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German Pages [216] Year 2016
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand
Band 11 Herausgegeben vom Vorstand der Konferenz für Geschichtsdidaktik: Thomas Sandkühler, Charlotte Bühl-Gramer, Anke John, Astrid Schwabe und Holger Thünemann
Christian Kuchler / Benjamin Städter (Hg.)
Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen? Historische Tagespresse im Geschichtsunterricht
Mit 9 Abbildungen
V& R unipress
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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FSC® C083411
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-8471-0568-8 ISBN 978-3-8470-0568-1 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0568-5 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung, der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, der Stiftung Presse-Haus NRZ und des Vereins der Freunde und Fo¨ rderer des Internationalen Zeitungsmuseums Aachen e. V. T 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: T photocase.de Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Christian Kuchler/Benjamin Städter Druckerschwärze in der virtuellen Welt: Die Arbeit mit historischen Zeitungen im Geschichtsunterricht des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . .
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Andruck Frank Bösch Zeitungen als historischer Gegenstand. Gesellschaftsgeschichtliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Kuchler Zwischen geschichtsdidaktischer Forschung und aktuellem Unterrichtseinsatz: Historisches Lernen und Zeitung . . . . . . . . . . .
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Recherche Peter Geiss Digitalisierte historische Presse im bilingualen Geschichtsunterricht – Forschendes Lernen und multiperspektivisches Denken . . . . . . . . . .
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Cajus Wypior Kritische Archäologie des Gegenwartsbewusstseins – Zeitungen und Diskursanalyse im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ruth Fiona Pollmann Hands-on, minds-on: Theoretische Grundlagen zur handlungsorientierten Arbeit mit Zeitungen im Geschichtsunterricht
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Thomas Göttlich Der Koffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
Sven Oleschko Einsatz von historischen Zeitungen in sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Michele Barricelli Die Reaktualisierung von Tageszeitungen zum Ersten Weltkrieg. Ein Versuch anhand eines Beispiels aus Belgien mit Lernhinweisen . . . . . . 125
Kiosk Astrid Blome Die Presse der Frühen Neuzeit im Geschichtsunterricht – Anregungen und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Astrid Schwabe Multimedia statt Papier und Druckerschwärze – Das ›alte‹ Medium Zeitung in der digitalen Welt und der Geschichtsunterricht . . . . . . . . 161 Holger Wettingfeld Das Projekt »Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur«
. . . . 179
Christa Müller Historische Zeitungen im Schulunterricht: Das Beispiel ANNO – AustriaN Newspapers Online . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Rebecca Krizak Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Christian Kuchler/Benjamin Städter
Druckerschwärze in der virtuellen Welt: Die Arbeit mit historischen Zeitungen im Geschichtsunterricht des 21. Jahrhunderts
Das 21. Jahrhundert scheint ein Zeitalter der Medien zu werden.1 Neben ihrer traditionellen Rolle der Nachrichtenübermittlung, -ausdeutung und -kommentierung stehen Medienfirmen und -formate zunehmend selbst im Blickpunkt des öffentlichen Interesses und der medialen Berichterstattung. Dies gilt sowohl für neue, aufstrebende Firmen wie Google als auch für etablierte Konzerne wie Bertelsmann, den Axel Springer Verlag oder Fox News in den USA. Doch während Facebook, Twitter und Co. zu bestimmenden Akteuren in der politischen, gesellschaftlichen und teils sogar privaten Kommunikation aufsteigen und immer mehr an Bedeutung gewinnen, erscheint die Zukunft der gedruckt vorliegenden, traditionellen Tageszeitungen mehr als unsicher. Standen diese noch im 19. und 20. Jahrhundert im Zentrum gesellschaftlicher Kontroversen und Debatten und waren zugleich fester Bestandteil der Freizeitbeschäftigung in fast allen Teilen der Bevölkerung, so nehmen ihre Leserzahlen inzwischen rapide ab. Somit scheint ihre gesellschaftliche Bedeutung zu schrumpfen, auch wenn viele aktuelle Berichterstattungen über nationale und internationale Skandale zumindest mittelbar durch die Reporter und Redakteure der großen Tageszeitungen eine massenmediale Öffentlichkeit erreichen.2 Der vorliegende Sammelband nimmt diesen sich abzeichnenden Medienwandel zum Anlass, die Rolle des Mediums Zeitung kritisch zu reflektieren. Im Mittelpunkt steht dabei stets dessen Relevanz für das historische Lernen in einem Zeitalter, in dem Schülerinnen und Schüler keineswegs mehr selbstverständlich über eigene Lektüreerfahrungen verfügen3 und beim Medium Zeitung 1 Zwar wurde dies bereits für das 20. Jahrhundert festgestellt, es scheint aber, als habe sich diese Entwicklung nochmals verstärkt. Siehe hierzu Axel Schildt: Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 207–239. 2 Zu denken ist hier etwa an die Enthüllungen und das Schicksal des Whistleblowers Julian Assange, die vornehmlich durch die Journalisten der britischen Tageszeitung The Guardian ihr Publikum fanden. 3 Folgt man den Ergebnissen der JIM-Studie von 2014, so lesen 32 % der 12- bis 19-Jährigen in
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nicht zwingend an ein auf Papier gedrucktes und am Kiosk zu erwerbendes Produkt denken. Auch wenn die Tageszeitung in den letzten Jahren gerade für die junge Generation an Bedeutung verloren hat, kann sie für den Geschichtsunterricht und das historische Lernen eine exponierte Rolle spielen. Schließlich werden, wie Michele Barricelli in seinem Aufsatz treffend bemerkt, im schulischen Kontext auch Medien wie etwa das Telegramm, die Feldpostkarte oder das Historiengemälde analysiert, obschon sie der Lebenswelt heutiger Jugendlicher sehr fern stehen. Gerade die aus dem fehlenden Zeitungskonsum der Schülerinnen und Schüler resultierende Alteritätserfahrung birgt ein großes Potenzial für das Verstehen historischer Gesellschaftsformationen, Medienkulturen und Mentalitäten. In der Arbeit mit historischen Zeitungen bilden die Lernenden ein tieferes Verständnis für die Unterschiedlichkeit medialer Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart aus. Darüber hinaus erarbeiten sie an authentischen Materialien die historische Bedeutung der Tagespresse bei der Verbreitung, Kommentierung und Ausdeutung von Nachrichten. Vor dem Hintergrund der hohen Glaubwürdigkeit, die Tageszeitungen gerade bei jugendlichen Konsumenten immer noch genießen4, eignen sie sich besonders für die Ausbildung von Medienkompetenz, die auf eine kritische Medienrezeption bei Schülerinnen und Schülern auch über den Geschichtsunterricht hinaus zielt.5 Wie genau Zeitungen von gestern in diesem Sinne zum Lernen für die Zukunft beitragen können, diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Tagung des Lehr- und Forschungsbereichs Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen University und des Internationalen Zeitungsmuseums Aachen. Ziel der Konferenz und ihres hier dokumentierten Ertrags war es, verschiedene Personen, die sich mit dem historischen Lernen im weitesten Sinne beschäftigen, in einen Dialog eintreten zu lassen. So versammelt der Band Autorinnen und Autoren aus der Geschichtswissenschaft, der universitär verorteten Geschichtsdidaktik, der Referendarsausbildung, der Lehrerfortbildung und schließlich aus dem Lernort Schule. Folglich argumentieren die Beitragenden aus verschiedeDeutschland mehrmals in der Woche eine gedruckte Tageszeitung. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM 2014. Jugend, Information, (Multi) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart 2014, S. 11 (online verfügbar unter : http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf14/JIM-Studie_2014.pdf, Zugriff am 14. 09. 2015). 4 Laut JIM-Studie vertrauen Jugendliche bei widersprüchlichen Berichterstattungen zu 40 % auf Tageszeitungen. Damit liegt dieses Medienformat weit vor dem Fernsehen, dem Radio oder dem Internet. Siehe: Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.), JIM 2014, S. 4. 5 Zur aktuellen geschichtsdidaktischen Mediendiskussion: Christoph Pallaske (Hrsg.): Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel, Berlin 2015.
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nen Perspektiven und vermitteln teils geschichtsdidaktische Überlegungen, teils Ideen, die der Unterrichtspragmatik entsprungen sind. Gerade diese Diversität der Ideen und Zugriffe stellte sich auf der Aachener Tagung als höchst befruchtendes Setting heraus und spiegelt sich in diesem Sammelband. Alle Autorinnen und Autoren setzen in ihren Überlegungen bei der klassischen Definition von ›Zeitung‹ an, wonach diese die Kriterien der Periodizität, Universalität, Aktualität und Publizität erfüllen muss.6 Doch wird im 21. Jahrhundert immer offenkundiger, wie wenig die Erfüllung dieser Kriterien an den Publikationsweg Papier gebunden ist. Das Internet eröffnet (auch für den Einsatz historischer Zeitungen im Geschichtsunterricht) neue Möglichkeiten, die bislang nicht erahnt werden konnten. Daher wenden sich die Autorinnen und Autoren immer auch den Potenzialen des Umgangs mit (digitalisierten) Zeitungen in der virtuellen Welt zu. Aktuelle Artikel aus Tageszeitungen zu Themen der gegenwärtigen Geschichtskultur werden dabei nur am Rande berücksichtigt. Im Fokus der Untersuchungen steht vielmehr der Umgang mit Zeitungen vergangener Zeiten. Eingeleitet werden die Überlegungen der Autorinnen und Autoren durch zwei Aufsätze von Frank Bösch und Christian Kuchler. In Übernahme der Bezeichnung der Medienwelt stehen diese Beiträge unter der Kapitelüberschrift »Andruck«. Während der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam einen medienhistorischen Überblick über die Bedeutung des Mediums Zeitung für gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Konflikte und Transformationsprozesse aus Sicht der Geschichtswissenschaft gibt, konzentriert sich Kuchler auf die geschichtsdidaktische Perspektive. Er zeigt den Forschungsstand des Faches zum Umgang mit Printmedien und verfolgt am Beispiel aktueller Lehrwerke und erfolgreicher Beiträge im Rahmen des »Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten« die Bedeutung von Zeitungen für das aktuelle historische Lernen im schulischen Kontext. Die sich daran anschließenden Beiträge des Sammelbandes folgen zwei verschiedenen Herangehensweisen: Ausgehend von unterschiedlichen Zugriffen der Geschichtsdidaktik diskutiert ein erster Teil unter dem Titel »Recherche« die Potenziale des Einsatzes von historischen Zeitungen im Unterricht. Hier werden grundlegende didaktische Parameter ausgelotet, die (ähnlich der Recherchetätigkeit in einer Zeitungsredaktion) als Vorarbeit für die praktische Umsetzung des Einsatzes von Zeitungen im Geschichtsunterricht gelten können. Eine zweite Gruppe von Autorinnen und Autoren stellt unter dem Titel »Kiosk« bestimmte Medienkorpora an den Beginn ihrer Ausführungen, die im engeren oder auch im weiteren Sinne mit historischen Zeitungen verbunden sind. 6 Groth, Otto: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). Bd. I: Das Wesen des Werkes, Berlin 1960, S. 102–257.
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In der Rubrik »Recherche« wendet sich zunächst Peter Geiss dem bilingualen Geschichtsunterricht zu und zeigt auf, wie durch die Analyse von deutsch- und französischsprachigen Zeitungsartikeln zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Methoden- und narrative Kompetenzen geschult werden können. Im Zentrum stehen dabei Überlegungen zur Ausbildung und Förderung des multiperspektivischen Denkens und der multiperspektivisch angelegten historischen Narration. Cajus Wypior versteht die Arbeit mit Zeitungen im Geschichtsunterricht als diskursanalytische Annäherung an die historischen Gegenstände und entwickelt anhand der medial vermittelten Texte und Visualia ein Konzept zur Einbindung diskursanalytischer Überlegungen in den Geschichtsunterricht, der einen starken Fokus auf den Gegenwartsbezug des historischen Lernens legt. Auf dieser theoretischen Grundlage erläutert er am Beispiel verschiedener Visiotypen der Russlandberichterstattungen deutscher Medien in Geschichte und Gegenwart, wie der Geschichtsunterricht als kritische Archäologie des Gegenwartsbewusstseins konzipiert werden kann. Die beiden Aufsätze von Fiona Pollmann und Thomas Göttlich richten den Blick auf das Unterrichtsprinzip der Handlungsorientierung. Während Pollmann dieses Konzept theoretisch reflektiert und dessen Chancen für den Geschichtsunterricht auslotet, präsentiert Göttlich einen Werkstattbericht, der die Arbeit eines Universitätsseminars im Rahmen der Lehrerausbildung skizziert. Sven Oleschko stellt die Förderung der narrativen Kompetenz in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und sieht in der Arbeit mit Zeitungen und vor allem mit deren visuellen Inhalten einen Ausgangspunkt für einen sprachsensiblen Geschichtsunterricht. In seiner Argumentation bietet der Quellentyp Zeitung für die Auseinandersetzung mit domänenspezifischen Sprachstrukturen gerade in sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen die Chance der individuellen Förderung. Michele Barricelli schließlich versteht die Arbeit mit Zeitungen im Geschichtsunterricht als Chance zur Analyse historischer Mentalitäten. In seinen Ausführungen zeigt er, warum gerade ein Medium, das trotz seiner Verdienste für die Meinungsvielfalt in der demokratischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung verliert, für das historische Lernen äußerst gewinnbringend eingesetzt werden kann. Am Beispiel von belgischen Berichterstattungen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs plädiert er dafür, bei der Analyse von Zeitungen weniger die eigentlichen Nachrichten in den Blick zu nehmen, sondern Zeitungen als Quellen für die Gefühls- und Mentalitätswelten historischer Gesellschaften zu verstehen. Die nachfolgenden Untersuchungen wählen unter dem Titel »Kiosk« diverse Medienkorpora als Ausgangspunkt für die Frage, wie diese spezifischen Zusammenstellungen für den Geschichtsunterricht fruchtbar gemacht werden können. So wendet sich Astrid Blome zunächst den Presseerzeugnissen der Frühen Neuzeit zu, um anschließend zu zeigen, welche Chancen die Arbeit mit Zeitungen für kulturhistorische Fragestellungen im Geschichtsunterricht er-
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öffnen. Astrid Schwabe erörtert anschließend verschiedene digitale Angebote von Zeitungen und diskutiert, wie diese in einem kompetenzorientierten Geschichtsunterricht nutzbar gemacht werden können, um den Schülerinnen und Schülern eine Orientierung in den grenzüberschreitenden und multimedial angelegten Medien- oder Informationsgesellschaften der Gegenwart zu geben. Holger Wettingfeld stellt das Berliner Digitalisierungsprojekt »Pressechronik 1933« vor und skizziert verschiedene Kooperationsprojekte, die das Deutsche Pressemuseum mit Berliner Schulen auf der Grundlage des Projekts initiieren konnte. Das vielleicht älteste und größte Digitalisierungsprojekt für historische Zeitungen im deutschsprachigen Raum stellt Christa Müller vor: ANNO (AustriaN Newspapers Online) zielt mit seinem umfangreichen Angebot nicht nur auf die medienhistorische Forschung, sondern wendet sich auch an interessierte Lehrkräfte im schulischen Bereich. Der Beitrag skizziert erste Beispiele für Kooperationen zwischen dem Projekt der Wiener Nationalbibliothek und österreichischen Schulen. Rebecca Krizak schließlich stellt in ihrem Aufsatz das Internationale Zeitungsmuseum Aachen vor und schildert auf der Grundlage von Interviews und Umfragen, an denen Schüler und Lehrer unterschiedlicher Schulformen teilnahmen, dessen Potenziale als außerschulischer Lernort. Die Beschäftigung mit historischen Zeitungen war nur möglich, weil eine Reihe von Förderern der Tagung und der hier vorliegenden Publikation der Diskussionsergebnisse ihre finanzielle Unterstützung gewährte. An der Spitze zu nennen sind hier die »ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius« sowie die »FAZIT-Stiftung«, die schon aus ihrer eigenen Geschichte heraus dem gesellschaftlichen Umgang mit Printmedien eng verbunden sind. Daneben gilt es, der »Stiftung Presse-Haus NRZ« und dem »Verein der Freunde und Förderer des Internationalen Zeitungsmuseums Aachen e. V.« zu danken – auch sie förderten unser Anliegen mit großzügigen Beihilfen. Für die redaktionelle Unterstützung bei der Druckvorbereitung ist Theresia Jägers, Hanna Marie Stevens und Volker Manz zu danken. Ohne deren umsichtige Arbeit, die aufseiten des Verlags von Marie-Carolin Vondracek begleitet wurde, und ohne die Bereitschaft der Autorinnen und Autoren, sich auf das »Wagnis Zeitung« einzulassen, hätten die vielfältigen Anregungen zur Arbeit mit Printmedien nicht erscheinen können – was in unseren Augen ein Verlust gewesen wäre. Aachen, im März 2016 Christian Kuchler
Benjamin Städter
Andruck
Frank Bösch
Zeitungen als historischer Gegenstand. Gesellschaftsgeschichtliche Zugänge
Zeitungen erscheinen heute gerade Jugendlichen und Studierenden als ein altes, aussterbendes Medium. Und tatsächlich lesen bekanntlich jüngere Menschen besonders selten Zeitungen, während das Internet das zentrale Informationsmedium zu sein scheint. Insofern ist die Beschäftigung mit der Entwicklung von Zeitungen mit einem aktuellen Problem verbunden, das sie zugleich historisch besonders interessant macht. Ein dem Internet hinterherhinkendes Medium ist die Zeitung jedoch sicher nicht. Zumindest im weiteren Feld der politischen Kultur werden derzeit noch fast alle großen Debatten im starken Maße durch Tageszeitungen geprägt. Skandale, öffentliche Themen oder Probleme werden fast durchweg von etablierten Journalisten angestoßen, selten von Blogs und sozialen Netzwerken. Selbst in den wenigen Fällen, in denen der offene Raum des Internets maßgebliche Informationen bereitstellte (wie bei Wikileaks), gaben die Kooperation mit und die Auswertung von etablierten Journalisten und Blättern den entscheidenden Anstoß. Zweifelsohne sind in den 1990er-Jahren die Auflagen und Einnahmen von Zeitungen gesunken. Und dass sie in naher Zukunft überwiegend nur noch online erscheinen werden, ist wahrscheinlich. Aber das ist eben nicht das Ende der Zeitung: Denn bekanntlich gibt es keine Definition von Zeitungen, die sich auf ihre Materialität bezieht. Abgrenzende Merkmale sind vielmehr die Periodizität, die Aktualität sowie inhaltliche Universalität und die Publizität, also die Zugänglichkeit für prinzipiell jedermann, so Otto Groth.1 Für Historiker, aber auch für den Geschichtsunterricht, wird ein Gegenstand gerade dann besonders interessant und historisierbar, wenn er nicht mehr als vertraut erscheint. In der Tat lässt sich das große Interesse an der Mediengeschichte auch damit erklären, dass Fernsehen, Radio, Telegrafie oder eben die Presse plötzlich als alte Medien einer früheren Zeit erscheinen. Es gibt dabei viele Wege, Zeitungen zu erforschen. Die Medien- und Kommunikationswis1 Vgl. Otto Groth: Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden, München 1948, S. 339f.
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senschaftler legten etwa einen Schwerpunkt auf die inhaltliche Auswertung und ihre quantitative Erfassung.2 Da die Kommunikationswissenschaft nunmehr vornehmlich Gegenwartsanalysen betreibt, treten Historiker in gewisser Weise ihr medienhistorisches Erbe an. Was jedoch Historiker besonders interessiert, ist die gesellschaftliche Bedeutung von Medien. Insofern versteht sich auch mein Artikel als ein Plädoyer, nicht allein einzelne Zeitungsinhalte oder -artikel auszuwerten, sondern die soziale Bedeutung des Mediums zu untersuchen. Insofern würde ich dafür eintreten, nicht allein die gedruckten Zeitungen als Quellen zu untersuchen, sondern ihre jeweiligen Kontexte einzubeziehen. Welche Perspektiven dies eröffnen kann, möchte ich an drei ausgewählten Schwerpunkten der letzten 400 Jahre verdeutlichen: zunächst an der Gründung der Zeitung im 17. Jahrhundert, dann anhand ihrer Ausbreitung im 19. Jahrhundert und schließlich anhand von Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert. Dabei verbinde ich meinen chronologischen Dreischritt mit einigen systematischen Blicken auf die Entstehung von generellen Ausprägungen und Strukturen von Medien. Eine weitere Verknüpfung erfolgt mit der Erforschung von Zeitungen, etwa im Hinblick auf ihre Inhalte und Wertungen, die Lenkung und Zensur, die Akteure, die Ökonomie und politische Dimension sowie ihre Nutzung und ihre Leserinnen und Leser.
1.
Anfänge der Zeitung im 17. Jahrhundert
Die Zeitung feierte jüngst ihr 400. Jubiläum, was neuere Forschungen zu ihrer Frühphase anregte. Die älteste Zeitung erschien nach bisherigem Forschungsstand 1605 in Straßburg, die ältesten überlieferten Blätter, die Wolfenbüttler Avisa und die Straßburger Relation, stammen aus dem Jahr 1609. Der Straßburger Drucker Johann Carolus (1575–1634) erhielt 1605 vom Rat der Stadt ein entsprechendes Privileg, nachdem er zunächst handschriftlich Nachrichten vervielfältigt hatte. Nachdem er sich eine Druckerpresse zugelegt und eine der bedeutendsten Verlagsdruckereien am Oberrhein geschaffen hatte, erfand er seine gedruckte Zeitung mit dem Namen Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien. Sie entsprang als ›Nebenprodukt‹ aus der Kombination seiner Tätigkeit als Nachrichtenhändler und Drucker.3 Als Postknotenpunkt besaß Straßburg besonders gute Voraussetzungen für die Etablierung einer 2 Maßgeblich für die Geschichte der deutschen Presse: Rudolf Stöber : Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Konstanz 2014. 3 Vgl. Martin Welke: Johann Carolus und der Beginn der periodischen Tagespresse. Versuch, einen Irrweg der Forschung zu korrigieren, in: Martin Welke/Jürgen Wilke (Hrsg.): 400 Jahre Zeitungen. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, Bremen 2008, S. 9–166.
Zeitungen als historischer Gegenstand
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Zeitung, da ein hoher Bedarf an Informationsübermittlung bestand. Zudem wurden hier Nachrichten zwischen dem deutschen und französischen Raum transferiert. Damit entstand ein weiteres Mal eine zentrale Erfindung der Mediengeschichte im Rheingebiet, zu der Bevölkerungsdichte, Informationsverdichtung und die offene Handelskultur der Region beitrugen. Ökonomische Interessen sorgten offensichtlich für den nötigen Antrieb. Die Ausgaben dieser frühen Zeitungen liegen mittlerweile digitalisiert gut greifbar für den Gebrauch in Forschung und Schule vor.4 Welche Forschungsperspektiven und Interpretationen können wir aus diesen gut dokumentierten und zugänglichen Beispielen ausmachen? Erstens, dass die Erfindung der Zeitung Anfang des 17. Jahrhunderts im westlichen Europa kurz bevorstand und entsprechend vielerorts eine Nachfrage nach einem derartigen Medium bestand. So kamen in England seit den 1580er-Jahren verstärkt gedruckte Nachrichten aus Frankreich und den Niederlanden auf, die ab 1592 recht regelmäßig und im folgenden Jahr an festen Tagen in London zu kaufen waren (News of France on the First of the Month of March).5 Niederländische Medienhistoriker behaupten mitunter, die weltweit erste Zeitung sei 1609 in Amsterdam entstanden.6 Zumindest erhielt 1605 in Antwerpen ein Drucker von den Erzherzögen das Privileg, regelmäßig ›große Ereignisse‹, insbesondere für das Militär, zu veröffentlichen.7 Entsprechend schnell expandierten Zeitungen dort. Dieses zeitgleiche Aufkommen ist typisch für viele mediengeschichtliche Innovationen: Auch beim Film, Fernsehen oder Computer entstanden parallel ähnliche Erfindungen. Dies verweist darauf, dass Medien nicht allein aus genialen technischen Innovationen entstehen, sondern dass soziale Bedürfnisse und Sehnsüchte nach einer anderen Form der Kommunikation Einfluss auf die Entwicklung von Medien nehmen, die sich dann in Konkurrenz zueinander verbreiten. Insbesondere Rudolf Stöber verwendet daher den Begriff der ›Medienevolution‹, um das Aufkommen neuer Medien zu erklären.8 Alte und neue Medien blieben dabei stets lange nebeneinander bestehen. Dies war auch bei der Erfindung der gedruckten Zeitung der Fall: Handgeschriebene Zeitungen bestanden noch einige Zeit fort, vor allem aber spielte die wichtigste Vorform der 4 Unter : http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/relation1609. 5 Vgl. Joad Raymond: Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, Cambridge 2003, S. 105ff. 6 Vgl. Huub Wijfjes: Modernisation of Style and Form in Dutch Journalism 1870–1914, in: Marcel Broersma (Hrsg.): Form and Style in Journalism. European Newspapers and the Representation of News, 1880–2005, Leuven 2007, S. 61–80, hier S. 61. 7 Vgl. Michel Morineau: Die holländischen Zeitungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Michael North (Hrsg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln 1995, S. 33–44, hier S. 34. 8 Rudolf Stöber: Neue Medien. Geschichte: Von Gutenberg bis Apple und Google. Medieninnovation und Evolution, Bremen 2013.
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Zeitung, das Flugblatt, noch weit bis ins 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, da vor allem regionale Neuigkeiten auf ihm abgedruckt wurden. Ähnliches galt für spätere Medien: Das Fernsehen verdrängte nicht das Kino, das Internet nicht das Fernsehen. Zweitens sind die Unterschiede bei der Verbreitung und Rezeption von Zeitungen zu erklären. Im deutschsprachigen Raum gab es im 17. Jahrhundert etwa 200 Zeitungstitel und damit mehr als im restlichen Europa zusammen. Mit der Ausnahme von Köln und Hamburg fanden sich jedoch kaum Zeitungen im Westen und Norden. In Zentralstaaten wie Schweden, Dänemark, England oder Frankreich wurden lediglich in der Hauptstadt Zeitungen gedruckt.9 Die Bevölkerungsdichte und die jeweiligen kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingung helfen, die Unterschiede in Verbreitung und Rezeption zu erklären. So entstanden etwa im Kurfürstentum Hannover trotz der zentralen Lage bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum langlebige Zeitungen. Grund dafür waren die Restriktionen der Obrigkeit und die geringe Nachfrage.10 Auch in Frankreich blockierte eine starke Zensur die Entfaltung maßgeblich. Eine frühe und dichte Ausbreitung der Zeitungen erfolgte hingegen ab 1618 in den Niederlanden. Wie im Reich begünstigte die polyzentrische und konfessionell heterogene Struktur des Landes dies ebenso wie die dortige Drucktradition und der städtische Wohlstand. Der Einfluss der Politik auf die Expansion des neuen Mediums zeigte sich auch in Oberitalien: Trotz Reichtum und hoher Alphabetisierung kamen hier erst ab 1636 Zeitungen auf, da die Obrigkeit sie vorher nicht zuließ. Wie bereits beim Buchdruck verlief die Ausbreitung der Zeitung im Norden und insbesondere im Osten Europas sehr zögerlich. In Russland etablierten sich Zeitungen sogar erst im Zuge der Reformen unter Peter dem Großen ab 1702. Sie wurden im Krieg gegen Schweden zur Mobilisierung und zur Vermittlung der Außen- und Innenpolitik genutzt.11 Da wegen der kleinen Leserschaft die Gewinne dort gering blieben, waren die meisten Zeitungen sehr kurzlebig.12 Während also das Aufkommen und die Verbreitung von Medien in starkem Maße mit dem politischen Rahmen zusammenhingen und noch immer zusammenhängen, ist die Nachfrage nach neuen Medien stark sozial und kulturell 9 Vgl. Paul Ries: The Anatomy of a Seventeenth-Century Newspaper, in: Daphnis 6 (1977), S. 171–232, hier S. 179. 10 Vgl. Sebastian Küster : Vier Monarchien – vier Öffentlichkeiten. Kommunikation um die Schlacht bei Dettingen, Münster 2004, S. 138–157. 11 Vgl. Petra Plambeck: Publizistik im Russland des 18. Jahrhunderts. Analyse der Aufrufe zur Zeit des Pugacˇev-Aufstandes 1773–1775, Hamburg 1982, S. 39–43; Louise McReynolds: The News under Russia’s Old Regime: the Development of a Mass-Circulation Press, Princeton 1991, S. 16. 12 Vgl. Gary Marker: Publishing, Printing, and the Origins of Intellectual Life in Russia 1700–1800, Princeton 1985, S. 167.
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geprägt und entsprechend unterschiedlich. Deutschland, die Niederlande oder Großbritannien, dann auch der Norden gehörten dauerhaft zu Ländern mit starker Zeitungsnutzung, im Unterschied zum Süden und Osten Europas. Protestantische Prägungen, die mitunter größere Freiheiten, Textfixierung und Bildungsstandards förderten, spielten dabei eine wichtige Rolle, waren aber nicht allein entscheidend, wie der Blick auf das Rheinland zeigt. Zudem lässt sich fragen, wer derartige Meldungen der Zeitungen erstellte. Über die Herausgeber der frühen Zeitungen sind wir etwas genauer informiert. Die ältere Annahme, vor allem Postmeister hätten Zeitungen herausgebracht, da sie die transportierten Informationen gleich verwerteten, gilt für das Reich als widerlegt. Vielmehr trugen die Drucker die Meldungen selbst zusammen oder stellten einen Redakteur ein. Mitunter beschäftigten auch Gelehrte einen Lohndrucker.13 Diese frühen Journalisten waren anscheinend recht jung und oft »im beruflichen Zwischenstadium zwischen einer akademischen Ausbildung und einer erhofften vollen Stelle im Sinne der frühneuzeitlichen Berufsverfassung«.14 Die Korrespondenten waren »Fachleute im Dunstkreis der Macht«, etwa Militärs und Staatsbeamte.15 Selten reisten sie dagegen extra zu den Orten der Ereignisse, auch wenn beispielsweise für die Niederlande schon 1666 Korrespondenten belegt sind, die zu Kriegsschauplätzen fuhren.16 Sie saßen in Informationsknotenpunkten wie Wien (für Südosteuropa), Hamburg (Nordeuropa) oder Köln (Nordwesteuropa), und ihre Bezahlung konnte je nach Umfang der Berichte hoch ausfallen und machte rund ein Fünftel der Zeitungskosten aus. Ferner lässt sich an diesen frühen Blättern das Aufkommen und die Verbreitung von Nachrichten erforschen. Trotz dieser starken medienpolitischen Differenzen besaßen die europäischen Zeitungen formal und inhaltlich erstaunliche Ähnlichkeiten. Im Unterschied zu heute waren die Nachrichten nicht nach Relevanz hierarchisierte Meldungen, sondern weitgehend nach Eingangszeitpunkt angeordnete Kurzberichte, die hintereinander Geschehnisse in punktuelle Ereignisse atomisierten.17 Die vorangestellte Nennung von Zeit und Ort der Übermittlung sollte das Vertrauen in die Meldung stärken und ihre Aktualität unterstreichen, obwohl das Ereignis je nach räumlicher Distanz, die die Nachricht erst einmal überwinden musste, einige Wochen zurückliegen 13 Vgl. Johannes Arndt: Verkrachte Existenzen? Zeitungs- und Zeitschriftenmacher im Barockzeitalter zwischen Nischenexistenz und beruflicher Etablierung, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 101–115, hier S. 102. 14 Ebd., S. 109. 15 Vgl. Arnulf Kutsch/Johannes Weber (Hrsg.): 350 Jahre Tageszeitung. Forschungen und Dokumente, Bremen 2002, S. 18; Elger Blühm/Rolf Engelsing (Hrsg.): Die Zeitung: Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bremen 1967, S. 29f. 16 Vgl. Morineau, Zeitungen, S. 38. 17 Vgl. Thomas Schröder : Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl, Tübingen 1995, S. 214, 229.
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konnte. Die Drucker griffen folglich kaum in die Meldungen ihrer auswärtigen Korrespondenten redaktionell ein. Sprachlich waren die Meldungen daher nicht leicht zu verstehen. Der Anteil der Fremdwörter und Fachbegriffe war mitunter hoch, und die episodisch genannten zahlreichen Personen, Orte und Details machten die Lektüre voraussetzungsreich.18 Gemeinsamkeiten zeigten die Zeitungen Europas auch bei ihren Inhalten. Außenpolitische Nachrichten dominierten, während regionale Meldungen weniger als ein Zehntel der Meldungen ausmachten.19 Sie thematisierten vornehmlich Ereignisse aus den benachbarten Ländern in Europa, wenngleich auch Meldungen aus dem Orient und Amerika zu finden waren. Besonders das Reich stand häufig im Mittelpunkt der ausländischen Presse.20 Inhaltlich war die internationale Publizistik stark verwoben. Allerdings veränderten sich die Nachrichten durch ihre Weitergabe von Blatt zu Blatt.21 Die frühen Zeitungen waren zwar selten Parteiblätter, aber die Meldungen waren nicht unparteilich. Die Berichte der Korrespondenten erhielten mitunter durchaus Wertungen.22 So konnte eine Studie zu Kriegsberichten in vier westlichen Ländern belegen, dass die Standpunkte der eigenen Territorien zum Teil patriotisch gelobt wurden, und zwar nicht nur bei offiziösen Blättern wie der französischen Gazette.23 Die intensivste Parteinahme von Zeitungen lässt sich in England ausmachen. Hier entstanden im Zuge des Bürgerkriegs der 1640er-Jahre Blätter, die offensiv entweder den Monarchen (etwa Mercurius Aulicus, Mercurius Pragmaticus) oder kämpferisch das Parlament und die republikanische Idee (etwa Mercurius Politicus) unterstützten.24 Dass die Zeitungen kaum lokale und regionale Nachrichten druckten, hat die Forschung vor allem mit der Angst vor der Zensur zu erklären versucht. Tatsächlich nahmen in Phasen größerer Pressefreiheit schlagartig die inländische 18 Sonja Schultheiß-Heinz: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 2004, S. 105–111; Schröder, Zeitungen, S. 146, 269. 19 Vgl. Morineau, Zeitungen, S. 37; Donald Haks: War, Government and the News. The Dutch Republic and the War of the Spanish Succession, 1702–1713, in: J. W. Koopmans (Hrsg.): News and Politics in Early Modern Europe, Leuven 2005, S. 169; Schultheiß-Heinz, Politik, S. 271. 20 Vgl. Jürgen Wilke: Auslandsberichterstattung und internationaler Nachrichtenfluß im Wandel, in: Publizistik 31 (1986), S. 53–90, hier S. 80. 21 Brendan Dooley (Hrsg.): The Dissemination of News and the Emergence of Contemporaneity in Early Modern Europe, Farnham 2010. 22 Vgl. Frauke Adrians: Journalismus im 30-jährigen Krieg. Kommentierung und »Parteylichkeit«, in: Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Konstanz 1999, S. 185f.; Wolfgang Behringer : Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003, S. 369f. 23 Vgl. Schultheiß-Heinz, Politik, S. 217, 236–256, 273. 24 Raymond, Pamphlets, S. 26–79.
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und die lokale Berichterstattung zu, etwa in Zeiten des englischen Bürgerkriegs der 1640er-Jahre oder während der Revolutionen 1789 und 1848. In fast allen europäischen Zeitungen nahmen Nachrichten mit militärischen Bezügen den meisten Raum ein.25 Auch die Expansion der Zeitung war eng mit Kriegen verbunden: Erst der Beginn des Dreißigjährigen Krieges förderte ihre Expansion in Westeuropa bis hin nach England – wie bei vielen neuen Medien war der Krieg eine treibende Kraft für die Entwicklung und Ausbreitung der Zeitung. Ein weiterer Punkt betrifft die Zensur der Meldungen. Hier hat die neuere Forschung deutlich gemacht, dass bei der Übertragung der Vorstellungen von der harten Zensur im Vormärz auf die Frühe Neuzeit behutsam vorgegangen werden sollte. Die Spielräume waren im deutschsprachigen Raum größer und hingen vor allem von der lokalen Konstellation ab, in der die Zeitung erstellt und zensiert wurde. Dort, wo wie in Frankreich bis 1789 eine scharfe Zensur herrschte, übernahmen ausländische Zeitungen ersatzweise diese Informationsfunktion. Intensiver erforscht wurde die Leserschaft von Zeitungen. Sie war angesichts der relativ hohen Kosten bis ins 19. Jahrhundert überwiegend wohlhabend und männlich. Dieser Befund wurde jedoch in jüngster Zeit relativiert: Schließlich wurde jedes Exemplar an zahllose Menschen weitergereicht, lag in öffentlichen Räumen und Kneipen aus oder wurde oft laut vorgelesen. Frauen verkauften zudem oft Zeitungen oder legten sie in Wirtshäusern aus und kamen so mit Nachrichten in Kontakt. Zudem entstanden im 18. Jahrhundert in Großbritannien auch Blätter speziell für Frauen, und vor allem Zeitschriften wie die sogenannten Moralische Wochenschriften und kulturelle Blätter wandten sich an Frauen. Mit den Zeitungen entstand eine Öffentlichkeit, für deren Analyse jahrzehntelang Jürgen Habermas Pate stand. Sie förderten eine Partizipation an der Politik und eine Meinungsbildung durch die Kommunikation über die Blätter und ihre Inhalte. Zeitungen zwangen zudem Herrscher, ihre Entscheidungen öffentlich zu legitimieren. Ob etwa ein Krieg gewonnen war oder nicht, entschieden auch die Zeitungsmeldungen mit, wie jüngst Arbeiten zum Siebenjährigen Krieg belegen, da sie mit über die weitere Unterstützung für die Kriegsparteien beitrugen.26
25 Adrians, Journalismus, S. 185f. 26 Vgl. einführend zur große Bedeutung der Zeitungen hier Marian Füssel: Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2012, S. 90–94.
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2.
Revolution, Nation und Parteien: Das lange 19. Jahrhundert
Bis ins 18. Jahrhundert nahm die Zahl der Zeitungen ebenso wie die jeweiligen Auflagen deutlich zu, aber weder technisch noch inhaltlich oder organisatorisch traten fundamentale Änderungen auf. Diese zeichneten sich deutlicher im 19. Jahrhundert ab, das entsprechend stark im Zentrum der Forschung steht. Bislang liegen vor allem Arbeiten zu einzelnen Zeitungen vor, zur Zensur oder auch eine bahnbrechende Sozialgeschichte der Journalisten von Jörg Requate.27 Hier möchte ich wiederum drei gesellschaftsgeschichtliche Forschungstrends hervorheben, die auch für den Schulunterricht interessant sein könnten.
2.1
Zeitungen, Revolution und Nationsbildung
Bereits im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zeigte sich die zentrale Rolle zahlreicher Zeitungen. Sie bildeten ein Netzwerk für den Protest gegen die britische Vorherrschaft, und die Journalisten waren zentrale Kämpfer gegen diese. Maßgebliche Symbole wurden von ihnen hervorgebracht, ebenso symbolische Aktionen wie die Boston Tea Party. Viele der späteren Verfassungsväter waren publizistisch aktiv, wie etwa der Verleger, Erfinder und einer der späteren Gründungsväter der Vereinigten Staaten, Benjamin Franklin. Der Nachrichtentransfer der Zeitungen dynamisierte auch die Entwicklung in Europa. Das gilt zunächst für Frankreich vor 1789, wo französischsprachige Zeitungen aus den Niederlanden über die USA informierten. In Frankreich selbst ermöglichten mit der Revolution zahllose Zeitungen die Formierung von Parteien, Programmen und Akteuren. Im deutschen Raum begann die Dynamisierung, als durch Zeitungsmeldungen die Revolution von Frankreich aus nach Osten drang. Auch bei den revolutionären Entwicklungen im 19. Jahrhundert spielten Zeitungen eine Schlüsselrolle. In Großbritannien gab es zwar keine Revolution, aber die großen Proteste von Unterschichten und ihre Bewusstseinsbildung geschah über neue radikale Blätter wie den Poor Men’s Guardian. Große blutige Zusammenstöße, wie das Peterloo Massacre 1819, wurden von der Presse mit angestoßen. Ähnlich enge Beziehungen zwischen Publizistik und Protest lassen sich auch für Deutschland ausmachen, wie zum Beispiel beim Hambacher Fest. Auch hier hatten Journalisten die Federführung, und der Kampf für die Pressefreiheit 27 Jörg Requate: Journalismus als Beruf. Die Entstehung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 109), Göttingen 1995.
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stand im Zentrum. Ebenso fand die Revolution 1848 eben nicht nur, vielleicht sogar weniger auf Barrikaden statt als vielmehr in den Sitzungen der zahllosen neu aufblühenden Zeitungen, die durchaus eine parteibildende Kraft hatten. Entsprechend gehörte die Zensur im Vormärz und in den 1850er-Jahren zu den zentralen Maßnahmen der Restauration. Im Anschluss an den Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat sich aber noch ein weiterer Zugang etabliert, um Nationsbildung und Zeitungen zusammen zu verstehen: Bereits das gemeinsame gleichzeitige Lesen von Zeitungen und das Bewusstsein darüber, dass andere Landsleute täglich ähnliche Meldungen rezipieren, habe die Vorstellung von einer Nation befördert.28 Nehmen wir das jüngst erforschte Beispiel der Schillerfeier 1859: Die Schillerfeiern waren zwar alle lokal und unabhängig, von Preußen bis in die USA, aber die wechselseitigen Berichte über die Aktivitäten gaben den Beteiligten das Gefühl, dass hier alle Deutschen ein gemeinsames nationales Fest zelebrierten.29 Derartige Beispiele lassen sich im Schulunterricht generell auf die Analyse von Ereignissen übertragen. Nicht allein unterschiedliche Deutungen in Zeitungen wären demnach zu untersuchen, sondern auch, wie Zeitungen diese überhaupt erst aufgreifen, dynamisieren und letztlich in ihrem Verlauf verändern.
2.2
Die Ausbildung transnationaler Kommunikationsnetze
Ein weiteres wichtiges aktuelles Forschungsfeld der Pressegeschichte, das sich auch für den Geschichtsunterricht anbietet, sind transnationale Kommunikationsnetze. So entstehen zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Nachrichtenagenturen und von Auslandskorrespondenten im 19. und 20. Jahrhundert.30 Insbesondere die Mechanismen bei der Aufteilung der Welt zwischen den drei, später vier großen Agenturen bilden einen Zugang für die allseits angestrebte Globalgeschichte. Bei den Nachrichtenagenturen wird deutlich, wie einerseits ökonomische Interessen nationale überflügelten. Andererseits zeigen sie gerade für Deutschland, wie stark der Staat die Nachrichtenagentur WTB nutzte, um mit der Welt zu kommunizieren. Imperialismus und Nachrichtenverbreitung 28 Vgl. Benedict Anderson: Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Berlin 1988, S. 27, 45. 29 Vgl. Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen. Die Schillerfeiern 1859 in Europa und Nordamerika, Göttingen 2014. 30 Vgl. Volker Barth: Medien, Transnationalität und Globalisierung, 1830–1960. Neuerscheinungen und Desiderata, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 717–736. Zu Auslandskorrespondenten vgl. etwa die Beiträge in Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014).
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gingen dabei Hand in Hand. Da Deutschland kaum Kolonien hatte, erstrebte es insbesondere für Südosteuropa, den Osten und Teile Skandinaviens eine Deutungshoheit. Zugleich steht das Aufkommen von Auslandskorrespondenten aus dem eigenen Land für eine Nationalisierung der Zeitungsinformationen. Dem eigenen Landsmann wurde mehr getraut als fremden Berichterstattungen. Die bisher wenigen vorliegenden Arbeiten zeigen allerdings die begrenzten Eigenrecherchen und Sprachkenntnisse vor Ort. Oft fassten die Korrespondenten vor allem die dortige Presse zusammen. Um 1900 sahen sie sich dann jedoch als eigenständige Akteure, die, wie etwa Dominik Geppert gezeigt hat, versuchten, den politischen Dialog der Länder zu prägen.31 Da weiterhin ein größerer Teil der Nachrichten das Ausland betraf, hatten sie eine Schlüsselstellung. Etwas weniger Beachtung fanden bislang die Transferprozesse bei der Etablierung von Printmedien. Denn offensichtlich wurden seit dem 18. Jahrhundert immer wieder Medienformate direkt aus dem Ausland adaptiert, vorzugsweise aus Großbritannien, später dann aber auch aus den USA: vom Penny Magazine zum Pfennig-Magazin, von der Illustrated London News zur Leipziger Illustrierten Zeitung. Derartige Adaptionen sind uns natürlich auch aus der Zeitgeschichte vertraut, etwa zwischen Daily Mirror und BILD-Zeitung. Hier böten sich systematischere Vergleiche an, um kulturelle Eigenheiten auszumachen – sowohl in der Forschung als auch bei der Quellenarbeit in der Schule.
2.3
Parteien- und Massenpresse
Ein weiteres Forschungsfeld, das traditionell großes Interesse fand, ist die für Deutschland lange charakteristische Parteipresse, während zur Massenpresse weniger Studien vorliegen. Heute kommen uns Parteiblätter wie der Vorwärts denkbar altertümlich vor. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert waren sie hingegen äußerst fortschrittliche, partei- und demokratiebildende Organe. Insbesondere die bürgerlichen Parteien verfügten in dieser Zeit eben nicht über einen Parteiapparat, über Parteiprogramme oder große diskutierende Mitgliederbestände. Ihre abgrenzenden Positionen entfalteten sich vielmehr in den Parteiblättern. Ebenso erfolgte die Kommunikation mit anderen Parteien auf diesem Weg: Die Zeitungen griffen fortlaufend Stellungnahmen der andere Parteiblätter auf und versuchten sie zu widerlegen. Damit simulierten sie die Debatten des Parlaments, was auch für den Geschichtsunterricht eine sehr gute Quelle sein kann. Die Parlamente selbst wurden ebenfalls durch sehr ausführ31 Vgl. Dominik Geppert: Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007.
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liche Berichte aufgewertet, die die Zeitungen oft im stenografischen Stil druckten. Wer im Reichstag sprach, richtete sich nun immer an die ganze Nation und die Wähler. Dies veränderte auch das Sprechen im Reichstag: Es wurde vielfach medienkompatibler, was die Zunahme von Skandalen mit erklärt.32 In Deutschland blieb die Distanz zwischen den Journalisten und der Reichsleitung zwar stark: Die despektierlichen Äußerungen, die etwa von Bismarck über Journalisten bekannt sind, waren durchaus charakteristisch für dieses Verhältnis. Bis 1900 blieben Zensur und Haft eine ständige Bedrohung für Journalisten, danach vor allem für die Sozialdemokraten. Dennoch hatten fast alle führenden Politiker vertraute Journalisten. Dieses Verhältnis ist bislang kaum untersucht worden, aber es deutet sich an, dass es trotz der instrumentellen politischen Wahrnehmung von Journalisten durchaus enger war als bisher angenommen. Gerade Politiker wie Reichskanzler Bülow betrieben eine aktive Medienpolitik, um sich selbst darzustellen: etwa in Berichten über seine Norderney-Reisen oder seine Hunde.33 Das Format der Homestory und der privaten Darstellung von Politikern kam hier mit all seinen Ambivalenzen auf: mit Skandalen um private Verfehlungen oder auch mit doppeldeutigen Darstellungen, die Spott auslösten. Auch die Leser, also die potenziellen Anhänger von Parteien, formierten sich durch die Expansion der Parteipresse. Welche Zeitung man kaufte, war durchaus ein offenes Bekenntnis, und ein Abonnement glich einem Parteibuch. Die politische Ausrichtung einer Kneipe zeigte sich an den dort ausgelegten Zeitungen. So konnte ich an Spitzelberichten über Hamburger Kneipengäste zeigen, dass die Zeitungslektüre auch um 1900 immer wieder einen Kommunikationsanlass bildete, um grundsätzliche politische und alltägliche Fragen zu diskutieren.34 Die oft betonten Grenzen zwischen der Partei- und der Massenpresse lassen sich nicht scharf ziehen. Beide waren stark politisch ausgerichtet, textlastig und anzeigenfinanziert. Die berühmten Massenblätter des Ullstein-Verlags schienen weniger klar politisch positioniert zu sein, da sie liberal waren. Aber auch eine liberale Ausrichtung ist natürlich eine Position, ebenso wie der eher konservative Duktus der Scherl-Presse. Fundierte Arbeiten über die großen Massenblätter, wie die BZ am Mittag oder die Berliner Illustrierte Zeitung (BIZ), stehen weiterhin aus. 32 Vgl. Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009. 33 Jürgen Wilke, Medialisierung der Politik? Reichskanzler von Bülow als Vorläufer, in: Klaus Arnold u. a. (Hrsg.): Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Politik im 20. Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 97–120. 34 Vgl. Frank Bösch: Zeitungsberichte im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienentwicklung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49 (2004), S. 319–336.
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Die Anzeigen der Blätter scheinen mir für Schule und Forschung besonders ertragsreich zu sein. Freizeit, Wohnen und Konsum, die Arbeit oder auch die Suche nach Partnern wurden nun in starkem Maße über die Massenpresse organisiert. Auch anhand der Milieupresse lassen sich hier neue Einsichten in die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse ausmachen. Hier ließe sich an die Arbeiten von Peter Fritzsche anschließen, der in seinem Buch Reading Berlin die Massenpresse in die Stadtgeschichte Berlins einordnete.35 Denn nicht nur für die zahlreichen Neubürger boten diese Blätter eine starke Orientierungsfunktion. Die Zeitungsredaktionen selbst lassen sich dabei als Kommunikationsknoten fassen. Hier warteten Menschen auf Neuigkeiten und Anzeigen oder meldeten zu festen Sprechzeiten Neuigkeiten. In kleineren Städten lagen die Redaktionen entsprechend häufig dicht beim Marktplatz.
3.
Zeitungen im 20. Jahrhundert
Die Zeitungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist angesichts der vielfältigen Systemwechsel nur schwer übergreifend darstellbar. Exemplarisch möchte ich hier ein paar systematische Bereiche herausstellen, die für Forschung und Lehre von besonderer Bedeutung sein könnten. Zu diesen übergreifenden Perspektiven zählt etwa ein genauerer Blick auf die Beziehung zwischen Staat und Presse. Hier würde ich dafür plädieren, den Ersten Weltkrieg, Nationalsozialismus und die DDR in einigen Punkten vergleichend oder zumindest anhand ihrer Verbindungen zueinander zu betrachten. Der Erste Weltkrieg etablierte nicht nur eine strikte Zensur, sondern vor allem ein ausgefeiltes System der Presseanweisungen, an die der Nationalsozialismus und die DDR anknüpften.36 Verbote mischten sich hier mit detaillierten Hinweisen, was wann wo zu schreiben sei. Ergänzt wurde dies seit dem Ersten Weltkrieg durch Pressekonferenzen der Politiker. Damit entstand ein regelmäßiger Kontakt zwischen Politikern und Journalisten. Und schließlich nutzten die beiden Diktaturen, wie dies im Ersten Weltkrieg die Regierung des Kaiserreichs getan hatte, die Nachrichtenagentur WTB (bzw. ADN in der DDR), um zentrale Informationen nach innen und außen zu kommunizieren.37 Gerade die Vorstellung, die überlegene Propaganda der westlichen Alliierten sei für deren Erfolge verantwortlich gewesen, förderte ab 1916, später aber auch im Nationalsozialismus eine Mobilisierung mit Medien und eine denkbar enge 35 Peter Fritzsche, Reading Berlin 1900, Cambridge/MA. 1996. 36 Vgl. Jürgen Wilke: Presseanweisungen im zwanzigsten Jahrhundert. Erster Weltkrieg – Drittes Reich – DDR, Köln 2007. 37 Zu den Agenturen im NS vgl. Peter Longerich: Propagandisten im Krieg. Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop, München 1987.
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Einbindung linientreuer Journalisten. Kaum erforscht ist hingegen, in welchem Maße sich die zahllosen Zeitungen an die Anweisungen hielten. Erste Lokalstudien zum Nationalsozialismus deuten eine starke Umsetzung an.38 In allen drei Phasen klagten die Machthaber mit neidischen Blicken gen Westen, dass die Presse öde und gleichförmig sei, obgleich doch gerade ihre Zensur und Lenkung dafür verantwortlich war. Wie groß die Spielräume der Blätter waren, ist umstritten. Auch die zahlreichen kontroversen Studien zur Frankfurter Zeitung scheinen mir vor allem anzudeuten, dass sie gering waren. Nach 1945 und 1989 erinnerten sich viele Journalisten und auch Leser an gewisse Spielräume der Presse, wie Michael Meyen in Befragungen in Ostdeutschland festhielt.39 Gerade bei der DDR-Tagespresse würde sich jedoch ein genauerer Vergleich der täglichen Artikel in verschiedenen Blättern lohnen, der bisher kaum gemacht wurde: Vermutlich waren die Differenzen eher gering und beschränkten sich auf das Lokale oder auf Anzeigen, was jedoch für die Leser wichtige Teile waren. Vergleicht man die Propaganda im Ersten Weltkrieg, im Nationalsozialismus und in der DDR, so fällt die unterschiedliche Bewertung ihres Erfolgs auf: Die Presse im Ersten Weltkrieg und der DDR gilt als erfolglos, die des Nationalsozialismus als erfolgreich bei der Verführung der ›Masse‹. Zweifelsohne hatte diese Lesart nach 1945 eine entlastende Funktion. In der DDR scheint die Tagespresse angesichts der Konkurrenz des westdeutschen Fernsehens völlig bedeutungslos gewesen zu sein. Erklärungsbedürftig ist jedoch, dass dennoch so viele Menschen Zeitungen kauften. Gerade in der DDR war die Zeitungsauflage so hoch wie fast nirgends sonst in der Welt. Dies muss ernst genommen werden: Offensichtlich erfüllten selbst die stark gelenkten Zeitungen eine wichtige gesellschaftliche Orientierungsfunktion: für private und berufliche Gespräche, um Entwicklungen abzuschätzen, um Rat zu bekommen, selbst wenn man die politische Linie nicht teilte. Ähnliches gilt für die Leserbriefe: Auch in der Diktatur waren sie nicht nur Ausdruck von Parteibekenntnis, sondern auch des Wunsches nach politischer Mitsprache. Nicht nur den Lesern, sondern auch den Journalisten verlangten die Systemwechsel einiges an Wandlungsfähigkeit ab. Während wir über die Journalisten des 19. Jahrhunderts und seit den 1990er-Jahren recht gut informiert sind, sind berufsspezifische Studien für das kurze 20. Jahrhundert eher rar. Auffällig ist zunächst, dass es den Journalisten im Unterschied zu anderen neuen aka38 Konrad Dussel: Wie erfolgreich war die nationalsozialistische Presselenkung?, in: VfZG 58 (2010), H. 4, S. 543–562. 39 Michael Meyen: Denver-Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003.
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demischen Berufen, wie den Ingenieuren oder Betriebswirten, zunächst nicht gelang, sich als Berufsgruppe mit bestimmten Diplomen abzugrenzen. Trotz verschiedener Bemühungen setzte sich keine entsprechende feste Berufsausbildung durch. Gemessen am Selbstverständnis der Journalisten sahen sie sich in Deutschland lange noch als artverwandt mit den Schriftstellern: Bildung und Begabung waren dabei zentral. Entsprechend war der Beruf oft eine temporäre Phase nach dem Studium und damit eine zeitlich begrenzte Stufe auf der Karriereleiter, im sozialdemokratischen Milieu nicht selten eine Etappe beim Aufstieg in der Parteihierarchie. Bezeichnenderweise waren es die Diktaturen, die den Journalisten eine feste Professionsbildung bescherten: die Reichspressekammer durch ihre Auslese (wenig erfolgreich dagegen die Reichspresseschule), dann vor allem die DDR mit ihrer quasi-verpflichtenden Journalismusausbildung in Leipzig und der entsprechenden Verbandsmitgliedschaft.40 Die Journalisten nahmen diese Regulierungen hin. Auffällig ist, gerade im Vergleich mit dem 19. Jahrhundert, wie wenig sie protestierten: Im Nationalsozialismus zählte die einst kritische Berufsgruppe ebenso wenig zum Kreis der Oppositionellen wie in der DDR. Gerade die Zeitungsjournalisten vollzogen 1989 erst spät die Wende. Dennoch behielten sie nach 1990 ganz überwiegend ihre Positionen. Wie lassen sich in Abgrenzung dazu die Zeitungen der Demokratie interpretieren? Hier sind vielleicht drei Phasen zu unterscheiden: Weimar, die Zeit bis Anfang der 1960er und die folgenden Jahrzehnte. In der Weimarer Republik erscheint zunächst auffällig, wie stark der Staat immer noch bei der Presse eingriff. Die Nachrichtenagentur WTB wurde weiterhin von der Regierung gefördert, auch um internationale Informationen einzuholen und eigene Meldungen in die internationalen Nachrichten einzuspeisen. Die Zensur wurde vielfältig eingesetzt, vor allem gegen die politischen Extreme. Dass die Weimarer Republik zu wenig gegen sie vorgegangen sei, kann zumindest aus pressegeschichtlicher Sicht sicherlich nicht behauptet werden.41 Auffällig ist zudem die starke Vermischung zwischen Parteipolitik und boulevardesker Unterhaltung: Verschiedene Massenblätter, wie der Berliner Lokal-Anzeiger von Hugenberg, traten klar für eine Partei ein; kommunistische Blätter wie die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) übernahmen das Format der BIZ, nur mit Werbung für das kommunistische Russland; andere Blätter, wie die BIZ selbst, gaben sich eher überparteilich, durch ihre Bildsprache bezogen sie jedoch Stellung für die demokratischen Parteien. Die Parteiblätter waren jedoch nicht einfach abhängig von der Parteiführung. Vielmehr wurde argumentiert, 40 Daniel Siemens/Christian Schemmert: Die Leipziger Journalistenausbildung in der Ära Ulbricht, in: VfZG 61 (2013), H. 2, S. 201–237. 41 Vgl. Klaus Petersen: Zensur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1995.
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dass die Kompromissbereitschaft der Politiker im Reichstag durch die persönlichen Begegnungen wuchs, die parteipolitische Polarisierung der Presse ihnen jedoch eine Öffentlichkeit vorspiegelte, gegen die sie kaum regieren konnten.42 In dieser Hinsicht trug die Presse dazu bei, die Demokratiebildung zu erschweren. Dennoch: Man sollte die Wirkungsmacht der Parteipresse nicht überschätzen. Die Liberalen verfügten über eine starke Presse, verloren aber ihre Wähler völlig. Dagegen war die NSDAP-Presse bis 1932 vergleichsweise klein. Auch in Weimar waren es weniger die Deutungen als die von den Zeitungen gesetzten Themen, die Menschen für bestimmte politische Richtungen affin machten. Die Jahre nach 1945 bedeuteten bekanntlich auch in der Bundesrepublik einen Bruch mit dem bisherigen Pressesystem. Vor allem aber lebte nach den Verboten im Zuge des Zweiten Weltkriegs die einmalige Vielfalt der Zeitungen nicht wieder auf. Angesichts der heutigen Zeitungskrise können die deutschen Verleger den Alliierten allerdings eher dankbar sein, dass sie nur eine starke regionale Presse zuließen und 1945 nicht die zahllosen Lokalblätter in größerem Maße aufblühen ließen, die schon in den 1950/60er-Jahren rasch chancenloser wurden. Wenngleich die Briten zumindest parteinahe Zeitungen in ihrer Besatzungszone aufbauten und die neu gegründeten, überparteilichen Blätter der amerikanischen Zone rasch wieder eine Parteilinie suchten, hatte diese ebenfalls nur kurze Zeit Erfolg. Viele Journalisten wollten parteilich sein und sahen sich noch bis in die 1980er-Jahre in starkem Maße als politische und moralische Erzieher. Die Leser und die Anzeigenkunden goutierten das weniger, sodass seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre insbesondere die sozialdemokratischen Blätter eingingen, gefolgt von den konfessionellen, während sich am ehesten die konservativen Lokalblätter halten konnten. Stattdessen setzte sich Anfang der 1960er-Jahre ein Journalismus durch, der zwar wesentlich weniger formell an Parteien gebunden war, aber dafür zum Teil deutlicher Koalitionen mit politischen Richtungen einging. Dies hing sehr stark mit dem Politisierungsgrad der Gesellschaft zusammen, wie ein Blick auf die Auflagenentwicklung belegt: In Phasen geringer Politisierung, wie in den 1950er-Jahren oder derzeit, haben wir geringere Auflagen. Umgekehrt haben wir um 1980 aufgrund einer besonders starken Politisierung der Gesellschaft einen Höchststand der Zeitungsauflagen, der in der gesamten politischen Kultur zu Rekordzahlen führte: Bei den Mitgliedern der Parteien, Gewerkschaften, bei Demonstrationen und bürgerschaftlichem Engagement waren die Werte unvergleichbar hoch. Insofern ist auch nicht allein das Internet 42 Vgl. Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002; Bernhard Fulda: Press, Politics in the Weimarer Republic, Oxford 2009.
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für den Niedergang der Zeitungen verantwortlich, sondern ebenfalls ein kultureller Wandel und eine Abnahme des Interesses an der Politik nach einer ungewöhnlichen Hochphase. Die politische und gesellschaftliche Rolle von Zeitungen in der Bundesrepublik kann man kaum überschätzen. Bei prominenten Beispielen wissen wir gut, wie sie Ereignisse und Debatten nicht nur abgebildet, sondern angestoßen und wesentlich mit konstituiert haben. Gerade weil ihnen eine derartig große Macht zugeschrieben wurde, vermochten sie diese auch zu erlangen: Eliten wandten sich ihnen zu, andere protestierten gegen sie, so etwa gegen den Springer-Verlag. Überschätzen sollte man aber zumindest den politischen Einfluss selbst im Falle der BILD-Zeitung nicht, wie zwei Beispiele zeigen. So konnte diese auch auf dem Höhepunkt ihrer Auflage weder die Regierung von Willy Brandt verhindern noch seine Ostpolitik. Und trotz ihrer positiven Haltung gegenüber Israel blieb die Meinung in der Bevölkerung kritisch. Ist die lange Geschichte der gedruckten Zeitung zu Ende? Täglich kaufen heute noch rund 20 Millionen Menschen eine Zeitung, was mindestens doppelt so viele Leser bedeutet. Vergleichbare tägliche Reichweiten erreichen Onlineportale sicher nicht, schon gar nicht einzelne Blogs. Die eigentliche ökonomische Krise der Zeitungen ist jedoch weniger durch zu geringe Auflagen als durch eingebrochene Werbeeinnahmen bedingt. Die Mediengeschichte hat oft gezeigt, dass sich alte Medien angesichts neuer Konkurrenz gut behaupten, indem sie sich technisch, inhaltlich und sozial neu aufstellen. Das dürfte auch den Zeitungen gelingen.
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Zwischen geschichtsdidaktischer Forschung und aktuellem Unterrichtseinsatz: Historisches Lernen und Zeitung
Medien sind relevant. Diese sehr grundsätzliche These bestätigt nicht nur unsere alltägliche Lebenserfahrung. Auch die Geschichtswissenschaft wendet sich in den letzten Jahren wieder verstärkt den Medien als einem zentralen Untersuchungsgegenstand zu.1 Damit rücken auch Tageszeitungen wieder mehr in den Blick der historischen Forschung. Ihr Stellenwert als Quelle wird dabei ebenso thematisiert2 wie ihre Bedeutung als prägende Institution der öffentlichen Geschichtskultur.3 Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, wenn gerade das Medium Zeitung neu entdeckt wird, schließlich wird in Zeiten der viel beschworenen Zeitungskrise die Zukunft der Zeitung an sich häufig infrage gestellt. Inzwischen liegt sogar ein »Nachruf« auf die klassische, gedruckte Zeitung vor.4 Doch gerade diese Debatten sind es, die die gesellschaftliche Bedeutung des Mediums Zeitung wieder verstärkt in den Blick rücken. Wenn tatsächlich – wofür sehr viel spricht – im Moment ein epochaler Medienwandel stattfindet, so ist das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer Vergewisserung über frühere Veränderungen in der Mediennutzung durchaus verständlich. Zuletzt hat der Bamberger Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber eine Monografie zur Entstehung von ›Neuen‹ Medien vorgelegt, die dezidiert den evolutionären Charakter solcher Veränderungsprozesse hervorhebt.5 Für Historiker sind Zeitungen in diesem Sinne also keineswegs uninteressante Gebrauchsge1 Stellvertretend: Fabio Crivellari/Kay Kirchmann/Marcus Sandl/Rudolf Schlögl (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004. Zusammenfassende Darstellung: Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt 2011. 2 Hans-Christoph Kraus: Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Pamphlete, in: Michael Mauerer (Hrsg.): Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. IV: Quellen. Stuttgart 2002, S. 373–401. 3 Volker Ullrich: Zeitgeschichte als Strategie. Zur Präsentation von Geschichte in den Printmedien, in: Michael Sauer/Sabine Horn (Hrsg.): Geschichte und Öffentlichkeit, Göttingen 2009, S. 179–185. 4 Michael Fleischhacker : Die Zeitung. Ein Nachruf, Wien 2014. 5 Rudolf Stöber : Neue Medien. Geschichte: Von Gutenberg bis Apple und Google – Medieninnovation und Evolution, Bremen 2013.
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genstände der Vergangenheit, sondern vielmehr höchst ertragreiche Anregungen für die aktuelle Arbeit. Für die Geschichtswissenschaft ist es dabei auch zweitrangig, welche ökonomischen Renditeperspektiven im 21. Jahrhundert der Druck von aktuellen Tageszeitungen noch eröffnet, sie interessiert sich ohnehin vor allem für die Tagespresse von gestern oder vorgestern, ließe sich überspitzt formulieren. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nun, zu überprüfen, ob die allgemeine Wiederentdeckung des Mediums Zeitung innerhalb der Geschichtswissenschaft sich auch im Bereich des historischen Lernens nachweisen lässt. Er soll die Basis für die nachfolgenden Debattenbeiträge legen und den aktuellen Stand in Forschung, Lehrwerken und im Unterrichtsalltag bilanzieren. Vorrangig untersucht werden soll, welche Bedeutung gerade im Geschichtsunterricht dem Umgang mit Zeitungen zugebilligt wird. Eruiert wird dies, indem zunächst der Stand der geschichtsdidaktischen Forschung zum Thema skizziert wird, ehe sich dann der Blick auf den schulischen Geschichtsunterricht richtet. Dabei werden unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten angewandt, um eine detaillierte Bestandsaufnahme vorzulegen. Zunächst soll am Beispiel der Lehrwerke des Faches Geschichte die konkrete Bedeutung von Zeitungen für den klassischen Unterricht aufgegriffen werden. Dem wird dann das forschende Lernen im Rahmen des »Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten« gegenübergestellt, bei dem nicht die standardisierten Lernmedien, wie das Geschichtsbuch, das historische Lernen prägen, sondern die individuelle Recherchekompetenz der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer deren Medienauswahl bestimmt. Auf der Basis dieser Zugänge soll am Ende die Frage beantwortet werden, ob sich aus den ›alten Blättern von gestern‹ tatsächlich das Lernen für morgen gestalten lässt.
1.
Tagespresse in der geschichtsdidaktischen Literatur
Am Beginn der 1980er-Jahre wandte sich Hans-Jürgen Pandel der geschichtsdidaktischen Medienforschung zu. Gewohnt pointiert kam er dabei zu dem Urteil, dass sich innerhalb des Faches weder eine geschichtsdidaktische Mediendiskussion noch eine eigene Medienforschung herausgebildet habe. Seiner Auffassung nach existierte zum damaligen Zeitpunkt weder das eine noch das andere.6 Heute, knapp vier Jahrzehnte später, ist Pandels damalige Position sicher nicht mehr zu halten. Der Bedeutungszugewinn der Medien in der Ge-
6 Hans-Jürgen Pandel: Anmerkungen zum Stand der geschichtsdidaktischen Mediendiskussion, in: Geschichtsdidaktik 5 (1980), H. 4, S. 329–334.
