logions fließend war. – Die Erwartung von Änderungen an der Torah durch Jesus entspricht einer bestimmten rabbinischen Auffassung von der messianischen Zeit; vgl. Schäfer, Peter, Die Torah der messianischen Zeit, in: ZNW 65 (1974) 27–42, hier 38–42; auch in: ders., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 198–213, hier 209–213. Eine entsprechende Erwartung kommt m. W. im Neuen Testament nirgends als christliche Überzeugung zum Ausdruck; man könnte nur bestimmte Worte und Verhaltensweisen Jesu als Erfüllung dieser Erwartung ansehen (die nur in bestimmten Kreisen gehegt wurde).
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)
tritt also das Heiligtum an die Stelle des Themas „Gott“ von V. 11. Das wirft die Frage auf, mit welcher Fassung der Anklage die Rede verglichen werden soll und wie die Variation der Anklagepunkte zu erklären ist. Boismard entscheidet sich für eine literarkritische Lösung und weist jeder der beiden Fassungen der Anklage einen Strang der Rede zu. Zur ersten Fassung der Anklage („Lästerungen gegen Mose und Gott“) gehören dann im Rahmen des ursprünglichen Martyriumsberichtes die Redeteile V. 35–41 und 51f., die vom Widerstand Israels gegen Mose und gegen den Heiligen Geist handeln (wobei der Heilige Geist innerhalb der Rede für Gott innerhalb der Anklage steht). Ein Hauptargument Boismards für diese Lösung ist der abrupte Einsatz der Anklagen in V. 51 nach den ruhigen Darlegungen über das Zeltheiligtum und den Tempelbau in V. 44–50. (Vgl. Boismard S. 186) Dass Stephanus gerade hier und in dieser Form zur Anklage gegen seine Richter übergeht, bedarf wirklich einer Erklärung.18 Es gibt jedoch verschiedene Möglichkeiten, die Doppelfassung der Anklagen gegen Stephanus zu erklären und dann die ganze Rede mit der ganzen Einleitung zu vergleichen. Zum einen ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Lukas die Gegner des Stephanus vor dem Hohen Rat bewusst andere Register ziehen lässt als in der vorangegangenen Agitation.19 Nichts lag dafür näher als der Versuch, anstelle irgendwelcher Streitfragen auf theologischer Ebene den Tempel zum Streitpunkt zu erklären und so das Synhedrium besonders wirkungsvoll zum Eingreifen zu motivieren. Ein etwaiger Angriff auf den Tempel musste in erster Linie die Priesteraristokratie in ihren ureigensten Lebensinteressen treffen, gleichzeitig aber aus theologischen Gründen auch die Pharisäer alarmieren. So ist es kein Zufall, dass auch die Anklagen gegen Paulus in Apg 21,21 später auf den Vorwurf eines Sakrilegs im Tempel zugespitzt werden (21,28). Daneben aber konnten Aussagen über die düstere Zukunft des Tempels, wie sie dem Stephanus in V.14 fälschlich in den Mund gelegt werden, durchaus als Angriff auf die Heiligkeit Gottes selbst ausgelegt werden. Gustav Stählin erinnert in seinem keineswegs veralteten Kommentar daran, dass sogar die Vokabel für „Ort“ (maqôm) zu den Chiffren gehörte, mit denen das frühe Judentum verhüllend von Gott sprach.20 Aussagen über „den Ort“ konnten also missverständlich sein oder missdeutet werden, indem man wahlweise Gott oder das Heiligtum als Bedeutung einsetzte. Aber auch abgesehen von dieser Möglichkeit muss der Tatbestand einer Gotteslästerung nicht in einer als Lästerung Gottes formulierten Aussage gesehen werden, wie nicht zuletzt der Prozess Jesu zeigt. Die Ar-
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Mehr dazu siehe unten S. 195f. Der ursprüngliche Ort des Konflikts mit Stephanus ist nach Kap. 6,9f. die hellenistische Synagoge! Vgl. Stählin, Gustav, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt, Göttingen 1962 (7. Aufl. 1980) 103. Zu diesem Sprachgebrauch vgl. Köster, Helmut, Art. [tópos], in: ThWNT VIII (1969) 187–208, hier 201 unter Berufung auf W. Landau (1988) und A. Marmorstein (1927).
Stichwörter als Leitmotive
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beitshypothese, die für unsere Auslegung Priorität haben sollte, ist die, dass Lukas die zweite Fassung der Anklage als Präzisierung der ersten verstanden hat. Die Ankündigung der Tempelzerstörung wäre dann nach Lukas von den Anklägern als Gotteslästerung gewertet worden.21 Diese Hypothese erweist sich m. E. als brauchbarer Schlüssel zu den Teilen der Rede, die sich nicht auf das Verhältnis zu Mose und zum Gesetz beziehen. (Bei Letzteren ist der Bezug zu den Anklagen gegen Stephanus unschwer zu erkennen.) Das Thema „Gott und der Tempel“ wird nämlich nicht nur explizit in V. 44–50 angesprochen; es wird auch durch andere Textteile beleuchtet, deren Relevanz für die Frage des Heiligtums für eine traditionsgeschichtliche Exegese durchsichtig wird. Zugleich bewährt sich m. E. in diesem Zusammenhang das Achten auf Stichworte und Pointen, das Franz Rosenzweig in seinem Aufsatz „Das Formgeheimnis biblischer Erzählungen“ (1928) empfohlen hat.22 Als ein solches Stichwort ist die Vokabel tópos anzusehen, die zur zweiten Fassung der Anklage gegen Stephanus gehört (V.13.14) und in Kap.7 dreimal wiederkehrt: V.7 im Abrahamteil, V. 33 im Moseteil und V. 49 im Tempelteil.23 In V.7 weicht die Rede mit dieser Vokabel vom zitierten biblischen Text (Gen 15,14) ab, der von „diesem Berge“ und nicht von „diesem Ort“ spricht, was auf bewusste Wahl dieser Vokabel hindeutet. Wahrscheinlich ist hier in V.7 die Stätte des Jerusalemer Tempels gemeint, wie in Kap. 6,13f. – In V. 33 aber (einem genauen Zitat aus Ex 3,5) ist der Schauplatz der Dornbuschvision gemeint – ein Ort völlig außerhalb des verheißenen Landes – und trotzdem wird die kultische Qualität dieses Ortes bekräftigt: es ist „heiliger Boden“! – In V. 49 schließlich wird die Frage des Ortes Gottes zu einer offenen Frage: „Was ist denn der Ort meiner Niederlassung?“ Auch dies ist ein Schriftzitat wie V. 33, diesmal aus Jes 66,1. Aber beide Schriftworte setzen ein Fragezeichen hinter die selbstverständliche Lokalisierung Gottes in Jerusalem. Ein zweites Stichwort im Sinne von Rosenzweig deutet in dieselbe Richtung: dóxa in V.2: „Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham, als er noch in Mesopotamien war …“ Dieses Stichwort kehrt erst unmittelbar nach der Rede des Stephanus im Munde des Erzählers wieder (V.55): Stephanus sieht in seiner Vision die Herrlichkeit (dóxa) Gottes und den Menschensohn. Trotzdem trägt auch diese Vokabel zu einer Inclusio innerhalb der Stephanusrede bei: Die dóxa (hebr. kabôd) in Mesopotamien! Was das bedeutet, lässt sich ermessen, wenn man sich bestimmte Partien des Buches Ezechiel vergegenwärtigt: dessen eigenen Visionen im Exil (Ez 1) und seine Vision vom Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Heiligtum (Ez 10,18–22).24 Das Erscheinen der Herrlichkeit Gottes 21 22
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Vgl. Mt 26,65 par. Mk 14,64. Vgl. Rosenzweig, Franz, Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe, hrsg. von Karl Thieme, Frankfurt o. J., 13–27. Vgl. Combrink S. 10; Kilgallen, John,The Stephen Speech. A Literary and Redactionary Study of Acts 7,2–53, Rom 1976, 38f. Mußner (s. o. Anm. 15) 288f. verweist zu V. 55 auf diese Ezechiel-Tradition.
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)
im Heiligtum ist das mysterium tremendum et fascinosum des Tempelkults. Die Ablösung dieser Manifestation Gottes vom Tempel hat bei Ezechiel das klare Ziel, aufzuzeigen, dass die Majestät Gottes unter der Zerstörung des Tempels nicht Schaden leidet.25 Die Stephanusrede geht einen Schritt weiter, indem sie das Erscheinen der Doxa in Mesopotamien schon an den Beginn der Heilsgeschichte stellt. Die Funktion des Motivs für die Frage der Tempelzerstörung ist angesichts der Anklage in Apg 6,14 vermutlich dieselbe wie bei Ezechiel. Im frühen Judentum wurde der Begriff kabôd / dóxa mehr oder weniger ersetzt durch den Begriff Schekhinȃ - „das Wohnen“.26 Dieses spiegelt sich in einem weiteren Leitwort der Stephanusrede: katoikeín (ergänzt durch weitere Ableitungen von oik-.). Graham Stanton hat mit Recht geltend gemacht, dass die Pointe im Tempelteil der Rede nicht an der Vokabel cheiropoiētós („handgemacht“) hängt (schließlich war ja auch das Zeltheiligtum der Frühzeit mit Händen gemacht!), sondern an dem katoikeín von V. 48.27 Dieses wird durch die Vokabeln oikos und oikodomeín in V. 47 vorbereitet und durch dieselben Vokabeln in V. 49 wieder aufgenommen. Innerhalb des Zitats ist besonders der Ausdruck „Ort meiner Niederlassung“ als Synonym zu oikos auszuwerten. Vor allem aber – und das schafft erneut eine Inclusio – ist auf die Vokabeln vom Stamme oik- im einleitenden Abrahamteil der Rede zu achten: katoikeín in V.2 und zweimal in V. 4, metoikízein in V. 4 und pároikos in V. 6. Besonders die Unterscheidung von der pároikosExistenz (hierzu vgl. auch V. 29!) zeigt, dass katoikeín die feste Ortsansässigkeit bezeichnet. Eben diese wird in V. 48 im Blick auf Gott und den Tempel bestritten! Die genannten Beobachtungen unter den Stichworten tópos, dóxa und katoikeín haben die gemeinsame Tendenz, eine allzu enge Verbindung zwischen Gott und dem Tempel von Jerusalem abzuwehren. Dass damit auf die Anklagen gegen Stephanus (in der doppelten Fassung von 6,11 und 6,13f.) Bezug genommen wird, liegt auf der Hand. Die Art der Bezugnahme bedarf jedoch noch der Präzisierung. Wird der Bau eines Hauses durch Salomo anstelle des Zeltes der Frühzeit als der Sündenfall der Geschichte Israels kritisiert? Gegen diese verbreitete Annahme spricht, dass der Übergang von skēnê in V.44 zu oikos in V.47 durch skênōma in V.46 vorbereitet wird (das wohl für das hebräische mischkȃn steht), sowie die Tatsache, dass schon das Tempelweihgebet Salomos in 1 Kön 8,27 ähnliche Worte enthält wie die von Stephanus aus Jes 66,1f. zitierten Sätze. Die Inclusio, die durch V.7 einerseits und V. 44ff. anderseits gebildet wird, spricht eher dafür, dass auch für die Stephanusrede der Tempelbau als solcher der Höhepunkt der Geschichte Israels ist. Trotzdem bestand Anlass zu einschränkenden und abgrenzenden Klarstellungen über das Verhältnis Gottes zum Tempel. Der aktuelle Anlass ist wohl der, dass Stephanus die 25
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Vgl. Westermann, Claus, Art. kbd schwer sein, in: THAT I (1971) 794–812, hier 811 im Anschluss an Walther Zimmerli BK XIII, 234 zu Ez 11,23. Vgl. Goldberg, Arnold M., Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekinah in der frühen rabbinischen Literatur, Berlin 1969. Vgl. Stanton (s. o. Anm. 13) 352.
Tempelfrage und heiliger Geist
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Erwartung einer Tempelzerstörung nicht gut bestreiten kann, auch wenn die Aussage der Zeugen in Apg 6,14 das dahingehende Jesuswort entstellt wiedergibt.28 Wie erklärt sich dann aber der Übergang zu den heftigen Anklagen in V. 51– 53? Was verbindet die Tempelfrage mit den Vorwürfen des Widerstandes gegen den heiligen Geist und der Prophetenverfolgung?29 Man kann diese beiden Vorwürfe in eins setzen, weil der heilige Geist im frühen Judentum zunehmend als Geist der Prophetie verstanden wurde.30 Man kann dann vor allem an die Tempelrede des Jeremia (Jer 7 und 26) erinnern: Auch dort wird der Prophet wegen einer Weissagung der Tempelverwüstung angeklagt. In diesem Zusammenhang wird auch ein Prophet erwähnt, der wegen ähnlicher Weissagungen – im Gegensatz zu Jeremia – tatsächlich getötet wurde (vgl. Jer. 26,20–23). Es ist jedoch möglich, eine andere Verbindung zwischen der Erwähnung des heiligen Geistes und der Tempelthematik zu sehen: Wie Arnold Goldberg und Peter Schäfer in ihren Monographien über die Schekhinȃ und über den heiligen Geist in der rabbinischen Literatur gezeigt haben31, waren diese beiden Begriffe teilweise austauschbar. Auch Josephus gebraucht in seiner Wiedergabe des Tempelweihgebets von 1 Kön 8 (Ant 8,114) den Begriff „Geist Gottes“ für die Präsenz Gottes im Tempel, und Paulus setzt in 1 Kor 6,19 Ähnliches voraus. Die Verknüpfung der beiden Größen begegnet unter anderem in der Tradition vom Ausbleiben dieser beiden Manifestationen Gottes im zweiten Tempel, also dem Tempel der nachexilischen und neutestamentlichen Zeit. Dieses Bewusstsein der Abwesenheit Gottes im zweiten Tempel (gemessen an früheren Manifestationen im ersten Tempel) ist ein Grundgefühl der nachexilischen Existenz Israels, das sich in eschatologischen Erwartungen der Wiederkehr der Schekhinȃ und des heiligen Geistes widerspiegelt. Es war untrennbar verknüpft mit der Erkenntnis, dass Israel diesen Rückzug Gottes aus der gottesdienstlichen Erfahrung selbst verschuldet habe, insbesondere durch die Missachtung des prophetischen Wortes. Damit zeigt sich ein innerer Zusammenhang zwischen der Betonung der Distanz zwischen Gott und dem Tempel in V, 48–50 und den Anklagen in V. 51–53. 28
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Der Bezug auf diesen aktuellen Anlass schließt nicht aus, dass hinter der Relativierung der Ortsverbundenheit Gottes auch prinzipielle Erwägungen philosophischer Herkunft stehen könnten. Reflexionen über das Verhältnis zwischen Gott und der Kategorie „Raum“ finden sich vor allem bei Philon von Alexandrien und dem Samaritaner Marqah. Vgl. Memar Marqah. The Teaching of Marqah, edited and translated by John Macdonald, Berlin 1963 (2 Bände) passim. Vgl. Boismard (s. o. Anm. 14) 186. Vgl. Schäfer, Peter, Die Vorstellung vom heiligen Geist in der rabbinischen Literatur, München 1972, 21–26. Vgl. Goldberg (s. o. Anm. 25) 465–468 und Schäfer (s. o. Anm. 29) 140–142. Beide Autoren stimmen darin überein, dass aus dem Wechsel der Terminologie keine Gleichsetzung der Begriffe abgeleitet werden darf. Die Manifestation des heiligen Geistes scheint die Folge oder Wirkung der Gegenwart der Schekhina zu sein.
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)
Von daher lässt sich der rhetorische Charakter dieser Rede im Verhältnis zu den Anklagen gegen Stephanus näher bestimmen. Er ist einerseits defensiv, indem klargestellt wird, dass eine etwaige Zerstörung des Tempels kein theologisch undenkbarer Gedanke ist und eine entsprechende Weissagung keine Missachtung der Majestät Gottes darstellt. Anderseits aber spricht die Rede gerade auch in ihrem Schluss die Hörer auf Einsichten an, die ihnen keineswegs fern lagen – die sie nur hier und jetzt und aus diesem Munde nicht gesagt bekommen wollten. Die Rede ist somit auch eine Illustration zu Apg 6,10, wo es heißt: „Sie waren nicht imstande, der Weisheit und dem Geist, mit dem er redete, etwas entgegenzusetzen.“ So hart die Vorwürfe in V. 51–53 sind: Es sind, wie Odil Hannes Steck in einem Punkt schon gezeigt hat, traditionelle Aussagen aus innerjüdischer Sündenerkenntnis und Selbstkritik.32 Da die Stephanusrede von Ernst Haenchen und anderen als grundsätzliche, schroffe Absage an die Juden interpretiert worden ist33, möchte ich mich abschließend dem Widerspruch von Franz Mußner gegen diese Auffassung anschließen34 und dies mit einem Hinweis zur Vision des Stephanus untermauern. Mußner schreibt beiläufig in einer Anmerkung: „Man könnte sogar die Hypothese aufstellen: Der Menschensohn ‚steht‘ zur Rechten Gottes im Himmel, um Fürbitte für sein Volk einzulegen, wie es gleichzeitig sein getreuer ‚Zeuge‘ (vgl. Apg 22,20) Stephanus auf Erden tut.“ Man hat das Stehen des Menschensohns mit Recht vom Sitzen zur Rechten unterschieden. Aber welchen Sinn hat es? Ohne die bisherigen Erklärungsversuche hier zu referieren, möchte ich nur daran erinnern, dass „stehen und dienen“ eine geprägte Wendung für den Dienst im Heiligtum ist (vgl. Dtn 10,8; 17,12; 18,5; 1 Kön 8,11 u. ö.) und dass diese Wendung auch für den himmlischen Dienst entrückter Gottesmänner gebraucht wird; vgl. in einem Midrasch vom Tod des Mose: „Manche sagen: Mose starb nicht, sondern er steht und dient oben.“35 Die Menschensohn-Auffassung der StephanusVision ist also mit der des Hebräerbriefes verwandt (vgl. Hebr 7,25). Die kultische Thematik der Stephanusrede setzt sich demnach bis in die Vision fort, und wenn die letzten Worte des Märtyrers (V.60) eine Fürbitte für seine Mörder sind, so wird man den Bußruf der Rede nicht als „Absage an die Juden“ verstehen dürfen. Für die historische Beurteilung der Reden ergibt sich m. E., dass die Stephanusrede ihrem narrativen Kontext eng verbunden ist. Das könnte für lukanische 32 33
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Vgl. Steck (s. o. Anm. 8). E. Haenchen, Ernst, Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte, in: ZNW 54 (1963) 155–187 sowie in: ders., Die Bibel und wir. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Tübingen 1968, 338–374, hier 348–350. Vgl. Mußner (s. o. Anm. 16) 289ff. Vgl. SiphDt § 357 S. 427f.; MidrTann S. 224; bSot 13b nach Peter Schäfer in: Haacker, Klaus und Schäfer, Peter, Nachbiblische Traditionen vom Tod des Mose, in: Josephus-Studien. Untersuchungen zu Josephus, dem antiken Judentum und dem Neuen Testament, Otto Michel zum 70. Geburtstag gewidmet, hrsg. v. O. Betz, K. Haacker und M. Hengel, Göttingen 1974, 147–174, hier 171; so auch AssMos 10,2?
Fazit zur Rede in ihrem narrativen Kontext
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Abfassung der ganzen Stephanustradition sprechen. Auf der anderen Seite zeigt sich ein im Vergleich zu anderen Reden sehr eigentümliches Reden, das sich mit lukanischen Anliegen berührt, aber nicht als Ausdruck lukanischer Theologie begriffen werden kann. Ich bin überzeugt, dass in der heutigen Situation der Forschung ein ähnliches Ergebnis zu weiteren Reden der Apostelgeschichte zu erwarten ist. Die Herausarbeitung gemeinsamer Strukturen in diesen Reden war richtig und notwendig. Sie zahlt sich für die Exegese der einzelnen Reden jedoch erst aus, wenn man ebenso intensiv die Gegenprobe macht. Dann zeigt sich, dass Lukas zwischen den verschiedenen Rednern der Urkirche, von denen er Beispiele bietet, sorgfältig unterscheidet und jedem sein eigenes Profil gibt oder belässt.36 Da die Vielfalt geschichtlichen Lebens nicht gut bestritten werden kann, bin ich eher geneigt, diesen Befund auf Überlieferungen und historische Kenntnisse zurückzuführen als ihn der Erzählkunst des Verfassers zuzuschreiben.
Summary The purpose of this contribution is to initiate a discussion of the problem of the speeches in the course of the work of this new seminar on the Acts of the Apostles. It takes the question of the relationship between the speeches and their context or situation as the starting point. In the chosen case this means to study the connections between the speech of Stephen and the accusations brought forward against him. The first problem to be dealt with is the alteration of the content of these accusations from Acts 6:11 to 6:13–14. The working hypothesis of this paper is that blasphemy against God (v. 11) and against the temple (vv. 13–14) virtually means one and the same charge in that the destruction of the temple would affect the majesty of God himself, and to predict such a destruction means to deny the faithfulness of God to this chosen “place”. The relevance of the speech in view of this charge comes to the fore when we pay attention to certain key words (a method once recommended by Franz Rosenzweig) which the author seems to have carefully chosen so that the recital of Israel’s history should speak in favour of Stephen’s position: tópos in 7:7, 33 and 49 (especially in v. 7 with its deviation from the O. T. basis of quotation). dóxa in 7:2 (although it recurs only in v. 55) katoikeín in 7:2.4 (twice) and 49 (together with other words of the root oiksurrounding these instancies of katoikeín. 36
Vgl. Menoud, Philippe, Le salut par la foi selon le livre des Actes, in: ders. Jésus-Christ et la Foi. Recherches néotestamentaires, Neuchȃtel / Paris 1975, 139 (zu Apg 13,38f.): “On voit qu’il est exagéré de dire que Luc ignore toute différence de théologie et de terminologie quand il rédige les differents discours missionnaires.”
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Gott und der Tempel in der Rede des Stephanus (Apg 7,2–53)
The statements using these key words are of a similar tendency and form an inclusio from the beginning and the end of the speech. They show that the manifestations of God have not always been limited to the chosen place at Jerusalem within the chosen land and that the presence of God in this place must not be understood as a once-for-all settlement. This is why the expectation of a destruction of the temple (which Stephen does not deny) does not betray a lack of piety or false teaching about God. The abrupt transition from the teaching about the temple in vv. 47–50 to the charge of resistance against the Holy Spirit in vv.51.53 can be explained as a continuation of the cultic theme because in early Jewish thought the Holy Spirit is closely connected with the notion of the Shekinah (as A. Goldberg and P. Schäfer have shown).
Umstrittene Reden Thukydides als Vorbild des Lukas? Wer für ein deutschsprachiges Publikum einen Kommentar zur Apostelgeschichte schreibt, riskiert wenig Widerspruch, wenn er die Reden, die etwa ein Drittel des Buches ausmachen, als Ausdruck der Theologie des Lukas interpretiert. Theologisch ungeschulte Leser und Leserinnen meinen zwar, darin ein Echo der Stimmen von Petrus, Stephanus oder Paulus zu hören. Die Exegeten deutscher Sprache sind sich jedoch seit Jahrzehnten weitgehend einig, dass diese Reden von Lukas (oder dem unbekannten Verfasser der Apostelgeschichte) frei erfunden sind. Im englischen Sprachraum hält sich dagegen hartnäckig eine Tradition, diesen Reden einen historischen Quellenwert zuzuschreiben. Das Wissen um diese Kluft hat mich seit meinen ersten Semestern1 begleitet, und während der Abfassung meines Kommentars2 bin ich den Gründen dieser Meinungsspaltung nachgegangen. Das hat meine Zweifel an der exegetical correctness der deutschsprachigen Tradition bestärkt. Im Vorwort zu meinem Kommentar kann ich das nur relativ knapp begründen. Im Folgenden soll das breiter geschehen und mit Zitaten aus der Forschungsgeschichte belegt werden.3 Das Irritierende an diesem Meinungsstreit ist, dass beide Traditionen sich auf Thukydides, den Chronisten des dreißigjährigen Krieges zwischen Athen und Sparta, und dessen Wiedergabe von Reden berufen. Auf beiden Seiten verweist man zu Thukydides auf einschlägige Forschungen durch z. T. auf hoch angesehene Vertreter ihres Fachs. Beide Seiten behaupten, dass Lukas sich in dieser Frage am Vorbild des Thukydides orientiert habe. Kann Lukas das Werk des Thukydides gekannt haben, womöglich gar von ihm beeinflusst sein? Tatsache ist, dass Thukydides zur Zeit des Neuen Testaments bei gebildeten Römern hoch im Kurs war.4 Papyrusfunde aus der östlichen Mittelmeerwelt belegen, dass sein Werk über den Peloponnesischen Krieg im Bildungswesen benutzt wurde.5 Nach Otto Luschnat finden sich bei Philon von
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Unter andere nach einem Seminar bei Gustav Stählin über „Probleme der Theologie des Lukas“ im Sommersemester 1962. in der Reihe Theologischer Kommentar zum Neuen Testament im Verlag Kohlhammer (Stuttgart). Ich habe darüber beim Rhein-Main-Exegesetreffen in Frankfurt am 8. 11.2014 und in Sozietäten mit Doktoranden in Berlin und Wuppertal referiert. Vgl. Luschnat, Otto, Thukydides der Historiker, Stuttgart 1971, SPRE Supplement XII (1970), 1085–1354 Teil III. Die Nachwirkungen des Th., 1266ff. Vgl. Padilla, Osvaldo, The Speeches of Outsiders in Acts. Poetics, Theology and Historiography, Cambridge 2008, 238 Anm. 7: “From the papyri discovered in the eastern part of
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Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
Alexandrien Spuren eigener Thukydides-Lektüre.6 Für die Thukydides-Mimesis des Josephus hat Eckhardt Plümacher in seinem Buch Lukas als hellenistischer Schriftsteller (1972) Beispiele vorgelegt.7 An einer Stelle der Apostelgeschichte findet er auch ein Indiz für Thukydides-Kenntnisse des Lukas: In seiner Abschiedsrede von Milet beteuert Paulus (Apg 20,33–35), er habe von niemandem Gold, Silber oder Kleidung bekommen wollen, weil Jesus gesagt habe: „Geben ist seliger als Nehmen.“ Die ungewöhnliche Aufzählung dieser drei Objekte in Verbindung mit der Gegenüberstellung von Geben und Nehmen findet sich auch bei Thukydides (II, 97,3f).8 Zu verständlichen Bedenken schreibt Plümacher (S.130): „Wem die Vorstellung, der Acta-Verfasser habe sich hier … auch mit den Federn des Altmeisters der griechischen Historiographie schmücken wollen, dennoch befremdlich erscheint, der möge sich vergegenwärtigen, zu welchem Einfluß Thukydides im Literaturbetrieb der römischen Kaiserzeit gelangt war. Bereits im ersten vorchristlichen Jahrhundert galt der athenische Historiker wieder als Klassiker; laudatus ab omnibus bemerkt Cicero einmal.“ (Orator 31; vgl. De orat. II 56.).
1.
Thukydidesforschung und Lukasforschung im deutschen Sprachraum
Im deutschen Sprachraum ist Martin Dibelius (1883–1947) in diesem Zusammenhang der einflussreichste Neutestamentler gewesen. Seine Hauptwerke betrafen zwar nicht die Apostelgeschichte, aber elf verstreute „Aufsätze zur Apostelgeschichte“ aus seiner Feder, die meisten aus dem letzten Jahrzehnt seines Lebens, wurden 1951von Heinrich Greeven herausgegeben und fanden in mehreren Auflagen weite Verbreitung und inhaltlich große Beachtung. Am ausführlichsten ist dazu sein Vortrag über „Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung“, gehalten am 19. Februar 1944 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, aber erst 1949 in deren Sitzungsberichten abgedruckt.9 Er schreibt dort (S. 122) über Thukydides:
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the Mediterranean, Thucydides’ history has yielded the most fragments from among the historians.” Vgl. Luschnat (s. o. Anm. 4) Sp. 1296f. Vgl. Plümacher, Eckhard, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte, Göttingen 1972, 62. Vgl. ders., Eine Thukydidesreminiszenz in der Apostelgeschichte (Apg 20,33–35 – Thuk. II 97,3f.), in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, Tübingen 2004, 127–133. Weit verbreitet in: Dibelius, Martin, Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrg. v. Heinrich Greeven, Aufsätze zur Apostelgeschichte, Göttingen 1951, 120–162. Im Folgenden danach zitiert (hier S. 122).
Martin Dibelius als Trendsetter
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„Er hat sich in dem berühmten und viel behandelten ‚Methodensatz‘ seines Werkes I 22 über die Grundsätze ausgesprochen, nach denen er die Reden gestaltet hat: die [akríbeia] festzuhalten sei freilich schwierig gewesen; so habe er die Redner sprechen lassen, wie ihm schien, daß die einzelnen über das jedesmal Vorliegende das Notwendige gesagt haben würden. Wenn nach diesen Worten die Reden frei erfunden zu sein scheinen, so wird doch durch folgende Bemerkung offenbar eine gewisse objektive Basis für sie in Anspruch genommen; Thukydides fügt die Worte hinzu: ‚wobei ich mich möglichst nah an die [xýmpasa gnômē] des wirklich Gesagten hielt‘ (I 22,1). Die Mehrdeutigkeit dieser Bemerkung bildet das eigentliche Problem. Infolgedessen ist über das Verhältnis von subjektivem Ermessen und objektiver Wiedergabe bei den Reden unter den Interpreten des Thukydides bisher noch keine Einigkeit erzielt.“
Während Forscher wie Max Pohlenz10 und Wolfgang Schadewaldt11 aus den Worten des Thukydides einen Kompromiss zwischen historischer Treue und schriftstellerischer Freiheit heraushörten, entscheidet sich Dibelius für eine weitgehende Fiktionalität der lukanischen Reden. So sein Fazit auf S. 157: „Alle Reden aber – gleichviel ob sie ‚historischen‘ oder Predigtzwecken dienen – haben Lukas zum Verfasser. Auch diejenigen Reden des Paulus, die Lukas selbst gehört hat, sind von ihm nicht nach Möglichkeit erinnerungstreu wiedergegeben worden; das zu tun, lag, wie wir gesehen haben, gar nicht im Beruf des Historikers.“
Diese These hat die deutschsprachige Acta-Forschung nachhaltig beeinflusst. Schon sechs Jahre nach dem Erscheinen der Aufsätze zur Apostelgeschichte schrieb Eduard Schweizer12: „Seit M. Dibelius‘ Aufsatz zu diesem Thema hat sich die Erkenntnis immer mehr durchgesetzt, dass die Reden im wesentlichen Kompositionen des Verfassers der Apostelgeschichte sind …“13
Eine ebenfalls weithin anerkannte Zuspitzung erhielt diese These durch die Monographie von Ulrich Wilckens über Die Missionsreden der Apostelgeschichte von
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Pohlenz, Max, Thukydidesstudien, in: GGN (recte GGA??) 1919, 95ff. sowie ders., Die Thukydideische Frage im Lichte der neueren Forschung In: Göttingische gelehrte Anzeigen 118 (1936), nachgedruckt in: ders., Kleine Schriften II, Hildesheim 1965, 294–313 sowie in Herter, Hans, (Hrsg.), Thukydides, Darmstadt 1968, 59–81. Vgl. Schadewaldt, Wolfgang, Die Geschichtsschreibung des Thukydides, Berlin 1929. Vgl. u. a. Schweizer, Eduard, Zu den Reden der Apostelgeschichte, in: ThZ 13 (1957) 1–11, sowie in: ders., Neotestamentica. Deutsche und englische Aufsätze 1951–1963. German and English Essays 1951–1963, Zürich/Stuttgart1963, 418–428, 418. Vgl. ferner Conzelmann, Hans, Die Apostelgeschichte erklärt (HNT 7) Tübingen 2. Aufl. 1972, 9; Vielhauer, Philipp, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin / New York 1975, 393– 399 mit 7 Anmerkungen, die auf Dibelius verweisen. – Plümacher, Eckhard, Apostelgeschichte, in: TRE III (1978) 483–528, hier 502; Horn, Friedrich Wilhelm, § 6 Die Apostelgeschichte, in: Niebuhr, Karl-Wilhelm (Hrsg.), Grundinformation Neues Testament, Göttingen 2000, 173–195, 190; E. Gräßer, Ernst, Forschungen zur Apostelgeschichte, Tübingen 2001, 255.
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Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
1961. Während Dibelius bei diesen Predigten immerhin noch mit älterem „Traditionsgut“ gerechnet hatte, erklärte Wilckens auch sie als freie Kompositionen des Lukas zum Ausdruck seiner Theologie.14 Zu diesem großen Einfluss der Studien von Martin Dibelius hat zweifellos beigetragen, dass er sich in der Druckfassung seines Akademievortrags auf „reiche Belehrung“ durch den angesehenen Heidelberger Altphilologen Otto Regenbogen beruft.15 Das konnte den Eindruck erwecken, dass Dibelius von einem anerkannten Ergebnis der Thukydides-Forschung ausgegangen sei. Otto Regenbogen selbst hatte in einem Aufsatz von 1933 über die Reden geschrieben:16 „Sie sind nicht etwa authentische Dokumente historischer Wirklichkeit und haben das zu keiner Zeit der für uns erfaßbaren Entwicklung des Thukydides sein sollen. Das zeigt die Interpretation der berühmten Kapitel 21 und 22 des ersten Buches, die freilich, wie mir scheint, noch nicht völlig bis zu dem Punkt vorgedrungen ist, wo das von Thukydides eigentlich Gemeinte deutlich sichtbar wird. Das kann hier nicht geschehen, wird aber hoffentlich bald in einer vor dem Abschluss stehenden Heidelberger Dissertation geleistet werden. Für uns genügt die Feststellung, daß es sich keineswegs um wirklich gehaltene Reden handelt. Sie alle sprechen … die Sprache des Redners Thukydides.“ (Kursiv von KH)
Bei dieser damals noch nicht abgeschlossenen Arbeit handelt es sich um die aus einer Examensarbeit von 1930 erwachsene, im Frühjahr 1934 eingereichte Dissertation von August Großkinsky, Das Programm des Thukydides, im Druck erschienen 1936.17 Der größte Teil dieser Arbeit betrifft die Interpretation der Kapitel I 20–22 (S. 13–82). Auf S.16 schreibt er: „Zunächst legt Th. die Methoden dar, die er bei der Komposition der großen Reden … angewandt hat. Es war praktisch unmöglich, die [akríbeia autê], des Gesagten im Gedächtnis zu behalten … Diese [akríbeia autê] gibt er also nicht. Wie aber die Redner über die jeweils vorliegenden Dinge bei Zugrundlegung der Gesamttendenz des wirklich Gesprochenen nach seiner Ansicht am ehesten das Erforderliche gesagt haben könnten, so ist es formuliert.“
Diese Paraphrase des Methodensatzes unterschlägt leider eine wichtige Wendung am Ende der Beteuerung des Thukydides, die in der Übersetzung von Otto Regenbogen18 so lautet: „indem ich mich dabei so nahe als möglich an Sinn und Absicht im ganzen (sic) des wirklich Gesagten hielt“. 14
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Vgl. Wilckens, Ulrich, Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen, Neukirchen-Vluyn 1961, 3. Aufl.1974. So schon in Anm. 2: „Ich verdanke Otto Regenbogen reiche Belehrung bei der Vorbereitung dieser Arbeit.“ Vgl. Regenbogen, Otto, Thukydides als politischer Denker, in: Humanistisches Gymnasium XLIV (1933) 2–25 (≈ Kl. Schr. 206–216 und bei H. Herter (Hrsg.), Thukydides (s. o. Anm. 10),10–22. in der Reihe: Neue deutsche Forschungen. Abteilung Klassische Philologie, Bd. 3, Berlin 1936. In: Thukydides. Politische Reden, hrsg. Von Otto Regenbogen, (abgefasst im Sommer 1944, Vorwort im August 1946) Leipzig 1949, im Anhang S. 258f.
August Großkinsky als Kronzeuge
185
Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur, namentlich mit Max Pohlenz19 und Wolfgang Schadewaldt.20 In seiner eigenen Kommentierung des „Redensatzes“ spricht Großkinsky anschließend (S. 30f.) von „zwei Verfahren nebeneinander …, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Denn wer die Leute so reden läßt, wie sie nach seiner Ansicht reden mußten …, kann sie nicht gut gleichzeitig in / möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des wirklich Gesprochenen reden lassen …“
Großkinsky ignoriert hier den Unterschied zwischen dem Wie des Redens und dem Was des Gesagten. Auf dieser Linie kritisiert er anschließend (S. 32) die Deutung von [tēn akríbeian autên tōn lechthéntōn] im Sinne von „der genaue Wortlaut“. als „eine der entscheidenden Fehlerquellen bisheriger Interpretationen.“ Seine Gegenthese lautet: „Verzicht auf Genauigkeit nicht nur im Formalen, sondern auch im gedanklichen Gehalt – scheinen mir die Worte bei Th. zu bedeuten.“
Dieses „scheinen mir“ verdient Beachtung. Auf S.33 macht er sogar noch einen Rückzieher und begnügt sich mit der Feststellung, „daß unsere Deutung der [akríbeia autê] sehr wohl möglich ist“. Auf diesem unsicheren Fundament baut Großkinsky jedoch weiter (34): „Th. und seine Gewährsmänner konnten (neben dem genauen Wortlaut) die Entwicklung und Abfolge der jeweils vorgetragenen Gedanken nicht genau im Gedächtnis behalten. Dagegen kannte Th. die Gesamttendenz des wirklich Gesagten … Th. ging nun bei der Komposition der Reden so vor, daß er zunächst die Gesamttendenz der betreffenden wirklich gehaltenen Rede zugrunde legte, dann aber … die Gedanken so entwickelte, disponierte und formulierte, wie nach seiner Ansicht eine wirksame Vertretung dieser Tendenz in der betreffenden Situation es erforderte.“
Anschließend (S. 36–42) reflektiert Großkinsky darüber, dass Thukydides natürlich nach seinem Ermessen nur eine Auswahl aus den gehaltenen Reden bietet und womöglich die einzelnen Reden nicht klar auseinanderhalten konnte oder verschiedene Reden zusammenfasste. Aus solchen höchst subjektiven Überlegungen ergibt sich ganz unabhängig vom Wortlaut der Selbstaussage des Historikers die angeblich „natürliche Schlussfolgerung“ (S. 42f.): „Th. hat diese Wirklichkeitstreue gar nicht erst angestrebt, jedenfalls nicht für die praktische Durchführung. D. h. keine der thukydideischen Reden ist eine möglichst exakte Wiedergabe der wirklich gehaltenen Rede, keine will und soll es sein.“21
Eine erneute Zusammenfassung auf S. 52 lautet: 19 20
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Vgl. Pohlenz, Max, Thukydidesstudien, (s. o. Anm. 10). Schadewaldt (s. o. Anm. 11) hatte geschrieben (S. 24): „Der Satz behauptet …, die Reden seien historisch nach Anlaß und Situation; ferner für ihre Gesamttendenz wird annähernde Authentizität in Anspruch genommen.“ Das richtet sich gegen Schadewaldt, a. a. O. 25 „Der Historiker (hat) die strengste Wirklichkeitstreue auch soweit möglich bei den Reden erstrebt; dieses Streben spricht vernehmbar aus den Worten, paßt allein zu der Absicht des ganzen Kapitels.“
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Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas? „Bei den [lógoi] waltet das Prinzip der Verbindung von Subjektivität und Objektivität, unter Verzicht auf Wirklichkeitstreue und Exaktheit, bei den [érga] dagegen wird Wirklichkeitstreue und Exaktheit erstrebt und im wesentlichen auch erreicht, unter Ausschluß jeglicher bewußten Subjektivität.“
Großkinsky unterstellt damit dem zweiteiligen Methodensatz über die Reden einerseits und über die Taten anderseits die Struktur eines totalen Kontrastes: hier bloße Vermutung, dort sorgfältige Forschung. Die beiden Sätze haben aber verschiedene Schwerpunkte: Der Faktensatz betrifft die kritische Ermittlung von Tatsachen, der Redensatz dagegen die Probleme der Memorierung und Weitergabe von Erinnerungen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird deutlich, welches Gesamtverständnis des Werkes hinter dieser Einschätzung der Reden steht: Thukydides will politische Einsichten für politische Menschen vermitteln, damit diese das Zeitgeschehen ihrer Gegenwart durchschauen.22 Das liegt auf der Linie seines Doktorvaters Otto Regenbogen in dessen Aufsatz von 1933: „Thukydides schreibt als Politiker für den politischen Menschen … für den politisch handelnden Menschen.“23
Aber dass dazu völlig fiktionale Reden nötig seien, ist nicht überzeugend. Zur historischen Unterfütterung politischer Thesen genügt bei intelligenten Schriftstellern meistens die geschickte Auswahl realer Belege.24 Das implizite Bekenntnis Großkinskys zu politischer Wahrheit auf Kosten historischer Zuverlässigkeit ist schon ein Jahr nach dem Erscheinen seiner Arbeit von einem anderen Altphilologen explizit begrüßt worden. Hans Bogner schreibt in seiner Studie Thukydides und das Wesen der altgriechischen Geschichtsschreibung25 unter Berufung auf Großkinsky und andere Thukydides-Studien aus den letzten Jahren26 (S.16): „Die geschichtliche Wirklichkeit in unserem Sinne ist ihm nur Unterlage für das Finden der politischen Wahrheit … Wenn man das Wort ‚Historiker‘ einfach im modernen Sinne 22
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Vgl. 70f. Vgl. 71: „Worum es dem Th., der I 22 geschrieben hat, geht, ist – auf eine kurze Formel gebracht – die Vermittlung historisch-politischer Erkenntnis.“ und 72 „Daß Th. dabei in erster Linie an solche Leser denkt, die selbst politische Entscheidungen zu treffen haben, ist ohne weiteres anzunehmen.“ Dass Großkinsky beim Schreiben dieser Sätze auch das aktuelle Zeitgeschehen im Kopf hatte, zeigt sich auf der folgenden Seite in Sätzen über „die Bedeutung der Führerpersönlichkeit für das Wohl und Wehe des Staates“ (am Beispiel von Themistokles und Perikles). Vgl. O. Regenbogen (s. o. Anm. 12) S.7. Der Begriff des „politischen Menschen“ hatte (oder bekam) in den 30er Jahren eine ideologische Färbung, so in dem Artikel des Althistorikers Helmut Berve, Antike und nationalsozialistischer Staat, in: Vergangenheit und Gegenwart 24 (1934) 257–272, nachgedruckt in: Nippel, Wilfried, (Hrsg.) Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993, 283–298, hier 293f. Wie das aussehen kann, lehrt das für Propagandazwecke verfasste Buch von Martin Dibelius(!), Britisches Christentum und britisches Weltreich, Berlin 1940. Hamburg 1937 in der Reihe „Schriften des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands“, S. 16. Ebd. S. 14 mit Anm. 14.
Max Pohlenz und Otto Regenboden als Gegenstimmen
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gebraucht, so muß man sagen: Thukydides will kein Historiker sein, sondern mehr und etwas anderes, ein politischer Denker auf historischer Grundlage.“
Und weiter (S.24): „Geschichtliche Wahrheit ist hier auf die Situation, auf das Handeln und den Staat bezogen; sie ist nicht absolut, sondern existentiell.“27
Martin Dibelius beruft sich in seinem Aufsatz (S. 123) auf Großkinskys angeblichen Nachweis, dass Thukydides nicht den Inhalt von Reden getreu wiedergeben wollte, sondern allenfalls deren vermutliche Tendenz. Mit Kritik an Großkinsky reagierte dagegen Max Pohlenz schon im Erscheinungsjahr der Dissertation im Rahmen einer Sammelrezension.28 Mit Recht wirft er Großkinsky vor, dass er sich bei seiner Auslegung des Methodensatzes „unwillkürlich von seiner Gesamtvorstellung über die Thukydideischen Reden beeinflussen läßt“ (66). Dem gegenüber insistiert Pohlenz darauf, dass die wirklich gehaltenen Reden der „Ausgangspunkt“ sind, „wenigstens nach ihrem Gesamtsinn, / ihrer „Gesamttendenz“…, die selbstverständlich jeder verständige Hörer im Gedächtnis behalten konnte“. (65f.) Das Ideal des Thukydides ist historische Exaktheit, eben darum die Einschränkung im Redensatz, der „begründet, warum diese Exaktheit bei den Logoi nicht in Frage kommt“ (67). Großkinskys Doktorvater Otto Regenbogen scheint selbst von der Endfassung dieser Dissertation, auf die er im Jahr 1933 noch erwartungsvoll hingewiesen hatte, teilweise enttäuscht gewesen zu sein. Er gab im Sommer 1944 eine von ihm übersetzte und eingeleitete Auswahl politischer Reden aus dem Werk des Thukydides zum Druck, die erst 1949 erscheinen konnte.29 In seiner Einleitung schreibt er: „Die Reden sind weder authentisch, das heißt sie sind nicht die wirklich gehaltenen, noch völlig frei komponiert. Daß es dem Thukydides auf eine Ermittlung des historisch gesicherten / Sinnes der einzelnen Rede nicht angekommen sei – wie man behauptet hat −, widerspricht seinen klaren Worten …“ (S. 15. Kursiv von K. H.)
Und weiter (S. 19): „Thukydides spricht ausdrücklich davon, daß er bemüht gewesen sei, sich an ‚Sinn und Absicht im ganzen‘ der wirklich gehaltenen Reden zu halten und anzuschließen, das heißt doch an ihren Inbegriff in gesammelter Kürze, sozusagen an die Quintessenz des darin
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Es folgt ein Brückenschlag von Thukydides zu einem Zitat des „Führers der deutschen Geschicke“ aus einer Rede vom Februar 1933 als Beispiel für eine „geschichtliche und zugleich existentielle Wahrheit“. Vgl. Pohlenz, Max, Die Thukydideische Frage im Lichte der neueren Forschung, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 118 (1936), hier zitiert nach dem Abdruck in: H. Herter (Hrsg.), Thukydides (s. o. Anm. 10) 59–81. Dibelius erwähnt diese Besprechung auf S. 122 in Anm. 122 neben anderen „Verhandlungen der letzten Jahrzehnte“, geht aber nicht inhaltlich auf sie ein. S. o. Anm. 18.
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Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas? Beschlossenen, an Inhalt und Tendenz der wirklichen Rede, von denen er also Kenntnis erhalten konnte …“
Das „wie man behauptet hat“ im ersten Zitat passt nicht nur auf Großkinsky, sondern entspricht schon dem Gutachten über dessen Dissertation, das auf Großkinskys These zum „Redensatz“ mit keinem Wort eingeht. Stattdessen bescheinigt Regenbogen dem Autor ein „sehr selbständiges Urteil auch gegenüber der Autorität anerkannter Lehrer und auch gegenüber dem eigenen Lehrer“. Vornehmer kann ein Doktorvater sich nicht von der Hauptthese einer Dissertation distanzieren!30
2.
Thukydidesforschung und Lukasforschung im englischen Sprachraum
Die Aufsätze zur Apostelgeschichte von Martin Dibelius erschienen 1956 in englischer Übersetzung.31 Sie haben im außerdeutschen Sprachraum weniger Zustimmung gefunden als im deutschen.32 Diese Zurückhaltung gegenüber Dibelius hängt nicht zuletzt mit unterschiedlichen Vorgaben aus der Thukydidesforschung zusammen: Noch im Erscheinungsjahr der Dissertation von Großkinsky (November 1936) erschien in Cambridge in The Classical Review eine Rezension von J. Enoch Powell.33 Er wirft dem Autor vor, die unbestreitbaren Spannungen zwischen dem Redensatz und der vermutlichen Arbeitsweise des Thukydides durch eine Uminterpretation des Redensatzes verschleiert zu haben. Ein wichtiges Datum der britischen Thukydidesforschung war die Publikation von Bd. I des Kommentars zu Thukydides von Arnold W. Gomme (1945), der bei seiner Besprechung des Methodensatzes auf Großkinskys Dissertation eingegangen war.34 Er bescheinigt Großkinsky zwar, dass er das Verständnis dieses Kapitels im Ganzen gefördert habe, verweist aber darauf, dass Kap. 22 in Fortführung von Kap. 21 gerade die Sorgfalt des Thukydides im Streben nach historischer Wahrheit betont, wobei der Redensatz nur an die Grenzen des Möglichen 30
31 32
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34
Ich danke Prof. Dr. Jonas Grethlein (Heidelberg) für die Beschaffung einer Kopie dieses Gutachtens. unter dem Titel Studies in the Acts of the Apostles, London 1956. Das lehrt u. a. der Forschungsbericht von Gasque, Ward, A History of the Criticism of the Acts of the Apostles, Tübingen 1975, in Kapitel X “Luke the Historian and Theologian in Recent Research” (S. 251–305). Vgl. Powell, J. Enoch, The Programme of Thucydides. August Grosskinsky: Das Programm des Thukydides. Pp. 198. Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1936. Paper, RM 5, in: The Classical Review 50,5 (November 1936) 174–175. Vgl. Gomme, Arnold Wycombe, A Historical Commentary on Thucydides, Vol. I: Introduction and Commentary on Book I. Oxford/Toronto 1945, 140–148.
A. W. Gomme und F. F. Bruce als Gegengewicht
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erinnert.35 In einer schon 1937 veröffentlichten Studie über die Reden bei Thukydides war Gomme auch der Frage nachgegangen, warum spätere antike Schriftsteller dessen Reden für fiktional gehalten und in rhetorischer Hinsicht kritisiert hatten. Er erklärt das damit, dass sie ihm ihre eigene (unseriöse) Praxis unterstellt haben.36 Auf Gomme berufen sich viele englische Stimmen zu den Reden der Apostelgeschichte. Ein typisches – allerdings polemisch zugespitztes −Votum lautet: „In view of the very careful analysis made by Professor Gomme in his commentary on Thucydides of the intentions of that historian in the matter of reporting speeches, it is no longer possible to argue quite simply that Thucydides made up speeches for his characters and that therefore Luke must have done so. Gomme’s work refuted the views of a number of German classical historians, but the knowledge of this refutation does not seem to have penetrated to the German scripture scholars, who are still invoking the gods of yesterday.”37
Von großer Breitenwirkung war ein Vortrag über die Reden der Apostelgeschichte, den ein schottischer Gräzist 1942 gehalten hatte.38 Es handelt sich um Frederick Fyvie Bruce (1910–1990), damals Dozent für Griechisch an der Universität Leeds, ab 1959 John Rylands Professor für Bibelwissenschaft und Exegese an der Universität Manchester.39 Sein internationales Ansehen kann man daran ablesen, dass er sowohl von der Society for Old Testament Studies (1965) als auch der Society for New Testament Studies (SNTS) (1975) für ein Jahr zum president gewählt wurde. Bruce beginnt sein Referat mit einer Gegenüberstellung der konträren Positionen von F. J. Foakes-Jackson und Martin Dibelius in dieser Frage. Der Erstere hatte in seinem Acta-Kommentar von 1931 geschrieben40:
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Vgl. S. 144: “The contrast between Herodotos and Thucydides is as great in their speeches as in their narrative of events …”; S. 148: Thucydides “is not to blame that later historians used his example to justify their own practice of inserting speeches which were not only in all respects their own composition, but were nothing but occasions for oratorical display.” Gomme hat seine Position später noch einmal bekräftigt: Vgl. Gomme, A. W., Thucydides and Fourth Century Political Thought, in: ders., More Essays in Greek History and Literature, ed. D. A. Campbell, Oxford 1962, 122–138, hier 125. Vgl. seine Essays in Greek History and Literature, Oxford 1937, Kap. IX The Speeches in Thucydides 56–189, 160–161. Vgl. Crehan, Joseph,The Purpose of Luke in Acts, in: Studia Evangelica II, Berlin 1964, Part I The New Testament Scriptures, 354–368, 367. Den Schluss des Zitats könnte man frei übersetzen mit „Die glauben noch an Hitler“! Vgl. Bruce, Frederick Fivey, The Speeches in the Acts of the Apostles. The Tyndale New Testament Lecture 1942, London 1973. Nach http://de.wikipedia.org/wiki/Frederick_Fyvie_Bruce betreute er mehr Dissertationen über biblische Studien als irgendein anderer Professor seiner Generation. Vgl. Foakes-Jackson, Frederick J., The Acts of the Apostles, London 1931, XVI., nach Bruce 1943, S. 5 unter Verweis auf ein ähnliches Urteil bei Ramsay, William M., St. Paul the Traveller and the Roman Citizen (London 1897) S. 27.
190
Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas? „Luke seems to have been able to give us an extraordinarily accurate picture of the undeveloped theology of the earliest Christians, and to enable us to determine the character of the most primitive presentation of the gospel.”
Von Dibelius zitiert Bruce aus der 1936 erschienenen Übersetzung seiner „Geschichte der urchristlichen Literatur“ (1926) ins Englische41: „These speeches, without doubt, are as they stand inventions of the author. For they are too short to have been actually given in this form; they are too similar to one another to have come from different persons; and in their content they occasionally reproduce a later standpoint.”42
Danach skizziert Bruce den Umgang mit Reden in antiker Geschichtsschreibung. Dabei unterscheidet er zwei Richtungen: auf der einen Seite eine von Thukydides ausgehende Tradition, sich an den Gesamtsinn (general sense) des wirklich Gesagten zu halten, die von Dionysios von Halicarnassos43 und Polybios44 geteilt und bekräftigt worden sei, und auf der anderen eine Tradition poetischer Freiheit, im Jahrhundert des Neuen Testaments durch Flavius Josephus vertreten. Nach einer detaillierten Besprechung der Reden der Apostelgeschichte kommt er zu dem Ergebnis45: „We need not suppose that the speeches in Acts are verbatim reports … But I suggest that reason has been shown to conclude that the speeches reported by Luke are at least faithful epitomes, giving the gist of the arguments used … Taken all in all, each speech suits the speaker, the audience, and the circumstances of delivery; and this … gives good ground, in my judgment, for believing these speeches to be, not inventions of the historian, but condensed accounts of speeches actually made, and therefore valuable and independent sources for the history and theology of the primitive Church.”
In einem Artikel aus dem Jahr 1974 würdigt Bruce den inzwischen auch auf Englisch publizierten Akademievortrag von Dibelius aus dem Jahr 1944 als „one of the most important and influential studies of the subject ever to have
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Berlin und Leipzig 1926: A Fresh Approach to the New Testament and Early Christian Literature, London 1936 S. 262. Vgl. im Original: Dibelius, Martin, Geschichte der urchristlichen Literatur II. Apostolisches und Nachapostolisches, Berlin und Leipzig 1926, 99 (etwas erweitert): „Vor allem aber sind zur Belebung und Belehrung, zur Beleuchtung und Erbauung in die einzelnen Szenen Reden hineinkomponiert, die zweifellos so, wie sie dastehen, Schöpfungen des Verfassers sind. Denn um wirklich so gehalten zu sein, sind sie zu kurz; um von verschiedenen Personen zu stammen, sind sie einander zu ähnlich; auch geben sie ihrem Inhalt nach gelegentlich einen späteren Standpunkt wieder … und sind in der Form zum Teil recht literarisch gehalten …“ Schon vorher (S. 55) schreibt Dibelius über die Predigten: „Sie haben also nur indirekten geschichtlichen Wert; sie bezeugen nicht, wie die Apostel gepredigt haben, sondern nur wie der Autor, der sie komponierte, sich ihre Redeweise vorstellte.“ De Thucydide 34. Hist. II 56,10–12. Vgl. auch dessen Kritik an Timaios in XII 25a und b! A. a. O. (s. o. Anm. 38).
Neuere Stimmen zu Thukydides
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appeared“.46 Er kann sich ihm aber weiterhin nicht anschließen, sondern dehnt seine Kritik auf die inzwischen erschienene Monographie von Ulrich Wilckens47 aus. Eine Besprechung der englischen Übersetzung der Aufsätze zur Apostelgeschichte unmittelbar nach deren Publikation 1956 von C. S. C. Williams in Expository Times48 moniert, dass Dibelius die Beiträge zu Thukydides von Pohlenz und Gomme (1937) nicht berücksichtigt habe (343f.). Daneben verweist er auf exegetische Beiträge, die gegen Dibelius sprechen, besonders auf die damals gerade erschienene Monographie von Bertil Gärtner zur Areopagrede.49 In seinem Fazit verortet er Gomme und Bruce an einem Ende einer Skala und Großkinski mit Dibelius an ihrem anderen Ende, wobei er die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen Bruce und Dibelius liegen sieht.50
3.
Zum Fortgang der Forschung zu Thukydides in dieser Frage
Selbstverständlich ist die Diskussion über die Reden bei Thukydides seit den vierziger Jahren weitergegangen.51 Zur Halbzeit hatte Otto Luschnat im Artikel Thukydides in der Paulyschen Realenzyklopädie (Suppl. XII) von 1971 ausführlich darüber berichtet. Zu unserer Streitfrage schreibt er (Sp. 1177): „Wer wie Großkinsky und Patzer in I 22,1 die völlige Freiheit des Historikers zu situationsgerechter Redenabfassung ausgesprochen findet, schließt zwar die Kluft zwischen I,22 und den Reden, die uns vorliegen, vergewaltigt aber den Wortlaut des Redensatzes …“
Zur Frage der faktischen Arbeit des Thukydides schließt sich Luschnat dem abschließenden Votum von Gomme (aus dem Jahr 196252) an, wonach Thukydides sich de facto mindestens teilweise an den Sinn des wirklich Gesagten gehalten 46
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Vgl. Bruce, Frederick Fyvie, The Speeches in Acts – Thirty Years After, in: R. Banks (Hrsg.), Reconciliation and Hope. New Testament Essays on Atonement and Eschatology Presented to L. L. Morris on his 60th Birthday, Carlisle 1974, 53–68, hier 56. S. o. Anm. 10. Vgl. Williams, C. S. C., Important and Influential Books: Martin Dibelius’ Studies in Acts, ExpT 67 (1956) 343–345. Gärtner, Bertil, The Areopagus Speech and Natural Revelation, Uppsala 1955. „What Gomme (Essays in Greek History and Literature) is to Thucydides, Professor F. F. Bruce is to Luke (The Speeches of Acts [1942]). At the other extreme, as Grossinsky (Das Programm des Thukydides [1936]) maintained that Thucydides claimed for his reporting of speeches a considerable degree of subjectivity, so Dibelius assumes that Luke treated his material with complete freedom.” (345). Vgl. auch Stadter, Philip A., (Hrsg.), The Speeches in Thucydides. A Collection of Original Studies with a Bibliography. Chapel Hill 1973. S. o. Anm. 32.
192
Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
hat.53 Bei Simon Hornblower, einem führenden Thukydides-Spezialisten von heute, findet sich der Seufzer: “There would be no problem at all if Thucydides, unlike all other writers in antiquity, had not pledged himself to give in some sense a truthful version of his speeches.”54
An der Beteuerung des Thukydides, nichts frei erfunden zu haben, lässt Hornblower also keinen Zweifel. Sein Fazit nach einer ausführlichen Prüfung der Argumente lautet (S. 56): „To sum it up, none of the arguments for artificiality are so strong that we are forced to think wholly in terms of ‘what was appropiate’ rather than ‘what was really said.”
Die Diskussion darüber, wie Thukydides faktisch gearbeitet hat, ist bei alledem weiterhin im Fluss. Diese Frage ist jedoch für die Beurteilung der Acta-Reden praktisch ohne Bedeutung, weil für Lukas der hypothetische Blick hinter die Kulissen des Thukydides fern lag.55 Dass der Redensatz einen historischen Anspruch erhebt, gleichzeitig aber für eine gewisse poetische Freiheit um Verständnis wirbt, ist meines Wissens jedoch nicht kontrovers. Man kann also immer noch mit Martin Dibelius sagen: „Über das Verhältnis von subjektivem Ermessen und objektiver Wiedergabe bei den Reden (ist) unter den Interpreten des Thukydides bisher noch keine Einigkeit erzielt.“ Aber mit seiner Option für die Sichtweise von August Großkinsky hat Dibelius eine Extremposition übernommen und leider auf die Acta-Reden übertragen, die dem (zugegeben: schwierigen) Wortlaut des Redensatzes nicht gerecht wird. Über diesen lässt sich m. E. trotz einzelner Gegenstimmen56 dreierlei festhalten: 1. Thukydides räumt ein, dass er die Reden in keinem Falle exakt wiedergeben konnte, auch nicht, wenn er selbst Ohrenzeuge war. 2. Auf diese Negation folgt eine positive Näherbestimmung seiner Arbeitsweise, die nun zu unserem Leidwesen ebenfalls nicht exakt, sondern sehr allgemein gehalten ist.57 Vielleicht hat Thukydides hier bewusst unscharf formuliert; denn 53
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Vgl. a. a. O. Sp. 1180. In ähnlichem Sinne äußert sich H. T. Wade-Gray, Art. Thucydides in: The Oxford Classical Dictionary, 3rd ed. revises, ed. by S. Hornblower & A. Spawford, Oxford 2003, 1516–1519, hier 1518. Vgl. Hornblower, Simon, Thucydides, Baltimore 1987, 71. Vgl. Crehan (s. o. Anm. 37) 367: “It is the intention of Thucydides in reporting speeches that would have mattered for Luke rather than his performance. Luke cannot be expected to have made a professional study of the Peloponnesian War in order to see how far the speeches were borne out by the facts, but if he took the initial declaration of intention at its face-value, that may have had considerable influence on his own practice.” Vgl. Luschnats Nachträge in PRE Suppl. XIV (1974) 760–786. Vgl. G. Wille, Zu Stil und Methode des Thukydides, in: Synusia. Festgabe für Wolfgang Schadewaldt, Pfullingen 1965, 53–77, sowie in: H. Herter (Hrsg.), Thukydides (Wege der Forschung XCVIII), Darmstadt 1968, 683–716, hier 707f. Der Aufsatz schließt mit dem Satz: „Der Methodensatz ist keine erschöpfende und keine präzise Darlegung der thukydideischen Methode. Versuche, den Historiker genauer festzulegen, scheitern an der Weite und Elastizität seiner Formulierung.