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sellschaft hat sich auch in der Geschichtsdidaktik niedergeschlagen.7 Ihnen kommt sowohl in der Forschung als auch in der Lehre an Schule und Universität eine zentrale Bedeutung zu, wenngleich eine allgemein akzeptierte Definition des Terminus ›Medium‹ bzw. ›Medien‹ für die Geschichtsdidaktik weiterhin fehlt.8 Dennoch: Auf der Basis einer bibliometrischen Analyse der Jahrgänge 2000 bis 2013 der einschlägigen Fachzeitschriften Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, geschichte für heute und Zeitschrift für Geschichtsdidaktik sowie anhand der Publikationen zu den Zweijahrestagungen der »Konferenz für Geschichtsdidaktik« kommt Markus Bernhardt sogar zu dem Ergebnis, dass die Medien des historischen Lernens in den zurückliegenden Jahren das am häufigsten aufgegriffene Großthema der geschichtsdidaktischen Forschungsliteratur darstellten.9 Auch im aktuellen Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts nimmt sich ein eigenes Großkapitel des Themas an und erörtert die Bedeutung der Medien für den schulischen Kontext.10 Unterstützt wurde diese Entwicklung nicht zuletzt von politischen Vorgaben,11 die ihren vorläufigen Höhepunkt in einem Beschluss der Kultusministerkonferenz fanden. Unter dem Titel Medienbildung in der Schule schrieb die KMK im März 2012 fest, dass Medienbildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, der sich besonders die Schulen zu stellen hätten. »Schulische Medienbildung umfasst also stets das Lernen mit Medien und das Lernen über Medien«, fassen die verantwortlichen Schulressortleiter ihre Position zusammen.12 In der Geschichtsdidaktik kann als prominentestes Beispiel für die Analyse des Untersuchungsgegenstandes ›Medien‹ noch immer das von Hans-Jürgen Pandel und Gerhard Schneider gemeinsam herausgegebene Handbuch Medien im Geschichtsunterricht angesehen werden, das inzwischen bereits in mehreren 7 Einen Überblick über den Diskussionsstand bietet: http://www.historicum.net/kgd/aus wahlbibliographie/medien-im-geschichtsunterricht/ (05. 03. 2016). 8 Hierzu Tagung an der Universität zu Köln im Jahr 2014: http://www.lisa.gerda-henkel-stif tung.de/tagung_gld14_medien_der_vergangenheit_medien_der_gegenwart?nav_id=4932 (24. 01. 2015). 9 Wolfgang Bernhardt: Geschichtsdidaktik nach PISA – Bilanzen und Perspektiven. Eine bibliometrische Analyse, in: Michael Sauer u. a. (Hrsg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive, Göttingen 2014, S. 347–363, hier S. 357. 10 Fünf Einzelbeiträge diskutieren die Bedeutung von Medien, siehe hierzu: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. II, Schwalbach/ Ts. 2012, S. 85–179. 11 Ein relativ frühes Beispiel: Empfehlung zur Lehrerbildung auf dem Gebiet der Medienpädagogik. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 26. Oktober 1979, in: Schulbibliothek aktuell 2 (1980), S. 65–68. 12 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Medienbildung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08. März 2012, Berlin 2012, online unter : http://bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/medien bildung-gs.bildung-rp.de/AG_Medienkonzept/KMK-Beschluss/Beschluss-Empfehlung-Me dienbildung-08–03–2012.pdf (15. 01. 2015), S. 4.
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(teilweise völlig unveränderten) Auflagen erschienen ist.13 Zudem bestätigen aktuelle Debatten um Medien, wie sie jüngst in Public History Weekly geführt wurden,14 deren Bedeutung für die geschichtsdidaktische Diskussion. Allerdings zeigt schon das Format von Public History Weekly als Internetblog,15 welche neuen Schwerpunkte die Geschichtsdidaktik derzeit setzt: Im Mittelpunkt steht das Internet und sein Potenzial für das historische Lernen, wozu inzwischen auch vielfältige Impulse gegeben wurden.16 Und tatsächlich ist die virtuelle Welt als Medium und Untersuchungsgegenstand im 21. Jahrhundert sicher unverzichtbar. Dennoch darf die Disziplin darüber die ›klassischen‹ Medien und ihre Bedeutung für den Geschichtsunterricht nicht ausblenden. Dies scheint – blickt man etwa auf aktuelle Studien zu Comics17 oder Filmen18 – tatsächlich nicht der Fall zu sein. Die geschichtsdidaktische Forschung nimmt sich ihrer an und diskutiert auch die Bedeutung der spezifischen Medien für die ›Public History‹.19 Zu konstatieren ist vielmehr, dass die geschichtsdidaktische Beschäftigung mit Medien im schulischen Geschichtsunterricht ebenso wie in der öffentlichen Geschichtskultur noch niemals so umfangreich war wie heute. Dennoch bleibt festzustellen, dass die klassische, in gedruckter Papierform vorliegende Tageszeitung in dieser relativ breiten geschichtsdidaktischen Literatur bislang kaum eine Rolle spielt. Dies war schon in den empirischen Erhebungen Hans-Jürgen Pandels zu Beginn der 1980er-Jahre der Fall und hat sich bis heute kaum verändert. Geradezu bezeichnend ist es, wenn sogar das angesprochene Handbuch Medien im Geschichtsunterricht keinen eigenständigen Beitrag zum Stichwort »Zeitung« beinhaltet. Das mag an deren Eigenart liegen, sich nur schwer in eine der von den Herausgebern definierten Gruppen aus 13 Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 6., erw. Aufl., Schwalbach/Ts. 2011. 14 Christoph Pallaske: Sprachverwirrung. Was ist ein geschichtsdidaktisches Medium?, in: Public History Weekly 2 (2014), H. 25, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014–2311. 15 Neben dem Periodikum Public History Weekly widmet sich auch ein Blog ausschließlich Fragen der Medienrezeption im Geschichtsunterricht. Siehe: https://geschichtsunterricht. wordpress.com/ (15. 01. 2015). 16 Stellvertretend hierzu die jüngsten Publikationen: Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente: Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden, Bern 2013; Marko Demantowsky/ Christoph Pallaske: Geschichte lernen im digitalen Wandel. Ein Buchprojekt im Open Peer Review, München 2014. 17 Ren8 Mounajed: Geschichte in Sequenzen. Über den Einsatz von Geschichtscomics im Geschichtsunterricht, Frankfurt 2009. 18 Christoph Kühberger : Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel »Spielfilm«. Empirische Befunde – Diagnostische Tools – Methodische Hinweise, Innsbruck 2013. 19 Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt, Stuttgart 2009; Christoph Kühberger (Hrsg.): Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Innsbruck 2012.
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schriftlichen, grafischen, visuellen, akustischen oder haptischen Quellen einordnen zu lassen. Jedenfalls spielen Zeitungen im Band kaum eine Rolle, sie werden nur im Abschnitt »Die Arbeit mit schriftlichen Quellen« sehr knapp angetippt,20 während andere Medien, etwa historische Jugendbücher21, zu eigenständigen Kapiteln erhoben werden. Ähnlich marginal verfahren auch die grundlegenden Einführungswerke des Faches mit der Quellengattung Zeitung. Waldemar Grosch hebt immerhin explizit die Bedeutung von Presseerzeugnissen als Textquellen des Geschichtsunterrichts hervor,22 doch auch im neu erschienenen Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts sucht man vergeblich nach einer vertieften Auseinandersetzung mit dem hier zu diskutierenden Untersuchungsgegenstand.23 Im wohl am weitesten verbreiteten Einführungswerk zur Geschichtsdidaktik, in Michael Sauers Geschichte unterrichten, spielen Zeitungen ebenfalls nur eine Nebenrolle. Sie werden nur summarisch neben Erinnerungsliteratur, fiktionaler Literatur und Reden als Beispiele für schriftliche Quellen aufgelistet.24 Unter den jüngeren Veröffentlichungen hebt sich davon das Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht ab, indem es sich sogar mit zwei Beiträgen der Einbeziehung von Zeitungen zuwendet.25 Demgegenüber fällt sogar Hans-Jürgen Pandels einschlägige Monografie zur Quelleninterpretation deutlich zurück. Zwar skizziert sie Zeitungen als zentrale Gattung der schriftlichen Quellen im Geschichtsunterricht, doch bleiben die wenigen Anmerkungen zu den didaktischen Potenzialen der Quellengattung ungewöhnlich dürr. Pandel verweist lediglich auf die Bedeutung von Zeitungen als Quellen für die Standortgebundenheit der Verfasser, die im Unterricht zur Behandlung der politischen oder mentalitätsgeschichtlichen Grundlagen der Zeit genutzt werden könnten. Ergänzend betont er als Vorteil von Zeitungen deren Versuch, komplexe Sachverhalte wie Vertragstexte mit Blick auf die zeitgenössische Leserschaft zu reduzieren und aufzubereiten. Gerade dies sei für den Einsatz im aktuellen Un20 Gerhard Schneider: Die Arbeit mit schriftlichen Quellen, in: Pandel/Schneider (Hrsg.), Handbuch, S. 15–44, hier S. 18. 21 Dietmar von Reeken: Das historische Jugendbuch, in: Pandel/Schneider (Hrsg.), Handbuch, S. 69–83. 22 Waldemar Grosch: Schriftliche Quellen und Darstellungen, in: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 6., überarb. Aufl., Berlin 2014, S. 74–99, hier S. 79f. 23 Christina Brüning: Die Verwendung von Textquellen im Geschichtsunterricht, in: Barricelli/ Lücke (Hrsg.), Handbuch, Bd. II, S. 92–107. 24 Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 10. Aufl., Seelze-Velber 2012, S. 187f. 25 David Luginbühl: Printmedien, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2013, S. 165–184. Zudem praktisch orientiert: Nadine Ritzer/Sabine Ziegler: Die europäische Integration im Spiegel von Zeitungen und Zeitschriften, in: ebd., S. 381–404.
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terricht sehr von Vorteil, da bereits in der zeitgenössischen Berichterstattung eine didaktische Reduktion vorgenommen sei.26 Als umfassende Einordnung der schriftlichen Quelle Tagespresse kann diese außerordentlich knappe Einschätzung jedoch nicht eingestuft werden, bezogen auf den Anspruch des Bandes überzeugt die Darstellung Pandels also nicht. Angesichts des mangelhaften Forschungsstandes müssen somit weiterhin ein knapper Text von Michael Sauer in der Festschrift zum 65. Geburtstag von Ulrich Mayer sowie das ebenfalls von ihm betreute Themenheft der unterrichtspraktisch ausgerichteten Zeitschrift Geschichte lernen aus dem Jahr 2007 als ›state of the art‹ gelten, wenn sich der Blick auf den Forschungsstand der Geschichtsdidaktik zum Thema Zeitung richtet.27 Darin stellt der Göttinger Geschichtsdidaktiker die vielfältigen Potenziale der Analyse von Zeitungen heraus. Neben der hermeneutischen Arbeit an den Inhalten betont er unter anderem die Möglichkeiten für handlungsorientiertes Unterrichten, die Printmedien bieten.28 In eine ganz ähnliche Richtung zielt die Berücksichtigung von Zeitungen im Band Geschichts-Methodik. Carsten Hinrichs geht es darin ebenfalls vor allem um den handlungsorientierten Einsatz im Unterricht. Schülerinnen und Schüler sollen mit dem Verweis auf Zeitungen oder gar eigene Zeitungslektüreerfahrungen zum Verfassen von triftigen Darstellungen motiviert werden, und auch die Herstellung von spezifischen ›Geschichtszeitungen‹ stellt der Autor als ertragreiche Methode historischen Lernens dar.29 Jenseits dieser knappen Beiträge blieb jedoch eine breitere Analyse oder gar eine grundsätzliche Diskussion der Bedeutung von Zeitungen für das historische Lernen bislang aus. Es wäre sicher nicht der geringste Ertrag, wenn der vorliegende Band den Impuls zu einer solchen Diskussion geben würde. Abseits der engeren geschichtsdidaktischen Fachpublikationen spielen Zeitungen für den alltäglichen Geschichtsunterricht jedoch durchaus eine Rolle. Eine lange Tradition von Beiträgen, die fachwissenschaftlich relevante Themenfragen für den Geschichtsunterricht erschließen wollen, belegt dies. Das wohl 26 Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2000, S. 51–55, bes. S. 54. 27 Michael Sauer: »Was sich begeben und zugetragen hat«. Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Markus Bernhardt/Gerhard Henke-Bockenschatz/Michael Sauer (Hrsg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2006, S. 242–255; Michael Sauer: »Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen«. Zeitungen als Quelle, in: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124, S. 2–9, hier S. 7. Ebenfalls unterrichtspraktisch perspektiviert: Klaus Fieberg: Zeitungen im Geschichtsunterricht, in: Praxis Geschichte (2002), H. 4, S. 31–38. 28 Michael Sauer : Handlungsorientiert mit Zeitungen arbeiten. Anregungen und Beispiele, in: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124, S. 11–15. 29 Carsten Hindrichs: Schreiben, in: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichts-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2007, S. 224–236, hier S. 230ff.
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früheste Beispiel für eine umfangreiche Handreichung stammt aus der Blütezeit der deutschen Zeitungswissenschaft. Im Jahr 1929 nämlich widmete sich Teubners Quellensammlung für den Geschichtsunterricht in zwei Ausgaben den »Problemen des Zeitungswesens«. Allerdings verhandelte die Publikation weniger didaktische Ansätze, vielmehr ging es ihr primär um die Vermittlung von pressehistorischem Wissen.30 In der unmittelbaren Nachkriegszeit lassen sich dann einige wenige Beiträge von Ernst Heinen ausmachen, die die Presse zum Thema des historischen Lernens machen wollten.31 Darin versuchte er, seine Anregungen auch jenseits des Gymnasialunterrichts im Bereich der Primarstufe einzubringen und Zeitungen als Quellen für den Geschichtsunterricht an allen Schularten zu etablieren.32 Erst während der Phase der Konstituierung der professionellen Geschichtsdidaktik griff dann wieder ein Autor auf Zeitungen zurück. Im Jahr 1972 steuerte Karl Lampe zu einem von Karl Filser herausgegebenen Band einen Beitrag bei, der das Ende des Ersten Weltkriegs im Spiegel der zeitgenössischen Tagespresse erarbeitet. Dezidiert verweist er darauf, dass Zeitungsberichte thematisch nur über »ganz bedeutsame Ereignisse« in den Geschichtsunterricht einbezogen werden könnten. Andere, also alltags- und sozialgeschichtliche Zugriffe, sah Lampe hingegen als »historisch unbedeutend«33 an. Ähnliche Ansätze zu einem rein inhaltsbezogenen und auf die reine Ereignisgeschichte verkürzenden Medieneinsatz lassen sich jedoch bis in die jüngste Zeit finden. Dies belegen nicht zuletzt die stark verbreiteten Begleitbände zum Projekt »Zeitungen in die Schule«,34 die auch Unterrichtsvorschläge für das Fach Geschichte umfassen. Bezeichnenderweise greift auch das dort thematisierte Beispiel den Ersten Weltkrieg auf.35 Ein weiterer Beitrag zur Heimat- und Regionalgeschichte verweilt ebenfalls in traditionellen, also ereignisgeschichtlichen Bahnen,36 während eine Abhandlung zur Bedeutung von Zeitungsinseraten die thematische Er30 Hans A. Münster : Probleme des Zeitungswesens, Bd. I: Öffentliche Meinung und Preßfreiheit, Bd. II: Voraussetzungen und Grenzen der Zeitungsherstellung, Leipzig/Berlin 1929–1930 (= Teubners Quellensammlung für den Geschichtsunterricht, Reihe 4, H. 8 und 12). 31 Ernst Heinen: Die Bedeutung der Quelle im Geschichtsunterricht, in: Karl-Hermann Beeck (Hrsg.): Aspekte zeitgemäßer Unterrichtspraxis, Wuppertal 1969, S. 145–162, hier S. 155ff. 32 Ernst Heinen: Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht der Volksschule, in: Pädagogische Rundschau 18 (1964), S. 993–999. 33 Klaus Lampe: Der Kieler Matrosenaufstand. Die Tageszeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Karl Filser (Hrsg.): Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts, Bad Heilbrunn 1974 (= Texte zur Fachdidaktik), S. 166–174, bes. S. 168f. 34 Eva Brand/Peter Brand/Volker Schulze(Hrsg.): Die Zeitung im Unterricht. Medienkundliches Handbuch, 2. Aufl., Aachen 1990. 35 Ferdinand Küpper: Die historische Zeitung im Geschichtsunterricht, in: Eva Brand/Peter Brand (Hrsg.): Die Zeitung im Unterricht, Aachen 2007, S. 203–210. 36 Heinrich Rüschenschmidt: Die Tageszeitung als Quelle für die Heimat- und Regionalgeschichte, in: Brand/Brand (Hrsg.), Zeitung (2007), S. 197–202.
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weiterung der historischen Wissenschaften hin zur Alltags- und Kulturgeschichte zumindest in Teilen aufnimmt.37 Als jüngstes Beispiel können Handreichungen des deutschen Geschichtslehrerverbandes zur Edition »Zeitungszeugen« in dieser Kontinuitätslinie angesiedelt werden.38 Sie versuchen, den Nachdrucken von Zeitungen der NS-Zeit eine unterrichtspragmatische Rahmung zu geben, ihre primäre Zielrichtung war es aber, klassisches ›Faktenwissen‹ zum ›Dritten Reich‹ in Form von Zeitungsreprints zu vermitteln.39 Grundlegendere, dezidiert geschichtsdidaktisch perspektivierte Reflexionen zur Bedeutung und zum Potenzial von Zeitungen für das historische Lernen liegen bislang jedoch nicht vor. Wenn allerdings das Urteil zutrifft, wonach Zeitungen für die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren zunehmend bedeutsam wurden, verwundert es, wenn die Geschichtsdidaktik diese Entwicklung in ihrer primären Bezugsdisziplin kaum oder nur ungenügend wahrnimmt. Die geschichtswissenschaftliche Debatte wird in der verstärkten Medien- und Methodendiskussion der Geschichtsdidaktik zu wenig rezipiert, was zweifellos als ein Manko in der geschichtsdidaktischen Forschung zu werten ist. Das Engagement für die Arbeit mit Zeitungen im Geschichtsunterricht mag vielleicht als ›Medienlobbyismus‹ verstanden werden, und vielleicht trifft diese Einschätzung sogar zu. Aber wenn mit dem Medium Zeitung ein zentrales Organ der aktuellen politisch-gesellschaftswissenschaftlichen Kommunikation seit dem 17. Jahrhundert fast vollständig aus dem Blick gerät, während sich die Geschichts- und Kommunikationswissenschaft wieder verstärkt ihm zuwendet, so sollte dies für das Fach Anlass zur kritischen Reflexion sein. Der heute extrem hohe Stellenwert von (technischen) Medien im Leben von Kindern und Jugendlichen zeigt den direkten Gegenwartsbezug des Themas, der vom Siegeszug 37 Waltraut Maisch: Historische Anzeigen, in: Brand/Brand (Hrsg.), Zeitung (2007), S. 211–234. 38 Zur Debatte um »Zeitungszeugen«: Christina Kiesewetter : Archivmaterial am Kiosk. Die Edition Zeitungszeugen machte historische Blätter für das breite Publikum zugänglich, in: Karin Peter/Gabriele Bartelt-Kircher/Anita Schröder (Hrsg.): Zeitungen und andere Drucksachen. Die Bestände des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung als Quelle und Gegenstand der Forschung, Essen 2014, S. 123–130; Sandra Paweronschitz: Schuld, Abwehr, Rechtfertigung, Reflex. Zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland und Österreich am Beispiel »NachRichten« und »Zeitungszeugen«, in: Heinrich Berger u. a. (Hrsg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien u. a. 2011, S. 585–598; Christian Kuchler : NS-Propaganda am Kiosk? Das Editionsprojekt Zeitungszeugen als Manifestation kommerzieller Geschichtskultur, in: ders. (Hrsg.): NS-Propaganda im 21. Jahrhundert: Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung?, Köln 2014, S. 27–40. 39 Der Geschichtslehrerverband hatte begleitende Materialien zur zweiten Auflage der »Zeitungszeugen« in Deutschland angekündigt, im Jahr 2015 finden sich auf seiner Homepage aber keine Unterlagen mehr zur Arbeit mit der umstrittenen Edition.
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des Internets nicht gemindert wird. Im Gegenteil: Moderne Nachrichtenportale im Netz basieren auch im 21. Jahrhundert auf den kommunikationstechnischen und, gerade im Hinblick auf ihre Pluralität, politischen Voraussetzungen, die von der Tagespresse über Jahrhunderte hinweg erkämpft und grundgelegt wurden.
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Zeitungen im ›klassischen‹ Geschichtsunterricht
Freilich sagt der diagnostizierte Mangel einer fachdidaktischen Diskussion noch nichts über die Bedeutung des Mediums Zeitung für den aktuellen Geschichtsunterricht aus. Aus zahlreichen Untersuchungen wissen wir, dass die aktuelle geschichtsdidaktische Diskussion nicht zwingend den Stand des Geschichtsunterrichts an deutschen Schulen widerspiegeln muss. Doch: Was ist ›aktueller Geschichtsunterricht‹? In den letzten Jahren haben sich die Prämissen des Faches grundlegend gewandelt. Nicht nur die Rede von der Transformation des Lernfachs zum Denkfach ist damit gemeint, sondern vor allem der kategoriale Wandel weg von der Lernzielorientierung hin zum kompetenzorientierten Geschichtsunterricht.40 Zwar ist sicher zutreffend, wenn Holger Thünemann jüngst mit Blick auf die Vielfalt in der geschichtsdidaktischen Kompetenzmodelldiskussion von mehr Irritation denn zusätzlicher Orientierung spricht,41 doch haben inzwischen alle Bildungsbehörden die neuen Prämissen in ihren Curricula verankert.42 Damit ist zu fragen, welche domänenspezifischen Kompetenzen in der Arbeit mit Printmedien erworben werden. Um dies zu beantworten, soll sich zunächst der Blick auf den klassischen Schulalltag richten. Anhand aktueller Schulbücher aus der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen soll erörtert werden, welche Rolle der schillernde Terminus ›Zeitung‹ und die Quellenarbeit mit Zeitungen darin spielt. Anschließend löst sich die Perspektive bewusst vom klassischen Lehrwerk und dem Unterricht im Klassenverband und wendet sich dem forschend-entdeckenden Projektlernen zu. Am Beispiel von Preisträgerarbeiten des »Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten« soll gezeigt werden, wie Lernende das Medium Zeitung bei 40 Zusammenfassend: Michele Barricelli/Peter Gautschi/Andreas Körber : Historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle. In: Barricelli/Lücke (Hrsg.), Handbuch, Bd. I, S. 207–235. 41 Holger Thünemann: Planung von Geschichtsunterricht, in: Günther-Arndt/Zülsdorf-Kersting (Hrsg.), Geschichtsdidaktik, S. 205–213, hier S. 205. 42 Stellvertretend für das Bundesland Nordrhein-Westfalen: http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-i/gymnasium-g8/geschichte-g8/kernlehrplan-ge schichte/kompetenzentwicklung/kompetenzentwicklung-und-lernprogression.html (05. 03. 2016).
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einer offeneren Arbeitsform, deren Inhalte nicht im Curricula festgelegt sind, in ihre Recherchen einbeziehen. Doch zunächst zum noch immer als »Leitmedium des Geschichtsunterrichts«43 bezeichneten Schulbuch: Aus der fast unendlich großen Fülle von Lehrwerken, die in Deutschland zum Einsatz kommen, werden für die nachfolgende Analyse die Mittelstufenausgaben für das größte Bundesland, für Nordrhein-Westfalen, herangezogen. Sie orientieren sich an einem kompetenzorientierten Kerncurriculum und sind bereits seit einigen Jahren an den Schulen im Einsatz. Im Einzelnen handelt es sich um die Titel Das waren Zeiten, Forum Geschichte kompakt, Geschichte und Geschehen, Horizonte, Mosaik. Der Geschichte auf der Spur und Zeiten und Menschen.44 Untersucht man die einzelnen Bände auf den Stellenwert, den Zeitungen in ihnen einnehmen, so fällt auf, dass Printmedien eine weit größere Rolle spielen, als man dies aufgrund des oben skizzierten Defizits in der geschichtsdidaktischen Reflexion vielleicht vermutet hätte. In den insgesamt 17 Bänden für die Jahrgangsstufen fünf bis neun werden Zeitungen an nicht weniger als 428 Punkten thematisiert. Diese hohe Zahl an Einzelbezügen relativiert sich freilich, wenn man die Fundstellen nach deren Verortung im Schulbuchkontext untersucht. Dabei zeigt sich, wie wenig Zeitungen (und wohl auch schriftliche Quellen im Allgemeinen) in den Verfassertexten thematisiert werden, die Bedeutung des Mediums wird hier also kaum aufgenommen. Im Sinne der jüngsten Verlautbarung der Kultusministerkonferenz findet in ihnen also kein Lernen über Medien statt, sondern nur ein Lernen mit Medien, das sich in den Arbeitsteilen auffinden lässt.45 Während in den Verfassertexten nur an fünf Stellen überhaupt Zeitungen erwähnt werden, greifen die Lehrwerke in ihren Arbeitsteilen wesentlich häufiger auf den Quellenpool Zeitung zurück. Die quantitativ größte Gruppe stellen dabei die Textübernahmen dar. An 155 Stellen werden Artikel aus Zeitungen46 ausgewählt und in die Geschichtsbücher als zeitgenös43 Bernd Schönemann/Holger Thünemann (Hrsg.): Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis, Schwalbach/Ts. 2010, S. 9. 44 Dieter Brückner/Harald Flocke(Hrsg.): Das waren Zeiten (NRW), 3 Bde., Bamberg 2010–2012; Hans-Otto Regenhardt (Hrsg.): Forum Geschichte kompakt (NRW), 2 Bde., Berlin 2009–2010; Michael Sauer (Hrsg.): Geschichte und Geschehen (NRW), 3 Bde., Stuttgart 2008–2009; Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.): Horizonte (NRW), 3 Bde., Braunschweig 2007–2009; Joachim Cornelissen u. a. (Hrsg.): Mosaik. Der Geschichte auf der Spur, 3 Bde., München 2008–2009; Hans-Jürgen Lendzian (Hrsg.): Zeiten und Menschen, 3 Bde., Paderborn 2008–2009. 45 Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Medienbildung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08. März 2012, Berlin 2012, online unter: http://bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/medienbildunggs.bildung-rp.de/AG_Medienkonzept/KMK-Beschluss/Beschluss-Empfehlung-Medienbildung08-03-2012.pdf (15. 01. 2015), S. 4. 46 Besonders in den Bänden zum 20. Jahrhundert finden sich neben Zeitungen auch Zeit-
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sisches Quellenmaterial übernommen. Vor allem in den Bänden für die höheren Jahrgangsstufen spielt dies eine bedeutsame Rolle. Dies illustriert sogar die Reihe Mosaik. Der Geschichte auf der Spur, die insgesamt sehr wenig auf Zeitungen setzt. In den beiden Auftaktbänden verwendet sie nur an einer Stelle einen Zeitungsausschnitt, während im Lehrbuch für die 9. Jahrgangsstufe insgesamt acht Textübernahmen erfolgen. Ein ähnliches Bild zeigen die Reihen Forum Geschichte kompakt (Band 1/2: 0 Übernahmen, Band 3: 30), Zeiten und Menschen (Band 1/2: 7 Übernahmen, Band 3: 21) oder Geschichte und Geschehen (Band 1/2: 4 Übernahmen, Band 3: 38). Grund für diese Zunahme dürften weniger allgemeine Lese- und Verständnisprobleme jüngerer Schülerinnen und Schüler sein, sondern die Nichtexistenz eines breiten Zeitungswesens vor dem 19. Jahrhundert bzw. dessen mangelnde archivarische Überlieferung. Aufgrund des in Nordrhein-Westfalen – ebenso wie in fast allen Bundesländern – weiterhin am chronologischen Verfahren orientierten Curriculums in der Sekundarstufe I ergibt sich die Häufigkeit des Einsatzes von Printmedien als Quellen vor allem in den höheren Jahrgangsstufen. Die Schülerinnen und Schüler lernen also kaum etwas über die Entstehung von jeweils neuen Kommunikationsmöglichkeiten, sie werden aber zunehmend mit deren Inhalten konfrontiert. Die Geschichtsdidaktik hat die Übernahme von Textpassagen aus zeitgenössischen Quellen jedoch immer wieder heftig kritisiert. Die Quellen würden vor allem als bloße ›Lieferanten‹ von Textquellen genutzt, deren Inhalte in den Lehrwerken dann in eine moderne Druckschrift übertragen würden, um eventuelle Leseschwierigkeiten zu vermeiden. Zudem würden die Texte aus anderen Sprachen von dem oder den Herausgebern in ein modernes Neuhochdeutsch übersetzt. Nicht selten, so die Kritik, seien zudem die Vorlagen gekürzt, so dass die Quellen, die letztlich im Schulbuch abgedruckt werden, keinen Eindruck von ihrer Entstehungszeit mehr vermitteln könnten. Für Lernende sei eine eigenständige, gewinnbringende Analyse nicht möglich, zu einer vertieften Analyse könnten die gekürzten Quellen nicht motivieren.47 All dies erleichtert zwar den praktischen Einsatz mancher Quelle im Geschichtsunterricht, verzichtet aber zugleich auf wissenschaftliche Exaktheit und raubt den Reiz des Originalen.48 Im Fall der Übernahme von Texten und Bildern aus Zeitungen in Schulgeschichtsbücher werden die Eigengesetzlichkeiten dieses Mediums vollständig ausgeblendet. So wird beispielsweise der Charakter eines zeitgenössischen Zeitungstextes fast gänzlich verändert, wenn Inhalte gekürzt, der Kontext der Berichterstattung ausgeklammert, das Layout eliminiert, Fremdsprachen schriften. Vor allem Beiträge aus dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel kommen in allen Lehrwerken vor. 47 Ursula Becher : Schulbuch, in: Pandel/Schneider (Hrsg.), Handbuch, S. 45–62, hier S. 60. 48 Pandel, Quelleninterpretation, S. 132f.
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übersetzt und schwierig erscheinende Passagen gestrichen werden. Schülerinnen und Schüler können an solchermaßen beschnittene Quellen keine eigenständigen Fragen mehr stellen, vielmehr dienen die Quellen dann nur noch der Bestätigung des im Verfassertext – gerade unter Ausschluss von Quellen wie etwa der Tagespresse – formulierten Inhalts. Doch obgleich die genannten Vorwürfe schon lange bekannt sind, haben die Schulbuchverlage sich ihrer nicht immer angenommen. Ein nahezu idealtypisches und sehr eindringliches Beispiel für eine solche reduzierte Quelle findet sich im Lehrwerk Geschichte und Gesellschaft 2. Auf Seite 309 wird hier im Kontext der Balkankrisen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die serbische Zeitung Piemont zitiert. In ihrer Ausgabe vom 8. Oktober 1913 kommentiert sie aus Anlass des ersten Jahrestages die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn. Doch ist der Publikationskontext in Geschichte und Geschehen 2 kaum mehr zu erkennen. Die Intention, mit der Quelle eine internationale Perspektive auf die Balkankonflikte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu eröffnen, kommt kaum zum Tragen, da der Text nicht nur ins Deutsche übersetzt ist, sondern weil auch sein Umfang massiv gekürzt wurde. Vier Auslassungszeichen auf 14 knappen Zeilen markieren, wie sehr von den Schulbuchautorinnen und Schulbuchautoren eingegriffen wurde, zumal auch die Herkunft des Textes aus einem zeitgenössischen Printorgan für die Lernenden kaum nachvollziehbar sein dürfte.49 Ähnlich angreifbare Konstellationen finden sich in allen zugelassenen Lehrwerken. Jedoch sind neben diesen Textauszügen auch Abdrucke von Zeitungen vorhanden, die deren Charakter erhalten oder ihn zumindest einfangen wollen. In den Bänden der 9. Jahrgangsstufe druckt beispielsweise Zeiten und Menschen an sieben Stellen Zeitungen im Original ab, Horizonte an vier und Das waren Zeiten sogar an 17. Betrachtet man diese ›Faksimiles‹ jedoch näher, so zeigt sich deren primär illustrierender Charakter : Wenn etwa in Das waren Zeiten 3 der Börsencrash 192950 oder am Beispiel der Aachener Nachrichten das Kriegsende 194551 thematisiert wird, dient der Abdruck nicht einer kritischen Lektüre. Auch bei den ›faksimilierten‹ Bildern ist dies nahezu unmöglich, viel zu klein und fragmentiert ist der Abdruck. Eine wirkliche Analyse oder gar ein wissenschaftspropädeutisches Bearbeiten der Zeitungsseiten ist – nicht zuletzt, weil sich keine spezifischen Methodenseiten der Quelle Zeitung annehmen – nicht möglich. Bestenfalls sind die ›faksimilierten‹ Zeitungen in den Schulbüchern als zeitgenössischer Authentizitätsbeweis für die Aussagen des Verfassertextes gedacht. Oder, um es noch zugespitzter zu sagen: Sie sind reine Illustration. 49 Sauer (Hrsg.), Geschichte und Geschehen, Bd. 2, S. 308f. 50 Brückner /Flocke (Hrsg.), Zeiten, Bd. 3, S. 58. 51 Ebd., S. 128.
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Es scheint so, als sei wirkliches Arbeiten mit Zeitungen auf der Basis der Lehrwerke nicht möglich. Doch trifft dieses Urteil nicht zu. Nicht nur bei der Arbeit mit Quellen finden sich Zeitungen. Ein weiteres Feld, in dem es zahlreiche Verweise auf das Medium Zeitung gibt, sind die Aufgabenstellungen in den Lehrwerken. Darin erhalten Schülerinnen und Schüler die Aufforderungen, sich als Zeitungsreporter zu engagieren. »Schreibt in Gruppen zwei Zeitungsartikel über Cheops: einen unter der Überschrift Cheops – ein großer Ägypter, einen unter der Überschrift Cheops – der Rücksichtslose«52, heißt es etwa in einem Auftaktbuch zur Antike. Bei älteren Schülerinnen und Schülern wird neben der schon in der 6. Jahrgangsstufe eingeforderten Multiperspektivität das Wissen um journalistische Textgattungen vorausgesetzt. Dies ist der Fall, wenn etwa zum Scheitern der Revolution von 1848/49 ein Bild bearbeitet werden soll mit dem Auftrag: »Du bist Reporter einer großen deutschen Wochenzeitung. Schildere die Ereignisse auf dem Bild in einer Reportage«53, oder zu den Intentionen der Kriegsgegner im Vorfeld des Ersten Weltkriegs: »Schreibe einen Zeitungskommentar zu den Kriegszielen der Deutschen und der Alliierten«54. Fächerverbindendes Lernen mit dem Fach Deutsch oder eine Erarbeitung verschiedener journalistischer Textformate im Geschichtsunterricht wird hier also vorausgesetzt. Insgesamt finden sich in der Reihe Geschichte und Geschehen 65 solcher Arbeitsaufträge, im Band zur 9. Jahrgangsstufe sind es allein 42. Ganz deutlich wird hier das Bemühen der Autorinnen und Autoren, mit dem Bezug auf das den Schülerinnen und Schülern vertraute Medium ›Zeitung‹ Anreize zur Schärfung der narrativen Kompetenz zu setzen. Ob dies bei einer Generation, die Zeitungen kaum noch aus eigener Lektüreerfahrung kennt, tatsächlich gelingt, ist zu hinterfragen. Zweifelhaft erscheint zudem, ob die rudimentäre Berücksichtigung von gedruckten Zeitungen in den Lehrwerken zur Ausprägung der häufig geforderten ›Gattungskompetenz‹55 beizutragen vermag, da eine vertiefte Beschäftigung mit dem Medium ›Zeitung‹ kaum vorliegt.
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Sauer (Hrsg.), Geschichte und Geschehen, Bd. 1, S. 54. Sauer (Hrsg.), Geschichte und Geschehen, Bd. 2, S. 254. Ebd., S. 318. Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandard und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2005, S. 27–31.
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Historische Zeitungen als Leitmedium des »Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten«?
Nach den aktuellen Schulbüchern soll nun ein anderer Bereich des ›aktuellen Geschichtsunterrichts‹, nämlich das forschend-entdeckende Lernen in Projektform, in den Blick rücken. In Deutschland wird dieses Format vor allem durch den »Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten« repräsentiert, der im Zweijahresrhythmus durchgeführt wird und zweifelsfrei als der wichtigste Schülerwettbewerb im Bereich des historischen Lernens anzusehen ist.56 Dabei fordert der Bundespräsident als Initiator der Aktion seit 1973 deutschlandweit Schülerinnen und Schüler aller Schularten und Altersklassen auf, sich mit einem bundesweit einheitlichen Thema zu befassen, das im Wettbewerbsjahrgang 2014/2015 »Außenseiter in der Geschichte« lautete. Sie sollen als Spurensucher in Archive, Museen und Gedenkstätten gehen, Zeitzeugen und Experten befragen und abschließend ein Forschungsergebnis vorlegen. Einzige inhaltliche Vorgabe ist der verpflichtende Bezug zur Heimatregion der Schülerinnen und Schüler – sie betreiben also lokalgeschichtliche Zugriffe. Bodo von Borries hat diesen selbsttätigen Ansatz einmal als eine Mischung aus »Größenwahn und Königsweg«57 beschrieben und damit die Ambivalenz des Unternehmens gut charakterisiert. In den vier Jahrzehnten seines Bestehens entstanden im Rahmen des Wettbewerbs bislang mehr als 28.000 Projekte, an denen mehr als 130.000 Kinder und Jugendliche mitwirkten.58 Aus den eingereichten Beiträgen wurden etwa 3.000 Arbeiten ausgewählt und prämiert. Nur diese preisgekrönten Abhandlungen werden im Archiv der Körber-Stiftung in Hamburg aufbewahrt, auf sie beschränkt sich also die nachfolgende Auswertung. Doch auch (oder gerade) diese exemplarische Auswahl der Siegerarbeiten zeigt, welche zentrale Bedeutung im Wettbewerb der Quellengattung Zeitung zukommt. Unter den 3.000 prämierten Werken arbeiten 1.096 mit Zeitungen. Wenn etwa ein Drittel aller preisgekrönten Abschlussarbeiten mit Zeitungen operieren, lässt das den Schluss zu: Zeitungen sind das Leitmedium der Schülerarbeiten des Geschichtswettbewerbs.
56 Gerhard Schneider : Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten. in: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., Seelze-Velber 1997, S. 575–581; Lothar Dittmer/Sven Tetzlaff: Jugendliche forschen vor Ort. Zur Geschichte einer Bewegung, in: Ute Frevert (Hrsg.): Geschichte bewegt. Über Spurensucher und die Macht der Vergangenheit, Hamburg 2006, S. 164–198. 57 Bodo von Borries: Historische Projektarbeit. »Größenwahn« oder »Königsweg«?, in: Lothar Dittmer/Detlef Siegfried (Hrsg.): Spurensucher. Ein Handbuch für historische Projektarbeit, Hamburg 2005, S. 333–350. 58 Sven Tetzlaff: Vorwort, in: Michael Sauer (Hrsg.): Spurensucher. Ein Praxishandbuch für historische Projektarbeit, Hamburg 2014, S. 7–8, hier S. 8.
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Doch die Qualität des Umgangs mit Zeitungen kann ganz unterschiedlich sein. Das Spektrum wird eröffnet von Gruppen, die im Vorfeld ihrer Recherche in lokalen Zeitungen nach Dokumenten oder Zeitzeugen suchen, wie dies etwa Lernende einer Grundschule in Reiskirchen-Ettinghausen (Hessen) beim Wettbewerb »Tiere in unserer Geschichte« im Jahr 2001 taten.59 Weit häufiger sind es hingegen die Inhalte der Zeitungen selbst, die in den Mittelpunkt der Arbeiten der jungen Forscherinnen und Forscher zum Geschichtswettbewerb rücken. Dieser Zugriff scheint zunächst offenkundig, schließlich lassen sich auf diesem Weg auch für kleinere Einheiten orts- und regionalgeschichtliche Quellen auffinden. Eine Lokalzeitung gibt es fast überall, ihre Berichte zu ausgewählten Ereignissen bilden also oft eine sehr ertragreiche Recherchebasis. Häufig bleibt es aber bei der Benennung einzelner Artikel zu ausgewählten Themen oder einem knappen Verweis auf einschlägige Zeitungsbeiträge. Eine kritische Reflexion über die Standortgebundenheit der Presseberichte oder die Rolle der (lokalen) Presse in der zeitgenössischen öffentlichen Debatte unterbleibt dagegen zumeist. Besonders offensichtlich ist dies, wenn Wettbewerbsbeiträge Zeitungsausschnitte nicht als Analyseobjekt nutzen, sondern sie ausschließlich zur Illustration in die eigene Arbeit aufnehmen. Dazu wurden in den ersten Jahren des Geschichtswettbewerbs noch manuell Zeitungsausschnitte in die Arbeiten eingeklebt, der technische Fortschritt spiegelt sich aber auch hier : Immer mehr Beiträge nehmen Texte oder Bilder durch ›copy and paste‹ aus den Web-Angeboten verschiedener Verlage auf und gestalten daraus in einer aufwendigen Komposition mit immer moderneren Designprogrammen optisch optimierte Abschlussbeiträge. An der Grundintention aber ändert dies nur wenig. Auch bei dieser Auseinandersetzung mit historischen Zeitungen wird den Inhalten der Artikel nur eine rudimentäre Funktion zugebilligt. Erneut dienen sie, wie schon in den schulischen Lehrwerken, primär als Beleg für die Authentizität des vom Verfasser bereits Gesagten. Sogar unter den besonders erfolgreichen, mit ausgewiesenen »Bundespreisen« prämierten Wettbewerbsbeiträgen finden sich Arbeiten, die in diesem Sinn zwar Zeitungen nutzen, ihre eigentlichen Potenziale aber nicht ausschöpfen.60 Bei der qualitativen Analyse der Arbeiten fällt noch ein zweiter Aspekt ins Auge: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die über ein halbes Jahr lang an 59 Körber-Archiv GV 2001–1624, Julian Buß u. a.: Der »Badewannen-Rottweiler« Ben – Ein Hundeschicksal aus dem Gießener Tierheim. 60 Exemplarisch seien Arbeiten mit zahlreichen Illustrationen aus Zeitungen genannt: KörberArchiv, GW 1979–0627, Elisabeth Vorderwülbecke u. a.: Der sauerländische Wald als Freizeitraum in Vergangenheit und Gegenwart; Körber-Archiv, GW 1987–0743, Tim Arnold: »Wir sind mit Wupperwasser getauft …« Ein Beitrag zur Umweltgeschichte des Wassers in Wuppertal; Körber-Archiv, GW 2013–0426, Sophie Antonie Gerlach: Schule und Hausbesetzer : Nachbarschaft in der Barrikadenzeit.
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ihrem Beitrag zu einem selbst gewählten Thema sitzen, verweisen häufig auf zahlreiche Texte aus Zeitungen, Zeitschriften oder Magazinen. Doch ist ihre Recherche nicht immer so umfangreich, wie das die ausführlichen Literaturangaben in den Anmerkungsapparaten mancher Arbeiten suggerieren.61 Eher das Gegenteil ist der Fall: Statt in großem Stil für die Bearbeitung der selbst gewählten Themen alte Printausgaben zu wälzen oder gar ganze Jahrgänge von Zeitungen in Archiven und Bibliotheken zu durchblättern und zu lesen, stützen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr oft auf umfangreiche Vorarbeiten. In den von ihnen konsultierten Kommunal- oder Landesarchiven stießen sie häufig auf umfangreiche Zeitungsausschnittsammlungen, die mehr oder weniger kontinuierlich und vollständig Artikel zu spezifischen Einzelfragen gesammelt hatten. Es hat den Anschein, als hätten sich sehr viele der Teilnehmenden fast vollständig auf diese Kollektionen verlassen. So schreibt beispielsweise eine Teilnehmerin aus Nordrhein-Westfalen, sie habe im Stadtarchiv Dülmen die Zeitungsausschnittsammlung durchgesehen und damit alle Artikel gelesen, die je über ihr Thema in der Lokalzeitung publiziert worden seien.62 Eine weitere Recherche erschien ihr nicht mehr notwendig. Nach der Einsichtnahme in die einschlägigen Zusammenstellungen der Archivarinnen und Archivare nahmen die jungen Forschenden dann für sich in Anspruch, »Massen an Zeitungsartikeln«63 gelesen zu haben, wie es eine Arbeit aus Bremen zum Wettbewerb »Aufbegehren, Handeln, Verändern – Protest in der Geschichte« aus dem Jahr 1999 wörtlich formuliert. Allerdings bleiben bei dieser Form der Recherche alle Informationen, die sich nicht unter dem einschlägigen Stichwort finden lassen oder nicht in die Ausschnittsammlung aufgenommen wurden, ausgeklammert. Sehr pointiert formuliert könnte man argumentieren, dass die Schülerinnen und Schüler bei diesem Vorgehen aktuelle Recherchewege vorwegnehmen und übernehmen. Das Suchen von ausgeschnittenen Zeitungstexten zu spezifischen Themen verengt die potenziell unbegrenzte Recherche unnötig, sie ist letztlich nichts Anderes als eine Art ›Googeln‹ im Archiv. Die in der Geschichtsdidaktik herausgestellten Motivationspotenziale des Umgangs mit Quellen werden also selbst im Geschichtswettbewerb, jenem ›Königsweg‹ des historischen Lernens, nicht immer erschlossen. Das Beispiel der Zeitungsausschnittsammlung belegt, wie selektiv die Recherche in den Beiträgen sein kann. Eine grundlegendere und umfassendere Eigenlektüre von Quellen, hier also von Zeitungen lokaler Provenienz, bleibt zumeist, auch in den höheren Jahrgangsstufen, aus. 61 Stellvertretend: Körber-Archiv, GW 1979–0108, Kirsten Floss: Informationen in der Freizeit – Motivationen für die Freizeit. 62 Körber-Archiv, GW 2005–0622, Dorothee Kraske: Portrait der Firma Paul Bendix, Dülmen, hier S. 81. 63 Körber-Archiv, GW 1999–0159, Sandra Starke u. a.: »Draufhalten! Nachsetzen!« Die Straßenbahnunruhen von 1968 in Bremen.
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Gleichwohl gibt es nicht wenige, zumeist sehr erfolgreiche Beiträge, die sich der Eigengesetzlichkeiten der Medien bewusst sind und diese thematisieren. Auf einer eher formalen Ebene drückt sich dies aus, wenn das Layout von Printprodukten nachgeahmt wird.64 Gehäuft lässt sich gerade dieses Spiel mit Medienformaten im Jahr 2011 finden, lud doch das medienaffine Thema »Skandale in der Geschichte« fast dazu ein, sich nicht nur mit Inhalten von Zeitungen zu beschäftigen, sondern auch deren äußere Gestaltung zu übernehmen. Sieben Schülerinnen aus Niedersachsen artikulierten dies sehr nachdrücklich in ihrem Arbeitsbericht, wenn sie zum Endprodukt ihrer Recherchen klarstellen: »Unser Traum war es, eine Zeitung oder ein Magazin zu erstellen, weil das einfach zum Thema Skandal in der Geschichte passt.«65 Noch einen wesentlichen Schritt weiter geht die letzte Kategorie von Arbeiten, die im Geschichtswettbewerb eingereicht und von den Jurymitgliedern mit Preisen bedacht wurden: Hier setzten sich Schülerinnen und Schüler intensiv mit den Inhalten der Berichterstattung und vor allem der Rolle der Medien bzw. der Zeitungen in ihrer Zeit auseinander. Diese quantitativ sehr kleine Teilnehmerzahl kann als Spitzengruppe angesehen werden. Wenn etwa die Propagandafunktion der Printpresse während der NS-Zeit im Ort Meschede (NordrheinWestfalen)66 oder die Kommentierungen der Lokalzeitung zur Entstehung der Bundesrepublik analysiert werden,67 die lokalpolitische Berichterstattung sowie die Leserbriefe zur Geschichte der Stadteisenbahn im württembergischen Trossingen,68 umfangreiche Leserbriefdiskussionen um ein Denkmal in Münster69 oder zur Umgestaltung des Augsburger Rathausplatzes70 ausgewertet werden, dann belegen diese Beispiele, wie intensiv sich die Teilnehmer tatsächlich mit Zeitungen und ihrer Berichterstattung sowie mit den politischen und ge64 Stellvertretend eine Arbeit, die das Layout der Seite eins der Süddeutschen Zeitung für ihre Covergestaltung heranzieht: Körber-Archiv, GW 1997–1063, Dorothee Sippell: Geschichte einer Zeitungs-Hilfsaktion. 65 Körber-Archiv, GW 2011–0848, Serkan Aydin u. a.: »Euthanasie« – Empörung im NS-Staat (1936–1945). 66 Körber-Archiv, GW 1983–1012, Klasse 11d: Gegen den inneren Feind! Meschede unter der Propaganda-Walze des 2. Weltkriegs. 67 Körber-Archiv, GW 1985–0306, Reinhard Franke/Oliver Micke: Berichterstattung und Kommentierung der Tageszeitungen in Hamm zur Auseinandersetzung zwischen den westlichen Militärgouverneuren und den westdeutschen Ministerpräsidenten über die Gründung eines deutschen »Weststaates«. 68 Körber-Archiv, GW 1991–0192, Timo Holfeld/Eberhard Ruff/Johannes Weiss: Das Bähnle kommt – Aus der Geschichte der Trossinger Eisenbahn. 69 Körber-Archiv, GW 1993–1937, Stefan Goebel: Stein des Anstoßes: »Black Form (Dedicated to the missing Jews)«. 70 Körber-Archiv, GW 1999–0455, Matthias Breier u. a.: »Ja, darauf ham wir dann eben rebelliert …« Ein Protest gegen Autokratie in Augsburg am Beispiel des Augsburger Rathausplatzes.
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sellschaftlichen Folgen dieser Meldungen auseinandersetzten. Schon 1987 hatte sich im Wettbewerb »Umwelt in der Geschichte« eine Arbeit aus Konstanz mit der Rolle der Lokalzeitung Südkurier beschäftigt und nachgewiesen, wie intensiv deren kommerzielle Interessen die journalistische Berichterstattung über den Bau eines neuen Autobahnanschlusses beeinflusst hatten.71 Die Zeitung, so arbeitet der Beitrag überzeugend heraus, ist also nicht nur neutraler Berichterstatter, sondern wirkt aufgrund eigener Interessen auf die Gesellschaft zurück. Ein besonders gutes Beispiel für konstruktive und qualitativ hochwertige Arbeit mit Zeitungen ist aber der Bundessieger aus dem »Skandal«-Wettbewerb im Jahr 2011. 22 Schülerinnen und Schüler des Otto-Hahn-Gymnasiums Geesthacht (Schleswig-Holstein) beschäftigten sich darin mit dem Auftritt des vormaligen Generaladmirals Karl Dönitz an ihrer Schule im Jahr 1963. Seine höchst unkritischen und ideologisch verblendeten Ausführungen vor der Schülerschaft wären völlig vergessen worden, hätte sich nicht die Lokalzeitung euphorisch lobend zu der Veranstaltung geäußert. Daraufhin setzte national wie international eine massive Diskussion ein, die dem Forum massiv entgegentrat, das die Schule für einen in den Nürnberger Prozessen rechtskräftig verurteilten NS-Verbrecher geboten hatte. Aber auch gegen die positive Berichterstattung wurde Kritik laut, die von der Arbeit thematisiert wird. Die Rolle der lokalen wie auch der überregionalen und internationalen Blätter, die sich an der Diskussion beteiligten, wiesen die Schülerinnen und Schüler überzeugend nach, und sie stellten auf der Basis eines umfangreichen Quellenstudiums heraus, welche Bedeutung gerade die Presseberichterstattung für die Entstehung des Skandals hatte und wie sehr sie seinen Verlauf beeinflusste.72
4.
Schlussbetrachtung
Der Versuch einer Bestandsaufnahme zur Bedeutung des Mediums Zeitung für das historische Lernen in Deutschland fällt zwiespältig aus. Während die fachdidaktische Forschung sich des Themas bislang kaum angenommen hat, billigen die Lehrwerke des Faches dem Medium durchaus Raum zu. Zwar verzichten sie auf den Abdruck ganzer Zeitungen, doch nutzen sie die Tagespresse häufig als ›Steinbruch‹, um zeitgenössische Quellen zu akquirieren. Mit diesem höchst selektiven Zugriff verwehren sie aber Schülerinnen und Schülern einen vertieften Einblick in eines der zentralen Medien (zumindest) des 19. und 71 Körber-Archiv, GW 1987–0480, Dirk Guldin: Streit ums Paradies. Die Geschichte einer Straßenplanung. 72 Körber-Archiv, GW 2011–0060, Calina-Isabelle Brüggmann u. a.: Die Dönitz-Affäre. Der Großadmiral und die kleine Stadt.
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20. Jahrhunderts. Dem kann auch der gelegentliche Verweis auf Zeitungen in den Arbeitsaufträgen nicht entgegenwirken, zumal die Schülerinnen und Schüler für die vorindustrielle Zeit kaum Wissen über die Nachrichtenübermittlung allgemein und die Herstellung der ersten Zeitungen im Besonderen erwerben. Bestenfalls können solche Anregungen zur weiteren Beschäftigung als ein Impuls für die Ausbildung der für das historische Lernen so zentralen narrativen Kompetenz angesehen werden, zur Ausbildung einer spezifischen Gattungskompetenz reichen sie jedoch nicht aus. Dies belegt nicht zuletzt der (Seiten-)Blick auf die Ergebnisse des Geschichtswettbewerbs. Die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler arbeiten in diesem Rahmen sehr viel mit Zeitungen. Doch oftmals bleibt der qualitative Ertrag hinter dem quantitativen Einsatz des Mediums zurück. In Einzelfällen aber erschließen sich den jungen Forscherinnen und Forschern tatsächlich die Potenziale von Zeitungen für das historische Denken und die Geschichtswissenschaft. Dann avancieren Zeitungen tatsächlich zum Untersuchungsgegenstand und ihre Analyse zeitigt erstaunliche Ergebnisse – wie im Fall Dönitz. In diesem Sinn hat die gute, alte gedruckte Zeitung im historischen Lernen weiterhin eine zentrale Funktion. Und sollte der »Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten«, trotz aktueller Veränderungsimpulse,73 seine Ausrichtung auf die Recherche mit lokalem Bezug beibehalten, dürften die Zeitungen auch weiterhin die erste Wahl der Schülerinnen und Schüler sein, wenn diese sich auf die orts- und regionalgeschichtliche Spurensuche begeben. Zeitungen blieben dann tatsächlich weiterhin ein Leitmedium des Wettbewerbs und damit des historischen Lernens.
73 Bodo von Borries: Chancen und Grenzen der Projektarbeit am Beispiel des Geschichtswettbewerbs, in: Sauer (Hrsg.): Spurensucher, S. 368–389.
Recherche
Peter Geiss
Digitalisierte historische Presse im bilingualen Geschichtsunterricht – Forschendes Lernen und multiperspektivisches Denken
1.
Einleitung
Heute dürfte in der deutschen Geschichtsdidaktik und auch bei den Lehrplanverantwortlichen ein breiter Konsens in der Auffassung bestehen, dass Geschichtsunterricht in seinem gesamten Spektrum multiperspektivisch angelegt sein muss.1 Multiperspektivität ist somit kein exklusiv für den bilingualen Unterricht zu reklamierendes Ziel, sie lässt sich dort aber wegen der Verwendung von zwei Sprachen und der Bezugnahme auf wenigstens zwei nationale historiografische und didaktische Traditionen besonders leicht erreichen.2 Multiperspektivisches Denken wird grundsätzlich durch die vergleichende Betrachtung von Quellen unterstützt, in denen ein von individuellen oder kollektiven Auffassungen, Deutungsmustern, Wertungen und Emotionen geprägter Blick auf eine vergangene Wirklichkeit erkennbar ist, was natürlich für sehr viele Formen der Überlieferung vom Tagebucheintrag bis hin zur vermeintlich objektiven Statistik gilt.3 Einen für Schüler4 besonders gut nachvollziehbaren Zu1 Vgl. exemplarisch: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in NordrheinWestfalen. Geschichte, Düsseldorf 2013, S. 12, hier zit. nach dem Digitalisat unter URL: http:// schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf (04. 03.2016); Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.): Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe […]. Geschichte, Hannover 2011, S. 8, zit. nach dem Digitalisat unter URL: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_geschichte_go_i_03–11.pdf (03. 09. 2014). Für die kritische Durchsicht des vorliegenden Beitrags und hilfreiche Verbesserungsvorschläge danke ich Magdalena Kämmerling und Alma Hannig. 2 Vgl. Sabine Lamsfuß-Schenk: Bilingualer deutsch-französischer Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), H. 2, S. 109–118, hier S. 115; Alexander Heimes: Geschichte, in: Wolfgang Hallet/Frank G. Königs (Hrsg.): Handbuch Bilingualer Unterricht. Content and Language Integrated Learning, Seelze 2013, S. 345–352, hier S. 347; Peter Geiss: Bilingualer Geschichtsunterricht. Ein Modell für das historische Lernen im global village, in: Bärbel Diehr/Lars Schmelter (Hrsg.): Bilingualen Unterricht weiterdenken. Programme, Positionen, Perspektiven, Frankfurt am Main 2012, S. 55–71, hier S. 57f. 3 Vgl. hierzu die grundlegenden Überlegungen und Beispiele in: Klaus Bergmann: Multiper-
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Peter Geiss
gang zur Perspektivität und – bei kontrastiver Analyse verschiedener Zeitungen – Multiperspektivität bietet aber ohne jeden Zweifel die historische Presse. Dies liegt vor allem daran, dass sie mit dem Leitartikel ein kommentierendes Format kennt, dessen meinungsbildendenden Charakter Schüler besonders deutlich wahrnehmen können, wenn sie sich mit zwei einander völlig widersprechenden Deutungen zu ein und demselben Ereignis auseinandersetzen. Die vergleichende Analyse unterschiedlicher Pressekommentare zu einer politischen oder gesellschaftlichen Frage der Vergangenheit bietet insofern die Idealform eines multiperspektivischen Lernszenarios.5 In diesem Beitrag soll am Beispiel von Pressedigitalisaten der BibliothHque nationale de France zur Julikrise 1914 zugleich aufgaben- und materialbezogen6 der Frage nachgegangen werden, wie das spezifische Potenzial von Zeitungen im bilingualen Unterricht nutzbar gemacht werden kann. Vergleichend sollen Artikel aus der österreichisch-ungarischen Presse herangezogen werden, für die ebenfalls hervorragende Digitalisate der österreichischen Nationalbibliothek vorliegen.7 Die Berücksichtigung der von Alma Hannig jüngst für die Julikrise
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spektivität, in: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 22007, S. 15–29. Zu Statistiken im Geschichtsunterricht: Michael Sauer : Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 6. Aufl., Seelze 2007, S. 255–259. In diesem Beitrag steht bei Begriffen wie »Schüler«, »Lehrer« etc. die grammatisch männliche Form natürlich für beide natürlichen Geschlechter. Vgl. zum politischen Charakter auch der nicht parteigebundenen Massenpresse Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt/New York 2011, S. 112f. Einen wichtigen Teilaspekt der Perspektivität von Presse thematisiert Hans-Jürgen Pandel: Karikaturen. Gezeichnete Kommentare und visuelle Leitartikel, in: ders./Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 4. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007, S. 255–276. Die konzeptionelle Verzahnung von Aufgaben und Materialien ist im bilingualen Unterricht besonders wichtig und weit entwickelt, weil hier in geringerem Maße auf Fertigprodukte zurückgegriffen werden kann. Vgl. Wolfgang Hallet: Aufgaben und Materialentwicklung (Kap. 28), in: ders./Königs (Hrsg.), Handbuch, S. 202–209, hier insbes. S. 202 und 204f. Zur Bedeutung des Aufgabenbegriffs für die Qualität geschichtsbezogener Lernprozesse ferner Holger Thünemann: Historische Lernaufgaben – Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und deutungspragmatische Perspektiven, in: ZfGd 12 (2013), S. 141–155 (nicht spezifisch bilingual perspektiviert). In fachwissenschaftlicher Perspektive stützt sich dieser Beitrag insbesondere auf folgende Aufsätze: Georg Eckert/Peter Geiss/Arne Karsten: Krisenzeitungen nach Sarajewo – Wechselwirkungen zwischen Presse und Politik, in: dies. (Hrsg.): Die Presse in der Julikrise 1914. Die internationale Berichterstattung und der Weg in den Ersten Weltkrieg, Münster 2014, S. 8–19; Alma Hannig: »Wer uns kränkt, den schlagen wir nieder«: Die Wiener Tagespresse in der Julikrise, in: ebd., S. 21–42; Peter Geiss: »Das unsterbliche Frankreich, der Soldat des Rechts«: Französische Presse in der Julikrise 1914, in: ebd., S. 83–112. Darüber hinaus rekurriere ich auf ergänzende Quellenbeispiele und Beobachtungen aus meinem Vortrag »Auf dem Weg zum ›heiligen Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei?‹ – Französische Presse in der Julikrise«, Vortrag im Rahmen der vom Historischen Seminar der Bergischen Universität
Digitalisierte historische Presse im bilingualen Geschichtsunterricht
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auf breiter Quellenbasis untersuchten deutsch-österreichischen Presse ist zum einen pragmatisch motiviert, da die Digitalisierung im deutschsprachigen Nachbarland viel weiter vorangeschritten ist als hierzulande; zum anderen lässt sie sich dadurch rechtfertigen, dass Österreich-Ungarn 1914 trotz aller Schwächesymptome zum Kreis der Großmächte gehörte und bekanntermaßen einen wesentlichen Anteil am Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte.8 Überdies bringt der Vergleich zwischen Wien und Paris einmal etwas Abwechslung in den ansonsten aufgrund seiner historischen Wurzeln stark auf die deutsch-französischen Beziehungen fokussierten bilingualen Unterricht.9 Einige der folgenden Beobachtungen sind sicherlich auf den nicht bilingualen Geschichtsunterricht zu übertragen. Dort ist allerdings das multiperspektivische Szenario einer grenzüberschreitenden Recherche in nicht didaktisiertem Quellenmaterial schwerer zu erreichen, weil die Sprachbarriere höher ist und in der Regel wohl nur englischsprachige Quellen unübersetzt herangezogen werden können. Die Option der Quellenanalyse in zwei verschiedenen Sprachen10 ist ein evidenter unterrichtspraktischer Vorzug des bilingualen Geschichtsunterrichts, der ganz unabhängig von der Frage nach weiterführenden geschichtsdidaktischen Potenzialen zu konstatieren ist. Im bilingualen deutsch-französischen Grundkurs kann ein Auszug aus einem beliebigen französischen Zeitungsartikel gelesen werden, während dies im monolingualen Unterricht kaum möglich sein dürfte. Die Bedeutung dieses unterrichtspraktischen Vorzugs für das historische Lernen bleibt auch dann noch erheblich, wenn man mit WolfWuppertal veranstalteten Ringvorlesung »Die Ideen von 1914. Schlagzeilen in Feldgrau«, Von der Heydt-Museum Wuppertal, 24. April 2014. Die didaktischen Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Bestände der BibliothHque nationale waren nach der Aachener Tagung auch Thema meines folgenden Impulsreferats: »Quellendigitalisate der BibliothHque nationale als Chance und Herausforderung für den bilingualen Geschichtsunterricht: Julikrise und Erster Weltkrieg auf gallica.bnf.fr«, gehalten im Rahmen der Tagung/Lehrerfortbildung »Der Erste Weltkrieg im Unterricht in Deutschland und Frankreich: Lehrpläne, Schulbücher, Erinnerungskulturen«, Institut franÅais d’histoire en Allemagne/Ziehenschule, Frankfurt am Main, 17. Oktober 2014. 8 Christopher Clark weist etwa darauf hin, dass die Donaumonarchie in den Vorkriegsjahren mit das höchste Wirtschaftswachstum in Europa erreichte. Vgl. Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012, S. 70; zur Untersuchung der österreichisch-ungarischen Presse: Hannig: »Wer uns kränkt«. 9 Zu den historischen Wurzeln im deutsch-französischen Verständigungsprozess: Nando Mäsch: Historische Entwicklung des bilingualen Lehrens und Lernens: Bilingualer deutschfranzösischer Bildungsgang an Gymnasien, in: Olivier Mentz/Sebastian Nix/Paul Palmen (Hrsg.): Bilingualer Unterricht in der Zielsprache Französisch, Tübingen 2007, S. 23–40, insbes. S. 23f. 10 Ein Plädoyer für »echte Zweisprachigkeit« (statt durchgehender Verwendung der Fremdsprache) bieten: Maik Böing/Paul Palmen: Bilingual heißt zweisprachig! Überlegung zur Verwendung beider Sprachen im deutsch-französischen Geographieunterricht, in: Diehr/ Schmelter (Hrsg.): Bilingualen Unterricht weiterdenken, S. 73–89, hier S. 89.
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gang Hasberg aus nachvollziehbaren Gründen verneint, dass sich bilingualer Geschichtsunterricht aus der Kultur seiner Bezugsdisziplin heraus – und das heißt ohne Zuhilfenahme fremdsprachendidaktischer oder politischer Argumente – begründen lässt.11 Die nachfolgenden Beobachtungen orientieren sich an leistungsstarken bilingualen Lerngruppen der gymnasialen Oberstufe, wie sie der Verfasser bis 2010 im deutsch-französischen AbiBac-Zweig des FriedrichEbert-Gymnasiums der Stadt Bonn unterrichtet hat. Es handelte sich um Schüler, die in der Lage waren, auch längere französische Texte ohne umfassende sprachliche Hilfestellung zu verstehen.
2.
Chancen der Massendigitalisierung: Schüler als Erforscher nicht didaktisierter Bestände
Die in Frankreich, Großbritannien und Österreich seit Jahren auf breiter Front voranschreitende Digitalisierung von Pressequellen ist für den bilingualen Unterricht höchst bedeutsam, macht sie doch in Zeiten von WLAN und Notebooks im Unterricht selbst und auch in der häuslichen Vorbereitung von Lehrkräften Quellen erreichbar, für deren Auswertung vor 20 Jahren Bibliotheken oder Archive im In- und Ausland aufzusuchen gewesen wären.12 Wer heute nachlesen will, was der Figaro am 29. Juni 1914 über das am Vortag begangene Attentat von Sarajevo schrieb, gelangt vom allgemeinen Presseportal der BibliothHque nationale über eine den Bestand dieser Zeitung erschließende Jahres- und Monatsübersicht schnell zur relevanten Einzelausgabe. Dies eröffnet jedem Schüler technisch die Möglichkeit, Pressestimmen zu einem bestimmten Ereignis, wie zu diesem Attentat, zu finden. Das Angebot, auf das er dabei stößt, ist riesig: Die BibliothHque nationale bietet auf dem Digitalisierungsportal »Gallica« allein auf der Überblicksseite »Presses et revues« 22 bedeutende Tageszeitung (Stand: 01. 12. 2014), deren zeitliches Spektrum häufig tief ins 19. Jahrhundert zurück- und bis in
11 Vgl. Wolfgang Hasberg: Sprache(n) und Geschichte. Grundlegende Annotationen zum historischen Lernen in bilingualer Form, in: ZfGd, Jahresband 2009, S. 52–72, hier S. 65. 12 Vgl. zur Unterstützung des entdeckenden Lernens durch digitale Angebote Gerhard HenkeBockschatz: Forschend-entdeckendes Lernen, in: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 2. Aufl., Schwalbach/ Ts. 2007, S. 15–29, hier S. 26. Zu wissenschaftlichen Möglichkeiten und Problemen, die sich aus der Quellendigitalisierung ergeben, vgl. Kiran Klaus Patel: Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3 (2011), S. 331–351, insb. S. 342–345; Peter Haber: Zeitgeschichte und Digital Humanities, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24. 09. 2012, URL: http://docupedia.de/zg/Digital_Huma nities?oldid=86303 (03. 09. 2014). Zur Erreichbarkeit digitaler Quellenbestände vgl. auch den Beitrag von Astrid Schwabe in diesem Band, S. 161ff.
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die 1940er-Jahre hineinreicht.13 Das auf der österreichischen Plattform »Anno« dargebotene Volumen an Zeitungsdigitalisaten ist noch eindrucksvoller : Allein für den Tag nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien präsentiert das Portal 30 digital verfügbare Titel, davon 27 in deutscher Sprache.14 Zu nahezu jedem wichtigen Ereignis der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich auf dieser Basis eine recht umfassende, beachtliche Teile des politischen Spektrums abdeckende ›Retro-Presseschau‹ erstellen, das heißt ein durch multiperspektivische Analyse erschließbares Quellenkorpus. Bei der Zusammenstellung und Untersuchung eines solchen Korpus befinden sich Schüler in einer echten Forschungssituation: Sie haben die Chance, eventuell noch nie wissenschaftlich oder didaktisch genutzte Quellen zu finden und auszuwerten. Darin liegt nicht nur ein wissenschaftspropädeutischer Wert, sondern auch ein ähnliches Motivationspotenzial, wie es Thomas Lange und Thomas Lux schulischen Archivprojekten zuschreiben.15 Es geht nicht nur um entdeckendes Lernen im Sinne des ›Wiederentdeckens‹ von Bekanntem; es geht tatsächlich um offenes, forschendes Lernen.16 Auf die schulische Arbeit mit digitalen Zeitungen lassen sich Beobachtungen der Archivpädagogik übertragen: Die vorgestellten 13 http://gallica.bnf.fr/html/presse-et-revues/les-principaux-quotidiens (22.12. 2014). Alle französischen Zeitungen werden nachfolgend ohne weitere Linkangabe nach diesem Portal zitiert. Sie sind dort über die Titel, Jahres- und Tagesübersichten schnell und bequem erreichbar. 14 Anno: Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften, URL: http://anno.onb.ac.at/ (20. 02. 2015). Auch im Falle der nachfolgend zitierten Digitalisate österreichischer Zeitungen (durchgehend digital zitiert) wird auf die Angabe von Links verzichtet, da die Einzelausgaben über das Portal alphabetisch und auch über Jahresübersichten problemlos erreichbar sind. Siehe hierzu auch den Beitrag von Christa Müller in diesem Band, S. 191ff. Ein ebenfalls beeindruckendes Tableau ist für Großbritannien verfügbar, allerdings dezentral auf verschiedenen Websites und kostenpflichtig. Neben der Times wird etwa der Manchester Guardian geboten; auch Massenblätter wie Daily Express und Daily Mirror sind für große Zeiträume vollständig digitalisiert im Netz erreichbar. URL in der Reihenfolge der Nennung: http://rzblx10.uni-regensburg.de/dbinfo/detail.php?titel_id=5199& bib_id=bsb (05. 02.2015), nur über Hochschulnetze; http://www.theguardian.com/gnm-archive (05. 02. 2015); http:// www.ukpressonline.co.uk/ukpressonline/open/services.jsp (05. 02. 2015). 15 Thomas Lange/Thomas Lux: Historisches Lernen im Archiv, Schwalbach/Ts. 2004, S. 49. Ein im Internet verfügbares Beispiel für eine ›Retro-Presseschau‹ mit zahlreichen Zeitungsartikeln zur Sudetenkrise des Jahres 1938 bietet die Plattform »Airminded. Airpower and British Society, 1908–1941 (mostly)«, Blog von Brett Holman, University of New England, Armidale, Australien: http://airminded.org/archives/sudeten-crisis/ (06. 02. 2015). 16 Gerhard Henke-Bockschatz unterscheidet entdeckendes (»Nachentdecken«) und forschendes Lernen (Schaffung neuer Erkenntnis): Henke-Bockschatz: Forschend-entdeckendes Lernen, hier S. 15. Pandel sieht Schüler beim forschenden Lernen in einer ähnlichen Rolle wie Historiker; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/Ts 2013, S. 339. Ähnlich auch Joachim Rolfes: Geschichte und ihre Didaktik, 2. Aufl., Göttingen 1997, S. 283. Schmid betonte die Nähe des »induktiv, forschend-fragenden Ansatzes« zur Verfahrensweise der Geschichtswissenschaft schon 1970; vgl. Heinz Dieter Schmid: Entwurf einer Geschichtsdidaktik der Mittelstufe, in: GWU 21 (1970), H. 6, S. 340–363, hier S. 354.
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Bibliotheksangebote sind nichts anderes als gigantische Archive für gedruckte und im Falle der Manuskriptdigitalisate der BibliothHque nationale sogar ungedruckte Quellen, wie etwa das für die Julikrise 1914 verständnisrelevante Tagebuch des französischen Staatspräsidenten Raymond Poincar8.17 Wie ein klassisches Archiv ermöglicht eine große digitale Quellensammlung die Recherche in einem Raum der von Thomas Lange und Thomas Lux hervorgehobenen »Unabgeschlossenheit« und Authentizität.18 Genau wie beim Umgang mit Archivgut kommt es darauf an, eine geschichtsbezogene Deutung durch auszuwählendes Quellenmaterial nachvollziehbar zu belegen.19 Das ist eine Herangehensweise, die sich radikal von der Analyse bereits ausgewählter, transkribierter, gekürzter und didaktisch kontextualisierter Quellen in Schulbüchern unterscheidet.20 Selbst das sinnliche Erlebnis des Umgangs mit Archivalien21 ist immerhin insofern möglich, als die digitalisierten Zeitungsseiten als Faksimiles abrufbar sind, also abgesehen von technisch bedingten Farbveränderungen und etwas geringerer Auflösung in genau der optischen Gestalt, in der sie im Juli 1914 auf den Marmortischchen der Pariser Caf8s lagen.
3.
Freiheit ohne Überforderung: Methodische Überlegungen zur Arbeit mit historischer Presse
Das Korpus der über das Angebot »Gallica« erreichbaren Zeitungen ist derart groß, dass es von Schülern selbst bei der Betrachtung eines klar begrenzten Problemzusammenhangs wie der Julikrise 1914 nicht umfassend erschlossen werden kann. Mit dieser Fülle ist auch bei hervorragender Sprachbeherrschung und – für die deutschsprachigen Blätter des Portals »Anno« – nach Einlesen in die Fraktur die Gefahr der Desorientierung und Überforderung verbunden. Dies lässt sich nur vermeiden, wenn vor dem Beginn des projektförmig organisierten Rechercheprozesses einige Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens: Die Recherche in den digitalen Pressebeständen beginnt erst dann, wenn sich die Schüler ein solides historisches Wissen über den zu untersuchenden Ereignis- und Problemzusammenhang angeeignet haben. Vorzulagern 17 Papiers Raymond Poincar8. XIXe–XXe s. II Notes journaliHres. Mars-ao0t 1914, URL: http:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8555829g (22. 12. 2014). Erstmals ausgewertet in: Gerd Krumeich: Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht, Wiesbaden 1980. 18 Lange/Lux: Historisches Lernen, S. 47. 19 Vgl. ebd., S. 48. 20 Kritisch zum ›endeckenden Lernen‹ in Schulbüchern: Pandel, Geschichtsdidaktik, S. 337. 21 Zum archivdidaktischen Potenzial der sinnlichen Objektwahrnehmung: Lange/Lux: Historisches Lernen, S. 48.
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wäre somit die ›klassische‹ Behandlung der weiteren (Imperialismus, Bündnissystem) und der unmittelbaren Kriegsvorgeschichte in der Julikrise unter Heranziehung zentraler diplomatiegeschichtlicher Quellen, wie sie viele Schulbücher und leicht zugängliche Auswahleditionen bieten.22 Da die in Lehrwerken enthaltenen Sachinformationen zur Julikrise für eine selbstständige Presserecherche nicht detailliert genug sind, empfiehlt sich darüber hinaus die Lektüre einer wissenschaftlichen Kurzdarstellung. Ideal sind etwa die wenigen, aber sehr klaren Seiten, die Jean-Jacques Becker in seinem in der Reihe Que sais-je? erschienenen Büchlein zum Ersten Weltkrieg dieser Krise widmet.23 Im Zuge der gemeinsamen Lektüre und Erläuterung ausgewählter Passagen dieser Darstellung könnte auch das für die spätere Presseanalyse relevante Themenvokabular mit Begriffen wie »Triplice«, »Triple Entente«, »note«, »ultimatum«, »mobilisation« etc. eingeführt werden. Zweitens: Die Recherche kann erst beginnen, wenn die Schüler in der Lage sind, Problemfragen24 an das Material heranzutragen, also etwa die grundlegende Frage danach, wie in der französischen Presse der außenpolitische Kurs und später der Kriegseintritt Frankreichs begründet wird. Ausgangspunkt kann die von Jean-Jacques Becker aufgegriffene und am Beispiel Frankreichs widerlegte Behauptung einer allgemeinen Kriegsbegeisterung sein, wie sie den Schülern bei der Betrachtung von Fotos jubelnder Soldaten üblicherweise im Unterricht begegnet.25 Zwei miteinander verknüpfte Leitfragen26 der Untersuchung könnten ausgehend von solchen Schulbuchbefunden lauten: Wie steht es 22 Vgl. exemplarisch Tobias Arand u. a.: Geschichte und Geschehen. Oberstufe NordrheinWestfalen, Stuttgart 2011, S. 374–386. Als Beispiel für zahlreiche weitere Quellensammlungen: Immanuel Geiss (Hrsg.): Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 2. Aufl., München 1980. Zum geschichtsdidaktisch weithin unterbelichteten Bereich der Wissensaneignung vgl. den wichtigen Beitrag von Martin Stupperich: Orientierung in der Geschichte – aber wie?, in: GWU 60 (2009), H. 11, S. 612–628. 23 Jean-Jacques Becker : La Grande Guerre, Paris 2004, S. 14–23. 24 Zum Konzept der Problemfrage: Schmid: Entwurf, S. 357; auf die Bedeutung des Fragens für das historische Lernen weist jüngst wieder hin: Thünemann, Lernaufgaben, S. 146f. 25 Jean-Jacques Becker : 1914: Comment les FranÅais sont entr8s dans la guerre. Contribution / l’8tude de l’opinion publique printemps–8t8 1914, Paris 1977, insbesondere S. 573–580. Vgl. dazu die zusammenfassende Rezension von Henning Köhler in Francia 9 (1981/82), S. 831–835; zit. nach dem Digitalisat der Onlinepublikation der Max Weber Stiftung, URL: http://francia.digitale-sammlungen.de/Blatt_bsb00016284,00847.html (23. 09. 2013). Bestätigend: Thomas Raithel: Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996, S. 3, zit. nach dem Digitalisat der Max Weber Stiftung, URL: http://www.perspectivia.net/content/pu blikationen/phs (21. 01. 2014). Voranstehende Literatur zit. in: Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 84 und Anm. 390 und 391. Beispiel für ein allerdings quellenkritisch kommentiertes Foto jubelnder Soldaten: Arand u. a., Geschichte, S. 375. 26 Thünemann definiert Leitfragen treffend als deutungsbezogen und grenzt sie so gegenüber Faktenfragen ab. Vgl. Thünemann: Lernaufgaben, S. 147.
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mit der in diesen Bildquellen dem deutschen Betrachter suggerierten Kriegsbegeisterung in Frankreich? Erwecken französische Zeitungen den Eindruck, dass ihre Leser dem Krieg begeistert entgegengesehen bzw. seinen Beginn bejubelt haben? Auch die von Bernhard Rosenberger mit Blick auf das deutsche Kaiserreich gestellte und bejahte Frage nach der »kriegstreiberischen« Rolle der Presse könnte Ausgangspunkt der Untersuchung sein.27 Drittens: Voraussetzung für eine ertragreiche Recherche ist, dass die Schüler den Aufbau von Zeitungen kennen, also insbesondere eher kommentierende und eher berichtende Artikel – absolute Trennschärfe gibt es ja nicht – typologisch unterscheiden können. Dies befähigt sie, gezielt nach Leitartikeln zu suchen.28 So verlieren sie nicht unnötig Zeit durch die Konzentration auf Berichte zur Chronologie und Ereignisgeschichte, die sich aus diplomatiegeschichtlichen Quellen und darauf basierenden Darstellungen sinnvoller und zeitökonomischer rekonstruieren lassen.29 Viertens: Den Schülern sollten nach Möglichkeit knappe Informationen zur politischen Tendenz und Auflagenzahl der zu untersuchenden Zeitungen zur Verfügung gestellt werden, so etwa zur Einordnung der Humanit8 als sozialistisch.30 Auch wenn all diese Voraussetzungen gegeben sind, bedarf es einer weiter gehenden Vorstrukturierung. So sollte etwa gemeinsam mit den Schülern eine in realistischer Weise begrenzte Liste von Schlüsseldaten zusammengestellt werden, zu denen ein besonders interessantes Presseecho zu erwarten ist. Mit diesen Daten wären – gewissermaßen unterhalb der Ebene der oben vorgeschlagenen 27 Bernhard Rosenberger : Zeitungen als Kriegstreiber? Die Rolle der Presse im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, Köln u. a. 1998, S. 323. 28 Zu den Charakteristika des Leitartikels: Steffen Richter : Kurzartikel »Leitartikel«, in: Einladung zur Literaturwissenschaft. Ein Vertiefungsprogramm zum Selbststudium, zit. nach URL: https://www.uni-due.de/einladung/index.php?option=com_content& view=article & id=391 %3 A8–4-leitartikel& catid=45 %3Akapitel-8& Itemid=53 (05. 01. 2015). (Es handelt sich um ein ergänzendes Informationsangebot der Universität Duisburg-Essen zu folgender Publikation: Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft, 6. Aufl., Stuttgart 2008 [UTB 2072], bibl. Angaben nach: http://utb-studi-e-book.de/viewer/main.php?ojid [01. 05. 2015]). Zu Entstehung und Funktion des Leitartikels ferner : Rudolf Stöber : Deutsche Pressegeschichte, 2. Aufl., Konstanz 2005, S. 190–193, hier zit. nach der digitalen Fassung unter URL: http://utb-studi-e-book.de/viewer/main.php?ojid (05. 01. 2015). 29 Für Zeitungen gilt ähnlich wie für Wochenschaufilme, dass sie als Quellen für die Rekonstruktion ereignisgeschichtlicher Zusammenhänge eher ungeeignet sind. Vgl. Nicholas Pronay : British Newsreels in the 1930s: Audience and Producers [1971], in: Luke McKernan (Hrsg.): Yesterday’s News. The British Cinema and Newsreel Reader, London 2002, S. 138–147, hier S. 139. 30 Pierre Albert: La presse franÅaise de 1871 / 1940, in: Claude Bellanger/Jacques Godechot/ Pierre Guiral/Fernand Terrou (Hrsg.): Histoire g8n8rale de la presse franÅaise, Bd. III: De 1871 / 1940, Paris 1972, S. 135–622, hier S. 374–377. Ein knappes Porträt der wichtigsten Zeitungen zudem in: Pierre Albert: Histoire de la presse, 8. Aufl., Paris 1996, S. 69–72.
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Leitfrage zur Kriegsbegeisterung – ereignisbezogene Untersuchungsfragen zu verknüpfen, die sich dann im Vollzug der weiteren Analyse noch modifizieren ließen. Ein Beispiel zum Attentat von Sarajevo könnte lauten: »Comment l’attentat de Sarajevo est-il comment8 dans la presse franÅaise? Les journalistes pr8voient-ils la crise internationale dHs le 29 juin 1914?« – »Wie wird das Attentat von Sarajevo in der französischen Presse kommentiert? Sehen die Journalisten die internationale Krise schon am 29. Juni 1914 voraus?« Es empfiehlt sich, die Recherche durch weitere Fragen vorzustrukturieren, deren Zahl allerdings zur Vermeidung eines allzu hohen Komplexitätsgrades nicht beliebig hoch werden sollte. Hier seien nur wenige Beispiele angeführt: – 23. Juli 1914: »Comment l’ultimatum austro-hongrois est-il jug8 par les journalistes?« – »Wie wird das österreichisch-ungarische Ultimatum von den Journalisten beurteilt?« – August 1914: »Comment le d8but de la guerre europ8enne est-il comment8 dans la presse?« – »Wie wird der Beginn des europäischen Krieges in der Presse kommentiert?« – »Quels sont les riles attribu8s aux diff8rentes nations participant au conflit?« – »Welche Rollen werden den verschiedenen Nationen zugewiesen, die am Konflikt teilnehmen?« Im Idealfall werden solche ereignisbezogenen Fragen von der Lerngruppe selbst definiert. Je nach Lernstand ist aber auch ein Vorgeben durch die Lehrkraft möglich, ohne dass der Charakter einer offenen Recherche dadurch verloren gehen muss, sofern diese Fragen die Schüler im Sinne Uffelmanns hinreichend »betreffen«.31 Angesichts der Fülle des verfügbaren Materials bleibt ihnen auch bei vorgegebenen Fragen viel Raum für unabhängige Schwerpunktsetzungen und Beobachtungen. Mit Hans Brügelmann betrachtet stehen »Offenheit« und »Struktur« nicht in einem Widerspruchsverhältnis zueinander ; vielmehr ist – wie von ihm ausgeführt – Strukturierung auf inhaltlicher, methodischer und sozialer Ebene die Grundbedingung für das Gelingen offener Unterrichtssituationen.32 Diesen Grundsatz sieht der Verfasser durch die eigene Unterrichts- bzw.
31 Zur »Betroffenheit«: Uwe Uffelmann: Vorüberlegungen zu einem Problemorientierten Geschichtsunterricht im sozialwissenschaftlichen Lernbereich [erstmals erschienen 1975], in: ders. (Hrsg.): Problemorientierter Geschichtsunterricht – Grundlegung und Konkretion, Villingen-Schwenningen 1990, S. 18–45, hier S. 20 und 29; ders.: Problemorientierter Geschichtsunterricht, in: ders. (Hrsg.): Neue Beiträge zum problemorientierten Geschichtsunterricht, Idstein 1999, S. 35–40, hier S. 38. 32 Hans Brügelmann: Die Öffnung des Unterrichts muß radikaler gedacht, aber auch klarer strukturiert werden, in: H. Balhorn/H. Niemann (Hrsg.): Sprachen werden Schrift. Mündigkeit – Schriftlichkeit – Mehrsprachigkeit. DGLS Jahrbuch »Lesen und Schreiben«, Bd. 7, Lengwil 1997, S. 43–60, hier zit. nach der digitalen Fassung des Portals »bidok« unter URL:
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Lehrpraxis an Schule und Universität vielfach bestätigt. Einer problematischen Verengung des Blickfeldes lässt sich überdies im Falle vorgegebener Untersuchungsfragen dadurch entgegenwirken, dass die Schüler aufgefordert werden, aus ihrer Sicht für das Verständnis der Julikrise wichtige Quellenfunde und Eindrücke auch dann zu notieren, wenn sie sich nicht direkt auf die Fragen beziehen: »Notez 8galement des observations et des trouvailles qui vous semblent importantes pour l’analyse de la crise de juillet, mÞme si elles n’ont pas de rapport direct avec ces questions.« – »Notieren Sie auch Beobachtungen und Funde, die Ihnen für die Analyse der Julikrise als wichtig erscheinen, auch wenn sie keine direkte Beziehung zu diesen Fragen haben.« Dies ermöglicht interessante Entdeckungen, die bis hin zu scheinbar unwichtigen Werbeanzeigen der deutschen Suppenfirma Knorr in der französischen Presse während der Julikrise reichen können.33 Methodisch bietet sich für die Quellenrecherche und -auswertung eine von der individuellen Denkleistung ausgehende Gruppenarbeit nach dem ›ThinkPair-Share-Prinzip‹34 an. Wenn so verfahren wird, lässt sich beispielsweise jedem Schlüsseldatum eine Arbeitsgruppe von vier Schülern zuordnen, von denen jeder wiederum eine Zeitung zu untersuchen hätte (vgl. Tabelle). Die individuellen Analyseergebnisse ließen sich nach einer Einzelarbeitsphase innerhalb der Gruppe vergleichend zusammentragen, bewerten und in eine präsentationsfähige Form überführen.35 Think-Pair-Share-Struktur Tandem Frankreich Schüler 1 Le Figaro, bürgerlich-aristokratisch Schüler 2 L’Humanit8, sozialistisch
Tandem Österreich-Ungarn Schüler 3 Neue Freie Presse, liberal Schüler 4 Arbeiter-Zeitung, sozialdemokratisch
Zur politischen Ausrichtung der Zeitungen: Hannig, »Wer uns kränkt«, S. 22; Albert, La presse, S. 357 und 374–377.
Weitere Schülergruppen könnten entweder andere oder dieselben Zeitungen bearbeiten, was mit Blick auf unterschiedliche Interpretationen des Materials und sicher nicht identische Schwerpunktsetzungen durchaus auch von Interesse wäre. Während einer Präsentationsphase würden die Gruppen dann ihre Behttp://bidok.uibk.ac.at/library/bruegelmann-radikal.html (06. 09. 2014), dort in der Download-Version insbes. S. 11–14. 33 Zur Werbeanzeige der Firma Knorr : L’Humanit8, 27. 07. 1914, S. 4. 34 Vgl. etwa Dietlinde H. Heckt: Das Prinzip Think – Pair – Share. Über die Wiederentdeckung einer wirkungsvollen Methode, in: Friedrich Jahresheft XXVI (2008), S. 31–33. 35 Vgl. zu diesem Strukturierungsschema ebd., S. 31.
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funde zu den verschiedenen Schlüsseldaten in chronologischer Ordnung vorstellen. In einer abschließenden Diskussion könnte im Plenum der Versuch unternommen werden, übergeordnete Charakteristika der französischen und österreichisch-ungarischen Pressekommentierung der Julikrise herauszuarbeiten, Besonderheiten in den Perspektiven einzelner Blätter festzuhalten und – vor allem – die Entwicklung der Presse im Zuge der Krisenverschärfung zu beschreiben. Diese Entwicklung ist im sozialistischen Spektrum Frankreichs besonders dynamisch und für Schüler daher leicht erkennbar : Sie führt von der Befürwortung des internationalen Generalstreiks gegen den Krieg Mitte Juli zum Eintritt der Sozialisten in die nationale Verteidigungsgemeinschaft der ›Union sacr8e‹.36 Den Schülern müsste natürlich deutlich gemacht werden, dass es sich bei ihren Ergebnissen um Schlaglichter handelt. Dies führen ihnen aber im Grunde auch schon die Übersichtsseiten der digitalen Plattformen vor Augen, da sie – besonders im Falle des Datumsüberblicks auf »Anno« – die Einzelzeitung als eine mögliche Quelle neben vielen anderen am selben Tag erschienenen Blättern visualisieren. Die skizzierte Vorgehensweise führt weg von der mehr oder weniger isolierten Interpretation von Einzelquellen nach einem im Ansatz vernünftigen, in der schematischen Verabsolutierung aber fragwürdigen Analyseraster, wie es etwa das Zentralabitur in Nordrhein-Westfalen mit erheblicher Wirkung auf die vorangehende Klausur- und Unterrichtsgestaltung prägt.37 Sie führt ähnlich wie schulische Archivprojekte hin zu einem wissenschaftsnahen Umgang mit Quellen, der von der verknüpfenden Auswertung größerer Materialmengen unter einer oder mehreren Fragestellungen bestimmt ist.38 Mit dem in der Literatur als Reaktion auf die Desorientierungs- und Desin36 Sehr detailliert zu dieser Entwicklung Becker : 1914, insbes. S. 113–117 und 400–406; Annie Kriegel/Jean Jacques Becker : 1914. La guerre et le mouvement ouvrier franÅais, Paris 1964 (mit zahlreichen Quellenzitaten); Jean-Jacques Becker : Frankreich, in: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), in Verbindung mit Markus Pöhlmann: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 2009, S. 31–43, hier S. 30 (Dynamik des parteiübergreifenden Schulterschlusses); vgl. ferner die Analyse exemplarischer Artikel in: Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 100–109. 37 Beispiele für nordrhein-westfälische Abituraufgaben sind (leider ohne das öffentlich nicht zugängliche Bepunktungsraster) enthalten in: Elisabeth Wagner (Verfasserin der Aufgabenlösungen): Abitur 2015. Prüfungsaufgaben und Lösungen. Geschichte. Leistungskurs. Gymnasium/Gesamtschule. Nordrhein-Westfalen, o. O. 2014 (Stark); zum nordrhein-westfälischen Zentralabitur ferner : Frank-Michael Kuhlemann: Zentralabitur im Fach Geschichte. Kritische Bestandsaufnahme und Perspektiven für die Zukunft am Beispiel Nordrhein-Westfalens, in: GWU 59 (2008), H. 4, S. 204–217. 38 Zu Unterschieden zwischen schulischer und wissenschaftlicher Quellenarbeit vgl. Rolfes, Geschichte, S. 283–285; Rudolf Renz: Prinzipien wissenschaftlicher Quellenanalyse und ihre Verwertbarkeit im Geschichtsunterricht, in: GWU 13 (1971), S. 536–551, insbes. S. 537 und 548; zu den Effekten schulischer Archivarbeit vgl. die voranstehend zitierten Überlegungen von Lange/Lux: Historisches Lernen.
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formationsgefahr der freien Internetrecherche vorgeschlagenen Format des ›WebQuest‹ verbindet die hier favorisierte Vorgehensweise die Vorauswahl eines Ensembles geeigneter Links (zu den französischen Zeitungen).39 Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass die Schüler weniger einer detailliert vorgegebenen Aufgabenstruktur40 folgen, sondern idealerweise aus dem vorangehenden Unterricht entwickelte Fragen bearbeiten. Bei von der Lehrkraft vorgegebenen Fragen könnte man vielleicht tatsächlich von einem ›WebQuest‹ sprechen.41 Möglicherweise wird dieser auf das Internet bezogene Terminus demnächst in einem alle Materialien und Medien unabhängig von ihrer technischen Basis umfassenden Aufgabenbegriff aufgehen42, da die digitale Verfügbarmachung von Information in Lernprozessen bald mindestens so selbstverständlich sein wird wie heute noch die papiergestützte.
4.
Ein Fallbeispiel: Die Julikrise 1914 in der Presse
Die Julikrise ist ein wunderbares Beispiel für die von Walter Lippmann herausgearbeitete Abhängigkeit unserer Wirklichkeitswahrnehmungen von den »maps of the world«, die uns die Medien präsentieren43 : So wie wir 2014/15 in der Diskussion über die Ukraine-Krise auf Zeitung, Fernsehen, Rundfunk und Nachrichtenportale im Internet angewiesen sind, nahmen auch vor gut einem Jahrhundert die Zeitgenossen der Julikrise große Teile des Weltgeschehens nicht direkt, sondern vermittelt durch die Presse wahr.44 Wenn sich Schüler analytisch mit Zeitungen des Jahres 1914 befassen, wissen sie zwar noch nicht, was die Menschen damals dachten und fühlten, sie dringen aber in ein argumentatives
39 Zum WebQuest vgl. Thomas Hilmer: Projektorientiertes und entdeckend-forschendes Lernen im und mit dem Internet mithilfe der ›WebQuest‹-Methode, in: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet, Schwalbach/Ts. 2008, S. 131–146. 40 Vgl. ebd., S. 134f. 41 Vgl. ebd. Allerdings scheint zumindest bei der von Hilmer vorgestellten Ausprägung weniger die Online-Quellenrecherche als die qualitätsbezogene Überprüfung fachbezogener Informationsangebote im Internet im Vordergrund zu stehen. Vgl. ebd., S. 140f. 42 Zur Zusammengehörigkeit von Aufgabe und Material s. Hallet: Aufgaben, S. 202. 43 Vgl. Walter Lippmann: Public Opinion, o. O. 2008 [Nachdruck BN Publishing], erstmals erschienen 1922, S. 21, zit. in: Eckert/Geiss/Karsten, Krisenzeitungen, S. 16. 44 Vgl. ebd., S. 10 (in dieser Einleitung weitere Literaturangaben zu dem hier nicht zu vertiefenden Problemzusammenhang zwischen Presse, Öffentlichkeit und außenpolitischen Entscheidungsprozessen im Vorfeld des Kriegsausbruchs von 1914; grundlegend dazu: Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen 1896–1912, München 2007, S. 1–27). Sehr kritisch zur aktuellen Fernsehberichterstattung: Stefan Niggemeier : Die 20-Uhr-Wirklichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 01. 01. 2015, S. 37.
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Bezugssystem vor, in dessen Rahmen sich damals das Denken, Fühlen und Handeln vollzog.45 Anhand ausgewählter Presseartikel aus der Julikrise sei nun exemplarisch erläutert, welches Lernpotenzial historische Zeitungen bieten. Zunächst ist das Moment der Überraschung zu nennen. Die Schüler wissen, dass das Attentat von Sarajevo der Auslöser des Ersten Weltkrieges war. Das ist gewissermaßen historisches Gemeingut und kann so oder so ähnlich in fast jedem Schulbuch nachgelesen werden. Wenn sie sich nun die Ausgabe der großbürgerlich-aristokratisch orientierten Tageszeitung Le Figaro46 vom 29. Juni 1914 anzeigen lassen, ergibt sich plötzlich ein ganz anderer Eindruck: Das Attentat wird als eine menschliche Tragödie behandelt. In diesem Sinne äußert sich Raymond Recouly in seinem Nachruf auf den Erzherzog: »Voici qu’une fois encore la plus tragique des catastrophes vient s’abattre sur cette dynastie des Habsbourg, qui est, / coup s0r, de toutes les familles r8gnantes, celle qui fut frapp8e par les coups les plus p8nibles et les plus inattendus.« »So bricht nun einmal mehr die tragischste aller Katastrophen über diese Dynastie der Habsburger herein, die ganz sicher unter den regierenden Familien diejenigen ist, die von den unangenehmsten und überraschendsten Schlägen getroffen wurde.«47
Dies entspricht genau dem Bild, das auch die Titelseite des Petit Journal – Suppl8ment illustr8 noch am 12. Juli 1914 von dem Ereignis vermittelt.48 Doch zurück zum Figaro: Auch in einem Kurzbericht über die Reaktionen in London würden die recherchierenden Schüler einen Hinweis auf »unbeschreibliche Emotion« (»8motion indescriptible«) und Trauer am Königshof entdecken.49 Es findet sich kaum eine Vorahnung davon, welchen Prozess dieses Ereignis in den darauffolgenden Wochen in Gang setzen würde. Zwar wird der nationalistische und antihabsburgische Tathintergrund des Mörders genannt, die Erwähnung der vor dem Verbrechen von der serbischen Regierung übermittelten Attentatswarnung50 wie auch der Beileidsbekundung des serbischen Königs, des französischen Staatspräsidenten, des deutschen Kaisers, des italienischen Königs, des Papstes51 und zahlreicher in Paris anwesender Diplomaten und Ari45 Vgl. Eckert/Geiss/Karsten: Krisenzeitungen, S. 13; Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn u. a. 2014, S. 13f. 46 Zur Orientierung des Figaro vgl. Albert: La presse, S. 357. 47 Raymond Recouly : FranÅois Ferdinand, in: Le Figaro, 29. 06. 1914, S. 2. 48 La tristesse du vieil Empereur, in: Le Petit Journal – Suppl8ment illustr8, 12. 07. 1914, Titelseite. 49 Vgl. Raymond Recouly : FranÅois Ferdinand, in: Le Figaro, 29. 06. 1914, S. 2. 50 Double attentat, l’Archiduc-h8ritier d’Autriche et sa femme assassin8s en Bosnie, in: Le Figaro, 29. 06. 1914, S. 1. 51 Condol8ances, in: Le Figaro, 29. 06. 1914, S. 2.
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stokraten unmittelbar danach52 hinterlässt beim Leser aber nicht den Eindruck, dass ein schwerer internationaler Konflikt bevorstünde. Die Botschaft ist klar : Das zivilisierte Europa verurteilt über die Grenzen der Staaten und Allianzen hinweg einhellig die Bluttat. Recoulys Erörterungen der politischen Folgen konzentrieren sich weitgehend auf die österreichisch-ungarische Innenpolitik, in der Franz Ferdinand für den sogenannten »Trialismus« gestanden habe, also die Aufwertung der Slawen gegenüber dem bislang vorherrschenden deutschösterreichisch-ungarischen »Dualismus«.53 Hier klingt keinerlei Vorahnung der kurz darauf einsetzenden Entwicklungen an, die den Schülern aus dem vorangehenden Unterricht bereits bekannt sind: Nichts deutet darauf hin, dass sich Europa einen guten Monat später in einen gewaltigen Krieg stürzen würde. Was lernen Schüler aus der Begegnung mit dem Figaro des 29. Juni 1914? Sie stellen fest, dass nach dem Attentat der Weg nicht vorgezeichnet war. Dies gilt zumindest dann, wenn man von dem Bild ausgeht, das sich den Lesern des Figaro Ende Juni darbot. Christopher Clark hat treffend darauf hingewiesen, dass dieser Weg auch im Bereich der politischen Entscheider keineswegs der einzig mögliche war : »the people, events and forces […] carried in them the seeds of other, perhaps less terrible futures«.54 Der Blick in die Zeitung vom 29. Juni 1914 allein reicht natürlich noch nicht, um eine solche Aussage solide zu belegen. Aber er sensibilisiert die Lernenden dafür, Geschichte mit Thomas Nipperdey als einen zwar vielfältig strukturell gerahmten, aber eben nicht determinierten Prozess zu betrachten und überdies menschliche Antizipationspotenziale nicht zu überschätzen.55 Ein anderes Bild ergibt sich den Schülern allerdings, wenn sie die von der österreichischen Nationalbibliothek digitalisierte Neue Freie Presse vom selben Tag aufrufen – ein liberales Blatt, das in Europa grenzüberschreitend Beachtung fand.56 Auch hier wird auf die »erschütternde Tragik« des Ereignisses eingegangen; zugleich hebt der Verfasser des Nachrufs aber auch hervor, dass es sich um einen »Balkanmord« handle, den er in die Frontstellung zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem südslawischen Nationalismus einordnet und angesichts dessen er entsprechend Festigkeit fordert: »Der Balkan hat sich bei uns gemeldet, derselbe Balkan, der den König Georg von 52 A Paris, in: Le Figaro, 29. 06. 1914, S. 2. 53 Vgl. zu diesen Konzeptionen auch Clark: Sleepwalkers, S. 108. 54 Vgl. ebd., S. XXIX, 557; ähnlich Jörg Baberowski: »Der Nationalismus ist ein mächtiges Gefühl«. Die russische Presse und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Eckert/Geiss/ Karsten (Hrsg.) Die Presse in der Julikrise 2014, S. 61–82, hier S. 61. 55 Vgl. Thomas Nipperdey : Über Relevanz, in: GWU 23 (1972), H. 10, S. 577–597, hier S. 590. 56 Erzherzog Franz Ferdinand. Der Thronfolger und seine Gemahlin ermordet, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 29. 06. 1914, S. 1, zit. und kommentiert in: Hannig, »Wer uns kränkt«, S. 28; zur Orientierung und grenzüberschreitenden Bedeutung dieser Zeitung und zur besonderen Emotionalität der Wiener Presse in der Julikrise vgl. ebd., insbes. S. 22 und 29.
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Griechenland in Saloniki hinschlachtete und sich jetzt wieder ein so hohes Ziel für seine Mordlust suchte.«57 Einige Zeilen weiter unten wird die »einzige Antwort« auf diese Bluttat formuliert: »Hier sind wir und hier bleiben wir.« Überdies stellt der Verfasser unter Berufung auf den Bürgermeister von Sarajevo die Frage, »ob dieser Mord in einer Natternhöhle außerhalb der Monarchie vorbereitet wurde […].«58 Im multiperspektivischen Vergleich der Neuen Freien Presse und des Figaro können die Schüler eine wichtige Beobachtung machen: Beide Blätter verurteilen übereinstimmend die Tat und bringen menschliche Anteilnahme zum Ausdruck. Die in Wien erscheinende Zeitung lässt den Leser aber im Gegensatz zur französischen bereits erahnen, dass ein internationales Eskalationsrisiko bestehen könnte: Die Sprache ist emotional aufgeladener und zeugt von Hass auf das als spezifisch balkanisch charakterisierte »Mörderpack«, das gleich in den Kontext des geopolitischen Großkonflikts in Südosteuropa gerückt wird.59 Das ist eine exemplarische, aber für die Entwicklung der Folgezeit wichtige Beobachtung. Die Wiener Presse war, wie Alma Hannig auf einer breiten Quellenbasis zeigt, sehr bald und sehr eindeutig mit einem antiserbischen Feindbild auf Kriegskurs.60 Als zweites Beispiel sollen Reaktionen auf das österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien vorgestellt werden, das am 23. Juli 1914 übermittelt wurde. Bekanntlich forderte Wien darin unter anderem die Beteiligung eigener »Organe« an Ermittlungen auf serbischem Territorium und ein rigoroses Vorgehen der serbischen Regierung gegen antiösterreichische Nationalistenkreise und deren Propaganda in Serbien.61 Als Illustration für die Reaktionen im französischen Blätterwald sei hier die Ausgabe des Petit Parisien vom 25. Juli 1914 angeführt – 1912 mit fast 1,3 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung im Bereich der sogenannten »presse d’information«.62 Schon bei einem ersten Blick auf die Titelseite wird den Schülern ein für die Pressegeschichte der Julikrise insgesamt wichtiger Befund deutlich: Obwohl das Ultimatum eine neue 57 Erzherzog Franz Ferdinand. Der Thronfolger und seine Gemahlin ermordet. In: Neue Freie Presse, Morgenblatt, 29. 06. 1914, S. 1. 58 Ebd. 59 Alma Hannig spricht insgesamt mit Blick auf die Wiener Presse von einer starken »Emotionalisierung«. Hannig: »Wer uns kränkt«, S. 29. 60 Vgl. ebd., S. 40–42. 61 Vgl. den Text des Ultimatums in: Erwin Hölzle: Quellen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges. Internationale Dokumente 1901–1914, mit einem Geleitwort von Winfried Baumgart, 2. Aufl., Darmstadt 1995 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, XXVII), Dok.Nr. 173, hier S. 371. 62 Le Petit Parisien, 25. 07. 1914, S. 1; zu Auflagenzahl und Zuordnung zur »presse d’information« vgl. Albert: La presse, S. 296f. und 304–309. Einen weiteren Beleg für die Dominanz des Caillaux-Prozesses bietet L’Humanit8, 25. 07. 1914, S. 1; Teilabbildung und Kommentar in: Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 85.
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und gefährliche Eskalationsstufe der Krise markiert, nimmt es nicht mehr Raum ein als die Berichterstattung über den Mordprozess gegen Madame Caillaux. Bei dieser handelt sich um die Frau des ehemaligen Ministerpräsidenten Joseph Caillaux, die aus Angst vor einer gegen ihren Mann gerichteten Schmutzkampagne den Chefredakteur des Figaro erschossen hatte.63 Bereits eine kursorische Durchsicht der in der zweiten Julihälfte erschienenen Zeitungen bestätigt die in der Forschung bekannte Tatsache, dass diese Affäre im Juli 1914 einen großen Teil der Aufmerksamkeit von den internationalen Entwicklungen abgezogen und auf dieses politisierte Strafverfahren konzentriert hat.64 Für die Schüler ist dies hingegen eine wichtige Entdeckung: Wenige Tage vor Ausbruch des größten bisher dagewesenen Krieges lesen die Franzosen prominent platzierte und ausführliche Berichte über ein Ereignis, das rückblickend im Vergleich dazu doch nur eine jener sprichwörtlichen ›Fußnoten der Geschichte‹ war.65 Der mediendidaktische Wert dieser Beobachtung liegt auf der Hand: Schüler erfassen auch ohne größeren Lektüreaufwand, dass mediales Agenda Setting, das heißt die Festlegung einer Rangordnung von Themen, sich bisweilen sehr weit von deren politischer Bedeutsamkeit unterscheiden kann.66 Das ist eine für den Umgang mit Medien der Gegenwart absolut zentrale Erkenntnis: Die Fakten, welche die Tagesschau an einem bestimmten Abend in der ersten Meldung präsentiert, sind nicht unbedingt diejenigen, die sich im historischen Rückblick als die wichtigsten des vorangehenden Tages erweisen werden.67 Doch zurück zu den Reaktionen auf das Ultimatum: Der Sozialistenvorsitzende und Leitartikler der Humanit8, Jean JaurHs, griff am 25. Juli 1914 Österreich-Ungarn mit deutlichen Worten an: Das Ultimatum wirke so, als ob es »darauf berechnet« sei, »das serbische Volk tief zu demütigen oder zu zermal63 Vgl. zu den Hintergründen Krumeich, Aufrüstung, S. 214f. und 217; Becker : 1914, S. 131. 64 Zur Dominanz des Caillaux-Prozesses mit quantitativen Analysen, ebd., S. 131–136, zit. in: Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 96, Anm. 461. 65 Ein weiteres, allein schon durch das Auszählen der jeweils dem Balkan und dem Strafprozess gewidmeten Spalten (im quantitativen Verhältnis 1 zu 5) zum Sprechen zu bringendes Beispiel bietet die Titelseite des Figaro vom 29. 07. 2014; vgl. dazu Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 86. 66 Zum Agenda Setting vgl. Rosenberger, Zeitungen, S. 100 (direkte Anwendung des Konzepts auf die Julikrise); Heinz Bonfadelli/Thomas N. Friemel: Medienwirkungsforschung, 4. Aufl., Stuttgart 2011, S. 181–184, beide zit. in Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 97, Anm. 463. 67 Eine Parallele zum Caillaux-Prozess war vielleicht das Steuerstrafverfahren gegen Uli Hoeneß, das sich im März 2014 für einige Tage in der Medienaufmerksamkeit vor die auf längere Sicht sicher ungleich bedeutsamere Krim-Krise schob. Vgl. Christoph Elflein/Christian Sturm/Tanja Treser : Leben nach dem Abpfiff, in: Focus 12/2014, 24. 03. 2014, zit. nach URL: http://www.focus.de/finanzen/steuern/steuerprozess_uli_hoeness/politik-leben-nach-dem-ab pfiff_id_3691692.html (05. 09. 2014).Vgl. zur Problematik medialer Wirklichkeitsbilder auch Niggemeier, 20-Uhr-Wirklichkeit.
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men.«68 Dennoch sprach er sich mit Nachdruck für eine internationale Vermittlung zur friedlichen Beilegung des Konflikts aus.69 Bei aller Kritik am Kriegskurs Wiens tat er die österreichisch-ungarischen Forderungen nicht als gänzlich unberechtigt ab.70 Am selben Tag brachte die in Wien erscheinende Arbeiter-Zeitung einen flammenden Appell, in dem der Krieg strikt verurteilt wurde.71 Zwar betrachtete es das Blatt – ähnlich übrigens auch JaurHs – als legitim, von Serbien Garantien für die Einstellung des »unterirdischen Wühlens gegen die Sicherheit und Ruhe des österreichischen Staatsverbandes« und eine Bestrafung der Schuldigen zu verlangen; ein militärisches Vorgehen wurde aber ebenso wie die Übernahme von Verantwortung dafür abgelehnt.72 Man laste diese Verantwortung jenen an, die den Waffengang »hüben wie drüben angestiftet haben und entfesseln wollten!«73 Es wird also eine Äquidistanz zu den späteren Kriegsparteien hergestellt. Mit dieser Haltung sehe man sich im Einklang mit den »klassenbewussten Arbeitern der ganzen Welt und nicht zum wenigsten mit den Sozialdemokraten Serbiens.«74 Dieser Appell wurde am Folgetag in der französischen Humanit8 knapp und am 27. Juli dann in fast vollständiger Übersetzung zitiert.75 Solche sozialistischen Stimmen aus dem Lager der Gegenseite waren wichtig für JaurHs, der wie andere Sozialisten in der grenzüberschreitenden Aktion des internationalen Proletariats eine Chance zur Verhinderung des Krieges sah.76 In friedenspädagogischer Hinsicht ist es eine allen moralisierenden Appellen haushoch überlegene Erkenntnis, dass auch unter den Bedingungen schärfster internationaler Eskalation noch Menschen grenzüberschreitend für die Verhinderung des Krieges arbeiteten und dabei zu Einschätzungen gelangten, die den katastrophalen Gang der Ereignisse realitätsnah antizipierten.77 Das ist 68 »Elle [la note] semble calcul88 pour humilier / fond le peuple serbe ou pour l’8craser.« Jean JaurHs: SuprÞme chance de Paix, in: L’Humanit8, 25. 07. 1914, S. 1, zit. und analysiert in Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 97f. 69 Vgl. JaurHs: SuprÞme chance. 70 Vgl. ebd. 71 Arbeiter, Parteigenossen!, in: Arbeiter-Zeitung, 25. 07. 1914, S. 1, zit. in: Hannig: »Wer uns kränkt«, S. 36, Anm. 424. 72 Vgl. Arbeiter, Parteigenossen!, in: Arbeiter-Zeitung, 25. 07. 2014, S. 1. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Les socialistes autrichiens et la guerre, in: L’Humanit8, 26. 07. 1914, S. 1; Le manifeste des socialistes autrichiens, in: L’Humanit8, 27. 07. 1914, S. 1. 76 Vgl. Jean JaurHs: Une lueur d’espoir, in: L’Humanit8, 27. 07. 1914, S. 1; zur sozialistischen Debatte über den Generalstreik als Mittel der Kriegsverhinderung vgl. Becker: 1914, S. 106–119; Kriegel/Becker : 1914, S. 39–47; Geiss, »Das unsterbliche Frankreich«, S. 101–103. 77 Entsprechend attestiert Alma Hannig den Einschätzungen der Arbeiter-Zeitung und der hier nicht betrachteten Zeit einen »hohen Prognosewert«: Hannig: »Wer uns kränkt«, S. 42.
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wichtig, weil deutlich wird, dass rationales Denken auch in Zeiten der Kriegspsychose möglich bleibt. Zu der für Schüler erkennbaren, zugleich aber auch verstörenden Wahrheit von 1914 gehört aber auch, dass sowohl die französischen Sozialisten als auch ihre deutschen und österreichischen Genossen sich bei Kriegsausbruch ganz überwiegend in die patriotische Verteidigungsgemeinschaft ihrer Länder einreihten.78 Auch dies lässt sich durch Pressestimmen zeigen.79 Am 5. August stellte sich die Arbeiter-Zeitung unter der vielsagenden Überschrift »Der Weltkrieg der Entente gegen Deutschland« auf die Seite Berlins, dem rein defensive Absichten zugeschrieben wurden.80 Am selben Tag würdigte die Humanit8 das Eintreten der Sozialisten in die ›Union sacr8e‹.81 Eine ertragreiche Analyse von Pressequellen setzt nicht immer die Auswertung langer Texte voraus. Abschließend sei mit der Karikatur ein Materialtyp vorgestellt, der bisher noch nicht betrachtet wurde. Am 8. Oktober 1914 druckte die Zeitung Le Matin zwei angeblich authentische deutsche Postkarten mit Karikaturen ab.82 Aus dem Begleittext geht hervor, dass sie den tumben Charakter des deutschen Humors belegen sollten. Die erste Karikatur zeigt einen Infanteristen beim Schießen auf einen Russen, einen anderen beim Bajonettstoß gegen einen Franzosen und einen Marinesoldaten beim Treten nach einem Briten. Der in die Karikatur integrierte deutsche Begleittext lautet: »Jeder Schuss ein Russ! Jeder Stoß ein Franzos! Jeder Tritt ein Britt!« Der zitierte Slogan ist für deutsche Propagandapostkarten belegt, auch wenn sich das Bildmotiv in einer Stichprobe für diesen Beitrag noch nicht ermitteln ließ.83 Eine weitere Postkarte widmet sich dem Kampf gegen Großbritannien.84 Der einführende Text suggeriert, dass die Karten aus dem Juni 1914 stammen, also noch aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch. Durch diese Angabe soll belegt werden, dass die Deutschen schon vor der Krise feindselig gegenüber der Triple Entente gewesen seien und auf den Krieg hingearbeitet hätten. Die kommen78 Zu Österreich vgl. ebd., S. 42; zu Frankreich: Becker : Frankreich, S. 31f. und 39. 79 Vgl. Der Krieg, in: Arbeiter-Zeitung, 29. 07. 1914, S. 1. 80 Teilüberschrift in folgendem Artikel: Der Tag der deutschen Nation, in: Arbeiter-Zeitung, 05. 08. 1914, S. 1, zit. und kommentiert in: Hannig: »Wer uns kränkt«, S. 40. Alma Hannig macht die Neuorientierung der Sozialdemokraten am Ausbruch des Krieges mit Russland fest; vgl. ebd., S. 39f. 81 Vgl. etwa: Le 4 ao0t, in: L’Humanit8, 05. 08. 1914, zit. in: Raithel: »Wunder«, S. 374, Anm. 488; Geiss: »Das unsterbliche Frankreich«, S. 108 und Anm. 540; zur Herausbildung der ›Union sacr8e‹: Becker, Frankreich, S. 31f. 82 La guerre en cartes postales, in: Le Matin, 08. 10. 1914, S. 3. Zur politischen Ausrichtung des Matin (poincaristisch und prorussisch) vgl. Albert: La presse, S. 313. 83 Vgl. etwa das Beispiel einer Bildpostkarte von 1914, Universität Osnabrück, Historische Bildpostkarten, URL: http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?pos =-14188 (02. 09. 2014); Beispiel von 1918: http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/ displayimage.php?album=89& pos=10 (02. 09. 2014). 84 La guerre en cartes postales, in: Le Matin, 08. 10. 1914, S. 3.
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tierte Veröffentlichung deutscher Propagandapostkarten ist ein Glücksfall für multiperspektivisches Lernen: Die Zeitungsredaktion suggeriert, dass die gezeigten Karten die Selbstwahrnehmung des deutschen Gegners repräsentieren, der durch den kommentierten Abdruck der Selbstentlarvung als dumm und primitiv preisgegeben wird. Dies verdeutlicht den Schülern, dass auch die Zuschreibung von Perspektiven in hohem Maße perspektivisch sein kann. Im gegebenen Fall wird den Deutschen auf der Basis von Postkarten eine bestimmte Wahrnehmung ihrer Feinde unterstellt, die selbst ein antideutsches Feindbild nähren soll.
5.
Schlussbetrachtung
Abschließend seien die voranstehenden Beobachtungen noch einmal knapp zusammengefasst: Erstens: Historische Zeitungen bieten aufgrund der dem Medium Presse in besonderer Weise eigenen Perspektivität privilegierte Möglichkeiten für das multiperspektivische Lernen, dem eine konstitutive Bedeutung für den bilingualen Geschichtsunterricht zukommt. Zweitens: Aufgrund der Verfügbarkeit von zwei Quellensprachen ist es im bilingualen Geschichtsunterricht möglich, binationale, eventuell sogar multinationale Pressekorpora ohne Zwischenschaltung von Übersetzungen zusammenstellen und auswerten zu lassen. Hier liegt ein klarer Vorteil gegenüber dem monolingualen Unterricht. Drittens: Die sprachlich bedingte Möglichkeit der grenzüberschreitend vergleichenden Quellenanalyse wird im Zeitalter der Massendigitalisierung noch ergänzt um die Option einer forschungsähnlichen Recherche in sehr großen Quellenbeständen. Dies ist – ähnlich wie von Lange und Lux für schulische Archivprojekte betont – mit der motivierenden Chance verbunden, bislang wissenschaftlich ungenutztes Material zu finden und auszuwerten. Viertens: Tageszeitungen eignen sich für diese Art der Recherche besonders, weil sie aufgrund ihres per definitionem täglichen Erscheinens die Möglichkeit eröffnen, ausgehend von Schlüsseldaten gezielt, strukturiert und mit großer Erfolgsgarantie nach Pressereaktionen auf vorab im Unterricht behandelte Ereignisse wie etwa das Attentat von Sarajevo zu suchen.
Cajus Wypior
Kritische Archäologie des Gegenwartsbewusstseins – Zeitungen und Diskursanalyse im Geschichtsunterricht
Abb. 1: Titelseite der FAS vom 16. 03. 2014
1.
Der Fall: Ein Sowjetsoldat auf der Titelseite der FAS im Januar 2014
Mit diesem Bild sahen sich die Leser der FAS am Morgen des 16. März 2014 konfrontiert. Es illustrierte den Bericht zum Referendum in der Ukraine, das am Erscheinungstag der Zeitung stattfinden sollte. Der historisch informierte Leser erkennt sofort den Ursprung des Bildes. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Wahlplakat der CDU aus dem Jahr 1953.1 Kalter Krieg und Blockbildung eskalierten. Daran änderte auch der Tod Stalins nichts. Adenauer brachte deshalb die Bundesrepublik immer weiter auf Westkurs. Der Koreakrieg von 1950 1 Vollständig unter http://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_1953#mediaviewer/File: CDU_ Wahlkampfplakat_-_kaspl010.JPG.
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bis 1953 hatte die Deutschen traumatisiert. Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war nicht mehr nur theoretisch denkbar, sondern im Bereich des real Möglichen. Der Beitritt der Bundesrepublik zu westlichen Verteidigungsbündnissen wurde diskutiert und verhandelt. Adenauer versuchte im Bundestagswahlkampf 1953 aus den Ängsten der Deutschen politisches Kapital zu schlagen. Das Plakat belegt, wie die CDU diese Ängste schürte und instrumentalisierte. Es steht in einer langen ikonografischen Reihe antisowjetischer bzw. antikommunistischer Propaganda. Mit der Nutzung speziell dieses historischen Bildes stellt sich die FAS bewusst in die Tradition des auch visuell geführten Diskurses über »den bösen Osten«.2 Sie zitiert ihn dabei nicht nur, sondern belebt ihn, indem sie das Bild aus dem historischen Kontext löst und es mit der aktuellen Situation in Verbindung bringt. Am Beispiel dieser Bildnutzung soll gezeigt werden, dass und wie der Einsatz von Zeitungen im Geschichtsunterricht als Diskursanalyse betrieben werden kann und wie Schüler3 zu ihr befähigt werden können.
2.
Eine theoretische Justierung: Zeitungen und Zeit, Wahrheit und Wirklichkeit – der Diskurs
Vorab müssen einige Sachverhalte zum Charakter von Zeitungen, Zeit, Wahrheit und Wirklichkeit in Erinnerung gebracht werden, um die besonderen didaktischen Möglichkeiten des Mediums Zeitung auszuloten und die daraus resultierenden methodischen Entscheidungen transparent zu machen. Am 9. September 2009 fand sich in der Rubrik Korrekturen der Süddeutschen Zeitung folgende in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Richtigstellung: »Dass Mehmet II. im Jahr 1453 Konstantinopel ›von den Europäern‹ befreit hat, wie in ›Auf dem falschen Dampfer‹ (Seite 29 vom 7. September) beschrieben, ist falsch. Richtig ist, dass die Türken unter Mehmet die Stadt erobert haben.« Viele Fragen drängen sich auf: Wer hat die Korrektur veranlasst? Ein Türke war es wohl eher nicht. Aus welchem Grund geschah die Korrektur? Es sollte doch selbstverständlich sein, dass Wertungen zwangsläufig der Perspektive des Urteilenden unterliegen. Vor allem fragt man sich, mit welchem Recht die eine Wertung apodiktisch als »falsch«, die andere als »richtig« bezeichnet wird. Die kuriose Korrektur wirft ein Schlaglicht auf die elementarste Forderung an Zeitungen: Sie müssen wahr sein. Dieses Kriterium ist konstitutiv. Verwirkt eine 2 Hartmann Wunderer hat die ikonografische Tradition des Bildmotivs dargestellt: Feindbild Osten? Die Gefahr kommt aus dem Osten … – Zur langen Dauer geschichtspolitischer Vorstellungen, in: Geschichte für heute 2 (2014), S. 48–65. 3 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden auf die weibliche Form verzichtet.
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Zeitung ihre Vertrauenswürdigkeit, verliert sie ihre Existenzberechtigung. Auch deshalb werden die Fehlerteufel-Rubriken von den Redaktionen seriöser Zeitungen so intensiv gepflegt. Zeitungen müssen auch wahr sein, um ihren Zweck für die Leser zu erfüllen. Zeitungen (wie jede Form von Journalismus als ›Bericht vom Tage‹) sollen dem Leser die Gegenwart erklären. Denn erst die Kenntnis der Gegenwart ermöglicht es dem Leser, seine Zukunft zu antizipieren und sie planerisch zu beeinflussen. Zukunftsplanung liegt im existenziellen Interesse des Menschen, um zu überleben. Problematisch wird die Sache, wenn man sich klar macht, was Gegenwart ist. Sie ist nur ein »Kippmoment«4 zwischen noch nicht existenter Zukunft und nicht mehr existenter Vergangenheit: ausdehnungslos. Die Ausdehnungslosigkeit eines »Jetztpunktes«5 widerspricht aber unserem Alltagsverständnis und unserem Gegenwartsbewusstsein. Gegenwart wird von uns als ein Zeit-Raum erlebt. Wir meinen, erfahrbar in ihm zu leben: Sekunden, Minuten, Stunden, Tage usw. werden von uns gemessen und als Räume wahrgenommen. Gegenwart ist aber ein Akt menschlicher Bewusstseinsoperationen. Sie entsteht durch »rücklaufende Erinnerung« und »vorlaufende Erwartung«.6 Sie ist ein menschliches Konstrukt.7 Das, was wir für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart halten, ist eigentlich die durch Erinnerung konstituierte Auseinandersetzung mit Vergangenem, beeinflusst von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen. Gegenwart als Zeit-Raum ist eine Illusion. Zeitungen erzeugen und unterhalten diese Illusion von Gegenwart. Sie geben vor, von gegenwärtigem Geschehen zu berichten. Sie können aus den gerade genannten Gründen aber immer nur von Vergangenem berichten. In Wahrheit sind sie also die frühestmögliche Form von Geschichte. Diese Erkenntnis hat wesentlichen Einfluss auf die didaktischen und methodischen Entscheidungen für den Einsatz von Zeitungen im Unterricht.8 Geschichte wird häufig mit dem Vergangenen selbst verwechselt. Geschichte
4 Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 44. 5 Ebd., S. 32. 6 Ebd., S. 35. 7 Arno Anzenbacher: Einführung in die Philosophie, 7. Aufl., Freiburg 2010, S. 265: Ohne Menschen gibt es keine Zeit, »weil es Zeit nur dadurch gibt, dass der menschliche Geist Vergangenes erinnernd und Künftiges erwartend vergegenwärtigt. Ohne den Menschen gäbe es lediglich zeitloses Dauern und zeitlose Bewegungsabläufe.« 8 An dieser Stelle sei die prägnante Kurzdefinition von Waltraud Schreiber auf einer Tagung im Jahr 2009 zitiert: »Didaktik fragt: was, wann, warum? Methodik fragt nach dem Wie?« Wortbeitrag auf der Tagung »Die Herausforderungen der neuen Studienstruktur für die fachdidaktische Ausbildung im Fach Geschichte«, Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung Bad Wildbad, 06.–08. 07. 2009.
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ist aber die Erzählung von Vergangenem. Ihr Wesen ist die Narrativität.9 Da die Vergangenheit unwiederbringlich vorbei ist, erzeugt die Erzählung von Vergangenem im Akt des Erzählens überhaupt erst das, worüber sie berichten will. Unsere menschliche Vorstellung von Geschichte ist wie die Vorstellung von Gegenwart ein Konstrukt. Beide bedingen das Konstrukt Wirklichkeit.10 Zeitungen sind im Kern deshalb nichts anderes als Wirklichkeitsangebote oder genauer : Angebote von Wirklichkeitskonstrukten. Der Leser wird in der Zeitung zum ersten Mal mit dem jüngst Vergangenen konfrontiert. Es kann ihm von der Zeitung nicht anders als erzählend dargeboten werden. Auch in der Zeitung entsteht im Akt des Erzählens erst das, worüber die Zeitung objekthaft und damit vermeintlich objektiv zu berichten vorgibt. Um es zuzuspitzen: Zeitungen erzeugen Wirklichkeit.11
9 Der Begriff Narrativität, 1965 eingeführt von Arthur C. Danto in Analytical Philosophy of History, meint die sachlogische Struktur des historischen Wissens. »Die drei großen Verständnisbegriffe einer modernen, kulturwissenschaftlich informierten Geschichtsdidaktik: ›Sinn‹, ›Erinnerung‹ und ›Erzählung‹ vereinen sich im Begriff der Narrativität«; Michele Barricelli: Narrativität, in: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/ Ts. 2012, S. 255. Gegenstand des Geschichtsunterrichts können demzufolge nicht mehr die »historischen Stoffe«, verstanden als das Vergangene, sondern müssen die Sinnkonstrukte sein, die uns in Form der verschiedenen und vielgestaltigen Erzählungen entgegentreten: Wer bringt wem was wann wo wie und warum in Erinnerung? 10 Den Charakter und die fundamentale anthropologische Bedeutung von Konstrukten zu verstehen ist wichtig, um den didaktischen Fokus beim Einsatz von Zeitungen im Unterricht angemessen setzen zu können. Häufig werden Konstrukte von Schülern aufgrund des Wortes selbst (Konstrukt = konstruiert = erfunden, ausgedacht) als bloße Hirngespinste abgetan. Dieses uninformierte und altersbedingt naive Vorverständnis wird der Bedeutung von Konstrukten nicht gerecht. Sie sind für den Menschen lebens- und überlebenswichtig. Ohne Konstrukte gäbe es keine menschliche Welt. In diesem Sinn sind Konstrukte existenziell. Koschorke erklärt es so: »Menschen bewegen sich nicht in der Welt, wie sie ist, sondern in Zeichensystemen und Diskursen«; Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 2012, S. 10. Um es an Beispielen deutlich zu machen: Geld, Mathematik, Zahlen, Märkte, Bruttoinlandsprodukt, Konten, Aktien, Nationen, Gesetze, Recht, Gesellschaft, Geschichte, Sinn, Werte, Kultur, Abend- und Morgenland, Aufklärung, Kunst, Literatur, Ordnung, Herrschaft, Macht, Glück, Wahrheit, in Schwaben die Kehrwoche, Ironie, Humor und so vieles mehr existieren nicht als Objekte. Sie alle sind aber sehr wohl! Und um sie herum, insbesondere um das Achsenkonstrukt Geld, werden Menschenleben, Gesellschaften und die Welt organisiert oder sogar Kriege geführt. Schülern können diese erkenntnistheoretischen Einsichten sehr gut im Unterricht vermittelt werden. Vgl. Cajus Wypior: Geschichte – ein Fach ohne Gegenstand? Philosophieren mit Schülern im Geschichtsunterricht zu den Erkenntnisgrundlagen des Fachs, in: Heilbronner Hefte 4 (2014) (Themenheft Ethisch-philosophische Dimensionen im Unterricht), S. 36–46. 11 So auch Achim Landwehr : Historische Diskursanalyse, Frankfurt/New York 2009, S. 92, basierend auf Foucault: »Diskurse bringen Wirklichkeiten hervor.«
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3.
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Das didaktische Potenzial von Zeitungen im Unterricht
Und nun wird klar, worin das besondere didaktische Potenzial von Zeitungen im Geschichts- oder Politikunterricht liegt: Die Untersuchung von Zeitungen erlaubt es Schülern zu beobachten, zu untersuchen und zu verstehen, wie Wirklichkeitsbewusstsein als Sinnkonstrukt erzeugt wird. Schüler können erkennen, wie Wirklichkeitskonstrukte einer Gruppe von Menschen bis hin zu ganzen Gesellschaften Identität, Sinn und Gemeinschaft vermitteln. Liegen mehrere, auch sich widersprechende Aussagen (nicht nur in Zeitungen) vor, »die sich hinsichtlich eines bestimmten Themas systematisch organisieren und durch eine gleichförmige (nicht identische) Wiederholung auszeichnen«, dann formieren sie einen Diskurs.12 Landwehr betont, dass Diskurse »alles andere als unschuldig sind.«13 Wer die Diskurse bestimmt, bestimmt über die Wirklichkeitskonstrukte. Schüler können also bei der Analyse von Diskursen in Zeitungen auch untersuchen, wie Diskurse und Macht sich zueinander verhalten und wie Macht auf die Wirklichkeitsperzeption Einfluss nimmt. »Die historische Diskursanalyse untersucht mithin Wahrnehmungen von Wirklichkeit, den Wandel sozialer Realitätsauffassungen oder, um es allgemein zu formulieren: Historische Diskursanalyse erforscht die Sachverhalte, die zu einer bestimmten Zeit in ihrer zeichenhaften und gesellschaftlichen Vermittlung – und eine andere Art der Aneignung von Welt ist nicht denkbar – als gegeben anerkannt werden.«14 Das daran für den Unterricht Interessante ist natürlich nicht allein die historische Dimension des Diskurses, sondern es sind die am historischen Beispiel erkennbaren Entstehungsmechanismen sowie die Wirk- und Funktionsweisen solcher Wirklichkeitskonstrukte. Deshalb muss dringend davor gewarnt werden, Zeitungen im Unterricht zu historisieren, sie also nur als Quelle für die vergangene Zeit zu nutzen. Das wäre musealer, antiquarischer Geschichtsunterricht. Er würde nicht den dramatischen, konstruktiven Charakter von Zeitungen transparent machen. Es muss den Schülern klar werden, dass historische Zeitungen nicht die Wirklichkeit, wie sie war, beschrieben, sondern auch damals erst die Wirklichkeitskonstrukte erzeugten, die dann als Wirklichkeits- und Gegenwartsbewusstsein Wirkung entfalteten.15 Manche wirken 12 Landwehr, Diskursanalyse, S. 92f. Der Begriff Diskurs meint keine einzelne Debatte, Rede, Narration usw., sondern die Gesamtheit an Aussagen zu einem Thema in einer Gesellschaft. 13 Ebd., S. 92. Er betont deshalb unter Verweis auf Foucault auch, dass Diskurse kein Objekt, sondern eine Praktik sind. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1997, S. 74. 14 Landwehr, Diskursanalyse, S. 96. 15 Zum Beispiel bietet die »Pressechronik 1933« des Deutschen Pressemuseums im Ullsteinhaus, Berlin, im Internet hervorragend aufbereitetes Zeitungsmaterial ab dem Jahr 1933. An Pressebeiträgen der zunehmend nationalsozialistisch kontrollierten Presse kann gut analysiert werden, wie damals Wirklichkeitskonstrukte erzeugt wurden. http://pressechronik
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bis heute nach, wie sich auch am Beispiel der FAS zeigen lässt. Es muss an den Diskursen die schöpferische oder auch zerstörerische Kraft von Wirklichkeitskonstrukten und deren Bedeutung für die Menschen thematisiert werden. Bezogen auf Zeitungen als Medium geht es darum, die persuasive Kraft des Journalismus erkennbar zu machen und den Schülern eine kritische Distanz zu diesem zu ermöglichen. Geschichtsunterricht kann dabei eine enorme Brisanz entwickeln, wenn bei der Analyse von Diskursen die Wurzeln aktueller Diskurse oder die Motive der Diskursteilnehmer offengelegt werden. Hartmann Wunderer hat es schon vor Jahren auf den Punkt gebracht: Man sollte »Geschichte als ›kritische Archäologie‹ der Gegenwart« und (sinngemäß ergänzt) des Gegenwartsbewusstseins betreiben.16 Genau das sollte der didaktische Fokus bei der Beschäftigung mit Zeitungen im Geschichtsunterricht sein. Die an der exemplarischen Diskursanalyse erworbenen Kompetenzen sollten von den Schülern auch auf neuere Medien übertragen werden können, die ebenfalls Wirklichkeit generieren: Fernsehen, Internet, Kurznachrichtendienste, soziale Netzwerke usw. Darin erweist sich der lebensweltliche Bezug einer diskursanalytischen Befassung mit Zeitungen. Das ist ihr didaktisches Potenzial. Wenn am Ende im Unterricht die Schüler fragen sollten, was denn dann noch wahr und wirklich ist und ob sie selbst, konsequent zu Ende gedacht, mit einer Diskursanalyse nicht letzten Endes ebenfalls Diskursteilnehmer und Teil der Wirklichkeitserzeugung werden, weil sie den Diskurs aufgreifen und zu ihm Stellung beziehen, wäre viel erreicht.
4.