Fazit der Forschungsgeschichte
193
er unterscheidet bei der Näherbestimmung seiner Arbeitsweise nicht zwischen den selbst mit angehörten Reden und denen, für die er auf Berichte angewiesen war. Waren diese Berichte knapp oder widersprüchlich oder verdächtig, dann bekam das eigene Ermessen des Thukydides notgedrungen größeren Einfluss auf die Formulierung der Reden als in den Fällen eigener Ohrenzeugenschaft. 3. Thukydides beteuert aber abschließend, sich möglichst nah an das wirklich Gesagte gehalten zu haben, und bestreitet damit, Reden völlig frei erfunden zu haben. Die angestrebte Nähe zum wirklich Gesagten kann nicht auf das Dass tatsächlicher gehaltener Reden reduziert werden,58 sondern muss auf das Was dieser Reden bezogen werden.59
4.
Bemerkungen zu den exegetischen Argumenten von Martin Dibelius
4.1
Platzierung an Wendepunkten?
Nach Dibelius wollte Lukas nach dem Vorbild des Thukydides in einem Teil der Reden „dem Augenblick erhöhte Bedeutung verleihen und die Kräfte sichtbar machen, die hinter den Ereignissen wirksam sind“.60 Darum hat er „an vier wichtigen Wendepunkten des von ihm dargestellten Geschehens Reden in seinen Bericht eingefügt, die die Bedeutung des Augenblicks erhellen“.61 Diese Intention vermutet Dibelius hinter den Petrusreden von Kap. 10–11, der Areopagrede in Kap. 17, der Abschiedsrede des Paulus in Kap. 20 und seiner Jerusalemer Rede in Kap. 22. Dass dies Höhepunkte der Handlung sind, kann man nachvollziehen. Aber die Mission des Petrus im Hause des Cornelius hat nach Lukas keineswegs die Türen zur Heidenmission weit aufgestoßen, sondern dient nur ihrer Legitimation – explizit erst in Apg 15. Die Pioniere gezielter Heidenmission waren nach Lukas vielmehr aus Jerusalem vertriebene hellenistische Judenchristen (vgl. Apg 11,20). Die Athener Rede des Paulus kann keineswegs als Wendepunkt begriffen werden, weil dessen Missionsarbeit danach in Korinth so weitergeht wie vorher: 58
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60 61
Das war die von Gomme, Commentary S. 157 zurückgewiesene Meinung von E. Schwartz; vgl. Porter (s. o. Anm. 7) 137 Anm. 55 und 132 Anm. 38. Vgl. C. Gempf, Public Speaking and Published Accounts, in: The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, ed. by B. W. Winter and A. D. Clarke, Grand Rapids / Carlisle 1993, 259– 303, hier 268 über Thukydides: “His interest in accuracy, albeit secondary, is genuine, and historiographers, in the past decade or two, have begun to reemphasize this.” So S. 142 oben So S. 141 unten, ähnlich 151 oben.
194
Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
Auftritt in der Synagoge, gespaltene Reaktion des Publikums, Hinwendung zu den Nichtjuden. Allenfalls die Abschiedsrede des Paulus von Milet erfolgt an einem Wendepunkt, weil Paulus nach eigener Aussage das kleinasiatische Missionsfeld verlassen will. Die Rede auf den Stufen zur Festung Antonia (Apg 22) hat dagegen vor allem apologetische Funktion gegenüber einem jüdischen Publikum und hat nichts Richtungweisendes an sich. Sie blickt auf den Lebensweg des Paulus zurück und mit keinem Wort nach vorn. Ulrich Wilckens hat das Stichwort „Wende“ auch auf die Rede des Paulus im kleinasiatischen Antiochien (Apg 13, 16–41) übertragen: „Diese Predigt in der / Synagoge ist der letzte Bußruf an die Juden. Da diese das Wort Gottes aber verstoßen, wird es von nun an ganz und endgültig den Heiden verkündigt (13,46), die es im Gegensatz zu den Juden annehmen (13,48). Auf diese Wende deutet das … Zitat am Ende der Predigt (sc. Hab 1,5 LXX in V. 41) schon hin …“62
Dazu kann man nur sagen: Von wegen „Wende“ und „letzter Bußruf“: Nur wenige Verse später (14,1) ist vom nächsten Synagogenbesuch des Paulus die Rede, dem zunächst ein großer Erfolg bescheinigt wird. Die gleiche Strategie befolgt Paulus auf den nächsten „Missionsreisen“ – in Philippi, Thessalonich, Beröa, Korinth und Ephesus (vgl. Apg 16,13; 17,1ff. 10ff; 18,4ff.; 19,8ff.).63 Bei Thukydides markieren die Reden insofern oft Wendepunkte, weil sie folgenschwere Beschlüsse herbeiführen oder die Motive zu Handlungen der beteiligten Personen zum Ausdruck bringen: Auf dieser deliberativen Linie kann man nur die beiden kurzen Reden des Petrus und des Jakobus beim „Apostelkonzil“ verbuchen, die nach Lukas zu einem einmütigen, richtungweisenden Beschluss geführt haben.64 Von den übrigen Reden kann man kaum behaupten, dass sie „Geschichte machen“. Sie sind vielmehr Teile der Geschichte, auf die es dem Lukas vor allem ankommt, nämlich der Geschichte „des Wortes“, das wächst und sich ausbreitet (vgl. Apg 6,7; 12,24; 19,20), auch bei regelmäßig gespaltener Reaktion des Publikums. 62 63
64
Vgl. Wilckens (s. o. Anm. 10) 70f. Das Denkschema „Wendepunkt“ schlägt sich bei Plümacher, Eckhard, Die Missionsreden der Apostelgeschichte und Dionys von Halikarnassos, in: NTS 39 (1993) 161–177, hier 165, darin nieder, dass er in seiner Besprechung von Apg 13,46 die Vokabeln „fortan“ und „nunmehr“ einsetzt, während Paulus nach Lukas zu den lästernden jüdischen Gegnern nur sagen lässt: „Siehe, wir wenden uns zu den Völkern“ (d. h. zu den anwesenden Nichtjuden, die Lukas anschließend in V. 48 als „die Völker“ bezeichnet). Nach Apg 11,19–26 stand schon die Mitarbeit des Paulus in der Gemeinde des syrischen Antiochia unter dem Vorzeichen der Predigt zu Juden und Nichtjuden. Vgl. Apg 15,7–11 und 13–21. Diesen Charakter der Reden von Apg 15 hat F. F. Bruce mit Recht unterstrichen. Die ebenfalls deliberative Rede des Gamaliel in Apg 5,34–39 hat nur begrenzten Erfolg, indem sie ein Todesurteil zwar verhindert, nicht aber physische Gewaltanwendung und weitere Drohungen gegen die Apostel.
Martin Dibelius zu Funktionen der Acta-Reden
4.2
195
Situationsfremdheit?
Ein zweites Argument für die Fiktionalität der Acta-Reden ist nach Dibelius ihre „relative Situations-Fremdheit“ (S.151), die darin besteht, „daß die meisten der größeren Reden der Apostelgeschichte weniger aus der historischen Lage als aus dem Zusammenhang des Buches zu verstehen sind“ (S.150). Als Beispiel dafür nennt er den Kontrast zwischen der Empörung des Apostels über den Götzendienst der Stadt und dem Lob der Athener „wegen ihrer frommen Haltung gegen die Götter“ (Apg 17,16 und 22).65 Aber was ist das für eine Homiletik, die einen Evangelisten bei der Erstbegegnung mit Fernstehenden zu einer Publikumsbeschimpfung verpflichtet? Davon abgesehen verwendet Lukas hier mit deisidaímōn eine Vokabel, die der Wortbildung nach primär die Furcht vor den Göttern bezeichnet. Genau das war nach Diogenes Laertius das Motiv zur Errichtung von Altären für (noch) unbekannte Götter, deren Vernachlässigung Unheil für die Stadt nach sich ziehen konnte.66 Dieser Altar67 – und nicht die Fülle sonstiger Heiligtümer – ist nach der Syntax von V.23 der Anlass für das Kompliment. Dazu passend schließt die Rede dann auch mit einem Ruf zur Umkehr, der durch eine Gerichtsankündigung bekräftigt wird (V.30f.).68 Eine situationsbezogene Inclusio, die entweder historisch oder von Lukas genial erfunden ist.69 Dass Paulus nach Dibelius (S. 137) in Kap. 22 mit der Rede nach dem Tumult im Tempel „völlig an der Situation vorbeiredet“, ist noch schwerer nachvollziehbar: Paulus bekennt zu Anfang der Rede, dass er auf Grund seiner jüdischen Sozialisation einmal genau so fanatisch wie seine Feinde war, „ein Eiferer für Gott, wie ihr alle es heute seid“ (Apg 22,3). Damit legt er Wert darauf, dass er die Mentalität seiner Gegner versteht. Das grenzt an ein Kompliment! Danach aber rechtfertigt er ausführlich seine Entwicklung von einem jüdischen Eiferer zu einem nicht weniger jüdischen Heidenmissionar. An genau der heiligen Stätte, die er nach 21,28 angeblich entweiht hat, will er den Auftrag zu dieser Mission bekommen haben (22,17–20). Ist das alles kein Situationsbezug? Auch die Rede des Stephanus in Kap. 7 antwortet sehr wohl auf die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen. Als Lästerer gegen Mose angeklagt, preist er 65
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Dieses Beispiel und die folgenden beiden werden von E. Plümacher, Art. Apostelgeschichte (s. o. Anm. 13) 503, übernommen. Vgl. Diogenes Laertius I,110. Vielfach wird gegen diesen Anknüpfungspunkt eingewandt, dass die antiken Quellen nur von Altären für unbekannte Götter (beides im Plural!) sprechen (vgl. Pausanias I 1,4; Philostrat, Vit Apoll VI,3) und noch keine Inschrift „dem unbekannten Gott“ gefunden worden sei. Offenbar stört es niemanden, dass auch noch keine Inschrift eines Altars mit dem Plural „unbekannten Göttern“ gefunden wurde! Seit wann sind antike Quellen auf Bestätigung durch archäologische Funde angewiesen? Wo kämen wir da hin? - vergleichbar dem Schluss der Pfingstpredigt des Petrus in Apg 2,34–36. Dass die Drohung mit dem Endgericht zu den Essentials der Predigten des Paulus auf dieser Missionsreise gehörte, zeigt 1 Thess 1,10 und 5,9.
196
Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
Mose in höheren Tönen als das Alte Testament. In der Tempelfrage wehrt er sich mit narrativen Mitteln und einem Jesajazitat geschickt gegen die Meinung, dass die Weissagung einer Tempelzerstörung Blasphemie sei. Seine Gegner dachten offenbar so wie später die Sikarier, dass der Tempel nicht zerstört werden könne, weil Gott in ihm wohnt.70 Aber die ganze Rede zielt auf die Einsicht, dass Gott nie sesshaft war und darum auch nicht obdachlos werden kann71.72
4.3
Unterschiedliche Profile der Redner
Wer den „Beruf des Historikers“ so versteht, wie Dibelius ihn unter Berufung auf Thukydides bestimmt hat (S.157), der „darf die Reden der Apostelgeschichte nicht als Quellen für Gedanken und Worte der Redner verwenden“ (S.158 oben). Die Missionsreden enthalten zwar „zweifellos Predigtgut der Gemeinde aus alter Zeit“. „Über die besondere Predigtweise des Petrus, Paulus und Stephanus aber läßt sich ihnen nichts entnehmen.“ Wirklich nichts? Dass bei Lukas nur Paulus in einer Predigt von der Rechtfertigung durch Christus für jeden Glaubenden spricht (Apg 13,38f.) ist offenbar nicht der Rede wert.73 Dabei ist es kein Zufall, dass dieser Topos nur in einer Pauluspredigt vor Juden auftaucht, - entsprechend dem Befund, dass Paulus selbst fast nur im Römer- und im Galaterbrief von Rechtfertigung redet, wo das Verhältnis zum Judentum thematisiert wird. Das Thema „Rechtfertigung“ hat also bei Paulus einen Sitz im Leben, der dem Publikum in der Synagoge von Antiochia ad Pisidiam entspricht.74
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Vgl. Josephus Bell 5,459, ähnlich 7,376. Vgl. dazu ausführlich meine Interpretation der Rede in Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. v. Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 1515–1552, hier 1530–1540, sowie in meinem Buch Stephanus – verleumdet, verehrt, verkannt, Leipzig 2014, 41–91, vgl. oben S. 170–180. Auf der narrativen Ebene (nicht der historischen) stellt auch John Kilgallen, The Stephen Speech. A Literary and Redactional Study, Rom 1976, im Stephanusbericht eine Kongruenz zwischen Anklage und Rede fest. Sein Fazit (S. 119) lautet: „The speech, then, does answer the accusations; indeed, the accusations, from a literary point of view, prepare for and introduce the speech. The author has consciously asked a question with the answer in mind, and, equally, had an answer which dictated the terms of the question.” Das legt die Frage nahe, ob nicht der narrative Kontext einen historischen pragmatischen Kontext widerspiegelt. Andere Exegeten haben es als zufällige Reminiszenz an Paulus heruntergespielt; vgl. z. B. Roloff, Jürgen, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt, Göttingen 1961, 208. Für die Anhänger der „Südgalatien-Theorie“ gehört die Gemeinde in diesem Antiochia zu den Adressaten des Galaterbriefes; aber diese Streitfrage lasse ich an dieser Stelle aus dem Spiel, obwohl die Ermahnung in Apg 13,43, „an der Gnade Gottes festzuhalten“ wie ein Vorgriff auf den Galaterbrief klingt.
Die Vielfalt der Reden als Indiz für den Quellenwert
197
Auch der Begriff der Verheißung, der hier in Vv.23 und 32 vorkommt, ist ein wichtiges Stichwort in den Paulusbriefen, und zwar wieder im Römer- und im Galaterbrief.75 Die Verbindung von Davidssohnschaft und Gottessohnschaft in V.23–37 der Rede findet sich bei Paulus an programmatischer Stelle in Röm 1,3f. Dabei stimmt auch überein, dass nach Apg 13 wie nach Röm 1,3f. die Auferstehung zur davidischen Abstammung hinzukommen musste, um Jesus als den verheißenen Messias und Sohn Gottes zu erweisen.76 Dass die Stephanusrede inhaltlich und formal ein Sonderfall der Acta-Reden ist, wird inzwischen77 auch von Ulrich Wilckens anerkannt. Keine andere Rede arbeitet mit einer typologischen Auslegung des Alten Testaments! Was spricht eigentlich dagegen, ihre Besonderheiten auf diesen „einzigartigen Heiligen“ („singular saint“) zurückzuführen, wie Martin Scharlemann den Märtyrer im Titel seiner Monographie genannt hat?78 Wir haben ja keine andere Quelle über Stephanus, mit der man den lukanischen Bericht falsifizieren könnte! Auch die Reden des Petrus enthalten so viele eigentümliche und z. T. „altertümliche“ Züge,79 dass man sie nicht einfach als Ausdruck lukanischer Theologie erklären kann.80 Nur er und Stephanus zitieren die Weissagung eines Propheten wie Mose (vgl. Apg 3,22; 7,37), die für die spätere Christologie der Großkirche bedeutungslos wurde. Besonders altertümlich wirkt sein Reden von Jesus als dem Messias designatus für Israel im Zusammenhang mit der Wiederkehr aus dem Himmel (Apg 3,20).81
5.
Fazit
Die Prüfung verschiedener Argumente für die Fiktionalität der Acta-Reden nährt m. E. den Verdacht, dass Martin Dibelius eine vorgefasste Meinung von Reden in antiken Geschichtswerken frühzeitig an das lukanische Werk herangetragen 75 76
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Vgl. Röm 4,13.14.20; 9,4; 15,8; Gal 3, 14.16.17.18.21.22.29; 4,23.28; sonst nur 2 Kor 1,20; 7,1. Auch der in der Theologie des Paulus zentrale Begriff der Gnade ist nach Lukas ein Thema der Predigten des Paulus (Apg 13,43; 14,3; 20,24.32). Seit der 3. Auflage seiner Monographie über die Missionsreden (1974). Vgl. Scharlemann, Martin H., Stephen. A Singular Saint, Rom 1968. Vgl. Robinson, John A. T., The Most Primitive Christology of All? In: JThSt NF 7 (1956) 177– 189. Tannehill, Robert C.,The Functions of Peter’s Speeches in the Narrative of Acts, in: NTS 37 (1991) 400–414, weist darauf hin, dass die Petrusreden keineswegs so stereotyp sind, wie Dibelius und Wilckens behauptet haben, erklärt das aber auf der narratologischen Ebene. Die Vielfalt der Acta-Reden wird auch von Soards, Marion L., The Speeches in Acts in Relation to Other Pertinent Ancient Literature, in: ETL 70 (1994) 65–90, hier 73, betont: „The speeches do characterize the speakers more than Plümacher recognizes.”
198
Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?
hat, ohne sie noch einmal ernsthaft exegetisch auf die Probe zu stellen. Dibelius hatte schon 1919 in seiner Monographie Die Formgeschichte des Evangeliums geschrieben: “Wirklich gehaltene urchristliche Predigten sind uns mindestens aus den ersten Jahrzehnten nicht überliefert. Es lohnt nicht, in die Debatte darüber einzutreten, ob etwas und wieviel von den Reden der Apostelgeschichte wirklich in der jeweiligen Lage gesprochen ist oder gar gesprochen sein könnte. Denn diese Fragestellung ist nur geleitet von dem ängstlichen Interesse an der Geschichtlichkeit bestimmter Texte, als ob es etwas zu retten gäbe, wo gar kein Gut zu verlieren ist! Völlig ignoriert wird bei solchem Bemühen die Erkenntnis, daß der Historiker von damals … seine Darstellung gern durch eingefügte Reden unterbricht, Reden, die von ihm in einem bestimmten, jeweils aus der Darstellung zu erhebenden Interesse komponiert werden.“82
Warum hat sein Pauschalurteil über die Reden in der deutschsprachigen Actaforschung so lange den Ton angegeben? Dibelius hatte das Interesse an der schriftstellerischen Leistung und an den Intentionen des Lukas als primäres Motiv der Lukas-Forschung propagiert. In seinem Aufsatz Stilkritisches zur Apostelgeschichte von 1923 hatte er geschrieben: „Vor allem hat sich Lukas in der Apostelgeschichte in viel höherem Grade schriftstellerisch betätigt als im Evangelium … Den Anteil dieser schriftstellerischen Bemühungen am Ganzen gilt es festzustellen … Am sichersten wird man auf sie die Reden der Apostelgeschichte zurückführen dürfen, die aus überlieferungskritischen Gründen schwerlich tradiert sein können, literarisch ihre Parallelen bei den Historikern haben und in ihrem Inhalt oft genug einen späteren Standpunkt zum Ausdruck bringen.“83
Die Verbreitung seiner Aufsätze zur Apostelgeschichte fiel dann in die Zeit der aufblühenden redaktionsgeschichtlichen Forschung, die ebenso gezielt nach den theologischen Intentionen der Evangelien fragte. Die entsprechende Weiterführung durch Wilckens lag förmlich in der Luft. Hinzu kam die Herabsetzung des Interesses an einem Quellenwert der ActaReden, die Unterstellung eines „ängstlichen Interesses“, als ob in dieser Frage „gar kein Gut zu verlieren“ wäre. Auf Thukydides kann man sich dafür nicht berufen! Wenn Überlieferungen sich ganz oder teilweise als fiktional erweisen, muss ein Historiker das zunächst einmal bedauern. Um einen Gewinn handelt es sich dabei nur dann, wenn dieses Urteil auf überzeugenden Indizien beruht und damit Irrtümer aus der Welt geschafft werden. Das abfällige Urteil über das Interesse an Nachrichten über urchristliche Reden dürfte dazu beigetragen haben, dass Indizien für historische Situationsbezüge und individuelle Profile häufig übersehen oder heruntergespielt wurden. Ein Gefühl von Relevanz beflügelt nun einmal zu Forschungen und umgekehrt: Das Verdikt „irrelevant“ reduziert die Motivation, sich mit einer an sich nahe liegenden Fragestellung ernsthaft zu befassen. 82 83
Vgl. Dibelius, Martin, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919, 7. Erstveröffentlichung in Eucharisterion für Hermann Gunkel, Göttingen 1923 Bd. II, 27–49, hier S. 28f. sowie Nachdruck in: Aufsätze zur Apostelgeschichte (1951) 9–28, hier S. 10.
Warum war Dibelius so tonangebend?
199
Lukas hat die nachösterliche Jesusbewegung als eine „Wort-Bewegung“ charakterisiert und wiederholt vom „Wachstum des Wortes“ oder „Ausbreitung des Wortes“ gesprochen (Apg 6,7; 12,24; 19,20). Danach sind die Acta-Reden als Sprachereignisse ein ganz wichtiger Teil der pragmata, um die es im Gesamtwerk des Lukas nach Lk 1,1 geht. Lukas hat sich zwar nicht speziell zu den Reden geäußert, aber dem hoch verehrten Theophilus einen zuverlässigen Bericht über diese Bewegung versprochen und sich auf Augenzeugen berufen (Lk 1,1–4), was ja auch Ohrenzeugen mit einschließt. Dieses Versprechen sollte auch für die Reden ernst genommen und in jedem Einzelfall unvoreingenommen auf den Prüfstand gestellt werden.
Licht aus Athen auf Lukas, Ad Theophilum? Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung Die neutestamentliche Wissenschaft profitiert in doppelter Hinsicht von althistorischen Forschungen zu Athen. Zum Einen tragen antike Quellen über Athen und archäologische Befunde vor Ort zum Verständnis der Begegnung zwischen dem Apostel Paulus und Athener Intellektuellen bei (vgl. Apg 17,16–34). Ernst Curtius hatte am 9. Nov. 1893 in der philosophisch-historischen Classe der Königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften einen begeisterten Vortrag gehalten1, beginnend mit den Worten: „Paulus in Athen bezeichnet eine Epoche2 in der Geschichte der Menschheit, deren richtige Würdigung das Interesse des Philologen, des Historikers und des Theologen gleichmäßig in Anspruch nimmt.“
Der Vortrag schließt mit dem Urteil: „Ich kann, an den Anfang anknüpfend, meine Überzeugung nur dahin aussprechen, dass, wer den geschichtlichen Werth des Berichtes über Paulus in Athen in Abrede stellt, eins der wichtigsten Blätter aus der Geschichte der Menschheit reisst.“3
Allerdings räumt er gleich auf S. 1 ein: “Man muss in Athen zu Hause sein, um den Bericht recht zu verstehen,“ und dazu trägt er in der Fortsetzung Wertvolles bei.4 Auf einer ganz anderen Ebene – der literarischen – fällt ein Licht aus Athen auf die Apostelgeschichte des Lukas, was die Einschätzung der zahlreichen Reden betrifft. Es ist aber leider ein gebrochenes Licht, und man ist versucht, stattdessen von „Licht und Schatten“ zu sprechen. Es geht um die Schlüsse, die aus der Funktion von Reden bei Thukydides für die Beurteilung der Reden bei Lukas zu ziehen sind. Dass Thukydides zur Abfassungszeit des lukanischen Werkes hoch 1 2
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Vgl. Curtius, Ernst, Paulus in Athen, in SPKW.PH XLII (1893) 1–14. Curtius gebraucht „Epoche“ hier nicht im modernen Sinn von „Zeitraum“, sondern in Anknüpfung an die astronomische Verwendung von epochê (Konstellation) wohl im Sinne von „Sternstunde“. Vgl. Bruce, Frederick Fyvie, Zeitgeschichte des Neuen Testaments, Wuppertal 1986 (Original: New Testament History, 1969) 113: „Lukas‘ Bericht über Paulus‘ Aufenthalt in Athen … weist überall ein Lokalkolorit auf, das die Althistoriker im Allgemeinen als derart authentisch empfunden haben, daß sie, mit Eduard Meyer zu sprechen, nicht zu begreifen vermögen, ‚wie man diese Szene für erfunden hat erklären können‘.“ (Vgl. dessen Ursprung und Anfänge des Christentums III, Stuttgart 1923, 105) In neuerer Zeit hat besonders Winfried Elliger den lokalgeschichtlichen Hintergrund von Apg 17 auf der Basis neuerer Forschungen erhellt; vgl. sein Buch Paulus in Griechenland. Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth, Stuttgart 1978, Neuauflage Stuttgart 2007. Vgl. ferner Browneer, Oscar, Athens. City of Idol Worship, in: BA 21(1958) 2–28.
Thukydides-Zitierung keine Trumpfkarte!
201
im Kurs stand, ist aus literarischen Äußerungen und Relikten seiner Verwendung im Schulwesen erkennbar.5 Seit Jahrzehnten berufen sich Exegeten mit gegensätzlicher Tendenz auf eine Selbstaussage des Thukydides in der Einleitung zu seinem Werk über den „Peloponnesischen Krieg“.6 Im deutschen Sprachraum hatte Martin Dibelius durch seine Aufsätze zur Apostelgeschichte7 den größten Einfluss zugunsten einer weitgehend fiktionalen Einstufung der lukanischen Reden.8 Im englischen Sprachraum wurde dieser Impuls relativ zögernd aufgenommen.9 Die Spannweite der Meinungen unter Exegeten ist ein Spiegel eines Meinungsstreites unter den Altphilologen und Althistorikern. Stanley E. Porter hat darum mit Recht darauf hingewiesen, dass man sich in der Acta-Forschung nicht einfach auf Thukydides berufen kann, sondern notgedrungen in die Debatte der Nachbardisziplinen über den „Methodensatz“ des Thukydides einsteigen muss.10 Das habe ich mit einem Beitrag zu der Zeitschrift Gymnasium unternommen11 und greife im Folgenden darauf zurück.
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Vgl. Padilla, Osvaldo, The Speeches of Outsiders in Acts. Poetics, Theology and Historiography, Cambridge 2008, 238, dazu Anm. 7: “From the papyri discovered in the eastern part of the Mediterranean, Thucydides’ history has yielded the most fragments from among the historians” (vgl. Morgan, Teresa, Literate Education in the Hellenistic and Roman World, Cambridge 1998); Landmann, Georg Peter, Nachwort im Anhang zur Übersetzung von Thukydides (München 1993) Bd. II, 1255–1270, hier 1259: „Auf die Griechen selbst hat er zunächst wenig Wirkung gehabt … Aber entdeckt haben ihn erst die Römer. Sallust ist sein größter Schüler, mittelbar dann Tacitus, Brutus hat ihn sehr geliebt, und die Nachahmung seines Stiles wurde bei Griechen und Römern so sehr Mode, dass Cicero warnt … So wurde er in der Kaiserzeit zum Klassiker; jemand soll ihn ganz auswendig gelernt haben …“ Vgl. meine Studie Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas? in: ThBeitr 49 (2018), S. 102–119 (s.o. S. 181–199) sowie meine Vorbemerkungen zum Problem der Reden in der Apostelgeschichte in Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. v. Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 1515–1552, hier 1531–1533. Herausgegeben von Greeven, Heinrich, Göttingen 1951 (4. Aufl. 1961). Besonders durch seinen Akademie-Vortrag vom 19.2.1944: Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, abgedruckt a. a. O. 120–162. Vgl. u. a. C. S. G. Williams, Important and Influential Foreign Books: Martin Dibelius’ ‘Studies in Acts’, in: ExpT 67 (1956) 343–345. Vgl. Porter, Stanley E., Thucydides 1.22.1 and the Speeches in Acts: Is there a Thucydidean View?“, in: NT XXXII (1990) 121–142, hier 141: “Any invocation of the Thucydidean view of speeches must argue for and defend a position rather than assume one.” (Die Studie ist nachgedruckt in Ders., Studies in the Greek New Testament. Theory and Practice, New York etc. 1996, 173–193, Zitat hier 192). Vgl. Garrity, Thomas F., Thucydides I.22.1: Content and Form in the Speeches, in: The American Journal of Philology 119,3 (1998) 361–384, 362: „For all the efforts … of such well-known students of Greek, scholars remain sharply divided over the precise meaning of Thucydides‘ programmatic statement.“ Haacker, Klaus, Zur „Ambivalenz“ des Redensatzes Thuk I, 22,1, in: Gymnasium 127 (2020) Heft 6, 581–597.
202
Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung
Unumstritten ist, dass Thukydides in I 22,1–2 einräumt, dass er bei der Wiedergabe von Reden nicht dieselbe Genauigkeit (akríbeia) versprechen kann wie bei den Handlungen.12 Dass er sogar von ihm selbst miterlebte Reden nicht aus dem Gedächtnis wörtlich wiedergeben kann, leuchtet unmittelbar ein. Erst recht gilt das von Reden, über die andere ihm nach ihrer Erinnerung berichtet haben.13 Unanfechtbar ist, dass ihm nach eigener Aussage das tatsächlich Gesprochene nicht gleichgültig war, sondern dass er ihm in der Formulierung der Reden möglichst nahekommen wollte.14 Aber der Teilsatz über seine Arbeitsweise erlaubt offenbar einen Deutungsspielraum, der sich schon in den Übersetzungen und noch mehr in der Interpretation dieses Redensatzes widerspiegelt. Die Meinungen gehen deshalb hin und her, weil im Satz über die Reden von einem eigenen Ermessen des Schriftstellers die Rede ist (hôs d‘ an edókoun moi …), womit klar ein subjektives Element die historische Zuverlässigkeit schmälert.15 Umstritten ist, wie das „Kombinieren“ einer wahrscheinlichen Redeweise zu verstehen ist – und welche Freiheiten Thukydides sich dabei erlaubte. Die anschließende Beteuerung, dem wirklich Gesagten nach Möglichkeit treu geblieben zu sein, wird häufig als Beschönigung oder leeres Versprechen heruntergespielt, weil die Untersuchung der faktisch vorliegenden Reden viele Zweifel an deren Historizität aufkommen lässt. Das sollte allerdings bei der Interpretation dieser schwierigen Satzperiode ausgeklammert werden.16 Erst nach der Klärung der 12
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Dass auch Berichte über Ereignisse oft nur das Wesentliche mitteilen, hat Thukydides nicht angesprochen. Vgl. Burckhardt, Jacob, Kulturgeschichte Griechenland. Gekürzte Ausgabe, Berlin etc. 1934, 489: „Ein Mittel der Darstellung, das für Thukydides besonders charakteristisch ist, sind die zahlreichen eingelegten Reden, und sie sind vor allem das Sprachrohr des Politikers Thukydides. In der Ankündigung seiner historiographischen Grundsätze erscheint es wie selbstverständlich, daß ebenso wie die äußeren Geschehnisse auch die Reden der führenden Männer festgehalten werden müßten. Sie seien aber nicht wörtlich wiederzugeben gewesen, daher soll der Leser an sie nicht denselben Maßstab der Genauigkeit anlegen, wie an die Darstellung der Tatsachen.“ Vgl. Tsakimatis, Antonis, Speeches, in: Balot, Ryan K. / Forsdyke, Sara (Ed.), The Oxford Handbook of Thucydides, Oxford 2017, 267–281, hier 267: “His speeches have been studied, imitated, paraphrased, or translated more than any other part of his work … not as historical sources, but as rhetorical artefacts and examples of intense theoretical reasoning.” Der dahingehende Schluss des Redensatzes trägt das „Achtergewicht“ und darf nicht heruntergespielt werden. In der Fortsetzung schreibt er, was die Ereignisse (érga) betrifft, habe er auf eigene Vermutungen streng verzichtet. Vgl. Pohlenz, Max, Die thukydideische Frage im Lichte der neueren Forschung (1936), in: ders., Kleine Schriften II, Hildesheim 1965, 294–313 sowie in: Herter, Hans (Hrsg.), Thukydides (WdF XCVIII) Darmstadt 1968, 59–81, hier 66: „Methodisch gilt es natürlich, den Wortlaut des Programms zunächst ausschließlich aus sich zu interpretieren.“ Ähnlich Will, Wolfgang, Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015, 106: „Der Versuch, mit immer komplizierteren Konjekturen den Satz in eine kategoriale Form zu gießen, die auf alle Reden paßt, muss scheitern. Vielleicht hilft hier, zunächst hervorzuheben, daß der RedenSatz einen Anspruch formuliert, den der Autor gegenüber Herodot erhebt.“
Der Deutungsspielraum von Thuk I 22,1–2
203
Aussagen kann und darf man darüber nachdenken, ob Thukydides sein Versprechen wahrgemacht hat oder dahinter zurückgeblieben ist. Eine Schlüsselfunktion für die Erhellung des Gemeinten haben m. E. die Ausdrücke ta déonta und xympasa gnômē.17 Ersteres wird in Übersetzungen und Kommentierungen unterschiedlich wiedergegeben, oft ohne eine Abwägung von Alternativen.18 Die Aussage über einen subjektiven Ermessensspielraum bei der Formulierung der Reden ist vor allem deshalb mehrdeutig, weil man ta déonta verschieden interpretieren kann. Das soll im Folgenden zunächst vor Augen geführt werden. Es bedeutet ja so etwas wie „das Geschuldete“, weshalb man überlegen muss, wem denn etwas „geschuldet“ war.19 In der über Jahrzehnte hin weit verbreiteten Thukydides-Ausgabe von Julius Steup mit den Erklärungen von Johannes Classen20 heißt es übereinstimmend in der Einleitung (S. LII) und in den Anmerkungen zu I 22,1 (S. 77), Thukydides habe, weil wörtlich genaue Erinnerung und Wiedergabe unmöglich waren, „den wesentlichen Inhalt des wirklich Gesprochenen, so genau dieser hat festgestellt werden können, zu Grunde legend, seine Redner über die jeweils vorliegenden Dinge das seiner Ansicht nach Passendste sagen lassen.“
Dieses „seiner Ansicht nach Passende“ ist von vielen Forschern stark hervorgehoben worden – am nachdrücklichsten von Franz Egermann21 in der Bespre-
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Vgl. Kennedy, George, Introduction, in: Ders. (Hrsg), The Speeches in Thucydides, The University of North Carolina Press 1973, IX−XII, hier XII: „The translation of several key words in the Greek text is highly uncertain. The words rendered ‘what was in my opinion demanded of them,’ ta déonta in Greek, might perhaps be better translated ‘the essentials’, recognizing the common Greek view of human nature by which thoughts, actions, and words were predictable in accordance with human probability. Another difficult phrase is that here translated ‘the general sense (gnômês) of what they really said’…” Wille, Günther, Zu Stil und Methode des Thukydides, in: Synusia, Festgabe für Wolfgang Schadewaldt, Pfullingen 1965, 53–77, sowie in: Herter, Hans (Hrsg,), Thukydides (WdF XCVIII) Darmstadt 1968, 683–716, hier S. 715: „So vermißt man auch (sc. bei Thukydides) bei [ta déonta] jede nähere Präzisierung des Gemeinten. Schreibt Thukydides das Erforderliche, um die in der Situation gegebenen Ziele zu erreichen? Oder um die latenten Überlegungen der am aktuellen Geschehen Beteiligten zu enthüllen? Oder um am Beispiel des jeweils Aktuellen zur Vermittlung politischer Einsicht beizutragen? Jede dieser Präzisierungen könnte der Wortlaut decken … Trotzdem sind alle diese empirischen Beobachtungen wenig geeignet, das Prinzipielle an [ta déonta] näher einzufangen.“ Vgl. Greenwood, Emily, Thucydides and the Shaping of History, London 2006, 67: “The perspective from which ta déonta were determined is vague.” In den folgenden Zitaten markiere ich die jeweiligen Wiedergaben von ta déonta durch Kursivdruck. 5. Auflage Berlin 1919. Egermann, Franz, Neue Forschungen zu Thukydides (Methodenkapitel), in: Deutsche Literaturzeitung 58, Heft 37 (12. Sept. 1937) 1471−1509.
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Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung
chung der Monographien von August Großkinsky (1936)22 und Harald Patzer (1937)23 in der Deutschen Literaturzeitung (1937): „Berücksichtigt … man den hypothetischen Charakter des Satzes, so ist zu paraphrasieren: wie sie meiner Meinung nach am ehesten das Erforderliche zum Ausdruck gebracht hätten, d. h. wie sie hätten sprechen müssen, um das Erforderliche zum Ausdruck zu bringen … Das heißt ohne Umschweif: Die Reden hat Th. nach Maßgabe dessen, was nach seiner Einsicht jeweils dem historischen Augenblick zukam, frei komponiert.“
Eine ebenfalls „schwache“ Deutung des tà déonta vertritt Otto Luschnat mit „das Gehörige“.24 Das legt den Gedanken an sprachliche oder sachliche Konventionen nahe (was m. E. eher einem ta préponta entsprechen würde). In einem konkreten Fall ist das nachvollziehbar: Die Rede des Perikles auf die Gefallenen (II 35–46) dürfte viele Topoi oder Phrasen enthalten, die bei solchen Anlässen üblich waren. Auch für die Reden von Feldherren vor einer Schlacht25 gab es je nach Situation passende Muster.26 Die Interpretationen auf dieser Linie tun so, als ob die Wortfolge ta peri tōn aeí paróntōn déonta zugrunde läge. Im vorliegenden Satz über das Wie des Sprechens ist jedoch zwischen Thema (peri …) und Rhema (ta déonta) zu unterscheiden. Eine Variante des ta déonta im Sinne von „das Passende“ setzt voraus, dass Thukydides die jeweiligen Redner als Persönlichkeiten kannte und die Reden so formuliert hat, wie sie sich in der jeweiligen Situation ausgedrückt haben könnten.27 Das wird den Umständen gerecht, in denen zwei verschiedene Redner in derselben Situation nicht dasselbe sagen, sondern ihren jeweiligen Standpunkt vertreten, womöglich in ihrem jeweiligen Stil. Andere Interpreten haben die These vertreten, dass Thukydides aus seiner Kenntnisse vom Verlauf des Krieges eine Vorstellung davon haben konnte, was in der jeweiligen Situation gesagt werden musste. Auf dieser Linie liegt die Übersetzung des Redensatzes durch Egon Martin28: 22 23
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Großkinsky, August, Das Programm des Thukydides, Berlin 1936. Patzer, Harald, Das Problem der Geschichtsschreibung des Thukydides und die thukydideische Frage, Berlin 1937. Vgl. Luschnat, Otto, Art. Thukydides, in: PRE Suppl. XII (1970), 1085–1354, Sp. 1181. Vgl Luschnat, Otto, Die Feldherrenreden im Geschichtswerk des Thukydides, Leipzig 1942. Vgl. die Ausführungen des Brasidas in IV 126 und die (indirekte) Rede des Nikias in VII 69,2 („… sagte noch manches, was in solchem Schicksalsaugenblick Menschen wohl sagen mögen …, Dinge, die so oder ähnlich für jede Lage vorgebracht werden“). Bei Nikias fehlt eine wörtliche Rede, weil es wohl keine Berichte von Überlebenden der Katastrophe im Kampf um Syrakus gab. Vgl. Feddern, Stefan, Thucydides‘ Methodenkapitel in the Light of the Ancient Evidence, in: Liotsakis, Vasoleios and Farrinton, Scott (Ed.), The Art of History. Literary Perspectives on Greek and Roman Historiography, Berlin / Boston 2016, 119–144. Über einen Redestil als Ausdruck des Charakters einer Person äußert sich Aristoteles in seiner Poetik (Kap. 15); dabei geht es aber nicht um Geschichtsschreibung, sondern um die Abfassung von Tragödien. Für das „Notwendige“ verwendet er dabei den Begriff to anankaíon. Martin, Egon, Der peloponnesische Krieg, Hamburg 1963, 27f.
Meinungen zu ta déonta
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„Die verschiedenen Reden … im genauen Wortlaut wiederzugeben, war kaum möglich … Ich gebe sie deshalb so, wie sie der betreffende Redner nach meiner Auffassung unter den jeweiligen Umständen hätte halten müssen, schließe mich aber dabei dem Gedankengang der wirklich gehaltenen Rede so eng wie möglich an.“
Walter Schmid29: „Authentische Wiedergabe der wirklich gehaltenen Reden war dem Thukydides … unmöglich. Daher läßt er die einzelnen Redner so sprechen, wie ihm ‚schien, daß sie wohl über die jeweiligen Gegenstände das Erforderliche am ehesten gesagt haben könnten‘.“30
Der Inhalt der Rede ergibt sich demnach aus einem Ermessensurteil des Thukydides im Rückblick auf die Ereignisse zur Zeit der jeweiligen Rede. Noch größer wird der Anteil des Thukydides an der Formulierung der Reden, wenn Thukydides die Reden angeblich dazu benutzt hat, seine Deutung des ganzen tragischen Konflikts zwischen Athen und Sparta zum Ausdruck zu bringen. Charakteristisch hierfür ist die Meinung von Hans Bogner31: „In seinem (sc. des Thukydides) Buch ist so geredet, wie nach seinem Gutdünken … die einzelnen Redner über die jeweiligen Umstände, die drängenden Entscheidungssituationen, das Erforderliche (das, was zu tun war) gesagt haben mochten. … Hier, wo es um die entscheidende Erhellung des Geschehens in seinen Zusammenhängen geht, wird die Frage, was tatsächlich gesprochen wurde, praktisch bedeutungslos.“
Aber hat Thukydides alle politischen Entscheidungen auf Grund einer Rede als historisch notwendig angesehen? Etwa die Ablehnung eines Friedens mit Sparta in einer für Athen günstigen Kriegslage auf Grund einer Rede des Kleon (IV 21)? Etwa den verhängnisvollen Versuch, Syrakus oder ganz Sizilien dem Machtbereich von Athen einzuverleiben? Und was ist ta déonta in den Fällen, in denen zwei gegensätzliche Positionen in Reden zum Ausdruck kommen? Da hat doch wohl nur eine der beiden Reden das in der Situation Notwendige erfasst!32 Diese Probleme entfallen, wenn ta déonta nicht das aus der Sicht des Thukydides Notwendige meint, sondern Notwendigkeiten aus der Sicht des jeweiligen Redners! Wir hätten dann in etwa zu übersetzen mit „wie die Einzelnen meines Erachtens angesichts der jeweiligen Lage vorgetragen hatten, was notwendig sei“.33 Der Unterschied zwischen dem „Was“ und dem „Wie“ einer politischen 29 30
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Schmid, Walter, Zu Thukydides I 22,1 und 2, in: Philologus 99 (1955) 220–233, 228f. In der Fortsetzung heißt es: „Thukydides bemüht sich, diese Ergänzung – freilich unter grundsätzlichem und ausdrücklichem Verzicht auf den originalen Wortlaut – sachgemäß vorzunehmen: das ‚Erforderliche‘ ist ihm etwas ‚aus der Notwendigkeit der Sache Hervorgehendes‘.“ Bogner, Hans, Thukydides und das Wesen der altgriechischen Geschichtsschreibung, Hamburg 1937, 15. Zu diesem Problem räumt Egermann in einem späteren Artikel ein, „daß jene staatsmännische Fähigkeit selbstverständlich nicht bei jedem der verschiedenen Redner in gleich hohem Grad vorhanden ist.“ Vgl. Egermann, Franz, Thukydides über die Art seiner Reden und über seine Darstellung der Kriegsgeschehnisse, in: Historia 21 (1972,) 575–602, 578. Dazu passt die Umschreibung des alltäglichen Gebrauchs bei Grundmann, Walter, Art. [dei / déon esti], in: ThWNT II (1935) 21−25, hier 21,34f.: „was im jeweiligen Augenblick einem
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Rede kommt prägnant zur Sprache in einer Selbstaussage des Perikles in II 60,5, wo er sich selbst hinstellt als „einen Mann, der keinem nachsteht in der Erkenntnis des Nötigen und in der Fähigkeit, es auszudrücken “ (gnônai te ta déonta kai hermēneúsai taúta). Das gilt für dringliche symbuleutische Reden, die eine politische Entscheidung herbeiführen wollen. Die Anzahl der Belege ist so erheblich, dass ich sie im Folgenden zitieren möchte. Einzuräumen ist lediglich, dass das Notwendige nur selten mit ta déonta bezeichnet, sondern meistens verbal mit chrē bzw. chrênai ausgedrückt wird.34 I 91,7 (Themistokles, Schlusswort) „… es müssten (chrênai) also, sagte er, alle Verbündeten in offenen Städten wohnen oder anerkennen, dass diese Sache in Ordnung sei“. I 120,1–3 Rede von Korinthern an die Spartaner (bis 124) zugunsten des Kriegsplans gegen Athen: „So müssen die Führenden sich in eignen Sachen den andern gleichstellen … Ihr müsst wissen, dass … ihr Mühe haben werdet, eure Ernten hinabzubringen … (chrē gar – eidénai chrē ). „Ihr dürft nicht35 davor zurückschrecken, den Frieden mit Krieg zu vertauschen (mê okneín dei).“ 123,1 über notwendige Kriegsbereitschaft (chrē … ). 139,4 der Krieg sei nötig (chrē polemeín) als eine von zwei entgegengesetzten Meinungen (gnômai) in der Athener Bürgerschaft. 143,5 „Und jetzt müsst ihr (kai nyn chrē) Land und Gebäude preisgeben …“ 140–144 Rede des Perikles: 144,3 “Ihr müsst aber wissen, dass der Krieg unbedingt36 notwendig ist“ (eidénai de chrē hoti anánkē polemeín). II 11 Rede des Archidamos: 11,5 „Auf einem Feldzug muss man (chrē) immer wagemutig eingestellt sein, im Verhalten aber mit Gefahren rechnen.“37 11,6 „… man muss (chrē) durchaus erwarten, dass die Athener den Kampf aufnehmen“. 35–46 Rede des Perikles über die Gefallenen: 43,1: „Die Überlebenden aber dürfen zwar darum beten, dass ihrem Mut gegen die Feinde ein minderes Opfer auferlegt sei, aber sie müssen (chrē ) es für unwürdig halten, dass einer Geringeres wage …“38 44,3 an die Adresse der Eltern Gefallener: „Doch muss man es ertragen“ (kartereín de chrē). 60–64 Rede des Perikles: 64,2 „Tragen muss man (chrē) von Göttern Verhängtes notgedrungen (anankaíōs), das von den Feinden Kommende tapfer“.39 III 9–14: Rede von Gesandten aus Mytilene in Olympia 13 „Umso mehr müsst ihr (chrē) uns als neuen Bundesgenossen in Eile Beistand schicken“
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Menschen oder einer Gruppe von Menschen als notwendig erscheint, was geschehen muß“. Dass es im Redensatz um etwas aus der Sicht des Redners Notwendiges geht, erkennt auch S. Swain, Thucydides I 22 1 and 3 82 4, in: Mnemosyne 46 (1993) 33–45, hier 42, bezieht es aber auf das zu sagen Notwendige, nicht das von anderen zu tun Notwendige. Ich zitiere hier meistens nach der verbreiteten Übersetzung von Georg Peter Landmann, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München 1993. Dass ein Müssen auch durch Verbaladjektive mit der Endung teos, tea, teon ausgedrückt werden konnte (z. B. in I, 79), lasse ich unberücksichtigt. Übersetzung KH. Übersetzung KH. Übersetzung KH. Übersetzung Otto Regenbogen. Übersetzung KH.
Belege für „das Notwendige“ als Ziel der Reden 37–40 Rede des Kleon: 38,1 „So müssen (chrē) denn auch wir handeln, ohne uns durch Wortgewalt und Klugheits-Wettstreit … davon abbringen zu lassen, eure Versammlung zu beraten.“40 42–48 Rede des Diodotos: 46,1 „Also dürfen wir uns nicht (chrē verneint) auf die Todesstrafe verlassen …“41 IV 17–20 Rede von Spartanern in Athen: 17,2: to déon prássein „das Notwendige schaffen“ (mit einer – ausnahmsweise − längeren Rede). 92 Rede des Pagondas: 92,7 „Die Älteren unter uns müssen (chrē) ihren früheren Leistungen ähnlich werden …“42 60,1 Rede des Hermokrates: „Wir müssen erkennen (gnônai chrē), dass es in dieser Versammlung jedem von uns nicht um sich selbst gehen darf …“43 92,7 (Pagondas) Jetzt „müssen es (chrē ) die Älteren unter uns ihren früheren Leistungen gleichtun …“ V 27,2 indirekte Rede der Korinther an die Leute von Argos, nachdem Sparta Frieden mit Athen geschlossen hatte: „nun müsste (chrē ) Argos für die Rettung des Peloponnes sorgen“. 46, 1 Nikias (indirekte Rede): „…müsse man (chrênai) eher die Freundschaft Spartas suchen“. 55,1 Euphamidas (indirekte Rede): „ … es müssten (chrênai) also zuerst … Leute hingehn und die Heere trennen …“ 61,2 (Indirekte Rede von Athenern in Argos) „jetzt … müsste man (chrênai) den Krieg anpacken“. VI 9–14 Rede des Nikias: 9,1 „Die Volksversammlung hier ist zwar wegen unserer Rüstung zusammengetreten, (um zu beraten) mit welchen Anstalten man gegen Sizilien ausfahren soll (chrē). Ich aber halte es für nötig (chrênai), auch eben darüber noch eine Erwägung anzustellen, ob es denn überhaupt auch förderlich ist, die Schiffe auszusenden …“44 10,5 „Dies also muss man (chrē ) bedenken und nicht freiwillig unsre Stadt auf die hohe See wagen, und nicht nach einem neuen Reich greifen, ehe wir unser jetziges gefestigt haben …“ 11,6 „Man soll (chrē ) aber nicht je nach dem Geschick der Feinde übermütig, sondern die eignen Stimmungen bemeisternd mutig sein …“ 20–23: Rede des Nikias: 21,1 „Gegen eine solche Macht braucht es (deí) nicht nur eine Flotte und ein geringes Heer, es muss auch viel Fußvolk mitfahren.“ 22,1 „Gepanzerte müssen (chrênai ) wir also, denk ich, in großer Zahl mitnehmen … 49,1 Lamachos (indirekte Rede) „man müsse (chrênai) geradewegs gegen Syrakus fahren …“ 72,2–5 Indirekte Rede des Hermokrates: 5: „Feldherrn müsse man (chrênai) wählen … 89–92 Rede des Alkibiades: 91,6 „Ihr müsst (chrē ) auch Dekeleia befestigen …“45 VII 11–15: Brief des Nikias nach Athen: 15,1 „Ihr müsst (déon) uns entweder zurückholen, oder ein zweites, ebenso starkes Heer nachsenden.“ 40 41 42 43 44 45
Dto. Dto. Dto. Dto. Übersetzung O. Regenbogen. Übersetzung KH.
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Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung 48: Nikias, indirekte Rede, 6: „Also müsse man (chrênai) die Belagerung in die Länge ziehen und nicht abziehen …“ 61–64 Rede des Nikias: 63,1 „Daran müsst (chrē) ihr denken und im Kampf durchhalten, solange ihr könnt …“ 77: Rede des Nikias: 1 „Auch jetzt noch … müsst ihr (chrē) Hoffnung behalten …“46
Beachtung verdient, dass bei kürzeren Reden (oder kürzeren Zusammenfassungen des Gesagten und bei Zusammenfassungen in indirekter Rede) als Inhalt der Rede wiederholt das Gesagte auf eine Forderung des Notwendigen reduziert ist. Das ist die Hauptsache, die man bei selbst gehörten Reden als wesentlichen Inhalt behalten konnte und die auch durch Berichte von Ohrenzeugen zu erfahren war. In diesen Fällen hat Thukydides darauf verzichtet, auszuformulieren, wie die Betreffenden über die jeweilige Situation gesprochen haben könnten, und sich auf das Was beschränkt. Ein Werturteil des Thukydides über die so formulierte Meinung des Sprechenden ist damit nicht gegeben. Er beschreibt damit nur, dass und wie appellative Reden von Bedeutung für den Fortgang der Geschichte waren. Insofern gehören die Reden auch zu den Handlungen (érga), über die er im Wesentlichen zutreffend berichtet haben will (I 22,2)!47 Wenn nach alledem feststeht, dass Thukydides mit ta déonta die jeweiligen Forderungen der Redner, also etwas inhaltlich Bestimmtes meint, kann die anschließende Beteuerung größtmöglicher Treue gegenüber dem wirklich Gesagten nicht mehr als Inkonsequenz oder unehrliche Schönfärberei abgetan werden. Das wird jedoch von manchen Forschern unter Berufung auf den Begriff der xympasa gnômē in der letzten Zeile in Frage gestellt. Die Vokabel gnômē hat eine erhebliche Bedeutungsbreite, so dass geprüft werden muss, welcher Ausschnitt am besten in den vorliegenden Satz passt.48 Egermann fordert zu Recht, dass auf den Wortgebrauch in politischen Zusammenhängen geachtet werden müsse.49 Er engt das aber ohne überzeugende Begründung dahingehend ein, dass immer die Grundhaltung des jeweiligen Redners gemeint sei und nicht ihre jeweilige Konkretion in wechselnden Situationen.50 Walter Schmid hat mit Recht dagegen eingewandt, dass Thukydides nicht von xympasa gnômē „der Redner“, sondern „des 46 47
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Dto. Vgl. Tsakimatis (s. o. Anm. 13) 273: Speeches are treated as deeds …, the reader assumed that the speeches are included in the notion of [érga] in 1,21,2.” Auf die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks hatte Martin Dibelius, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung (s. o. Anm. 8) 122 hingewiesen. Vgl. F. Egermann (1937) 1478: „[gnômē] und Wörter dieses Stammes bezeichnen in der politischen Sprache auch die Art des politischen Denkens, den politischen Standpunkt, die politische Meinung und Intention.“ Vgl. Dibelius (s. o. Anm. 9) 123: „Thukydides … schreibt Zeitgeschichte, ist also in der Lage, die Tendenzen der Redner zu kennen oder einigermaßen zu rekonstruieren. Und auf dieser Basis kann er nun die Reden nach seinem Gutdünken aufbauen und ausgestalten.“ Vgl. ebd.: „Der Ausdruck betrifft also nicht einen speziellen Redeinhalt, vielmehr die politische Gesamthaltung des Redners, die sich in der Rede offenbarte, die politische Gesamthaltung des Redners und des Geredeten.“ In Sp. 1479 spricht er von der „Idealität ihrer Gesamthaltung“. Ähnlich im Artikel von 1972 (s. o. Anm. 32) auf S. 580 sowie 583.
Belege für gnômē als Ausdruck für Sprechakte (z. B. Voten)
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Gesagten“ spricht.51 Tatsächlich gibt es genug Belege dafür, dass gnômē bei Thukydides (und anderen Autoren) Sprechakte in konkreten Situationen bezeichnen kann:52 I 79 „Da äußerten sich die meisten in der gleichen Richtung: … man müsse den Krieg unverzüglich beginnen (kai tōn men pleónōn epì to autò hai gnômai épheron … polemētéa einai en táchei).“ 87 Abstimmung in Sparta, um die Meinung (tēn gnômēn) über einen Kriegsbeginn gegen Athen zu erkunden. 90,3 „auf Antrag (gnômē) des Themistokles“ 92,1 nach einem Satz mit chrênai (siehe oben!): Gesandte aus Sparta: „Nicht zu verbieten hätten sie ja eigentlich die Boten geschickt, nur um dem Volk von Athen ihren guten Rat zu erteilen (gnômēs parainesei).“ 93,5 „Nach seinem Vorschlag“ (tē ekeínou gnômē). 125,1 Nach einer Versammlung von Verbündeten, in der es darum ging, „ob man mit Athen Krieg führen müsse“ (so in 119 mit chrē!): „Darauf ließen die Spartaner, nach Anhörung aller Meinungen (hapántōn gnômēn), die sämtlichen Verbündeten abstimmen …“ 139,3 „Da brachten die Athener in einer geschlossenen Volksversammlung die ganze Sache zur Beratung (poiêsantes ekklēsían hoi Athēnaioi gnômas sphisín proutíthēsan) … Da traten viele auf zu reden und waren geteilter Meinung (ep amphótera gignomenoi tais gnômais): der Krieg sei nötig (chrē polemeín), und: wenn nur jener Beschluss das Hindernis für den Frieden sei, so solle man ihn aufheben.“ 140,1 Perikles: „An meiner Meinung (tēs men gnômēs), Athener, halte ich unverändert fest, den Peloponnesiern nicht nachzugeben, obwohl ich weiß, dass die Menschen … mit den Wechselfällen auch ihre Meinungen53 (gnômas) ändern.“ 145,1 „Die Athener anerkannten seinen Rat als den besten, erhoben seinen Vorschlag zum Beschluß und antworteten den Spartanern in seinem Sinne (tê ekeinou gnômē) (= gemäß seinem Vorschlag).“ II 36,5 „Die Meinungen gingen hin und her.“ (allai te gnômai aph hekástōn elégonto). 55,2 Perikles „war noch der gleichen Meinung (gnômē) wie beim ersten Einfall (der Spartaner). III 38,1 (nach einem Satz über das was „wir tun müssen“ [chrē]): „Ich nun bin in meiner Auffassung (gnômē) noch derselbe …“. 42,1 „Meinungsstreit“ (diagnômē) über die Bestrafung der Mytilener. (Konträre Reden von Kleon und Diodotos.) III 43,5 …so bestraft ihr einzig und allein den Irrtum des Ratgebers …“ (tên tou peisantos mian gnômēn)54 49,1 „Nach dem Vortrag dieser beiden Meinungen“ (rhētheísōn de tōn gnômōn toútōn) … 61,1 parà gnômēn vermutlich im Sinne von „entgegen der Worterteilung“ (52,4). 67,7 „(Wenn ihr) auf die Hauptpunkte merkt“ (kephalaiôsantes pros tous xympantas ‹tas› diagnōmas“).
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Vgl. oben Anm. 29, S. 228f. Belege für gnômē als Eigenschaft von Personen: 140,5 „Gesinnung“; II 13,2 „Einsicht“ oder besser „Überlegung“; 34,6 „Geist und Ansehen“; 62,4 „Geist“, „Erkenntnis“; 65,1 und 88,2 „ihre Gedanken“; III 10,1 „Unterschiede der Gesinnung“; III 12,1 „gegen das Gefühl“; 37,4 „seinen Geist zu beweisen“. Landmann hier: „Gedanken“. Übersetzung O. Regenbogen.
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Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung IV 58,1 (Versammlung von Vertretern sizilischer Städte) „Vielerlei Meinungen (pollaí gnômai) wurden da vorgebracht …“ 85,4 „Absicht“55 im Unterschied zu érgon (Ausführung der Handlung) VI 47,2 Vorschlag (nicht „Meinung“ wie Landmann)! VII 72,3 „Demosthenes aber wandte sich an Nikias mit dem Vorschlag (gnômēn epoieíto).“ 72,4 „Als aber Nikias diesen Vorschlag (gnômē) annahm …“ VIII 67,1 „Zuerst stellten sie in einer Volksversammlung den Antrag (gnômēn) …“ 67,2 „jeder Athener solle straffrei jeden Antrag (gnômēn) stellen dürfen …“ 68,1 „der diesen Antrag (gnômēn ) stellte, war Peisandros.“ 86,4 gnômās ≈ Vorschläge.56
Fazit: Aus diesen Belegen einerseits für das Reden von einem durch die Redner postulierten „Muss“ und anderseits für den Gebrauch von gnômē für Sprechakte, die eine Entscheidung oder ein Verhalten herbeiführen wollen, ergibt sich: In der zweiten Hälfte des Redensatzes (nach der Klarstellung der Unmöglichkeit wörtlicher Wiedergabe) stellt Thukydides den Regelfall seines Vorgehens so dar, dass er den voluntativen Gehalt von Reden kennen oder erfahren konnte, aber dessen sprachliche Gestaltung (das Wie [hōs] des eipeín) nach seinem Ermessen abgefasst hat. Die weithin angenommene Spannung (oder gar ein Widerspruch) zwischen dem hōs d‘ an edókoun moi … und dem hoti engýtata tēs xympȃsēs gnômēs tōn alēthôs lechthéntōn ist also zu Unrecht in den Text hineingelesen.
Folgerungen für die Reden in der Apostelgeschichte im Ganzen Allzu große Erwartungen sind von vornherein auszuschließen. Warum? Weil die lukanischen Reden kaum symbuleutische Ansprachen im engeren Sinne sind, die eine Versammlung zu einem gemeinsamen Handeln veranlassen wollen. Als Ausnahme kann man die Reden des Petrus und Jakobus in Apg 15 betrachten, weil sie von einem zuvor postulierten ‚Muss‘ (Apg 15,5) abraten. Ein großer Anteil fällt auf die Gattung der Gerichtsrede (sowohl in Szenen vor dem Hohen Rat in Kap. 4–5 und 7 wie auch ab Kap. 23 nach der Verhaftung des Paulus). Die predigtartigen Reden sind zwar inhaltlich herausfordernd, zielen aber nicht auf eine gemeinsame Entscheidung für ein bestimmtes „Muss“. Lukas lässt einen konkreten Aufruf z. T. erst in einem Nachgespräch folgen (so z. B. in Apg 2,37– 39; 13,40f.). Die Wortwahl für das missionarische Reden der urchristlichen Red55 56
Landmann: „Gesinnung“. Aus Belegen bei Xenophon für die Bedeutung „Votum in einer Beratung“ (hier gerichtlich) nenne ich nur die zweimalige Verwendung in diesem Sinne in Anabasis I 6,9.
Fazit: Thukydides kein Vorbild für fiktionale Reden!