Methodische Konsequenzen: Die Diskursanalyse im Unterricht
Die historische Diskursanalyse geht davon aus, dass es keine Möglichkeit gibt, »hinter die Diskurse zu gelangen. Wirklichkeit ist nie an sich erfahrbar, sondern immer nur für uns.«17 Aber Diskurse sind »historisch entzifferbar«.18 Landwehr schlägt Untersu-
1933.dpmu.de/ (05. 03. 2016). Siehe auch den Beitrag von Holger Wettingfeld in diesem Band, S. 179ff. 16 Hartmann Wunderer : Nichts veraltet heute schneller als das Wissen. Probleme und Profile des Geschichtsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe, in: Geschichte lernen 68 (1999), S. 13. Die Anspielung auf Foucaults Archäologie des Wissens ist unübersehbar. 17 Landwehr, Diskursanalyse, S. 91; kursiv im Original. 18 Ebd., S. 91. Die nun folgende Adaption der Diskursanalyse an schulische Gegebenheiten folgt den von Landwehr beschriebenen methodischen Schritten.
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chungsschritte vor, die auch als Anhaltspunkte für den Unterricht dienen können.
4.1
Themenfindung
Für die unterrichtliche Diskursanalyse muss vom Lehrer ein für die Bildung der Schüler relevanter Diskurs gefunden werden. Oft bieten Zeitungen Anlass dazu. Sie stoßen Diskurse an oder setzen bestehende Diskurse fort. Häufig haben diese Diskurse tief reichende historische Wurzeln oder sie bedienen sich mit ihren Aussagen argumentativ bei der Geschichte. Sehr beliebt ist zum Beispiel der historische Vergleich. Landwehr warnt davor, sich bei der Suche nach Themen zur Diskursanalyse auf bestimmte Institutionen, Personengruppen oder Medien zu beschränken.19 So müsste auch die Untersuchung von Diskursen in der Schule auf mehr Informationsquellen und Aussagen als nur auf Zeitungen zurückgreifen. Allerdings muss aus Gründen der didaktischen Reduktion bedacht werden, was schulisch leistbar ist. Exemplarität ist nicht nur ein didaktisches Gebot, sondern eine strukturell bedingte Notwendigkeit. Eine umfassende (akademische) Diskursanalyse kann es in der Schule nicht geben. Sehr wohl aber können Anliegen, Struktur und Methode der Diskursanalyse exemplarisch erfasst werden und so zur Kompetenzbildung beitragen.
4.2
Korpusbildung
Korpora sind Sammlungen »textlicher, audiovisueller, materieller und praktischer Hervorbringungen« zum Diskurs.20 Auch die universitäre Forschung stellt aus dem »imaginären« umfassenden Korpus ein »konkretes Korpus« zusammen, reduziert also.21 Die Gesamtheit an Äußerungen zu einem Diskurs kann nicht abgebildet werden. In der Schule muss vom Lehrer ebenfalls ausgewählt werden, um ein exemplarisches Korpus zu erhalten, mit dessen Hilfe die oben beschriebenen didaktischen Perspektiven realisiert werden können.
19 Ebd., S. 101. 20 Ebd., S. 102. 21 Ebd., S. 102f.
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4.3
Kontextanalyse
Die zu analysierenden Diskursäußerungen werden situativ, medial, institutionell und historisch kontextualisiert.22 Hier können die Schüler mit den ihnen bekannten quellen- und materialkritischen Untersuchungsmethoden arbeiten.
4.4
Analyse der Aussagen
Es geht darum, »regelmäßig auftauchende und funktionstragende Bestandteile, die einen Diskurs formen«, zu finden und zu verstehen.23 Diese »Aussagen«24 (Foucault) beziehen sich nicht allein auf sprachliche Aussagen. Sie können sich auch in Bildern, Zeichen, Symbolen, Gegenständen (zum Beispiel getrennte Waschbecken für Weiße und Schwarze) oder Praktiken (zum Beispiel das Lynchen von Schwarzen) finden. Aussagen haben also »keine festgefügte äußere Form«.25
4.5
Analyse von Texten bzw. Material
Die Analyse der Aussagen geht einher mit der Analyse des die Aussage transportierenden Materials. Dabei geht es oft um die Untersuchung von Texten. Sie ist Schülern bekannt. Ob und wie intensiv Makrostruktur und Mikrostruktur auf der Text-, Satz- und Wortebene, Topik, Stilistik und Rhetorik untersucht werden sollen und können, muss vom Lehrer lerngruppen- und situationsadäquat entschieden werden.26 Andere Aussagen transportierende Medien und Überreste müssen analog mit der jeweils materialspezifischen Herangehensweise analysiert werden.
4.6
Diskursanalyse
Nun erst beginnt die eigentliche Diskursanalyse. Es werden anhand der Aussagen, die aus verschiedenen Materialien gesammelt wurden, Diskurse identifiziert und beschrieben. Der Lehrer sollte Material zu schon existierenden Diskursen anbieten, um nicht erst einen Diskurs von den Schülern konstruieren 22 23 24 25 26
Ebd., S. 107. Ebd., S. 110. Ebd., S. 110. Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 112–126.
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lassen zu müssen. Schüler können aber gut Titelvorschläge für den durch die exemplarischen Materialien angebotenen Diskurs machen und sie erörtern. Aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse können »Linien durch das gesamte [in der Schule: exemplarische; C. W.] Korpus gezogen werden. […] Ziel ist es, den Wahrnehmungskategorien, Bedeutungskategorien und Identitätsstiftungen in ihrer historischen Veränderung auf den Grund zu gehen.«27 An dieser Stelle kann das oben beschriebene Ziel erreicht werden, zu begreifen, wie sozial etablierte, gewünschte oder auch tabuisierte Wirklichkeit entsteht und welchen Bedingungen sie dabei unterworfen ist. Es geht hier um die Dekonstruktion der Diskurszusammenhänge. Die hermeneutische Quellenanalyse ist dabei unverzichtbar. Häufig wird in der Schule aber als ihr Ergebnis die Rekonstruktion der Vergangenheit angestrebt und damit deren prinzipielle Rekonstruierbarkeit suggeriert. Dass es sich um Vergangenheitskonstrukte und nicht um Rekonstruktionen in einem objekthaften Sinn handelt, wird in der Regel nicht thematisiert. Die hermeneutische Quellenanalyse klärt natürlich auch die Perspektivgebundenheit von Urteilen und Wertungen. Bei divergierenden Urteilen ist dann Multiperspektivität Mittel und Ziel. Die Diskursanalyse weitet nun den Horizont, indem sie die einzelnen Aussagen in den größeren Kontext vieler Aussagen zum gleichen Thema einordnet, nach deren Entstehungskontexten, ihrer Interdependenz und Bedingtheit fragt. Damit macht sie den Diskurs dekonstruierbar. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass »Dekonstruktion heißt, Strukturen zu verstehen und nicht Destruktion«28 zu betreiben. »Ergebnis einer Diskursanalyse sollte es also sein, die Erkenntnisgrundlagen einer Zeit und einer Kultur zu beleuchten.«29 Dekonstruktion als diskursanalytische Operation befasst sich mit Sinnkonstrukten. Auch wenn man dem Konstruktivismus nicht in allen Konsequenzen zustimmen mag, so sensibilisiert er doch für drei sich gegenseitig bedingende, konstitutive Merkmale von Geschichte: ihre unausweichliche Gegenwartsverhaftung, ihre Narrativität und ihre diskursive Prozesshaftigkeit. Das alles kann Schülern in einer exemplarischen Diskursanalyse erkennbar gemacht werden. Sicher wird dabei im Unterricht die Frage nach der historischen Wahrheit gestellt werden. Schüler können am Ende einer Diskursanalyse erkennen, dass Wahrheit immer eine relative ist. Das schmälert nicht ihren Wert. Absolute Wahrheit gibt es nur in der formalen Logik (A = A, A ¼ 6 B). Historische Wahrheit kann gar nicht anders als relativ sein. Es ist die Diskursanalyse, die systematisch die Bedingungen und Relationen von Wahrheit thematisiert. Es ist dabei nicht so, dass es dann keine Wahrheit mehr gäbe, wie häufig behauptet 27 Landwehr, Diskursanalyse, S. 128. 28 Waltraud Schreiber in einem Wortbeitrag, Tagung in Bad Wildbad (wie Anm. 8). 29 Landwehr, Diskursanalyse, S. 128.
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wird. Sie wird aber nun auf ihren Geltungsgrund hin hinterfragt und transparent gemacht. Von Kritikern des Konstruktivismus wird auch immer wieder falsch argumentiert, dass sich die Fakten auflösten und jeder nun annehmen könne, was er wolle.30 Auch dem ist nicht so. Die Gesetze der Logik und das Postulat der Wissenschaftlichkeit gelten weiterhin. Auschwitz lässt sich auf der Basis des Konstruktivismus und im Rahmen einer dekonstruierenden Diskursanalyse gerade nicht leugnen. Natürlich hat es Auschwitz gegeben! Aber die eigentlich bedeutsame Frage lautet: WAS war und gerade auch ist (im aktuellen Geschichtsbewusstsein) Auschwitz? Mit dieser Frage beginnt der Diskurs, und es gibt wohl viele Wahrheiten, verstanden als Sinnkonstrukte, dazu – manche plausibel, manche nicht, wie z. B. die Auschwitzleugnung. Alle aber sind bedingt durch und eingebettet in Diskurse. Die Diskursanalyse bewahrt gerade vor relativistischen Urteilen als Ergebnis missverstandener Multiperspektivität im Unterricht. »Kann man halt so sehen oder auch anders. Ist also egal!« sagen dann Schüler. Stattdessen ermöglicht die Diskursanalyse Urteile, deren Relativität transparent wird. Diese können dann nicht mehr gleichgültig im Sinne von in gleichem Maße gültig sein.
5.
Unterrichtliche Konkretion: Der Diskurs
5.1
Themenfindung
Das eingangs erwähnte Titelbild der FAS liefert eine Steilvorlage, um ausgehend vom Bildmotiv im Unterricht eine Analyse des mit ihm verbundenen antikommunistischen bzw. antisowjetischen gesellschaftlichen Diskurses zu starten. Im problemorientierten Unterricht werden von den Schülern an dieser Stelle Untersuchungsfragen als erkenntnisleitendes Interesse formuliert. Hypothesen und die Vorstrukturierung des Lösungswegs sollten auch von den Schülern angedacht werden, um sie nicht nur an der Problemfindung, sondern auch an dessen Lösung im Interesse der Kompetenzentwicklung (Problemlösekompetenz) zu beteiligen.
30 Zuletzt Helmut Meyer: Geschichtsunterricht. Eine praxisnahe Einführung, Zürich 2015, S. 101. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, das Problem der Fakten hier auszubreiten. Historische Fakten entstehen erst im Moment ihrer Erzählung. Sie sind dennoch nicht erfunden, willkürlich oder beliebig, sondern Ausdruck eines (mal mehr mal weniger) komplexen Sinnkonstrukts. Sie können selbstverständlich wahr oder falsch sein.
Kritische Archäologie des Gegenwartsbewusstseins
5.2
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Korpusbildung
Da Diskurse wie eingangs erläutert auch in Bildern geführt werden, bietet sich eine exemplarische Korpusbildung aus Bildern an. Hartmann Wunderer hat den historisch tief verwurzelten Diskurs über den ›Feind aus dem Osten‹ nachgezeichnet und mit Bildquellen ausgestattet.31 Hier seien als historische Beispiele das Plakat der »Freiwilligen Wirtschaftshilfe für den Ost- und Heimatschutz e.V.« von 1919 (Abb. 2) und ein Wahlplakat der CDU von 1949 gezeigt (Abb. 3). Weitere Bilder finden sich in Unsere Russen – unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000.32 Russlandkritische Titelseiten der letzten Jahre können das Korpus um aktuelle Beispiele ergänzen. Genannt seien aus dem Jahr 2014 der Spiegel (»Der Brandstifter«, 11/2014), der Stern (»Russland verstehen. Warum Putin mit einem brutalen Feldzug ein neues Imperium erschaffen will.«), wo Putin in eine Reihe mit Katharina der Großen und Stalin gestellt wird (37/2014), oder die Bildzeitung vom 1. September 2014, auf der Putin eine Weltkugel in der Hand hält und sich daneben die Überschrift »Putin greift nach Europa!« befindet (Abb. 4). Schüler können aktiv an der Korpusbildung beteiligt werden, indem sie eine Bilderrecherche im Internet zu »Wahlplakat CDU 1953« und »Cover Putin« betreiben sowie tagesaktuelle Titelblätter an Kiosken sichten. Untersuchungsfragen, Hypothesen und projektierter Lösungsweg werden danach überprüft und justiert.33
5.3
Kontextanalyse
Die Kontexte der einzelnen Abbildungen müssen von den Schülern geklärt werden. Dazu gehört neben Zeichnern, Grafikern, Herausgebern, Ort, Zeitpunkt und Adressaten der Bilder die Klärung des historischen Kontextes. Hier ist klassisches historisches Arbeiten erforderlich, um die Bilder angemessen kontextualisieren zu können. Der Artikel von Wunderer und der Katalog Unsere Russen – unsere Deutschen helfen dabei weiter.34 Der zeitliche Rahmen der Bildmotive sollte sich 31 Wunderer, Feindbild. 32 Deutsch-russisches Museum Berlin-Karlshorst e. V. (Hrsg.): Unsere Russen – unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000. Ausstellungskatalog, Berlin 2007. 33 Der Lehrer kann je nach zeitlich möglichem Aufwand erwägen, ob er historische oder aktuelle Texte hinzunimmt, um die Bildaussagen um textbasierte Aussagen zu ergänzen, die Diskursanalyse also facettenreicher zu machen. Die Literaturangaben bei Wunderer (Feindbild) helfen weiter. Ebenfalls Wolfgang Wippermann: Heilige Hetzjagd: Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, Berlin 2012 und ders.: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland, Darmstadt 2007. 34 Deutsch-russisches Museum Berlin-Karlshorst e. V. (Hrsg.), Unsere Russen – unsere Deutschen.
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auf jeden Fall von den späten 1920er-Jahren bis in die Gegenwart erstrecken, kann aber problemlos bis ins 19. Jahrhundert erweitert werden.
5.4/5.5 Analyse der Aussagen und Analyse der Bilder Nun sollten die Schüler die dem Bildtypus inhärenten wiederkehrenden ikonografischen Elemente und Aussagen identifizieren. In einem zweiten Schritt müssen ikonografische Unterschiede, Veränderungen und Abweichungen bestimmt und die jeweils neuen Aussagen erkannt werden. Es sollte sich zeigen, dass die Bilder stets das gleiche Motiv zeigen, einen einzelnen, verschlagen wirkenden, mal lauernden, mal unmittelbar aggressiven Sowjetsoldaten, oft mit asiatisch anmutender Physiognomie. Er bemächtigt sich auf manchen Bildern fremden Eigentums, zerstört es oder scheint auf ganz Europa zugreifen zu wollen. Die Bedrohlichkeit der Bildkomposition, das unmittelbar Angst Einflößende, das Rassistische und das Denunziatorische gehören zum besonderen Charakter dieses Motivtyps.
5.6
Diskursanalyse
Im letzten entscheidenden Schritt werden die Einzelaussagen als Diskurs erkannt. Es sollte sich zeigen, dass das Titelbild der FAS in einer langen Tradition misstrauischer, rassistischer und dann aggressiver antirussischer bzw. antikommunistischer Sichtweisen steht. ›Der‹ Osten wurde in Europa seit der Antike35 auch visuell als gefährlich, unberechenbar und bedrohlich kommuniziert. Entsprechende Gräuelbilder von Türken aus dem 17. Jahrhundert könnten herangezogen werden, ebenfalls die Erfindung der ›gelben Gefahr‹.36 Der marodierende, asiatische Russe37 wurde zur personalisierten mentalen Realität in den Köpfen vieler. Die aggressive Bildpropaganda des Nationalsozialismus bediente sich der bildlichen Vorläufer und radikalisierte und dämonisierte das Motiv. Die ›bolschewistische Horde‹, der slawische oder asiatische ›Untermensch‹ wurden zur stehenden Wendung und unterfütterten die publizistische Legitimation und Rechtfertigung des Krieges im Osten. Das Bildmotiv erlebte mit der Blockbildung eine Reaktivierung. Es nutzte nicht nur Ressentiments aus der NS-Zeit, sondern konnte an das Wirklichkeitskonstrukt ›Gefahr aus dem Osten‹ anknüpfen. Schüler sollten Motive, Funktionen und Profiteure dieses antirussischen oder antisowjetischen 35 Wunderer, Feindbild, S. 49f. 36 Hartmann Wunderer : Wie die Chinesen gelb wurden. Die Erfindung einer neuen Gefahr. I, in: Geschichte lernen 93 (2003), S. 49–53. 37 Bis heute lässt sich die Wendung von »dem« Russen finden, wenn über Russland, die russische Regierung oder russische Politik gesprochen wird. Sie ist Teil dieses Diskurses.
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Diskurses reflektieren. Sie sollten erkennen, dass bis Ende der 1980er-Jahre der Kommunismus und die Sowjetunion von weiten Teilen der Gesellschaft als tödliche Bedrohung erlebt wurden (Ronald Reagan: »Reich des Bösen«). Es muss neben den historischen Umständen auf jeden Fall die Rolle des Diskurses für dieses Wirklichkeitskonstrukt reflektiert werden, um dann auch nach der Wahrheit zu fragen. Die Schüler sollten verschiedene Namen für den Diskurs erwägen: Ost-West-Diskurs, ostpolitischer Angstdiskurs, russlandpolitischer Diskurs, antibolschewistischer, antikommunistischer, antisowjetischer oder antirussischer Diskurs, Selbstverteidigungsdiskurs? Die Erörterung eines angemessenen Namens lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass alle Bilder über viele Jahrzehnte Teil des gleichen Diskurses sind, der aus seiner langen Diskurstradition heraus bis heute wirkt. Vor diesem Hintergrund kann die erneute Publikation des CDUPlakats in der FAS zur Kommentierung des Geschehens in der Ukraine kritisch reflektiert werden. Die Schüler können nun Stellung nehmen, ob das Bild, das aus einem ganz anderen historischen Kontext stammt, überhaupt als aktuelles Wirklichkeitsangebot (und genau das ist es) passend ist. Kann, soll, darf oder muss sogar das aktuelle Geschehen anders als aus der Diskurstradition heraus wahrgenommen werden? Haben alternative Wirklichkeitskonstrukte eine Chance gegen das festsitzende Wirklichkeitskonstrukt vom hinterhältigen, marodierenden Russen? Schließlich stellt sich die Frage, warum eine Zeitung so tief in die ikonografische Mottenkiste greift, um ihren Lesern ein angestaubtes Wirklichkeitskonstrukt als aktuelle Wirklichkeit anzubieten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bildzeitung vom 1. 9. 2014 (Abb. 4). Schüler können die durch die bisherige Diskursanalyse erworbenen Erkenntnisse und entwickelten Kompetenzen nutzen, um zu erkennen, dass die Bildzeitung ebenfalls den historischen Diskurs »Gefahr aus dem Osten« bedient. Die Zeitung bietet aber eine aktualisierte Variante an. Sie gibt dem aus dem Diskurs bekannten archetypischen, Europa bedrohenden Russen bzw. dem anonymen asiatischen Hordenmitglied ein Gesicht: das sehr freundliche und gerade nicht abstoßende Gesicht Putins. In der Schlagzeile wird diskurstypisch der Griff nach Europa behauptet. Bildlich wird die Bedrohung aber nun globalisiert, denn Putin hält eine Weltkugel in der Hand. Das Perfide an dieser Titelseite besteht darin, dass der alte Diskurs zum Klingen gebracht wird, aber auf die bekannte plumpe propagandistische Visualisierung verzichtet wird. Der Diskurs erhält neues Leben. Das freundliche Lächeln Putins, der im Pullover sehr zivil daherkommt, muss vom Leser angesichts der ungeheuerlichen textlichen und ikonografischen Behauptung vom Griff nach Europa und der Welt zwangsläufig als falsch und somit verschlagen interpretiert werden. Das erhöht im Grunde das Gefühl der Bedrohung durch die behauptete Gefahr. Denn der marodierende Asiat war auf den alten Bildern aufgrund seiner verbrecherischen Physiognomie sofort zu erkennen. Bei Putin, der neuen Gefahr aus dem Osten,
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muss man nun ganz besonders aufpassen, denn seine Bedrohlichkeit ist nicht offensichtlich. Das ist das suggestive Potenzial dieser Titelseite. Dass Titelseiten wie diese auch ohne Kenntnis des historischen Diskurses funktionieren, zeigt, dass der Diskurs für eine neue Generation fortgeschrieben wird. Der Diskurstradition wird ein neues Element hinzugefügt, das zwar in dieser Tradition steht, aber auch ohne sie funktioniert. Man könnte sagen, dass die Bildzeitung den Diskurs modernisiert und ihn weiterentwickelt, indem sie ihm eine neue ikonografische Facette hinzufügt: Gefahr aus dem Osten nicht mehr nur durch asiatische Horden oder eine gefährliche Ideologie, sondern nun durch einen sich freundlich gebenden, aber im Grunde verschlagenen Autokraten. Hier geht die Bildzeitung eindeutig weiter als die FAS. Die FAS greift die historische Ikonografie auf, die Bildzeitung modernisiert sie. Beide verfolgen damit Absichten. All das kann in der Schule analysiert werden. Schüler können an diesen Beispielen erkennen, dass diejenigen, die die Diskurse bestimmen, über die Wirklichkeitskonstrukte bestimmen und damit das Gegenwartsbewusstsein Vieler gestalten oder sogar erzeugen. Es geht um die Frage, wer wem wann wo wie und warum welches Wirklichkeitskonstrukt als ›die Gegenwart‹ anbietet. Geschichtsunterricht wird brisant. Ein (fiktiver) Leserbrief an die Redaktionen könnte ein schöner Abschluss des Projekts »Zeitungen und Diskursanalyse im Geschichtsunterricht« sein.
Abb. 2: »Die Heimat ist in Gefahr«. Grafiker Victor Arnaud (1890–1958), Freiwillige Wirtschaftshilfe für den Ost- und Heimatschutz e. V., Verlind 1919, 95 x 69 cm (Deutsches Historisches Museum, Inv.-Nr.: P 57/338)
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Abb. 3: Darum CDU. Wahlplakat 1949, Konrad-Adenauer-Stiftung / ACDP, Plakatsammlung, 10–001:12, Grafiker ohne Angaben, 84 x 59 cm
Abb. 4: Putin greift nach Europa. BILD, 01. 09. 2014
Ruth Fiona Pollmann
Hands-on, minds-on: Theoretische Grundlagen zur handlungsorientierten Arbeit mit Zeitungen im Geschichtsunterricht
Eine Zeitung ist ein Gebrauchsgegenstand, dessen Handhabung gelernt sein will. Bis heute eilt diesem Medium landläufig der Ruf einer objektiven Berichterstattung voraus. Wahrnehmung für bewusst gewählte Mediengestaltung oder rhetorische Aufbereitung von Informationen muss bei Heranwachsenden erst noch geschult werden. Das Bestehen der Zeitung als Massenmedium reicht – in sich wandelnder Form – bis in die Frühe Neuzeit zurück, begleitet den Geschichtsunterricht also im chronologischen Durchgang über mehrere Schuljahre. Eine intensive, mediendidaktische Auseinandersetzung mit Zeitungen im Geschichtsunterricht ist daher angezeigt. Um Schülerinnen und Schüler zu einer reflektierten Mediennutzung zu befähigen, bietet ein handlungsorientierter Unterricht die besten Lernbedingungen. Der vorliegende Beitrag ist ein Plädoyer für das handlungsorientierte und reflektierte Lernen im Geschichtsunterricht. Er vertritt die These, dass die Schüleraktivität im Unterricht nicht mit der Aktion enden darf, sondern eine Reflexionsphase nach sich ziehen muss, frei nach dem Motto Hands-on, mindson.1 Dies betrifft die Handlungsfähigkeit von Lernenden im Umgang mit Medien 1 Hands-on ist ein feststehender Begriff aus dem Englischen, der mit Praxiserfahrung in Verbindung steht, in der tatsächlich etwas angepackt und begriffen wird. Definitionen: »Gained by actually doing something rather than learning about it from books, lectures, etc.; involving or allowing the use of your hands or touching with your hands; actively and personally involved in something (such as running a business)« (www.merriam-webster.com/dictiona ry/hands-on, 12. 08. 2015). Minds-on soll hier zusätzlich auf das Lernziel des Geschichtsunterrichts hinweisen, also den gemeinsamen Erkenntnisgewinn, der durch die kooperative Tätigkeit des hands-on erreicht wird. Nach Kenntnis der Autorin wird dieser pädagogische Ansatz bislang nur in der Didaktik der naturwissenschaftlichen und technischen Fächer gefordert (vgl. z. B. North Central Regional Educational Laboratory : Critical Issues: Provinding Hands-on, Minds-On, and Authentic Learning Experiences in Science, 1995, www.ncrel. org/sdrs/areas/issues/content/cntareas/science/sc500.htm, 12. 08. 2015). Auch in der Museumspädagogik ist hands-on-Erfahrung mittlerweile mit minds-on vorgesehen (vgl. Veronika Koren: Hands On – Minds On! Ein Beitrag zur Wissensvermittlung in Kindermuseen, Saarbrücken 2010, insb. S. 84–89, auch unter unipub.uni-graz.at/obvugrhs/download/pdf/2076 04?originalFilename=true, 12. 08. 2015).
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im Allgemeinen, wobei hier ein gesonderter Fokus auf die Erarbeitung von Zeitungen gesetzt wird. Im Folgenden wird zunächst der Handlungsbegriff für den Geschichtsunterricht spezifiziert. Es wird darauf eingegangen, warum Handlungsorientierung entwicklungs- und kognitionspsychologisch sinnvoll ist und welche unterrichtlichen Charakteristika aus der Psychologie abgeleitet werden können. Anschließend wird nachvollzogen, an welches Vorwissen aus dem Deutschunterricht zum Thema Zeitung angeknüpft werden kann (Beispiel gymnasiale Sekundarstufe I, Nordrhein-Westfalen) und welche Formen der handlungsorientierten Arbeit sich für den Geschichtsunterricht anbieten. An dieser Stelle wird u. a. auf Beiträge des Tagungsbandes Bezug genommen.
1.
Begriffserklärung: Handeln im Geschichtsunterricht
Der Überbegriff Handlungsorientierter Unterricht umfasst als Synthese aktueller schülerzentrierter Unterrichtstrends verschiedene schüleraktive Lehr-LernFormen. Dabei darf allerdings nicht auf eine Schüleraktivität verkürzt werden.2 Seine Traditionslinien reichen innerhalb der Bildungs- und Sozialisationstheorie bis in das 18. Jahrhundert zurück, während Erkenntnisse der Entwicklungs-, Lern- und Kognitionspsychologie das theoretische Fundament für den Lernmehrwert legen.3 Der handlungsorientierte Unterricht entstammt ursprünglich der Allgemeinen Didaktik. Bestimmte geläufige Auslegungen der Handlungsorientierung lassen sich nach einer fachlichen Konkretisierung für den Geschichtsunterricht ausschließen, da der Schwerpunkt im Geschichtsunterricht nicht in der Herstellung von konkreten Produkten, sondern im innerlichen Erkenntnisgewinn liegt (Unterscheidung instrumentelles und kommunikatives Handeln nach Habermas).4 Was ist es eigentlich, das als Handeln verstanden werden sollte? Be2 Vgl. Elke Mahler : Handlungsorientierter Geschichtsunterricht. Theorie – Praxis – Empirie, Idenstein 2006, S. 13, 111; Marko Demantowsky : Unterrichtsmethodische Strukturierungskonzepte, in: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 42012, S. 63–76, hier S. 71. 3 Eine ausführliche Beschreibung der Traditionslinien findet sich in der Dissertation von Elke Mahler, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 21–100. Weiterhin sehr hilfreich in der Ergründung der theoretischen Wurzeln der Handlungsorientierung ist die nun schon etwas ältere Publikation Gerhard Söltenfuß: Grundlagen handlungsorientierten Lernens. Dargestellt an einer didaktischen Konzeption des Lernens im Simulationsbüro, Bad Heilbrunn 1983, die sich mit den vielzitierten psychologischen Ansätzen über das handlungsorientierte Lernen auseinandersetzt. 4 Ludwig Duncker und Gerhard Wöll setzen die Kategorien Habermas’ mit dem handlungsorientierten Unterricht in Beziehung; vgl. Ludwig Duncker : »Handgreiflich« – »Ganzheitlich«
Hands-on, minds-on
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reits in der Allgemeinen Didaktik herrscht keine Einigkeit darüber, wie Handeln bzw. Handlung zu definieren ist, geschweige denn, welche Merkmale ein Unterricht besitzen muss, um als handlungsorientiert bezeichnet werden zu können.5 Folgende Definition wird dem Bildungsauftrag des Geschichtsunterrichts besonders gerecht: Handeln bezeichnet eine »zielgerichtete (intentionale) Tätigkeit, in der eine Person versucht, mittels Veränderung von Selbst- und/oder Weltaspekten einen für sie befriedigenden (bedeutsamen, wertvollen) Zustand zu erreichen oder aufrechtzuerhalten«.6 In der Unterrichtssituation werden dann »Aktivitäten, die einen neuen Horizont eröffnen und die Korrektur bzw. Erweiterung der jeweiligen Handlungsbereitschaft und -kompetenz der Lernenden ermöglichen«, zur Grundlage gemacht.7
2.
Psychologischer Nutzen des Handelns im Lernprozess
Schülerinnen und Schülern wird die Erwartung entgegengebracht, dass sie ihr Schulwissen in ihrem Alltag anwenden können. Bei der »Anwendung des Gelernten in neuen Zusammenhängen« wird in der Psychologie von Transfer gesprochen.8 Ob Transfers möglich sind, hängt von der Art ab, in der die Aneignung geschieht. Es ist günstig bei der Erarbeitung des Mediums Zeitung, das Vorwissen aus dem Deutschunterricht anzuregen, weil so neue Informationen kognitiv anschlussfähig gemacht werden können. In der Theorie der Handlungsorientierung wird davon ausgegangen, dass der Mensch über Hand-
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– »Praktisch«? Grundfragen handelnden Lernens in der Schule, in: Neue Sammlung 1 (1989), S. 59–75, hier S. 66f.; Gerhard Wöll: Handeln: Lernen durch Erfahrung, Baltmannsweiler 1998, Kap. 3.3, S. 78–126. Instrumentelles Handeln basiert auf stark gelenkten Handlungsvorgaben und wird dann vollzogen, wenn naturgesetzliche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bestehen, also etwas gemäß dieser Reaktionsreihenfolge untersucht, produziert oder verändert wird; vgl. Wöll, Handeln, S. 82f., 95; Duncker, Grundfragen, S. 66; Mahler, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 68. Im kommunikativen Handeln hingegen verfolgen, wie Wöll es auffasst, »alle Beteiligten ausschließlich illokutionäre Ziele […], um ein vorbehaltlos kommunikativ erzieltes Einverständnis zu erzielen«, Wöll, Handeln, S. 77; vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1981, S. 142. Verschiedene Meinungen oder bloße Konstruktionen werden vorgetragen und ausgehandelt; vgl. Duncker, Grundfragen, S. 66; Wöll, Handeln, S. 104; Mahler, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 68. Vgl. Wöll, Handeln, S. 133f. Georg Dietrich: Pädagogische Psychologie, Bad Heilbrunn 1984, S. 58f., zitiert nach Herbert Gudjons: Handlungsorientiert lehren und lernen. Schüleraktivierung. Selbstätigkeit. Projektarbeit, Bad Heilbrunn 72008, S. 47. Es handelt sich um den ersten Teil eines dreigliedrigen Definitionsansatzes. Wöll, Handeln, S. 55. Karl-Josef Klauer/Detlev Leutner : Lehren und Lernen. Einführung in die Instruktionspsychologie, Weinheim/Basel 22012, S. 88.
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lungsschemata verfügt, über die ein Transfer geleistet werden kann.9 Schon Jean Piaget war überzeugt, dass bei neuen Handlungen, deren Durchführung den Lernenden vor ein (meist unterbewusstes) Problem stellt, im Gehirn überprüft wird, ob bereits eine mentale Struktur besteht, an die der neue Inhalt angeschlossen werden kann (Assimilation), oder ob eine Struktur den neuen Bedingungen, die der Inhalt mitbringt, angepasst werden muss (Akkommodation).10 Bekannt ist handlungsorientierter Unterricht für seine Berücksichtigung von ganzheitlichem und kooperativem Lernen. Ganzheitlichkeit und Kooperation sind aus kognitiver Sicht wichtig, um Wissen transferfähig abspeichern zu können. Die Struktur des Gehirns gibt vor, dass multisensorisches Lernen dazu beiträgt, dass der Lerninhalt in verschiedenen Gehirnarealen angebunden und vernetzt wird.11 Durch die mehrfache Anbindung ist der Inhalt dann schneller abrufbar, weil von der Umwelt leichter ein entsprechender Reiz ausgelöst werden kann, während einfach angeknüpftes Wissen öfter träge bleibt.12 Das kooperative Arbeiten soll sogar für das Lernen wichtiger sein als der Einsatz von Medien und ist deswegen besonders zu begrüßen.13 Rein kognitiv gelingt das ausschließlich auf der Vorstellungskraft basierte Lernen von Handlungen erst im Laufe der Sekundarstufe I. Die Fähigkeit des abstrakten Denkens setzt erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der geistigen Entwicklung ein. Bis heute bezieht sich die Forschung in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Jean Piaget: Gemäß seiner Stadientheorie müssen für die Schüle9 Auf die Rolle von Handlungsschemata in der Handlungstheorie wird im Folgenden noch weiter eingegangen. 10 Vgl. Beate Sodian: Entwicklung des Denkens, in: Rolf Oerter/Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel 62008, S. 436–479, hier S. 437. Auch bei gänzlich neuem Wissen sieht Piaget seine konstruktivistische Theorie bestätigt; vgl. Jacques VonHche: Piaget, Jean, in: Robert A. Wilson/Frank C. Keil (Hrsg.): The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences, Cambridge, Mas./London 1999, S. 647–648, hier S. 647. 11 Vgl. Bernd Weidenmann: Multicodierung und Multimodalität im Lernprozeß, in: Ludwig J. Issing/Paul Klimsa (Hrsg.): Informationen und Lernen mit Multimedia, Weinheim 1995, S. 62–84, hier S. 68. Weidenmann klärt den logischen Trugschluss auf, dass eben nicht die Eigentätigkeit von sich aus zu einer besseren Lernleistung führt, als rezeptive Verfahren dies tun. Vielmehr begünstigt die Kombination von Sinneswahrnehmungen im Handlungsprozess die kognitive Verankerung durch die Aktivierung verschiedener Bezugssysteme. Handlungsorientierung ist weiterhin legitimiert, nur in einem anderen Erklärungszusammenhang. 12 Vgl. Klauer/Leutner, Lehren und Lernen, S. 88; Herbert Raisch: Handlungs- und Produktionsorientierung. Ein grundlegendes Konzept historischen Lernens, in: Uwe Uffelmann (Hrsg.): Neue Beiträge zum problemorientierten Geschichtsunterricht, Idenstein 1999, S. 63–90, hier S. 85. 13 Vgl. Weidenmann, Multicodierung, S. 78ff.; Ulrich Mayer: Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, in: Marko Demantowsky/Bernd Schönemann (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Positionen, Bochum 22006, S. 27–37, hier S. 31.
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rinnen und Schüler der weiterführenden Schule zwei geistige Entwicklungsstufen unterschieden werden.14 Piaget nahm an, dass Kinder zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr nur mit Mühe auf systematische Weise über hypothetische Sachverhalte nachdenken können.15 Während des Eintrittsalters in die Unterstufe befinden sich Lernende noch immer im sogenannten konkret-operatorischen Stadium und sind im Lernprozess auf den Umgang mit konkreten Gegenständen angewiesen.16 Dies ändert sich dann mit dem 12. Lebensjahr, an der Schwelle zum formal-operatorischen Stadium, wobei nicht jeder diesen »Idealtyp menschlicher Rationalität« erreicht.17 Heranwachsende sind dann in der Lage, auch über komplexe Sachverhalte systematisch zu denken und Hypothesenbildung sowie metakognitive Reflexion über Erkenntnisprozesse innerhalb einer Problemlösung anzuwenden.18 Bruner und Aebli, Nachfolger Piagets, gehen hingegen davon aus, dass der Mensch auch nach dem Erreichen des Stadiums formaler Handlung bei der Aneignung (komplexer) Handlungen weiterhin auf konkrete Erfahrung angewiesen ist, da, so zumindest Aebli, das Denken aus dem Handeln hervorgeht.19 Dies ist eine radikale, anfechtbare Sicht, bedenkt man, dass auch logische Gedankenhandlungen, die mit keiner konkreten Handlung in Verbindung gebracht werden können, lernbar sind. Es erscheint jedoch plausibel, bei komplexen Handlungen, die einen konkreten Bezug besitzen, auf die physische Tätigkeit zurückzugreifen, um ein besseres Verständnis vom zu lernenden Sachverhalt zu erlangen.
3.
Charakteristika des handlungsorientierten Geschichtsunterrichts
Speziell für Fächer, in denen viel geistig abstrahiert wird, ist es wichtig zu wissen, dass der Übergang zum formal-operatorischen Stadium nicht automatisch erfolgt.20 In der Schule müssen instruktive Grundlagen geschaffen werden, die es
14 Vgl. Sodian, Entwicklung, S. 442f. Die Grundannahmen Piagets werden bis heute in der Forschung tradiert und auch weiterhin für die Fortentwicklung der Psychologie für relevant erachtet. Die Kritik an der Stadientheorie bezieht sich vor allem auf die Fähigkeiten jüngerer Kinder ; vgl. ebd., S. 436; VonHche, Piaget, S. 648. 15 Vgl. Sodian, Entwicklung, S. 443. 16 Vgl. ebd., S. 442. 17 Ebd., S. 443. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. Hans Aebli: Denken: Das Ordnen des Tuns, Bd. 2, Stuttgart 1980, S. 26; vgl. Gerald A. Straka/Gerd Macke: Lern-Lehr-Theoretische Didaktik, Münster 42002, S. 112, 115f. 20 Vgl. Rolf Oerter/Eva Dreher: Jugendalter, in: Rolf Oerter/Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel 62008, S. 271–332, hier S. 288.
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den Lernenden ermöglichen ihre individuellen Denkschemata auszureifen.21 Vertreter der Psychologie versuchten, anhand von Modellen des effektiven Lernens ihre Erkenntnisse für die Instruktion nutzbar zu machen. Diese Modelle würden heute wohl als Scaffolds bezeichnet – wie Konstruktionsgerüste beim Gebäudebau –, denn auch bei ihnen ist vorgesehen, dass nach einer Einstiegshilfe durch vorgegebene Handlungsmuster das Hilfsgerüst mit zunehmender Internalisierung sukzessive abgebaut wird. Prominente Vertreter, die gleichzeitig als traditionelle Vorkämpfer der Handlungstheorie gelten, sind Hans Aebli sowie Mitglieder der sowjetischen kulturhistorischen Schule (Wygotsky, Leontjew, Galperin und Rubinstein).22 Die ursprünglichen Modelle müssen hier nicht wiedergegeben werden. Gemeinsam ist ihnen der Dreischritt der sogenannten »vollständigen Handlung«23 : Antizipation, Realisation und Reflexion bzw. Handlungskontrolle bis zur Verinnerlichung des Gelernten.24 Als Synthese aus den alten Modellen kann heute das Handlungsmuster von Claudia Pütz für die Umsetzung der vollständigen Handlung im Unterricht gewählt werden, das auch von Herbert Gudjons, dem maßgebenden Vertreter der Allgemeinen Didaktik im Bereich der Handlungsorientierung, übernommen wurde: 1) Handlungsziel: Klärung, Begründung und Aushandlung mit dem Ziel einer gemeinsamen Identifikation 2) Handlungsplan: Beurteilung der Ausgangslage, Bestimmung der einzelnen Lösungsschritte, Festlegung einer Reihenfolge 3) Handlungsdurchführung: Konkrete Umsetzung in einer hierarchisch-zyklischen Struktur 4) Handlungsbewertung: Ergebnisprüfung, Konsequenzen 5) Verinnerlichung: Integration und Stabilisierung im Handlungsrepertoire25 Ein Unterricht kann nur als handlungsorientiert gelten, wenn er sich an die Struktur der vollständigen Handlung hält.26 Der handlungsorientierte Unter-
21 Vgl. ebd., S. 288. 22 Vgl. Söltenfuß, Grundlagen, S. 81–94; Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 43–46; Wöll, Handeln, S. 42–50. 23 Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 46. 24 Vgl. ebd., S. 48–55. Zum Modell Aeblis siehe Wöll, Handeln, S. 46; zum Modell Galperins aus der kulturhistorischen Schule siehe Söltenfuß, Grundlagen, S. 90f. 25 In dieser Form zusammengefasst in Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 51; vgl. Claudia Pütz: Entwicklungs- und kognitionspsychologische Voraussetzungen des didaktischen Konzepts »Handlungsorientierter Unterricht«, in: Werner Schaube (Hrsg.): Handlungsorientierung für Praktiker. Ein Unterrichtskonzept macht Schule, Darmstadt 2 1996, S. 20–22. 26 Vgl. Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 46ff.
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richt stellt eine »Balance von Produkt- und Prozeßorientierung« dar.27 Zuerst wird stets antizipiert, welche Ausgangssituation besteht und an welcher Stelle sich ein Problem ergibt, an dessen Lösungsfindung die Lernenden interessiert sind (Identifikation).28 Es wird das Ziel der anschließenden Handlung formuliert und ein Lösungsplan erarbeitet (Zielorientierung).29 Während des Arbeitsprozesses und nach Abschluss der Handlung können konkrete oder innere Produkte entstehen, sie können dabei selbst- oder umweltbezogen ausgerichtet sein.30 Nach der Einigung auf einen Handlungsplan folgt die Realisation der geplanten Handlungsschritte. Schon während der Umsetzung werden Kontrollen eingeschoben, um den Nutzen der einzelnen Schritte für die Zielerreichung erneut zu hinterfragen und um zu klären, wie der Prozess hätte optimiert werden können.31 Gleichzeitig werden Lernfortschritte reflektiert.32 Arbeit, Kontrolle und Reflexion verlaufen somit spiralförmig. Nach der Realisation des Handlungsplans folgen die Abschlusskontrolle und eine erneute Reflexion, nun aber im Hinblick auf den gesamten Handlungsprozess sowie das Übereinstimmen des geplanten und des erreichten Produkts.33 Auf diese Weise können Handlungsschritte und Ergebnisse verinnerlicht werden. Das Etikett Handlungsorientierung sollte folglich »emphatisch naive[n]« Unterrichtsvorhaben verwehrt bleiben, in denen Heranwachsende zwar etwas erleben, aber nicht erfahren, weil keine Reflexion vorgenommen wird.34 Ziel des handlungsorientierten Unterrichts ist eben nicht einzig die Selbsttätigkeit der Lerner, Kreativität und einhergehendes Lustempfinden.35 Für den Geschichtsunterricht sind Resultate der Produktorientierung als »Zwischenprodukte« einzustufen.36 Erst mittels der spiralförmig vertiefenden Phasen individueller
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35 36
Duncker, Grundfragen, S. 71. Vgl. Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 48f. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. Herbert Gudjons: Handlungsorientierung als methodisches Prinzip im Unterricht, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 39 (1987), S. 8–13, hier S. 12. Vgl. Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, S. 49f. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 50f. Raisch, Handlungs- und Produktionsorientierung, S. 79. Demantowsky, Strukturierungskonzepte, S. 71, plädiert ebenso für einen Unterricht, in dem »das Handeln der Lernenden selbst als geistige Aneignung von Vergangenem in all ihren verschiedenen Formen (historisches Fragen, Finden, Kritisieren, Darstellen, Argumentieren, Polemisieren) und auf allen denkbaren Stufen der Elaboration (vom alltäglichen, z. B. familiären Austausch bis zur wissenschaftlichen Untersuchung) [stattfindet]. Denn dieses Handeln können die Lernenden erfahren und dieses sollen sie lernen […].« Vgl. Wöll, Handeln, S. 55. Bärbel Völkel: Handlungsorientierung, in: Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht. Klaus Bergmann zum Gedächtnis, Schwalbach/Ts. 42013, S. 49–64, hier S. 54f. Zum Stellenwert der Reflexion im Bereich des historischen Lehrens und Lernens
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und gemeinsamer Reflexion wird das Erlebte bewusst in (historische) Erkenntnisse und neue Einstellungen angehoben.37 Der hier eingeführte Ausspruch Hands-on, minds-on soll eindeutig an diese Verknüpfung erinnern, also daran, dass nicht nur eigenhändig gearbeitet werden soll, sondern auch die Köpfe aktiv werden müssen. Um Medien kritisch erschließen zu können, müssen potenzielle Analysekriterien zunächst transparent gemacht werden. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, auf die Unterrichtsstrukturierungskonzepte einzugehen, die Marko Demantowsky für einen handlungsorientierten Geschichtsunterricht heranzieht.38 Er unterscheidet bewusst zwei nicht fachspezifische, doch nützliche Konzepte.39 Auch hier ist die vollständige Handlung wiederzuerkennen. Methoden sollten im instruktiven Sinne losgelöst von einer historischen Problemstellung eingeführt werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer zielführenden Umsetzung.40 Ein reflexiv-handlungsorientierter Unterricht schließt darüber hinaus an einen problemorientierten Unterricht an und soll den Erkenntnisprozess dahingehend begünstigen, dass das methodische Repertoire zur konkreten Problemlösung erweitert wird.41 Methoden werden nicht einfach ausprobiert, sondern anhand eines Handlungsmusters erarbeitet, in die Lösung des problemorientierten Arbeitsauftrags integriert und Nutzen sowie Grenzen für den Erkenntnisgewinn bewertet. Verschiedene Charakteristika des handlungsorientierten Unterrichts wurden bis hierhin erwähnt. Sie sollen an dieser Stelle noch einmal in Form eines nicht hierarchisierten Merkmalkatalogs zusammengefasst bzw. ergänzt werden. Die Zusammenstellung von Merkmalkatalogen ist im Diskurs um den handlungsorientierten Unterricht üblich.42 Trotz Uneinigkeit in der Theorie43 soll an dieser
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siehe Birgit Wenzel: Reflexivität im Geschichtsunterricht, in: GWU 51 (2000), H. 11, S. 681–693, insb. S. 685. Vgl. Völkel, Handlungsorientierung, S. 54f.; Wöll, Handeln, S. 55. Vgl. Demantowsky, Strukturierungskonzepte. Demantowsky selbst wurde angeregt durch den Beitrag von Hilke Günther-Arndt: Methodik des Geschichtsunterrichts, in: dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 151–196. Günther-Arndt verortete in jenem Artikel die Begriffe Problemorientierung und Handlungsorientierung auf der Ebene der unterrichtsmethodischen Strukturierungskonzepte. Der Artikel zum Thema unterrichtsmethodische Strukturierungskonzepte von Demantowsky folgte dann im von Günther-Arndt herausgegebenen Handbuch für Methodik; vgl. Demantowsky, Strukturierungskonzepte, S. 64. Vgl. ebd. Bärbel Völkel: Handlungsorientierung im Geschichtsunterricht, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2, Schwalbach/ Ts. 2012, S. 37–49, Anm. 4, lehnt die Modelle wegen ihrer Allgemeingültigkeit ab. Vgl. Demantowsky, Strukturierungskonzepte, S. 75. Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Wöll, Handeln, S. 138; Mahler, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 17f. Wöll kritisierte bereits 1998, dass Autoren selbst innerhalb einer Publikation mit unterschiedlichen Merkmallisten operierten und jeweils unterschiedliche Aspekte als wesentlich
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Stelle ein Überblick darüber gegeben werden, welche Merkmale die höchste Übereinstimmung im Diskurs gefunden haben: 1) Interessenorientierung, 2) Problemorientierung, 3) Zielorientierung, 4) Produktorientierung, 5) Situationsbezug/gesellschaftliche Praxisrelevanz, 6) Entwicklungsbezug, 7) Prozessorientierung, 8) Selbstständigkeit/Selbstverantwortung, 9) kooperatives Arbeiten, 10) Ganzheitlichkeit44 Welche Eigenschaften diese Schlagworte beinhalten und in welchem Umfang ein jeder Aspekt berücksichtigt werden muss, wird von den Theoretikern jeweils anders aufgefasst.45 Es ist wichtig zu beachten, dass nicht jeder Unterricht, der den Anspruch hat, handlungsorientiertes Lernen zu ermöglichen, alle diese Charakteristika aufweisen muss.46 Gerade während der zeitaufwendigen Einführung des Unterrichtsprinzips in den Regelunterricht rät Gudjons, schrittweise an die Handlungsorientierung heranzuführen.47 Das Idealmaß liegt wohl, wie Ulrich Mayer es formuliert, zwischen einer »Banalisierung und Fetischisierung«.48
4.
Anregungen zum handlungsorientierten Arbeiten mit Zeitungen im Geschichtsunterricht
Schon als der handlungsorientierte Geschichtsunterricht in den späten 1980erJahren noch in seinen Kinderschuhen steckte, wiesen Brigitte Dehne und Peter Schulz-Hageleit in ihrem maßgebenden Praxisartikel darauf hin, dass für die Umsetzung von handlungsorientierten Lerneinheiten »[n]ach fächerübergrei-
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hervorhoben; vgl. Wöll, Handeln, S. 138–144. Auch in der Ausgabe vom Jahr 2011 hat sich zumindest bei den Verfechtern der Handlungsorientierung Jank und Meyer nichts an der Praxis geändert. Der Katalog »Arbeitsdefinition und Merkmale« unterscheidet sich in seinen Bestandteilen von dem der »didaktischen Strukturierung«, obwohl eine Darstellung auf derselben analytischen Ebene stattfindet. Der Katalog, den Gudjons erstellt, weicht wiederum so weit von denen Janks und Meyers ab, dass er nur in den Punkten »Produktorientierung und Partizipation der Schüler in Unterrichtsentscheidungen« übereinstimmt; vgl. Werner Jank/Hilbert Meyer : Didaktische Modelle, Berlin 102011, S. 315–319, 326f.; Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, Kap. 3.2.1–3.2.8, S. 79–89. Vgl. Jank/Meyer, Didaktische Modelle, S. 315–319, 326f.; Gudjons, Handlungsorientiert lehren und lernen, Kap. 3.2.1–3.2.8, S. 79–89; Gudjons, Handlungsorientierung als methodisches Prinzip, S. 11f. Vgl. Jank/Meyer, Didaktische Modelle, S. 314; Wöll, Handeln, S. 133–137. Vgl. Herbert Gudjons: Schritte zum handlungsorientierten Unterricht. Beispiele für Handlungsmöglichkeiten im Fachunterricht, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 39 (1987), S. 36–39, hier S. 36. Vgl. ebd.; Gudjons, Handlungsorientierung als methodisches Prinzip, S. 11. Mayer, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 27f.
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fenden Möglichkeiten« Ausschau gehalten werden soll.49 Dies ist wichtig für die Kontinuität des Lernprozesses und die zeitliche Entlastung eines Faches. Christian Kuchler regt in seinem Beitrag des vorliegenden Tagungsbandes zur Kooperation mit dem Deutschunterricht an.50 Für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist es deswegen wichtig zu fragen, welche Grundlagen der Medienbildung der derzeitige Lehrplan für den Deutschunterricht schafft, die der Geschichtsunterricht aufgreifen kann. Der gymnasiale Lehrplan aus NordrheinWestfalen (Sekundarstufe I) dient hier als Beispiel.51 Im Verlauf der Sekundarstufe I beschäftigt sich der gymnasiale Deutschunterricht mit der Unterscheidung medienspezifischer Textformen und Textfunktionen und setzt Massenmedien, insbesondere die Zeitung, als »Schwerpunkt unterrichtlicher Arbeit« fest.52 Die Zeitung ist bereits in den ersten beiden Jahren der gymnasialen Sekundarstufe I Teil der Schreibdidaktik; sie wird ab der Jahrgangsstufe 7 als Informationsquelle instrumentalisiert, der Aufbau und die Textsorten einer Zeitung werden vertraut gemacht.53 Bis zum Abschluss der Jahrgangsstufe 9 sollen die Schülerinnen und Schüler gelernt haben, eine medienkritische Haltung gegenüber »Informationsvermittlung und Meinungsbildung« im Umgang mit Zeitungen einzunehmen.54 In diesem Kontext findet auch ein Vergleich zwischen regionalen und überregionalen Zeitungen statt, Multiperspektivität wird offenbar.55 Die Zeitung wird im Rahmen des Deutschunterrichts also intensiv thematisiert. Transferwissen aus dem Deutschunterricht sollte ohne Weiteres im Geschichtsunterricht nutzbar gemacht werden können. Eine direkte Kooperation bietet sich daher an. Der Lehrplan für das Fach Geschichte am Gymnasium in Nordrhein-Westfalen nennt die Zeitung nicht explizit als Gegenstand des Unterrichts, und doch bereichert sie den Geschichtsunterricht bis in die Sekundarstufe II innerhalb der Förderung von Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz.56 Nach der ersten Erprobung 49 Brigitte Dehne/Peter Schulz-Hageleit: »Handeln ist keine Einbahnstraße«. Anregungen zur Belebung des Geschichtsunterrichts im Alltag, in: Geschichte lernen 2 (1989), H. 9, S. 6–14, hier S. 10. 50 Vgl. den Beitrag von Christian Kuchler, S. 31ff. 51 Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Kernlehrplan für den verkürzten Bildungsgang des Gymnasiums – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen, Deutsch, 2007, http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gym nasium_g8/gym8_deutsch.pdf (12. 08. 2015). 52 Ebd., S. 18, 33, 37f. 53 Vgl. ebd., S. 33, 37, 38. 54 Ebd., S. 38. 55 Vgl. ebd. 56 Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Richtlinien und Lehrpläne für das Gymnasium in NRW, Sekundarstufe I (G8), Geschichte, 2007, http://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_g8/gym8_geschichte. pdf (12. 08. 2015); Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Kernlehrplan für
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entwickelt sich die Handlungsfähigkeit mittels der Handhabung und Beurteilung von Zeitungen durch eine regelmäßige Nutzung in langjähriger Unterrichtspraxis fort. Im handlungsorientierten Unterricht wird häufig der Versuch unternommen, Sachquellen oder Replikate bzw. Faksimile zu nutzen, um vergangene Praktiken nachzuempfinden.57 Dasselbe ist mit der Zeitung möglich, die im Original in Bibliotheken und Archiven, aber auch als Reprints oder (Retro-)Digitalisate einen zunehmend bequemeren Zugriff erlaubt. Primär besteht die nachzuempfindende Praktik im Falle der Zeitung in der Lektüre, da ein Großteil einer jeden Bevölkerung ausschließlich Zeitungsleser war und ist. Die Lektüre sollte jedoch um eine textkritische Ebene ergänzt werden. Im synchronen Zeitungsvergleich, wie ihn Peter Geiss in seinem Praxisbeispiel für den Bilingualen Geschichtsunterricht vorschlägt58, können, ähnlich wie es der Deutschunterricht in der Jahrgangsstufe 9 verlangt, unterschiedliche Sichtweisen auf Ereignisse etc. auch handlungsorientiert unter Berücksichtigung der vollständigen Handlung herausgearbeitet werden. Die zentrale Frage lautet: Was wird wo von wem gelesen? Ein schon älteres Beispiel für den Deutsch- und Politikunterricht von Herman Hoppenkamps zeigt die von Cajus Wypior angesprochene Analyse auf der Sprachebene.59 Hoppenkamps vergleicht eine abgedruckte Parlamentsrede mit der Wiedergabe in diversen deutschen Zeitungen.60 Er verdeutlicht, wie durch den Einsatz von Verben, Adverbien und Konjunktionen sowie durch eine fragmentarische Redewiedergabe (in direkter Rede oder Paraphrase im Konjunktiv) ohne weiteres Zutun Meinungen der Autoren transportiert werden können, ohne dass ein Leser die Objektivität infrage stellt.61 Er wendet bei Zeitungsartikeln, welche die Parlamentsrede thematisieren, ein Analyseraster an und unterteilt die einzelnen Bezüge in den Spalten »Nummer«, »Sprecher«, »Handlungsanzeiger« und »Proposition«.62 Ein Beispiel: »Helmut Kohl [Sprecher] antwortet [Handlungsanzeiger] ›Ja, was sind sie denn sonst?‹ [Proposition]«.63 Dieses Raster könnte als instruktives Muster im Geschichtsunterricht dienen, um Schülerinnen und Schülern in komparativen Analysen Indikatoren
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die Sekundarstufe II, Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Geschichte, 2014, http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte. pdf (12. 08. 2015). Vgl. Demantowsky, Strukturierungskonzepte, S. 72. Vgl. den Beitrag von Peter Geiss, S. 53ff. Vgl. Hermann Hoppenkamps: Medium Zeitung. Modelle für den Deutsch- und Politikunterricht, Düsseldorf 1979, S. 23–39 und den Beitrag von Cajus Wypior, S. 73ff. Vgl. Hoppenkamps, Medium Zeitung, S. 23–39. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 29. Ebd.
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zur Erschließung einer Multiperspektive an die Hand zu geben.64 Im Vergleich innernationaler Beiträge verschiedener Zeitungen weicht die Idee des gesellschaftlichen Konsenses der Meinungspluralität und die Deutungshoheit der Medien wird infrage gestellt. Diese Erkenntnisse können im Gegenwartsbezug auf die Funktionsweise heutiger Zeitungs-Apps (z. B. Presseschau oder OnlineZeitungenDeutschland) übertragen werden.65 Es ist nicht allein das geschriebene Wort als solches, das die Einschätzung über die Wichtigkeit einer Information bedingt. Die gesamte redaktionelle Arbeit, gekoppelt an die technischen Möglichkeiten einer Zeit, bedingt die visuelle Wahrnehmung von Informationen, hierarchisiert diese und legt bis zu einem bestimmten Grad die Reihenfolge fest, nach der die Zeitung gelesen werden soll. Lernende können ebenso handlungsorientiert die Rolle der Produzenten übernehmen, einen zeitgenössischen Artikel schreiben oder die redaktionelle Arbeit der Auswahl, Anordnung und Bebilderung vornehmen, um die Mechanismen und Intentionen hinter der Medienproduktion in ihre zukünftige Medienrezeption mit einzubinden.66 Hierbei lernen Schülerinnen und Schüler die Eigenarten des Mediums kennen. Sie können die historische Entwicklung rund um das Zeitungswesen betrachten und mit anderen Medienformaten in Beziehung setzen. Der Beitrag von Thomas Göttlich macht darauf aufmerksam, dass handlungsorientierte Lehr-Lern-Formen zur Erschließung von Medien über die Schulbildung hinaus ebenfalls in der praxisorientierten Lehrerausbildung ihre Berechtigung finden.67 Der Zugriff auf einen ungeordneten Pool an Quellenmaterial (hier in Form eines Koffers gefüllt mit Zeitungen) besitzt das Potenzial, neue Ideen für das eigene Unterrichtsrepertoire jenseits der Schulbucharbeit zu schöpfen.68 Verschiedene Merkmale der Handlungsorientierung sind in diesem Praxisbeispiel wiederzuerkennen. Studierende bereiteten kooperativ, selbstbestimmt und nach eigenem Antrieb eine Doppelstunde mit einem publikumswirksamen Stundeneinstieg vor und führten sie real durch.69 Als Resultat des kooperativen Projekts sollten einer Schulklasse historische Probleme gegenwartsbezogen, mit persönlicher Relevanz mittels einer Simulation zu Stunden-
64 Vgl. Demantowsky, Strukturierungskonzepte, S. 75. 65 Hier ergeben sich Fragen: Welche Chancen oder welche versteckte Beeinträchtigung in der individuellen Informationsbeschaffung bergen derartige Apps? Werden sie dem für die Zeitung üblichen, d. h. einem selektiven und flüchtigen Lesestil (besonders) gerecht? 66 Michael Sauer : Handlungsorientiert mit Zeitungen arbeiten. Anregungen und Beispiele, in: Geschichte lernen 124 (2008), S. 11–15, hier S. 11f., stellt einige Arbeitsaufträge dieser Art zusammen. 67 Vgl. den Beitrag von Thomas Göttlich, S. 103ff. 68 Vgl. ebd., S. 104. 69 Vgl. ebd., S. 104–109.
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beginn nahegebracht werden.70 Die Zeitung bot die Grundlage für den Stundeninhalt und diente als Beweis aus der Vergangenheit.71 Das Potenzial der Zeitung als Unterrichtsgegenstand hätte noch weiter ausgeschöpft werden können.72 Der Schwerpunkt von Göttlichs Tagungsbeitrag liegt auf der Präsentation zweier im Seminar entstandener Stundeneinstiege.73 Über die Betrachtung des Produkts hinaus ist es innerhalb der Handlungsorientierung ausschlaggebend, der Reflexion über das produkt-, aber gleichermaßen prozessorientierte Arbeiten genügend Zeit einzuräumen. So kann die Handlung rekapituliert und der Erkenntnisgewinn bewusst verinnerlicht werden. Nur dann kann von einer vollständigen Handlung die Rede sein.
5.
Fazit
Im handlungsorientierten Geschichtsunterricht gilt es das Motto Hands-on, minds-on zu befolgen: Das Lernen basiert auf kooperativer, praktischer Tätigkeit und gemeinsamer Reflexion. Handeln bezeichnet eine zielgerichtete, plangeleitete Aktivität, die im Unterricht das Handlungsrepertoire zur Mündigkeit erweitern soll. Der Unterricht darf sich nicht mit einer vermeintlich praktischen Erfahrung begnügen, sondern muss neue Erkenntnisse durch Reflexionsphasen transparent machen. Insbesondere die Medienbildung leistet einen wichtigen Beitrag zur Handlungsfähigkeit in unserer von Medien geprägten Gesellschaft. In Kooperation mit dem Deutschunterricht sollte der Geschichtsunterricht dem medienpädagogischen Bildungsauftrag folgen und während der langen Zeit, in der die Zeitung als Quelle genutzt werden kann, zur Förderung der Handlungsfähigkeit im Umgang mit Massenmedien beitragen. Ein handlungsorientierter Unterricht bietet die bestmögliche Unterstützung für effektives Lernen. Unter Berufung auf Erkenntnisse der Psychologie setzt er auf ein Lernen, das Transferleistungen von Handlungsschemata anregt. Um die Entwicklung von Handlungsschemata zu begünstigen, sollte der handlungsorientierte Geschichtsunterricht nicht allein den Merkmalkatalogen der Theoretiker folgen. Wichtiger noch ist die systematische Befolgung der Spirale der vollständigen Handlung (Antizipation, Realisation, Reflexion/Kontrolle). Es wurde gezeigt, dass dieses Schema sowohl in rezeptions- als auch in produktionsorientierter Zeitungsarbeit zu einer Reflexion über Mechanismen der Me70 Vgl. ebd., S. 105, 109. 71 Vgl. ebd., S. 107–109. 72 Vgl. den Beitrag von Christian Kuchler (S. 31ff.), der die Güte unterschiedlicher Projekte des »Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten« kategorisiert und damit das Potenzial der Zeitung schon allein in der Schulbildung aufzeigt. 73 Vgl. den Beitrag von Thomas Göttlich, S. 105–109.
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diengestaltung und Medienkonsumierung anleiten kann. Auch innerhalb des Lehramtsstudiums sollte der Aspekt der Handlungsorientierung im Hinblick auf den reflektierten Einsatz von Medien im Unterricht weiterhin erwogen werden.
Thomas Göttlich
Der Koffer
Ich war zum Kaffeetrinken bei meinen Eltern eingeladen. In trauter Runde mit einigen langjährigen Freunden meiner Eltern sprach mich ein pensionierter Lehrer an. Er habe beim Aufräumen noch einen Koffer voll mit alten Zeitungen gefunden, er selber sei leider nicht mehr in der Lage, diese zu verwenden, aber er würde sie mir gerne übereignen. Sicherlich könne ich sie im Unterricht gut einsetzen. Als Lehrer eines reinen Oberstufengymnasiums bin ich mit den zeitlichen Nöten des Lehrplans bestens vertraut, das fortwährend am Horizont winkende Zentralabitur zwingt dummerweise auch zur Einhaltung desselben, sodass im realen Alltag kaum Zeit für vertiefende Exkurse bleibt. So bedankte ich mich höflich und artig für diesen ›Schatz‹, wohl wissend, dass ich ihn vermutlich nach meiner eigenen Pensionierung unberührt weitergeben würde. Sie müssen wissen, meine Eltern sind selbst beide pensionierte Lehrer, weshalb es nicht überraschen kann, dass ein großer Teil ihres sozialen Umfeldes ebenfalls aus ehemaligen Lehrern besteht. Diese räumen natürlich alle irgendwann einmal auf, und so finden mit großer Regelmäßigkeit die verschiedensten ›Schätze‹ ihren Weg zu mir. Oft fristen sie dann ein Dasein in irgendwelchen Ecken meines Arbeitszimmers, bevor ich sie letztlich doch dem Altpapier übergeben muss, denn mein Arbeitszimmer hat leider nur vier Ecken und somit keinen unbegrenzten Raum zur Verfügung. Auch der besagte Koffer, der diesem kleinen Essay den Titel gegeben hat, stand so einige Jahre später quasi schon ›auf der Planke‹, bevor ich doch noch einen Blick hineinwarf und feststellte, dass fast alle Zeitungen aus der NS-Zeit stammten. Also wurde der Koffer in eine andere Ecke des Arbeitszimmers gestellt, und dort stünde er wohl auch heute noch … wenn, ja wenn es da nicht Monika Rox-Helmer vom fachdidaktischen Seminar der Geschichtswissenschaften an der JLU Gießen gegeben hätte. Diese rief mich eines Tages an und fragte, ob ich nicht ein Seminar zum Thema Medien anbieten könne. Ich gestehe, dass ich kein echter Verfechter des Einsatzes moderner Medien im Unterricht bin, Beamer und Whiteboard nutze ich äußerst selten, ich bin da eher ›old school‹, also Tafel und Kreide. Ich wollte mich mit diesen Aussagen schon elegant
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Thomas Göttlich
aus der Affäre ziehen, als Frau Rox-Helmer anmerkte, dass doch auch Zeitungen Medien seien …! Richtig – der Koffer!!! Stellen Sie sich bitte einen Koffer vor, der auch aus der Zeit stammt, aus der sein ›Innenleben‹ berichtet, und der auch so aussieht, als könne er einiges aus dieser Zeit erzählen: In ihm befinden sich Hunderte von Zeitungen ohne jede Form von Vorauswahl, also der Reichstagsbrand neben dem Kaninchenzüchterverein und dem Wetter. Diese schiere Menge an Papier daraufhin durchzusehen, was eventuell im Unterricht gewinnbringend einzusetzen wäre, ist für einen Lehrer im Berufsalltag schlicht nicht möglich, und so muss er notgedrungen auf die Standardauswahl der unterschiedlichen Schulbücher zurückgreifen, die, was die Auswahl geeigneter Quellen betrifft, ›gelegentlich‹ repetitive Tendenzen nicht völlig verleugnen können. Aber ca. 20 motivierte Studierende … da sollte doch einiges möglich sein! Und so stellte ich in der ersten Sitzung des Seminars den besagten Koffer auf den Tisch und gab einige Zeitungsexemplare daraus herum. Dann erläuterte ich das Vorhaben des Seminars: Die Studierenden sollten in Gruppen arbeiten. Jede Gruppe sollte sich einen Artikel aussuchen, um mit diesem eine Doppelstunde zu planen und sie auch selbst zu halten, und zwar vor echten Schülern! Der erfahrene Leser wird sicherlich schon bemerkt haben, dass dieses Vorhaben doch recht ambitioniert war, denn die Studierenden mussten auf diese Aufgabe erst einmal vorbereitet werden. Um die Möglichkeiten und Chancen eines beliebigen Artikels überhaupt einschätzen zu können, mussten die Teilnehmer des Seminars selbst erst einmal eine grundlegende fachliche Kompetenz im Thema erlangen, sprich sich im Nationalsozialismus auskennen. Weiterhin mussten sie grundlegende Strukturen der Unterrichtsplanung beherrschen, also zumindest ansatzweise dazu in der Lage sein, einen großen Unterrichtsentwurf zu verfassen. Dies konnte mitnichten vorausgesetzt werden. So verging etwa die Hälfte der Zeit damit, die Studierenden zu befähigen, die gestellte Aufgabe überhaupt leisten zu können. Diese Aufgabe ist ja im Prinzip nichts anderes, als ein Geschichtslehrbuch zu verfassen. Die Autoren guter Geschichtsbücher finden interessante Quellen, die die Schüler interessieren oder auch irritieren und die Chance eines Gegenwartsbezugs eröffnen und somit neugierig machen und Fragen aufwerfen. Zumindest sollte es bei guten Geschichtsbüchern so sein, dass deren Herausgeber bzw. die beteiligten Historiker, die ihnen zuarbeiten, Rohmaterialien (also etwa Zeitungen) sichten und geeignete Texte als Quellen verwenden. Hierbei sollte natürlich der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich nicht nur der didaktische Ansatz und der Stand der Forschung, sondern auch die Gesellschaft beständig verändern – und damit auch die Lerngegenstände und Lerngruppen. Man sollte also bei guten Geschichtsbüchern davon ausgehen, dass die ausge-
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wählten Quellen und der Umgang mit ihnen den genannten Veränderungen entsprechen. Stattdessen stellen die etwas bequemeren Kollegen zumeist erfreut fest, dass die Quellen der neueren Bücher doch zumeist denen vorhergegangener Ausgaben gleichen – klasse, dann kennt man sie schon und muss sie nicht noch einmal lesen … Auch die Verfasser von Geschichtsbüchern für den Unterricht sind oftmals selbst doch eher bequem. Da hatten wir schon einen anderen Anspruch, und diesen haben erfreulicherweise die Studierenden voll mitgetragen. Ich habe selten zuvor Seminarteilnehmer erlebt, die besser und motivierter gearbeitet haben. Sicherlich lag das auch daran, dass sie diese alten und vergilbten Papierstücke selbst in den Händen gehalten, darin geblättert und gelesen hatten und so ein Stück weit in die Zeit eintauchen konnten, die Gegenwart (welche eine aktuelle Zeitung ja beschreibt) der Vergangenheit quasi authentisch erahnen, die Patina ein wenig wegpolieren konnten. Historiker sind zudem ja immer recht anfällig für den Zauber alter Gegenstände – der alte Koffer, seine obskure Geschichte und vor allem das alte Papier werden ihren Teil dazu beigetragen haben. Des Weiteren wurden bereits zu Beginn des Seminars die Termine vereinbart, an welchen die Stunden gehalten werden sollten. Auch hierdurch wurde die Ernsthaftigkeit des Vorhabens sicherlich noch einmal unterstrichen, was aber der Motivation wohl nicht abträglich war. Meiner Erfahrung nach fällt es Studierenden immer besonders schwer, das Konzept des Gegenwartsbezugs erstens wirklich zu erfassen und zweitens umzusetzen. Es reicht eben nicht, den Schülern zu erklären, dass man dies einfach wissen müsse. Eine Grundvoraussetzung für guten und spannenden Unterricht ist es, den Schüler erkennen zu lassen, dass Strukturen vergangenen Handelns mit Strukturen gegenwärtigen Handelns eigentlich immer deckungsgleich sein müssen, weil es immer Menschen sind, die handeln. Und so zerbrachen sich vier Gruppen von Studierenden durchaus einige Sitzungen lang den Kopf und suchten nach möglichst originellen Gegenwartsbezügen für den von ihnen ausgewählten Zeitungsartikel. Es sind hierbei vier Stunden entstanden, von denen drei kreativ, gut und grundsätzlich relativ ähnlich waren, eine aber wirklich besonders gewagt und für mich gerade deswegen spannend, denn auch ich war neugierig, was dabei herauskommen würde. Ich möchte eine der drei guten Stunden und die ziemlich gewagte Stunde kurz schildern.
Gauleiter Kube Die betreffende Gruppe hatte ein wahres Kleinod ausgegraben. Gauleiter Kube äußert sich zu dem neuen Typus Lehrer. Fronterfahrung und Mitgliedschaft in der SA oder der SS seien doch erheblich wichtiger als Staatsexamen oder fundierte Fachkenntnisse. Ich muss hier nicht weiter ausführen, dass man über eine
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Erarbeitung der Ansprüche an die neuen Lehrer aus dem Text fast schon automatisch zum Gesetz zur Erhaltung des Berufsbeamtentums kommt und somit zum Prozess der Gleichschaltung. Der Einstieg in das Thema Schule ist geschickt, wenn auch ziemlich offensichtlich (obwohl sich das wohl noch nicht bis zu den Schulbuchverlagen herumgesprochen hat). Eine abschließende Diskussion über die Frage, warum gerade Lehrer auch heute noch verbeamtet werden, stellte außerdem einen aktuellen Bezug her. Dieser wurde allerdings durch einen besonders cleveren Taschenspielertrick der Studierenden zum Stundeneinstieg fast schon perfekt vorbereitet. Die Studierenden begannen den Unterricht ohne mich und stellten sich als die Vertretungen des Herrn Göttlich vor. Dieser sei bis auf Weiteres zu einer Weiterbildungsmaßname ans Staatliche Schulamt abgeordnet worden. Es sei dort nämlich bekannt geworden, dass Herr Göttlich sich in der jüngsten Vergangenheit kritisch, polemisch und unsachlich zur Politik der gegenwärtigen Landesregierung geäußert habe, und dies sei für einen Beamten des Landes Hessen wohl kaum statthaft. Natürlich hatte ich die entsprechenden Äußerungen tatsächlich in genau diesem Kurs getätigt, und wie Sie vielleicht bereits erahnen mögen, war dies nicht dem Zufall geschuldet. Der aufkommenden Unruhe und Unsicherheit unter den Schülern (vielleicht habe ich aber auch deren freudige Erregung nur missverstanden) begegneten die Studierenden mit der Bemerkung, dass es auch massive Beschwerden von Schülern und aus der Elternschaft gegeben habe, dass die Benotung von Herrn Göttlich durchgehend deutlich zu schlecht sei und somit jeder Schüler pauschal einen Punkt mehr erhalten werde, und zwar rückwirkend auf jede Zeugnisnote der Qualifikationsphase im Fach Geschichte. Ein entsprechend vorbereitetes Dokument mit hessischem Landeswappen und amtlichem Aussehen wurde kurz gezeigt, um den vermeintlichen Wahrheitsgehalt der erfreulichen Ankündigung zu belegen. Den nun völlig verblüfften und weitgehend wortlosen Schülern wurde dann mitgeteilt, dass das Fach nun auch nicht mehr Geschichte heißen würde, sondern … und dann öffneten die Studenten theatralisch die Tafel, sodass das Wort »Rassenkunde« zum Vorschein kam. Es dauerte ein wenig, bis die Schüler die Scharade durchblickt hatten und sich die Unsicherheit in Gelächter wandelte. Dann durfte auch ich den Raum betreten, an dessen Tür ich bis dahin neugierig gelauscht hatte, und wurde lachend begrüßt. Mitten in die gelöste Atmosphäre projizierten die Studenten eine OHP-Folie mit dem Text des Gauleiters Kube an die Wand, löschten das Licht und warteten, bis die Schüler begannen, den Text zu lesen und sich hierzu zu äußern, was relativ schnell und ohne weitere Aufforderung geschah. Gespräche unter den Schülern, die sich über den Inhalt bzw. den Stundeneinstieg austauschten, ließen sie zu. Nach diesem Einstieg bekamen die Schüler in Gruppen den Text als Arbeitsblatt mit entsprechendem Arbeitsauftrag. Während dieser Erarbeitungsphase wurde der
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Originalartikel in laminierter Form von Gruppe zu Gruppe gereicht. Nach der Präsentation der Ergebnisse gab es eine zweite Gruppenarbeitsphase zum Gesetz zur Erhaltung des Berufsbeamtentums und natürlich eine entsprechende Präsentationsphase, bevor eine abschließende Besprechung des Status des verbeamteten Lehrers unter Verweis auf den Stundenbeginn die Stunde abrundete und beendete. Die beschriebene Stunde gelang außerordentlich gut. Das Medium Zeitung bzw. der laminierte Originalartikel verdeutlichten, dass die zum Stundeneinstieg gespielte Abberufung des Lehrers Göttlich durchaus so oder so ähnlich hätte passiert sein können und wohl auch passiert ist. Die Schüler haben sich zumindest in der Reflexion der Stunde in dieser Richtung geäußert.
Die Anti-Atomkraft AG Die nun zu beschreibende Stunde mag dem einen oder anderen grenzwertig erscheinen, aber die Studierenden wollten sie so halten, und ich war durchaus willens, mich darauf einzulassen. Den Anstoß hierzu gab ein Beitrittsformular zur Hitlerjugend, das sich zwischen den Zeitungen fand. Die Studierenden übernahmen den Text unverändert und bastelten daraus eine Beitrittserklärung zu einer Anti-Atomkraft AG. Der Reichsadler wurde übernommen, das darunter befindliche Hakenkreuz durch den allgemein bekannten Anti-Atomkraft-Sticker ersetzt. Ein etwas abgewandeltes Hakenkreuz und ein weiterer Sticker mit den Worten »Es reicht jetzt« in den Farben Schwarz, Rot und Gold ergänzten die Aufmachung. Schon bei der ersten Betrachtung dieses Machwerks würden bei den allermeisten wohl alle Alarmglocken schrillen. Ich war gespannt, wie es den Schülern damit ergehen würde. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass diese Stunde relativ kurz nach dem Atomunglück von Fukushima gehalten wurde. Die CDU hatte gerade ihre wundersame Wandlung von einer Pro-Atomkraft-Partei ins Gegenteil vollzogen (schön, dass auch Christdemokraten etwas »merkeln« können). In ganz Deutschland war man also durch alle Parteien und durch alle Gesellschaftsschichten hindurch gegen Atomkraft eingestellt. Natürlich hatten sich die Studierenden noch einige ›Taschenspielertricks‹ einfallen lassen, um die Schüler zum Unterschreiben des Dokuments zu bewegen. Sie begannen die Stunde mit einem völlig unverdächtigen Flyer, auf dem für die Teilnahme an einem Plakatwettbewerb des BUND geworben wurde. Das Schullogo und das Logo des BUND verliehen dem Flyer eine überzeugende Authentizität. Dazu kam ein kurzer Text von Goethe, in dem dieser an die Jugend appellierte, eine bessere Zukunft zu gestalten. Es winkte zudem als erster Preis des Wettbewerbs eine mehrtägige Studienreise nach Berlin. So warben die
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Studierenden vor den Schülern für die Teilnahme an diesem Wettbewerb. Herr Göttlich versprach zudem, dass für die Zeit der Erstellung des Wettbewerbsbeitrags die Teilnehmer von den Hausaufgaben befreit seien und zudem eine bessere mündliche Benotung erhalten würden, die Plakate könnten weiterhin als Klausurersatzleistung angerechnet werden. Die Schüler nahmen dies natürlich hocherfreut zur Kenntnis und waren sehr interessiert. Die Studierenden erklärten, dass sie zur Teilnahme am Wettbewerb eine Anti-Atomkraft-AG gründen und selber leiten würden, und teilten die oben bereits beschriebenen Anmeldeformulare aus. Ein Schüler fragte, ob er auch mitmachen könne, er sei kein deutscher Staatsbürger, dies werde aber auf dem Dokument ausdrücklich als Voraussetzung für die Teilnahme erwähnt. Die Studierenden verneinten dies mit dem Hinweis, dass der Wettbewerb und auch die Preisgelder schließlich vom deutschen Steuerzahler finanziert würden, da sei es doch klar, dass die Teilnahme ausschließlich deutschen Staatsbürgern vorbehalten sei. Ob Sie es glauben oder nicht, von 21 Schülern haben 18 die Anmeldung unterschrieben abgegeben! Ich projizierte anschließend kommentarlos ein Bild von dem Originaldokument der Beitrittserklärung zur Hitlerjugend an die Wand. Es war sehr spannend zu beobachten, wie die Schüler reagierten, die teilweise noch miteinander sprachen, wie sie die Plakate gestalten würden oder wie ›cool‹ das sei, keine Hausaufgaben zu bekommen und trotzdem extra Notenpunkte zu erhalten und dann vielleicht noch den ersten Preis zu gewinnen. Es dauerte einige Minuten, bis jeder die Sache durchschaut hatte. Die Studierenden entschuldigten sich hierfür, und ein recht offenes Gespräch über die Täuschung entwickelte sich. Es war eigentlich gar nicht notwendig, hier besondere Impulse zu setzen, diese gingen mehrheitlich von den Schülern aus. Natürlich hatten die Studierenden bei der Planung der Stunde dies so oder so ähnlich vorausgesehen und ließen eine recht lange Phase des offenen und weitestgehend von Schülerimpulsen gesteuerten Unterrichtsgesprächs zu. In diesem Rahmen gestanden die Studierenden, dass auch der vermeintliche Goethetext des ersten Flyers der Zeitschrift Der Stürmer entnommen war, dem Hausblatt der Hitlerjugend. Während dieser Phase reichten die Studierenden die laminierten Originaldokumente durch die Klasse. Diese wurden mit großem Interesse betrachtet und unterstrichen noch einmal die Tatsache, dass 18 Schüler vor wenigen Minuten die Beitrittserklärung zur Hitlerjugend unterschrieben hatten … erschreckend oder lehrreich? Diese Einführung dauerte in etwa zwischen 15 und 20 Minuten. Der Rest der Stunde verlief so, wie man eben solche Stunden hält: Funktion und Struktur der HJ im Rahmen des NS-Staates wurden anhand von Quellentexten erarbeitet und besprochen – das alles kennt der erfahrene Lehrer zur Genüge, aber er kann sich sicherlich auch sehr gut vorstellen, dass diese ›Standardstunde‹ beständig mit
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Rückverweisen auf die erschreckend gut gelungene Einführung garniert wurde, und zwar durch die Schüler und nicht durch die Studierenden! Ich denke, es wird den Leser nicht verwundern, dass die Schüler in dieser Stunde mit echtem Eifer bei der Sache waren und dass dieser Eifer durchaus auch noch auf die folgenden Stunden ausstrahlte. Der grundlegende didaktische Ansatz ist dabei ja eigentlich ein alter Hut. Bücher wie Die Welle oder vergleichbar angelegte Experimente verdeutlichen immer wieder die Tatsache, dass unter bestimmten Bedingungen auch Menschen der heutigen Gesellschaft relativ schnell wieder in längst überwunden geglaubte Handlungsmuster verfallen. Wir haben mit dieser Stunde also eigentlich nicht das Rad neu erfunden, aber doch immerhin das Medium Zeitung genutzt, um unsere eigene Version von Die Welle zu gestalten und erleben zu müssen, wie erschreckend gut dies doch funktioniert hat. Natürlich wäre diese Stunde auch ohne die originalen Dokumente problemlos möglich gewesen, aber indem sie herumgereicht wurden, vertiefte sich der Eindruck doch erheblich – es ist etwas anderes, ob man ein Bild der Beitrittserklärung zur HJ ansieht oder ob man das originale Dokument in den Händen hält. Gerade im Rahmen dieser sicherlich grenzwertigen, aber meiner Überzeugung nach absolut gelungenen Einführung waren die Dokumente der ›letzte Kick‹, um die Gegenwart der Vergangenheit erschreckend überzeugend zu belegen. Der Leser mag mir zum Abschluss die folgende Frage erlauben: Wenn diese Stunde auch ohne die originalen Dokumente wahrscheinlich immer noch gut bis sehr gut funktionieren würde, warum findet sie sich dann nicht in irgendeinem Schulbuch wieder? Man würde den Autoren bzw. Herausgebern von Geschichtsbüchern die Fantasie und das Engagement einer kleinen Gruppe von Studierenden des fachdidaktischen Seminars im Fachbereich Geschichte der Justus-Liebig-Universität in Gießen wünschen. Leider ist das wohl zu viel der Erwartung. Andererseits sei verständnisvoll angemerkt, dass es bekanntlich ja nur einen geben kann … nur einen Koffer … voller Altpapier.
Sven Oleschko
Einsatz von historischen Zeitungen in sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppen
Historische Zeitungen und deren Einsatz im Geschichtsunterricht können in einer sprachlich divers zusammengesetzten Lerngruppe die Auseinandersetzung mit domänenspezifischen Sprachstrukturen und den Aufbau von Narrativität fördern. Denn durch die möglichen sprachlichen Herausforderungen, die sich durch eine diachrone Beschäftigung ergeben können, erwachsen auch Potenziale, die die sprachlichen Strukturen des eigenen Faches deutlicher erkennen lassen. Für eine Thematisierung bieten sich darüber hinaus nicht nur Textkorpora an, sondern auch visuelle Darstellungen. Die Kombination aus beidem gilt auch für historische Zeitungen, sodass sie hier sowohl als Text- als auch als Bildquelle genutzt werden können. Welche Bedeutung der Narrativität und der (Fach-)Sprache in der Auseinandersetzung mit historischen Zeitungen im sprachlich-inklusiven Geschichtsunterricht zukommen kann, wird nachfolgend genauer ausgearbeitet.
1.
Zur Bedeutung der Sprache beim Einsatz von historischen Zeitungen im Geschichtsunterricht
Um historische Zeitungen als Quellen im Geschichtsunterricht zu nutzen, eignet sich eine Reihe von ehemals veröffentlichten Periodika. Für das Verständnis von Zeitungen als Textquelle sei auf die Definition von Pandel1 verwiesen, der als Charakteristika die Neuwertigkeit und Gegenwartsbezogenheit (Aktualität), die grundsätzliche Zugänglichkeit (Publizität), die grundsätzliche Offenheit gegenüber allen Lebensbereichen (Universalität) und das regelmäßige Erscheinen (Periodizität) anführt. Dabei gibt es nicht einen fest umschriebenen Bereich, den die Zeitung zum Gegenstand haben muss, sondern sie ist als aktuelle Mo-
1 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2006, hier S. 52.
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mentaufnahme einer Vielzahl von Lebensbereichen zu verstehen.2 Daher können sowohl die historische Tagespresse als auch auf spezielle Adressatenkreise abzielende Organe in den Blick der Auseinandersetzung im schulischen Geschichtsunterricht treten. Dabei ist aber schon darauf hinzuweisen, dass sich bestimmte Quellen, die unter Zeitungen zusammengefasst sein können, in ihrer Art unterscheiden und damit für eine Deutung im Geschichtsunterricht eine nicht unerhebliche Relevanz erhalten. Die Unterscheidung von Textquellen ist zudem für Schülerinnen und Schüler nicht einfach, da sie im Schulbuch in der Regel in der gleichen Form erscheinen.3 Für den Umgang mit Textquellen schlägt Sauer vor, Zusatzinformationen zum Verfasser und zur Entstehung des Textes bereitzustellen, da sonst keine adäquate Quelleninterpretation möglich sei. Darüber hinaus seien Erfahrungen und Kenntnisse erforderlich, um einen Text selbstständig bearbeiten zu können.4 Diese Erfahrungen und Kenntnisse liegen vornehmlich im Bereich der Rezeption von (historischen) Tageszeitungen und– da schulisch verortet – der Produktion von Erkenntnissen, die im Unterricht mitgeteilt werden können. Aufgrund dieser Einsicht wird es unmittelbar notwendig, den Blick auf die verwendete und zu verwendende Sprache im Geschichtsunterricht zu richten. Denn bei der diachronen Beschäftigung mit historischen Zeitungen werden unterschiedliche Sprachregister vom Lernenden gefordert: Zum einen müssen sie die Varietät einer älteren Sprachstufe der Quelle adäquat verstehen können, um ein mentales Modell über den dargestellten Inhalt aufzubauen, zum anderen benötigen sie eine hinreichende bildungssprachliche Fähigkeit, um die gewonnenen Erkenntnisse (nach der Rezeption des Textes) selbst zu versprachlichen und für andere darstellbar zu machen (siehe Modell). Nach diesem Verständnis wird deutlich, dass die Lernenden unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten besitzen müssen, damit ein zielführender Einsatz von historischen Zeitungen im Geschichtsunterricht möglich wird. Die Bedeutung der Sprache für das historische Lernen ist erst in Ansätzen theoretisch und empirisch erforscht. So lassen sich hier noch Entwicklungsfelder benennen, die eine Reihe von Forschungsdesideraten besitzen, welche in den nächsten Jahren eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren sollten. Schrader5 hat beispielweise nach der Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern folgende Einsicht formuliert: »Wenn Sinnbildung über Zeiterfahrung historisches Lernen ist, wenn Sinn über den Modus der Erzählung der histori2 Vgl. Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 2006, S. 188. 3 Vgl. ebd., S. 187. 4 Vgl. ebd., S. 190. 5 Viola Schrader : Geschichte als narrative Konstruktion. Eine funktional-linguistische Analyse von Darstellungstexten in Geschichtsschulbüchern, Münster 2013, S. 95.
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Abb. 1: Zur Bedeutung der Sprache beim Einsatz von historischen Zeitungen im Geschichtsunterricht (eigene Darstellung)
schen Erfahrung gebildet wird, wenn die Sinnbildung in den Darstellungstexten über eine dichte, abstrakte und alltagsferne Struktur und Sprache produziert wird, dann verlangt dies Rezipienten, die diese Struktur dekodieren können bzw. dazu befähigt werden. Andernfalls bleibt die Bedeutung hinter der Sprache verborgen, was historisches Lernen per se ausschließt«. Geschichte ist im Unterricht über Sprache vergegenwärtigt.6 Dadurch wird historisches Verstehen und Lernen immer auch zu einer sprachlichen Leistung.7 Diese Grundüberzeugung besitzt für historische Lehr-Lern-Prozesse eine breite Implikation: Es ist nicht nur die kognitive Dimension des historischen Lernens genauer zu untersuchen, sondern auch die verlangte sprachliche Leistung. Historisches Lernen kann in der Schule bei Lernenden nur sprachlich markiert erkannt und somit bewertet werden. Hierzu ist eine ausreichende Kenntnis der sprachlichen Fähigkeiten der Lernenden erforderlich (Diagnosekompetenz), um bestimmen zu können, welche Kompetenzen sie im Umgang mit Quellen und Darstellungen erwerben sollen. Damit wird aber eine stärkere empirische Untersuchung der Sprachfähigkeit von Lernenden notwendig und weniger die normative Setzung von Kompetenzzielen, die häufig von den in der Unter6 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Sprache, in: Ulrich Mayer/Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider/Bernd Schönemann (Hrsg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach 2009, S. 181–182, hier S. 181; Martina Langer Plän/Helmut Beilner: Zum Problem historischer Begriffsbildung, in: Hilke Günther-Arndt/Michael Sauer (Hrsg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen, Berlin 2006, S. 215–250, hier S. 215. 7 Vgl. Günther-Arndt, Sprache, hier S. 181; Hilke Günther-Arndt: Basiskompetenz Lesen – Lernen aus Fachtexten am Beispiel des Geschichtsunterrichts, in: Hanna Kiper/Ulrich Kaltmann (Hrsg.): PISA 2000 als Herausforderung. Perspektiven für Lehren und Lernen, Baltmannsweiler 2003, S. 139–155.
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richtsrealität erbrachten Leistungen abweichen. Lange betont, dass »die Lernergebnisse der Schüler mit einer wissenschaftsförmigen, eher unter dem Gesichtspunkt von fachwissenschaftlichen Fragestellungen und Vorstellungen erstellten Experten-Interpretation« gemessen werden »und daher von ihrer Anlage zwangsläufig defizitorientiert sind«.8
2.
Narrativität und Sprachfähigkeit im Kontext des Einsatzes von historischen Zeitungen
Barricelli fasst unter dem Begriff ›Narrativität‹ ein historisches Wissen in Form einer Erzählung. Dieses zeichne sich durch ein organisierendes Prinzip historischer Aussagen aus, womit sie zum spezifischen Strukturmerkmal von Geschichte würden und damit Ausdrucksgestalt der im Geschichtsunterricht verhandelten Themen, Phänomene und Kategorien seien.9 Der Aufbau einer narrativen Kompetenz beschreibt die Fähigkeit, einen synthetischen Umgang mit Vergangenheit temporalisieren und perspektivieren zu können.10 Demnach führt nach Gautschi das historische Lernen über das Sachwissen hinaus und vermittelt den Lernenden elementare Kompetenzen, die es ihnen wiederum ermöglichen, sich eigenständig mit Vergangenem auseinanderzusetzen.11 Dieser Einsicht folgend, bedeutet dies auch, dass die Lernenden lernen können, sich mit der sprachlichen Gebundenheit von Geschichte selbstständig und produktiv zu befassen. Dazu sind Quellen- und Darstellungstexte beispielsweise in Schulbüchern nicht zu vereinfachen, wie Meyer-Hamme12 es vorschlägt, sondern vielmehr Strategien zu entwickeln, die es erlauben, für die Lernenden eine Unterstützung aufzubauen, welche es ihnen wiederum ermöglichen, sich zunehmend selbstständiger mit Geschichte auseinanderzusetzen. Denn diese Einsicht baut auf der Überzeugung auf, dass die Lernenden in die Lage versetzt werden müssen, sich produktiv und selbstständig mit Geschichte zu beschäftigen, und dass sie im schulischen Geschichtsunterricht ausreichende Strategien und 8 Kristina Lange: Historisches Bildverstehen oder Wie lernen Schüler mit Bildquellen? Ein Beitrag zur geschichtsdidaktischen Lehr-Lern-Forschung, Berlin 2011, S. 264. 9 Michele Barricelli: Narrativität, in: Mayer/Pandel/Schneider/Schönemann (Hrsg.), Wörterbuch, S. 149–150, hier S. 149. 10 Peter Gautschi: Kompetenzen von Lernenden. Didaktische Hinweise, Zürich 2006, S. 1–13, hier S. 7. 11 Vgl. Gautschi, Kompetenzen, S. 5. 12 Johannes Meyer-Hamme: »Man muss so viel lesen. […] Nimmt so viel Zeit in Anspruch und ist nicht so wichtig.« Ergebnisse einer qualitativen und quantitativen Befragung zum Schulbuchverständnis (2002), in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung, Münster 2006 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, Bd. 16), S. 89–104, hier S. 102.
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Werkzeuge erworben haben müssen, um dieses Ziel erreichen zu können. Bei vereinfachten Texten und einem defensiven Ansatz, also bei einer Reduzierung des Anspruchsniveaus, werden Lernende nicht in die Lage versetzt, sich zukünftig selbstständig mit Geschichte auseinanderzusetzen, sondern nur, mit den Lernarrangements zurechtzukommen, die vorab jemand für sie entwickelt hat. Hier verliert ein solch gestalteter Unterricht aber die Zielsetzung des schulischen historischen Lernens.
3.
Koinzidenz von Sprache und Geschichte
Da Texte – so auch Zeitungsartikel – im Geschichtsunterricht immer eine spezifisch narrative Struktur aufweisen, sind sie auch an bestimmte Modelle und Schemata der Wahrnehmung und Deutung gebunden.13 Für den schulischen Geschichtsunterricht ergibt sich aus dieser Feststellung ein Bias, der vor allem im Bereich von Kognition und Sprache verortet scheint. Denn da Geschichte auf der Basis eigener Erfahrungen und Sichtweisen gedeutet wird14, gibt es eine erfahrungsbasierte Asymmetrie im schulischen Geschichtsunterricht: Nicht nur im Bereich des Sachwissens ist den Lernenden weniger bekannt als den Lehrenden, sondern auch ihre sprachlichen Fähigkeiten sind anders entwickelt. Die Lernenden besitzen für das schulische historische Lernen gerade im sprachlichen Bereich zahlreiche Entwicklungsfelder, da ihre alltagssprachliche Fähigkeit kaum hilft, sich die zunehmend ausdifferenzierenden Lerngegenstände zu erschließen, sondern sie benötigen hierfür eine ausreichende Fach- und Bildungssprache. Daher erscheint es besonders bedeutsam, dass die Lernenden zum Verstehen- und Erklärenlernen hingeführt werden.15 Dies impliziert – nach den bisherigen Ausführungen –, dass die Lernenden hier auch die narrative Struktur, das sprachlich Bedeutsame, kennenlernen und diese nicht ausschließlich implizit erwerben müssen.
13 Vgl. Barricelli, Narrativität, S. 150. 14 Vgl. Sebastian Barsch/Myrle Dziak-Mahler : Problemorientierung inklusive – Historisches Lernen im inklusiven Geschichtsunterricht, in: Bettina Arnheim/Myrle Dziak-Mahler (Hrsg.): LehrerInnenbildung gestalten. Fachdidaktik inklusiv, Münster 2014, S. 119–132, hier S. 120. 15 Vgl. Ulrich Mayer: Verstehen/Erklären, in: Mayer/Pandel/Schneider/Schönemann (Hrsg.), Wörterbuch, hier S. 195.
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4.
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Historische Zeitungen zum expliziten Aufbau narrativer Kompetenz nutzen
Mit historischen Zeitungen scheint es theoretisch möglich, Lernenden eine Lernumgebung zu schaffen, indem das Verstehen- und Erklärenlernen zum fachlichen und sprachlichen Lernanlass genutzt wird. Damit ein solcher Mehrwert erreicht wird, ist nicht nur eine Sachanalyse hinsichtlich der fachwissenschaftlichen Bedeutung eines Lerngegenstandes zu leisten, sondern auch eine sprachliche Analyse, die die Passung zur Lerngruppe und die zu erreichenden Lernziele genauer erfassbar werden lässt. Nach Barsch und DziakMahler soll historisches Lernen quellenorientiertes Lernen sein. Das heißt, historische Erzählungen anderer sollten kritisch reflektiert werden, die Lernenden sollten lernen, Vergangenheit zu rekonstruieren, und sie sollten eigene Erzählungen kriteriengeleitet in ein fachliches Gesamtkonzept einbetten können.16 Dieser Vorschlag ergibt sich bei den Autoren aus der Einsicht, dass Quellen immer mit Barrieren behaftet seien und die Überwindung eine Herausforderung für den Geschichtsunterricht darstelle. Dabei erscheinen vor allem die sprachlichen Barrieren als Verstehenshürden, die eine andere Planung von Geschichtsunterricht als bisher verlangt. Der Lerngegenstand und die unterrichtliche Progression sollte wesentlich stärker vom Sprachlichen her strukturiert und profiliert werden. Dieser Vorschlag ist dabei keineswegs neu, sondern findet sich schon in einer Arbeit der pädagogischen Psychologie aus dem Jahr 1954.17 Dass es an einem Diskurs zur Heterogenität im Geschichtsunterricht18 fehlt und der Diskurs zur Bedeutung der Sprache für das historische Lernen erst in den Anfängen begriffen ist, kann die bisher zurückhaltende systematische Beschäftigung mit der sprachlichen Dimension erklären. Dabei zeigen die wenigen empirischen Arbeiten, dass die Lernenden mit der sprachlichen Struktur im historischen Lernprozess vor Herausforderungen stehen.19 16 Vgl. Barsch/Dziak-Mahler, Problemorientierung, S. 121. 17 Vgl. Günter Clauss: Zur sprachlichen Struktur des Unterrichts. Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 1954, S. 361–368. 18 Vgl. Christian Heuer : Für eine neue Aufgabenkultur – Alternative für historisches Lehren und Lernen an Hauptschulen, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9 (2010), S. 79–97, hier S. 85; Simone Lässig: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext, in: Eckhardt Fuchs/Joachim Kahlert/Uwe Sandfuchs (Hrsg.): Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht, Bad Heilbrunn: 2010, S. 199–218. 19 Vgl. Bernd Schönemann/Holger Thünemann/Meik Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Zugleich ein Beitrag zur Debatte über Kompetenzen und Standards im Fach Geschichte, Münster 2011; Sven Oleschko: Herausforderungen einer domänenspezifischen Sprachdiagnostik. Eine empirische Überprüfung am Beispiel einer wissensbasierten Beschreibung im Kontext historischen Lernens, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2015 (under review).
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Zwei ausgewählte Zeitschriften, die nicht im eigentlichen Sinne zur klassische Tagespresse zählen, da sie nicht das Kriterium der Aktualität erfüllen, aber doch im weiten Sinne, da die Kriterien Publizität, Universalität und Periodizität gegeben sind, sollen hier als historische Zeitungen gewertet werden, mit denen ein integrativer Ansatz zum fachlichen und sprachlichen Lernen möglich wird (wenn der Einsatz im Unterricht stärker über das Sprachliche strukturiert wird). Einmal bietet sich die Samlung merckwürdiger Medaillen20 an, da sie »wöchentlich ein curieuses Gepräg, meistens von modernen Medaillen, ausgesuchet, und nicht nur fleisig in Kupfer vorgestellet, sondern auch durch eine historische Erläuterung hinlänglich erkläret«21 hat. Jede wöchentliche Ausgabe ist immer gleich aufgebaut: In einer historischen Erzählung (Narration) ist der in der Zeitschrift thematisierte historische Kontext erklärt und eine ausgewählte Medaille beschrieben (siehe exemplarische Darstellung in Abbildung 2). Dieser sprachliche Aufbau (Erzählung durch Beschreibung und Erklärung) kann als grundlegend für Narrationen im Geschichtsunterricht gelten. Denn die beiden Sprachhandlungen ›Beschreiben‹ und ›Erklären‹ werden von den Lernenden über operatoreneingeleitete Aufgabenstellungen am häufigsten in der Sekundarstufe I verlangt.22 Damit sind die Lernergebnisse, also die Denkwelten der Lernenden – so Günther-Arndt – nur als Sprachwelten zugänglich.23 Denn jedes Lernergebnis wird nur sprachlich gebunden für die Lehrenden sichtbar. Hierdurch ergibt sich die Einsicht, dass der Einsatz von historischen Zeitschriften ebenfalls nur über die Sprachwelt zugänglich ist. Dabei treten allerdings für Lernende unterschiedliche Herausforderungen auf: Zum einen sind sie in der Regel nicht nur mit der älteren Sprachstufe der Textquelle überfordert, sondern schon die Rezeption des Textes gelingt nicht, da sie in Fraktur verfasst ist. Damit müsste vor dem Einsatz in einer Lerngruppe der Text transkribiert werden. Anschließend ist für den unterrichtlichen Einsatz zu überlegen, welches Lernziel mit dem Einsatz erreicht werden soll: Hierzu zählt sowohl die Überlegung, welches Fachwissen die Lernenden benötigen, um den Textinhalt ad20 Ein großer Teil der Ausgaben ist digitalisiert und über die Universitätsbibliothek Heidelberg kostenlos zugänglich: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/medaillen (03. 03. 2016). 21 Sammlung merckwürdiger Medaillen, 2. Jahr, 1. Woche 1738. 22 Bei einer Auszählung aus zufällig ausgewählten Schulgeschichtsbüchern für die Sekundarstufe I und II haben Altun und Günther gezeigt, dass der Operator ›Beschreibe‹ am häufigsten in den untersuchten Büchern in Aufgabenstellungen genutzt wird. Vgl. Tülay Altun/ Katrin Günther : Operatoren am Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II als Vorbereitung auf wissenschaftspropädeutisches Arbeiten in der Sekundarstufe II? Eine Auszählung von Aufgabenstellungen in 10 Schulbüchern der Sekundarstufen I und II, online unter : https://www.uni-due.de/imperia/md/content/prodaz/altun_g%C3 %BCnther_opera toren.pdf (03. 03. 2016). 23 Vgl. Hilke Günther-Arndt: Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik, in: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache, Münster 201, S. 17–47, hier S. 45.
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Abb. 2: Sammlung merkwürdiger Medaillen, 18. Woche, 1739
äquat erfassen zu können, als auch die, welche Unterstützung sie beim Lesen erhalten müssen. Ein ausreichendes Textverständnis kann nur aufgebaut werden, wenn die Lernenden einen hinreichenden Wissensbestand besitzen, der es ihnen ermöglicht, die neu gewonnenen Erkenntnisse in bestehende Wissensstrukturen zu integrieren. Ein so gewonnenes mentales Modell kann dann auch von Lernenden versprachlicht werden. Fehlt den Lernenden das fachspezifische Wissen bzw. sind die Informationen kaum rückgebunden an vorhandene Wissensbestände, kann eine Versprachlichung des Gelesenen in der Regel nicht gelingen. Daher resultieren Herausforderungen bei einer Textwiedergabe in der Regel immer mit dem sprachlich gebundenen Wissen – denn Lernende können nur das wiedergeben, wozu sie einen spezifischen Wissensbestand (einschließlich Begriffen)24 besitzen. Eine Wiedergabe von Nicht-Verstandenem 24 Vgl. beispielsweise für die Bedeutung des sprachlich etablierten Wissens bei Beschreibungen Helmuth Feilke: Beschreiben, erklären, argumentieren – Überlegungen zu einem pragma-
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oder neuen Wissensbeständen, zu denen das sprachlich gebundene Wissen fehlt, ist nicht möglich. Daher muss dem Einsatz von Textquellen im aktuellen oder vorherigen Unterrichtsvorhaben eine Diagnose der fachsprachlichen Kompetenz der Lernenden vorausgehen, wenn ein Geschichtsunterricht gestaltet werden soll, der allen Lernenden einen Wissensaufbau ermöglichen will. Die gleiche Einsicht ergibt sich, wenn statt einer Text- eine Bildquelle eingesetzt wird. Ein weiteres Wochenblatt, das für den Unterricht zahlreiche Bildquellen bereithält, ist Kladderadatsch.25 Die Vielzahl an Karikaturen bietet sich an, um mit Lernenden visuelle Quellen als Lerngegenstand zu nutzen. Auch hier zeigt sich, dass ein historisches Lernen nur möglich wird, wenn die Lernenden ihre Sprachfähigkeit weiterentwickeln können und der Geschichtsunterricht hierzu ausreichend Lerngelegenheiten zur Verfügung stellt. Denn im Gegensatz zu Textquellen sind die Bildquellen in der Regel bis auf Bildtitel und Beschriftungen im Bild ohne verbale Darstellung markiert. Prozesse der Bildwahrnehmung und Verarbeitung können als interne mentale Prozesse aufgefasst werden, wobei ein Verständigen über diese nur in Form von Sprache möglich wird. Hier tritt aber die zusätzliche Herausforderung auf, dass die Lernenden nicht nur die Wissensbestände (wie bei Textquellen) benötigen, um das Bild adäquat rezipieren zu können, sondern noch stärker auf ihre eigene Sprache angewiesen sind, da das Bild selbst kaum sprachliche Mittel bereithält. Damit muss jeder durch das Bild gewonnene Wissensbestand bei den Lernenden bereits sprachlich gebunden sein, damit sie sich dazu äußern können. Hierzu zählen aber nicht nur sprachliche Mittel, die direkt fachliche Wissensbestände betreffen, sondern auch solche, die es den Lernenden ermöglichen, sich zu wahrgenommenen und verarbeiteten Eindrücken zu positionieren. Das Lesen von Bildern und der anschließende Austausch darüber verlangt eine Lernumgebung, in der die Lernenden in die fachspezifischen Auseinandersetzungsweisen hineinwachsen können. Denn die alltägliche Bildwahrnehmung ist eine andere als die schulisch verlangte und damit als weiterer Lernanlass im Geschichtsunterricht zu beurteilen. Bernhardt arbeitet heraus, dass die »Bildlese«-Gruppen im schulischen Geschichtsunterricht heterogen seien, wobei die Lehrenden keine ausreichenden Strategien besäßen, um mit dieser Situation umzugehen.26 Bei beiden ausgewählten Zeitschriften muss das Lehr-Lern-Arrangement vom Sprachlichen her strukturiert werden, da den Lernenden ansonsten eine tischen Kontinuum, in: Peter Klotz/Christine Lubkoll (Hrsg.): Beschreibend wahrnehmen –wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse, Freiburg i. Br. 2005, S. 45–60, hier S. 51ff. 25 Auch dieses Wochenblatt ist über die Universitätsbibliothek Heidelberg kostenlos digital bereitgestellt: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla (03. 03. 2016). 26 Vgl. Markus Bernhardt: Vom ersten auf den zweiten Blick. Eine empirische Untersuchung zur Bildwahrnehmung von Lernenden, in: GWU 58 (2007), H. 7/8, S. 417–432, hier S. 432.
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Auseinandersetzung mit Geschichte verwehrt bleibt. Schrader hat die »dichte, abstrakte und alltagsferne Struktur und Sprache«27 in Darstellungstexten als Herausforderung für das Verstehen bei Lernenden benannt: Abstraktion, Dichte und Alltagsferne stellen auch beim Einsatz historischer Zeitungen besondere Hürden für Lernende dar. Denn gerade diese Trias ist in der Regel sprachlich gebunden, wodurch ein historisches Lernen erschwert werden kann. Schönemann et al.28 interpretieren Verstöße gegen die historische Fachsprache als wahrscheinlichen »Ausdruck historischer Unkenntnis«, wodurch fehlerhafte Sachurteile durch die Lernenden getroffen werden.
5.
Methodische Überlegungen für einen sprachbildenden Einsatz historischer Zeitungen
Beim Einsatz historischer Zeitungen ist die Thematisierung von neuen oder weiteren Texterschließungsstrategien sinnvoll, da nur so den Lernenden eine Autonomie im Umgang mit solchen Quellentexten ermöglicht werden kann. Denn damit das Sprechen oder Schreiben über historische Zeitungen in einer Lerngruppe gelingen kann, muss den Lernenden der Zugang zum Lernmedium (Quelle) ermöglicht werden. Hierzu bietet es sich an, zunächst einmal die Lernenden bei der Rezeption der Textquelle zu unterstützen. Eine Möglichkeit bieten hier Texterschließungsstrategien,29 die im Unterricht gemeinsam mit den Lernenden in ihrer Funktion thematisiert werden sollten, damit diese lernen können, sich selbstständig mit einem herausfordernden Text auseinanderzusetzen: – »Überschrift des Textes beachten Die Textüberschrift ermöglicht die Aktivierung von Vorwissen und weist auf den Textinhalt hin. – die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte lenken Gibt die Aufgabenstellung Hinweise, worauf im Text zu achten ist? Welche Begriffe wurden durch die Aufgabe oder die Lehrkraft benannt, die wichtig sein könnten? – Lesefragen als Voraussetzung Lesefragen helfen, den Fokus auf wichtige Aspekte im Text zu lenken. Wenn
27 Vgl. Schrader, Geschichte. 28 Vgl. Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting: Abiturienten, S. 64. 29 Sven Oleschko: Schreiben als (Diagnose-)Instrument nutzen lernen. Wie mit differenzierten Lernaufgaben die Textrezeption und -produktion unterstützt und diagnostiziert werden kann, in: Unterricht Wirtschaft + Politik 2, 2014, S. 29–35, hier S. 35.
Historische Zeitungen in sprachlich diversen Lerngruppen
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die Aufgabe lautet ›Lies den Text.‹, fehlen Leitfragen. Es ist wichtig, dass Leseund Leitfragen vor dem Lesen des Textes bekannt sind. Assoziationen zulassen und notieren Gibt es Begriffe oder Textpassagen, mit denen du bereits Bekanntes verknüpfen kannst? Lesen und unterstreichen Wichtige Begriffe oder Passagen sollten markiert werden, damit Ankerpunkte visuell wahrnehmbar sind. Fachbegriffe und Fremdwörter nachschlagen Fremdwörter und Fachbegriffe können häufig ›Stolpersteine‹ sein. Unverständliche Begriffe sollten nachgeschlagen werden. Es muss aber nicht immer jeder Begriff beim ersten Lesen verstanden werden. den Text gliedern Jeder Text folgt einem bestimmten Aufbau, dieser kann mit Textgliederungspunkten (Einleitung, Argument, Zusammenfassung, Beispiel, Erläuterung …) bezeichnet werden, die neben dem Text geschrieben werden sollten. Zwischenüberschriften finden Mit eigenen Zwischenüberschriften (die an Textabschnitte geschrieben werden) wird der Text strukturiert und hilft einen Globaleindruck/-verstehen zu formulieren. während des Lesens zu Textstellen springen Oft ist es sinnvoll, während des Lesens vor- oder zurückzuspringen. Ist der vorherige Abschnitt verstanden? Wenn nicht: zurück zum vorherigen Abschnitt springen. Ist der Einschub wichtig, um die zentrale Information zu gewinnen? Wenn nicht: überspringen. Einschübe erkennen Einschübe, häufig in Form von Nebensätzen oder Informationen in Klammern, helfen einen Kontext herzustellen, es kann aber vorkommen, dass dieser bereits bekannt und die Einschübe damit für den Leser weniger wichtig sind. mehrmaliges Lesen Textinhalte sind beim ersten Lesen meistens nur oberflächlich verstanden. Für ein vertieftes Textverständnis sollte der Text ein zweites Mal gelesen werden.«
Diese Strategien sind nicht so zu verstehen, dass sie alle beim Lesen eines Textes eingesetzt werden müssen, sondern sie stellen vielmehr eine Auswahl an möglichen Texterschließungsstrategien dar. Im unterrichtlichen Einsatz geht es darum, mit den Lernenden solche Strategien bewusst zu thematisieren, um ihnen so eine zunehmende Autonomie im Umgang mit (Quellen-)Texten zu ermöglichen. Gerade das Erschließen von Textquellen älterer Sprachstufen kann
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Sven Oleschko
besondere Herausforderungen bereiten, da die Lernenden mit eingesetzten Sprachstrukturen kaum vertraut sind. Es erscheint daher sinnvoll, neben diesen zu vermittelnden Strategien den Lernenden auch weitere Unterstützungen anzubieten, indem ungewöhnliche Ausdrücke oder andere sprachliche Merkmale, die in der Vorbereitung des Unterrichts bereits auffällig sind, thematisiert werden. Das Benennen von Nicht-Verstandenem erscheint hingegen wenig geeignet, da es Lernenden nicht möglich ist, nicht erworbene Wissensbestände zu isolieren und sich hierzu zu äußern. Auch ein Gespräch auf der Metaebene über Nicht-Verstandenes wird kaum möglich, da den Lernenden hierzu das sprachlich gebundene Wissen fehlt. Hier kann in Anlehnung an Bernhardt, der ein fehlendes Strategiewissen von Lehrenden in heterogenen Bildlesegruppen benennt,30 auch vermutet werden, dass für den Umgang mit sprachlicher Diversität kaum systematische Strategien bei Lehrerinnen und Lehrern vorliegen. Dabei erscheint gerade die sprachliche Sensibilität für einen gelingenden Geschichtsunterricht bedeutsam, da sich historisches Lernen ohne sprachliches Lernen kaum ausreichend entwickeln kann.
6.
Historische Zeitungen in einem sprachlich-inklusiven Geschichtsunterricht
Sprache wird damit zur zentralen Schlüsselfunktion im Geschichtsunterricht. Ein historischer Lehr-Lern-Prozess kann ohne ausreichende Thematisierung des Sprachlichen nicht gelingen. Hierzu gehört zum einen die Kenntnis möglicher sprachlicher Herausforderungen des Lerngegenstandes, zum anderen die Kenntnis über die wirkliche Sprachfähigkeit der Lernenden. Die Lehrenden haben die Aufgabe, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln, indem sie die sprachliche Struktur ihres Unterrichts und damit mögliche Hürden vorab ausreichend antizipieren. Ein sprachlich-inklusiver Unterricht bedeutet, Mechanismen der Exklusion aufzuheben.31 Diese Mechanismen können unter anderem in den Erwartungshaltungen der Lehrenden gefunden werden. Für die Qualität der sprachlichen Strukturierung eines Unterrichts sind die persönlichkeitsspezifischen Einstellungen der Lehrenden relevant – hierauf weisen bereits Arbeiten aus den 1950er- und 1960er-Jahren hin.32 Die Arbeiten aus der pädago30 Vgl. Bernhardt, Blick. 31 Vgl. Barsch/Dziak-Mahler, Problemorientierung, S. 127. 32 Vgl. Clauss, Struktur; Rainer Tausch: Merkmalsbeziehungen und psychologische Vorgänge in der Sprachkommunikation des Unterrichts, in: Zeitschrift für experimentelle Psychologie 1962, S. 474–508, hier S. 488.
Historische Zeitungen in sprachlich diversen Lerngruppen
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gischen Psychologie zeigen, dass nicht die Klassengröße oder andere äußere Merkmale die sprachliche Struktur des Unterrichts bestimmen, sondern dass es die Einstellungen der Lehrenden sind. Wenn allen Lernenden eine Teilhabe am Geschichtsunterricht ermöglicht werden soll, ist der Umgang mit Diversität unerlässlich und ist den Normalitätsvorstellungen der Lehrenden mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Historische Zeitungen bieten als Bild- und Textquelle ein großes Potenzial für einen sprachlich-inklusiven Geschichtsunterricht. Dazu bedarf es aber einer systematischen Theoriebildung und empirischen Unterrichtsforschung, die den Blick auf den Zusammenhang von fachlichem und sprachlichem Lernen und zum anderen auf den Umgang mit Diversität im Unterricht (und in der Forschung) richtet. Dazu zählt es, die sprachlichen Fähigkeiten für das historische Lernen stärker zu berücksichtigen und eigene Normalitätsvorstellungen (auch in der Forschung) zu reflektieren. Die Herausforderungen, denen Lernende im Geschichtsunterricht mit Lerngegenständen begegnen können, sind häufig im Bereich der sprachlichen Rezeption und Produktion zu finden, da Geschichte fast immer an Sprache rückgebunden ist.
Michele Barricelli
Die Reaktualisierung von Tageszeitungen zum Ersten Weltkrieg. Ein Versuch anhand eines Beispiels aus Belgien mit Lernhinweisen
1.
Statt einer Einleitung: ein Zeitungsfund
In der Berliner Zeitung vom 8./.9. November 2014 erschien zum Jubiläum »25 Jahre Mauerfall« eine dreiteilige Karikatur des bekannten Zeichners Heiko Sakurei. Mann und halbwüchsiger Sohn sitzen nebeneinander auf dem Sofa; der Blick des Älteren ist in die Ferne gerichtet, der Junge betrachtet ihn mit verhangenen Augen und hält im Übrigen ein Smartphone in seiner Hand. Der Vater hebt an: »Den Fall der Berliner Mauer habe ich glatt verschlafen, aber als ich dann die Morgenzeitung reinholte …« Er stockt und schielt in das ausdruckslose Gesicht des Sohnes. Im letzten Bild, dem Jungen zugewandt, fragt er leicht missmutig: »Was ist da jetzt unklar : ›Berliner Mauer‹ oder ›Morgenzeitung‹?« Der Junge schaut auf sein Smartphone, tippt weiter – und erwidert, ähnlich genervt: »Ist ja gut.«
2.
Tageszeitungen im Übergang in das Stadium der Geschichtlichkeit
Es kann wohl kein Zweifel mehr bestehen, dass heute die Tageszeitungen – wie Printmedien allgemein – dabei sind, die von ihnen seit rund zweihundert Jahren beanspruchte herausragende Bedeutung für die Verbreitung von Nachrichten, deren Bewertung und überhaupt die öffentliche Meinungsbildung im Sinne einer »Selbstbeobachtung«1 der Gesellschaft verlieren. Was Kino und Wochenschau oder das Fernsehen als Konkurrenten nicht geschafft haben, nämlich ein Massenmedium unter allen anderen als Erlebnisraum zu privilegieren, gelingt den verschiedenen digitalen Medien nun doch zunehmend. Nur mit statistischen Tricks können Tageszeitungen ihre seit Jahren andauernden Auflagen1 David Luginbühl: Printmedien, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2013, S. 165–184, hier S. 171.
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Michele Barricelli
verluste verschleiern, die selbst die größten und besonders angesehenen unter ihnen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Le Monde oder Corriere della Sera betreffen.2 Folglich werden die großen Debatten, selbst in autoritär geführten Staaten, nicht mehr rund um die Freiheit der gedruckten Presse, sondern um Internet-Zensur, digitalen Datenschutz und ›Netiquette‹ – darunter neu das ›Recht auf Vergessenwerden‹ – geführt. Sprecherrollen und Selbstermächtigung zum Kommentar gehen auf soziale Gruppen über, denen man zuvor lediglich die Positionen von Zuhörern und Empfängern zugestanden hätte. Dies alles kann nicht ohne Wirkung auf die Herstellung von Wissens- und Deutungshorizonten, Sinn und Bedeutung, Eigen- und Fremdbildern im Kontext der großen Selbstverständigungsdebatten unserer Zeit bleiben. Doch muss das die Geschichtsdidaktik interessieren? Mit dem langsamen Abtauchen in den Status eines historischen Mediums, das den Heutigen immer weniger aus persönlicher Anschauung vertraut ist, erreichen Tageszeitungen zunächst nichts anderes als Gleichwertigkeit mit anderen abgelebten Medien wie Tontafeln, Papyrusrollen, Urkunden auf Pergament, Bilderbögen oder Telegrammen. Diese gehören nach wie vor zu den im Geschichtsunterricht relevanten Quellen, denn in der Tat ist die Frage, welche Relevanz das Medium einer Überlieferung von Vergangenheit in der Jetztzeit noch besitzt, für das historische Lernen zunächst kaum von Interesse – Historiengemälde werden heute kaum mehr gefertigt, Frontbriefe zumindest in Europa nicht mehr verschickt, und selbst jene Zeit dürfte vorbei sein, da Menschen noch den Wert von Tagebüchern kannten. Und doch blüht die geschichtsdidaktische Erörterung gerade dieser ›neu entdeckten‹ Quellengattungen für das historische Lernen, scheinen sie manchmal sogar interessanter als abgenutzte Traditionsquellen, diplomatische Verträge oder politische Reden. Infolgedessen verfeinern sich beständig unsere theoretischen, hermeneutischen, psychologisch sensiblen Analysekategorien für eben diese Überlieferungen und wir beginnen sie im Unterricht zu lehren. Michael Sauer fasst die Passform jedes einzelnen Mediums mit seinen eigenen Erschließungsfragen unter dem Begriff der »Medien-Methoden-Kompetenz« zusammen3. Aber diese Abwiegelung des Problems durch Verweis auf die geschichtsdidaktische ›Normalisierung‹ ist in Bezug auf die Tageszeitung dann doch wohl nur die halbe Wahrheit. Denn lange Zeit schien uns der rauschende Blätterwald als etwas Besonderes. In ihm meinten wir zu finden, was uns nach den im Gefolge der Aufklärung beschleunigten Prozessen der Zivilisation lieb und teuer geworden war. Freie 2 Das gilt cum grano salis auch für die Online-Ausgaben. 3 Michael Sauer : Kompetenzen für den Geschichtsunterricht – ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer. In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 74/2006, S. 7–20.
Die Reaktualisierung von Tageszeitungen zum Ersten Weltkrieg
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Meinungsäußerung, kultivierte Debatte, der Diskurs kluger Köpfe einerseits; die Einhegung der Gewalt von Meinungsverschiedenheit und Kontroverse, die Portionierung der Aktualisierung auf tägliches4 (und eben nicht häufigeres) Erscheinen andererseits; schließlich auch die Delegierung des Informationsmonopols und von Meinungsführerschaft bei gleichzeitiger Selbstbeschneidung: 99 Prozent der Bevölkerung kommen selbst in einer freien Presse nicht oder nur ganz ausnahmsweise (nämlich in Leserbriefen, zuweilen bei Straßenumfragen) und ausschließlich gefiltert bzw. genehmigt zu Wort; selbst freie Journalisten wie unabhängige Redakteure unterliegen subtilen Sagehierarchien und Zensurmitteln. Doch was uns einst klug erschien, ist heute nicht länger mehrheitsfähig. Völlig unrealistisch ist jedenfalls die Hoffnung, nachwachsende Generationen in westlichen Gesellschaften noch einmal in dieses das freie Rederecht reglementierende Nachrichtensystem von Printmedien hineinsozialisieren zu wollen. Wir werden aus unseren Kindern keine Zeitungsleser mehr machen – und das hat seine Gründe (auch wenn es vorerst nicht heißt, dass Tageszeitungen sofort oder vollständig verschwinden werden). Informationsbeschaffung, -aneignung, -verarbeitung, -austausch finden heute überwiegend im World Wide Web sowie in den sozialen Medien statt und werden zukünftig weitere digitale Kanäle nutzen, die wir uns noch gar nicht ausmalen können. Dazu soll hier aber gar nichts weiter gesagt werden, denn das ist nicht Aufgabe der Geschichtsdidaktik. Diese interessiert viel eher, wie im Zuge dieses Umbruchs5 die Phase der (Selbst-)Historisierung der Tageszeitung vorangetrieben wird. Eine Geschichte des Pressewesens gibt es natürlich schon seit Langem, jedoch war diese bisher eine Erzählung der ungehinderten Weiterentwicklung, die jetzt allerdings abbricht und so überhaupt erst den erkennenden Blick aus der Distanz auf etwas Fremdwerdendes zulässt.6 Ein Ausdruck dafür ist, dass manche Blätter ihren Leserinnen und Lesern – in Buch- oder Heftform oder als Sonderausgaben oder Beilagen – Nachdrucke alter Ausgaben oder von Einzelseiten, Titelzeilen, Bildern liefern. Dies kann zu Jubiläen des Organs selbst, aber auch aus Anlass von Jahrestagen bedeutender historischer Ereignisse geschehen.7 Die
4 Dass heute noch Blätter mit zwei oder mehr Ausgaben pro Tag erscheinen, dürfte die absolute Ausnahme sein. 5 Übrigens eine fast nicht mehr verspürte Metapher aus der Setzerei (vgl. Zeilenumbruch). 6 Nicht ohne Grund gibt es, parallel dazu, bislang keine funktionierende Geschichte der Digitalität: Wir stecken viel zu sehr inmitten des Prozesses, um überhaupt reflektieren und historisch urteilen zu können. 7 Nicht gemeint ist hier also ein Projekt wie jenes der »Zeitungszeugen«, bei dem 2009 bis 2013 als Sammeleditionen thematisch gebündelte Ausschnitte jeweils mehrerer Zeitungen aus der NS-Zeit neu veröffentlicht und teilweise um einen Kommentar- und Analyseanhang ergänzt wurden. Vgl. aber die Beilage zum Heft Geschichte Lernen 124 »Zeitung« (ein vollständig
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Michele Barricelli
hundertste Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs stellte eine solche hervorgehobene Erinnerungsmarke dar, allerdings weniger in Deutschland als bei unseren näheren oder ferneren westlichen Nachbarn, namentlich in Frankreich und Großbritannien. Hier indessen soll eine Untersuchung anhand eines Beispiels aus Belgien folgen, einem Land, in dem, was historisch leicht zu begründen ist, das Weltkriegsgedächtnis in einer spezifischen Form der kleinen, okkupierten Nation noch intensiv ist, um sogar, so mag es scheinen, mit den Jahren immer frischer zu werden.8
3.
Der Erste Weltkrieg und seine populärhistorischen Medien
Zu sagen, einhundert Jahre nach seinem Beginn sei der Erste Weltkrieg wieder verstärkt in den öffentlichen Blick gerückt – in Deutschland nach Jahrzehnten versagter Aufmerksamkeit, in vielen anderen europäischen Staaten als Fortsetzung einer alten Tradition –, wäre untertrieben. Vielmehr war anlässlich des Jubiläums eine Explosion der erinnerungskulturellen Produktion zu verzeichnen: klassisch geschichtswissenschaftlich in Gesamtdarstellungen und Abhandlungen von Einzelfragen (Reiznamen: Christopher Clark, Gerd Krumeich und viele andere), fachdidaktisch in Form von geschichtskulturellen Analysen und Erzählungen in schülergerechter Sprache oder Überlegungen zu Unterricht und Projektarbeit9, populärhistorisch in erstaunlichen Bildbänden10, Museumskatalogen, Comics11 und vielem anderen mehr ; dazu treten Denkmäler,
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faksimiliertes Lokalblatt vom 05./06. 09. 1942 mit einer Meldung zum deutschen Angriff auf Stalingrad). Die benötigte Hintergrundnarration hat den Charakter von Handbuchwissen, weswegen die historischen Umstände hier nicht gesondert nachgewiesen werden. Eine gute, aktuelle und konzise Geschichte Belgiens gibt es in deutscher Sprache nicht. Das oft bemühte Selbstbeschreibungsmerkmal des ›kleinen Landes‹ gilt für 1914 natürlich nur unter Absehung vom afrikanischen Kolonialbesitz. Franz Hofmeier : Der Erste Weltkrieg. Für Kinder und Erwachsene, Schwalbach/Ts. 2013; Gerhard Henke-Bockschatz: Der Erste Weltkrieg. Eine kurze Geschichte, Stuttgart 2014; Bärbel Kuhn: Der Erste Weltkrieg im Geschichtsunterricht. Grenzen, Grenzüberschreitungen, Medialisierung von Grenzen, St. Ingbert 2014. Vgl. auch Michele Barricelli: Worte zur Zeit. Historische Sprache und narrative Sinnbildung im Geschichtsunterricht, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2015, S. 25–46. Vgl. etwa Peter Walther : Der Erste Weltkrieg in Farbe, Köln 2014. Wunderbar die leuchtend roten (»rouge garance«) Pluderhosen (»sarouel«) der französischen (Kolonial-)Truppen zu Beginn des Krieges. Vgl. zur geschichtsdidaktischen Verwendung eines prominenten Beispiels, nämlich des vielbändigen Werkes des Zeichners Jacques Tardi, Michele Barricelli: Szenen aus dem Großen Krieg. Interkulturelles narratives Lernen im bilingualen Geschichtsunterricht (unter besonderer Berücksichtigung des Mediums Comic), in: Eva Leitzke Ungerer/Christoph
Die Reaktualisierung von Tageszeitungen zum Ersten Weltkrieg
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Briefmarken, Gedenkreden.Während man in Deutschland den Ersten Weltkrieg aber im Jahr 2014, erleuchtet vom Schein eines Strohfeuers, sozusagen abarbeitete – und im Übrigen das offizielle Programm der Politik ziemlich sparsam bzw. pflichtschuldig blieb –, dauert das Centenaire in Belgien (wie auch in Großbritannien und Frankreich) volle vier Jahre.12 Ein spezifisches Medium der erinnerungskulturellen Vergegenwärtigung stellten diesmal jedoch, besonders im westeuropäischen Raum, Presserückschauen dar. Damit sei hier etwas anderes gemeint als populärwissenschaftliche Werke, die stark anhand von Ausrissen, Artikeln und Bildern aus ganz verschiedenen Periodika ihre Erzählung konstruieren,13 nämlich vielmehr die von noch existierenden Zeitungen in Eigenregie besorgten Veröffentlichungen, für welche die eigenen Archive durchforstet werden; aus dem Material können kommentierte fotografische Revuen ebenso entstehen wie Nachdrucke gesammelter früherer Ausgaben (bzw. nur der Titelseiten).14 Nun mag mit Michael Sauer gesprochen zutreffen, dass wir auf der Basis gerade von solchermaßen ›originalen Presserzeugnissen die »Informationslage und Wahrnehmungsperspektive damaliger Leser nachvollziehen« können, während »die Dinge […] im Fluss [sind] und wir einbezogen [werden] in den Meinungsaustausch der Zeitgenossen.«15 Doch zu einfach darf man es sich nicht machen. Denn erstens tun die Zeitungen mit den Neueditionen das genaue Gegenteil dessen, was zu ihrem Markenkern und Selbstverständnis gehört, nämlich unbedingt news zu verbreiten – die in der Regel gar nicht für den Langzeitgebrauch bestimmt sind. Faksimilierte Tageszeitungen, die sich meist kommentarlos dem Alten und Überlebten zuwenden, mögen große Authenti-
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Losfeld (Hrsg.): La Guerre de 1914–1918 en cours de francais langue 8trangHre et dans l’enseignement bilingue, Stuttgart (erscheint 2016). Man beachte die 2014 in Belgien herausgegebene, offizielle 2-Euro-Kursmünze mit der Abbildung von Mohnblumen und der Beschriftung »2014–18 The Great War Centenary« (auf Englisch!); dazu Michele Barricelli in: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/ 2–2014–22/jahre-des-gedenkens-momente-des-vergessens/. Vgl. auch die vielen lokalen und überregionalen Ausstellungen im Land (z. B. »Expo 14–18. C’est notre Histoire« in Brüssel (02/14–04/15) und »Liegeexpo14–18«, die angeblich weltweit größte Weltkriegsausstellung in Lüttich (08/14–05/15). In Deutschland dagegen ist kaum mehr mit weiteren Gedenkrunden (selbst nicht zum hundertsten Jahrestag der Schlacht von Verdun) zu rechnen, da man sich von nun an, wenn nicht auf das Luther-Jahr, auf die Revolution 1918/19 konzentriert. Vgl. z. B. das Online-Magazin GeschichtsPuls: Erster Weltkrieg: Der Kriegsbeginn in der Zeitung (I–III), http://geschichtspuls.de/art1336-erster-weltkrieg-der-kriegsbeginn-in-derpresse-1. Vgl. für Frankreich die zehnteilige Sonderserie (»Hors-S8rie«) von Le Monde: »14–18. Le Journal du Centenaire«, erschienen über die Jahre 2013 und 2014, für Großbritannien von der Tageszeitung Daily Mail: »The Great War. A Pictorial History«, Duncan Hill 2013, mit dem Untertitel »Rare and unseen photographs and facsimile reports of the First World War«. Michael Sauer : »Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen«. Zeitung als Quelle, in: Geschichte Lernen 124 (2008), S. 2–10, hier S. 5.
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Michele Barricelli
zität und unbedingte Nähe zum Geschehen suggerieren; die betriebene Sinnbildung ist jedoch in jedweder Hinsicht jetztzeitig. Operiert wird, zum Beispiel aus hundert Jahren Abstand, mit einer heutigen Richtung des Verstehens für etwas, das das Vorstellungsvermögen aller damals Beteiligten, welches ja nur auf vage in die Zukunft verlängerten bisherigen Erfahrungswerten beruhen konnte, vollständig überstieg. Oder einfacher : Wir lesen die Überschriften und wissen im Gegensatz zu den Zeitgenossen genau, was sie bedeuten und buchstäblich nach sich ziehen werden. Sinnbildung ist immer und unter allen Umständen eine Sache der Gegenwart; sie kann trotz aller möglicherweise sogar immersiver Empathie niemals mit dem Bewusstsein der historischen Subjekte in eins gesetzt werden. Die Aufbietung gerade von Zeitungsnachdrucken im Unterricht fordert daher besondere Behutsamkeit.
4.
Zeitungsnachdrucke und historisches Lernen: Das Beispiel der belgischen Dernière Heure vom Juli und August 1914
Verständlicherweise aber sollen im Folgenden trotz der genannten Vorbehalte die Vorzüge von faksimilierten Zeitungsseiten betont werden: Die Unmittelbarkeit der Überlieferung, die altertümliche Aura der Originale, das Atmosphärische des Schriftbildes, der Titelzeilen und Pressefotografien, die alltägliche Rahmung der Nachrichten durch Preisangaben, Vertriebshinweise, Abonnentenservice, Werbung lassen ein ganz eigenes, dicht gezeichnetes »Zeitbild«16 der Vergangenheit entstehen, das für ein Verständnis der historischen Zusammenhänge förderlich sein kann. Das herangezogene Beispiel entstammt einer Aktion der belgischen Tageszeitung La DerniHre Heure (»Die letzte Stunde« mit der Bedeutung von »Neueste Nachricht«, vollständig mit dem Zusatz »Les Sports«; Abk. DH17) mit Erscheinungsort Brüssel. Das Blatt, 1906 gegründet, ist bei einer Auflage von über 55.000 Stück eines der wichtigsten frankophonen Organe des Landes18 und vor allem im wallonischen Landesteil, besonders um Lüttich19, verbreitet. Rasch nach der Gründung erreichte es, vor allem durch die Umstellung auf das angelsächsische Tabloid-Format – andere für englische Medien typische Merkmale wie ein ausgedehnter Sportteil und eine regelmäßige Gesellschaftsberichter-
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Sauer, Zeitung als Quelle, S. 8. Vgl. www.dh.be und www.dhnet.de. Vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Derni%C3 %A8re_Heure/Les_Sports. Französisch LiHge, bis 1946, also auch im hier behandelten Zeitraum, Li8ge, mit Accent aigu statt, der Aussprache gemäß, Accent grave.