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ner (wie euangélion oder kērýssein) hebt den Aspekt der Bekanntmachung einer erfreulichen oder bedeutenden Neuigkeit hervor. Das Ziel, die Zuhörenden vom erstaunlichen Inhalt dieser Bekanntmachung zu überzeugen (genauer: Glauben zu wecken), ist wichtiger als die Handlungen, die sich daraus ergeben. Die Notwendigkeit einer bestimmten Entscheidung (ohne ein Wort für „müssen“) wird vielleicht am stärksten am Ende der Rede des Paulus vor Athener Intellektuellen ausgesprochen (Apg 17,30f): „Darum ruft Gott jetzt alle Menschen überall zum Umdenken auf. Er lässt die Zeiten des Unverstandes auf sich beruhen und hat einen Tag bestimmt, an dem er alle Welt zur Rechenschaft ziehen wird durch einen dazu bestimmten Mann, den er für alle beglaubigt hat, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.“
Der göttliche Befehl zu einem Umdenken bekommt hier seine Dringlichkeit durch die Ankündigung einer von Gott angesetzten Gerichtsverhandlung, in der man sich einmal verantworten muss.57
Ein Echo auf Thukydides in der Apostelgeschichte? Vor dem Hintergrund des Topos ta déonta bei Thukydides ist es bemerkenswert, dass der einzige mögliche Anklang an Thukydides in der Apostelgeschichte ein Ausspruch mit einem dei am Ende der Abschiedsworte des Paulus in Ephesus ist (Apg 20,33–35)58 : „Von keinem (Menschen) habe ich Silber oder Gold oder Gewänder bekommen wollen. Ihr wisst selber, dass diese Hände hier für meinen Bedarf und für meine Begleitung gesorgt haben. Mit alledem habe ich euch vorgeführt, dass man mit solchen Anstrengungen für die Bedürftigen sorgen soll (dei), eingedenk der Worte des Herrn Jesus; denn der hat gesagt: ‚Geben ist seliger als Bekommen‘.“59
Dabei handelt es sich aber nicht um einen Appell zu einer anstehenden Entscheidung, sondern um eine zeitlose ethische Ermahnung.60 Eckhard Plümacher hat darauf hingewiesen, dass die Aufzählung von Gold, Silber oder Kleidung in V. 33 an 57
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Die Rede kehrt damit zu ihrem Anknüpfungspunkt zurück: Ein Altar für einen unbekannten Gott, den Paulus gesehen hatte (V.23), sollte wohl eine Gottheit besänftigen, die noch nicht verehrt wurde und darüber zornig werden könnte (vgl. Ovid, Metamorphosen VII 273ff.; Diogenes Laertius I,10). Vgl. Rothschild, Clare K., Paul in Athens. The Popular Religious Context of Acts 17, Tübingen 2014, 37–49. Die Angeredeten sind Mitchristen in verantwortlichen Positionen („Ältere“). Ermahnungen gehören zum üblichen „Inventar“ von Abschiedsreden. Andere mögliche Übersetzung: „Wer mehr gibt, als er bekommt, ist glücklich zu preisen.“ Genau genommen ist dieser Text entgegen der verbreiteten Bezeichnung als „Abschiedsrede“ überhaupt keine „Rede“ im strengen Sinn (weil ohne Anrede!), sondern eine Zusammenfassung der Anliegen des Paulus in einer Besprechung mit führenden Vertretern der Gemeinden in der Provinz Asia.
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Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung
Thuk. II 97,3f. erinnert.61 Diese Übereinstimmung bis in Details hinein wertet er als Indiz für eine bewusste Anleihe bei Thukydides. Auffällig ist, dass diese Abschiedsrede eigentlich schon mit einem Gebetswunsch in V. 32 einen feierlichen Abschluss bekommen hat. Ich nehme darum an, dass Lukas diese ThukydidesReminiszenz seinem Publikum zuliebe an die Rede angefügt hat.62 Sollte der Verfasser ein Mitarbeiter des Paulus gewesen sein, so hat er mit den Worten „und für meine Begleitung“ auch einen persönlichen Dank einfließen lassen.63 Für ein außenstehendes Publikum trägt er damit zu einem positiven Bild vom Ethos des Paulus bei. Es ist also nicht viel Licht, das aus dem Werk des Atheners auf das Schreiben für Theophilus fällt. Aber der Schatten, der aus dem fiktional gedeuteten Redensatz des Thukydides auf die Reden des lukanischen Werkes fiel, hat die Lukasforschung in die Irre geführt und sollte als Missverständnis zu den Akten gelegt werden. Leider hat die deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert mehrheitlich das Votum eines Kollegen ignoriert, der ein großer Kenner der antiken Literatur war: Georg Heinrici (1844–1915) schrieb in seinem Buch Der litterarische Charakter der neutestamentlichen Schriften (Leipzig 1908) auf S. 96 zur Apostelgeschichte: „Wie steht’s mit den Reden, die der Geschichtserzählung eingefügt sind? Diese werden vielfach als ‚rhetorische Fiktionen‘ kurzer Hand abgetan und für geschichtlich wertlos erklärt. Solche Beurteilung nun zeugt nicht gerade von geschichtlichem Sinn. Wo der Exeget und der Historiker Hand in Hand arbeiten, wird das Urteil anders ausfallen.“
Danach zitiert er den Redensatz des Thukydides und bemerkt dazu (S.97): „Diese Charakteristik darf auch auf die Reden der Apostelgeschichte angewandt werden.“
Abschließend plädiert er „für die Annahme, daß nicht bloß freie Wiedergabe, sondern auch die Erinnerung an wirklich gehaltene Reden … in Ansatz zu bringen ist.“ Dafür spricht vor allem die Vielfalt dieser Reden, die nicht auf die Phantasie des Verfassers zurückzuführen ist, und ihr oft ausgeprägter Bezug auf die jeweilige Situation im Rahmen der erzählten Handlung.64
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Vgl. Plümacher, Eckhard, Eine Thukydidesreminiszenz in der Apostelgeschichte (Apg 20,33–35 – Thuk. II 97,3f.), in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg. von J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004, 127−133. Vgl. in meinem Kommentar Die Apostelgeschichte Stuttgart 2019, 345. Es ist die einzige Stelle, nach der die Berufstätigkeit des Paulus als Zeltmacher nicht nur seiner eigenen Lebenshaltung diente. Ich verweise dazu auf meinen Acta-Kommentar (2019), passim, und auf die Beispiele in Umstrittene Reden (s. o. S. 181–199) sowie auf die leider ungedruckte Dissertation von Hanna Kim, Kerygma und Situation. Eine rhetorische Untersuchung der Reden in der Apostelgeschichte, Wuppertal 2003.
Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen1 1.
Wer schrieb diese Zeilen?
In einer Morgenandacht beim general meeting der Society for New Testament Studies in Straßburg (1996), um die mich Graham Stanton als president gebeten hatte, sagte ich zu dem von mir gewählten Bibeltext Lk 1,1–4 einleitend Folgendes: „Wenn irgendein Autor des Neuen Testaments dafür in Frage käme, an dieser Konferenz persönlich teilzunehmen − als Kollege und nicht als Objekt und Opfer unserer Arbeit − dann ist es der Evangelist Lukas. Er ist kein Augenzeuge des Wirkens Jesu. Er blickt aus einem gewissen Abstand zurück auf die Anfänge der Jesusbewegung. Er weiß sich abhängig von den Berichten anderer, die dabei waren. Aber er ist nicht zufrieden mit diesen schon vorliegenden Berichten. Er hat eigene Forschung getrieben. Er weiß, dass nicht alles, was erzählt wird, zuverlässig ist.“
Von „eigener Forschung“ des Lukas würde ich heute nicht mehr reden. Schuld daran ist ein weithin vergessenes Ceterum censeo von Henry J. Cadbury zur Bedeutung des Verbums parakoloutheín, das David P. Moessner in mehreren Artikeln neu ins Gespräch gebracht hat.2 Cadbury schrieb 19223:
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Die in der hier vorgelegten re-lecture vorgetragenen Vermutungen gehören nicht zu den Prämissen meiner Auslegung der Apostelgeschichte (Stuttgart 2019), sondern erwuchsen aus der mehrmaligen Lektüre meines Kommentars im Zuge der Drucklegung und erneuter Beschäftigung mit Sekundärliteratur. Das „neu“ in der Überschrift meint also einen eigenen neuen Anlauf, aber auch „anders als in den letzten siebzig Jahren üblich“. Das Ergebnis korrigiert Anm. 4 (S. 137) im oben abgedruckten Vortrag zur „Hoffnung Israels“ von 1984. Vgl. Moessner, David P., Josephus: ‚Eyewitnesses‘, ‚Informed Contemporaries,‘ and ‚Unknowing Inquirers‘: Josephus‘ Criteria for Authentic Historiography and the Meaning of PARAKOLOUTHEO, in: NT XXXVIII (1996) 105–122; ders., The Lucan Prologues in the Light of Ancient Narrative Hermeneutics. Parakolouthēkóti and the Credentialed Author, in: Verheyden, Joseph, (Hrsg.), The Unity of Luke-Acts (BETL CXLII) Leuven 1999, 399–417; ders., Luke as Tradent and Hermeneut: ‚As one who has a thoroughly informed familiarity with all the events from the top‘ ([parakolouthēkóti ánōthen pȃsin akribôs]), Luke 1:3), in: NT 58 (2016) 259–300. Vgl. Cadbury, Henry J., Appendix C: Commentary on the preface of Luke, in: Foakes-Jackson, Frederick John, / Lake, Kirsopp, (Hrsg.), The Beginnings of Christianity Part I The Acts of the Apostles, Vol. II: Prolegomena II Criticism, London 1922, 489–510, hier 502. Zu diesem Ceterum censeo vgl. ferner Cadbury, Henry J., The Knowledge Claimed in Luke’s Preface, in: Exp 8,24 (1922) 401–420. Maddox, Robert, The Purpose of Luke-Acts, Göttingen 1982, 4, stellt fest, dass Cadbury’s lexikographische Studie zu parakolouthéô die Bedeutung
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen „There appears to be no warrant for assigning to the word [parakolouthéō] the sense of deliberate investigation, although Luke’s apologists love to modernize it. The writer’s information had (notice the perfect tense) come to him as the events took place; it was not the result of special reading and study.”
Wenige Jahre später wiederholte er diese These in seiner Monographie The Making of Luke-Acts4: “It is an idea congenial to modern scholars that Luke here is representing himself as a man of research. He has ‘traced the course of events.’ But whatever the meanings possible here to [parakolouthēkóti] ‘research,’ ‘investigation’ or ‘inquiry’ is not a probable one. What I have said above or shall add presently is against the theory that Luke’s work entailed much that might be called Erforschung.”
Diese in kürzeren Studien vertretene Auffassung hat Cadbury im Alter noch einmal bekräftigt5: „The verb is used, and especially in the perfect tense, of a person who, having followed the occurrences, is thereafter equipped with information not acquired belatedly but available at the times of the occurrences themselves and thus accessible without special investigation or review.”6
Moessner kommt in einer erneuten differenzierten Sichtung von Belegen zu dem Ergebnis, dass das Perfekt von parakoloutheín in Lk 1,3 jedenfalls nicht auf ein Quellenstudium verweist, sondern eine eigene nähere Vertrautheit mit den Ereignissen meint, die Lukas für sich in Anspruch nimmt.7 Die verbreitete Einord-
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„to keep informed about current events” oder “to participate in them” erwiesen hat und nie widerlegt wurde. London 1927, 345. Vgl. Cadbury, Henry J. ‚We‘ and ‚I‘ passages in Luke-Acts, in: NTS 3 (1956–1957) 128–132, hier 130; vgl. S. 131: „Can anyone adduce from Hellenistic literature an example of [parakolouthéô] meaning ‚investigate‘?“ Haenchen, Ernst, Die Apostelgeschichte. Neu übersetzt und erklärt,7. Aufl. 1977, 127, hatte gegen Cadbury eingewandt: „Diese Bedeutung kann [parakoloutheín] hier jedoch nicht besitzen wegen der Verbindung mit [akribôs]: Ich kann mich genau informieren, aber nicht genau an der Mission teilnehmen.“ Haenchen gibt hier Cadbury falsch wieder; dem ging es um Wahrnehmung aus der Nähe, die (wie bei Josephus, s. u.) nicht nur auf aktiver Beteiligung beruhen musste. Im Übrigen: Muss [akribôs] nicht zum vorangehenden Verb gehören und nicht zum folgenden (gráphein)? (Vgl. Josephus, Ant 18,104.182) Vgl. Moessner 2016, S. 300: (Luke) “claims ‘experienced familiarity with’ und ‘informed competence’ in relation to ‘all the events’ of his two-volume work”. Leider gibt auch Moessner an einer Stelle (S. 263) Cadburys Auffassung überspitzt wieder (“Cadbury went too far in aligning [parakolouthéō] with physical ‘eyewitness’ presence.”), um sie anschließend zu relativieren. Auch Alexander, Loveday, The preface to Luke’s Gospel. Literary convention and social context in Luke 1.1–4 and Acts 1.1, Cambridge 1993, S. 128–130 und 134, verengt Cadburys Deutung dieser Vokabel zu Unrecht auf eine aktive Beteiligung an den Ereignissen (was für das Evangelium fernliegt!). Das würde auch für Josephus, auf den Cadbury sich beruft, nur begrenzt zutreffen. Als kollaborierender Gefangener der Römer, konnte der aber ständig aktuelle Nachrichten über das Kriegsgeschehen erhalten.
Ein ceterum censeo von Henry J. Cadbury – ignoriert und wiederentdeckt
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nung in eine „dritte Generation“ der nachösterlichen Jesusbewegung ist ihm zufolge jedenfalls nicht mehr zu halten.8 Wie konnte das entschiedene Votum von Cadbury in der neutestamentlichen Wissenschaft weithin ignoriert werden oder in Vergessenheit geraten? Moessner macht die 5. Auflage des Bauerschen Wörterbuchs von 1958 und dessen erweiterte Übersetzung durch F. W. Gingrich und F. W. Danker (1979) für diese Entwicklung verantwortlich.9 Die eigentliche Ursache dieses blinden Flecks liegt jedoch in wenigen Zeilen aus der Feder Gerhard Kittels in seinem Artikel [parakolouthéō] in Bd I des von ihm herausgegebenen Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament (1933, S.216). Walter Bauer hat sie fast wörtlich übernommen. Als „eigentliche“ Bedeutung des Verbs notierte Kittel unter Hinweis auf Mk 16,17 „neben (par-) etwas hergehen, begleiten“, als „erste Übertragung“ sodann „einer Sache (forschend) nachgehen, Lk 1,3“ und als „zweite Übertragung“ „eine Sache nicht aus dem Sinn lassen, sich konzentrieren …, der so erfaßten Lehre folgen, 1 Tm 4,6; 2Tm 3,10…“.10 Die Belege, die Kittel für seinen Übersetzungsvorschlag zu Lk 1,3 anführt, sind; Polyb III 32,2; Jos Ap I,53 und 1,218 sowie Vit 357. Polybios III 32,3 trägt nichts zu Lk 1,3 bei: Er handelt nicht vom parakoloutheín des Verfassers eines Geschichtswerks, sondern vom Verstehen der Zusammenhänge bei dessen Leserschaft11. Brauchbare Vergleichsstellen zu Lk 1,3 (wo mit „pâsin“ die prágmata aus V. 1 gemeint sein dürften) sind nur Ap I,53 und 8
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Vgl. Moessner 2016, 298: „By virtue of the perfect participle [parēkolouthēkôs] in the opening proemion Luke can neither be labeled a ‘third’ or ‘later’ generation tradent and hermeneut of the tradition nor a second generation ‘attendant’ or ‘servant of the word’.” Ähnlich 1996, 105–122, hier 122: „Josephus cannot be invoked to support the interpretation that through [parakolouthéō] Luke claims to have ‘gone back over’ everything carefully and thereby indirectly also profiles himself as a ‘third generation’ Christian.” Karl Heinrich Rengstorf konnte in seinem Kommentar Das Evangelium nach Lukas übersetzt und erklärt (Göttingen 1937) dem Prolog noch entnehmen, dass der Verfasser ein Christ der zweiten Generation war (vgl. S. 5 und 8); es wäre reizvoll, herauszufinden, wann und durch wen die „Verschiebung“ in die dritte Generation erfolgte. Vgl. Moessner 2016, 290. Dass „begleitende Wunder“ (Mk 16,17) auch schon eine metaphorische Redeweise ist, kam Kittel nicht in den Sinn. Ähnliches gilt von Josephus Ap I 218, wo Josephus einigen antiken Schriftstellern zugutehält, dass sie einfach nicht in der Lage waren, die jüdischen Schriften zu verstehen. Dass Lukas seinen Lesern nur eine Verdeutlichung der Schriften der polloí von V. 1 verspricht, um etwaige Missverständnisse zu beheben, ist ein absurder Gedanke; dazu hätte er Lesefehler mit dem Wortlaut des Missverstandenen konfrontieren müssen. Aber spricht V.1 überhaupt von „Werken“? Die Vokabel diêgēsis steht normalerweise für begrenzte Erzählstücke innerhalb eines Werkes oder einer Rede (hier: die narratio, vgl. Platon, Phaedr 266e) oder für den Vorgang des Erzählens. Nicht umsonst wird eine Theorie über das synoptische Problem, die von gesammelten Einzelberichten ausgeht, seit Adolf Jülicher als „Diegesentheorie“ bezeichnet.11 V.1 spricht von einer „Berichterstattung“ und nicht von „Werken“! Auch in zahlreichen von Moessner zitierten und geprüften Belegen geht es nur zum Teil um die Wahrnehmung von Ereignissen (vgl. pragmata), zum anderen Teil um die Vertrautheit mit Lehren oder Texten.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Vit 357. In Ap I,53 schreibt Josephus in der Auseinandersetzung mit Kritikern und Konkurrenten seiner Darstellung des jüdischen Aufstands im Bellum Judaicum in Thackerays Übersetzung: „It is the duty of one who promises to present his readers with actual facts first to obtain an exact knowledge of them himself, either through having been in close touch with the events, or by inquiry from those who knew them.“12
In Vit 357 wirft er dem Justus von Tiberias, der auch ein Werk über den vergeblichen Aufstand der Juden geschrieben hatte, vor: „Ich kann nicht umhin, mich über deine Unverschämtheit zu wundern, dass du zu sagen wagst, du habest einen besseren Bericht gegeben als alle, die diesen Stoff dargestellt haben, wo du doch von den Ereignissen in Galiläa nichts wissen konntest – du warst ja damals in Berytus bei dem König − und weder mitbekommen konntest (parakolouthêsas) wie es den Römern bei der Belagerung Jotapatas erging, noch wie sie mit uns verfuhren …“13
Das sind zwei Belege, die eindeutig für die Meinung von Cadbury sprechen14, – dessen Beitrag in The Beginnings of Christianity (1922) Kittel in einer Anmerkung erwähnt, wobei er sich aber innerhalb der Bedeutungsbreite des Verbums stillschweigend gegen Cadbury entscheidet. Generationen von Benutzern des ThWNT werden den Eindruck gehabt haben, dass Kittel sich auf Cadbury beruft und dessen wichtigste Belegstellen zitiert! Diese Josephus-Belege erhellen die persönlichen Voraussetzungen, die auch der auctor ad Theophilum für sein Werk beansprucht: räumliche und zeitliche Nähe zu den Ereignissen, die zum Teil auf Augenzeugenschaft beruhen konnte.15 Auf dieser Linie liegen auch die Belege bei Demosthenes (18 [Über den Kranz] 172), der sich darauf beruft, die Politik des makedonischen Königs aufmerksam verfolgt (und darum die Athener vor diesem
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Heinrich Clementz, in: Flavius Josephus. Kleinere Schriften (Wiesbaden 1993), übersetzt: „Man sollte doch wissen, dass, wer anderen eine Darstellung tatsächlicher Begebenheiten … verspricht, zuvor selbst genaue Kenntnis davon erlangt haben muss, entweder dadurch, dass er mit dabei gewesen ist, oder dadurch, dass er sie von Augenzeugen vernommen hat.“ Moessner (2016) S. 284, übersetzt den Schluss leider abschwächend mit „either by having an informed familiarity with the things that happened or by inquiring from those who were in the know about them“. Übersetzung nach Siegert, Folker und Schreckenberg, Heinz sowie Vogel, Manuel, Flavius Josephus. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001, 135. In Ap 1,49 schreibt Josephus über die Zeit während der Belagerung Jerusalems: „In dieser Zeit entging kein Ereignis meiner Kenntnis. Ich führte Buch über alles, was vor meinen Augen im römischen Lager passierte, und war der Einzige, der die Aussagen von Überläufern verstehen konnte.“ (Josephus fungierte als Dolmetscher.) Vgl. Schlatter, Adolf, Das Evangelium des Lukas, aus seinen Quellen erklärt, Stuttgart 1931, S. 25 zu diesen beiden Josephus-Stellen: „J. dachte bei [parakoloutheín] an die eigene Gegenwart bei den Ereignissen.“. Letzteres ist der Eindruck, den die sogenannten „Wir-Stücke“ erzeugen, vor allem durch die Erwähnung von Gedanken oder Gefühlen bei den an der Handlung beteiligten Personen (z. B. in Apg 16,10 und 21,12.14).
Josephus-Belege zur Übersetzung von Lk 1,3
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gewarnt) zu haben16, sowie ebenda 19,257 (von der Beobachtung krimineller Machenschaften).17 Gegen dieses Verständnis von Lk 1,3 spricht scheinbar, dass wir es doch mit einem Prolog zum Lukas-Evangelium zu tun haben, dessen Inhalt der Verfasser nach V. 2 der Überlieferung durch Augenzeugen und Diener des Wortes verdankt! Hierzu müssen wir aber bedenken, dass es sich um einen Prolog zum lukanischen Gesamtwerk handelt: Lk 1,2 könnte sich auf den Inhalt des Evangeliums beziehen, V. 3 aber auf den der Apostelgeschichte.18 Der Anfang der Apostelgeschichte ist ja kein neues Vorwort, sondern verweist durch die bloße Anrede des Theophilus (ohne erneute Anspielung auf Vorkennnisse) auf Lk 1,1–4. Dazu hatte Cadbury geschrieben: „[Lk 1,1–4] is the real preface to Acts as well as to the Gospel, written by the author when he contemplated not merely one but both volumes. Possibly it was written when the second volume was completed, and therefore applies more especially to that which had more recently been in his thought.”19
Diese Möglichkeit einer Abfassung des Prologs für das ansonsten schon fertige zweiteilige Werk verdient festgehalten zu werden. V.2 bescheinigt mit kathôs dem Tun der „vielen“ aus V.1 keineswegs Gleichwertigkeit oder inhaltliche Übereinstimmung mit den Überlieferungen der Au16
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Der Satz lautet in Demosthenes. Selected Speeches. Translated by Robin Waterfield. With Introduction and Notes by Chris Carey, Oxford 2014, 104–105: “But apparently that moment, that day, was calling for a man who was not only patriotic and rich but had also followed the course of events from the start and understood Philip’s motives and intentions.” I. I. du Plessis, Once more: The Purpose of Luke’s Prologue, in: NT XVI (1974) 259–271, hier 267, übersetzt mit “one who from the beginning was in close touch with the events.” Vgl. Waterfield, ebd. 194: “I, the person who has always been best placed to gain the most precise knowledge of his unscrupulous ways.” Eine scharfe Trennung ist nicht zwingend V.2 könnte sich auch auf die Anfänge der nachösterlichen Jesusbewegung beziehen, die Lukas vielleicht nicht aus der Nähe miterlebt hatte. So in Commentary on the Preface (s. o. Anm. 3), 492. Vertreter einer Abfassung der Apg vor dem LkEv könnten den Prolog als das ursprüngliche Vorwort nur zur Apg (oder einer Vorstufe der Apg) betrachten. Zu dahingehenden Vorschlägen äußern sich kritisch Fuller, Reginald H., The New Testament in Current Studies, London 1963, 103; A. J. B. Higgins, The Preface to Luke and the Kerygma in Acts, in: Gasque, W. Ward / Martin, Ralph P. [Ed.], Apostolic History and the Gospel. Biblical and Historical Essays to F. F. Bruce on his 60th Birthday, Exeter 1970, 78–91, hier 78–79. Vgl. Schmid, Josef, Das Evangelium nach Lukas übersetzt und erklärt, 3. von neuem umgearbeitete Auflage, Regensburg 1955, 29f.: „(D)er Prolog des Evangeliums ist … als Vorwort zum Gesamtwerk des Lukas zu verstehen. Das Vorwort zur Apostelgeschichte … dient lediglich als Über-/gang und Bindeglied zwischen den beiden Teilen des Werkes.“ Entschieden, aber mich nicht überzeugend wird diese Meinung abgelehnt von Michael Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 60, und Heinz Schürmann, Das Lukasevangelium, Erster Teil (Kommentar zu Kap. 1,1 – 9,50, 2. Aufl. Freiburg etc. 1982, S.4. Aber kann man die „Ereignisse … unter uns“ auf den Inhalt des Evangeliums begrenzen, indem man mit Schürmann (S.8) zwischen dem Wir von V.1 und dem Wir von V.2 einen Unterschied behauptet?
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
genzeugen und Diener des Wortes. Das „Ebenso“ wird völlig überfrachtet, wenn Rudolf Pesch dazu schreibt: „Die Vorgänger des Lukas, die es unternahmen, einen schriftlichen Bericht abzufassen, haben dies bereits auf der Basis der apostolischen Überlieferung getan.“20 So versteht es auch François Bovon21, räumt dabei jedoch ein: „[Kathôs]steht da, wo man eher [kathá], vermuten sollte.“22 Für die Vermutung einer ungeschickten Wortwahl besteht jedoch kein Anlass. Das kathôs bezieht sich am sinnvollsten auf die unmittelbar davor erwähnten Ereignisse und unterstreicht deren Historizität mit dem Hinweis darauf, dass es für diese Ereignisse Augenzeugenberichte gab.23 Das will wohl sagen: Da ist tatsächlich Einiges24 passiert – aber wir sind darüber am besten informiert! Die Wortwahl epecheírēsan muss zwar – für sich genommen – keine Kritik andeuten, könnte aber die Erzählungen der polloí als bloße Versuche niedrig hängen.25 Nur die Augenzeugen können eigentlich „aus berufenem Munde“ etwas Verlässliches berichten und haben uns das tatsächlich weitergegeben. Zu Unrecht wird dabei weithin als selbstverständlich angenommen, dass Lukas dabei nur an das Wirken Jesu denkt. Mindestens ebenso nahe liegt es, dass es in V. 2 auch um Ereignisse in der nachösterlichen Jesusbewegung geht, für deren Frühzeit er sich auf Augenzeugen beruft, deren mündliche Erzählungen er verwendet.26 Das „auch ich” von V.3 verweist auf die „vielen“ von V.1 und handelt weiterhin von den „unter uns“ stattgefundenen Ereignissen (auf die sich das pȃsin in diesem Satz bezieht). Die eigene Kompetenz des Verfassers zur Berichterstattung beruht nach V.2 darauf, dass er ein Empfänger (hēmîn!) der Überlieferung von Augenzeugen ist, und nach V. 3 auf seiner Nähe zu den Ereignissen, was (wie 20
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Vgl. Pesch, Rudolf, Die Apostelgeschichte, I. Teilband Apg 1–2 (EKK V/I), Zürich etc. / Neukirchen-Vluyn 1986, 31; ähnlich Michael Wolter, a. a. O., 63. Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas. Kapitel 1–10, Gütersloh 1977, 38 schreibt: „Bezog sich V. 1 auf die Vorläufer des Schriftstellers Lukas, so ist nun von deren Vorgängern bzw. Tradenten die Rede.“ Wenn das gemeint wäre, müsste das dritte Wort des Satzes ein „ihnen“ sein und nicht das vorliegende „uns“! Vgl. Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1989, 30: „… so wie sie uns überliefert haben …“. Ebd. S. 31. In anderen Worten: Das kathôs parédōsan usw. bezieht sich auf tôn peplērophorēménōn usw. und nicht auf die Tätigkeit der polloi. Das für Ereignisse seltene Partizip peplērophorēménōn soll wohl deren Bedeutung oder Gewissheit unterstreichen. Vgl. Ferone, Claudio, Der Prolog des Lukasevangeliums (1,1–4) und die griechische Geschichtsschreibung, in: Gymnasium 109 (2002) 323–329, hier 326: „Die [prágmata peplērophorēména] sind also Dinge, die wirklich geschehen sind und von deren Realität man voll überzeugt ist.“ Vgl. Bovon (s. o. Anm. 21) 33: „Lukas beginnt mit dem Hinweis auf Vorläufer (V 1), die Art und Weise jedoch, wie er sie erwähnt, zeigt, daß er ihnen zugleich mehr oder weniger widerspricht.“ Es könnte sein, dass die herkömmliche Lektüre und Auslegung des Lukasprologs zu einseitig auf das Evangelium fixiert war und dabei von Fragestellungen der Synoptikerforschung beeinflusst war bzw. Lk 1,1–4 als „Beleg“ für deren Hypothesen ansah.