Die Reaktualisierung von Tageszeitungen zum Ersten Weltkrieg
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stattung traten früh hinzu –, die höchsten Auflagenzahlen.20 Am 4. August 2014, d. h. am hundertsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Belgien, brachte die DH in einer Beilage die faksimilierten Titelseiten von zehn Ausgaben aus dem Juli und August 1914 heraus (plus die Proklamation des Kriegszustandes vom 6. August 1914, die auf Häuserwänden ausgehängt wurde und unter anderem die Todesstrafe für Spionage androhte sowie alle deutschen Bürger aufforderte, Belgien zu verlassen). An eben dem Tag fanden in Lüttich, wo deutsche Truppen hundert Jahre zuvor ihre Aggression starteten, Gedenkfeiern statt, an denen viele Staats- und Regierungschefs aus den Gegenden der Erde, wo der Weltkrieg gewütet hatte, teilnahmen. Trotz der Anwesenheit und einer noblen Rede von Bundespräsident Joachim Gauck hat man hierzulande indessen wenig Notiz von dem eigentlich weltbewegenden Erinnerungsakt genommen. In der deutschen Tagespresse kamen kaum die Feierlichkeiten selbst und schon gar keine Reflexion darauf vor, welch immense Bedeutung das Kriegsgedenken in Belgien noch immer besitzt. Umgekehrt wunderte man sich in der belgischen Tagespresse über das anhaltende deutsche Desinteresse am Ersten Weltkrieg.21 Erzählt wurden im Umfeld des Jubiläums, gewiss aus belgischer Perspektive, noch einmal die Geschichten vom Schlieffen-Plan, von dem Eindringen der deutschen Truppen nach Ablauf des vom König der Belgier energisch zurückgewiesenen Ultimatums, dem die Angreifer konsternierenden Widerstand der abschätzig »Pralin8-Soldaten« bezeichneten Flamen und Wallonen im Allgemeinen, der Festung Lüttich im Besonderen (wie die Belgier wussten, war die Gegenwehr im Grunde zwecklos) und wie die hoffnungslos Unterlegenen dem Feind trotzdem kostbare Zeit während ihres Vormarschs raubten. Nicht fehlen durften die Hinweise auf die schon damals, also selbst in völkerrechtlich rudimentären Zeiten, als Verbrechen oder barbarische Grausamkeiten (englisch »atrocities«) gewerteten Gewaltausbrüche, insbesondere die Zerstörung der Altstadt von Löwen (25.08.), die Vernichtung der in der dortigen Universitätsbibliothek aufbewahrten Inkunabeln und Folianten sowie die blindwütige Erschießung von zivilen Geiseln und angeblich Widerständigen u. a. in Dinant (»Massaker von Dinant« 23.08.). Die Momentaufnahmen der wiederveröffentlichten Zeitungsseiten können die rasche Eskalation des Kriegsgeschehens in Belgien nicht erahnen lassen, allerorten stellte man sich ohnedies eher auf einen kurzen, ›ritterlichen‹ 20 In den herangezogenen Ausgaben von 1914 firmiert die DH als »Le plus grand journal belge, le mieux renseign8«. 21 Le Soir vom 05. 08. 2014, S. 6, konstatiert befremdet, dass in »Berlin, les c8lebrations officielles sont demeur8es minimalistes«, und wundert sich über die »discr8tion des c8r8monies officielles«, während zugleich über 200.000 Exemplare von Christopher Clarks Werk Die Schlafwandler, das die lange angenommene deutsche Verantwortlichkeit für die Auslösung des Krieges relativiert, verkauft worden seien.
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Schlagabtausch ein. Das gibt ihrem Wert für historisches Lernen einen besonderen Reiz. Doch die Erschließung und Interpretation der Artikel stoßen zunächst auf ganz praktische Schwierigkeiten. Erstens sind wir in diesem Fall mit einer fremdsprachigen Quelle konfrontiert; ist nicht an einen Einsatz im bilingualen Geschichtsunterricht gedacht, können nur einzelne übersetzte Abschnitte (z. B. Schlagzeilen und Bildunterschriften) tatsächlich für den Lernprozess verfügbar gemacht werden. Zweitens waren Zeitungstexte (»Textkörper«) in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts generell eng und in kleiner Schrift gesetzt, sodass bereits nur einzelne Titelblätter unendlich viel Lesestoff böten. Dazu kommt, drittens, dass die Originale oft gar nicht gut erhalten sind und sich selbst im technisch raffinierten Nachdruck noch schwerer lesen lassen; auch die Bilder – meist schon zum Erscheinungszeitpunkt verwaschene Fotografien – geben nach einem zusätzlichen Jahrhundert des Gilbs nicht mehr immer viel zu erkennen. Insofern erfordern die realen schulischen Umstände eine gezielte Auswahl: Das meiste wird man nur als Zusammenfassung mitteilen können, dazu werden ganz wenige Reproduktionen den Schülerinnen und Schülern tatsächlich an die Hand gegeben. So soll hier verfahren werden. Im Falle der DH lässt sich die gefährliche Zuspitzung der Juli-Krise von 1914 an den Titelseiten seit der zweiten Monatshälfte erkennen.22 Am 27. Juli wird gleichwohl ein Drittel der Seite für den belgischen Doppelsieg bei der Tour de France reserviert und findet sich sogar eine Bild-Nachricht über das erfolgreich bestandene Examen einer dänischen Prinzessin – während die Meldung »Der österreichisch-serbische Krieg scheint unausweichlich«23 trotz (oder wegen) einer merkwürdigen Illustration mit Fluss und Boot (Unterschrift: »Österreichische Verteidigungslinie auf der Donau«) kaum auffällt. Am 29. Juli heißt es sodann zum »österreichisch-serbischen Konflikt«: »Der Krieg ist erklärt« – während auf immer noch einem Drittel der Seite die Urteilsverkündung im seinerzeit ganz Frankreich in Aufregung versetzenden amourösen Pariser Skandalprozess um Henriette Caillaux (die Mörderin aus Eifersucht wurde freigesprochen) ausgebreitet wird. Am 2. August verschärft sich die Lage deutlich: »Der allgemeine Konfliktfall 22 Man lese vergleichend Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1942, und seine Schilderungen, wie sich die belgischen Seebäder im Verlauf der Juli-Krise, d. h. auf dem Höhepunkt der Sommersaison, erst nur langsam, dann aber doch ersichtlich leerten. Eine besondere Rolle spielten dabei die Zeitungsjungen, die am Strand die neuesten Extrablätter mit immer dramatischeren Worten ausriefen. Den Part dieser »newsies« übernehmen heute wohl die auf den TV-Infokanälen unablässig am Bildschirmrand durchlaufenden Bänder mit »breaking news« oder Signaltöne beim Eingang einer SMS und anderer Kurznachrichten. 23 »La guerre austro-serbe semble in8vitable«. Im Folgenden werden grundsätzlich Übersetzungen geboten und der französische Wortlaut nur wenn nötig dazugestellt. Alle Überschriften bestehen im Original aus Druckbuchstaben.
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steht bevor« (»[…] est imminent«) verkündet das Blatt, was in etwa Wilhelms II. gleichzeitigem (31. 07. 1914), freilich tautologischem Ausspruch des »Zustandes der drohenden Kriegsgefahr« entspricht. Wir erfahren, dass sich das belgische Volk in Gedanken (»Un peuple uni pour sa d8fense«) und mehr noch in der Tat, nämlich durch die Mobilmachung der regulären Armee und Einheiten von Reservisten, auf den Verteidigungsfall einstellt – offenbar wird dieser allgemein befürchtet, obwohl die Verhandlungen um die Unversehrtheit des Landes noch im Hintergrund laufen. Zu lesen ist von mehreren Truppenausmärschen, daneben stehen zwei Fotografien von belgischen Uniformierten beim Zeitunglesen (!) in der Kaserne und von mobilisierten Reservisten in Österreich, diese freilich in einem Biergarten sitzend. Der zugehörige Text beschreibt eine Art belgisches »Augusterlebnis«24 noch vor Kriegsausbruch: Während Mütter und Bräute weinen und Geschenke packen, stehen »die Ehemaligen, jene, die vor einem Jahrzehnt oder länger ihren Dienst beendet haben, vor einer unverhofften Wiederkehr : Die Fäuste mit Kraft geballt, kommt das Lächeln zurück auf die Lippen. Einige tragen bemerkenswerte Bärte […], andere die charakteristische blaue Kleidung der Minenarbeiter.25 Alle, trotz einer verständlichen Unruhe, haben ihren Auftrag vernommen und sehen einem ungewissen Ausgang mit vollkommener Würde entgegen. Ihr Auftreten (»attitude«) ist fest und ruhigen Blutes.« Schließlich findet sich auf der Seite noch ein Artikel mit der Meldung »Frankreich wird die belgische Neutralität achten« – dies ist zweifellos ein Hinweis darauf, dass man weiß, worum es in diesen Stunden eigentlich geht: dass das Deutsche Reich sich seinerseits anschickt, dies genau nicht zu tun. Am 3. August verkünden größere Lettern als üblich: »Allgemeine Feindseligkeiten (»hostilit8s«) haben begonnen«. Berichtet wird von den russischen Vorstößen auf deutsche Gebiete im Osten, von ersten Übergriffen auf französisches Gebiet; gezeigt werden Fotografien des »g8n8ralissime allemand« Moltke, überlegen lächelnd und mit Pickelhaube an der Seite von Kaiser Wilhelm II., darunter ein Porträt des heute kaum mehr bekannten russischen Kriegsministers General Soukhomlinoff. Zwar ist in der Schlagzeile die Rede von einem Durchmarsch der Deutschen in Luxemburg und ihrem Eindringen nach Frankreich – Ersteres sei jedoch nach Auskunft eines deutschen Intermediärs keine Feindseligkeit, sondern eine vorübergehende militärische Operation, wofür das Großherzogtum später vollständig entschädigt würde. Nun werden 24 Die tatsächliche Verbreitung dieses »Augusterlebnisses« ist heute stark umstritten. Es war wohl auf gewisse studentische und bürgerliche Kreise beschränkt. Vgl. dazu knapp https:// www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg/innenpolitik/august-erlebnis.html. Vgl. zur multiperspektivischen Verarbeitung im Comic: Michele Barricelli, Szenen. 25 Gemeint ist, dass die gedienten Männer nach ihrem Ausscheiden aus einer gleichmacherischen Armee wieder in die jeweiligen sozialen Milieus – der Bürgerlichen und Angestellten einerseits, der Arbeiter andererseits – zurückgekehrt waren.
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die Truppenstärken der Allianzen aufgerechnet, die Niederlande und Skandinavien finden Erwähnung als neutrale Staaten. Verräterisch ist die Unterschrift eines Bildes am rechten Rand: »Die Mobilisierung in Belgien. Der letzte Brief vor der Abreise«. Gezeigt werden Uniformierte, die, wie an Schultischen diszipliniert hintereinander platziert, Papier beschreiben. Links oben steht dazu in eigener Sache zu lesen, dass die Mobilisierung die Redaktion guter Mitarbeiter beraube und aufgrund der Rationierung des Papiers für einige Tage das Journal nur mit vier Seiten erscheinen könne; man hoffe indes, diese Einschränkungen dauerten nur kurz. Angefügt wird der kaum entschlüsselbare Zusatz, dass die Verkäufer die Zeitung nur mit deren Namen, nicht, wie wohl sonst üblich, dem Inhalt der Berichterstattung anpreisen sollten. Einigermaßen irritierend – sicher für uns heute, weniger womöglich für die Damaligen – erstreckt sich schließlich noch an diesem Tag vor der belgischen Invasion über die volle linke Spalte eine Reportage über Konflikte (»troubles« im Gegensatz zu den »conflits« des Krieges) in Zusammenhang mit den Bezeichnungsrechten für französischen Wein und Champagner im Königreich. Die drei zeitlich folgenden Titelseiten der DerniHre Heure vom 4., 5. und 6. August werden hier abgedruckt (Abb. 1, 2 und 3). Ihr Erhaltungszustand ist mäßig, der Abdruck der Reproduktion von entsprechender Qualität – man wird daher im Unterricht kaum einzelne Textabschnitte entziffern wollen. Einiges erkennt man aber im Überblick doch – und kann sich zudem der auratischen Ausstrahlung der Originale schwer entziehen. In einer bisher ungekannten Schriftgröße und Fettschrift (die aber noch weit entfernt ist von den Lettern heutiger deutscher Boulevardblätter oder britischer tabloids papers) gibt die Zeitung am 4. August kund, dass »von Deutschland« (extra fett hervorgehoben) ein Ultimatum an Belgien gerichtet worden sei, um angesichts des Umstandes, dass sich an der belgischen Südgrenze französische Truppen zusammenzögen, die »deutschen Operationen zu erleichtern« (»faciliter les op8rations allemandes«). Die Antwort Belgiens sei gleichwohl glatt ablehnend. Was das nun aber heißt, außer dass weitere Truppen in die Kasernen einrücken (Bild), dass die Bürgermeister der Orte und Städte zu Ruhe und Wachsamkeit aufrufen sowie allen Wucherern mit Strafe drohen (zweite Spalte von rechts), dass der sehr beliebte König der Belgier Albert I. einigen Regimentern Feldzeichen aushändigt (rechte Spalte), bleibt unklar, denn gemeldet wird zusätzlich, dass Deutschland noch über sein weiteres Vorgehen nachsinne (zweite Spalte von links). Inneres (Foto einer Rot-Kreuz-Helferin auf dem Pferd) und Äußeres (»Italien bleibt neutral«) wechseln sich ab. Besonders spannend ist diesmal indes der Leitartikel links, denn hier geht es, wie nicht selten (wiewohl nicht automatisch) zu Zeiten der tiefsten Krisen, um eine historische Rückversicherung, die lang und differenziert ausfällt. Erinnert wird durch den Redakteur R. Bovet an den Deutsch-Französischen Krieg (auf Französisch natür-
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Abb. 1: Titelseite der La DerniHre Heure, 4. August 1914
lich umgekehrt: »guerre franco-allemande«) 44 Jahre zuvor, dem, mit Ausnahme der Balkankriege, letzten Waffengang in Europa vor dem Weltkrieg – womit auch auf eine ganz unüblich lange Zeit des allgemeinen kontinentalen Friedens Bezug genommen wird.26 Damals, 1870/71, heißt es, hätten die beteiligten und abseits stehenden Mächte vor den Kampfhandlungen ein Gleichgewicht der Kräfte vermutet (Bismarck wird man diesen Irrglauben nicht unterstellen). Die hoffnungslose Unterlegenheit Frankreichs an Mensch und Material stellte sich dennoch schnell heraus, und der Autor führt einige mit bestimmten Namen und Orten verbundene strategische Fehlentscheidungen und Unglücke des Kriegsverlaufs auf, die, vier Jahrzehnte später, selbst interessierten Lesern 1914 wohl nicht mehr alle geläufig waren. Aber was bezweckt er mit der Rückschau – die noch dazu mitten im damaligen Geschehen, bei der Schlacht von Reichshoffen, 26 Dies freilich nur, wenn die zahlreichen Kolonialkriege der Großmächte außerhalb Europas außer Acht bleiben.
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abbricht? Der Gegner hätte danach ein wenig seinen »Elan« verloren und die französischen Truppen sich wieder besser aufgestellt. Ja, und? Alle wussten doch am 4. August 1914, dass die deutschen Staaten 1870/71 am Ende auf der ganzen Linie siegreich blieben und Frankreich durch die Ausrufung des Kaiserreichs in Versailles und die Abtrennung von Elsass-Lothringen im Mark gedemütigt wurde. Am mittleren unteren Rand ist dann die letzte nicht kriegsbezogene Nachricht illustriert zu sehen: Gewiss lange vorbereitet, ist ein neuer belgischer Geldschein mit dem Wert von 5 Francs erschienen (die DH kostet zu der Zeit 5 Centimes).
Abb. 2: Titelseite der La DerniHre Heure, 5. August 1914
Am 5. August verkündet die DH, dass der Kriegszustand »in Belgien« (eine irritierende Präposition) erklärt sei. Bestimmte Truppeneinheiten werden zu den Waffen gerufen. Das Parlament hält eine Plenarsitzung ab. Im Bild oben links verlässt der König das Parlament, Umstehende, darunter uniformierte
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Pfadfinder, schwenken ihre Kopfbedeckungen.27 Der Verlauf der Parlamentssitzung wird über fünf Spalten minutiös wiedergegeben, dabei auf die die Galerien besetzenden außergewöhnlichen Zuhörer (darunter der päpstliche Nuntius) hingewiesen. Im Fokus stehen der König und seine Ansprache vor den Volksvertretern, in der es um die »Integrität« des Landes, das Gleichgewicht der Kräfte in Europa, »Zähigkeit«, »Opfer«, Widerstand geht und dass Belgien nichts weiter wolle, als friedlich und frei zu leben. Minister berichten aus den Zurüstungen in ihren Geschäftsbereichen, während die oppositionellen Sozialisten der Regierung jede Art von Unterstützung zusichern. Womöglich willkommener als diese Worte ist jedoch die zweitwichtigste Meldung: dass Großbritannien, was es als Intervention lange zuvor angekündigt hat, die Neutralität Belgiens zu verteidigen gewillt sei, um eine flagrante Verletzung (»violation«) der Verträge28 zu verhindern, und dem Reich bereits ein Ultimatum gestellt habe (zweite Spalte von links). Das Foto rechts unten ergänzt diese Vorgänge auf diplomatischem Parkett: Die Abbildung mit der Unterschrift »Brüssel: Die Menge reagiert (»commente«) auf die Ereignisse« kommt uns heute von gleichzeitigen Aufnahmen in Berlin, London und Paris immerhin vertraut vor. Wenn man genau hinsieht, erscheinen die (oft jungen) Männer in ihrem immer gleichen Habit indes eher desorientiert und konfus als fest entschlossen und selbstbewusst. Mit dem Bild rechts oben wird sodann der erste prominente Gefallene (nämlich des ›Luftkrieges‹) annonciert: Der französische Militärpilot (und Luftfahrtpionier) Roland Garros habe sich über dem lothringischen Toul mit seinem Flugzeug in einen deutschen Kampf-Zeppelin gestürzt. Alle Beteiligten – darunter er selbst – seien zu Tode gekommen.29 Sehr fett gedruckt lesen wir noch in der linken Spalte, dass die vorliegende Nummer zu den regulären Ausgaben der Zeitung zähle und nicht als Extrablatt verkauft werden dürfe. Welch merkwürdiger Verweis auf die herkömmliche Ordnung ausgerechnet in dem Augenblick, da Europa auseinanderzubrechen droht! Über den Tag der Wahrheit berichtet dann die Nummer der DH vom 6. August. Deutsche Truppen haben die belgische Grenze überschritten, das Staats27 Diese Demonstrationen von Einheit spielen auch auf die lange – und heute wieder voll aufgeflammte – sprachliche und kulturelle Zerrissenheit des Landes an. Dem Strukturkonflikt kann hier nicht nachgegangen werden. Die (spätere) Formel, während des Krieges seien Flamen und Wallonen »tous Belges« gewesen, findet sich auf der Zeitungsseite zumindest nicht. 28 Gemeint ist hier wie unten vor allem der Vertrag von London 1839, erneuert 1871, der die Neutralität des 1830/31 nicht zuletzt als Pufferstaat von den europäischen Großmächten akzeptierten Landes Belgien garantiert. Das Königreich Preußen war stets Mitunterzeichner. 29 Die Meldung, korrekt als unbestätigt bzw. nicht vertrauenswürdig (»/ caution«) bezeichnet (auch grammatikalisch im Konjunktiv), stimmte tatsächlich nicht: Roland Garros (geb. 1888) wurde nach zahlreichen Kampfeinsätzen im Oktober 1918, kurz vor Kriegsende, über Nordfrankreich abgeschossen.
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Abb. 3: Titelseite der La DerniHre Heure, 6. August 1914
gebiet sieht sich einem feindlichen Einfall gegenüber, ein kleines Gebiet ist bereits besetzt, aber die belgischen Soldaten bewahren eine heldenhafte Haltung. Was genau das heißt, liest man in der Spalte »Mercredi au soir«: Die Deutschen versuchen die Festung Lüttich einzunehmen, im Untertitel ist von einem »erbitterten Kampf« die Rede. Der Textkörper berichtet dann allerdings konkret nur davon, dass »alle deutschen Angriffe zurückgeschlagen worden seien«. Die belgischen Flugzeuge seien den deutschen hoch überlegen, und insgesamt sei die Lage der belgischen Armee gut. Es wird sogar von einem Soldaten Demolin berichtet, der sich ganz allein in die »Reihen der Feinde« geworfen haben soll, die mehrere seiner Kameraden verfolgten; dabei habe er vier Deutsche getötet und sei »mit einem Lächeln auf den Lippen« zurückgekehrt. Auch die übrigen Meldungen scheinen beruhigend: Großbritannien hat, wie erwartet, dem Deutschen Reich den Krieg erklärt (sehr genau wird beschrieben, wie der britische Botschafter sich am Abend ins Auswärtige Amt begibt, dort eine Kriegserklärung hinterlässt und sodann seine Pässe einfordert,
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um das Land zu verlassen). Auch »die ersten französisch-deutschen Kontakte« (gemeint sind feindliche Zusammentreffen) sind erfolgreich im Sinne Frankreichs verlaufen (rechte Spalte). Der belgische König wendet sich derweil knapp an seine Truppen bzw. sein Volk (zweite Spalte von rechts): »Soldaten! Ohne die mindeste Provokation von unserer Seite hat ein hochmütiger […] Nachbar die Verträge, die seine Unterschrift tragen, zerrissen und das Land unserer Väter verletzt. […] Im Angesicht der bedrohten Unabhängigkeit ist die Nation aufgebraust und seine Kinder eilen an ihre Grenzen.« Sodann bemüht er die ferne Geschichte: »Cäsar hat von euren Vorfahren gesagt: Von allen Stämmen Galliens sind die Belgier die mutigsten. […] Erinnert euch, ihr Flamen, an die Schlacht der Goldenen Sporen und ihr Wallonen von Lüttich in diesem Augenblick der Ehre an die sechshundert Franchimontois.«30 Auf den drei größeren Fotografien sieht man einmal wiederum Pfadfinder, die dem König zujubeln – und bei genauem Hinsehen entpuppt es sich als beschnittene Aufnahme aus derselben Situation, die schon am Vortag wiedergegeben wurde (rechts unten ist dazu zu lesen, wo sich diejenigen der minderjährigen Pfadfinder, die ihren Beitrag zur Verteidigung leisten wollen, zur Registrierung einzufinden hätten; zugesichert wird, dass sie nur Aufträge empfangen sollten, die ihrem jungen Alter entsprächen); zweitens die Königin mit Teilen der königlichen Familie in der Kutsche – versichert wird, sie werde in Brüssel bleiben; und schließlich rechts unten die Abfahrt weiterer Reservisten vom Brüsseler Südbahnhof. Inzwischen werden in Brüssel und überall im Land die Krankenhausbetten, Ärzte und Ambulanzen vermehrt (mittlere Spalte unten). Dieses gar nicht mehr besänftigende Bild wird freilich zusätzlich gestört: Im Leitartikel links sinnt der bekannte R. B. über die seiner Meinung nach weitgehenden Rechte von Zivilisten in einem vom Gegner besetzten Land nach; persönlicher Besitz sei geschützt und öffentliches Eigentum sowie Hilfsorganisationen und die Anstalten von Bildung, Wissenschaft und Kultus seien »unangreifbar« (»insaisissable«). »Jede Zerstörung oder willentliche Beschädigung von […] historischen Monumenten, von Archiven und Kunstwerken ist nachdrücklich verboten.« Die Möglichkeit einer Besetzung des Landes wird also trotz aller feierlich beschworenen Verträge und des internationalen Beistands offen ins Auge gefasst. Nicht anders zu deuten ist zuletzt die mit verschämt kleiner Überschrift gesetzte Meldung unten auf der Seite (dritte Spalte von links): »Die Verlegung der Regierung nach Antwerpen«. Darin wird die offenbar bereits vollzogene Verlegung des Regierungssitzes an die Nordgrenze des Staates, nahe den neutralen Niederlanden, begründet, und zwar 30 In der Schlacht der Goldenen Sporen besiegten die Flamen 1302 ein edles französisches Ritterheer ; die 600 Franchimontois (Bewohner der Region Franchimont um Spa) setzten sich 1468 gegen Angriffe des französischen Königs Ludwig XI. und des Burgunderherzogs Karl des Kühnen auf Lüttich, allerdings erfolglos, zur Wehr.
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damit, dass auf keinen Fall die »Kalamität« eintreten dürfe, dass in einer solch unerhörten Krise wie der bestehenden das Land einer funktionierenden Regierung entbehre. Welche Schlüsse konnten aufmerksame Leser wohl aus dieser Nachricht ziehen? Die nächste Ausgabe vom 7. August steht ganz unter dem Eindruck der Verteidigung der Festung Lüttich31 und ihrer Vorwerke (mit einer großen handgezeichneten Karte in der Mitte). Der gewohnt geschichtsbewusste Leitartikler R. B. macht sich noch einmal Gedanken über die Art und Form von Kriegserklärungen seit dem 12. Jahrhundert oder in der Frühen Neuzeit und den sich daraus für die ehrenhaften Kriegsparteien ergebenden Verbindlichkeiten. Danach endet die Sonderausgabe der DH mit dem Titelblatt vom 20. August 1914: Immer noch leisten die Belgier »energischen« Widerstand; und endlich seien die Franzosen da … Der Krieg jedoch wird noch mehr als vier Jahre dauern, der größte Teil Belgiens von den Deutschen besetzt sein, in diesem der Grabenkampf ohne Unterlass wüten und die belgische Armee sich bis zum Schluss nicht ergeben.
Anmerkungen zur Didaktik Zweifellos versprechen sich die Herausgeber der DH bereits aus dem reinen Anschauen, nicht einmal der vertieften Lektüre der Zeitungstitelseiten als historischer Dokumente einen informellen Lerneffekt (denn alle anderen Möglichkeiten scheiden offensichtlich aus: Information, finanzieller Gewinn, Investigation), wahrscheinlich im Sinne der Ausbildung oder Stärkung eines kulturellen Gedächtnisses. Die Arbeit mit der Zeitungsüberlieferung im Unterricht hingegen wird sicher kompetenzbasiert mithilfe von Aufgabenoperatoren erfolgen. Daneben sind handlungs- und produktorientierte Umgangsformen denkbar. Eine solche Konkretion kann hier nicht angestrebt sein. Die professionelle Lehrkraft wird ihre Schwerpunkte der Behandlung auf thematische Einzelfragen legen oder auf Kontextualisierungen, den historischen Vergleich oder die Methodenschulung (Quellenwert von Zeitungen), auf kognitive Zugänge oder aber empathisches und identifikatorisches Lernen (z. B. durch die Nacherzählung der Ereignisse aus der Perspektive damaliger Leserinnen und Leser), auf die Analyse der Sprache, Bilder oder medienspezifischen Gestaltungsmittel. Leitfragen für alle Arten der Bearbeitung können auf der Grundlage der vorstehenden Überlegungen und Reflexionen sein: 31 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Lüttich als bedeutendes Fürstbistum bis kurz vor seiner Auflösung ein bedeutendes Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewesen ist.
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Inhaltliche Dimension – Welches sind die Themen, die auf der Titelseite verhandelt werden? – Wie verändert sich die Verteilung auf einzelne Ressorts (Innen-, Außenpolitik, Wirtschaft, Kultur, Lokales etc.)? – Welches sind die Quellen der Berichterstattung? Für wie glaubwürdig werden sie jeweils erachtet? – Wie bringt die Zeitung Ordnung in die verworrene Situation (z. B. durch die Kategorien wir/sie, Freund/Feind, drinnen/draußen, oben/unten, früher/ heute)? – Kann man Vermutungen darüber anstellen, wo die Journalisten Informationen zurückhalten? Warum? – Kann man einhundert Jahre später aus den zeitgenössischen Zeitungen mehr oder anderes über die historischen Vorgänge erfahren als durch die Forschungsliteratur? Gestalterische Dimension – Welche für Tageszeitungen typischen Elemente werden wie eingesetzt (›Aufmachung‹, Schlagzeilen, Spaltenanordnung, Größe der Bilder)? – Wie ändert sich die Gestaltung im Verlauf der Krise? – Wo wirken die Zeitungsseiten auf uns heute altertümlich, wo modern? Dimension der Sinnbildung – Welches ist die vorherrschende Perspektive der Berichterstattung (Nation, Milieus, Gender, König, Militär)? – Gibt es einen Wandel der Perspektive? Wann und warum? – Gibt es eine Entwicklung in der Wortwahl, z. B. von nüchtern bzw. sachlich zu kräftig, pathetisch oder metaphorisch? – Welche Arten von Begründungen werden für Argumente herangezogen (politisch, historisch, moralisch)? – Welche Urteile werden gefällt? – Wann und wie werden die Leser direkt angesprochen? Mit welchem Ziel? Erinnerungskulturelle Dimension – Warum greift eine moderne Tageszeitung als Beitrag zu einem Jubiläumsgedenken auf eine Reproduktion originaler Ausgaben von vor 100 Jahren zurück? – Was können heutige Leserinnen und Leser aus dem Studium der Seiten lernen? – Inwiefern wird das heutige Gedenken in Belgien – und womöglich darüber hinaus – durch die Edition beeinflusst?
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– Fühlen wir uns heute durch die Lektüre emotional berührt, fiebern oder leiden wir mit? – Gibt es eine tiefere Botschaft, welche die Herausgeber mit ihrer Aktion verbinden? – Sollte man öfter alte Zeitungsausgaben nachdrucken? Wann und wozu? Dimension der Mediengegenwart – Angenommen, es hätte 1914 bereits digitale Medien gegeben: Wie hätten diese wohl über die Ereignisse der Juli-Krise berichtet? Wie hätte sich die Bevölkerung beteiligen können? (kontrafaktisches Erzählen) – Angenommen, es käme heute wieder zu einer ähnlichen diplomatischen Krise wie 1914: Wie würden die Massen- und sozialen Medien berichten? Könnten die extrem erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten zur Wahrung des Friedens beitragen?
5.
Fazit: Was Zeitungen sagen und was nicht
Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen, worauf es mir ankam: Wir begegnen mit dem Nachdruck einer Serie von zehn Titelseiten einer damals wie heute bedeutenden belgischen Tageszeitung rund um den Kriegsbeginn im Juli und August 1914 einem Dokument, das uns Heutige zu erschreckten Voyeuren werden lässt. Wir erfahren nach einem Prinzenmord am anderen Ende Europas und nur vagen Erklärungen zu den diplomatischen Verwicklungen von »Feindseligkeiten«, der langsamen Formierung der Allianzen, lesen dann erst das Wort »Krieg«. Es dauert ein wenig, bis die letzten Anteile des zuvor über Jahrzehnte gekannten friedfertigen Alltags – Sport, Verbrechen, Klatsch – aus der Berichterstattung verschwinden, während bereits allerorten mobilgemacht wird. Wir stolpern über Streiflichter, in denen 1914 mit 1871 verglichen wird, über Kommentare, die formalistische Völkerrechtsfragen abhandeln, und Leitartikel, welche die Unverletzlichkeit des Territoriums, seiner Bewohner sowie deren materieller und kultureller Güter beschwören. Selbst und gerade während eines Krieges in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts pfeift man in den dunklen Wald: pacta sunt servanda. Überall kommt zugleich explizit oder versteckt die Hoffnung auf einen kurzen, ritterlichen Kampf zum Ausdruck, Unruhe und Angst scheinen durch. Doch wir wissen: Dieses Belgien wird – entgegen allem, was man seinerzeit annehmen konnte (und zwar aufseiten sämtlicher kriegsbeteiligter Mächte) – zum, gemessen am eigenen Staatsgebiet, größten Schlachtfeld des Krieges, und es wird, gemessen an der Bevölkerungs-
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zahl, das wahrscheinlich größte menschliche Leid erfahren.32 Es wird viele Leben verlieren, im Gegensatz zu den meisten der kriegführenden Mächte auch von vielen Nichtkombattanten. Alte Städte und Dörfer werden entgegen allen zeremoniellen Ankündigungen so lange traktiert, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht. Rundherum wird die fruchtbare Erde durch jahrelangen Geschosshagel umgepflügt.33 Das alles wird, sobald es so weit ist, selbstverständlich in der Zeitung stehen. Der Ton gegenüber dem Kriegsgegner und Invasor Deutschland – in allen hier untersuchten Ausgaben sogar eher gemäßigt und die direkte Konfrontation bzw. unmittelbare Ansprache meidend (Beispiel vom 06.08.14: »Was auch immer der Grund einer der kriegführenden Mächte sei, in das belgische Territorium vorzudringen […]«) – wird schärfer werden.34 Was man nur Wochen und Monate zuvor schrieb, scheint derart degradiert, geradezu ungültig gemacht zu werden. Jedoch gehört, dass Zeitungsnachrichten – im Übrigen auch die getätigten Meinungsäußerungen – über Nacht ihren Wert verlieren, zum normalen Gang der Dinge; es ist dies eine Funktion des Genres. Uns interessiert daher viel eher als der zweifelhafte Informationswert die innere Bedeutung der Meldungen, die, wenn man so will, in ihnen enthaltene höhere Wahrheit: Es gab also einmal eine hohe Zeit, als die Menschen dachten, nach den Verirrungen des 19. Jahrhunderts könne es einfach gar keinen richtig großen Krieg mehr geben – denn da war doch der ganze Fortschritt der Zivilisation, der Diplomatie, auch der Demokratie, der Freiheit und des Rechts. Und was sollte diese menschliche Besserung denn anderes bedeuten, als dass die Kleinen und Schwachen endlich und immer umfassender vor den Übermächtigen geschützt würden? Als dann das Unglaubliche doch geschah, reichten im Grunde nicht mehr die dicksten Druckbuchstaben, um das Unerhörte zu Papier zu bringen. Genau dies lesen wir in der DerniHre Heure von damals. Gut, dass es ihr Archiv gibt und die Depots vieler anderer Tageszeitungen in aller Welt. Auf welche Weise unsere digitalen Medien bewahrt werden für die kommenden Generationen und ein Lernen von morgen, da man vielleicht auch wissen möchte, was uns einmal bewegte und wie wir auf möglicherweise existenzielle Herausforderungen reagierten, wenigstens in dem Augenblick, in dem wir ihrer (oft spät erst) gewahr wurden, wird sich noch zeigen müssen.
32 Das gilt auch, wenn man eine überschäumende britische Propaganda (»Rape of Belgium«) einräumt. 33 Noch heute sterben in Flandern regelmäßig Bauern oder erleiden Verletzungen, wenn sie bei der Feldarbeit unverhofft auf Blindgänger stoßen. 34 In der Tat frappiert der über weite Strecken nüchterne, ruhige, fast ehrwürdige Tonfall der DH, verglichen etwa mit der vom ersten Tag des Krieges an geifernden Erregung über kulturlose Franzosen und perfide Briten in den meisten deutschen Blättern.
Kiosk
Astrid Blome
Die Presse der Frühen Neuzeit im Geschichtsunterricht – Anregungen und Beispiele »Will aber wer klug seyn und werden / wo er anders in der Stats-Handels- und Bürgerl[ichen] Gesellschaft leben will / so muß er die Zeitungen wissen / er muß sie stets lesen / erwägen / merken / und einen Verstand haben / wie er mit denenselben umgehen soll.«1
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Die frühneuzeitliche Presse – ein kurzer Abriss
Im Jahr 1695 erschien mit Kaspar Stielers Abhandlung Zeitungs Lust und Nutz die erste zeitgenössische Synthese des Zeitungswesens im deutschen Sprachgebiet. Sie behandelte auf mehr als 380 Seiten ein Phänomen, das am Ende des 17. Jahrhunderts bereits vielerorts zum Alltag gehörte. Ein knappes Jahrhundert zuvor hatte Johann Carolus 1605 den Übergang von der handschriftlichen zur gedruckten Zeitung vollzogen und damit eine neue Ära der Informations- und Wissensvermittlung eingeleitet.2 Bisher exklusive Informations- und Wissensbestände wurden allgemein und prinzipiell uneingeschränkt zugänglich. Die periodischen Nachrichtenblätter setzten den bisherigen, elitären Systemen seriöser Informationsvermittlung eine neue Form der öffentlichen Verbreitung von Informationen entgegen, die das Wissen über die Welt revolutionierte und einen tiefgreifenden Mentalitätswandel bewirkte.3 Die Qualität und besonders die Menge der nunmehr regelmäßig zur Verfügung stehenden Informationen erlaubten den Lesern Einblicke in die Mechanismen und Wechselwirkungen der 1 Kaspar Stieler : Zeitungs Lust und Nutz, vollständiger Neudruck der Originalausgabe von 1695, hrsg. v. Gert Hagelweide, Bremen 1969, S. 4. 2 Martin Welke: Johann Carolus und der Beginn der modernen Tagespresse, in: ders./Jürgen Wilke (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, Bremen 2008, S. 9–116; Johannes Weber : Der große Krieg und die frühe Zeitung. Gestalt und Entwicklung der deutschen Nachrichtenpresse in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1 (1999), S. 23–61; ders.: Straßburg 1605: Die Geburt der Zeitung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), S. 3–26. 3 Johannes Weber : Daniel Hartnack – ein gelehrter Streithahn und Avisenschreiber am Ende des 17. Jahrhunderts. Zum Beginn politisch kommentierender Zeitungspresse, in: GutenbergJahrbuch 68 (1993), S. 140–158.
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europäischen Politik, in die »Wissenschaft der Welt und ihr […] Spielwerk«. An diesem kontinuierlichen Kreislauf aktueller Nachrichten aus nationalen und internationalen Quellen partizipierten bald alle, »so da lesen / und lesen hören können«.4 Die Erfolgsgeschichte der Zeitung im ersten Jahrhundert ihres Bestehens lässt sich in wenigen Zahlen ausdrücken: Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurden – so die allgemeinen Angaben – insgesamt rund 200 deutschsprachige Zeitungen in achtzig Verlagsorten gegründet.5 Das Digitalisierungsprojekt der »vollständigen« Zeitungen des 17. Jahrhunderts an der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, das die einzigartige, durch die Deutsche Presseforschung zusammengetragene Sammlung der frühen Nachrichtenblätter seit 2013 digitalisiert und dauerhaft online für Forschungszwecke zur Verfügung stellt, verzeichnet mehr als 600 Zeitungstitel von 300 Unternehmen.6 In der Pressehauptstadt der Frühen Neuzeit, Hamburg mit dem dänischen Altona, hatten die Leser nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges die Wahl zwischen sechs Wochenzeitungen, in den 1680er Jahren zeitweise sogar zwischen acht Zeitungen. Ihr paralleles Erscheinen kann als eindrucksvoller Beleg für die vorhandene Nachfrage gewertet werden und untermauert Stielers Postulat von der Notwendigkeit der Zeitungslektüre »in der Sta[a]ts-Handels und Bürgerl[ichen] Gesellschaft«. In dieser Formulierung kam deutlich zum Ausdruck, dass das Zeitungswissen am Ende des 17. Jahrhunderts eine ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutung erlangt hatte, die weit über den Kontext höfisch-politischer, gelehrter oder kaufmännischer Informations- und Kommunikationszusammenhänge hinauswies. Etwa jeder fünfte bis jeder vierte potenzielle Leser konnte jetzt seine Informationen regelmäßig aus den Nachrichtenblättern beziehen. Sie hatten eine Publizität erlangt, mit der sich kein anderes Druckerzeugnis auch nur annähernd messen konnte, und übernahmen damit eine zentrale Funktion im frühneuzeitlichen Mediensystem.7 Sie wurden zum verbreitetsten weltlichen 4 Stieler, Zeitungs Lust, S. 5, 39. 5 Überblicksdarstellungen zur Presse- und Mediengeschichte bis in das 20. Jahrhundert bieten z. B. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, 2. Aufl., Stuttgart 2008; Rudolf Stöber : Deutsche Pressegeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2., überarb. Aufl., Konstanz 2005; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt 2011; zur Frühen Neuzeit Andreas Würgler : Medien in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 85), München 2009. 6 http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17/. 7 Vgl. Johannes Arndt: Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750, Göttingen 2013, hier Kap. I.1 und I.2; ders./Esther-Beate Körber : Einleitung. Das Medien-System im Alten Reich der Frühen Neuzeit 1600–1750, in: dies. (Hrsg.): Das Medien-System im Alten Reich der Frühen Neuzeit 1600–1750, Göttingen 2010, S. 1–23; Volker Bauer/Holger Böning (Hrsg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert – ein neues Medium und seine Folgen, Bremen 2011.
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Lesestoff, sie regten zur Lektüre weiterer Printmedien ebenso an wie zur Gründung von komplementären Periodika wie den historisch-politischen Zeitschriften, in denen die faktischen Informationen der Zeitungen vertieft, ergänzt und kommentiert wurden.8 Als universelle Medien der Wissensvermittlung zunehmend akzeptiert, fanden Zeitungen im 17. und 18. Jahrhundert weitreichend Verwendung im akademischen und auch im Schulunterricht.9 Im 18. Jahrhundert wurde die Zeitungslektüre zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Alltags und erreichte ein Lesepublikum bis in die unteren Mittelschichten.10 Das qualitativ herausragende Blatt, die Staats-und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, wurde international gelesen und erlangte Auflagen von rund 50.000 Exemplaren zu Beginn des 19. Jahrhunderts.11 Komplementär zu den Zeitungen entstand eine vielfältige Zeitschriftenlandschaft, die alle Züge des heutigen Informationsangebotes vorbereitete. Wochenblätter und Monatsschriften zu Politik und Zeitgeschehen, Wissenschaften und Literatur, Bildung, Kultur und Gesellschaft, Aufklärung und Volksaufklärung, Handel, Wirtschaft und Handwerk, Zeitschriften für Frauen, Kinder und Jugendliche hielten für jeden Leser ein spezifisches Angebot bereit und erreichten immer größere Bevölkerungskreise. Bereits Joachim Kirchners Zeitschriftenbibliografie von 1969 zählte von den Anfängen bis 1830 über 6.600 Zeitschriftentitel – eine Zahl, die vor dem Hintergrund seitdem erfolgter bibliografischer Grundlagenarbeit für einzelne Regionen ganz erheblich nach oben korrigiert werden muss.12 Mit den Intelligenz- (lat. »intellegere« = Einsicht nehmen, erkennen, wahrnehmen) oder Anzeigeblättern erhielt auch das Regional- und Lokalgeschehen seit der Gründung der Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten 1722 ein eigenes publizistisches Forum.13 Die zunächst reinen Anzeigenblätter, die unter 8 Johannes Weber : Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland, Bremen 1994. 9 Astrid Blome: »Will aber wer klug seyn und werden« – Aspekte des Wissenserwerbs in der Frühen Neuzeit, in: Bauer/Böning (Hrsg.), Entstehung, S. 411–432. 10 Holger Böning: Dem Bürger zur Information und Aufklärung: Die »Staats-und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten«, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 14 (2012), S. 5–41, hier S. 15. 11 Ebd., S. 23. 12 Joachim Kirchner : Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830, Stuttgart 1969. Allein die Forschungen zu einer Pressebibliografie für Hamburg erbrachten rund 1.000 Titel, von denen etwa 600 nicht bei Kirchner verzeichnet waren. Holger Böning/Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften, 3 Bde., Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. IX. 13 Astrid Blome: Wissensorganisation im Alltag – Entstehung und Leistungen der deutschsprachigen Regional- und Lokalpresse im 18. Jahrhundert, in: dies./Holger Böning (Hrsg.):
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Titeln wie Intelligenz-Blatt, Intelligenz-Zettel, Wöchentliche Nachrichten, Fragund Anzeige-Nachrichten oder Gemeinnütziges Wochenblatt erschienen und das gesamte Spektrum privater und gewerblicher Anzeigen umfassten, nahmen bald auch amtliche Bekanntmachungen aller Art auf und erfüllten damit zugleich hoheitliche Aufgaben.14 Ihre unterhaltenden und belehrenden redaktionellen Beiträge behandelten alle erdenklichen Themen der ökonomischen, der landund hauswirtschaftlichen und der medizinischen Aufklärung und Volksaufklärung, Geschichte und Geografie, Religion und Aberglaubenskritik, Erziehung, Sitten und Moral, Naturwissenschaften und Technik, Literatur und Unterhaltung sowie Rätsel und Preisaufgaben, politische Nachrichten und vieles mehr. Mehr als 200 deutschsprachige Intelligenzblätter wurden bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gegründet, knapp 400 weitere bis 1848. Sie bilden die Wurzeln unserer heutigen Lokalpresse. Traditionsreiche Gründungen des 18. Jahrhunderts erscheinen noch heute als Lokalzeitung, wie zum Beispiel der Hanauer Anzeiger (1725), die Bremer (wöchentlichen) Nachrichten (1743) oder der Gießener Anzeiger (1750).
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Zeitungen im Geschichtsunterricht
Die gesellschaftspolitische Relevanz der frühneuzeitlichen periodischen Presse in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Diese reichhaltige Presselandschaft bietet vielfältige und teils noch ungenutzte Potenziale für Lehre und Unterricht. In einschlägigen Beiträgen zur Verwendung von Zeitungen im Geschichtsunterricht wurden die weitreichenden Möglichkeiten insbesondere für die Geschichte von Medien, Kommunikation und Öffentlichkeiten, für die klassischen Felder der Kultur- und Alltagsgeschichte, der Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte oder auch für regional- und lokalgeschichtliche Untersuchungen hervorgehoben, um nur einige Gebiete zu nennen.15 Einig sind sich die Autoren darin, dass die Berichterstattung über historische Ereignisse und deren Kommentierung einen direkten Zugang zu historischen Situationen und zu ihrer Wahrnehmung und Deutung durch die Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung, Bremen 2008, S. 179–208. 14 So z. B. Vorladungen, Gerichtsentscheidungen, Zwangsversteigerungstermine, Steckbriefe und Straflisten, Preistaxen und Wechselkurse, Fremdenlisten, Kirchenbuchauszüge und so fort, teils auch Gesetzestexte. 15 Vgl. z. B. Michael Sauer : »Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen«. Zeitung als Quelle, in: Geschichte lernen 124 (2008), S. 2–10; Klaus Fieberg: Zeitungen im Geschichtsunterricht, in: Praxis Geschichte, Heft 4, 2002, S. 31–38; Eva Brand/Peter Brand (Hrsg.): Die Zeitung im Unterricht, Aachen-Hahn 2000.
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Zeitgenossen vermittelt. Allerdings sei der Bereich, für den Zeitungen einsetzbar sind, beschränkt auf die Zeit seit dem späten 19. mit dem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert.16 Dass die frühneuzeitliche Presse im Unterricht (und auch in der akademischen Lehre) bisher vergleichsweise wenig Berücksichtigung findet, mag verschiedene Ursachen haben – beginnend mit der thematischen Abfolge und Gewichtung der Lerninhalte über praktische Probleme der Zugänglichkeit und inhaltlichen Erschließung bis zum Zeitaufwand für das Lesen der Frakturschriften. Auch die faktenorientierte, ereignisreferierende Struktur der möglichst ›neutral‹ gehaltenen Meldungen scheint heutige Leser vor ungewohnte Herausforderungen zu stellen. Zeitungsnachrichten des 17. und oft auch des 18. Jahrhunderts waren disparat, ungeordnet und sollten unkommentiert bleiben, die (Zu-)Ordnung und Kontextualisierung der Informationen musste vom Rezipienten geleistet werden. Meinungsbildung wurde als individueller intellektueller Prozess vom Leser gefordert. Herausgeber und Redaktionen verstanden sich nicht zuletzt als Vermittler und das Medium selbst als ›neutral‹, um die Verantwortung für die konkreten Inhalte einer Nachricht an den – anonymen – Korrespondenten zu delegieren und im Falle von Beschwerden oder Konflikten vor Strafen geschützt zu sein. Dennoch lohnt es, verschiedene Möglichkeiten der Einbeziehung der historischen Presse in den Unterricht auszuloten und frühneuzeitliche Periodika stärker in den Unterricht zu integrieren. Dies gilt für die Verwendung einzelner Inhalte und Ausgaben als (ergänzende) Textquellen zur Behandlung herausragender historischer Ereignisse oder Ereigniskomplexe, für Sachanalysen, oder auch um Anknüpfungspunkte zur Orientierung für aktuelle thematische Diskussionen sowie zu medien- und kommunikationshistorischen Fragestellungen zu bieten. Ebenso gewinnbringend ist die Verwendung der frühneuzeitlichen Presse im handlungs- und produktionsorientierten (Projekt-)Unterricht, der zum Beispiel die Erarbeitung der Methodik, die Durchführung und Auswertung inhaltlicher Reihenuntersuchungen und Querschnittsanalysen umfassen oder das Erstellen einer historischen Zeitung zum Ziel haben kann.17 Vielfältige Anknüpfungspunkte auf allen Gebieten der Alltags-, Kultur-, Wirtschafts-, Gesellschafts- oder auch Kommu16 Sauer, »Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen«, S. 3. 17 Über die Erfahrungen beim Erstellen einer »tagesaktuellen« historischen Zeitung zur Französischen Revolution berichtete bereits Michael Seeger : Patriote franÅais. Eine historische Zeitung zur Französischen Revolution, in: Geschichte lernen 60 (1997), S. 48–51. Ungeachtet der inzwischen deutlich fortgeschrittenen technischen Voraussetzungen oder der Frage der ›Authentizität‹ des von Seeger vorgestellten Produktes in Layout und gewählten Textformen wären zum Beispiel der Prager Fenstersturz oder die Zerstörung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg, das Erdbeben von Lissabon oder die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mögliche Ausgangspunkte einer ›eigenen‹ historischen ›Extra ordinari Zeitung‹.
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nikationsgeschichte bietet insbesondere die historische Lokalpresse, wie anhand einiger Beispiele exemplarisch ausgeführt wird.
3.
Beispiele
In der ersten Ausgabe der Jeverischen wöchentlichen Anzeigen und Nachrichten des Jahres 1806 erschien die folgende Anzeige: »Den 26. dieses des Morgens um 4 12 Uhr endete mein Geliebter Ehemann und unser theuerster Vater, der Prediger G. J. Leiner seine irdische Laufbahn: 14 Tage vor seinem Ende verfiel er in eine Krankheit, die mit einer starken Verstopfung und [anderen …] Beschwerden begleitet war. Ihm ahndete dabey nichts Gutes, er trug seine große[n] Leiden in Geduld, ergab sich in den Willen Gottes, und sah seiner Auflösung mit Gelassenheit und christlicher Standhaftigkeit entgegen. Daß wir an ihm einen braven, rechtschaffenen und treuen Gatten und Vater verlohren haben, wird ein jeder, der ihn gekannt gewiß bekennen, und dann auch seiner Asche mit Thränen der Wehmuth nachweinen. 6 Jahre war er Lehrer auf der Insel Juist, 12 Jahr Prediger in Blersum und beynahe 22 Jahre verwaltete er das Predigtamt gewissenhaft hier in Eggelingen und brachte sein Leben auf 73 Jahr 4 Monat und 6 Tage. Diesen uns betroffenen traurigen Vorfall machen wir unsern Verwandten und Freunden schuldigst bekannt, und sind ihrer Theilnahme auch ohne schriftl. Beyleidsbezeugung versichert. Die Wittwe, Kinder und Kindeskinder.«18
Jever zählte zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa 3.500 Einwohner, sodass auf den traditionellen Wegen der Bekanntmachung – Gespräch, Leichenpredigt, Gedenkgottesdienst, Leichensager, Totenzettel, Trauerbrief – innerhalb kürzester Zeit alle Bewohner des norddeutschen Städtchens vom Ableben des Predigers Leiner unterrichtet werden konnten. Dessen ungeachtet gaben die Angehörigen eine Anzeige im lokalen Wochenblatt auf, um die gesamte Gemeinde gleichzeitig und gleichlautend zu informieren. Das Beispiel steht stellvertretend für eine zentrale Aufgabe, die seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend von der Lokalpresse mit übernommen wurde: die Pflege sozialer Netzwerke. Familienanzeigen verbanden Distinktion und Eitelkeit und hatten eine sozialintegrative Funktion. Sie konnten bestimmte Interpretationen von Ereignissen verbreiten und damit kollektives oder individuelles Handeln rechtfertigen. Und sie lösten auf elegante Art finanzielle und logistische Probleme, weil durch die öffentliche Anzeige alle relevanten Adressaten als benachrichtigt gelten konnten. Zunächst waren es die gutbürgerlichen Stände, die Familienanzeigen einsetzten. Sie informierten einander insbesondere auch in den Ter18 Jeverische wöchentliche Anzeigen und Nachrichten, Nr. 1, 1806.
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ritorien über den sozialen Wandel innerhalb ihres regionalen Beziehungsnetzwerkes. Hinweise auf die »pflichtschuldige« Bekanntgabe verwiesen auf die traditionellen Erwartungen und Kommunikationsformen, durch die familiäre Veränderungen zuvor bekanntgegeben wurden. Kommunikations- und medienhistorisch betrachtet sind diese Anzeigen Indizien für einen Wandel regionaler Kommunikationsstrukturen, bei dem die Printmedien eine bedeutende Rolle spielten. Ebenso leitet die inhaltliche Analyse von Familienanzeigen verschiedener Jahrhunderte und Gesellschaftsschichten in die Diskussion des Verhältnisses von ›öffentlich‹ und ›privat‹ ein. Welche Informationen werden in welchen Kommunikationskanälen weitergegeben, und wie und warum verändert sich dies im Verlauf der Jahrhunderte? Heute lassen sich die individuellen Todesumstände aus Traueranzeigen nur manchmal indirekt erschließen, weil ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ wieder deutlich anders behandelt werden. Der Bogen lässt sich letztlich bis in die moderne Medienwelt spannen, in der Privates auf neuen Wegen öffentlich wird – sei es im lautstark geführten Telefonat in Bus und Bahn über Krankheiten oder Beziehungsprobleme, sei es durch Fotos, Friends und Likes auf Facebook und Co., sei es durch ständige Tweets über Twitter als stete Formen der Selbstdarstellung. Allein für die genannten Aspekte ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die frühneuzeitlichen periodischen Quellen, ihre Geschichte und ihre gesellschaftliche Funktion näher zu untersuchen und inhaltliche Längsschnittuntersuchungen bis in die Gegenwart fortzuführen. Anzeigen aller Art waren ein konstitutiver Bestandteil der Intelligenzblätter. Quantitative und qualitative Anzeigenuntersuchungen sind insbesondere im Längsschnitt geeignet, um wirtschafts- und sozialhistorische Fragen zu bearbeiten, Entwicklungen aufzuzeigen und weiterführende Recherchen anzuregen. Eine Analyse des Verkaufsangebotes verschiedener Städte weist beispielsweise deutliche Unterschiede auf, die belegen, wie sehr im Gegensatz zu heute die Märkte regionalen Bedingtheiten unterworfen waren, und die mögliche Rückschlüsse auf die Sozialstruktur erlauben. Ein Vergleichsbeispiel mag dies veranschaulichen: Im Zeitraum von 1746 bis 1840 war rund ein Drittel der Verkaufsanzeigen im Erfurter Intelligenzblatt Grundnahrungsmitteln wie Getreide, Mehl, Bier, Brot und anderen Backwaren, Obst und Gemüse, Käse oder Fleisch, Speck und Schinken und saisonalen Angeboten gewidmet.19 Das Erfurter Landgebiet mit seiner agrarischen Struktur bildete eine wesentliche Wirt19 Reihenuntersuchung: Auswertung der vollständigen Jahrgänge des Erfurter Intelligenzblattes von 1746, 1750, 1760 usw. in Zehnjahresschritten bis 1840; Gesamtanzeigenzahl 29.766, davon 12.669 Verkaufsanzeigen; daran Anteil Grundnahrungsmittel 33,49 %, Kolonialwaren 3,47 %, Alkoholika 6,69 %, Kaffee, Tee und Mineralwasser 1,50 %, Bücher und Schreibwaren 4,78 %.
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schaftsgrundlage der Stadt. Im Gegensatz dazu spiegelten die Anzeigen im Augspurgischen Intelligenz-Zettel die buchhändlerische Tradition und die internationalen Handelsbeziehungen der Stadt wider. Die vergleichsweise hohen Anteile von angebotenen Büchern und Schreibwaren ebenso wie von Kolonialund Importwaren, von Südfrüchten und Gewürzen, französischen und deutschen Weinen, Bränden und Schnäpsen, Mineralwasser, Kaffee, Tee und Tabak ließen das Augsburger Wochenblatt als Werbemittel für das Außergewöhnliche erscheinen, das auch die zahlreichen, um die Aufmerksamkeit der Leser konkurrierenden ortsansässigen Drucker, Buchhändler und Verleger ergänzend zu den Zeitungen nutzten, um Informationen über ihr Angebot zu unterbreiten, sich selbst und ihr Unternehmen zu repräsentieren und auf dem Markt zu positionieren.20 Die Befunde überraschen nicht, da Augsburg in der Frühen Neuzeit im Gegensatz zu Erfurt eine traditionelle Buchdruckerstadt war, über bessere internationale Handelsbeziehungen verfügte und mehr exklusive Waren für einkommensstarke Interessenten angeboten werden konnten. Vergleiche dieser Art können auf der Grundlage historischer Presseprodukte gezogen werden. Diese bieten damit die Möglichkeit, Einkommens- und Lebensstandards zu beurteilen und die Wirtschafts- und Sozialstrukturen frühneuzeitlicher Städte forschend auf indirekten Wegen zu erschließen. Die Anzeigenauswertung und -analyse wirft Fragen auf, schult Sach- und Fragekompetenzen und kann handlungsorientiert weitergeführt werden – zum Beispiel durch den Auftrag eigenständiger Recherchen und das Erarbeiten unterschiedlicher Formen der Ergebnispräsentation. Die frühneuzeitlichen Lokalblätter bieten im Zusammenhang wirtschaftshistorischer Fragen für einen weiteren Aspekt wichtige Quellen: die Ausbildung eines virtuellen Marktes. Neben den Inseraten mit Warenangeboten, Krediten, Arbeitsplätzen und mehr beinhalteten sie eine Vielzahl wirtschaftlich relevanter Informationen wie zum Beispiel Warenpreislisten und Taxen. Diese fassten wöchentlich die festgelegten Höchstpreise oder das Mindestgewicht der wichtigsten Lebensmittel und anderer notwendiger Haushaltserfordernisse zusammen und bildeten ein zentrales Steuerungselement der Preisbildung im Alten Reich.21 Ergänzend veröffentlichten viele Lokalblätter Listen mit – in der Regel 20 Reihenuntersuchung: Auswertung der vollständigen Jahrgänge des Augsburger Intelligenzblattes von 1746, 1750, 1760 usw. in Zehnjahresschritten bis 1840; Gesamtanzeigenzahl 11.792, davon 4.534 Verkaufsanzeigen. Lebensmittel insgesamt 8,45 %, Kolonialwaren 10,18 %, Alkoholika 22,72 %, Kaffee, Tee und Mineralwasser 18,54 %, Bücher und Schreibwaren 23,38 %. 21 Die obrigkeitliche Festlegung der Höchstpreise respektive eines Mindestgewichts für die wichtigsten Lebensmittel wie Brot, Fleisch und Bier, für Getreide und Mehl, Geflügel und Eier, Butter und Käse oder auch für Fisch sowie für notwendige Haushaltswaren, zum Beispiel Talg und Lichter, sollte ein für alle gerechtes Preisniveau garantieren. Ein gerechter Preis musste den Ansprüchen aller beteiligten sozialen Gruppen genügen, das heißt die Material-
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regionalen – Übersichten der durchschnittlichen Marktpreise. So vermittelten sie einen umfangreichen und detaillierten Überblick über die in der Ausgabestadt und ihrem Einzugsbereich zu verhandelnden Waren und Güter. Das ökonomische Wirkungspotenzial dieser gebündelten Informationen belegt die zeitgenössische Diskussion über deren Vor- und Nachteile. Kontrovers beurteilt wurden Fragen der Handlungs- und Verhandlungsspielräume für Kaufleute und Händler, der obrigkeitlich sanktionierten Eingriffe in Preisbildungsprozesse und Gewinnerwartungen und des Kontrollverlustes von traditionellem Geheimwissen durch Öffentlichkeit.22 Für den Kleinverbraucher war durch das gedruckte Wochenblatt erstmals dauerhaft die Transparenz grundlegender wirtschaftlicher Informationen gewährleistet. Er bekam einen neutralen, überparteilichen Vergleichsmaßstab, an dem sich jedes Angebot auf dem realen Markt messen lassen musste. Die Akteure gewannen als Individuen an Autonomie, weil sich beim Aushandeln des gerechten Preises einer Ware das Gewicht von den ›subjektiven‹ hin zu den ›objektiven‹ Faktoren verschob. Diese Quellen führen damit zum Beispiel in die Diskussion ein, wie sich die Einflussfaktoren auf Preisgestaltungen verändern: vom persönlichen, subjektiven Aushandeln von Warenwerten auf dem Markt ›face to face‹ zur Institutionalisierung ›objektiver‹ Preisübersichten bis zum aktuellen Preisvergleich im Internet. Angedeutet sei im Zusammenhang wirtschaftshistorischer Zugänge das Potenzial, das frühneuzeitliche Periodika für die Analyse der Arbeitswelt und der Veränderungen von Arbeitsmärkten boten. Die Printmedien übernahmen auch bei der Stellensuche zunehmend Komplementäraufgaben, die die traditionellen Kommunikationswege (Vorsprache bei Zunftmeistern und Herbergsvätern, persönliche Empfehlungen u. a.) ergänzten. Ebenso wie die Veränderungen der Warenstruktur lassen sich Entwicklungen auf den Arbeitsmärkten anhand von Anzeigenanalysen untersuchen, zum Beispiel im Hinblick auf die Ausbildung des Verlagssystems im Textilgewerbe, den Wandel des Arbeitsangebotes für Frauen oder auch Formen von Kinderarbeit. Diese Fragen führen weiter zu Aspekten der Selbstinszenierung und zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und deren Rahmenbedingungen. Wer kann und muss unter welchen Bedingungen – wie Frauen in der Industrialisierung – seinen gesellschaftlichen Aktionsradius auf welchen Wegen erweitern? Welche Möglichkeiten eröffnen und Herstellungskosten des Produzenten decken sowie einen bescheidenen Gewinn abwerfen, gleichzeitig den finanziellen Möglichkeiten entsprechend wohlfeil und dem sozialen Status des Käufers angemessen sein. 22 Eine Zusammenfassung der wichtigsten zeitgenössischen Argumente von Befürwortern und Gegnern der Preistaxen im Artikel »Taxe«, in: Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft, in alphabetischer Ordnung […], Bd. 181, Berlin 1843, Sp. 380–428, besonders Sp. 406–421.
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sich, welche neuen Zwänge sind erkennbar? Welche Migrationsbewegungen sind ablesbar? Hieran anknüpfend ließe sich ein weiter zeitlicher Bogen spannen, von der Aufgabe und Bedeutung der frühneuzeitlichen Zeitungen und Wochenblätter bis zur Diskussion der Bedeutung heutiger gedruckter Stellenmärkte, Jobbörsen, Internetportale usw. Die angeführten Beispiele haben den Blick auf den Quellenwert der frühneuzeitlichen Presse und einiger spezifischer Inhalte gelenkt, die auf übergeordnete Problem- und Themenfelder verweisen: den Wandel von mündlicher und schriftlicher Kommunikation, das Verhältnis von ›öffentlich‹ und ›privat‹, die Rolle von Medien bei der Bildung sozialer Netzwerke, Prozesse der Objektivierung, der Vertrauensbildung, der Selbstinszenierung.
4.
Anregungen
Darüber hinaus bietet die historische Presse vielfältige Zugriffsmöglichkeiten für die Erarbeitung medien- und kommunikationshistorischer Aufgaben und Fragestellungen. Eine medienhistorische Unterrichtseinheit sollte idealiter in Zusammenarbeit mit Bibliotheken, Museen oder Archiven durchgeführt werden, um den Erkenntnisgewinn durch das haptische Erlebnis, die Arbeit mit den Originalen, zu unterstützen. Dafür können die Schülerinnen und Schüler in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der jeweiligen Institutionen zum Beispiel eine Zeitungsreihe mit Exemplaren aus verschiedenen Jahrhunderten bis zur Gegenwart organisieren (lassen) und Arbeitsaufträge am außerschulischen Lernort durchführen. Im »Vorbeigehen« an einer derartigen Zeitungsreihe ist die Entwicklung von Zeitungsdruck, Layout, Informationsaufbereitung und Rezeptionsmöglichkeiten anschaulich zu bearbeiten. Einen ersten phänomenologischen Ansatz bieten die bereits am Layout erkennbaren Gliederungsebenen vom Korrespondenzprinzip über die Einführung von Überschriften bis zum modernen Zeitungsdesign, bei dem Text und Layout eine Einheit bilden sollen. Daran schließen sich Untersuchungen der verschiedenen Textsorten und Nachrichtenformen (Nachricht, Meldung und Bericht; Leitartikel, Kommentar ; Foto, Karikatur, Informationsgrafiken) und des Verhältnisses von Text und Bild an. Die Nachrichtenauswahl von wenigen Nachrichtenbriefen bis zur Dominanz der Agenturmeldungen ist ein weiterer Aspekt, mit dem die Nachrichtenbewertung und -gestaltung durch Redaktionen und Journalisten in den Fokus gelangt. Eng verknüpft damit sind die Geschichte des Journalismus als Beruf vom Geschäft des Druckers, Postmeisters oder Spediteurs als Zeitungsherausgeber über die Korrespondenten bis zum modernen Journalismus sowie die Frage des journalistischen Anspruchs. Den frühneuzeitlichen Anspruch des »relata refero«, wonach die Zeitung selbst kein mei-
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nungsbildendes Medium sein sollte, sondern ein ›neutrales‹ oder ›objektives‹ Transportmedium für Informationen unterschiedlichster Provenienz, gilt es in seiner historischen Bedingtheit, in seiner Relevanz, seiner Umsetzung und seinen Auswirkungen ebenso zu verdeutlichen wie die Etappen der meinungsbildenden Presse bis zur klar formulierten redaktionellen Leitlinie. In diesem Zusammenhang gewinnen auch Fragen von Anonymität und Autorschaft an Bedeutung sowie gesamtgesellschaftliche Konzepte und natürlich der Kampf um die »Preßfreiheit«. Zu den großen Unbekannten der frühneuzeitlichen Medien- und Kommunikationsgeschichte zählen verlässliche Angaben über die Rezeption der Presse. Einen Einstieg in diese Fragen bietet die Aufgabe, die ersten Sätze einer Zeitung des 17. Jahrhunderts laut vorzulesen. Der ungewohnte Druck, das Fehlen von Gliederungselementen, erläuternden Hinweisen oder Kommentaren und die barocken Satzkonstruktionen lassen das Vorlesen, das Hörverständnis und das inhaltliche Verstehen und Beurteilen der Texte zu einer Herausforderung für Schülerinnen und Schüler werden und führen zum Kern einer medienhistorischen Diskussion um die Leistungen (und Entwicklungen) der historischen Presse. Das Vorlese-Erlebnis lässt nachvollziehen, wie schwer es zunächst war, politische Informationen zu verstehen, und wie exklusiv der Leser- und auch Hörerkreis zunächst gewesen sein muss. Ergänzend sollten daher weitere Quellen oder Hilfsmittel wie historische Zeitungslexika23 herangezogen werden, um die zeitgenössischen Informationswege und -ebenen einordnen zu können. Lesevergleiche in zeitlichem Abstand von zum Beispiel fünfzig Jahren zeigen die sich verändernden medienimmanenten Rezeptionsvoraussetzungen, bis schließlich im 19. Jahrhundert die Redaktionen mit Überschriften, Kommentaren und Erklärungen inhaltliche Einordnungen und Hilfestellungen zum Textverständnis gaben. Thematisiert werden sollte in diesem Zusammenhang im Hinblick auf die Entwicklung von Medienkompetenzen die Medienentwicklung bis zur Gegenwart, in der Informationen unter dem Einfluss von Internet und Smartphone-Kommunikation oftmals nur noch in kleinen Häppchen aufbereitet werden, die Konkurrenz von Print- und Onlinemedien sowie die individuelle Mediennutzung oder auch der Wandel von Raum-Zeit-Relationen.24 Im gleichen Zusammenhang sind grundsätzliche Fragen der Medienakzep23 Beginnend mit der »Erklärung Derer in den Zeitungen gemeiniglich vorkommenden fremden und tunkeln Wörter« Kaspar Stielers (Stieler, Zeitungs Lust, S. 481–678), sind die zahlreichen Ausgaben des sogenannten Hübner’schen Zeitungslexikons einschlägig: Reales Staats- und Zeitungs-Lexicon, Leipzig 1704 u. ö., nach dem Verfasser der Vorrede Johann Hübner Hübner’sches Zeitungslexikon. 24 Grundlegend in diesem Zusammenhang für die Frühe Neuzeit: Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003.