Ein Übersetzungsvorschlag zu Lk 1,1–4
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bei Josephus) auch persönliche Anwesenheit einschließen kann.27 In diesem Sinne schlage ich die folgende Übersetzung von Lk 1,1–4 vor: „Schon viele haben (wiederholt?28) eine Berichterstattung über die (zahlreichen?29) Taten versucht, die unter uns vollbracht30 wurden, wie uns die ursprünglichen Augenzeugen und späteren Diener des Wortes überliefert haben. Darum habe auch ich, der ich schon lange alles aus der Nähe mitverfolgt hatte, den Entschluss gefasst, Ihnen, erhabener Theophilus, im Folgenden Genau(eres) zu schreiben, damit Sie erkennen können, was an den Berichten, die Sie bekommen haben, gesicherte Wahrheit ist.“31
Das rückt den Verfasser der Apostelgeschichte viel näher an die erzählte Geschichte heran, als heute meistens angenommen wird.32 Auf den von der kirchlichen Tradition als Verfasser angenommenen Lukas würde das gut passen; aber diese Frage möchte ich hier bewusst offenlassen.33 Was den Schreiber der Texte in Wirform betrifft, verdient die Sonderlesart des Codex Bezae in Apg 11,28 Beachtung: Der in den „Wir-Stücken“ implizierte Erzähler wird hier im Jahr 44 n. Chr. (vor dem Tod Agrippas I.) als Gemeindeglied im syrischen Antiochia lokali-
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Vgl. Cadbury, Henry J. (s. o. Anm. 5) 131: “The section of his writing to which [parēkolouthēkóti] applies is therefore Acts as a whole or its later part.” (Hervorhebung KH) Das könnte mit der Vorsilbe ana- gemeint sein. Die Angabe zu anatássō bei Pape („N. T. [diégesin] nach sorgfältiger Prüfung erzählen“ lässt Lukas seinen Vorgängern ein Kompliment machen: ein allzu schwacher Anreiz zur Abfassung und Lektüre seiner Schrift. Das könnte der Beiklang der seltenen Wortwahl plērophoréō sein. An eine „Erfüllung“ von Weissagungen ist hier ebenso wenig zu denken wie im Falle des plēróō in Apg 19,21 (und Röm 15,19). Ich beziehe das akribôs auf „schreiben“ wie bei Dionysios von Halikarnassos, Ant I 6,2 über einzelne römische Geschichtsschreiber: „Jeder von ihnen beschrieb aufgrund seiner eigenen Erfahrung (empeiría) eingehend (akribôs) diejenigen Ereignisse, bei denen er zugegen war …“ (so zitiert von Thornton, Claus-Jürgen, Der Zeuge des Zeugen: Lukas als Historiker der Paulusreisen, Tübingen 1991, 156). Die Spannweite der Vorschläge reicht von den 60er Jahren des 1. Jh. bis weit in das 2. Jh. n. Chr. (Ich selbst war in Vorlesungen über die Apostelgeschichte von der Regierungszeit Domitians ausgegangen.) Zwei neuere Stimmen dazu: Backhaus, Knut, Zur Datierung der Apostelgeschichte. Ein Ordnungsversuch im chronologischen Chaos, in: ZNW 108,2 (2017) 212–258 (hier 257: „Die Standarddatierung [sc. spätes 1. Jh.] ist überraschend schwach fundiert.“), sowie Keener, Craig S., Acts. An Exegetical Commentary, 4 Bde., Grand Rapids 2012–2015, Bd. 1, 401: „All such dating … is at best educated guesswork, given the inadequacy of our data …, a first-century date, at least, should be regarded as secure.” Für die Annahme, dass Paulus zur Abfassungszeit der Apg noch lebt, plädiert u. a. Alexander Mittelstaedt, Lukas als Historiker. Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes, Tübingen 2006, 219–221. Unter anderem ist umstritten, ob in theologischer Hinsicht Kenntnisse oder Gemeinsamkeiten mit der Theologie des Paulus vorliegen, wie sie bei einem zeitweiligen Mitarbeiter des Paulus (vgl. Phlm 24) erwartet werden müssen. Man sollte die Latte nicht zu hoch legen; denn „Mitarbeiter“ bedeutet − damals wie heute – nicht unbedingt „Schüler“! Beachtung verdient zu dieser Frage die Arbeit von Daniel A. Gleich, Die lukanischen Paulusreden. Ein sprachlicher und inhaltlicher Vergleich zwischen dem paulinischen Redestoff in Apg 9–28 und dem Corpus Paulinum, Leipzig 2021.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
siert.34 (In den sonstigen griechischen Handschriften taucht die Wirform erst ab Apg 16,10 auf.35) Er könnte darum zu den Hellenisten gehört haben, die nach dem Martyrium des Stephanus aus Jerusalem nach Antiochia geflohen waren (vgl. Apg 11,19).
2.
Wer wird hier angesprochen?
In meinen Vorlesungen über die Apostelgeschichte hatte ich die Auffassung von Martin Dibelius geteilt, dass das lukanische Werk den Bereich der „Kleinliteratur“ verlässt und sich auch an ein Publikum außerhalb der Bewegung richtet, von der es erzählt.36 Ich habe das auch in der Einleitung zu meinem Kommentar beibehalten und nicht nur aus Gründen gendergerechter Sprache vom „Publikum“ des Lukas37 gesprochen. Als Indiz dafür habe ich wie Dibelius auf die Widmung des Werkes an eine offenbar hochstehende Persönlichkeit verwiesen. Die Widmung eines Buches war in der Antike kein bloßes Signal persönlicher Verbundenheit oder Dankbarkeit mit einer nahestehenden Person, sondern so etwas wie ein Antrag auf Förderung des Werkes in den Augen der Öffentlichkeit.38 Dass Lukas in der Apostelgeschichte (mehr als im Evangelium) ein gebildetes Publikum anspricht, legt sich auf Grund sprachlicher und inhaltlicher Merkmale seiner Schriftstellerei nahe.39 Dazu passt das sprachliche Niveau, das er gebilde-
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Die Bedeutung dieser Lesart erhöht sich, wenn die Jerusalemreise von Barnabas und Paulus nach Apg 11,30/12,25 mit der Reise nach Apg 15,2ff. identisch ist; zu dieser Theorie vgl. oben S. 64–66 im Beitrag „Schicksalsjahr 44 n. Chr.“. Vgl. Bultmann, Rudolf, Zur Frage nach den Quellen der Apostelgeschichte, in: New Testament Essays. Studies in Memory of T. W. Manson, Manchester 1959, 68–80, hier 77, bzw. in: Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 412–423, hier 421f.: „Ich wundere mich, daß Haenchen über die Lesart des ‚westlichen‘ Textes in 11,28 so schnell hinweggeht. Sie scheint mir zu den wenigen ursprünglichen Lesarten von / D zu gehören; denn die Einbringung des ‚Wir‘ scheint mir als spätere redaktionelle Arbeit nicht verständlich zu sein.“ Die Erwähnung der Gefühle oder Gedanken der Beteiligten hat Parallelen an anderen Stellen der Wir-Stücke (vgl. Apg 16,10; 21,14; 27,20). Vgl. Dibelius, Martin, Der erste christliche Historiker (1948), in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte, hrsg. von Heinrich Greeven, 4. Aufl. 1961, 108–119, hier 118. Ich spreche dort und auch hier von „Lukas“, ohne damit eine These zur Verfasserschaft aufzustellen. Livius und Vergil profitierten von Empfehlungen durch Augustus; vgl. Fantham, Elaine, Literarisches Leben im antiken Rom, Stuttgart 1998, 92. Josephus behauptet in Vit 363f., dass Titus als Kaiser dessen Bellum Judaicum mit seiner eigenen Signatur verbreiten ließ und dass Agrippa II. zweiundsechzig Empfehlungsbriefe für dieses Werk verschickt habe. Vgl. Frhr. von Soden, Hermann, Urchristliche Literaturgeschichte, Berlin 1905, 107f.: „… sicher ist, daß die Vorrede Lk. 1 1–4 dem ganzen Werk, also auch diesem zweiten Teil gilt. Denn die dort gegebene Bezeichnung der Gewährsmänner weist unverkennbar auf beides
Kein Wort über das Thema des Werkes!
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ten Personen der Handlung in den Mund legt.40 Paulus unterstellt in Apg 26,26 dem König Agrippa II. Kenntnisse über das Schicksal Jesu, weil diese Geschichte „nicht im Winkel“ geschehen ist. (Sicher teilte Lukas diese Meinung.) Dass Agrippa in seiner Antwort in V. 28 von sich aus den Begriff christianós gebraucht, bestätigt diese Kenntnisse.41 Die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,22– 31) macht immerhin einen Teil der Intellektuellen verschiedener Couleur, die sich die Botschaft des Paulus interessierten (vgl. V. 32) neugierig auf mehr, und soll wohl auch als Lektüre beeindrucken. Aber ein Manko des vorliegenden Prologs hat meines Wissens bisher zu wenig Beachtung gefunden: Er enthält keine − zur Lektüre reizende − Ankündigung des Themas dieses Werkes!42 Nach Dionysios von Halikarnassos und Lukian sollte ein Geschichtsschreiber seinem Publikum möglichst gleich zu Anfang zu verstehen geben, dass das Werk von einem bedeutenden Thema handelt.43 Der
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hin, ‚die Augenzeugen‘ auf das Leben Jesu und ‚die Diener des Worts‘ auf die Gemeindegründungen. Dann dürfen wir die Andeutungen jener Vorrede über des Verfassers Zweck auch für das literarische Verständnis der Apostelgeschichte als Schlüssel benützen. Darnach soll aus dieser … Darstellung dessen, was sich unter den Christen vollzogen hat, der gebildete Mann der damaligen Welt in die Lage versetzt werden, die Verläßlichkeit / dessen, worüber er sich unterrichten läßt, zu ermessen. Wie wir sehen, denkt sich der Verfasser, durch seine Widmung an den erlauchten Theophilus es andeutend, als Leser höhere der christlichen Bewegung unkundig, aber wohlwollend gegenüberstehende Staatsbeamte, die Veranlassung haben, sich über Ursprünge und Ziele der neuen Erscheinung zu unterrichten.“ Zum Beispiel durch den Gebrauch des Optativs (z. B. in Apg 8,31; 28,29), der im Alltagsgriechisch des 1. Jh. n. Chr. nur noch selten vorkam. Vgl. Cadbury, The Making … (s. o. bei Anm. 4), 220 (“If the style is the man, then the man with whom we have to do is for his time and station a gentleman of ability and breadth of interest …”) und 224 (“As Acts progresses the style becomes prevailingly more secular and perhaps reaches its climax in the speech of Paul before Agrippa, where in grammar alone Professor Blass noted half a dozen quite classical idioms unusual in the New Testament.”). Vgl. Apg 11,26. Vgl. Cancik, Hubert, The History of Culture, Religion, and Institutions in Ancient Historiography: Philological Observations Concerning Luke’s History, in: JBL 116/4 (1997) 673– 695, hier 675: “Strikingly, the theme of the work is characterized by the most general of all possible expressions: Luke will write about ‘deeds’ (prágmata), and contemporary ones (en hēmín).” Ähnlich Loveday C. Alexander, The preface to Acts and the historians, in: Ben Witherington III (Hrsg.), History, Literature, and Society in the Book of Acts, Cambridge 1996, 73–103, 73: “The beginning of a text has a special place in the orientation process which forms an inevitable part of any reader’s approach to a new book. In the ancient world, where a book had neither dust-jacket nor publisher’s blurb, the opening of a book … was particularly important. It was frequently used to identify the subject of a text which followed, sometimes the author or a particular readership.” Ähnlich Alexander, Loveday (s. o. Anm. 7) 113: “”This is certainly not the way a Greek historian would have depicted his subject-matter.” und S. 126: “Luke does not appear to avail himself of the opportunity which naturally arises here to tell us more about his subject matter: his [grápsai] has no direct object.” Vgl. van Unnik, Willem C., Luke’s Second Book and the Rules of Hellenistic Historiography,
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Hinweis auf die „unter uns“ vollzogenen Taten enthält kein Stichwort, das in diesem Sinne „zünden“ konnte. Als ein Stück christlicher Literatur war es allenfalls für Insider an der Wortverbindung „Diener des Wortes“ in V. 2 erkennbar.44 Das nicht näher bestimmte „wir“ in V.1 und V.2 setzt ein Wissen voraus, das den Verfasser und sein Publikum (oder wenigstens den Theophilus) verbindet. Sogar die literarisch weniger anspruchsvollen Evangelien nach Matthäus und Markus beginnen mit einem Stichwort über Jesus Christus als ihr Thema! Thukydides45 und Flavius Josephus46 haben den jeweils von ihnen monographisch behandelten Krieg als den größten hingestellt und damit ein Publikum angelockt. Vor dem Hintergrund dieser verbreiteten Konvention antiker Geschichtswerke halte ich es jetzt für ausgeschlossen, dass dieser Prolog in seiner vorliegenden Fassung für ein breiteres Lese-Publikum verfasst wurde. Wer interessiert sich denn für irgendwelche „pragmata“, die in einer nicht näher bestimmten Gruppierung erlebt oder vollbracht wurden?! Diese Überlegungen berühren sich mit der Frage, ob die Anrede an Theophilus in Lk 1,3 (und kürzer in Apg 1) überhaupt eine für die Öffentlichkeit bestimmte Widmung ist. Loveday Alexander und Michael Wolter haben darauf hingewiesen, dass antike Geschichtswerke normalerweise keine Widmung in Form einer direkten Anrede enthalten.47 Das in V.3 vorliegende gráphein mit Dativ der Person ist Briefstil!48 Auch der im Ganzen fiktionale Diognetbrief beginnt mit einer durch krátiste verstärkten Anrede (kehrt allerdings im Unterschied zur Apostelgeschichte wiederholt zur Anredeform zurück). Die Anspielung auf Vorkenntnisse in Verbindung mit der Ankündigung ausführlicher genauerer Berichterstattung
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in: Kremer, Jacob (Hrsg.), Les Actes des Apôtres. Traditions, redaction, théologie, Leuven 1979, 37–60, hier 48–49. Van Unnik findet nur in der seltsamen Rede von „erfüllten“ Handlungen in Lk 1,1 eine Andeutung in dieser Richtung. Eine überzeugende Erklärung dieser Wortwahl steht m. W. noch aus. Allgemeinsprachlich wäre „Wortführer“ näherliegend (vgl. Apg 14,12). Vgl. Thuk I,1, Vgl. Bell I,1.4 und Ant 1,2; ferner Herodot, Vorbemerkung; Polybios I,1; Livius, Praefatio 1;Tacitus, Historien I,2. Vgl. Alexander, Loveday, The preface to Acts and the historians (s. o. Anm. 42), 77: „(T)he conventions employed in the Gospel preface do not accord with the common classification of Luke‘s work with the Greco-Roman historiography: the scope and scale are wrong, dedication is not normally found in historical writings, the customary topics for historical prefaces do not appear …”; ähnlich auf S. 85f. Wolter (s. o. Anm. 19) 59: „Die Widmung des Werkes an einen individuellen Leser ist innerhalb der griechischen Historiographie unüblich …; sie findet sich bei keinem der großen Historiker, und sie fehlt auch bei Sallust, Livius und den historiographischen Werken des Tacitus.“ Bezeichnender Weise erwähnt Josephus in Ant 1,8 einen Epaphroditos als Anreger und Förderer seines Geschichtswerkes in der 3. Person, während er ihn in seiner Apologie Contra Apionem (einer Abhandlung!) in 1,1 persönlich anredet. In seiner Apologie (I, 1–3) redet auch Josephus den Empfänger (Epaphroditos) mit krátiste an und verspricht ihm Belehrung in Auseinandersetzung mit anderen Darstellungen.
Anklänge an Briefstil
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erinnert an den Anfang des (fiktionalen) Briefs des Aristeas an seinen Bruder Philokrates.49 Häufig wird vermutet, dass „Theophilus“ hier nicht der Name eines konkreten Menschen ist, sondern ein „idealer“ Leser für das lukanische Doppelwerk gemeint ist. Dieser Name bedeutet ja „Gottesfreund“, was entweder auf eine religiöse Einstellung anspielt oder den Betreffenden nur als von Gott geliebt und bevorzugt hinstellt.50 Aber gegen die Vermutung einer pauschalen captatio benevolentiae für den impliziten Leser spricht die Anrede mit „kratiste“, die einen hohen gesellschaftlichen Rang des Angesprochenen nahe legt.51 Peter M. Head hat allerdings darauf hingewiesen, dass aus Papyrusbelegen eine weitere Verbreitung dieser Anrede hervorgeht.52 Die lukanischen Parallelen mit dieser Anrede betreffen aber alle einen römischen Statthalter (vgl. Apg 23,26; 24,3; 26,25), was für eine engere Bedeutung auch in Lk 1,3 spricht. Das häufigste lateinische Äquivalent zu dieser Anrede war clarissime.53 Für einen beliebigen „geneigten Leser“ greift das zu hoch. Es liegt also nahe, an eine historische Person im Gesichtskreis des Lukas zu denken. Könnte seine Schrift an eine vielleicht einflussreiche Persönlichkeit adressiert sein, die nach Lk 1,1.4 schon Einiges über die Jesusbewegung gehört hatte?54 Dazu würde passen, dass Lukas auch innerhalb der Apostelgeschichte ge-
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Vgl. EpArist 1–2. Letzteres ist gemeint, wenn Abraham als „Freund Gottes“ bezeichnet wird (Jak 2,23); vgl. Stählin, Gustav, Art. [phílos] ec. in: ThWNT IX (1973) 144–169, hier 165–167, zur „Freundschaft“ zwischen Gott und Menschen bei Philon von Alexandrien ebd. 156 Vgl. Metzner, Rainer, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, Göttingen 2008, 196: „Kratistos wurde als Titulatur für offizielle Beamte, v. a. für Angehörige des Senatoren- oder Ritterstandes benutzt (lat. egregius oder vir clarissimus).“ Vgl. Head, Peter M., Papyrological Perspectives on Luke’s Predecessors, in: The New Testament in its First Century Setting, ed. P. J. Williams, Andrew D. Clarke, Peter M. Head, David Instone-Brewer, Grand Rapids / Cambridge 2004, 30–45, hier 34: “… it is not possible to deduce the precise social standing of Theophilus”; vgl. Weiß, Alexander, Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordo-Angehörigen unter den frühen Christen, Berlin 2015, 105. Vgl. Magie,David, De Romanorum iuris publici sacrique vocabulis sollemnibus in graecum sermonem conversis, Leipzig 1905, 31: Als Äquivalent von clarissimus „Vocabulum ad senatoriam dignitatem indicandam saepe additum; S. 112; als Äquivalent von egregius für Statthalter (epítropos); Martin Hengel, Der Lukasprolog und seine Augenzeugen: Die Apostel, Petrus und die Frauen, in: Memory in the Bible and Antiquity. The Fifth Durham-Tübingen Research Symposium, ed. Stephen C. Barton, Loren T. Stuckenbruck, Benjamin G. Wold, Tübingen 2007, 195–242, hier 196 Anm. 8: Auch „egregius vir“ kommt als Äquivalent in Frage. Vgl. Hengel a. a. O., hier 197 zum zweifachen Proömium: „Lk schreibt es, im Gegensatz zu den anderen Evangelien, nicht direkt für die christlichen Gemeinden, sondern zunächst einmal für Theophilos.“ L. Alexander (s. o. Anm. 42) 187: „At the surface level, the text is a personal communication to a named individual.” Statt “at the surface level” würde ich “primär” vorziehen.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
sellschaftlich hochstehende Persönlichkeiten in Begegnungen mit Paulus auftreten lässt: die Statthalter Sergius Paulus (Apg 13), Gallio (Apg 18), Antonius Felix (23,26; 24,3), Porcius Festus (25,6) sowie den König Agrippa II. und seine ebenfalls königliche Schwester Berenike (Apg 25–26). Von Sergius Paulus wird sogar berichtet, dass er durch die Mission von Barnabas und Paulus zum Glauben kam (vgl. Apg 13,7.8.12).55
3.
Was wusste Theophilus von der Jesusbewegung und was verspricht Lukas ihm?
Beachtung verdient, was Theodor Zahn über die Anrede des Theophilus mit krátiste schrieb: „Die Anrede … zeigt nicht nur, daß Theoph. ein Mann höheren Standes war …, sondern auch, daß er zu jener Zeit kein Glied der christlichen Gemeinde war; denn es ist in der christlichen Literatur der zwei ersten Jahrhunderte unerhört, daß ein Christ den Mitchristen mit einem weltlichen Titel und vollends mit einem so hohen … angeredet habe.“56
Aus der Wortwahl katēcheín in V.4 wird zwar oft herausgehört, das es sich um einen Taufbewerber oder Sympathisanten der Jesusbewegung handelt; im Neuen Testament ist dieses Verbum jedoch noch nicht dahingehend eingeengt.57 In 1 Kor 14,19 geht es um einen lehrreichen Beitrag im Gottesdienst. In Apg 18,25; 55
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57
Das muss nicht bedeuten, dass er sich einer örtlichen Gemeinde angeschlossen hätte, was mit Rücksicht auf seine berufliche Rolle unwahrscheinlich ist. Vgl. Judge, Edwin E., Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft. Die Sozialstruktur christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert, Wuppertal 1964, 51: „Im Gebiet des östlichen Mittelmeeres war es selbstverständlich, daß Mitglieder der römischen Aristokratie sich nicht einer lokalen kultischen Vereinigung anschlossen.“ Vgl. Zahn, Theodor, Einleitung in das Neue Testament, dritte vielfach berichtigte und vervollständigte Auflage Bd. 2, Leipzig 1907, 365f. Vgl. Wiefel, Wolfgang, Das Evangelium nach Lukas, Berlin 1988, 41: „Auf ein formelles Katechumenat kann es sich nicht beziehen, da [katēcheín] als Terminus für die Unterweisung der Katechumenen erst 1. Clem 17,1 begegnet und Lukas diese Form der Taufvorbereitung noch nicht kennt.“ Bovon (s. o. Anm. 21) 41: „Wie in Apg 21,21.24 liegt das Gewicht wohl auf der profanen Bedeutung ‚erfahren‘.“ Dillon, Richard J., Previewing Luke’s Project from His Prologue (Luke 1:1–4), in: CBQ 43 (1981) 205–227, geht jedoch von der „kirchlichen“ Deutung von katēchéō aus und übersetzt (S. 223) mit: „so that you might come to appreciate the certainty of the instruction you have received.” Zum Schluss von V. 4 schreibt er (S. 224): „Let us take a closer look at the phraseology of v. 4 where [aspháleia] takes its place as the prologue’s emphatic final word. We note … that this security is to affect ‘the words you have been taught’ rather than the facts or events. Not that [lógoi] could not have the latter meaning in biblical speech, but it happens to be this author’s specific designation of the kerygma of salvation …” Dillon übersieht hier, dass nur der Singular von lógos bei Lukas diese Bedeutung hat!
Vorkenntnisse des Theophilus?
225
Röm 2,18 und Gal 6,6 liegt der Gedanke an religiöse Weiterbildung nahe. Der Wortschatz des Prologs enthält jedoch keine eindeutig religiöse Vokabel, die auf ein „Vorwissen“ des Theophilus über den Inhalt des christlichen Glaubens anspielen könnte. Darum liegt die nichtreligiöse Verwendung des Verbums katēcheín in Apg 21,21.24 als Hinweis auf das in Lk 1,4 Gemeinte näher.58 Dort steht die Vokabel für äußerst bedenkliche Gerüchte über Paulus, die in Judäa von Gegnern seiner Missionsarbeit verbreitet wurden und die dortigen Glaubensgenossen alarmiert hatten. Wenn Lukas den Theophilus auf ein „Hörensagen“ von der Jesusbewegung anspricht59 und gleichzeitig gesicherte Erkenntnisse verspricht, dann dürfte er – mindestens unter anderem – Richtigstellungen gegenüber abfälligen oder gar gefährlichen Gerüchten im Sinne haben.60 Das kann sich durchaus auf Erzählungen der polloí aus V. 1 beziehen; denn Loveday Alexander stellt zutreffend fest: „Luke never says that his predecessors had produced written documents.“61 In diesem Zusammenhang verdient Beachtung, dass die Vokabel epicheiréō aus V. 1 in Papyrusbelegen häufig in juristischen Zusammenhängen für bedenkliche Aktivitäten gebraucht wird.62 Auch die Vokabel diêgēsis (V.1) findet sich 58
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Josephus zitiert in Vita 399 einen Brief Agrippas II. an ihn, in dem dieser ihm anbietet, ihm bei Gelegenheit Einiges noch Unbekanntes zu erzählen (katēchêsō). Vgl. I. I. du Plessis, Once more: The Purpose of Luke’s Prologue (Lk I 1–4), in: NT 16,4 (1974) 259–271, 269f. zum Verweis auf Apg 21,21.24: „This is not a decisive argument but it does give us reason to interpret this word in a very neutral way indicating information.” Das Verbum hängt etymologisch mit ēchê bzw. ēchô (Schall) zusammen. Vgl. van Unnik, Willem Cornelis, Once More St Luke’s Prologue, in: Essays on the Gospel of Luke and Acts, Potchefstroom 1973, 7–26, hier 18: “Theophilus had received his information by [lógoi], by hearsay and this means that an element of uncertainty was connected with it.” Vgl. Cadbury, Making (s. o. bei Anm. 4), 315: „it is quite probable that Luke’s avowed purpose so far as his preface expresses it … is to correct misinformation about Christianity rather than … to confirm the historical basis of Theophilus’s religious faith.“ − Otto Bauernfeind zu Beginn der Einleitung zu seiner geplanten Neubearbeitung seines Acta-Kommentars in: Bauernfeind, Otto, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte mit einer Einleitung von Martin Hengel, hrsg. von Metelmann, Volker, Tübingen 1980, 283: „Der Wunsch, der christlichen Gemeinde zu dienen, liegt dem Verfasser im Blut, er ist ihm selbstverständlich; mit diesem Wunsch allein kann aber der Zweck der Apostelgeschichte nicht hinreichend beschrieben werden. Es sollen vielmehr zugleich falsche Vorstellungen berichtigt werden.“ Auch Jakob Jervell, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998, 524f., bringt Apg 21,21 mit Lk 1,4 in Verbindung. Vgl. in The preface to Luke’s Gospel (s. o. Anm. 7) 115 und 136. G. Schneider (s. o. Anm. 20) 40: “Nicht auszuschließen ist, daß er dabei auch jene Polloi-Berichte im Sinne hatte, die er in V 1 erwähnte.“ Das Verbum anatássō in Lk 1,1 könnte allerdings in Verbindung mit dem Singular diêgēsis auf eine Liste anspielen. Vgl. P. M. Head (s. o. Anm. 52) 36: “The term occurs 82 times in the documentary papyri (according to the Duke Data Bank), from the third century BC to the sixth century AD. Many of these occurrences, including those chronologically closest to Luke, relate to actions that the writer regards negatively, for example in petitions which spell out a legal charge against someone.”
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
nach P. M. Head häufig in Papyrusdokumenten für die Darstellung umstrittener Vorgänge.63 Lukas selbst verwendet epicheiréō nur mit negativer Konnotation: in Apg 9,29 für Attentatspläne gegen Paulus und in Apg 19,13 für einen misslungenen Exorzismus unter Missbrauch des Namens Jesu. Das letzte (und damit syntaktisch hervorgehobene64) Wort des Prologs (aspháleia) berührt sich mit dem Adjektiv asphalês in Apg 21,34; 22,30: 25,26 für Ziel und Anspruch laufender Ermittlungen gegen Paulus. Das legt die Vermutung nahe, dass mit „Theophilus“ eine Person angesprochen ist, die schon gewisse Kenntnisse über den „Fall Paulus“ besitzt, aber unzureichende und womöglich unzutreffende.65 Der Verfasser des Prologs setzt bei Theophilus ein Interesse an gewissen pragmata voraus und verspricht eine zuverlässige Berichterstattung. Das passt zu einer Korrespondenz oder mindestens dem Versuch einer Korrespondenz.66
4.
Ein mögliches historisches Szenario
Im letzten Kapitel der Apostelgeschichte ist von einem in sozialer Hinsicht gehobenen Personenkreis die Rede, der gewisse, aber nach eigener Aussage nur schwache Kenntnisse über die Jesusbewegung besitzt, besonders Nachrichten über lokale Konflikte. Soziale Konflikte, egal welchen Inhalts, waren für römische 63 64
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Vgl. Head (a. a. O.) 42–43. Vgl. Spicq, Ceslas, Notes de lexicographie néo-testamentaire, Fribourg 1978, 75; Dillon, Richard J., Previewing Luke’s Project from His Prologue (Luke 1:1–4), in: CBQ 43 (1981) 205–227, hier 224: “[aspháleia] takes its place as the prologue’s emphatic final word.” Vgl. van Unnik, Willem Cornelis, Remarks on the Purpose of Luke’s Historical Writing, in: ders., Sparsa collecta. The Collected Essays of W. C. van Unnik, Leiden 1973, 6–15, hier 14: “Also in Acts xxi, 34, xxii 30 and xxv 26 where [to asphalés] is used, the word counterbalances and compensates for all kinds of conflicting statements and doubts as that which alone is completely dependable.” Das gilt auch für die Verwendung von asphalôs in Apg 2,36, wonach die Erhöhung Jesu durch Gott die Kreuzigung Jesu als einen Justizmord erweist, der öffentlich angeprangert werden soll. Vgl. Callan, Terrance, The Preface of LukeActs and Historiography, in: NTS 31 (1985) 576–581, 580: “Since the preface of Luke-Acts mentions predecessors and then goes on to say that the present account was written to provide assurance of the truth, at least mild criticism of those predecessors seems implied … We might … recall Cadbury’s thesis that Luke-Acts was written to correct Theophilus’ misinformations about Christianity.” Beachtung verdienen hier die Bemerkungen von Loveday Alexander, Fact, Fiction and the Genre of Acts, in: NTS 44 (1998) 380–399, hier 397: „Historians used words like akribeia and autopsia, it is true – but all of Luke’s buzzwords can be paralleled across a much wider spectrum of Greek writing on technical subjects which values fidelity and accuracy in the transmission of ancient tradition as much as first-hand experience. The language of the preface is business-like rather than academic: pragmata and asphaleia are paralleled most closely in official letters and reports …”
Licht auf Lk 1,1–4 aus Apg 28?
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Behörden ein Reizwort, das zur Kriminalisierung der Urheber führen konnte. In der Anklage vor dem Statthalter Antonius Felix legen die Gegner des Paulus nach Apg 27,5 tatsächlich diese Trumpfkarte auf den Tisch. Dieser Vorwurf dürfte in den Gerichtsakten protokolliert gewesen sein.67 Nach Apg 28,17 ergreift Paulus sofort nach seiner Ankunft in Rom die Initiative, um die jüdischen Gemeinden in Rom über den gegen ihn laufenden Prozess zu informieren. Es ist damit zu rechnen, dass Abgesandte aus Jerusalem anreisen, um Paulus vor dem Kaiser anzuklagen, an den Paulus nach Apg 25,10f. aus Notwehr appelliert hatte. Auf Letzteres scheint Paulus in V.17 und 19 Wert zu legen. Warum? Der von Paulus natürlich erhoffte Freispruch könnte − wegen der zu Unrecht geforderten Todesstrafe − zu einer drastischen Bestrafung seiner Ankläger führen.68 Bei römischen Gerichtsverhandlungen war in der Regel ein Publikum anwesend, das für oder gegen den Angeklagten Stimmung machen konnte. Bei einem Prozess vor dem obersten Gericht des Reiches kamen dafür nur Zuhörer gehobenen Standes, v. a. Beamte in Spitzenpositionen in Frage. Vielleicht versucht Paulus aus diesem Grunde, angesehene Mitglieder der jüdischen Gemeinden von Rom für seine Person und Sache zu gewinnen.69 Die Leute, mit denen Paulus sofort nach seiner Ankunft in Rom Kontakt aufnimmt, werden in Apg 28,17 als die „Ersten“ dieser jüdischen Einwohner Roms bezeichnet. Das ist eine Aussage über ihren gesellschaftlichen Status, die wohl das römische Bürgerrecht und ein hohes Ansehen in der stadtrömischen Gesellschaft voraussetzt. Um ein ständiges Gremium zur Vertretung jüdischer Interessen handelt es sich nicht.70
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Wenn diese Akten dem für Paulus zuständigen Centurio mitgegeben worden wären, dürften sie allerdings beim Schiffbruch vor Malta verloren gegangen sein. Das könnte neben Anderem ein Grund für die lange Verzögerung des Prozesses in Rom gewesen sein (vgl. Apg 28,30). Sicherer war und wahrscheinlicher ist die Übermittlung auf dem Landweg in Verbindung mit anderer amtlicher Korrespondenz. In der römischen Strafjustiz gab es keinen Staatsanwalt, der im Namen des Staates Anklage erhob, sondern nur private Ankläger aus eigenen Interessen – und auf eigenes Risiko! Vor allem Anklagen, die auf eine Todesstrafe zielten, konnten für die Ankläger lebensgefährlich sein. Vgl. Keener (s. o. Anm. 32) Bd. 4, 3732: “Paul’s meeting with Jewish leaders could serve his case legally. Given the strength of the Jewish community in Rome and their political clout (attested in the period particularly when Poppaea Sabina was Nero’s mistress), their support could help him if they would give it.” Vgl. Rapske, Brian, The Book of Acts and Paul in Roman Custody, Grand Rapids / Carlisle 1994, 330f. Vgl. Brown, Raymond, The Beginnings of Christianity in Rome, in: R. E. Brown / J. P. Meier (Ed.), Antioch and Rome. New Testament Cradles of Catholic Christianity, New York 1983, 92–127, hier 101: “Unlike the Jews in Antioch and Alexandria, the Roman Jews seemingly had no centralized control. … But the Jews of Rome, attending some dozen different synagogues, had no single spokesman or overall ruling body.”
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(Ein „Erster“ der Insel Malta beherbergt die Gruppe um Paulus nach Apg 28,7 und wird als begütert und spendabel geschildert.71 Auch in Mk 10,31 Parr. bezieht sich das Wort über die „Ersten“ und die „Letzten“ auf den vorher erwähnten reichen Mann (nur nach Mt ein reicher Jüngling, nach Lk 18,18 ein árchōn ≈ „führender Mann“). In Mk 10,44 par. Mt 20,27 bezieht sich die Wendung „ein Erster sein wollen“ auf den Wunsch von Jakobus und Johannes, im messianischen Reich die Plätze links und rechts neben dem Thron Jesu zu erhalten. Josephus (Ant 18,64) bezeichnet die Mitglieder des Hohen Rates, die Jesus vor Pilatus anklagten, als „die Ersten“ seines Volkes. In Ant 20,125.132.135 sind hoi prôtoi die politischen Repräsentanten der Samaritaner (125. 132) oder der Juden (135) in Zusammenhang mit einem römischen Prozess. In Ant 20,194 wird eine Jerusalemer Delegation, die in einer Streitfrage zum Kaiser Nero geschickt wurde, als „die zehn prôtoi“ bezeichnet.72) Die jüdischen Honoratioren, die einer Einladung des Paulus gefolgt sind, wissen noch nichts über den Prozess gegen Paulus, sind aber nach V. 22 an näheren Informationen über die Jesusbewegung interessiert, weil sie schon gehört haben, dass diese „überall umstritten“ ist.73 Zu einem verabredeten Termin erscheinen sie in größerer Anzahl zu einer ganztägigen Unterredung mit Paulus (V. 23–28). Das Versprechen des Lukas, dem Theophilus anstelle des Hörensagens Gesichertes oder Fehlerfreies mitzuteilen, ähnelt dieser Gesprächslage.74 71
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Vgl. Suhl, Alfred, Zum Titel [prôtos tēs nêsou] (Erster der Insel) Apg 28,7, in: BZ NF 36 (1992) 220–226. Ein ständiges Gremium mit dieser Personenzahl ist für die damalige Verfassung des Judentums nicht belegt. Auch in Rom gab es wohl kein derartiges Gremium; vgl. Tajra, Harry W., The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles, Tübingen 1989, 183: “The Jews of Rome were not grouped into a single community and did not form a [políteuma] in the strict sense of the word.” Walters, James C., Ethnic Issues in Paul’s Letter to the Romans. Changing Self-Definitions in Earliest Roman Christianity, Valley Forge PA 1993, 54: “The Jews of Rome had no official representation before city officials comparable to what one finds in Alexandria. No inscription from the Jewish catacombs honors a deceased person with a title reflecting any position of importance within the city of Rome during a period of time spanning over three hundred years.” Einen gewissen Bekanntheitsgrad der Jesusgeschichte soll nach Apg 26,26 Paulus bei Agrippa II. vorausgesetzt haben. Nach Zahn, Theodor, Einleitung (s. o. Anm. 56) 390 besteht im Lichte von Apg 21,21.24 kein Grund, den Schluss von Lk 1,4 „anders zu verstehen als von einer Kunde, einem Gerücht, das einem zu Ohren gekommen ist“. Vgl. Cadbury (s. o. bei Anm. 4) 315: „We shall have to admit …, that several of the words in the address to Theophilus do permit, and when compared with the latter part of Acts positively possess, the connotation of apologia, and that the close of Acts itself is filled with that mood. It is quite probable that Luke’ avowed purpose so far as his preface expresses it …, is to correct misinformation about Christianity rather than, as is often supposed, to confirm the historical basis of Theophilus’s religious faith.” − Ein vergleichbares Schreiben zur Richtigstellung einer irreführenden Propaganda liegt in Apg 15,23–29 vor; vgl. Moles, John, Luke’s Preface: The Greek Decree, Classical Historiography and Christian Redefinitions, in: NTS 57,4 (2011) 461–482, hier 465.
Hoffnung auf einen Fürsprecher für Paulus?
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Nach Apg 28,24 war ein Teil dieser höher gestellten stadtrömischen Juden von den Ausführungen des Paulus am Ende positiv beeindruckt.75 Von diesen Sympathisanten könnte der Vorschlag ausgegangen sein, einen einflussreichen Fürsprecher für Paulus zu gewinnen.76 Die Rolle von Fürsprechern am Kaiserhof erwähnt Josephus unter anderem aus Anlass eines Rechtsstreites zwischen Samaritanern und Juden um die Schuld an einem Blutvergießen, wobei Cumanus auf der Seite der Samaritaner stand. In Bell 2,245 lesen wir, dass bei der Verhandlung vor Claudius „viele von den Mächtigen“ (polloí tōn dynatôn) auf der Seite des Cumanus standen, auf der Seite der Juden dagegen der junge Agrippa II., dessen Fürsprache letztlich Erfolg hatte.77 Beispiele für den erfolgreichen Einfluss von Fürsprechern auf Nero (in zeitlicher Nähe zum Prozess des Paulus) überliefert Josephus in Ant 20, 182 (Pallas), 183 (Burrus?) und 195 (Poppäa). Wenn die bei Paulus Versammelten schon gehört hatten, dass die Jesusbewegung „überall“ auf Gegenwind stößt, so erinnert das an die „vielen“, die nach 75
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Von Bendemann, Reinhard, Paulus und Israel in der Apostelgeschichte des Lukas, in: Ja und nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels. Festschrift zum 70. Geburtstag von Wolfgang Schrage, hrsg. von Klaus Wengst und Gerhard Saß in Zusammenarbeit mit Katja Kriener und Rainer Stuhlmann, Neukirchen-Vluyn 1998, 291–303, hebt mit Recht die Ambivalenz der jüdischen Reaktionen auf die Ausführungen des Paulus hervor. Vgl. Keener (s. o. Anm. 32) 3750: “The summary in 28:24 is less negative than many earlier summaries emphasizing Jewish unbelief.”. Moessner, David P., ‘Completed End(s)ings of Historical Narrative’: Diodorus Siculus and the End(ing) of Acts, in: Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung. Festschrift für Eckhard Plümacher zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Cilliers Breytenbach und Jens Schröter unter Mitwirkung von David S. du Toit, David S., Leiden 2004, 193–221, 219 zu Apg 28,24f.: „The outraged reaction is absent. Instead of some Jews taking umbrage at Paul’s words, the Jews agree harmoniously to be ‘disharmonious’ … No opposition is expressed directly against Paul.”. - Hauser, Hermann, Strukturen der Abschlußerzählung der Apostelgeschichte (Apg 28,16–31), Rom 1979, 64–66 und Tannehill, Robert C., The Narrative Unity of Luke-Acts. A Literary Interpretation, Vol. 2, The Acts of the Apostles, Minneapolis 1990, 347 deuten das Imperfekt epeíthonto im Sinne eines noch unabgeschlossenen Prozesses. Vgl. Tajra (s. o. Anm. 72) 183: „We thus gain the overall image of the Jewish communities in Rome as being well-organized, fairly large, enjoying the protection of the State, and having – in spite of occasional difficulties – a history of good relations with successive Emperors and a consequent influence in their court.” Für Loveday Alexander, What if Luke had never met Theophilus?, in: Biblical Interpretation 8 (2000) 161–170, 166 könnte Theophilus “a prominent and amenable representative of the Jewish community in Rome to which Luke has Paul make his last impassioned plea for a hearing in Acts 28” gewesen sein. In Ant 20,135 präzisiert Josephus dahingehend, dass der junge Agrippa II. zuvor die KaiserGattin Agrippina dafür gewann, den Claudius zu einer gründlichen Untersuchung des Falles zu veranlassen. Aus der Regierungszeit des Nero erwähnt Josephus die Rolle der Poppaea als erfolgreiche Fürsprecherin; vgl. Ant 20,195; Vita 16. Eine Anklage gegen Antonius Felix seitens jüdischer Bürger von Caesarea am Meer scheiterte dank der Fürsprache seines mächtigen Bruders Pallas; einen weiteren Fürsprecher hatten die Gegner der Juden durch Bestechung auf ihre Seite gezogen; vgl. Ant 182–184. Vgl. Paul McKechnie, Judaean Embassies and Cases before Roman Emperors, AD 44–66, in: JThS NS 56 (2005) 339–361.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Lk 1,1 von gewissen Ereignissen „unter uns“ berichtet haben.78 V.1 und V.4 des Lukas-Prologs und Apg 28,17ff. bilden damit eine gelungene literarische Inclusio! Nach V.24 war am Ende ein Teil dieser angesehenen Juden von den Ausführungen des Paulus positiv beeindruckt.79 Von diesen Sympathisanten könnte der Vorschlag ausgegangen sein, einen einflussreichen Fürsprecher für Paulus zu gewinnen.80 Dabei kann man offenlassen, ob an einen Verteidiger im Rahmen des Prozesses gedacht war oder an eine Petition mit dem Ziel, den Prozess gegen Paulus endlich abzuschließen oder einzustellen.81
5.
Bedenken gegen die Adressierung an einen römischen Fürsprecher
Gegen diese Überlegungen spricht die kritische Rückfrage, ob die Apostelgeschichte für einen einflussreichen römischen Bürger überhaupt verständlich war!82 Das Werk ist ja gesättigt mit biblischer Sondersprache und Verweisen auf 78
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Vgl. L. Alexander (s. o. Anm. 42) zu Lk 1,4, S. 136: „Luke has not so far given his readers any very precise idea as to what his book is about, and we might have expected some information here.” S. 137: “Theophilus above all, we must presume, knows what to expect; he has already received some kind of information about all this.” Vgl. Keener (s. o. Anm. 32) 3750: “The summary in 28:24 is less negative than many earlier summaries emphasizing Jewish unbelief. David P. Moessner, ‘Completed End(s)ings of Historical Narrative’: Diodorus Siculus and the End(ing) of Acts, in: Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung. Festschrift für Eckhard Plümacher zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Cilliers Breytenbach und Jens Schröter unter Mitwirkung von David S. du Toit, Leiden 2004, 193–221, 219 zu Apg 28,24f.: „The outraged reaction is absent. Instead of some Jews taking umbrage at Paul’s words, the Jews agree harmoniously to be ‘disharmonious’ … No opposition is expressed directly against Paul.” Zu Unrecht liest Tajra (s. o. Anm. 72), 190, in den Text hinein: “Almost the totality of them rejected the Gospel” und “Paul accuses all of them of obstinacy – without exception.” Nicht nur das Zahlenverhältnis ist unzutreffend, sondern auch die Deutung des Jesajawortes, das von „euren Vorfahren“ handelt und als Warnung vor deren Nachahmung zitiert wird Vgl. Tajra (s. o. Anm. 72) 183: „We thus gain the overall image of the Jewish communities in Rome as being well-organized, fairly large, enjoying the protection of the State, and having – in spite of occasional difficulties – a history of good relations with successive Emperors and a consequent influence in their court.” Ähnlich Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B. C. – A. D. 135), A New English Version Revised, hrsg. Von Geza Vermes, Fergus Millar und Martin Goodman, Edinburgh 1987, Vol. III, Part I, 78: “From as early as the reign of Augustus, there was no lack of direct relations between them (sc. the Jews of Rome) and the imperial court.” Nach Sueton, Claudius XV,2 konnte das Fernbleiben der Ankläger zu einem Freispruch des Angeklagten führen. Vgl. Schneider (s. o. Anm. 20) 102: „Der ganze Schlußteil des Buches (Apg 21–28) ist der Verteidigung des Paulus gewidmet. Er besitzt … mindestens den gleichen Rang wie die
Voraussetzungen auf Seiten eines Fürsprechers
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das Alte Testament, besonders in den Reden! Nicht umsonst wird in den gängigen Einleitungen ins Neue Testament aus sprachlichen Gründen meistens angenommen, dass Lukas ein mehr oder weniger christliches Publikum anspricht.83 Für die Rolle eines einigermaßen „bibelfesten“ Fürsprechers für Paulus kommt darum nur eine Person jüdischer Herkunft in Frage, die vielleicht in den Ritterstand aufgestiegen war und (womöglich auch aus anderen Gründen) für eine Fürsprache beim Kaiser oder für einen Auftritt als Zeuge vor dem Kaisergericht in Frage kam.84 Ein solcher Römer jüdischer Abstammung hätte mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass Paulus sich nach Lukas wiederholt und nachdrücklich zur nationalen Hoffnung des jüdischen Volkes bekennt (vgl. Apg23,6; 24,15f.; 26,6f.; 28,20)85 und die Schuld an seinem Konflikt mit der Jerusalemer Führung energisch von sich weist (vgl. Apg 28, 17–19). Die „Adressierung“ der Apostelgeschichte (oder einer kürzeren Vorstufe der Apostelgeschichte!) an einen in Rom prominenten Beamten jüdischer Herkunft könnte erklären, warum der Jerusalemer Konflikt um Paulus und der anschließende Prozess gegen ihn so breiten Raum einnehmen. Auch die Berichte über vorangegangene Anfeindungen und böswillige Anklagen gegen Paulus (vgl. Apg 16,16–40; 17, 5–9; 18,12–17; 19,23–39) informieren ausführlich darüber, warum und wie „diese Sekte überall auf Widerspruch stößt“ (Apg. 28,22). Die Widerlegung der nach Apg 21,21.24 und 24,5 von jüdischer Seite ausgestreuten Verleumdungen gegen Paulus könnte für einen jüdischen Theophilus im Vorfeld des Paulus-Prozesses in Rom besonders wichtig gewesen sein. Vor allem die (mehr oder weniger erfolgreiche) Selbstdarstellung des Paulus gegenüber dem jüdischen
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Missionstätigkeit des Paulus …“ Aber: „Ohne Rücksicht darauf, daß die theologischen Argumentationen der Reden den römischen Behörden unverständlich bleiben müssen, läßt Lukas den Paulus so, also für die Leser des Werkes, reden.“ Vgl. ferner Barrett, Charles K., The Acts of the Apostles, Vol. II Introduction and Commentary on Acts XV – XXVIII, London / New York (1998) 2004, p. L (≈50)): “Luke would no doubt have been pleased to hear that a Christian on trial had been able to use some of these precedents, but the book as a whole is not to be thought of as serving such a purpose; no Roman court could be expected to wade through so much Jewish religious nonsense … The same argument proves even more conclusively that the book was not written as a brief for the defence at Paul’s trial …”. Jervell, Jacob, Die Apostelgeschichte, Göttingen 1998, 87 Anm. 215: „Als politische Apologetik ist Apg 21–28 sinnlos und für Römer unverständlich.“ Das hört man oft auch aus der Anspielung auf Vorkenntnisse des Theophilus in Lk 1,4 heraus. Auch ein Proselyt erster Generation konnte noch nicht genug mit den heiligen Schriften der Juden vertraut gewesen sein. − Marx, Werner G., A New Theophilus, in: EvQ 52/1 (1980) plädierte für Agrippa II. als „Theophilus“. Dass er in Kap. 25f. als handelnde Person auftritt, spricht m. E. entscheidend dagegen. Die Anrede mit „kratiste“ wäre bei einem König auch unhöflich gewesen. Vgl. meine Studie Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas: NTS 31(1985) 437–451 sowie in meinem Aufsatzband Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2002, 77–94; vgl. oben S. 135–149.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
König Agrippa II. in Kap. 26 könnte darauf abzielen, als krönende Apologie des Apostels einen Fürsprecher jüdischer Herkunft zu beeindrucken.86 Das Zugehen auf einen solchen Fürsprecher, der innerlich mit einem Bein auf jüdischem Boden und mit dem anderen auf römischem Boden stand, dürfte ein heikles Unternehmen gewesen sein – mit Risiken auch für den Adressaten. Das erklärt zur Genüge die Wahl eines Pseudonyms anstelle des bürgerlichen Eigennamens in Lk 1,4 und Apg 1,1. Die Wahl des Pseudonyms Theophilus (GottesFreund) könnte ein hoffnungsvolles Kompliment gewesen sein. Schließlich hatten schon andere Personen gehobenen Standes positiv oder tolerant zu Paulus Stellung genommen: Sergius Paulus auf Zypern − Gallio in Korinth − in Ephesus einige Asiarchen (d. h. Verantwortliche für den Kaiserkult!) und der Sekretär der Bürgerschaft − in Caesarea Agrippa II. und Berenike.87 Für einen jüdischen Theophilus könnte auch das Votum des hoch angesehenen Gamaliel für Zurückhaltung gegenüber der Jesusbewegung (Apg 5,34–39) von Gewicht gewesen sein.
6.
Wer könnte „Theophilus“ gewesen sein?88
Die jüdische Bevölkerung Roms im 1. Jh. n. Chr. gehörte nach den nichtliterarischen Indizien zur Unterschicht.89 Wir wissen aber von einem römischen Bürger jüdischer Herkunft, der in den 40er und 60er Jahren des 1. Jahrhunderts hohe Ämter innehatte und höchstes Ansehen genoss: Tiberius Julius Alexander, ein Neffe des berühmten Philon von Alexandrien.90 Er war von 46–48 n. Chr. Statt-
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Zmijewski, Josef, Die Apostelgeschichte, Regensburg 1994, 842 stellt zutreffend fest, dass Kap. 26 nichts zum Fortgang der Handlung beiträgt; die Überstellung des Paulus nach Rom wäre auch ohne die Mitwirkung Agrippas II. erfolgt. Umso mehr stellt sich die Frage nach seinem Wert für die Leserschaft. Vgl. Yoder, Yoshua, Representatives of Roman Rule. Roman Provincial Governors in LukeActs, Berlin 2014. 335: “Luke’s governors are more often indifferent to and uncomprehending of Jesus and his followers. Luke avoids portraying the governors or the forces under their command as actively hostile or disrespectful, but shows much more interest in portraying governors as convinced that Christians are harmless …” Zur bisherigen Forschung über Theophilus vgl. Metzner (s. o. Anm. 51) 196–201, sowie Christoph Heil in Zusammenarbeit mit Klampfl, Thomas, Theophilos (Lk 1,3; Apg 1,1), in: Christoph Gregor Müller (Hrsg.), „Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für dein Volk Israel. Studien zum lukanischen Doppelwerk Josef Zmijewski zur Vollendung des 65. Lebensjahres, Köln 2005, 7–28. Vgl. Jeffers, James F. Jewish and Christian Families in First-Century Rome, in: Donfried, Karl P. / Richardson, Peter (Hrsg.), Judaism and Christianity in First-Century Rome, 128– 150, hier 129–130. Sein steinreicher Vater hatte nach Josephus (Bell 5,205f.) im Jerusalemer Tempel zwölf riesige Tore mit dicken Silber- und Goldbeschlägen schmücken lassen.
Tiberius Julius Alexander als „Theophilus“?
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halter von Judäa und während des jüdischen Aufstandes in den 60er Jahren Präfekt für Alexandria und Ägypten (vgl. Josephus, Bell 2,220; 4,616).91 Als Befehlshaber der dortigen Legionen hatte er entscheidenden Anteil an der Erhebung Vespasians zum Kaiser.92 Zu dieser politischen Entscheidung könnte beigetragen haben, dass Josephus nach seiner Gefangennahme durch die Römer dem Feldherrn Vespasian als ein Bote Gottes die Kaiserwürde vorausgesagt hatte (vgl. Bell. 3,399–408). Wenn Josephus in Ant 20,100 über Tiberius Alexander schreibt, er sei nicht so fromm wie sein Vater gewesen, weil er in seiner Lebensführung nicht an den nationalen Sitten festgehalten habe, so darf daraus nicht geschlossen werden, dass er sich religiös vom Judentum losgesagt habe. Seine politische Karriere muss ihn im öffentlichen Verhalten zu Kompromissen gezwungen haben93, die aus der Sicht des Josephus zu weit gingen,− mehr nicht.94 Nach Josephus (Bell 6,242) hat sich Tiberius Alexander in der Endphase der Belagerung Jerusalems in einem Kriegsrat als Primus der sechs obersten römischen Offiziere dafür eingesetzt, den hart umkämpften Tempel nicht zu zerstören.95 Für ihn als „Theophilus“ wäre besonders wichtig gewesen, dass Agrippa II. und seine Schwester Berenike sich nach Apg 26,30–32 klar für die Unschuld des Paulus ausgesprochen hatten: Letztere war mit einem Bruder des Tiberius Julius Alexander namens Marcus verheiratet gewesen, der aber früh verstarb.96 (Möglicherweise hat die Begegnung mit Paulus die weitere Religionspolitik Agrippas II. beeinflusst: Nach Josephus (Ant 20,203) setzte Agrippa im Jahr 62 91
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95
96
Vgl. Schimanowski, Gottfried, Juden und Nichtjuden in Alexandrien. Koexistenz und Konflikte bis zum Pogrom unter Trajan (117 n. Chr.), Berlin 2006, 126–139: Tiberius Julius Alexander als jüdischer Politiker in römischen Diensten. Tacitus (Hist I,11,1) erwähnt ihn in einer Liste römischer Ritter, die Präfekten für Alexandrien und Ägypten waren. Belege über seine Herkunft und politische Laufbahn zitiert und diskutiert E. G. Turner, TIBERIVS IVLIVS ALEXANDER, in: JRS 44 (1954) 54–64. (Nondum vidi: Viktor Burr, Tiberius Iulius Alexander, in: Antiquitas 1,1, Bonn 1955.) Vgl. Josephus, Bell 4,617. Wofür schon 2 Kön 5,18f. Verständnis nahelegt. Josephus könnte Anstoß daran genommen haben, dass ein Edikt des Präfekten aus dem Jahr 68 n. Chr. im Plural ehrfurchtsvoll von „den Göttern“ spricht (B. G. U. 1563). Konnte er das vielleicht vor seinem Gewissen als Transkription des Plurals elohim rechtfertigen? Vgl. G. Schimanowski, ebd. 135–137 und ders., Die jüdische Integration in die Oberschicht Alexandriens und die angebliche Apostasie des Tiberius Julius Alexander, in: Frey, Jörg u. a. (Hg.), Jewish Identity in the Greco-Roman World, Leiden u. a. 2007, 111–136,127: „‘Nicht bei den väterlichen Gebräuchen bleiben‘ … ist deshalb für die Position des Julius Tiberius überhaupt nichts Erstaunliches. Wenn er akzeptierte, in den öffentlichen und militärischen Funktionen tätig zu sein, die ihm das Römische Reich anbot, war eine Teilnahme am Staatskult—zumindest passiv—selbstverständlich.“ Konkret heiß das wohl: „Die Sabbatobservanz wurde sicher vernachlässigt, das gemeinsame Essen mit Nichtjuden war selbstverständlich.“ (Ebd. 133) Dass auch Titus als Oberbefehlshaber dafür plädiert hatte, behauptet zwar Josephus, ist aber in der Forschung umstritten. Vgl. Josephus, Ant 19, 276–277.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
n. Chr. einen Hohenpriester ab, der die Vakanz nach dem Tod des Statthalters Festus genutzt hatte, um in einem Schnellverfahren den Herrenbruder Jakobus und andere Christen durch Steinigung hinzurichten. Dass sein Vater Herodes Agrippa I. nach Apg 12 als erster Herrscher Christen von Staats wegen verfolgte, den Zebedaiden Jakobus hinrichten ließ und dem Petrus das gleiche Schicksal zugedacht hatte, muss diesen „Theophilus“ nicht gegen die Christen eingenommen haben: In Rom hatte man nämlich diesen letzten König von ganz Judäa nicht nur in guter Erinnerung. Er hatte früh und erfolgreich auf Gaius Caligula als Nachfolger des Tiberius gesetzt, sich nach dessen Ermordung aber sofort geistesgegenwärtig für Claudius als dessen Nachfolger eingesetzt und sich danach als „Kaisermacher“ gefühlt.97 Von diesem zum König von Judäa ernannt, erregte er aber bald durch Geltungssucht und allzu eigenmächtige Politik das Misstrauen der Römer.98) Für Tiberius Julius Alexander wäre von besonderer Bedeutung gewesen, dass die lukanische Apologie des Paulus größten Wert darauf legt, dass die Jesusbewegung und besonders Paulus nichts zu tun hatten mit revolutionären Unruhen. Als Präfekt von Judäa hatte er zwei Söhne des Judas Galilaios, der um das Jahr 6 n. Chr. zum Steuerboykott aufgerufen hatte, durch Kreuzigung hinrichten lassen.99 Eine drohende Verwechslung des Paulus mit einem untergetauchten Aufstandsführer wird in Apg 21,38f. sofort zurückgewiesen. Es sind gerade die Gegner des Paulus, die aus religiösem „Eifer“ zu Gewaltakten bereit sind (Apg 22,3; 23,12–15). Anzeichen für Sympathien des Paulus für diese Bewegung hätten ihm das Genick gebrochen! Gegen diesen Verdacht betont Paulus in Apg 26,18 den „spirituellen“ Charakter seiner Missionspredigt: Befreiung aus der Macht des Satans durch die Bekehrung zum lebendigen Gott.100 97
98
99 100
Vgl. Schwartz, Daniel R., Agrippa I. The last king of Judaea, Tübingen 1990. In Münzprägungen ließ sich Agrippa I. als “Großkönig” (megas basileus) titulieren! Vgl. in Das Heilige Land. Antike Münzen und Siegel aus einem Jahrtausend jüdischer Geschichte. Staatliche Münzsammlung München in Zusammenarbeit mit The Israel Museum Jerusalem 1993/94, S. 67. Erstens hatte er damit begonnen, die Stadtmauer Jerusalems zu verstärken und zu erhöhen, was nach Rom gemeldet wurde und ein schroffes Veto des Kaisers Claudius zur Folge hatte (vgl. Josephus, Ant 19,326–327). Zweitens wurde er von anderen Kleinkönigen von Roms Gnaden so bewundert, dass sie ihm gemeinsam einen Besuch in Tiberias abstatteten. Dieses „Fürstentreffen“ war dem Statthalter von Syrien ebenfalls verdächtig, so dass er unangemeldet vor Ort auftauchte und die Gäste sofort nach Hause schickte (vgl. Ant 19,338–342); vgl. Schwartz, a. a. O. 137–144. Seinem Tod nach kurzer schwerer Krankheit ging ein Konflikt mit den Hafenstädten Tyrus und Sidon um deren Lebensmittelversorgung aus dem Hinterland voraus (vgl. Apg 12,20–23 und Josephus, Ant 19,343–350). (Luther und nun wieder die Lutherbibel 2017 sprechen von einer Kriegsabsicht, was sprachlich falsch und historisch – innerhalb des römischen Reiches – abwegig ist; der Text spricht mit der Vokabel thymomachôn nur von einer „Streitsucht“ des Königs. Vgl. Josephus, Bell 2,118 und Ant 20,102. Das erinnert an die Petrusrede im Haus des Centurios Cornelius in Caesarea, die das Wirken Jesu als einen Feldzug gegen die Gewalt des Teufels deutet (Apg 10,38). Gleich zu Beginn seiner Rede (V.36) hatte Petrus Jesus als einen gottgesandten Prediger des Friedens
Eine Denkschrift über Paulus als Vorstufe der Apg?
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Darryl W. Palmer hat die Apostelgeschichte mit “historischen Monographien” verglichen, die einen begrenzten Ausschnitt aus einer nationalen Geschichte behandeln, wie z. B. die Makkabäerbücher.101 In seinem Schlusskapitel vermerkt er aber (S. 29) eine Besonderheit der Apostelgeschichte gegenüber diesen Parallelen: „The history of an incipient religious movement is an unprecedented subject for an ancient monograph.“
Es liegt nahe, für diesen literarischen Sonderfall einen historischen Anlass zu vermuten. Der von mir vorgeschlagene Zusammenhang mit dem noch unabgeschlossenen Prozess gegen Paulus könnte der Schlüssel für diese literaturgeschichtliche „Erfindung“ sein. Der Prolog in Lk 1,1–4 könnte der Anfang einer Denkschrift102 für Theophilus gewesen sein, – der heutige Anfang der Apostelgeschichte eine erst später verfasste Verknüpfung mit dem nachträglich als „erstes Buch“vorangestellten Evangelium. In dieser Denkschrift hätte Theophilus zu lesen bekommen, dass während der Irrfahrt auf der Adria ein Engel Gottes zu Paulus gesprochen habe (Apg 27,24): „Keine Angst, Paulus! Du musst (noch) dem Kaiser vorgestellt werden, und dir zuliebe bewahrt Gott auch alle, die mit dir im Schiff sind.“
Die zweite Hälfte dieser Weissagung war zur Abfassungszeit von Apg 28 schon in Erfüllung gegangen, − die erste noch nicht. Dass ihr Eintreffen auch am Ende der Apostelgeschichte offen bleibt, ist ein oft diskutiertes Rätsel.103 Als Schluss eines
101
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eingeführt! Dass Paulus bei diesem Anlass den jüdischen Begriff „Satan“ benutzt haben soll, ist befremdlich. Wer außer Agrippa und Berenike könnte das verstanden haben? Könnte Paulus genau diese beiden mit diesem Inhalt seiner Botschaft angesprochen haben? Vgl. Palmer, Darryl W. Acts and the ancient historical monograph, in: Bruce W. Winter / Andrew D. Clarke (Ed,) The Book of Acts in its first century setting, Vol. I, Grand Rapids / Carlisle 1993, 1–29. Zu den Übergängen zwischen Apologien und Petitionen vgl. Schoedel, William R., Apologetic Literature and ambassadorial Activities, in: HTR 82 (1989) 55–78. Als Beispiel einer längeren – leider nicht überlieferten – Bittschrift erwähnt Philon in Leg 179 eine Eingabe der alexandrinischen Juden an den Kaiser Gaius, die der frisch ernannte Agrippa I. dem Kaiser übermitteln sollte. Vgl. Marguerat, Daniel, The End of Acts (28.16–31) and the Rhetoric of Silence, in: Porter, Stanley E., / Olbricht, Thomas H., (Hrsg.), Rhetoric and the New Testament. Essays from the 1992 Heidelberg Conference (SSNT.S 90), Sheffield 1993, 74–89; Baum, Armin D., „Rhetorik des Schweigens“? Der unvollständige Schluss der Apostelgeschichte (Act 28,30–31) im Licht antiker Literaturtheorie und historiographischer Praxis, in: ETL 88 (2012) 95–128. McKechnie (s. o. Anm. 77) 349–361 hat festgestellt, dass im untersuchten Zeitraum Appelle Jerusalemer Würdenträger an den Kaiser überwiegend erfolgreich waren (auch zu Lasten römischer Amtsträger). Sein Fazit (S. 361) lautet: „On these grounds it appears likely that when Nero heard the case against Paul he would have ruled in favour of the Jerusalem priests.” Es ist schwer vorstellbar, dass eine dahingehende Nachricht von
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Memorandums an einen möglichen Fürsprecher für Paulus beim Kaiser könnten die beiden letzten Verse (30f.) des Buches ein Impuls für einen Appell an das oberste römische Gericht sein: Sprecht den unschuldig angeklagten Apostel nach zwei Jahren Wartezeit endlich frei, damit er seine (politisch unbedenkliche!) Mission auch äußerlich unbehindert fortsetzen kann.