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tanz bzw. der Reaktionen auf die Einführung neuer Medien zu behandeln. Für die Frühe Neuzeit liegen die Zeugnisse der sogenannten ›Zeitungsdebatte‹ vor, einer Abfolge von Stellungnahmen zu Vorteilen und Gefahren, das heißt zu den gesellschaftlichen Implikationen der Zeitungslektüre.25 Die Autoren konzentrierten sich unter anderem auf die Frage, welchen Kommunikationskreisen die in den Nachrichtenblättern mitgeteilten Informationen und der damit verbundene Wissenszuwachs zuzugestehen seien, und wandten sich damit grundsätzlichen Aspekten der Publizität und der geregelten beziehungsweise kontrollierten und der ungeregelten beziehungsweise unkontrollierten Verbreitung von Wissen zu. Die Neubewertung eines der ›Leitbegriffe‹ der Frühen Neuzeit, der Curiositas, führt im Zusammenhang dieser Quellen zum Verständnis von Aufklärung. Insbesondere die Epoche der Aufklärung kann mit einem medien- und kommunikationshistorischen Ansatz im Unterricht erarbeitet werden. Während die Quellenanalyse grundlegender Texte zum Beispiel von Thomasius, Wolff, Mendelssohn oder Kant das intellektuelle Aufklärungsverständnis vermittelt,26 fand die praktische Aufklärung in den und durch die Zeitschriften und viele weitere Veröffentlichungen statt, die sich zielgruppenorientiert an alle Bevölkerungskreise richteten. Die Moralischen Wochenschriften, die mit einschlägigen Titeln wie Der Patriot (Hamburg 1724–1726), Die vernünftigen Tadlerinnen (Halle/Leipzig 1725–1726), Der Biedermann (Leipzig 1727–1729), Die Matrone (Hamburg 1728–1730), Der Menschenfreund (Hamburg 1737–1739), Der Weltbürger (Berlin 1741–1742), Der Mensch (Halle 1751–1756) usw. erschienen, waren mit ihrer engen Bindung an die Leser die wichtigsten Medien der bürgerlichen Aufklärung.27 Vor dem Hintergrund einer auf dem Naturrecht beru25 Astrid Blome, »Will aber wer klug seyn und werden«; dies.: Historia et Venditio – Zeitungen als »Bildungsmittel« im 17. und 18. Jahrhundert, in: Arndt/Körber, Medien-System, S. 207–226; Hedwig Pompe: Famas Medium. Zur Theorie der Zeitung in Deutschland zwischen dem 17. und dem mittleren 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012 (besonders Kap. IV und V); Ina Timmermann: Vernünftig raisoniren lernen. Politische Meinungsbildung und -äußerung im Vorfeld bürgerlicher Öffentlichkeit am Beispiel zeitungstheoretischer Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Großbothener Vorträge 3 (2002), S. 33–72; dies.: Didaktische Implikationen der deutschen Zeitungsdebatte von Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts: Comenius, Weise, Fritsch, Stieler, Ludewig und Schumann, in: MorgenGlantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 12 (2002), S. 135–166. 26 Christian Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre, Nachdruck der Ausgabe Halle, Saalfelden 1691, Hildesheim 1998; Christian Wolff: Entdeckung der wahren Ursache von der Wunderbahren Vermehrung des Getreydes […], Halle 1718; Moses Mendelssohn: Ueber die Frage: was heißt aufklären?, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 193–200 (abgedruckt in ders.: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 6/1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 115–119); Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: ebd., S. 481–494 (abgedruckt in ders.: Werke, Bd. XI, hrsg. v. Wilhelm Weischeidel, Frankfurt 1964, S. 53–61). 27 Grundlegend noch immer Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im
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henden Überzeugung der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen wandten sich die meist fiktiven und anonymen Verfasser – darunter zum Beispiel Bodmer, Gleim, Gottsched (Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie), Klopstock, Lessing, Rabener, Schlegel – mit ihrer Kritik gegen Vorurteile und Aberglaube und verbreiteten die Grundlagen der Aufklärung, den Glauben an die Perfektibilität des Menschen. Mit lehrhaften, unterhaltenden, erbaulichen Beiträgen wandten sich die Moralischen Wochenschriften an ein breites bürgerliches und ausdrücklich auch an ein weibliches Lesepublikum. In verschiedenen didaktischen Formen propagierten sie das rationale, vernunftgeleitete Denken und Urteilen über Menschen, Dinge und die Welt allgemein und wurden zum zentralen Forum bürgerlicher Bewusstseinsbildung und Selbstverständigung. Die ›Entstehung des weiblichen Publikums‹ wurde durch die Moralischen Wochenschriften eingeleitet, die sich mit dem Erziehungsprogramm der Frühaufklärung explizit an Frauen wandten und sie ausdrücklich zur Mitarbeit an den Zeitschriften aufforderten.28 Mit der Intention, die Egalität der Geschlechter aktiv mit geschlechtsspezifisch orientierter Aufklärungspädagogik zu befördern, begann eine weibliche Leseerziehung, die die Adressatinnen zum Lesen und Schreiben animierte, Leseempfehlungen in Form von ›Frauenzimmer-Bibliotheken‹ zusammenstellte und eine Debatte um Bildungsdefizite und nicht zuletzt Schulreformen anstieß. Die Lektüre und die Teilhabe an der Aufklärung zogen unmittelbare Folgen für die Diskussion über das Geschlechterverhältnis in Ehe und Beruf nach sich. Zwar wurden Frauen nicht zuletzt als zahlende Zielgruppe des literarischen Marktes angesprochen, während zugleich die weit überwiegend männlichen Verfasser mit den ›Frauenzimmer-Journalen‹ das öfSpiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971; Helga Brandes: Moralische Wochenschriften, in: Ernst Fischer/Wilhelm Haefs/York-Gothart Mix (Hrsg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800, München 1999, S. 225–232; Elke Maar : Bildung durch Unterhaltung. Die Entdeckung des Infotainment in der Aufklärung. Hallenser und Wiener Moralische Wochenschriften in der Blütezeit des Moraljournalismus 1748–1782, Pfaffenweiler 1995. 28 Helga Brandes: Der Wandel des Frauenbildes in den deutschen Moralischen Wochenschriften. Vom aufgeklärten Frauenzimmer zur schönen Weiblichkeit, in: Wolfgang Frühwald u. a. (Hrsg.): Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848), Tübingen 1989, S. 49–64; Sharon Marie DiFino: The Intellectual Development of German Women in Selected Periodicals from 1725 to 1784, New York 1990; Helga Brandes: Die Entstehung des weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften, in: Paul Goetsch (Hrsg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994, S. 125–133; Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998; Helga Neumann: Zwischen Emanzipation und Anpassung. Protagonistinnen des deutschen Zeitschriftenwesens im ausgehenden 18. Jahrhundert (1779–1795), Würzburg 1999.
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fentliche Urteil über lesende und schreibende Frauen prägten. Doch trat bereits im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts rund ein Dutzend Frauen selbstbewusst als weibliche Autorinnen in die Öffentlichkeit, so zum Beispiel Charlotte Hezel im Wochenblatt für’s Schöne Geschlecht (Ilmenau 1779), Sophie von LaRoche in der Pomona für Teutschlands Töchter (Speyer1783–1784) oder Marianne Ehrmann in Amaliens Erholungsstunden (Tübingen 1790–1792) und Die Einsiedlerinn aus den Alpen (Zürich 1793–1794). Sie suchten im Gegensatz zu den Autoren der Moralischen Wochenschriften den realen Austausch mit ihren Leserinnen und bahnten dem weiblichen Journalismus den Weg. Die Analyse der qualitativen Veränderungen, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in den Zeitschriften für Frauen abzeichneten, gewährt tiefe Einblicke in den Wandel der bürgerlichen Gesellschaft und führt zu intensiven Diskussionen mit erstaunlichen Ergebnissen. Inhaltlich stehen Fragen von Angepasstheit und Emanzipation, über die Rolle der Frau in der Gesellschaft der Aufklärung, um Fort- und Rückschritte im Mittelpunkt. An solchen Beispielen kann das historische Urteil hervorragend geschult werden, und auch die Anknüpfungspunkte zu aktuellen Diskussionen oder zu den Angeboten in Print- und anderen Medien sind zahllos. Der kursorische Blick auf einige spezifische Erscheinungsformen frühneuzeitlicher Periodika und deren Inhalte zeigte ausgewählte Aspekte ihrer vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten im Geschichtsunterricht. Zeitungen, Zeitschriften und Intelligenzblätter des 17. und 18. Jahrhunderts halten grundlegendes Material für einen methoden- und kompetenzorientierten Unterricht bereit und eröffnen vielschichtige Perspektiven sowohl für thematische und didaktische als auch für methodische Herangehensweisen, die eine Bereicherung des Lernens und des Lehrens darstellen.
Astrid Schwabe
Multimedia statt Papier und Druckerschwärze – Das ›alte‹ Medium Zeitung in der digitalen Welt und der Geschichtsunterricht
Die Digitalisierung unserer Gesellschaft verändert(e) quasi von einer Generation auf die andere unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen grundlegend und unumkehrbar. Knapp 25 Jahre nach der Geburt des World Wide Web schreitet sie beständig fort, übt massiven Einfluss auf alle hergebrachten Medien und Medienanwendungen aus. Dies gilt auch für das Medium Zeitung, das Kommunikationsmittel der modernen Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert, nach Otto Groth zunächst zu beschreiben als regelmäßig erscheinendes und der breiten Öffentlichkeit zugängliches Druckerzeugnis, das über das aktuelle Tagesgeschehen in seiner gesamten thematischen Vielfalt berichtet.1 Dieses ›alte‹ Medium hat das Aufkommen des Hörfunks um 1920 und das des Fernsehens in den 1950er- und 1960er-Jahren durch Anpassung an neue Nutzungsgewohnheiten trotz manch schmerzhafter Prozesse überstanden. Nun stellt der digitale Wandel das traditionsreiche Medium vor weitere große Herausforderungen. Seit den 1990er-Jahren sinken die Druckauflagen der Zeitungen in der Bundesrepublik kontinuierlich: Einer Auflage von 25 Millionen Tageszeitungen im 1 Grundlegend: Otto Groth: Die Zeitung, 4 Bde., Mannheim 1928–1930. Für die Rezeption Groths in Publizistik und auch Geschichtsdidaktik siehe etwa Karl Fieberg: Zeitungen im Geschichtsunterricht, in: Praxis Geschichte 16 (2002), H. 4, S. 31–38, hier S. 31. Anders ausgedrückt sind die zentralen Charakteristika der Zeitung Publizität (also Öffentlichkeit und Zugänglichkeit), Aktualität (also Zeitnähe), Universalität (also thematische Vielfalt) und Periodizität (also regelmäßiges Erscheinen). Eine präzisere Definition der gedruckten Zeitung ist kaum möglich. Vgl. Nabob U. A. De Volder : Definitionen und Begriffe (der Zeitung), in: Emil Dovifat (Hrsg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3, Praktische Publizistik, 2. Teil. Berlin 1969, S. 49–62; Michael Schaffrath: Zeitung, in: Werner Faulstich: Grundwissen Medien, 2. Aufl., Paderborn 2004, S. 484–506, hier S. 484. Erst recht problematisch ist die Definition von Online-Zeitungsprodukten. Vgl. hierzu auch Hermann-Dieter Schröder : Zeitung, in: Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hrsg.): Medien von A bis Z, Bonn 2006, S. 399–401 und ders.: Zeitschrift, in: ebd., S. 395–398. Wochenzeitungen und politische Magazine widmen sich eher der Hintergrundberichterstattung und dienen »der tagesübergreifenden Meinungsbildung«, weshalb sie zu den Zeitschriften zu zählen sind. Vgl. Jürgen Wilke: Presse, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulze/Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, 7. Aufl., Frankfurt 2000, S. 382–417, hier S. 400.
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Jahr 1998 stehen im zweiten Quartal 2014 16,8 Millionen verkaufte Exemplare pro Tag gegenüber, bei etwa 350 Titeln.2 Im Gegensatz dazu verbuchen die Auflagen der aktuell knapp 180 als vollständige E-Paper erscheinenden Zeitungstitel seit 2005 astronomische Wachstumsquoten, wobei die absolute Zahl mit knapp 600.000 im Jahr 2014 (noch) recht überschaubar ist.3 Die gesellschaftliche Bedeutung digitaler Presseerzeugnisse wird allerdings mehr als deutlich, wenn sich Millionen Userinnen und User täglich in den Webangeboten oder Apps von Zeitungsverlagen über das aktuelle Geschehen informieren. Nach aktuellen Angaben des »Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger« (BDZV) besuchen etwa 44 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre die mehr als 660 existierenden Webangebote deutscher Zeitungsverlage.4 Hinzu kommen etwa 450 teilweise kostenpflichtige Zeitungs-Apps für Tablets oder Smartphones.5 Auch wenn gedruckte Tageszeitungen gegenwärtig noch zwei Drittel der über 14-jährigen Bundesbürgerinnen und -bürger regelmäßig erreichen sollen, der generationelle Wandel der Nutzungsgewohnheiten ist markant. Besonders junge Menschen unter 30 Jahren ziehen der ›guten alten‹ gedruckten Zeitungsausgabe multimediale Webangebote vor. In dieser Altersgruppe lesen zwei Drittel Zeitungen online.6 Die Reichweite gedruckter Presseerzeugnisse – also der Wert, der angibt, »wie viele Menschen in einem bestimmten Zeitintervall mit diesem Angebot erreicht worden sind«7 – sinkt kontinuierlich, je jünger die Leserinnen 2 Vgl. http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/wirtschaftliche-lage/zeitungen-in-zahlen-unddaten/ (26. 02. 2015). Die Gesamtauflage der Zeitungen wird für das zweite Quartal 2014 mit etwa 21,5 Millionen pro Erscheinungstag angegeben. Vgl. Anja Pasquay : Zur wirtschaftlichen Lage der Zeitungen in Deutschland 2014, verfügbar unter http://www.bdzv.de/maerkte-unddaten/wirtschaftliche-lage/artikel/detail/zur_wirtschaftlichen_lage_der_zeitungen_in_deutsch land_2014/ (26. 02. 2015). Die benannten Auflagenhöhen sind durchaus kritisch zu hinterfragen, da sie neben Abonnement- und Einzelverkauf in nicht unerheblichem Maße Bordexemplare und sonstige Verkäufe (bspw. Verkäufe für Gratis-Verteil-Werbeaktionen) in die für das Anzeigengeschäft so zentralen Auflagenzahlen einrechnen (im zitierten Quartal 2014 werden für diese Verkäufe mindestens eine Million Exemplare angegeben); vgl. hierzu u. a. Andreas Bull: Die Auflagenlüge, 21. Januar 2010, verfügbar unter http://blogs.taz.de/haus blog/2010/01/21/die-auflagenluege/ (26. 02. 2015). 3 Vgl. Pasquay, Zur wirtschaftlichen Lage; http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/schau bilder/ (26. 02. 2015); http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/schaubilder/seite/16/ (26. 02. 2015). 4 Vgl. hier und im Folgenden Pasquay, Zur wirtschaftlichen Lage; dies.: Gedruckt oder auf dem Display – Deutschland liest Zeitung, verfügbar unter http://www.bdzv.de/fileadmin/bdzv_ hauptseite/markttrends_daten/Reichweiten/Pasquay_Reichweiten.pdf (26. 02. 2015); http:// www.bdzv.de/maerkte-und-daten/wirtschaftliche-lage/zeitungen-in-zahlen-und-daten/ (26. 02. 2015). 5 Vgl. http://www.bdzv.de/zeitungen-online/zeitungslandschaft/ (26. 02. 2015). 6 Vgl. http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/wirtschaftliche-lage/zeitungen-in-zahlen-unddaten/ (26. 01. 2015). 7 Hardy Dreier : Reichweite, in: Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hrsg.), Medien, S. 291–293, hier S. 291.
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und Leser sind. 2014 lag die Reichweite für gedruckte Tageszeitungen nach Angaben des Branchenverbands bei den über 70-Jährigen bei 79 Prozent, bei den 20- bis 29-Jährigen nur bei 44 Prozent; bei Jugendlichen waren es noch einmal 13 Prozentpunkte weniger.8 –Anscheinend rezipiert gerade die ›Zielgruppe‹ schulischen (Geschichts-)Unterrichts Zeitungsangebote – wenn überhaupt – bevorzugt digital. Dennoch können wir im Jahr 2015 trotz all der Veränderungen der Medienlandschaft konstatieren: Die schon mehrfach totgesagten Printmedien9 scheinen den konkurrierenden digitalen Angeboten einiges entgegenzusetzen zu haben. Zahlreiche Printprodukte scheinen ihre Meinungsführerschaft in gesellschaftlichen Diskursen zu verteidigen.10 Die Tageszeitung gilt weiterhin als besonders glaubwürdig, auch unter Jugendlichen. Von den zahlreichen Medienangeboten liefert sie am ehesten regionale und lokale Informationen.11 Dieser knappe Problemaufriss verdeutlicht: Blicken wir auf ›Zeitungsangebote online‹, befinden wir uns inmitten des aktuellen gesellschaftlichen Strukturwandels, und wir beschäftigen uns mit einem relevanten Sujet mit Lebensweltbezug. Der Beitrag möchte aktuelle Fragen zum Phänomen ›Zeitungen digital‹ geschichtsdidaktisch wenden und neben der Diskussion einiger grundsätzlicher Überlegungen erste unterrichtlich-pragmatische Hinweise geben. Dabei gilt es, die allgemeine Flüchtigkeit der digitalen Medien12 und die Prozesshaftigkeit des medialen Strukturwandels zu berücksichtigen. Im Folgenden soll zunächst das Leistungsvermögen der spezifischen Quellengattung 8 Vgl. http://www.bdzv.de/maerkte-und-daten/wirtschaftliche-lage/zeitungen-in-zahlenund-daten/ (26. 02. 2015). Schaffrath weist 2005 darauf hin, dass die Zahlen des Branchenverbands in Bezug auf die Reichweite höher liegen als die anderer Studien; vgl. Schaffrath, Zeitung, S. 502. 9 Vgl. hierzu Christian Veer : Vor Prognosen wird gewarnt. Oft totgesagt und quicklebendig – die gedruckte Zeitung, 2005, bis Ende Januar 2015 verfügbar unter http://www.bdzv.de/ veranstaltungen-termine/veranstaltungsarchiv/veranstaltungen-2005/400-jahre-zeitung/re daktionspaket/textbeitraege/vor-prognosen-wird-gewarnt/ (26. 01. 2015). 10 Vgl. Nicolai Hannig: Aufklärende Geschichte. Der zeithistorische Journalismus des SPIEGEL im Profil, in: Susanne Popp/Michael Sauer/Bettina Alavi u. a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung, Göttingen 2010, S. 77–92, hier S. 78. 11 Vgl. Christian Breunig/Karl-Heinz Hofsümmer/Christian Schröter : Funktionen und Stellenwert der Medien – das Internet im Kontext von TV, Radio und Zeitung. Entwicklungen anhand von vier Grundlagenstudien zur Mediennutzung in Deutschland, in: Media Perspektiven 3 (2014), S. 122–144, hier S. 125–127; vgl. auch http://www.bdzv.de/maerkte-unddaten/schaubilder/ (26. 02. 2015). 12 Dieses charakteristische Merkmal digitaler Web-Anwendungen zeigte sich auch bei der Erarbeitung dieses Beitrags: Direkt vor Einreichung des Beitrags stellte der »Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger« sein gesamtes Webangebot um (http://www.bdzv.de/ [26. 02. 2015]), sodass ein Großteil der hier in der Einführung angeführten Links zu aktuellen Mediendaten, die ich wenige Tage zuvor eingefügt hatte, auf ›tote‹ Links führte, weil die Inhalte nicht mehr an der gleichen Position des Webangebots hinterlegt waren.
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gedruckter historischer Zeitungen für das historische Lernen knapp rekapituliert werden13, um daraus die unterrichtlichen Einsatzmöglichkeiten digitaler Zeitungen zu ersehen. Hierunter werden sowohl Tages- und Wochenzeitungen als auch politische Magazine und satirische Zeitschriften verstanden, auch wenn sie aus medienwissenschaftlicher Perspektive zu unterscheiden wären.14 Im Mittelpunkt des Beitrags sollen Fragen nach den besonderen Lernpotenzialen digitaler Zeitungsangebote und den durch sie zu fördernden historischen Kompetenzen stehen.
1.
Die gedruckte historische Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht: Didaktische Potenziale
Fassen wir kurz zusammen, welche didaktischen Potenziale der Quelle gedruckte Zeitung für das historische Lernen zugeschrieben werden: »[D]a Zeitungen die jeweils aktuellen Problemlagen und das geistige Klima der Zeit abbilden«15 – und ausbilden –, wird die spezifische Textquelle Zeitung respektive Zeitschrift mit ihrer jeweiligen politischen oder gesellschaftlichen Tendenz in der fachdidaktischen Literatur als vergleichsweise leicht verfügbare Originalquelle zur Politikgeschichte betrachtet, die die Rekonstruktion des Handelns politischer und gesellschaftlicher Akteure erlaubt.16 Zeitungen dienen aber auch 13 14 15 16
Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Christian Kuchler in diesem Band, S. 31ff. Siehe Anm. 1. Fieberg, Zeitungen, S. 32. Vgl. hier und im Folgenden insbesondere Fieberg, Zeitungen; Michael Sauer : »Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen«. Zeitung als Quelle, in: Geschichte lernen 124 (2008), S. 2–10; ders.: »Was sich begeben und zugetragen hat«. Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Markus Bernhardt/Gerhard Henke-Bockschatz (Hrsg.): Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2006, S. 242–255; David Luginbühl: Printmedien, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2006, S. 165–184, bes. S. 171–174; Hans-Jürgen Pandel: Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, 4. Aufl., Schwalbach/Ts. 2012, S. 51–55; Waldemar Grosch: Schriftliche Quellen und Darstellungen, in: Hilke Günther-Arndt/Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 6. Aufl., Berlin 2014, S. 74–99, S. 79f.; Nadine Ritzer/ Sabine Ziegler : Die europäische Integration im Spiegel von Zeitungen und Zeitschriften, in: Furrer/Messmer (Hrsg.), Handbuch, S. 381–404, bes. S. 386–391; Sylvia Mebus: Zur Entwicklung der Rekonstruktionskompetenz am Beispiel der Quellengattung Tageszeitung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 162–177, hier S. 163. Für konkrete Unterrichtsideen vgl. u. a. Themenheft Zeitung der Zeitschrift Geschichte lernen 124 (2008), zudem weitere Artikel in Geschichte lernen und Praxis Geschichte, bspw. Klaus Fieberg: »Der Krieg ist aus!« Das Kriegsende im Spiegel deutscher und internationaler Zeitungen, in: Praxis Geschichte 2 (2005), S. 12–15; Thomas Rühl: Zeit(ungs)bild 1923. Regionalzeitungen im Geschichtsunterricht, in: Geschichte lernen 77 (2000), S. 50–52; Gerhard Meyer : Die 68er-
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als Quellen für sozial-, kultur-, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen, erlauben die Annäherung an Haltungen der Öffentlichkeit. Denn: Zeitungen müssen sich verkaufen, sie brauchen folglich Leserinnen und Leser, die sie dort abholen sollten, wo sie stehen. Presseerzeugnisse spiegeln – und produzieren – also den sogenannten ›Zeitgeist‹, sowohl in ihrem redaktionellen als auch in ihrem Anzeigenteil. Nach Michael Sauer »lassen [Zeitungen] uns die Informationslage und die Wahrnehmungsperspektive damaliger Leser nachvollziehen«.17 Zeitungen und Zeitschriften eignen sich gut, um bei der Erarbeitung eines historischen Gegenstands in »synchrone[n] Vergleiche[n]«18 den didaktischen Kriterien der Multiperspektivität und der Offenheit Rechnung zu tragen. Dies gilt beispielsweise für Untersuchungen von Druckerzeugnissen unterschiedlicher politischer Ausrichtung, aus verschiedenen Ländern oder verschiedenen politischen Systemen, von unterschiedlichen Körperschaften oder Verbänden und auch für die Analyse von überregionalen und lokalen Zeitungen19, um den Niederschlag ›großer Politik‹ vor Ort zu betrachten. Diachrone Analysen stellen den Wandel in den Mittelpunkt: Wie hat sich ein Ereignis entwickelt? Wo lagen entscheidende Wegmarken? Welche Handlungsspielräume von Akteuren zeigen sich? Welche gesellschaftlichen Veränderungen werden deutlich (Alteritätserfahrung)? Zeitungen können zudem das Gefühl für Gleichzeitigkeiten gravierender politischer Umwälzungen und alltäglicher Dinge vermitteln. Da sich Zeitungen in der Regel an die breite Öffentlichkeit richten, also »bereits für ein Publikum aufbereitet [sind]«20, können Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht leichter mit ihnen arbeiten als mit manch anderen Originalquellen. Zeitungen bieten große Chancen für handlungsorientierte Unterrichtsideen (von der Ergänzung einer lückenhaften Zeitungsseite über das Verfassen von Leserbriefen bis hin zum Rollenspiel einer Redaktionskonferenz) und forschend-entdeckende Lernkonzepte.21 Die Quelle Zeitung
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Bewegung und die zeitgenössischen Medien, in: Geschichte lernen 86 (2002), S. 59–65; Ludger Remus: Kalter Krieg in den Schlagzeilen, in: Geschichte lernen 94 (2003), S. 52–58; Beiträge u. a. von Ferdinand Küpper-Jacobs, Heinrich Rüschenschmidt und Waltraud Maisch in: Eva Brand/Peter Brand (Hrsg.): Die Zeitung im Unterricht, 2. Aufl., Aachen 2002. Ganz früh Klaus Lampe: Der Kieler Matrosenaufstand vom Nov. 1918. Die Tageszeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Karl Filser : Theorie und Praxis des Geschichtsunterrichts, Bad Heilbrunn/Obb. 1974, S. 166–183. Sauer : »Was sich begeben und zugetragen hat«, S. 245. Ritzer/Ziegler, Integration, S. 387. Vgl. hierzu Bernard Menapace: Die lokale Zeitung als historische Quelle, in: Lauenburgische Heimat. Zeitschrift des Heimatbunds und Geschichtsvereins Herzogtum Lauenburg 149 (1998), S. 77–83. Grosch, Schriftliche Quellen, S. 80. Vgl. für eine Übersicht handlungsorientierter Unterrichtsideen Michael Sauer : Handlungsorientiert mit Zeitungen arbeiten. Anregungen und Beispiele, in: Geschichte lernen 124
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erlaubt auch die Schulung von Methodenkompetenz – in Bezug auf die Quellenkritik im Allgemeinen und das Medium Zeitung im Speziellen (unterschiedliche Zeitungstypen, verschiedene journalistische Formen, aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und wirtschaftlich-technische Voraussetzungen der Zeitungsproduktion).
2.
Digitalisierte und digitale Zeitungen im (Geschichts-)Unterricht
Schon in den einleitenden Bemerkungen wurde deutlich: Der Gegenstandsbereich ›Zeitungen in der digitalen Welt‹ umfasst ein breites Spektrum, das von Faksimiles digitalisierter historischer Zeitungen über kostenfreie Webangebote von Zeitungsverlagen mit ausgewählten Inhalten bis hin zu kostenpflichtigen EPapers und speziell produzierten multimedialen Zeitungs-Apps für Smartphones und Tablets reicht. Entsprechend vielfältig sind potenzielle Einsatzmöglichkeiten digitalisierter beziehungsweise digitaler Presseerzeugnisse im Unterricht. Ich sehe fünf – nur idealtypisch voneinander abzugrenzende – Felder, in denen digitalisierte respektive digitale Zeitungen den Geschichtsunterricht nachdrücklich bereichern können: – Zugang zu (digitalisierten) historischen Zeitungen, – digitale/digitalisierte Zeitung als zeitgeschichtliche Quelle (Rekonstruktion), – digitale/digitalisierte Zeitung als geschichtskultureller Akteur (Dekonstruktion), – digitale/digitalisierte Zeitung als Plattform für (geschichtskulturelle) Debatten, – digitale Zeitung als Gegenstand ›mediengeschichtlicher Reflexionen‹. Diese differenzierten Anwendungsbereiche will ich nun auf der Basis des eben Skizzierten aus fachdidaktischer Perspektive diskutieren. Wenn ich dabei von Zeitungen spreche, sind folglich digitale Ausgaben gemeint.
2.1
Zugang zu – digitalisierten – historischen Zeitungen
Schon für gedruckte Zeitungen sieht die Forschung eine verhältnismäßig gute Zugänglichkeit über öffentliche Bibliotheken und Archive als Pluspunkt, zu(2008), S. 11–15, S. 11f.; Ritzer/Ziegler, Integration, S. 389–391. Siehe hierzu auch die Beiträge von Fiona Pollmann (S. 89ff.) und Thomas Göttlich (S. 103ff.) in diesem Band.
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mindest für Zeitungen aus dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert.22 Die digitale Welt eröffnet weitere Möglichkeiten, nämlich den barrierefreien Zugang zu zahlreichen digitalisierten historischen Zeitungen und Zeitschriften direkt vom Klassenzimmer oder dem heimischen Schreibtisch der Lehrkraft und/oder der Lernenden aus. Zahlreiche Bibliotheken oder Forschungseinrichtungen und -projekte bieten – fast ausnahmslos kostenfrei – diverse digitalisierte Faksimiles zum pdf-Download an. Die reiche Auswahl deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften reicht von überregional bedeutenden satirischen Zeitschriften wie dem Wahren Jacob (1884–1933)23, Kladderadatsch (1848–1944)24 oder Simplicissimus (1896–1944)25 über die preußische Amtspresse zur Regierungszeit Bismarcks26 und bayrische Zeitungen zur Zeit der Revolution 184827 bis hin zu unzähligen regionalen Zeitungsangeboten, beispielsweise aus dem südbadischen Staufen bei Freiburg (Staufener Wochenblatt 1875–1978)28. Spezifische thematische Angebote, wie digitalisierte Feldzeitungen oder Kriegszeitungen aus dem Ersten Weltkrieg29, Sammlungen jüdischer Periodika30 oder die Pressechronik des Jahres 193331, ergänzen die Vielfalt. Die hier nur kursorisch zusammengestellten (deutschsprachigen) Sammlungen werden beständig erweitert und ergänzt, weshalb es nicht leicht fällt, den Überblick zu behalten.32 22 Vgl. stellvertretend Sauer: »Was sich begeben und zugetragen hat«, S. 247f. 23 Uniform Resource Names (URN): urn:nbn:de:bsz:16-diglit-63646; Persistent Uniform Resource Locator (PURL): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16-diglit-63646; URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/wj (26. 02. 2015). 24 URN: urn:nbn:de:bsz:16-diglit-53546; PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:16diglit-53546; URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla (26. 02. 2015). 25 http://www.simplicissimus.info/ (26. 02. 2015). 26 http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ (26. 02. 2015). 27 http://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/bayerische-zeitungen-1848-1850 (26. 02. 2015). 28 http://www.ub.uni-freiburg.de/?id=118 (26. 02. 2015). 29 http://www.ub.uni-heidelberg.de/helios/digi/feldzeitungen.html (26. 02. 2015); http://s2w. hbz-nrw.de/llb/nav/classification/1086972 (26. 02. 2015). 30 http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/nav/index/title/ (26. 02. 2015). 31 http://pressechronik1933.dpmu.de/ (26. 02. 2015); vgl. den entsprechenden Beitrag hier im Band. 32 Zusätzlich zu erwähnen sind an digitalisierten historischen Zeitungen rsp. Zeitschriften: weitere lokale Zeitungen und Zeitschriften der UB Heidelberg, v. a. aus Kunst, Kunstgeschichte, Ägyptologie, Archäologie (http://digi.ub.uni-heidelberg.de/de/sammlungen/zeit schriften_zeitungen/titel.html#K); diverse Zeitungen aus Deutschland und deutsche Zeitungen im Ausland im Zeitungsinformationssystem ZEFYS der StaBi zu Berlin (http://zefys. staatsbibliothek-berlin.de/list/); das Zeitschriftenportal der Thüringer ULB (http://zs.thulb. uni-jena.de/content/main/journalList.xml#A); diverse österreichische Zeitungen des 16. bis 20. Jahrhunderts auf Austrian Newspapers Online (ANNO) (http://anno.onb.ac.at/) (alle zuletzt aufgerufen am 26. 02. 2015). Eine Suchmöglichkeit bietet der »Webguide Geschichte« auf historicum.net über den Publikationstyp ›Periodika‹, dann »einzelne Zeitungen (digitalisiert)« und »Sammlungen von Zeitungen« (https://www.historicum.net/metaopac/start. do?View=histals& Query [26. 02. 2015]).
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Zudem divergieren Tiefe der Erschließung und Benutzerfreundlichkeit bei der Suche und bei ihrer Bedienung stark, weshalb sich mancher digitale Spaziergang in den Weiten digitalisierter Zeitungsangebote als aufwendig, aber dennoch lohnend erweist. Besondere didaktische Chancen bietet der grenzüberschreitende virtuelle Zugang zu digitalen Archiven fremdsprachiger Zeitungen. Sie ermöglichen es, die Perspektiven anderer Nationen und Gesellschaften in den ›klassischen‹ und den bilingualen Geschichtsunterricht zu holen, um historische Sach- und Orientierungskompetenz zu fördern33 ; allerdings, und dies gilt es unbedingt zu berücksichtigen, stellt der Einsatz fremdsprachiger Texte sehr hohe Anforderungen an die Sprachkompetenzen der Lernenden.34 Bei der Nutzung dieser Digitalisate fällt die ›sinnliche Erfahrung von Geschichte‹, der haptische Eindruck, den der Kontakt mit ›alten Zeitungen‹ bietet,35 weg. Dieses Manko muss klar benannt werden. Dennoch stellt die Zugänglichkeit historischer Zeitungen in der digitalen Welt einen didaktischen Mehrwert dar : Das Netz bietet der engagierten Lehrkraft auf diese Weise einen Steinbruch meist kostenfrei zu nutzender Quellen, für den individuellen Einsatz oder für Längsschnittanalysen. Zugleich bietet sie den Lernenden bei entsprechender Anleitung Raum für selbstgesteuertes Lernen. Die Suche nach digitalisierten – und digitalen – Zeitungsausgaben im Netz kann zudem in verschiedenen Ausprägungen und Graduierungen der in quasi allen Geschichts- und Gesellschaftskundelehrplänen geforderten Schulung der Recherchekompetenz dienen.36
33 Vgl. Waltraud Schreiber/Andreas Körber/Bodo von Borries u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006; Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen Historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007. 34 Vgl. zu diesen Aspekten die Beiträge von Sven Oleschko und Peter Geiss in diesem Band. 35 Vgl. Christian Kuchler : Die Edition »Zeitungszeugen« und die Rezeption nationalsozialistischer Tagespresse im Geschichtsunterricht, in: GWU 62 (2011), S. 433–442, S. 434. 36 Vgl. exemplarisch für Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Hauptschule in Nordrhein-Westfalen. Gesellschaftslehre. Erdkunde, Geschichte, Politik, Düsseldorf 2011, verfügbar unter http:// www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/hauptschule/GL_ HS__KLP_Endfassung.pdf (26. 02. 2015), S. 48, 55; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2007, verfügbar unter http://www. schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_g8/gym8_ geschichte.pdf (26. 02. 2015), S. 28; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, verfügbar unter http://www.schul entwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf (26. 02. 2015), S. 21.
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2.2
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Digitale/digitalisierte Zeitung als zeitgeschichtliche Quelle (Rekonstruktion)
Lag der Fokus bis hierher auf nachträglich digitalisierten historischen Zeitungen, meist aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, sollen nun andere Presseprodukte in den Blickpunkt rücken: Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart, die als Quellen zur Rekonstruktion zeithistorischer Phänomene dienen können. Lehrkräfte haben einerseits die Möglichkeit, diese Presseerzeugnisse ergänzend beziehungsweise kontrastierend zu anderen Unterrichtsmaterialien einzusetzen, wenn sie gut aufbereitete Themen im Unterricht bearbeiten wollen. Andererseits können Zeitungen respektive Zeitschriften aus der Zeit nach 1945 Zugänge zu Themen der Zeitgeschichte bieten, die auf andere Weise (bisher) noch schwer zu erschließen sind. Als ein Beispiel sei hier die Analyse der ausländerfeindlichen Gewalttaten, die Anfang der 1990er in Deutschland stattfanden, und die Diskussion ihres gesellschaftlichen Hintergrunds mit Asylrechtsdebatte, Überfremdungsangst und NPD-/DVU-Wahlerfolgen angeführt.37 Vielversprechend scheint auch die multiperspektivische Rekonstruktion politischer Affären, beispielsweise der Barschel-Affäre 1987/1993 oder des Skandals um die Jenninger-Rede 1988. Solche Untersuchungen auf der Basis von Pressequellen ermöglichen es zudem, Fragen nach der Rolle und Aufgabe der Medien in der Gesellschaft, nach ihren Handlungsintentionen und -spielräumen, nach ihrer Perspektivität und ihrer Macht zu stellen. In der erwähnten Barschel-Affäre spielte beispielsweise das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine zentrale Rolle und wurde zum maßgeblichen Akteur, worauf sich ein analytischer Blick durchaus lohnt.38 Die Arbeit mit diesen Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften der Nachkriegszeit ermöglicht ebenso die Analyse geschichtspolitisch bedeutsamer Kontroversen anhand ihres Niederschlags in der zeitgenössischen Presse. Die Beschäftigung mit historiografischen Auseinandersetzungen, die den Weg in die mediale Öffentlichkeit außerhalb der fachwissenschaftlichen Disziplin fanden, hilft beim Verständnis des Charakters von Geschichtsschreibung als »Deutungsangebote« und Sinnbildung und damit der »gesellschaftlichen Funktion«39 37 Vgl. hierzu Uwe Danker/Astrid Schwabe: Anschlag von Mölln/Rechtsextremismus, in: Uwe Danker/Astrid Schwabe/Jan Schlürmann u. a.: Schleswig-Holstein 1800 bis heute. Eine historische Landeskunde, hrsg. von Uwe Danker und Utz Schliesky, Husum 2014, S. 350–360. 38 Als Beispiel vorbildlicher Ideologiekritik zur medialen Berichterstattung vgl. Meyer, 68erBewegung. Zur Barschel-Affäre vgl. Uwe Danker : »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« Die Barschel-Affäre 1987 und ihre Entwicklungen, in: ders.: Die Jahrhundert-Story, Bd. 3, Flensburg 1999, S. 208–227; Ouaj Abdel-Jamil: Die Barschel-Affäre im »Spiegel«. Eine mediensoziologische Untersuchung, Frankfurt/Main u. a. 1995. 39 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsschreibung im Unterricht. Hinführung zur Diskurs- und
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von Geschichte, wie Hans-Jürgen Pandel formuliert. Sie bietet auf diese Weise Orientierung in der Geschichtskultur. Denkbare Themen für die Sekundarstufe II wären die sogenannte ›Goldhagen-Debatte‹ im Jahr 1996 um den Vorabdruck der Studie des amerikanischen Soziologen und Politikwissenschaftlers Daniel J. Goldhagen über die Motivationen von deutschen Holocaust-Tätern in der Zeit40, der sogenannte Historikerstreit 1986, auch hier mit Beteiligung der Zeit41, oder die öffentlichen Debatten um das Holocaust-Mahnmal42. Nahezu alle bedeutenden überregionalen deutschen Tageszeitungen haben Volltextarchive, die bis in die frühe Bundesrepublik zurückreichen. Allerdings sind deren Artikel meist ganz oder teilweise kostenpflichtig zu erwerben.43 Die komfortablen Volltextarchive des Spiegels44 und der Wochenzeitung Die Zeit45 (1946/47 bis heute) sind jedoch kostenfrei. Somit wäre Pandel zumindest für die benannten Medien zu widersprechen, wenn er moniert, dass Beiträge in den Tages- und Wochenzeitung zu politischen und gesellschaftlichen Kontroversen »flüchtig« und »[e]ine Woche nach Erscheinen […] für den Unterricht meist kaum noch aufzutreiben« seien.46 Zu beachten ist allerdings: Bei den OnlineArchiven der einzelnen Zeitungen und Zeitschriften ist jeweils zu prüfen, ob die Archive Vollständigkeitsansprüchen genügen und ob die Artikel in Originallänge oder gekürzt angeboten werden.
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Feuilletonfähigkeit, in: Furrer/Messmer (Hrsg.), Handbuch, S. 119–132, hier S. 120. Vgl. auch im Folgenden ebd., S. 120f. Vgl. hierzu Sven F. Kellerhof: Geschichte muss nicht knallen – Zwischen Vermittlung und Vereinfachung: Plädoyer für eine Partnerschaft von Geschichtswissenschaft und Geschichtsjournalismus, in: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hrsg.): Aufklärung, Bildung, »Histotainment«? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt/M. 2008, S. 147–158, hier S. 147–150. Zur Goldhagen-Debatte vgl. Julius H. Schoeps (Hrsg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, 2. Aufl., Hamburg 1996. Vgl. u. a. Klaus Große Kracht: Debatte: Der Historikerstreit, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 11. 1. 2010, verfügbar unter http://docupedia.de/zg/Historikerstreit?oldid= 97412 (26. 02. 2015). Vgl. hierzu Antje Langer : Holocaust-Mahnmal in Berlin, in: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 290–293. Die im Projekt DDR-Presse digitalisierten und für die Volltextsuche erschlossenen Zeitungen Neues Deutschland, Berliner Zeitung und Neue Zeit (1945/46–1990/93/94) sind für wissenschaftliche Einrichtungen frei zugänglich, sonst ist eine Anmeldung nötig; http://zefys. staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/?no_cache=1 (26. 02. 2015). http://www.spiegel.de/spiegel/print/ (26. 02. 2015). http://www.zeit.de/2015/index (26. 02. 2015). Pandel, Geschichtsschreibung, S. 125.
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Digitale/digitalisierte Zeitung als geschichtskultureller Akteur (Dekonstruktion)
Die letztgenannten Beispiele verweisen schon auf einen weiteren Aspekt, der nun in den Fokus rücken soll: Zeitungen respektive Zeitschriften als geschichtskulturelle Akteure. Stand eben die historische Rekonstruktion von Kontroversen und Debatten im Mittelpunkt, die durch mediale Akteure ausgelöst oder befeuert worden sind, soll der Blick nun auf aktuelle Fragen gerichtet werden: Auch in der Gegenwart wirken digital zugängliche Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften in geschichtskulturellen Debatten durch den Abdruck von Rezensionen, Reportagen, Kommentaren und Entgegnungen als Initiatoren oder entscheidende Katalysatoren.47 Zu sehen war dies etwa im Jahr 2013 in der Debatte um die Kriegsschuldfrage im Ersten Weltkrieg beziehungsweise die Werke von Christopher Clark48 und Herfried Münkler49. Doch Zeitungen wirken auch als erinnerungskulturelle Akteure, wenn sie – geschichtskulturellen Konjunkturen folgend – flankierend und begleitend Geschichte(n) populär und breitenwirksam vermitteln. Oft sind Gedenktage und Jubiläum Anlässe für Artikel über überregionale, aber auch regionale historische Ereignisse, die Pandel als »Gedenktexte«50 bezeichnet. Vielfältige Unterrichtskonzepte lassen sich für unterschiedliche Klassenstufen und Schulformen entwerfen: Durch die Untersuchung von längeren Zeiträumen in verschiedenen Zeitungs-/Zeitschriftenangeboten können Schülerinnen und Schüler zunächst rein quantitativ das Auftauchen von ›Geschichte‹ respektive von einem spezifischen historischen Thema untersuchen. Der Vergleich von Gedenktexten zu einem historischen Ereignis aus verschiedenen Jahren ermöglicht die Erfahrung von Historizität, erlaubt die Auseinandersetzung mit Wandel in gesellschaftlichen Deutungsmustern. Weiter gehend können 47 Vgl. hier und im Folgenden Pandel, Geschichtsschreibung, S. 125–129; Maik ZülsdorfKersting: Zwischen Dämonisierung und Glorifizierung – Zeitgeschichte in der BILD-Zeitung, in: Popp/Sauer/Alavi u. a. (Hrsg.), Zeitgeschichte, S. 47–60, hier S. 75; Jeannette van Laak: Zeitgeschichte in kommerziellen Printmedien am Beispiel des stern, in: ebd., S. 93–108, hier S. 96f.; auch Günter Hammer : Geschichte in der Presse, in: Klaus Füßmann/ Heinrich Th. Grüter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln u. a. 1994, S. 227–234, hier S. 229; ganz früh zum Komplex Geschichte in der Presse: Ulrich Kröll: Geschichte in der Tages- und Wochenpresse, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 15 (1987), S. 76–86 und ders.: Geschichte in der Tages- und Wochenpresse – Unterhaltsamer Nachhilfeunterricht für Erwachsene?, in: ders. (Hrsg.): Massenmedien und Geschichte. Presse, Rundfunk und Fernsehen als Geschichtsvermittler, München 1989, S. 11–62. 48 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. 49 Herfried Münkler : Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013. 50 Pandel, Geschichtsschreibung, S. 125.
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Astrid Schwabe
Reflexionen über spezifisch ›historische Nachrichtenwerte‹ wie Aktualitätsbezug durch Jubiläen und historische Bezüge aktueller Ereignisse, die kommunikative Anschlussfähigkeit in Bezug auf die Lebenswelt der Leserinnen und Leser (Stichwort: Nähe) und die Vielfalt in Themen und Darstellungsformen erfolgen.51 Einen besonderen Blick lohnen dabei vorgebliche ›Skandale‹: Welche Mechanismen lassen sich bei Skandalisierungen und moralisierenden Debatten erkennen? Auch kann es lohnend sein, einzelne Medien ausführlich zu untersuchen, um ihr besonderes »geschichtskulturelle[s] Profil«52 herauszuarbeiten. Die Suche nach und die Analyse von historischen Themen in der Lokalzeitung bietet wiederum einen besonderen Lebensweltbezug für die Lernenden: Welche Themen tauchen wann auf ? Welche spezifisch lokalen oder regionalen Bezüge gibt es? Wie spiegeln sich lokale geschichtskulturelle Debatten, beispielsweise um die Umbenennung von Straßen oder Plätzen aufgrund belasteter Namensgeberinnen und -geber, in der lokalen Presse? Diese Unterrichtsideen stellen die Auseinandersetzung mit journalistischen historischen Darstellungen in Zeitungen und Zeitschriften in den Mittelpunkt, richten ihren Blick auf den reflektierten, entmythisierenden Umgang mit medialen Ausprägungen der gegenwärtigen Geschichtskultur. Dies geschieht mit dem Ziel, die Dekonstruktionskompetenz (oder die geschichtskulturelle Kompetenz)53 zu schulen. Möglich sind solche Lehr-Lern-Arrangements auch unter Hinzuziehung von reinen Printprodukten. Die digitale Welt erleichtert uns jedoch den Zugang zu entsprechenden journalistischen Produkten erheblich, außerdem ist die Vielfalt größer. Digitale Zeitungen und Zeitschriften erlauben es, ohne großen Aufwand quasi tagesaktuell geschichtskulturelle Themen in den Unterricht zu integrieren, was eine große Bereicherung darstellt.
51 Vgl. hier und im Folgenden Luginbühl, Printmedien, S. 175f.; auch Volker Ullrich: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Zur Präsentation von Geschichte in den Printmedien, in: Sabine Horn/Michael Sauer : Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen, S. 177–185, hier S. 178ff.; Kurt Kozzyk: Geschichte in der Presse, in: Klaus Bergmann/ Klaus Fröhlich/Annette Kuhn (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Aufl., SeelzeVelber 1997, S. 635–641, S. 637ff. 52 Marko Demantowsky : Einführung, in: Popp/Sauer/Alavi u. a., Zeitgeschichte, S. 39–46, hier S. 46; vgl. hierzu Zülsdorf-Kersting, Dämonisierung; Van Laak, Zeitgeschichte; Hannig, Geschichte. 53 Vgl. Schreiber/Körber/Borries u. a., Denken; Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2005. S. 40.
Multimedia statt Papier und Druckerschwärze
2.4
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Digitale/digitalisierte Zeitung als Plattform für (geschichtskulturelle) Debatten
Bezogen auf das vierte Feld verschiebt sich der Blick von den digitalen Presseprodukten auf die Userinnen und User. Die überwiegende Mehrheit der OnlineAngebote der Zeitungsverlage versucht ihre Leser-Blatt- beziehungsweise UserOnline-Bindung durch interaktive Angebote zu erhöhen. Sie ermöglichen den Userinnen und Usern das Kommentieren ihrer journalistischen Beiträge, binden Diskussionen über den Kurznachrichtendienst »Twitter« in ihr Angebot ein, verweisen auf andere soziale Netzwerke und Diskussionsplattformen. Digitale Zeitungsangebote werden so zu Foren und damit zu »Orten, an denen gesellschaftliche Bewertungen von historischen Fragen ausgetragen werden«54, wie Christoph Kühberger für Web-2.0-Anwendungen im Allgemeinen konstatiert. Auf diese Weise können Webangebote von Zeitungen gerade in Bezug auf den lokalen und regionalen Bereich in zweierlei Hinsicht einen interessanten Unterrichtsgegenstand bilden: Zum einen können Lerngruppen gemeinsam diese spezielle Form des gesellschaftlichen Diskurses über Geschichte und ihren Stellenwert einer ersten kritischen Untersuchung unterziehen, zum anderen erlauben Experimente die aktive Teilnahme an der (regionalen) Geschichtskultur. Der kritisch-analytische Blick kann sich beispielsweise auf Fragen nach Öffentlichkeit und Partizipation richten, nach Kommunikation und Debattenkultur : Lernende können etwa der Frage nachgehen, wie sich der Austausch in einem solchen Forum zu einem spezifischen regionalen geschichtskulturellen Thema gestaltet, beispielsweise die Diskussion um die Initiative zu einem Stolperstein oder um einen Straßenumbenennung.55 Sie können untersuchen, welche Kommunikationsstrukturen jeweils vorherrschen. Unter der Prämisse, dass sich die Lernenden angeleitet in den historischen Hintergrund der betreffenden Debatte einarbeiten konnten, könnten sie auch versuchen, die verschiedenen Kommentare im Hinblick auf Schlüssigkeit der Argumentation oder Differenzierungsvermögen zu bewerten. In größeren Projektkontexten sind auch längerfristige, vergleichende Beobachtungen und Untersuchung denkbar : Welche historischen Themen werden in einem bestimmten Zeitraum besonders kontrovers diskutiert? Werden in Debatten um aktuelle politische Fragen historische Argumente respektive Bezüge eingebracht? – Sicherlich stellen solche analytischen Zugänge in der Auseinandersetzung mit Kommentar- und Foren54 Christoph Kühberger : Neue Medien als Teil des Geschichtsunterrichts, in: Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung 1 (2012) S. 31–38, hier S. 33. 55 Vgl. zum Beispiel eine Debatte Anfang des Jahres 2014 im Forum des Webangebots der Lokalzeitung Kieler Nachrichten um die Umbenennung des ehemaligen »Hindenburgufers« an der Förde in Kiel in »Kiellinie«, http://forum.kn-online.de/showthread.php?t=1500121 (26. 02. 2015).
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Astrid Schwabe
seiten digitaler Zeitungsangebote komplexe Anforderungen an ein sorgfältig geplantes Lehr-Lern-Arrangement im etlichen Zwängen unterliegenden historischen Fachunterricht. Zudem stellt die Dynamik der Medien WWW und Web 2.0, in der Inhalte einem ständigen Wandel unterworfen sind, eine Herausforderung für den Arbeitsprozess und seine Dokumentation im schulischen Kontext dar. Doch gerade für Projektphasen, Wahlpflichteinheiten oder vertiefenden Unterricht in der Sekundarstufe II bergen sie große Potenziale für einen gegenwartsbezogenen Unterricht, der auch maßgeblich auf die Ausbildung und Förderung einer inhaltsgebundenen, auf historische Inhalte und Darstellungen bezogenen Medienkompetenz zielt. Ich werde darauf zurückkommen. Kühberger weist der aktiven Teilnahme der Lernenden an Diskursen zu geschichtskulturellen Themen in Kommunikationsformen als »reale Verbindung zur außerschulischen Welt« einen besonderen Wert zu: Statt des fiktiven Verfassens eines Leserbriefes könnten sie tatsächlich auf andere Beiträge in einem Forum reagieren und eine begründete Meinungsäußerung zu einer geschichtskulturellen Debatte ›posten‹. Auf diese Weise werde Handlungsorientierung im virtuellen Raum real und Partizipation erlebbar. Die Lernenden könnten echte Wirkungen auf ihr Handeln wahrnehmen und untersuchen.56 Beide skizzierten Unterrichtsarrangements, das passive und das aktive, machen kulturelle Aushandlungsprozesse in einer pluralen Gesellschaft zum Unterrichtsgegenstand.
2.5
Digitale Zeitung als Gegenstand ›mediengeschichtlicher‹ Reflexionen
Zeitungen in der digitalen Welt, oder präziser formuliert: der (Struktur-)Wandel in der Zeitungswelt als Unterrichtssujet steht im Mittelpunkt dieses fünften Bereichs. Zugegebenermaßen ist das ein weites und teilweise hochkomplexes Feld. Dennoch bin ich der Ansicht, dass sich ausgewählte, überschaubare Aspekte durchaus im schulischen Kontext bearbeiten lassen, in verschiedenen Schulformen, Klassenstufen und Lerngruppen. Das Untersuchungsmaterial ist frei zugänglich in der virtuellen Welt vorhanden. Ein lebensweltbezogener Geschichts- und vor allem Gesellschaftslehreunterricht sollte Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle der Medien in historischer und gegenwärtiger Perspektive nicht ausklammern. Die Umwälzungen, die die sogenannte ›digitale Revolution‹ auch in der Medienwelt auslöst, scheinen schon aus heutiger Sicht dermaßen fundamental, dass eine Auseinandersetzung mit ihnen zentraler Bestandteil heutigen Schulunterrichts sein muss – und zwar über die Schulung der soge56 Vgl. Christoph Kühberger : Sich in Neuen Medien historisch orientieren? Historisches Denken als Teil gesellschaftlicher Partizipation?, in: Erziehung und Unterricht 7–8 (2011), S. 717–724, hier S. 720–723 (Zitat S. 721).
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nannten allgemeinen Medienkompetenz, die oft recht technisch und inhaltsleer daherkommt, hinaus. Neuere Fachlehrpläne bieten hier Anknüpfungspunkte.57 Wie könnte eine Beschäftigung mit diesen Fragen aussehen? Zunächst ist es vorstellbar, mit Schülerinnen und Schülern die Entwicklung von Mediennutzungsdaten wie den zu Anfang meines Beitrags referierten Auflagenhöhen und Reichweiten gedruckter Zeitungen im Gegensatz zu digitalen Angeboten zu erarbeiten. Neben anderen bietet beispielsweise das Webangebot des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger58 dazu im Web frei zugänglich umfangreiches Material in Form von Statistiken und Grafiken, das Lernende unter entsprechender quellenkritischer Anleitung auswerten können, was gleichzeitig zur Schulung ihrer Methodenkompetenz beiträgt. Im Zusammenspiel mit vergleichenden Untersuchungen zwischen Print- und Online-Produkten lässt sich über den digitalen Wandel im Journalismus und seine möglichen Auswirkungen reflektieren. Vergleiche können sowohl im Längsschnitt als auch im Querschnitt angelegt werden: Welche Unterschiede sind in Gestaltung und einzelnen Zeitungsformaten zwischen historischen Zeitungen und aktuellen Online-Zeitungsprodukten zu konstatieren? Gelten beispielsweise ehemalige Grundregeln wie die klassische Trennung von Nachrichten- und Meinungsformaten noch? Wie verhält es sich mit subjektiven Meinungen von Leserinnen und Lesern? Wo sind sie jeweils zu finden? Wie binden digitale Zeitungen Userinnen und User ein? Wie unterscheidet sich die Berichterstattung zu einem bestimmten Gegenstand in einer gedruckten Zeitungsausgabe von jener auf der Website der Zeitung oder in der App? Zahlreiche Analyseaspekte können berücksichtigt werden: Sind es wirklich die gleichen Artikel oder gibt es Unterschiede? Wenn ja, welche Gründe könnten dazu führen? Welche Aufmacher enthalten die ›Ausgaben‹ jeweils? Wie gestaltet sich die Berichterstattung in den digitalen Ausgaben, die »multimediale[s] Storytelling«59 betreiben, also durch eine Ge57 Im nordrhein-westfälischen Kernlehrplan Gesamtschule für Gesellschaftslehre, Erdkunde, Geschichte, Politik verweist beispielsweise das »Inhaltsfeld 5: Innovationen, neue Technologien und Medien« für die zweite Kompetenzstufe (Sekundarstufe I) auf den Schwerpunkt »Soziale Auswirkungen von Medien« (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Gesellschaftslehre. Erdkunde, Geschichte/Politik, Düsseldorf o. J., verfügbar unter http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_down load/gesamtschule/GE_Gesellschaftslehre_Endfassung.pdf (26. 02. 2015), S. 42f., 130. Der Kernlehrplan G8 Geschichte ermöglicht die Beschäftigung mit dem digitalen Wandel in der Medienwelt unter dem Inhaltsfeld 12 »Was Menschen früher voneinander wussten und heute voneinander wissen« (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8), S. 31). 58 http://www.bdzv.de/markttrends-und-daten/wirtschaftliche-lage/; http://www.bdzv.de/maerk te-und-daten/schaubilder/ (26. 02. 2015). 59 Stefan Heijnk: Wischen statt Blättern, in: message. Internationale Zeitschrift für Journalismus 1 (2011), S. 69–74, hier S. 74; Heijnk spricht vom »Ipadifizieren« der Berichterstattung.
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Astrid Schwabe
samtkomposition aus Texten, Tönen, Bildern, laufenden Bildern und interaktiven Animationen mehrere Sinne ansprechen, im Gegensatz zu den Printausgaben? Wie steht es um Fragen nach dem ›Wert‹ von Nachrichten und anderen Inhalten? Muss alles kostenlos sein oder darf auch Online-Journalismus Geld kosten? Welchen Einfluss kann das auf die Zeitung haben, wenn nicht mehr ein langfristiges stabiles Abonnement die Zeitung trägt, sondern bei Missfallen und Desinteressiere sofort das ›Wegklicken‹ droht?
3.
Fazit: Zum fachdidaktischen Mehrwert digitaler Zeitungsangebote
Wir können bilanzieren: Der Einbezug digitaler und digitalisierter Zeitungsangebote in den Geschichts- respektive Gesellschaftslehreunterricht kann aus spezifisch fachdidaktischer Perspektive durchaus lohnend sein. Die digitalen Angebote können die Arbeit mit ›herkömmlichen‹ Zeitungen ergänzen und damit den Unterricht bereichern, nicht aber – und das gilt es hier ausdrücklich zu betonen – die Arbeit mit gedruckten Zeitungsquellen ersetzen. Bei der folgenden Zusammenführung der didaktischen Potenziale von Zeitungen in der digitalen Welt richte ich den Fokus auf die Aspekte, die aktuelle digitale Presseangebote betreffen, da sich der fachdidaktische Wert digitalisierter historischer Zeitungen und digital recherchierbarer ›zeithistorischer‹ Zeitungen (Feld I und Feld II) vornehmlich von jenem der ›Zeitung an sich‹ als eine für Schülerinnen und Schüler vergleichsweise leicht zu bearbeitende, aussagekräftige Quelle ableitet. Die Digitalität erleichtert den Zugang zu diesen Quellen enorm, wobei zum Teil nicht ganz einfache Urheberrechtsvereinbarungen zu berücksichtigen sind. Im Vergleich mit ›realen‹ historischen Zeitungen schlägt allerdings das Manko der mangelnden Authentizität negativ zu Buche, was jedoch durch einen reflektierten Umgang mit dem Problem zumindest abgemildert werden kann. Wie historische Zeitungen geben auch aktuelle digitale Zeitungsangebote Aufschluss über den herrschenden Zeitgeist, auch sie versuchen, ihre Userinnen und User dort abzuholen, wo sie stehen. Das macht sie zu spannenden mediengeschichtlichen Quellen und zum Untersuchungsgegenstand für geschichtskulturelle Fragestellungen. Zugleich gestalten die aktuellen digitalen Presseerzeugnisse in unserer Mediengesellschaft – in der wir, frei nach Niklas Luhmann, das, was wir »über die Welt, in der wir leben, wissen, […] über die Massenmedien [wissen]«60 – durch ihre medialen Strukturmerkmale, durch ihre Aus60 Luhmann 1996, zit. nach: Hans-Jürgen Bucher : Das Internet als Netzwerk des Wissens. Zur Dynamik und Qualität von spontanen Wissensordnungen im Web 2.0, in: Heiner Fangerau/
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wahlprozesse über relevante Themen, durch die Art ihrer Berichterstattung, durch Form und Gestaltung von Texten, Bilder, Grafiken und deren spezifisches Zusammenspiel unsere gesellschaftliche Wirklichkeit maßgeblich mit. Wie sich auch die klassische gedruckte Zeitung zur Methodenkompetenzschulung über das Medium Zeitung eignet, zielen die hier nur skizzierten Felder III, IV und V alle drei darauf ab, Schülerinnen und Schüler mit Fertigkeiten und Fähigkeiten auszustatten, die es ihnen erlauben, sich autonom und souverän in der Geschichtskultur im Speziellen und in der gegenwärtigen Medienwelt im Allgemeinen zu bewegen. Durch das Einüben einer kritischen Analyse von Rezensionen historischer Sach- und Fachbücher, von journalistischen historischen Darstellungen oder diskursiven Forenbeiträgen und durch die Reflexion medialer Entwicklungen richtet sich der Blick neben der Schulung der Dekonstruktionskompetenz oder der geschichtskulturellen Kompetenz auch auf die Förderung einer allgemeinen Medienkompetenz, die exemplarisch an historischen Inhalten und Inhalten mit historischen Bezügen eingeübt werden kann. Wenn wir die gegenwärtige Presselandschaft und ihre gesellschaftliche Rolle unter historischen Bedingungen und aktuellen Herausforderungen zum Lerngegenstand machen, Wandel wahrnehmen und reflektieren und dabei auch neue mediale Angebote kritisch diskutieren, leisten wir einen Beitrag zur Orientierung. Und das scheint mir in der heutigen Medien- oder Informationsgesellschaft eine, wenn nicht gar die zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts zu sein.
Thorsten Halling (Hrsg.): Netzwerke. Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften? Ein transdisziplinärer Überblick, Bielefeld 2009, S. 133–171, hier S. 133.
Holger Wettingfeld
Das Projekt »Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur«
1.
Projektgenese
1933 ist das Schicksalsjahr der deutschen Geschichte. 80 Jahre nach dem Machtantritt Hitlers hatte das Land Berlin 2013 dazu ein Themenjahr ausgerufen. Unter dem Titel »Zerstörte Vielfalt«1 wurden vom 30. Januar bis zum 9. November berlinweit von vielen kulturellen Trägern mit einer großen Projektbreite und -vielfalt dieses besonderen Anlasses gedacht. Das Deutsche Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V. (DPMU) sah in dem Themenjahr – zwei Jahre nach seiner Gründung – eine gute Gelegenheit, die Inhalte des Themenjahres – Pressefreiheit, ›Gleichschaltung‹ der Presse, Zerstörung der Pressevielfalt – als Projektpartner in entsprechende Projekte zu gießen. Heraus kam eine Projektidee des Autors, das Jahr 1933 in seiner Dramatik und Destruktivität für den heutigen (Zeitungs-)Leser noch einmal nachempfinden zu lassen, und zwar in Form einer Pressechronik, die sich, analog zum Jahr 1933, täglich aktualisiert, den heutigen Rezipienten in die Lage eines Lesers von 1933 versetzt und ihn so zu einem »Zeitzeugen« der damaligen Zeit werden lässt. Ziel sollte sein, nicht nur zu zeigen, mit welchen Mechanismen es dem NS-Regime binnen eines Jahres gelang, in Berlin nicht nur die weltweit größte Zeitungsdichte zu zerstören und eine freie Presse ›gleichzuschalten‹, sondern auch, wie eine ganze Gesellschaft im Eilschritt von einer Demokratie in einen faschistischen Unrechtsstaat transformierte. Erste Recherchen ergaben, dass es solch ein umfassendes Abbild des Jahres 1933 noch nicht gab. Einzelne historisch relevante Tage sind in der Wissenschaft sehr gut beschrieben und dokumentiert, wie z. B. der 30. Januar (Tag der ›Machtergreifung‹) oder der 23. März (›Tag von Potsdam‹ und Ermächtigungsgesetz). Aber eine lückenlose Gesamtschau der Tagespresse 1933 fehlt bislang. Mit dem Projekt betrat das DPMU somit terra incognita. Aufgrund der außer1 Weitere Informationen unter Kulturprojekte Berlin GmbH: Berlin.de, Berlin, www.berlin.de/ 2013/start/ (30. 09. 2015).
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Holger Wettingfeld
ordentlichen historischen Bedeutung von 1933 sollte diese Pressechronik jedoch kein bloßes Abbild von Titelseiten oder einzelnen Artikeln sein, sondern heutigen und künftigen Lesern bzw. Nutzern zur Orientierung dienen und in eine wissenschaftliche Kommentierung und Einordnung der historischen Vorgänge eingebettet sein.
2.
Untersuchungsgegenstand
Die Berliner Morgenpost eignet sich als Basis- und Bezugsmedium des Projekts in vielerlei Hinsicht: Das im Jahr 1898 von Leopold Ullstein gegründete Blatt war bis Ende 1932 die mit einer reichsweiten Auflage von mehr als 600.000 Exemplaren größte deutsche Tageszeitung. Sie war von der Gleichschaltung der Presse besonders betroffen, da sie dem legendären liberalen ›Ullstein-Geist‹ verpflichtet war und bis 1933 über eine überwiegend sozialdemokratische bis linksliberale Leserschaft verfügte. Im Laufe des Jahres 1933 wurde jedoch auch dieses Ullsteinblatt wie alle anderen Zeitungen Berlins in den Rahmen der NS-Propaganda gezwungen – andernfalls drohte das vorübergehende oder totale Verbot der Zeitung. Ein weiterer Aspekt: Die Berliner Morgenpost ist die inzwischen älteste Zeitung Berlins und die einzige, die das Jahr 1933 erlebt und überlebt hat. Ihre letzte Ausgabe wurde im April 1945 im Deutschen Verlag im Ullsteinhaus gedruckt. 1952, nach der erfolgreichen Restitution des 1934 vom NS-Regime zwangsenteigneten Ullstein Verlags an die Ullsteinfamilie, erlebte sie dann ihre Wiedergeburt. Für das vorzustellende Projekt war die aktuelle Berliner Morgenpost in der Print- und Online-Ausgabe Medienpartner der Pressechronik. In der Printausgabe druckte sie täglich einen Auswahlartikel der Pressechronik in der Rubrik »Heute vor 80 Jahren …«, während die Online-Ausgabe eine vollständige Seite einer historischen Tagesausgabe, in welcher der Auswahlartikel erschienen war, publizierte und kommentierte.2
3.