Fazit Ich bin mir bewusst, mit dieser Studie Mehrheitsmeinungen zur Apostelgeschichte in Frage zu stellen, sehe mich dabei aber in einer Tradition seriöser historischer Wissenschaft. Adolf von Harnack (1851–1930) hatte seine früheren skeptischen Meinungen zur Abfassung der Apostelgeschichte zugunsten einer Frühdatierung korrigiert. In Band IV seiner „Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament“ kommt er 1911 zu dem Ergebnis104: „Die Schlußverse der Apostelgeschichte, im Zusammenhang mit dem Fehlen jeder Anspielung auf das Ende des Prozesses des Paulus und auf sein Martyrium …, machen es in höchstem Grade wahrscheinlich, daß das Werk geschrieben worden ist, als der Prozeß des Paulus in Rom noch nicht beendet war.“
In den letzten zwanzig Jahren haben Vorschläge, die Abfassung der Apostelgeschichte ins 2. Jahrhundert n. Chr. zu verlegen, eine erstaunliche Resonanz gefunden.105 Auf der anderen Seite hat Martin Hengel – wie Adolf von Harnack – Lukas, den Arzt und Reisebegleiter des Paulus, für den Verfasser gehalten.106 Was die Adressaten der Apostelgeschichte betrifft, hatte Hengel schon vom Gedanken an eine „Veröffentlichung“ Abstand genommen –zugunsten eines begrenzten Leserkreises: „Was Lukas am Ende des Prologs als Absicht seines Werkes nennt, ist mehr als bloße Konvention: Er will Theophilus zuverlässig belehren …
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christlicher Seite am Schluss des lukanischen Werkes hinzugefügt worden wäre. Die vorliegende Apostelgeschichte konnte als stiller Protest gegen ein Todesurteil Neros gelesen und verbreitet werden. Sein Name war ja nach seinem unrühmlichen Ende der damnatio memoriae verfallen. Denkbar ist, dass die nur von Sueton (Nero 16,2) behauptete grundsätzliche Kriminalisierung des Christentums (mit Festsetzung der Todesstrafe) die Folge eines Todesurteils gegen Paulus war. Die römische Rechtsprechung orientierte sich an Präzedenzfällen. Neue Untersuchungen zur Apostelgeschichte und zur Abfassungszeit der synoptischen Evangelien, Leipzig 1911, S. 69, im Original gesperrt gedruckt. Vgl. die Besprechung dieser Tendenz durch C. S. Keener (s. o. Anm. 32) I, 395–400. Vgl. Martin Hengel (s. o. Anm. 53) S. 201: „Die Gründe, die dagegen genannt werden, sind nicht wirklich stichhaltig.“
Fazit in Anlehnung an Adolf von Harnack und Martin Hengel
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Hier ist der Schlüssel zum Ganzen zu suchen. Die Leser, die er in erster Linie ansprechen will, sind / Theophilos selbst und der Kreis um ihn.“107
Ich gehe nur einen Schritt weiter und ersetze den Gedanken an einen interessierten „Kreis um Theophilus“ durch einen bestimmten Verwendungszweck in einer dramatischen Situation im Leben des Paulus.
7.
Vernetzungen mit der Forschungsgeschichte108
Angesichts der Tatsache, dass der Konflikt zwischen Paulus und jüdischen Gegnern ab Kap. 21 breiten Raum einnimmt und Paulus wiederholt Anklagen gegen ihn zurückweist, verwundert es nicht, dass gezielte apologetische Tendenzen der Apostelgeschichte immer wieder einmal in Betracht gezogen wurden. Der früheste mir bekannte Beitrag auf dieser Linie109 setzte bei der Lektüre der ganzen Apostelgeschichte auf diese Karte und konnte mit Recht weithin in Vergessenheit geraten110: Moritz von Aberle (1819–1875), Ueber den Zweck der Apostelgeschichte.111 Über die Missionsreisen des Paulus schreibt er (S. 206): „In dieser Darstellung findet sich kein einziger Detailbericht, der nicht ohne allen Zwang eine Beziehung auf die römische Anklage des Apostels zulassen würde.“
Dass nach seiner Ansicht auch Abschnitte wie Apg 15,1–33; 19,1–7; 20,7–12 einen Bezug zu den Anklagen gegen Paulus vor Antonius Felix (Apg 24,5f.) haben, ist schwer nachvollziehbar. Zu der Frage, „an wen die … Verteidigung des Paulus gerichtet sein mochte,“ schreibt er (S. 210): „Daß wir nicht eine förmlich gerichtliche Vertheidigungsschrift vor uns haben, bedarf keines Beweises.“ Stattdessen 107
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Vgl. Hengel, Martin, Der Jude Paulus und sein Volk. Zu einem neuen Acta-Kommentar, in: ThR 66 (2001) 338–368, hier 347f.; ähnlich sein Schüler Thornton (s. o. Anm. 31) 366: „Lukas schreibt nicht für ein allgemeines, anonymes Publikum, sondern für einen relativ begrenzten Kreis.“ Dass Lukas nicht nur für „Insider“ schreibt, dürfte auch dazu beigetragen haben, dass er Vokabeln der christlichen Sondersprache (z. B. das in der Profangräzität unübliche apóstolos für Personen) nur sparsam verwendet; vgl. meine Studie Verwendung und Vermeidung des Apostelbegriffs im lukanischen Werk, in: NT 30 (1988) 9–38. Die folgenden Ausführungen handeln nicht von Wegweisern zu meiner re-lecture des Prologs, sondern sind das Ergebnis einer neugierigen Suche nach Vorgängern oder „Komplizen“. Ich klammere die Deutung der Apostelgeschichte als einer Apologie für Paulus gegen Kritik von Seiten der Judaisten innerhalb der Urkirche aus; so Schneckenburger, Über den Zweck der Apostelgeschichte, Bern 1841. Vgl. Gasque, Ward, A History of the Criticism of the Acts of the Apostles, Tübingen 1975, 32–39. Franz Overbeck erwähnt ihn knapp in der von ihm bearbeiteten und stark erweiterten 4. Auflage von W. M. L. de Wette, Kurze Erklärung der Apostelgeschichte, Leipzig 1870, S. XXX III Anm. ***. Theologische Quartalschrift 37 (1855) 173–23.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
denkt er (ebd.) an „das Gericht der öffentlichen Meinung und das Gericht der Kreise, welche durch ihre bevorzugte Stellung im Staate berufen sind, in staatsrechtlichen Fragen die normative Vorentscheidung zu treffen, nach welcher sich die Gerichte selbst zu richten haben.“ In republikanischen Zeiten konnte das vorstellbar gewesen sein, nicht aber nach dem endgültigen Sieg der Monarchie durch die Machtergreifung des Claudius (41 n. Chr.). Um trotzdem einen Einfluss der öffentlichen Meinung Ende der 50er Jahre plausibel zu machen, verweist Aberle auf das schlechte Image der Christen, das es im Jahr 64 n. Chr. möglich machte, sie als Brandstifter zu verleumden und grausam umbringen zu lassen. Als Ursache für dieses schlechte Image postuliert Aberle (S. 215) eine jahrelange jüdische Agitation gegen das Christentum in Rom: „Man wird nach alle dem begreifen, daß es im Interesse der Juden lag, alle Mittel aufzuwenden um den allgemeinen Haß auf die Christen anzuregen und anzuspornen, um so direct die Verurtheilung des Paulus und indirect die Proscribierung der christlichen Religion zu erwirken. Als geeignetes Mittel für ihre Zwecke mußte sich den Juden vor Allem das darbieten, was wir jetzt die Presse nennen. Diese Macht kannte man im Alterthume so gut als in der Gegenwart und man machte von derselben genau in der nämlichen Weise Gebrauch, wie jetzt … Daß die Juden auch diese Macht sich dienstbar machen konnten, unterliegt keinem Zweifel.“112
Zu dieser Hypothese passt Aberles Deutung von Lk 1,1: „Können wir darnach unter den polloi, des Prolog (sic!) nur Gegner des Verfassers … verstehen, die außerhalb der Christenheit standen, so werden wir nach dem bisher Ausgeführten sie näherhin entweder für jüdische oder in jüdischem Solde stehende Literaten halten.“113
Mehr Beachtung verdienen einige Stimmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hermann von Soden, hatte (1905) die heute so genannte „Wir-Quelle“ als „eine Geschichtsurkunde ersten Ranges“ bezeichnet114 und über sie geschrieben115: „Fast möchte man die Vermutung wagen, daß diese Zusammenstellung als eine Art Zeugenbericht eines zeitweiligen Reisegefährten des Angeklagten für den Prozeß entstanden ist.“
Er bezeichnete diese Annahme aber sogleich als „nicht nötig“.
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Hört, hört! Theodor Fritsch lässt grüßen: „Neben der Börse liegt die Hauptmachtstellung des Juden in der Presse eines jeden Landes.“ So in dessen Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, 33. Aufl. Leipzig 1933, 271. Der Gedanke an eine jüdische Agitation gegen die Christen könnte eher mit dem Einfluss der Poppäa auf Nero konkretisiert werden; vgl. Josephus, Ant 20, 195.252 und Vita 16. S. o. Anm. 39, S. 120. Ebd. S.124.
Vergleichbare ältere Stimmen
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Aus dem englischen Sprachraum ist die Studie von David Plooij, The Work of St. Luke: A Historical Apology for Pauline Preaching before the Roman Court116 erwähnenswert. Plooij hielt es für wahrscheinlich (!), dass Lukas den Versuch unternahm, Annaeus Seneca als Fürsprecher für Paulus zu gewinnen, und verweist dabei auf das positive Image Senecas bei späteren christlichen Autoren.117 Sein Impuls wurde aufgenommen von J. I. Still, St. Paul on Trial: A New Reading of the History in the Book of Acts and the Pauline Epistles, London 1923. Im deutschen Sprachraum dachte Alfred Wikenhauser an mögliche einflussreiche Fürsprecher, die schon mit dem Christentum sympathisierten.118 Denn119: „Wenn die AG eine förmliche Schutzschrift an die Adresse vornehmer und einflussreicher nichtchristlicher Persönlichkeiten hätte sein sollen, dann hätte er ihr eine ganz andere Form geben … müssen.“120
Eine differenzierte Hypothese vertrat Harald Sahlin in Verbindung mit seiner Theorie von einer „Ur-Lukas“-Schrift (die von Lk 1,5 bis Apg 15 reichte und auf Hebräisch oder Aramäisch abgefasst war).121 Ihm zufolge ist der Prolog Lk 1,1–4 überwiegend auf die zweite Hälfte der Apostelgeschichte bezogen: „Der Prolog scheint für einen Bericht mit apologetischer Tendenz gedacht zu sein, und die spätere Hälfte der AG ist durch einen deutlich apologetischen Zweck gekennzeichnet.“122
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In: Exp VIII,8 (1914) 511–523. Vgl. a. a. O. S. 520: „It seems … highly improbable that the traditions which connect Seneca with Christian, especially with Pauline, teaching should be entirely void of truth.” Plooij ging sogar einen Schritt weiter und konnte sich (S. 521) vorstellen, dass Lukas ein zweites Exemplar seiner Schutzschrift für Paulus auch dem Präfekten des Prätoriums zugeleitet haben könnte, und verweist dabei auf die Erwähnung dieses Beamten im Mehrheitstext von Apg 28,16. Dieses Amt bekleidete damals Burrhus, der bis 62 n. Chr. einer der mächtigsten Männer in Rom war. Eine zweite Studie von Plooij auf dieser Linie erschien unter dem Titel Again: The Work of St. Luke, in Exp 8,13 (1917) 108–124. Vgl. Die Apostelgeschichte und ihr Geschichtswert, Münster 1921, 30–34. A. a. O. S. 34. Dachte Wikenhauser etwa an Sergius Paul(l)us (vgl. Apg 13,12), der nach seiner Dienstzeit auf Zypern vermutlich nach Rom zurückkehrte? Über ihn ist aus den späteren 50er Jahren nichts überliefert. In seinem Kommentar (Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt, 3. von neuem umgearbeitete Auflage, Regensburg 1956) schreibt Wikenhauser S.8: „Lukas verfolgt mit seiner Geschichtsdarstellung aber auch noch einen apologetischen Zweck, der allerdings nur in den Stücken des Buches sichtbar wird, die von Paulus handeln … Der Prozeßbericht liest sich fast wie eine Verteidigungsschrift zugunsten des Apostels. Diese unverkennbare apologetische Tendenz richtet sich … gegen die jüdischen Angriffe und Anklagen. Es ist dem Verfasser ein wichtiges Anliegen, ihre Haltlosigkeit nachzuweisen. Die Apg ist aber keine Schutzschrift für die Christen an die Adresse der römischen Obrigkeit. Sie wendet sich ja an Christen, und Theophilus … ist sicher auch Christ gewesen.“ Der Messias und das Gottesvolk: Studien zur protolukanischen Theologie, Uppsala 1945. Vgl. a. a. O. S. 44. Für die Rezeption einer apologetischen Zielsetzung war es von Nachteil, dass Sahlins Votum nur als ein Nebenprodukt seiner Theorie von einem „Ur-Lukasevangelium“ vorgetragen wurde; vgl. Sahlin a. a. O. 9–10.
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Sahlins These hat in den Einleitungen zum Neuen Testament kaum Beachtung gefunden, nachdem Wilhelm Michaelis dessen Monographie bald nach der Publikation (schon 1948) besprochen und schroff verworfen hatte.123 Michaelis räumt zwar ein, dass Lk 1,4 „eine gewisse äußere Verwandtschaft mit den Anliegen einer juristischen Beweisführung“ habe, kommt aber zu dem Schluss: „Sahlins Auslegung von Lk 1,1–4 muß als ein zwar origineller, aber nichtsdestoweniger phantastischer Versuch gelten.“124 Das im Ganzen vernichtenden Urteil über Sahlins Monographie ist nachvollziehbar auf Grund zahlreicher Unterstellungen über das erfinderische und unseriöse Vorgehen des Lukas bei der Abfassung seines Werkes.125 Unter dem Eindruck dieser Rezension hat Donald Guthrie (1965) den Studien von Plooy (1914), Wikenhauser (1921) und Sahlin (1945) eine halbe Seite gewidmet.126 Sein Urteil lautet: „Although this theory cannot be disproved, it lacks strong historical probability.” Bemerkenswert ist, dass er deren Vorschlag nicht aus chronologischen Gründen ausschließt127 (weil er selber für eine Frühdatierung der Apg plädiert). Aber zur Begründung seines Urteils schreibt er: „A great obstacle to the theory is the absence from Acts of any reference to the trial in Rome.”128 Um die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde eine apologetische Tendenz der Apostelgeschichte vorrangig nicht auf Paulus, sondern auf das Christentum bezogen, wobei der Begriff der religio licita eine große Rolle spielte. Die von und für Paulus beanspruchte Treue zum jüdischen Erbe wurde als Strategie für eine Teilhabe des Christentums an diesem „Privileg“ der Juden gedeutet.129 Dabei wurde vernachlässigt, dass die Toleranz der römischen Machthaber gegenüber einem unterworfenen Volk und seiner Kultur kein Freibrief für die gezielte Verbreitung bestimmter Teile seiner religiösen Tradition unter anderen Völkern war.130 Nach dem jüdischen Aufstand, den die Römer nur mit größtem Einsatz niederschlagen 123
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Vgl. Michaelis, Wilhelm, Revue de traveaux sur le Nouveau Testament publiés à Uppsala et à Lund 1945–1948, in: Symbolae Biblicae Upsalieneses 11 (1948), 5–25. Vgl. Michaelis, Wilhelm, Einleitung in das Neue Testament, 2. Aufl. Bern 1954, 15. Ähnlich spricht André Feuillet, “TEMOINS OCULAIRES ET SERVITEURS DE LA PAROLE” (Lc i 2b), in NT 15 (1973) 241–259, hier 245 von einer „conjecture ingénieuse” und kommentiert sie mit dem Satz: „Elle est demeurée à peu près sans écho, et c’est à juste titre.” Vgl. Michaelis (a. a. O.) S. 137. Der längere Absatz über ihn schließt mit den Worten: (Man muß es) „Sahlin übel nehmen, daß er Derartiges geschrieben hat. Hätte er die ganze Quellenscheiderei ad absurdum führen wollen, er hätte keinen bessern Weg gehen können.“ Vgl. Guthrie, Donald, New Testament Introduction, London 1965, 319f. Eine halbe Seite zu Sahlin bietet auch Grundmann, Walter, Das Evangelium nach Lukas, Berlin, 7. Aufl. 1974, 16f. So jedoch Grundmann a. a. O. 45. Befremdlich, aber so in Anm. 1 zu S. 320. Vgl. v. a. Haenchen, Ernst, Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte, in: ZNW 54 (1963), 155–187; dazu kritisch meine Studie Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas: NTS 31 (1985) 437–451 sowie in meinem Aufsatzband Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2002, 77–94; vgl. oben S. 135– 149. Vgl. meine Studie Respekt vor den Göttern der anderen, oben S. 135–149.
Apg als Muster für Apologetik unter Domitian?
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konnten, war eine Nähe zum Judentum für das Ansehen der christlichen Gemeinden eher schädlich als nützlich.131 Auf der Basis der verbreiteten Spätdatierung der Apostelgeschichte unter Domitian konnte die Verteidigung des Paulus in deren letzten Kapiteln als Muster für apologetische Argumentationen gegen die Kriminalisierung des Christentums in dieser Zeit gedeutet werden, so z. B. durch Martin Dibelius:132 „Wenn Paulus in den fünf / hier untersuchten Verhörszenen immer wieder das gleiche zu seiner Verteidigung sagt, so will der Verfasser damit den Christen seiner Zeit den Rat geben, dieselben Gedanken zu ihrer Verteidigung zu gebrauchen. Sie sollen betonen, daß sie sich weder gegen den Kaiser noch gegen den Tempel noch gegen das Gesetz erhoben haben, und daß der wesentliche Streitpunkt zwischen ihnen und den Juden die Frage der Auferstehung ist.
Dabei ist schleierhaft, welchen apologetischen Nutzen in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels die Episode um das angebliche Sakrileg des Paulus gegenüber dem Tempel haben konnte.133 Gegen welchen Tempel können sie sich noch „erhoben haben“? Auch das Gerücht über Paulus, nach dem er in der Diaspora die Treue zur Torah und das Festhalten an der Beschneidung heruntergespielt habe134, konnte dem Christentum nicht schaden, sondern im Gegenteil in der nichtjüdischen Umwelt sogar Sympathien für ein „Judaism light“ wecken.135 Nach Werner Georg Kümmel136 „läßt sich die Absicht einer Verteidigung der Christen gegen den Vorwurf der Staatsfeindlichkeit … nicht verkennen.“ Anderseits meint er, „daß damit zweifellos nicht die Richter des Paulus in Rom erreicht werden sollen“. Und „schwerlich soll überhaupt die Öffentlichkeit angeredet werden“. (Ebd. 131) Der Gedanke an einen Fürsprecher ist damit m. E. nicht ausgeschlossen. Von der Lukasforschung noch wenig beachtet ist m. W. der Beitrag von Jens Schröter über die auffallend zögerliche Kanonisierung der Apostelgeschichte.137 131
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Nach Cassidy, Richard J., Society and Politics in the Acts of the Apostles, Maryknoll 1987, 155 spricht die Erwähnung des Jüngers Simon Zelotes in Apg 1,13 gegen die Annahme einer politischen Apologetik im lukanischen Werk. Dabei setzt er eine politische Einengung des Begriffs „Zelot“ voraus, die erst durch eine (ungenaue!) Josephus-Lektüre Verbreitung gefunden hat. Dass Lukas die moderne politische Einengung dieser Vokabel noch nicht kannte, geht aus Apg 22,3 hervor. Vgl. Dibelius, Martin, Paulus in der Apostelgeschichte, in: Aufsätze zur Apostelgeschichte. Hrsg. von Heinrich Greeven, Göttingen 4. Aufl. 1961, 175–180, hier 179f.:“ Vgl. Apg 21,28. Vgl. Apg 21,21. Lehrreich in dieser Hinsicht ist der Bericht des Josephus über die Konversion des Königs Izates von Abilene zum Judentum in Ant 20,34–48. Der König wurde von der Wahrheit der jüdischen Religion überzeugt, wagte es aber mit Rücksicht auf seine Untertanen zunächst nicht, sich der Beschneidung zu unterziehen (bis ein strengerer jüdischer Lehrer ihn von der Notwendigkeit dieses Ritus überzeugte.) Einleitung in das Neue Testament, 17. Aufl. 1973, 130. Vgl. Schröter, Jens, Die Apostelgeschichte und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. Beobachtungen zur Kanonisierung der Apostelgeschichte und ihrer Bedeutung
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Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen
Er kommt u. a. zu dem Ergebnis, dass „in der Alten Kirche nirgendwo die Idee eines ‚lukanischen Doppelwerkes‘ anzutreffen ist“ (S. 416f.) und dass „die Apg vom Beginn ihrer Aufnahme an als eine neben dem zur Evangeliensammlung gehörigen LkEv selbständige Schrift gedeutet wurde.“ (417).138 Das wirft jedoch die Frage auf, wieso und wann der Anfang dieser selbständigen Schrift zugunsten einer (durch die Anrede an Theophilus) expliziten Anknüpfung an das Evangelium des Lukas weggefallen sein soll. In der Frühzeit der Alten Kirche war das Interesse am Schicksal Jesu und an seiner Lehre zweifellos größer als an den ersten Jahrzehnten der Jesusbewegung. Erst nach dem Aussterben der Zeitzeugen für die ersten dreißig Jahre der nachösterlichen Jesusbewegung konnte ein Interesse an Aufzeichnungen über diese Zeit „großer Ereignisse unter uns“ (Lk 1,1) entstehen. Denkbar wäre, dass dabei eine Sammlung diverser Anekdoten nach Art der synoptischen Evangelien entstanden wäre (womöglich vergleichbar mit rabbinischen Nachrichten über bedeutende Lehrer der Torah). Stattdessen griff man nach einer vorhandenen Schrift, die nach sprachlichen und inhaltlichen Kriterien dem Verfasser des Lukasevangeliums zuzuschreiben ist, aber noch keine weite Verbreitung gefunden hatte.139 In anderen Worten: Die späte Kanonisierung der Apostelgeschichte erklärt sich m. E. bestens als Folge ihrer Abspaltung vom Lukas-Evangelium, wobei (versehentlich) der Prolog zum lukanischen Gesamtwerk erhalten blieb, obwohl er von Hause aus auch oder gar überwiegend auf die Apostelgeschichte vorausdeutet.140
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als kanonischer Schrift, in: The Biblical Canons, hrsg. Von J.-M. Auwers und H. J. de Jonge, Leuven 2003, 395–427. Vgl. Childs, Brevard S., The Church’s Guide for Reading Paul. The Canonical Shaping of the Pauline Corpus, Grand Rapids 2008, 224: “The assumption that Luke-Acts functioned together in the church as a unified two-volume work until they were separated by the canonization of Acts appears increasingly dubious in the light of Schröder’s research.” In dieser Zeit der sozusagen „schlafenden“ Apostelgeschichte können die viel diskutierten Varianten des Codex Bezae entstanden sein. Ein Beginn des Lukasevangeliums mit Lk 1,5 wäre nicht seltsamer gewesen als der Beginn des Matthäusevangeliums (ohne Prolog oder Überschrift!) mit dem Stammbaum Jesu.
Bibliographie zum lukanischen Werk Erstveröffentlichungen Das Bekenntnis des Paulus zur Hoffnung Israels nach der Apostelgeschichte des Lukas, in: NTS 31 (1985) 437–451 Bildungsvoraussetzungen der urchristlichen Mission, in: Zeitumstände: Bildung und Mission. FS für Jörg Ohlemacher zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Michael Herbst, Roland Rosenstock u. Frank Bothe, Frankfurt 2009, 13–29 Der Geist und das Reich im Lukanischen Werk. Konkurrenz oder Konvergenz zwischen Pneumatologie und Eschatologie?, in: NTS 59 (2013) Heft 3, 325–345 Kritik an Christen und am Christentum im Neuen Testament, in: ThBeitr 45 (2014) 160–172 Umstrittene Reden. Thukydides als Vorbild des Lukas?, in: ThBeitr 49 (2018) 102–119
Sonstige Publikationen zum lukanischen Werk Das Pfingstwunder als exegetisches Problem, in: Verborum Veritas. Festschrift für Gustav Stählin zum 70. Geburtstag, hrsg. von Otto Böcher und Klaus Haacker, Wuppertal 1970, 125–131 Einige Fälle von ‚erlebter Rede‘ im Neuen Testament, in: NT 12 (1970) 70–77 Die Gallio-Episode und die paulinische Chronologie, in: BZ NF 16 (1972) 252–255 War Paulus Hillelit? in: Das Institutum Judaicum der Universität Tübingen in den Jahren 1971–72, Tübingen 1972, 106–120 Die Berufung des Verfolgers und die Rechtfertigung des Gottlosen. Erwägungen zum Zusammenhang zwischen Biographie und Theologie des Apostels Paulus, in: ThBeitr 6 (1975) 1–19 Predigthilfe über Lk 18,28–30, in: DtPfrBl 75 (1975) 375 Predigthilfe über Apg 1,3–4 (5–7) 8–11, in: Hören und Fragen 2 (1979) 179–188 Dibelius und Cornelius. Ein Beispiel formgeschichtlicher Überlieferungskritik, in: BZ NF 24 (1980) 234–251 Der Geist von Caesarea. Predigt über Apg 11,1–18, in: ThBeitr 12 (1981) 1–4 Wege des Wortes. Apostelgeschichte (Bibelauslegung für die Praxis Bd. 20), Stuttgart 1984 (die exegetische Hälfte des Bandes) Freude im Vaterhaus. Predigt über Lk 15, in: ThBeitr 15 (1984) 145–149 Rezension: J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5) und O. Bauernfeind, Kommentar und Studien zur Apostelgeschichte, in: ThBeitr 15 (1984) 288f Mut zum Bitten. Eine Auslegung von Lk 11,5–8, in: ThBeitr 17 (1986) 1–6 Erst unter Quirinius? Ein Übersetzungsvorschlag zu Lk 2,2, in: BN 38/39 (1987) 39–43 Verwendung und Vermeidung des Apostelbegriffs im lukanischen Werk, in: NT 30 (1988) 9–38 Urchristliche Mission und kulturelle Identität. Beobachtungen zur Strategie und Homiletik des Apostels Paulus, in: ThBeitr 19 (1988) 61–72 Vollmacht und Ohnmacht – Charisma und Kerygma. Bibelarbeit über Apg 14,9–20, in: ThBeitr 19 (1988) 217–224 Gott und die Wege der Völker. (Apg 14,16). Bibl. Besinnung zur Eröffnung eines politischen Studientages zum Thema Deutschland an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, in: ThBeitr 21 (1990) 281–284 Art. Gallio, in: The Anchor Bible Dictionary II (1992) 901–903 Das Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,1–8), in: ThBeitr 25 (1994) 277–284
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Bibliographie
Zum Werdegang des Apostels Paulus. Biographische Daten und ihre theologische Relevanz, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. v. Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 815–938 und 1924–1933 Die Stellung des Stephanus in der Geschichte des Urchristentums, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 26,2, hrsg. v. Wolfgang Haase, Berlin / New York 1995, 1515–1552 Paulus. Der Werdegang eines Apostels (Stuttgarter Bibelstudien 171), Stuttgart 1997 (überarbeitete, am Ende verkürzte Fassung des Beitrags zu ANRW von 1995) Art. Cornelius, in: RGG4 II, Tübingen 1999, Sp. 463 Urgemeinde – Idealgemeinde? in: Charisma Nr. 110 (Okt.-Dez. 1999) 23–26 Das Bild der Kirche in der Apostelgeschichte des Lukas, in: ThBeitr 32 (2001) 70–89 Paul’s Life, in: The Cambridge Companion on Paul, ed. J. D. G. Dunn, Cambridge University Press, 19– 33 Siehe, er betet. (Apg 9,11), in: ThBeitr 34 (2003) 233–237 Klaus Haacker / Rudolf Kaltenbach, Wie alles anfing … Sieben Texte aus dem Lukas-Evangelium. Arbeitshilfe aus der Bibelwochenvorbereitung 2004/2005 vom Amt für Missionarische Dienste der Evangelischen Landeskirche in Baden „Tröstet, tröstet mein Volk!“ Predigt zu Lukas 1,68–79, in: ThBeitr 35 (2004) 305–309 Mission – Wie denn? Warum denn? Predigt über Apg 16,9–15, in: ThBeitr 37 (2006) 169–172 Besprechung von: Kenneth E. Bailey, Der ganze andere Vater. Die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn aus nahöstlicher Perspektive in Szene gesetzt, Schwarzenfeld 2006, in: ThBeitr 38 (2007) 152 Paulus, der Apostel. Wie er wurde, was er war, Stuttgart 2008, (Erweiterte Überarbeitung von: Paulus. Der Werdegang eines Apostels (1997) Zeit zur Umkehr! Jesu Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (Lk 13,6–9), in: ThBeitr 40 (2009) 338–344 Was Jesus lehrte. Die Verkündigung Jesu – vom Vaterunser aus entfaltet, Neukirchen-Vluyn 2010 Die Einladung zur Mitfreude. Bekanntes und Verkanntes zu Lukas 15, in: ThBeitr 41 (2010) 114–125 Lukas 18,7 als Anspielung auf den Deus absconditus, in: NT 53,3 (2011) 267–272 Stephanus – verleumdet, verehrt, verkannt (Biblische Gestalten Bd. 28) Leipzig 2014 Buße? Um Gottes willen! Predigt zu Apostelgeschichte 9,1–11, in: ThBeitr 46 (2015) 266–270 Frustrated Plans and Unexpected Outcome (Especially Acts 16:6–8 Re-considered), in: D. E. Aune / R. Hvalvik (Hrsg.), The Church and Its Mission in the New Testament and Early Christianity. In Memory of Hans Kvalbein, Tübingen 2018, 129–143 Rätsel um Maria. Überlegungen zu Lk 1,34 und 1,27; 2,5, in: ThBeitr 49 (2018) 326–331