Wissenschaftliche Beratung
Für das wissenschaftliche Konzept des Projekts konnte der renommierte Pressehistoriker Prof. Dr. Bernd Sösemann vom Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaften der FU Berlin gewonnen werden, der sich bereit erklärte, bei diesem Pilotprojekt mit seiner Expertise und einem Mitarbeiterteam 2 Vgl. Berliner Morgenpost: Zum 23. Dezember 1933 – »Volk und Kunst gehören zusammen«, Berlin, www.morgenpost.de/berlin-aktuell/machtergreifung/ (30. 09. 2015).
Das Projekt »Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur«
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aktiv mitzuwirken. Er ist der Verfasser der kommentierenden Hinweise, die den täglich ausgewählten Artikeln zur Einordnung und Orientierung hinzugefügt wurden. Ebenso verfasste er die zusammenfassenden Artikel für die tägliche Rubrik in der Printausgabe der Berliner Morgenpost. Ein Großteil der insgesamt 50 »Historischen Orientierungen« stammt ebenfalls aus seiner Feder. Zur Vorbereitung eines jeden Tages lasen, transkribierten und filterten Prof. Dr. Sösemann und sein Mitarbeiterteam eine Vielzahl von Medien: Neben der Berliner Morgenpost wurden unter anderem die Pressestimmen (Tagesrubrik) folgender Zeitungen und Zeitschriften berücksichtigt: Neue Zürcher Zeitung, Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt, Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ), Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ), Blick in die Zeit, Frankfurter Zeitung, Kölnische Zeitung, Hamburger Fremdenblatt, Dresdner Nachrichten, Freiburger Zeitung, Jüdische Rundschau und C.V. Zeitung. Als typische Satiremagazine traten Karikaturen und Texte des Simplicissimus, des Kladderadatsch und der Brennessel hinzu. Als weitere historische Quellen wurden Gesetzestexte, antisemitische Verordnungen, Presseanweisungen oder Werbe- und Wahlplakate sowie zahlreiche Tagebucheinträge, etwa von Thomas Mann (Schriftsteller), Victor Klemperer (Romanist), Hans Schäffer (Ullstein-Generaldirektor), Carl Schmitt (Jurist), Jochen Klepper (Theologe, Journalist), Harry Graf von Kessler (Publizist) oder Bella Fromm (Journalistin), ausgewertet.
4.
Konzept
Als leitende Gesichtspunkte lassen sich die folgenden festhalten (Auszug aus der Einleitung):3 »Unter den Leitfragen ›Wie wurde der Leser nach dem 30. Januar 1933 informiert?‹ und ›Wie gestaltete sich der Übergang aus der verschleierten Diktatur der Präsidialkabinette in die offensichtliche Diktatur Hitlers?‹ sollen in den kommenden Monaten dem historisch Interessierten die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse von 1933 nahegebracht werden. […] Der Intention des Gesamtprojekts ›Zerstörte Vielfalt‹ entsprechend, stehen im Mittelpunkt der hier präsentierten PRESSECHRONIK 1933: ›Journalismus in der Diktatur‹ Berichte über den Alltag der Menschen. Form, Inhalt und Stil der Zeitungsbeiträge geben auch Auskünfte über die Arbeitsbedingungen und Einstellungen von Redakteuren, Zeichnern und Fotografen. […] Der aussagekräftigen einjährigen Anfangsphase soll bewusst der gesamte Raum zur Verfügung stehen. Das zentrale Interesse gilt einer Beurteilung der Monate der Machteroberung und ersten entscheidenden Maßnahmen der diktatorialen Machtsicherung. Ebenso konsequent werden die Adressaten und Rezipienten der Publizistik vorgestellt, die zeitgenössi3 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933. Einführung, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/einfuhrung/einfuhrung-langfassung/ (30. 09. 2015).
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Holger Wettingfeld
schen Leser in der NS-Diktatur. Gerade Tageszeitungen bieten dafür außerordentlich viel Material. Sie sind eine hervorragend geeignete Quelle, obwohl sie trotz ihres weit gespannten publizistischen Auftrags und des zumeist ähnlich breit ausgedehnten journalistischen Interesses keineswegs die Gesamtheit der Ereignisse zu erfassen vermögen. Aus der schier grenzenlosen Ereignisfülle mussten die Redaktionen auch damals schon auswählen. Deshalb werden die publizistischen Quellen hier nicht isoliert präsentiert, sondern im Gesamtkontext der nationalsozialistischen Diktatur, d. h., sie werden durch weitere Medien und Materialien ergänzt. Zusammen mit informierenden und kommentierenden Texten aus der heutigen Zeit soll eine differenzierte und kritische Erläuterung geboten werden.«
5.
Gestaltung und Inhalte der Online-Präsentation
Für das Internetportal zur Pressechronik ist von der Berliner Agentur wegewerk ein Blog konzipiert worden. Ausgehend von der Berichterstattung, wie sie in den historischen Ausgaben der Berliner Morgenpost zu finden ist, wurden dem Nutzer unter der Domain www.dpmu.de/pressechronik4 vom 30. Januar bis zum 31. Dezember 2013 einzelne ausgewählte Seiten und sämtliche Titelblätter der Zeitung von 1933 vorgestellt. Die von Prof. Dr. Sösemann und seinem Team individuell für jeden Tag zusammengestellten Inhalte wurden vom DPMU in das Pressechronik-Portal täglich eingepflegt. Der Inhalt des aktuellen Tages wurde mit dem dazugehörigen Datum verlinkt und archiviert. So wuchs Tag für Tag ein einzigartiges Archiv.5 Am Ende verteilten sich die 336 Tage der Pressechronik auf knapp 3.000 Einzelseiten. Auch per Twitter wurde täglich über das Projekt berichtet: Mit dem Account @pressemuseum hat das DPMU 2013 unter »#pressechronik33« über 1.200 Tweets zu Tagesereignissen verschickt. Prinzipiell folgte jede Tagesausgabe demselben Aufbau, bestehend aus dem Titelblatt der Berliner Morgenpost, ausgewählten Artikeln mit Kommentaren, ausführlichen historischen Orientierungen bei besonderen historisch relevanten Ereignissen bzw. Tagen, weiteren Pressestimmen aus dem In- und Ausland, satirischen Artikeln und Karikaturen, Aufzeichnungen aus Tagebüchern und Briefen, Fotos, Plakaten und schließlich Dokumenten. Ausgehend von den oben genannten grundsätzlichen Überlegungen zur Erstellung der Pressechronik wurden diese Kategorien mit einer Vielzahl von aussagekräftigen Zeugnissen der Zeit gefüllt, die sich täglich wechselseitig erläutern. Hierzu zählen etwa Gesetze, Verordnungen, amtliche und offizielle 4 Vgl. alternativ : Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/ (30. 09. 2015). 5 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, Events, Berlin, http:// pressechronik1933.dpmu.de/events/1933–01 (30. 09. 2015 ).
Das Projekt »Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur«
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Verlautbarungen, Zensurdekrete und Presseanweisungen. Des Weiteren wurden zahlreiche weitere mediale Formate in den Webauftritt integriert, etwa Aufrufe, Manifeste und Flugblätter, Flugschriften (etwa aus der Untergrundliteratur), Meldungen und Kommentare von Zeitschriften, Rubriken aus Tages- und Wochenzeitungen (Berichte, Reportagen, Kommentare, Leserbriefe, Humor- und Rätselseiten sowie Reklame und Werbung), Meldungen und Berichte von Nachrichtenagenturen aus Deutschland und dem Ausland (ggf. in Übersetzungen), Plakate, Fotografien, Zeichnungen und Karikaturen und schließlich Chronologien und Übersichten, Statistiken, Schaubilder und Organigramme. Außerdem finden sich auf der Webseite noch Lektürehinweise auf empfehlenswerte Werke (Sachbücher und wissenschaftliche Darstellungen)6 sowie ein Verzeichnis der abgekürzten nachgewiesenen Zitate und Dokumente.7
6.
Fraktur-Schrift
Die meisten Zeitungen von 1933, die auch in der Pressechronik dokumentiert sind, wurden in der für heutige Nutzer und Leser nicht leicht zu lesenden Fraktur-Drucktype gedruckt. Um die Lesbarkeit und Akzeptanz für heutige Nutzer und Leser der Pressechronik zu erhöhen, wurden wichtige Ausschnitte der täglichen Auswahlartikel in die heute gebräuchliche Antiqua-Schrift transkribiert.
7.
Montags keine Zeitung
Leser der Pressechronik erfahren viel über das damalige Pressewesen und die Informationen, die die Leser damals erreichten. Um dem erhöhten Informationsbedarf innerhalb eines Tages gerecht zu werden, haben einige Verlage eine Morgen- und Abendausgabe publiziert, so beispielsweise der Ullstein Verlag mit der Vossischen Zeitung. Eine weitere Besonderheit ist, dass es montags in Berlin keine Zeitung gab. Dieses im 19. Jahrhundert durchgesetzte Arbeitsrecht der Zeitungsdrucker hatte auch 1933 noch Bestand. Um eine lückenlose Chronik der Tagespresse von 1933 mit der zum jeweiligen historischen Datum vorgesehenen Dokumentation abzubilden, wurden diese historisch bedingten Lücken mit weiteren Beiträgen der historischen Dienstagsausgaben gefüllt. 6 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, Literaturempfehlungen, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/literaturempfehlungen/ (30. 09. 2015). 7 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, Bibliografie, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/bibliografie-nachweis-der-dokumentationen-und-dar stellungen-sowie-der-zeitschriften-und-zeitungen/ (30. 09. 2015).
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8.
Holger Wettingfeld
Rechtefrage
Die in der Pressechronik 1933 verwendeten Digitalisate sind Eigentum des Deutschen Pressemuseums im Ullsteinhaus e. V. Das DPMU hat den kompletten Jahrgang 1933 der Berliner Morgenpost erstmalig digitalisiert. Ein wichtiger Kooperationspartner war dabei das Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek zu Berlin. Dabei konnte das DPMU auf BMP-Microficherollen zurückgreifen, die im Zeitungsarchiv lagern. Die Digitalisierung erfolgte mithilfe eines Dienstleisters des Zeitungsarchivs. Die Berliner Morgenpost war bis Ende 2013 noch im Besitz des Axel Springer Verlags und gehört seit dem Jahresbeginn 2014 zur Funke Mediengruppe. Mit Infopool, dem damaligen Zeitungsarchiv von Axel Springer, wurden die Nutzungsrechte für die Pressechronik vereinbart. Dies schließt auch eine Nutzung für den Bildungsbereich mit ein.
9.
Kaleidoskop der NS-Zeit
Die Zeichnung von Theo Matejko impliziert eine entscheidende Botschaft: Bereits im Jahr des Machtantritts Hitlers war der Keim der Zerstörung angelegt. Die Pressechronik legt diese Struktur auf vielen Ebenen für den heutiger Leser offen. Eine Vielzahl entscheidender Entwicklungen im Auf- und Ausbau des NSStaates, in der Transformation und Etablierung des Führerstaates nehmen schon im Jahr 1933 ihren Anfang. Das spiegelt sich in der Berichterstattung über Presse, Kultur und Gesellschaft nahezu täglich in der Chronik wider, sodass die reproduzierten Zeitungen zur Quelle der Zeitgeschichte werden. Die Pressechronik 1933 ist insofern ein Kaleidoskop der NS-Zeit. Zu den Metathemen und -trends der NS-Zeit, die sich im zeitlichen Querschnittsverlauf in der Pressechronik zeigen und entsprechend zuordnen lassen, gehören etwa die »Gleichschaltung« von Presse und Gesellschaft, die Zerstörung kultureller Vielfalt, die Ausschaltung des Parlamentarismus und des Parteienstaats, die Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie, etwa des Antisemitismus oder des Führerkults, der Bau von Konzentrationslagern, die Friedenspropaganda bei gleichzeitigem Austritt aus dem Völkerbund oder auch der Aufbau paramilitärischer Verbände. Zu jedem der Oberthemen finden sich in der Pressechronik im Jahresverlauf eine Fülle von Beispielen in Form von Zeitungsartikeln, Karikaturen oder Dokumenten.
Das Projekt »Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur«
10.
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Beispiel eines Einzeltages: Der Kongress »Das Freie Wort« am 19. Februar 1933
Stellvertretend für (presse-)historisch relevante Einzeltage im Jahr 1933 soll hier der Kongress »Das Freie Wort« am 19. Februar 1933 beschrieben werden. Die Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit mit der Reichstagsbrandverordnung vom 4. Februar 19338 führte zu einer ersten großen Verhaftungswelle und Zeitungsverboten, aber auch zum Widerstand demokratischer Kräfte. Drei Wochen nach der Regierungsübergabe an die Hitler-Papen-Hugenberg-Koalition trafen sich an die tausend Schriftsteller, Journalisten, Verleger und Wissenschaftler in der Berliner Kroll-Oper, um gegen die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit durch die Nationalsozialisten und ihre Unterstützer zu protestieren. Den Aufruf dazu verfasste am 6. Februar1933 das Initiativkomitee »Das Freie Wort«, bestehend aus Albert Einstein, Heinrich Mann und Rudolf Olden. Die Pressechronik hat dieses in der Öffentlichkeit kaum bekannte Aufbäumen demokratischer Kräfte gegen die NS-Diktatur und für Presse- und Meinungsfreiheit dokumentiert und am 19. Februar 2013 zum 80-jährigen Jubiläum des Ereignisses in einer Gedenkveranstaltung im WillyBrandt-Haus daran erinnert.9 Der Aufruf Einsteins, Manns und Oldens und der daran anknüpfende Kongress wurden überwiegend in den Medien des linken Münzenberg10-Konzerns, wie der kommunistischen Boulevard-Zeitung Welt am Abend (WaA), veröffentlicht: Die WaA druckte am 8. Februar 193311 unter der Überschrift »Für die Grundrechte des deutschen Volkes« den Aufruf, und am Tag darauf, am 9. Februar193312, informierte sie über die Reaktion der Leser (»Das Echo auf Einsteins, Manns und Oldens Appell«). Die Zeitung publizierte nun täglich bis zum
8 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, Dokument Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes, Berlin, http://pressechronik1933. dpmu.de/dokument-verordnung-des-reichsprasidenten-zum-schutze-des-deutschen-vol kes/ (30. 09. 2015). 9 Vgl. Kulturprojekte Berlin GmbH: »DAS FREIE WORT«. 1933 – Vom Ende der Pressefreiheit zum Terrorsystem, Berlin, www.berlin.de/2013/veranstaltungen/veranstaltungsdetails/ar ticle/das_freie_wort_100000382/; zum Aufruf von Albert Einstein, Heinrich Mann und Rudolf Olden zur Teilnahme am Kongress siehe Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 06. 02. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/ 06/pressechronik-6-2-1933/ (30. 09. 2015). 10 Der Verleger Willi Münzenberg (1889–1940) war der Verfasser des Manifestes des »Freien Wortes«. Er gehörte zu den einflussreichsten Vertretern der KPD in der Weimarer Republik. 11 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 08. 02. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/08/pressechronik-8-2-1933/ (30. 09. 2015). 12 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 09. 02. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/09/pressechronik-9-2-1933-2/ (30. 09. 2015).
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14. Februar 1933 die Leserbriefe zum Aufruf.13 Die Resonanz der WaA-Leser war sehr groß. Am Vorabend des Kongresses rief die Zeitung zur Teilnahme auf und mahnte: »Es geht um die ›uralten, demokratischen Grundrechte‹«14. Die Berichterstattung am 20. Februar 1933 über den durch die SA aufgelösten Kongress »Das Freie Wort« war breit: Alle demokratischen Zeitungen berichteten darüber, einige auf den Titelblättern.15 Das Berliner Tageblatt druckte die von Adolf Grimme16 verlesene Rede Thomas Manns17 mit dem Titel »Bekenntnisse zur sozialen Republik«18 zur Eröffnung des Kongresses auf der Titelseite ab.19 Am 22. Februar 1933 veröffentlicht die Welt am Abend eine gekürzte Fassung der Rede Thomas Manns.20
11.
Querschnittsthemen am Beispiel Konzentrationslager
Mit der Dokumentation eines ganzen Jahres bietet die Pressechronik die Möglichkeit einer Gesamtbetrachtung der Tagespresse. Damit werden die Strukturen der Entwicklung im Jahr 1933 in neuer Weise sichtbar. Sie lassen sich in den oben beispielhaft aufgeführten Oberthemen zusammenfassen und sollen am Beispiel der NS-Konzentrationslager näher beschrieben werden. Bau und Existenz von Konzentrationslagern wurden vom NS-Regime nicht geleugnet, sondern offensiv in der Presse dargestellt. Das heißt, die Bevölkerung war von Beginn an über die Existenz dieser Lager informiert, denn ›es stand alles in der Zeitung‹. Die Beschreibung der Behandlung der ›Schutzhäftlinge‹ in der Presse musste jedoch entsprechend der NS-Propaganda interpretiert bzw. dekodiert werden. So können folgende Zitate aus der Berliner Morgenpost zeigen, 13 Vgl. beispielhaft Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 13. 02. 1933, Berlin, http ://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/12/pressechronik-13-21933/ (30. 09. 2015). 14 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 18. 02. 1933, Berlin, http ://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/18/berliner-morgenpost-18-2-1933/ (30. 09. 2015). 15 Vgl. etwa Vossische Zeitung, S. 2: »Das Freie Wort aufgelöst«; siehe http://pressechronik1933. dpmu.de/2013/02/20/pressechronik-20-2-1933/ (05. 10. 2015). 16 Adolf Grimme (1889–1963). Der SPD-Politiker war von 1930 bis 1932 letzter Kulturminister Preußens. 17 Thomas Mann befand sich am 19. 02. 1933 auf Vortragsreise zum 50. Todestag Richard Wagners durch ganz Europa. Von dieser Reise kehrt er aus politischen Gründen nicht mehr nach Deutschland zurück und blieb im Exil. 18 Die Rede war ursprünglich für den »Sozialistischen Kulturbund« vorgesehen. 19 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 11. 02. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/10/pressechronik-11-2-1933/ (30. 09. 2015). 20 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 21. 02. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/02/21/pressechronik-21-2-1933-2/ (30. 09. 2015).
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dass ab März 1933 über die Einrichtung von Konzentrationslagern berichtet wurde. »In seinen weiteren Ausführungen teilte der kommissarische Münchener Polizeipräsident Heinrich Himmler21 noch mit, dass in den nächsten Tagen in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager22 mit einem Fassungsvermögen für 5000 Menschen errichtet werde. Hier würden Kommunisten-Reichsbanner- und marxistische Führer zusammengezogen, die die Sicherheit des Staates gefährdeten, da es auf die Dauer nicht möglich sei, sie in den einzelnen Gerichtsgefängnissen zu belassen bzw. sie wieder in Freiheit zu setzen.«23 »Ins Konzentrationslager Breslau24 eingeliefert wurden der frühere Reichstagspräsident [Paul] Löbe25, welcher in Begleitung von mehreren Polizeibeamten aus Berlin kam […].«26
Der Münchener Polizeibericht meldet: »Am Mittwoch nachmittag unternahmen vier im Konzentrationslager Dachau untergebrachte Kommunisten einen Fluchtversuch. Da sie auf die Haltrufe der Posten nicht hörten, gaben die Posten Schüsse ab, wobei drei Kommunisten getötet und einer schwer verletzt wurden.«27 »Aus den Konzentrationslagern Oranienburg und Brandenburg wurden Montag, wie der Amtliche Preußische Pressedienst meldet, in Verfolg des Gnadenerlasses des preußischen Ministerpräsidenten die Schutzhäftlinge entlassen, die auf Grund ihrer bisherigen Führung die Gewähr bieten dürften, daß sie voraussichtlich in Zukunft sich politisch einwandfrei bewegen werden.«28
21 Heinrich Himmler (1900–1945) stand 1933, ähnlich wie Walther Funk, am Anfang einer Karriere im NS-Staat. Als ›Reichsführer SS‹ stieg er ab August 1934 zu einer der mächtigsten Personen im Dritten Reich auf. 22 Das KZ Dachau bestand vom 22. 03. 1933 bis zur Befreiung durch die US Army am 29. 04. 1945. 23 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 23. 03. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/03/23/pressechronik-23-3-1933/ (30. 09. 2015). 24 Das KZ Breslau-Dürrgoy bestand als frühes Konzentrationslager zwischen April und August 1933 im Breslauer Stadtteil Dürrgoy. 25 Der SPD-Politiker Paul Löbe (1875–1967) war von 1920 bis 1924 und von 1925 bis 1932 Reichstagspräsident. Löbe war bis Ende August 1933 im KZ Breslau-Dürrgoy inhaftiert. 26 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 05. 08. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/08/05/pressechronik-5-8-1933/ (30. 09. 2015). 27 Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 14. 04. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/04/14/pressechronik-14-4-1933/ (30. 09. 2015). 28 Die Maßnahme war ein Gnadenakt des NS-Regimes wegen der hohen Zustimmung der Bevölkerung (94 %) bei der Volksabstimmung am 12. 11. 1933 für den Ausstieg aus dem Völkerbund. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 20. 12. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/12/20/pressechronik-20-12-1933/ (30. 09. 2015).
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Zudem erschienen am 23. April 1933 erstmals Fotoreportagen über Konzentrationslager in den Zeitschriften Berliner Illustrirte Zeitung (über das KZ Oranienburg)29 und Bayerischer Heimgarten30 (über das KZ Dachau), die in verharmlosender und desinformierender Weise über die Situation der Schutzhäftlinge berichteten.31
12.
Bildungsprojekt
Auf der Grundlage der täglichen Dokumentation und der Kommentare ist mit der Pressechronik 1933 ein quellengesättigtes und für das Thema perspektivenreiches, repräsentatives digitales Archiv entstanden, das eine innovative und benutzerfreundliche Grundlage für eine vielfältige historisch-politische Bildungsarbeit an Schulen und weiteren öffentlichen Einrichtungen bietet. Die Leitfragen bei der Auswahl von Artikeln und Begleitmaterialien lauteten: Wie wurde eine Demokratie von den Demokraten selbst abgeschafft? Wie gestaltete sich der schleichende Übergang aus der Demokratie über eine verschleierte Diktatur (Präsidialkabinette) in die offensichtliche NS-Diktatur? Was blieb dem Zeitgenossen nach dem 30. Januar 1933 an Informations-, Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten? Die Bundeszentrale für politische Bildung förderte das auf der Pressechronik 1933 aufbauende Bildungskonzept, welches das digitale Archiv der Pressechronik für den gymnasialen Schulunterricht im Fach Geschichte ab der Klasse 10 anwendbar macht. Das Bildungskonzept wurde von Dr. Britta Schellenberg vom Centrum für angewandte Politikforschung in München (CAP) erstellt. Prof. Dr. Sösemann (FU Berlin) stand wissenschaftlich beratend zur Seite. Das Bildungskonzept stellt im Sinne eines Gegenwartsbezugs die Verbindung der Historie der Pressechronik mit aktuellen Entwicklungen der heutigen Neonazis und der rechtsextremen Szene her. Die These, wonach die heutige rechtsextreme Szene weiterhin auf die NS-Ideologie und deren Narrative (z. B. Opfernarrativ) zurückgreift, lässt sich im Vergleich der Pressechronik mit aktuellen Beispielen sehr gut belegen. Diesen Bezug der NS-Historie zum Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und zur Fremdenfeindlichkeit der Gegenwart deutlich aufzuzeigen, macht den Wert des Bildungskonzeptes aus. Das Pilotprojekt wurde mit zwei Lerngruppen der Klasse 10 am EckenerGymnasium (Berlin-Tempelhof) und am Hannah-Arendt-Gymnasium (Han29 BIZ, Nr. 17/1933. 30 Ausgabe Nr. 25/1933. 31 Vgl. Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus e. V.: Pressechronik 1933, 23. 04. 1933, Berlin, http://pressechronik1933.dpmu.de/2013/04/23/pressechronik-23-4-1933/ (30. 09. 2015).
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nover-Barsingausen) erfolgreich durchgeführt. Beide Schulen haben die jeweiligen Zugangsmöglichkeiten der Pressechronik im Unterricht beispielhaft angewandt: Themensuche auf der Basis eigener Recherche in der Pressechronik (Eckener-Gymnasium) oder Themenbestimmung durch konkrete Vorgaben (Hannah-Arendt-Gymnasium). In beiden Fällen waren die Arbeitsergebnisse der Schülerinnen und Schüler und die Rückmeldungen der Fachlehrer sehr positiv. Eine Evaluation des Pilotprojekts wurde im Rahmen einer DPMUFortbildung für Geschichtslehrer im März 2014 durchgeführt. Zudem wurde zur digitalen Nutzung der Pressechronik im Schulunterricht ein entsprechendes Internetportal aufgebaut. Interessierte Schulen oder andere Bildungsträger können sich unter www.bildung-gegen-rechtsextremismus.de/ darüber informieren.
13.
Schlussbetrachtung
Mit dem Abstand von über 80 Jahren bietet die Pressechronik dem heutigen Leser etwas bislang Einzigartiges: täglich zu lesen, mit welchen Mechanismen sich die Etablierung der NS-Herrschaft vollzog und sich durchsetzte. Es überrascht noch immer, wie es dem Regime gelang, innerhalb kürzester Zeit mit einem destruktiven Feuerwerk an Terror, Notverordnungen sowie Organisations- und Parteiverboten die ›Gleichschaltung‹ einer ganzen Gesellschaft – samt Presse – zu erreichen. Fünf Monate nach dem Machantritt Hitlers und drei Monate nach den letzten (halbwegs) freien Reichstagswahlen war der Parteienstaat verboten, binnen Jahresfrist waren Rechtsstaat und Föderalismus beseitigt und die NSDAP war zur Staatspartei aufgestiegen. In der Gesamtrückschau der Tagespresse werden diese Strukturen in neuer Weise deutlich. Hier leistet die Pressechronik 1933 Pionierarbeit, auch und besonders für die Bildungsarbeit an Schulen. Das DPMU hat mit dem Projekt eine eigene ›Marke‹ geschaffen. Eine Fortsetzung des Projekts ist geplant, sowohl zu anderen pressehistorisch relevanten Jahrgängen als auch zum ›Komplex 1933‹. Hier würde sich eine Erweiterung des Chronikzeitraums anbieten, und zwar vom Beginn des Niedergangs der Weimarer Republik mit den Präsidialkabinetten im Juni 1932 bis zu Hindenburgs Tod im August 1934, den die NSDAP nutzte, um den Aufbau des NS-›Führerstaats‹ abzuschließen. Neben dieser chronologischen Erweiterung ist zudem die Kooperation mit internationalen Partnern, wie etwa »Facing History«, einer USOrganisation, die Lehrkräften dabei hilft, Schülerinnen und Schülern demokratische Werte zu vermitteln und sie über Rassismus, Antisemitismus und Vorurteile aufzuklären, in Vorbereitung.
Christa Müller
Historische Zeitungen im Schulunterricht: Das Beispiel ANNO – AustriaN Newspapers Online
ANNO – AustriaN Newspapers Online: der digitale Zeitungslesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek1 Als die Österreichische Nationalbibliothek vor mehr als zehn Jahren mit dem Scannen von Tageszeitungen begann, gab es eine Fülle von Gründen, die gerade Zeitungen als geeignetes Material für ein erstes großes Bestandsdigitalisierungsprojekt erscheinen ließen. Zeitungen bestehen als allgemein bekanntes Medium noch heute, sie haben sich in Layout und Aufbau kaum verändert und sind daher für jeden historisch Interessierten einfach zu lesen. Zu erwarten stand also, dass historische Tageszeitungen gerade online eine große Leserschaft ansprechen würden. Daneben sind sie für Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen interessant, die sie als Quelle herziehen können. Ziel des Projekts, das den Titel »ANNO – AustriaN Newspapers Online«, in Kurzform ANNO, tragen sollte, war es, Zeitungen besser verfügbar zu machen. Dies war nicht nur den Nutzern geschuldet, sondern erfüllt zudem ein bibliothekarisches Anliegen. Besonders Zeitungen, die zwischen 1850 und der Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, bestehen aus brüchigem, vom Zerfall bedrohten Papier. Die Erstellung digitaler Surrogate soll – wie schon bei der früher üblichen systematischen Mikroverfilmung – zu einer Schonung der analogen Originale beitragen. Auch wenn die Digitalisierung die grundlegenden konservatorischen Probleme der Bibliotheken nicht lösen kann, ist zumindest die intensive Nutzung der Bestände deutlich eingeschränkt. Da die Zeitungen, sobald sie digitalisiert sind, nur noch eingeschränkt ausgehoben, Lesern vorgelegt und reproduziert werden müssen, kann für die Zukunft der Bestand geschont werden. Dieser Vorteil gilt nicht nur für die digitalisierende Bibliothek, auch andere Sammlungen können die Zeitungen, welche frei online zugänglich sind, aus der Benutzung nehmen.
1 Onlinezugang unter http://anno.onb.ac.at/.
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Natürlich gibt es populäre Titel, die, wie zum Beispiel die Wiener Zeitung oder die Reichspost, allein innerhalb der Stadt Wien in mehrfacher Ausführung gebunden in Bibliotheksmagazinen vorhanden sind, doch sind zahlreiche ältere Ausgaben oft nur noch ein- oder zweimal nachgewiesen. Insbesondere in Kriegsjahren sind häufig große Verluste eingetreten, sodass nur noch ganz wenige Exemplare erhalten sind. Dies gilt ganz besonders für Extraausgaben. Nicht zuletzt sind Zeitungen wesentlich rarer als Bücher und darüber hinaus auch in ihrem physischen Weiterbestand stärker bedroht als diese. Nachdem kaum eine Bibliothek lückenlos die Ausgaben aller Erscheinungstage besitzt, bietet sich durch die Digitalisierung erstmals die Möglichkeit einer echten Gesamtschau eines Titels. Durch die Kooperation von mehreren Institutionen kann virtuell eine Zeitungssammlung entstehen, die vollständiger ist, als sie irgendeine Bibliothek physisch im Bestand hat. Der Zugriff auf verteilt vorhandene Ausgaben wird erleichtert, es entstehen integrierte Sammlungen, die in ihrer Zusammenführung größeren Nutzen haben als ihre Einzelteile. All jene Argumente überzeugten die Österreichische Nationalbibliothek, schon 2003 mit dem Scannen von Zeitungen im großen Stil (mind. eine Million Seiten pro Jahr) zu beginnen und diese im Internet einem potenziell unbegrenzten Leserkreis zur Verfügung zu stellen. Die neu geschaffene, zentrale Plattform ANNO ermöglichte außerdem, Bestandslücken leicht aufzufinden und in der Folge mit Nachscans aus Beständen anderer Bibliotheken zu füllen. Früher musste dies vor der Mikroverfilmung mithilfe einer aufwendigen Kollationierung geschehen. Mit der Digitalisierung ist dies nun auch sukzessive im Nachhinein möglich. Ein weiterer Vorteil, den sich die Bibliothek davon erhoffte, ergab sich aus dem Umstand, dass die Verwahrung, das Ausheben, der Transport und die Nutzung von Zeitungsbeständen sehr platz-, zeit- und auch kostenintensiv sind. Zwar müssen die Zeitungsbestände auch nach ihrer Digitalisierung weiterhin konservatorisch behandelt, geschützt und aufbewahrt werden, jedoch ist es den Bibliotheken nun möglich, die physischen Bestände beispielsweise in Kompaktanlagen oder externen Magazinen auch liegend zu lagern. Für Bibliotheken mit ausgewiesener Archivfunktion, wie es die Österreichische Nationalbibliothek ist, wird damit die Aufgabe deutlich erleichtert. Am Ende des Jahres 2002 sollte an der Österreichischen Nationalbibliothek das Mikroverfilmen der Zeitungsbestände neu ausgeschrieben werden. Gewählt wurde ein Hybridverfahren, bei welchem nicht nur ein Mikrofilm, sondern im gleichen Arbeitsschritt auch Digitalisate erstellt wurden. Dieses Verfahren wurde ausgelagert, da die Erstellung von über einer Million Seiten pro Jahr innerhalb der Bibliothek sowohl personell als auch finanziell nicht leistbar gewesen wäre. Es wurde daher schon zu Beginn des Projekts entschieden, das Scannen an einen Dienstleister zu übertragen. Aus dem Anspruch, digitaler Zeitungslesesaal der Österreichischen Natio-
Historische Zeitungen im Schulunterricht: Das Beispiel ANNO
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nalbibliothek zu sein, ergibt sich für ANNO eine nur theoretisch abzuschätzende Datenmenge als Endzustand. Selbstverständlich gab es zuerst eine sorgfältige und lange Suche nach vorhandenen Lösungen für Zeitungsportale. Diese waren aber entweder nicht ausreichend skalierbar, zu teuer oder es handelte sich um intransparente und proprietäre Lösungen. Letztlich zeigte sich, dass bei einer sehr genauen und auf das Notwendigste eingeschränkten Anforderung eine Eigenentwicklung durch die Österreichische Nationalbibliothek den geringsten Aufwand bedeutete und die sicherste Investition war. Hinter dem Portal ANNO verbergen sich zwei getrennte Instanzen der Applikation, eine für Tageszeitungen und eine für Zeitschriften. Das Unterscheidungskriterium ist die Struktur. Alle Titel, die täglich, wöchentlich oder auch monatlich erschienen sind, auf jeden Fall aber auf dem Titelblatt das Tagesdatum des Erscheinens zeigen, werden in der Struktur für Tageszeitungen abgelegt und sind über den Kalender zugänglich. Recherchen zu historischen Ereignissen beginnen meistens mit einem Einstieg über das Datum. In diesen Fällen kommt man von der Jahresübersicht über den Kalender auf den einzelnen Tag, wo alle für diesen Tag vorhandenen Tageszeitungen zugänglich sind. Und da gerade im 18. und 19. Jahrhundert viele Zeitungen nicht täglich erschienen, wird zusätzlich angezeigt, welche Titel der folgenden sieben Tagen online verfügbar sind. Im März 2015 waren insgesamt 14 Millionen Seiten online, wobei die Zahl wöchentlich wächst. Es handelt sich um 650 Zeitungs- und Zeitschriftentitel, die mehr als 60.000 Erscheinungstage abdecken. Spitzenreiter ist der 15. Juli 1916, zu dem 62 verschiedene Zeitungen verfügbar sind. Der umfangreichste Titel innerhalb von ANNO ist die Wiener Zeitung mit mehr als einer Million Seiten, während an zweiter Stelle die Neue Freie Presse mit über 600.000 und an dritter das Prager Tagblatt mit mehr als 400.000 Seiten liegen. ANNO war vom ersten Tag an bestrebt, eine Volltextsuche zu ermöglichen. Da die Entwicklung einer derartigen Suchfunktion zu Beginn des Projekts ein zu aufwendiges und kostenintensives Vorhaben darstellte, dauerte es fast zehn Jahre bis zu seiner Realisierung, die dank der Entwicklungen in diesem Bereich dann doch möglich war. Im Frühjahr 2013 ging die ANNO-Suche online, und wie schon bei anderen Digitalisierungsprojekten an der Österreichischen Nationalbibliothek entschied man sich für einen stufenweisen Ausbau des Service. Derzeit – im Frühjahr 2015 – umfasst die Möglichkeit der Volltextsuche noch nicht den gesamten Bestand der in ANNO digitalisierten Zeitungen, doch sind schon jetzt mehr als 500.000 Zeitungsausgaben mit nicht weniger als sieben Millionen Seiten aus den Erscheinungsjahrgängen zwischen 1700 und 1918 online durchsuchbar. Dieser umfangreiche Volltextkorpus wurde mit automatischer Texterkennung (OCR) erstellt, weshalb die Texte eine unterschiedlich hohe Fehlerdichte aufweisen. Daher wird Nutzern empfohlen, ihre Suche auf
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mehrere Schlüsselbegriffe zu erweitern (beispielsweise Familienname und Ortsname in Kombination, Familien- und Firmenname, Firmen- und Ortsname, Orts- und Regionsbezeichnung etc.). Da diese Begriffe oft nicht direkt nebeneinander stehen, führt eine Phrasensuche zu ungenügenden Ergebnissen, und weil es keine verlässliche Methode gibt, auf Artikelebene zu suchen, wurde als weiteres Feature eine ›Abstandssuche‹ integriert. Nach der Eingabe von zwei Begriffen im Suchfeld kann zusätzlich eine Zahl (z. B. ~10) eingegeben werden, um die beiden Suchbegriffe unabhängig von ihrer Reihenfolge in einem Abstand von maximal zehn Wörtern finden zu lassen. Dies soll helfen, nicht nur möglichst viele, sondern möglichst relevante Treffer anzuzeigen. Bei der Recherche in Tageszeitungen ist die Kombination der Volltextsuche mit dem Erscheinungsdatum wichtig. Eine Einschränkung auf eine bestimmte Periode, auf bestimmte Zeitungstitel, einen Erscheinungsort und/oder eine Sprache, um die möglicherweise übergroße Menge an Treffern auf eine Teilmenge mit größerer Relevanz reduzieren zu können, ist hilfreich. In der ANNOSuche werden all diese Facettierungsmöglichkeiten angeboten. ANNO hat entschieden, den OCR-gelesenen Text, mag er auch noch so fehlerhaft sein, immer anzuzeigen. Ist das OCR-Ergebnis einigermaßen gut, kann mit der Zugänglichmachung dieses Textes die sonst durch die Frakturschrift besonders bei einem jüngeren Publikum bestehende Barriere überwunden werden. Bis Ende 2015 ist geplant, das gesamte ANNO – derzeit die Jahre 1700 bis 1944 – textlich durchsuchbar anzubieten.
Die Nutzung des digitalen Zeitungslesesaales ANNO Die Zugriffsdaten des Online-Angebots historischer Zeitungen zeigen, dass eine sehr große Zahl an Lesern ANNO nutzt. Derzeit sind es 2.500 täglich, und die Zahl steigt weiterhin an. Anhand der Anfragen zeigt sich, dass nicht ausschließlich Zeitungs- und Pressehistoriker an diesem Material interessiert sind. Vielmehr ist es ein großer Kreis von Interessierten, die sich unterschiedlichen Fragestellungen zuwenden. Zu den Nutzern gehören Genealogen und Prosopografen, die an Sterbe- und Tauflisten interessiert sind, ebenso wie Heimatforscher, die ganze Jahrgänge nach interessanten lokalen Ereignissen durchsuchen. Musikjournalisten finden Konzert-, Opern- und Theaterberichte zu Uraufführungen. Frauenromane, Fortsetzungsromane und auch Werbung werden von Genderforschern als Quelle herangezogen. Kostümbildner sind an Modezeitschriften und Abbildungen in Frauenzeitschriften interessiert, Kunsthistoriker und Architekturhistoriker an Architektur- und Bauzeitschriften, viele Sportvereine und Sporthistoriker suchen Berichte zur Vereinsgeschichte und zu
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spezifischen Großereignissen, während Technikbegeisterte historische Fotos von Lokomotiven oder Lastkraftwagen suchen. Bei vielen Wikipedia-Beiträgen zu historischen Ereignissen wird auf Berichte in den Zeitungen verlinkt, so zum Beispiel bei der Weltausstellung 1873 in Wien, dem Ringtheaterbrand2 in Wien am 8. Dezember 1881, beim Skandalkonzert3 am 31. März 1913 im Musikvereinssaal in Wien unter der Leitung von Arnold Schönberg, beim Amoklauf in Bremen4 im Jahr 1913 und beim Attentat von Sarajevo5 am 28. Juni 1914. Nicht minder stark werden bei Wikipedia-Artikeln zu historischen Persönlichkeiten Zeitungsbeiträge als Quellen herangezogen: so bei Elisabeth von Österreich, Kaiser Franz Joseph und weiteren Mitgliedern der Familie Habsburg-Lothringen, bei Alexander Roda Roda, Maria von Vetsera, Franz Schubert und vielen anderen mehr oder weniger bekannten Personen. Aber auch bei Beschreibungen von Gebäuden werden passende Zeitungs- und auch Zeitschriftenartikel angeführt. Und dann finden sich noch Verweise in Artikeln z. B. über Kohlenstoffmonoxid, Barthaar, Schminke, Lepra und Stadtgas. Aufgrund der zahlreichen Verweise in der freien Onlineenzyklopädie Wikipedia, die sich auf die Angebote von ANNO beziehen, hat die Österreichische Nationalbibliothek inzwischen selbst damit begonnen, zu allen wichtigen Zeitungen in ANNO auch Artikel in Wikipedia einzustellen. Als Arbeitshilfe kann dabei dienen, dass in einem eigenen Eintrag zu ANNO alle Zeitungen, zu welchen es bereits Wikipedia-Artikel gibt, aufgeführt und verlinkt sind.6 Bei der qualitativen Analyse der Nutzung von ANNO zeigt sich, dass 25 Prozent der Leser länger als eine halbe Stunde, weitere 10 Prozent sogar länger als eine Stunde im digitalen Zeitungslesesaal verweilen. Allerdings nutzt ein ungefähr gleich großer Teil ANNO nur sehr kurz, um einzelne Informationen abzufragen. Der überwiegende Teil der Nutzer kommt aus Österreich und Deutschland, aber auch die ehemaligen Kron- und Nachbarländer Österreichs
2 Im Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Ringtheaterbrand wird sowohl auf Pläne des Theaters in der Allgemeinen Bauzeitung Bezug genommen als auch auf Gesetzesänderungen, die danach erlassen wurden (mit Links auf ALEX http://alex.onb.ac.at, das Schwesterprojekt von ANNO, das Rechts- und Gesetzestexte online zugänglich macht) (Stand: 30. 09. 2015). 3 Der Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Skandalkonzert_1913 bietet Links zu einzelnen Berichten in Zeitungen (Stand: 30. 09. 2015). 4 Im Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Amoklauf_in_Bremen_1913 sind acht von neun Quellen in ANNO gefunden worden (Stand: 30. 09. 2015). 5 Im Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Attentat_von_Sarajevo wird auf den Folgetag referenziert: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0& datum=19140629 (Stand: 30. 09. 2015). 6 Wikipedia: Austrian Newspaper Online: http://de.wikipedia.org/wiki/Anno_(Austrian_ Newspapers_Online) (Stand: 30. 09. 2015).
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sind stark vertreten. Pro Jahr wird von 170.000 IP-Adressen auf ANNO zugegriffen, seit dem Beginn kumuliert sich diese Zahl auf über 600.000. Es ist schwierig, für digitale Angebote Vergleichszahlen mit der analogen Welt zu liefern. Die Anzahl der Aushebungen in der klassischen Bibliothek kann mit Vollanzeigen einer Ausgabe pro IP-Adresse und Tag verglichen werden. Nach dieser Rechnung wurden im Jahr 2011 mehr als 2,3 Millionen Zeitungsausgaben in ANNO ausgehoben. Dies macht deutlich, dass der Digitale Lesesaal eine Intensität und einen Umfang an Nutzung ermöglicht, der in der analogen Bibliothek nicht zu bewältigen wäre. Die beliebtesten 35 Zeitungsausgaben wurden im letzten Jahr jeden Tag mindestens einmal ›ausgehoben‹ und gelesen. Befragt man Leser, so sind die letzten 100 Jahre von größtem Interesse, also der Lebens- und Erfahrungshorizont der Interessierten selbst bzw. ihrer Eltern und Großeltern. Genau dieser Zeitraum kann aber aufgrund des Urheberrechtsgesetzes nur teilweise frei online zugänglich gemacht werden. Die Österreichische Nationalbibliothek hat, basierend auf dem Urheberrecht, entschieden, zur Wahrung der Rechte die letzten 70 Jahre noch nicht zu scannen. Daher sind derzeit nur Jahrgänge bis inklusive 1944 online verfügbar.
Zeitungen im Unterricht Warum eignen sich gerade Zeitungen für den Unterricht als historische Quelle? Der Inhalt historischer Zeitungen mag den Schülerinnen und Schülern noch fremd sein, das Medium ist es ihnen aber nicht. Aufbau, Struktur und Art des Inhalts von Tageszeitungen sind ihnen vertraut. Anders als in Archivalien, einer für historische Forschungen typischen Quelle, die eine oft sehr formalisierte Sprache aufweisen, wurde in Zeitungen zumeist leicht verständliche Hochsprache verwendet. Zeitungen sind gedruckt, was die Lesbarkeit für Schüler wesentlich vereinfacht. Handschriften variieren hingegen individuell stark und bedürfen mehr Übung. Tageszeitungen aus den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg sind im deutschsprachigen Gebiet zum überwiegenden Teil in Frakturschrift gedruckt. Selbst dies stellt schon eine große, aber lösbare Herausforderung für Schüler dar. Die derzeit online verfügbaren gescannten historischen Zeitungen haben schon eine kritische Masse erreicht, sodass Schüler und Schülerinnen aus einem mittlerweile fast unüberschaubaren und trotzdem täglich weiter wachsenden Pool an Texten schöpfen können.7 Ein weiterer Aspekt, der gerade Zeitungen zu einer guten historischen Quelle 7 Die Herausforderungen und Chancen des Einsatzes von (historischen) Tageszeitungen im Unterricht werden an anderer Stelle im Sammelband ausführlich dargestellt und diskutiert.
Historische Zeitungen im Schulunterricht: Das Beispiel ANNO
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macht, ist die große Zahl bereits digitalisiert online verfügbarer Titel. Nicht jede Schule liegt in der Nähe von Archiven und Bibliotheken, die historische Dokumente in großer Zahl verwahren. Und selbst wenn dies der Fall wäre, gibt es eingeschränkte Öffnungszeiten, eine Maximalzahl an Stücken, die pro Tag vorgelegt werden, und noch weitere Einschränkungen (Altersbeschränkung für die Nutzerkarte und dergleichen). Müssten Lehrer und Schüler ausschließlich auf schon publiziertes Material zurückgreifen, wäre dies eine starke Beschränkung. So ist es aber beiden Gruppen möglich, von jedem Computer aus, der mit dem Internet verbunden ist, zu jeder Tageszeit in einer großen Fülle an Material zu recherchieren, Links auf interessante Texte weiterzuleiten und mit anderen darüber zu diskutieren. Sollten Schwierigkeiten mit dem Lesen der Frakturschrift auftreten, könnten die Schüler generationenübergreifend Unterstützung suchen. Schon lange werden Zeitungsausschnitte im Geschichtsunterricht genutzt, lange kam ihnen aber nur eine bestätigende und illustrierende Funktion zu. Historische Zeitungstexte liefern aber mehr Informationen als die vordergründigen Ereignisse, über die sie berichten. Quellenkritik fängt bei der Frage nach der Blattlinie, dem historischen Kontext und dem Leserkreis an, bezieht den Autor und seine Intention ein und fragt nach den Adressaten und der Wirkung des Artikels auf diese. Schüler sind heute dank des Fernsehens und der sozialen Medien mit einer Fülle von Nachrichten konfrontiert. Lehrende müssen ihnen dafür Instrumentarien an die Hand geben, die einen bewussten Umgang mit dieser Textsorte und eine kritische Lektüre fördern. Indem historische Zeitungsartikel nicht als Beleg für ein Ereignis, sondern als Teil der Geschichte behandelt werden, wird die Kompetenz, Fragen zu stellen, gestärkt. Betrachtet man beispielsweise, welche Bildungsbereiche das österreichische Curriculum in der Unterstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schulen in den Fächern Geschichte und Sozialkunde/politische Bildung vorsieht, so kann man gleich erkennen, dass für nahezu jeden der Bereiche historische Zeitungen als Material herangezogen werden können. – Sprache und Kommunikation: Arbeit mit Texten und Bildern (Quellen und Darstellungen der Vergangenheit bzw. der Gegenwart in unterschiedlichen Medien), Interpretation und Bewertung; Begriffsbildung und Anwendung; Sammeln und Anwenden von Argumenten im Diskurs – Natur und Technik: historische und politische Beispiele zu naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Folgen und technischer Innovation; Arbeit mit Statistiken; Interpretation von Diagrammen; kritische Bewertung des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts unter Berücksichtigung des ökologischen WandelsKreativität und Gestaltung: Reflexion der Bedeutung von künstleri-
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schen Gestaltungsmöglichkeiten als Ausdruck von Kreativität und Zeitgeist; Wahrnehmung und Gestaltung künstlerischer und kultureller Produkte als Medien der Kommunikation in ihrer historischen und/oder gesellschaftlichen Bedingtheit – Gesundheit und Bewegung: Bewegungskultur in historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen; Auswirkung des Ernährungs- und Hygienestandards; gesellschaftliche und politische Funktion des Sports in verschiedenen Kulturen – Mensch und Gesellschaft: Die Ziele und Aufgaben des Unterrichts tragen in ihrer Gesamtheit zu diesem Bildungsbereich bei8 Der Lehrplan für Deutsch verlangt die Beschäftigung mit verschiedenen Textsorten, wofür Zeitungen Material liefern können. Diese sollen erkannt und benannt und auch selber aktiv verfasst werden. Tageszeitungen, auch historische, bieten eine Fülle von solchen Textsorten: Es gibt Meldungen, Nachrichten und Berichte, Reportagen, Fortsetzungsromane, Leserbriefe, Leitartikel und Kommentare, Glossen, Anzeigen, Werbung, Interviews, Kunstkritiken, Gedichte, Witze und auch Bildmaterial wie Comics, Zeichnungen und Karikaturen. Die »Lehrpläne der Höheren technischen und gewerblichen Lehranstalten«9 verlangen im Kompetenzbereich »Lesen« im vierten Jahrgang (12. Schulstufe): Vergleichendes Lesen; Stoffe, Themen, Motive in verschiedenen Medien und Kontexten, Methoden der Texterschließung (handlungs- und produktionsorientierte Verfahren), Textanalyse (z. B. Textsorten, Stilebenen, Stilfiguren); Auswahl und Bewertung von Texten; Quellenkritik; Verfahren der Textinterpretation, empathisches Lesen
Im dritten Jahrgang soll die Kompetenz »Reflexion über gesellschaftliche Realität, Konzepte von Realität und kreative Ausdrucksformen« geschult werden durch: Medien und Medienanalyse, Medienkritik; kulturelle Zusammenhänge; Literatur und andere Kunstformen in ihren soziohistorischen Zusammenhängen und ihrer ästhetischen Qualität; Aspekte von Form, Inhalt und Gehalt; kreative Verfahren
In all diesen Bereichen des kompetenzorientierten Arbeitens können historische Tageszeitungen zum Einsatz kommen. Die Artikel zu einem historischen Ereignis in mehreren Tageszeitungen unterschiedlicher regionaler Herkunft und 8 Allgemeinbildende Höhere Schule, Unterstufe, Lehrplan »Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung – Beiträge zu den Bildungsbereichen«, siehe https://www.bmbf.gv.at/schulen/ unterricht/lp/ahs11_786.pdf ?4dzgm2 (Stand: 30. 09. 2015). 9 Verordnung der Bundesministerin für Unterricht, Kunst und Kultur über die Lehrpläne der Höheren technischen und gewerblichen Lehranstalten (Lehrplan 2011); Bekanntmachung der Lehrpläne für den Religionsunterricht. StF: BGBl. II Nr. 300/2011: https://www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnummer=20007451 (Stand: 30.09. 2015).
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verschiedener politischer Ausrichtung bieten dafür reiches Material. Ein Beispiel dafür ist die Analyse des medialen »Sisi«-Bildes in Wiener Tageszeitungen um 1900.10
Die Nutzung digitaler historischer Zeitungen im Unterricht am Beispiel von ANNO Einen interessanten, unmittelbaren Einstieg in Themen des Geschichtsunterrichts versprechen etwa die Berichterstattungen für den Tag heute vor 75, 100, 150 oder 200 Jahren. Und dafür eignen sich nicht nur Gedenktage berühmter Persönlichkeiten, zu welchen es Berichte im Fernsehen gibt, und Jahrestage bedeutender historischer Ereignisse, zu welchen Bücher erscheinen und Ausstellungen besucht werden können. Unter der Rubrik »ANNOdazumal« bietet die Österreichische Nationalbibliothek aktiv in regelmäßigen Abständen kurze Hinweise auf historische Ereignisse und deren Rezeption in den Zeitungen.11 In den letzten Jahren fanden an der Österreichischen Nationalbibliothek immer wieder Schulungen für Lehrer zur Nutzung von ANNO statt. In einigen wenigen Fällen erfahren wir, wie genau die historischen Zeitungen im Unterricht eingesetzt werden. Im Herbst 2014 fand der »Information Day«12 des »Europeana Newspapers Projects«13 statt, bei welchem unter anderen Eva Maria Naimer, eine Geschichtslehrerin an der Höheren Technischen Lehranstalt Spengergasse (Wien 5), über ihren Einsatz von »ANNO im Klassenzimmer« sprach. Sie referierte über »kompetenzorientiertes Arbeiten«, die Verwendungsmöglichkeiten von Zeitungstexten im Deutschunterricht und in »Geografie, Geschichte und Politische[r] Bildung«. Als Beispiel stellte sie zum einen eine Unterrichtseinheit zum Thema »Zensur« in der 12. und 13. Schulstufe vor, zum anderen eine Sequenz zum Gegenstand »Propaganda in der NS-Zeit« für die 13. Schulstufe. Außerdem ging sie auf die Einsatzmöglichkeiten von ANNO im Rahmen der vorwissenschaftlichen Arbeit und der standardisierten Reife- und Diplomprüfung ein. Online findet man den von Marion Obermüller ausgearbeiteten Themenvorschlag »Ideologie und Propaganda im österreichischen Ständestaat; erläutert 10 Evelyn Knappitsch: Die Kaiserin, ihr Mörder und das Attentat von Genf. Pressemediale (Nach-)Blicke auf Kaiserin Elisabeth in Wien um 1900, Graz 2012 [zur Konstruktion von »Sisi«-Bildern in der Wiener Presse um 1900]. 11 ANNO: ANNOdazumal, http://anno.onb.ac.at/anno_dazumal.htm (Stand: 30. 09. 2015). 12 Österreichische Nationalbibliothek: Forschung und Entwicklung: Europeana Newspapers, http://www.onb.ac.at/about/18350.htm (Stand: 30. 09. 2015). 13 A Gateway to European Newspapers, den Haag, http://libereurope.eu/a-gateway-to-euro pean-newspapers/ (Stand: 30. 09. 2015).
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am Beispiel der ÖBUT-Wochenschauen, konkretisiert an einem Wochenschaubeitrag zum 12. Februar 1934«zum Themenbereich »Die Formen und Grundlagen von Ideologie und Propaganda in der Geschichte«.14 Hierbei orientierte sich die Autorin an den Ausführungen von Philipp Mittnik zum kompetenzorientierten Schulabschluss Matura.15 Das Bundesministerium für Bildung und Frauen gab 2011 die Broschüre Die kompetenzorientierte mündliche Reifeprüfung in den Unterrichtsgegenständen Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung. Empfehlende Richtlinien und Beispiele für Themenpool und Prüfungsaufgaben16 heraus, worin Vorschläge für Inhalte des Themenpools für die Neue Mündliche Reifeprüfung gemacht werden. Im Baukasten »Methoden- und Gattungsorientiert« wird unter vielen anderen das Themenfeld »Unterschiedliche Quellengattungen (Film, Zeitung, Biographien) in Vergleich zum selben Thema bewerten« vorgeschlagen. Als eines von mehreren konkreten Beispielen beschreibt Robert Beier die Aufgabenstellung »Vorfälle in Schattendorf«. Dieses Thema kann verschiedenen Aufgabenbereichen zugeordnet werden: politische Krisen in Zusammenhang mit Radikalisierung und/oder Lösungen; Gewalt und Genozid in Vergangenheit und Gegenwart; bildliche und schriftliche (historische) Quellen im historischen Zusammenhang interpretieren; unterschiedliche (nationale und internationale) Darstellungen zum selben Thema vergleichen. Auch mögliche Arbeitsaufträge bei der mündlichen Reifeprüfung werden aufgelistet: »1) Vergleiche die beiden Texte »Die Vorfälle im Burgenland. Eine Kundgebung des niederösterreichischen Landtages« (Die Neue Zeitung, 1. Februar 1927) und »Der Meuchelmord von Schattendorf« (Die Burgenländische Freiheit, 4. Februar 1927). 2) Beschreibe, vor welchem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund die beschriebenen Ereignisse stattfanden. 3) Erläutere, wie die Autoren Stellung beziehen. 4) Beurteile, ob diese Quellen zur Bewertung der Ereignisse einen Beitrag leisten können.«
In der Internetressourcensammlung am Ende der Publikation verweist das Ministerium auf ANNO, wo diese Zeitungsartikel zu finden sind. Für den kompetenzorientierten Unterricht sind neben Einzelereignissen vor allem auch historische Längs- und Querschnitte gut geeignet. Als eine der an14 Bildungsmedien.tv : Geschichte und Gesellschaft – 1. Republik – Begleitmaterial, http://193. 170.115.2/bmtv_public/demo4/showpdf.pdf ?aktentrynr=6598 (Stand: 15. 10. 2015). 15 Philipp Mittnik (PH Wien): Die neue kompetenzorientierte Matura, Handout zum Vortrag am 19. 11. 2010. 16 Bundesministerium für Bildung und Frauen: Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung, Wien 2011, https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung_ahs_lfgsk_ 21067.pdf (Stand: 30. 09. 2015).
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gestrebten Kompetenzen im Geschichtsunterricht soll die Methodenkompetenz damit geschult werden. »Sie soll die Eigenständigkeit im Umgang mit historischen Quellen zum Aufbau einer Vorstellung über die Vergangenheit sowie einen kritischen Umgang mit historischen Darstellungen (z. B. Ausstellungen, Spielfilme mit historischen Inhalten, Schul- und Fachbücher) fördern. Dazu sind Methoden zu vermitteln, um Analysen und Interpretationen vornehmen zu können.«17
Für Längsschnitte sowohl im Deutsch- als auch im Geschichtsunterricht kann z. B. das Thema »Zensur« herangezogen werden.18 Im Literaturunterricht kann es in den Epochen Biedermeier, Vormärz und NS-Zeit behandelt werden. Die Schüler können erarbeiten, was das Ziel der Zensur in den verschiedenen Epochen war und wie sie angeordnet und durchgesetzt wurde. Im Fach Geschichte und Politische Bildung können für das 19. Jahrhundert und das 20. bis ins 21. Jahrhundert Längsschnitte zum Thema gemacht werden. Und da Zeitungen immer wieder Ziel der Zensur waren, lassen sie sich gut als Material dafür einsetzen.19 Es besteht aber auch die Möglichkeit, zu einem historischen Ereignis möglichst viele verschiedene Textsorten aus verschiedenen Zeitungen zusammenzubringen, um im multiperspektivischen Querschnitt vergleichen zu können, wie diese mit ein und demselben historischen Ereignis umgehen, wie sie es verarbeiten. Da die Schüler auch die Kompetenz erwerben sollen, politikrelevante Medienzeugnisse auf ihre Intention hin kritisch zu untersuchen, bietet sich an, dasselbe Ereignis in verschiedenen – weltanschaulich unterschiedlich ausgerichteten – Zeitungen zu analysieren. Weitere Arbeitsbereiche zu diesem Thema können die Recherche über den Index Librorum Prohibitorum, die Karlsbader Beschlüsse, literarische Zensur, Zeitungszensur in der NS-Zeit und aktuelle Beispiele für Zensur sein. In den Unterrichtsfächern Geschichte und Politische Bildung können Karikaturen zum Einsatz kommen. Frage-, Sach-, Orientierungs- und Rekonstruktionskompetenz können durch die Analyse der Zeichnungen geschult werden. Damit erhält der Unterricht auch Relevanz für das Lesen von Karikaturen in der
17 Barbara Dmytrasz/Alois Ecker/Irene Ecker/Friedrich Öhl (Hrsg.): Fachdidaktik Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung. Modelle, Texte, Beispiele, http://www.geschichts didaktik.eu/index.php?id=363 (Stand: 30. 09. 2015). 18 Anregung dazu von Eva Maria Naimer mit ihrem Vortrag »ANNO im Klassenzimmer« im Rahmen des »Europeana Newspapers Project Information Day« an der Österreichischen Nationalbibliothek am 16. Oktober 2014, http://www.europeana-newspapers.eu/informa tion-day-at-the-austrian-national-library/ (Stand: 30. 09. 2015). 19 Titelblatt der Arbeiterzeitung vom 11. 02. 1915, anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid= aze& datum=19150211& seite=1 (Stand: 30. 09. 2015).
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Gegenwart. Anzeigen und Inserate spiegeln andererseits oft einen gesellschaftlichen Wandel wider, der von den Schülern erkannt und analysiert werden kann. In all diesen Bereichen des kompetenzorientierten Arbeitens können historische Tageszeitungen zum Einsatz kommen. ANNO ist dabei nur eine mögliche Quelle. In den letzten Jahren ist eine Fülle von internationalen, nationalen und regionalen Portalen mit gescannten historischen Zeitungen entstanden, die ein riesiges Reservoir für immer neue Themen und Fragestellungen bieten.20
Die Zukunft von ANNO (in der Schule) Bis Ende 2015 ist ANNO komplett textlich durchsuchbar. In den nächsten Jahren wird weiter gescannt, und alle Seiten werden auch textlich durchsuchbar angeboten. Es gibt Überlegungen, die schon im Netz vorhandenen Beispiele, wie ANNO im Unterricht eingesetzt werden kann, in einer eigenen ANNO-Rubrik zu sammeln. Da der Erfahrung des ANNO-Teams nach solche Angebote immer zu Kommunikation mit den Nutzern führen, können so vielleicht mehr Informationen darüber gesammelt und auch ausgetauscht werden, wie die historischen Zeitungen Einsatz im Unterricht finden. Wenn weitere Schulungen für Lehrer direkt vom ANNO-Team oder von anderen Vortagenden an Pädagogischen Hochschulen durchgeführt werden, ist das Ziel in jedem Fall, dass die Texte kulturelles Erbe werden und bleiben. Und dafür reicht nicht, dass sie unter klimatisch guten Bedingungen sicher verwahrt werden. Vielmehr müssen die Texte gelesen, analysiert, interpretiert, zu neuen Gedanken und Ideen verarbeitet und somit lebendig gehalten werden, um zu einem Teil des kulturellen Erbes werden zu können.
20 Eine laufend aktualisierte Liste zu historischen Zeitungsportalen findet sich unter http:// anno.onb.ac.at/weitere_digipro.htm.
Rebecca Krizak
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
1.
Einleitung »Zeitungen sind doch abgegriffen« »Was steht da schon drin, was ich nicht auch im Internet finde?« »Wie lange soll das dauern, bis wir hier alle Zeitungen gesehen und gelesen haben?« »Wer braucht denn heute noch Zeitungen?«
Das sind die Kommentare, die Schüler vor ihrem Besuch im Internationalen Zeitungsmuseum Aachen geäußert haben – und die mir im Kopf geblieben sind, weil sie die anfängliche Einstellung vieler Schüler widerspiegeln, weil sie unseren Umgang mit der Zeitung als Ausstellungsstück und Quelle hinterfragen und weil ich hoffe, dass zumindest einige dieser Schüler ihre Aussagen nach dem Museumsbesuch anders formulieren würden. Auch wenn ich die Statements der Schüler nicht unterstütze, berühren sie doch eine Kernfrage, die sich die Macher des Museums und die Museumsführer immer wieder stellen sollten: Wo ist der Berührungspunkt der Schüler mit Zeitungen? Wie kann der Besuch des Museums ihnen helfen, Wissen zu erwerben? Und wenn vermutlich sehr viele Menschen die Aussage »Nichts ist älter als die Zeitung von gestern« befürworten würden: Warum sollten Schülergruppen überhaupt ins Museum kommen? Die Wirkung von Museen auf Schüler und deren Lernverhalten ist vielfach untersucht worden. Was bislang weniger hinterfragt wurde, ist die Motivation der Lehrkräfte, mit ihren Klassen ein Museum zu besuchen. Ein Gang ins Museum bedeutet für die Lehrer mehr Organisationsaufwand, es müssen Vor- und Nacharbeiten geleistet und die Wünsche der Gruppe mit dem Museum koordiniert werden. Obwohl dies also mehr Arbeit bedeutet, besucht dennoch eine Vielzahl von Gruppen aller Schulformen das Zeitungsmuseum in Aachen. Mein Interesse gilt deshalb der Frage: Warum entscheiden sich Lehrer dazu, mit ihrer Klasse ins Museum zu gehen? Was erhoffen sie sich von ihrem Besuch? Was motiviert sie, den Mehraufwand zu leisten? Um diese Frage zu beantworten, habe ich während meiner Zeit als Muse-
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Rebecca Krizak
umsführerin im Internationalen Zeitungsmuseum Aachen (IZM) Gespräche mit den Lehrkräften geführt und diese auch schriftlich befragt. Die Antworten wurden von mir kategorisiert. Das Ergebnis zeigt, mit welch heterogenen Anforderungen das Zeitungsmuseum konfrontiert ist. Daraus können Konsequenzen abgeleitet werden, wie sich das Museum noch besser aufstellen kann, wie es den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht wird und wie sich der Wert von Zeitungen im Unterricht gewinnbringend für alle Beteiligte vermitteln lässt.
2.
Das Internationale Zeitungsmuseum in Aachen
»Aachen, Carl des Großen Grab und Wiege des Zeitungsmuseums«, schrieb Oscar von Forckenbeck 1889. Forckenbeck ist der Begründer der Sammlung des Zeitungsmuseums. Mitte des 19. Jahrhunderts begann er auf seinen vielen Reisen Zeitungen zu sammeln.1 Dies tat er, noch bevor Zeitungen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurden. Er erkannte schon früh den Wert der Presse als Forschungsobjekt und als Kulturdokument und setzte sich deshalb dafür ein, diese auch zu bewahren. Die Anerkennung, die Forckenbeck für sein Tun bekam, war gering, dennoch behielt er seinen Plan konsequent im Blick und setzte seine Sammelleidenschaft durch. Sein Ziel war es, von jeder Zeitung auf der Welt mindestens ein Exemplar zu sammeln, außerdem Erst-, Letzt- und Jubiläumsausgaben sowie Zeitungen über historisch weltweit bedeutsame Ereignisse. 1885 machte er seine Sammlung in Aachen öffentlich zugänglich. Fünf Jahre später eröffnete er im Foyer des Stadttheaters den ersten deutschen allgemein zugänglichen Zeitungslesesaal mit über 300 laufend bezogenen Zeitungen aus allen Ländern der Welt. Bis zu seinem Tod 1898 war seine Sammlung auf ca. 80.000 Exemplare angewachsen. Nach seinem Tod jedoch landeten die Zeitungen zu Ballen verschnürt auf dem Speicher der Stadtbibliothek – jahrzehntelang schien das Werk Forckenbecks in Vergessenheit geraten zu sein. Doch 1931 stellte die Stadt Aachen aus den Sammlerstücken eine erste Ausstellung zusammen. Im Großen Haus von Aachen in der Pontstraße wurde das Zeitungsmuseum im selben Jahr eröffnet. In den 1990er-Jahren stand das Museum kurz vor der Schließung und konnte nur durch den Einsatz von Ehrenamtlichen und einem Förderverein vor dem Aus gerettet werden. Neuen Schwung bekam das Haus mit dem Umbau und der Wiedereröffnung 2010. Das Internationale Zeitungsmuseum wurde umfang1 Vergleiche hierzu und im Folgenden: Bernhard Poll (Hrsg.): Internationales Zeitungsmuseum der Stadt Aachen. Festgabe zur Eröffnung von Ausstellungsräumen im Internationalen Zeitungsmuseum der Stadt Aachen am 19. Oktober 1962, Aachen 1962, S. 5–14.
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
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reich renoviert und die Ausstellung komplett neu konzipiert. Dabei hat sich die Ausstellung den neuen Gegebenheiten angepasst. Es ist nicht mehr ›nur‹ ein Zeitungsmuseum, sondern hat den Blick auch auf andere Medien ausgeweitet. Die Ausstellung steht seitdem in einem größeren mediengeschichtlichen und medientheoretischen Kontext. Sie beschreibt die Anfänge der modernen Massenmedien und die Rezeptionskultur. Sie versucht, den Besuchern einen kritischen Blick auf Medien zu bieten, indem auch die Zensur und die Möglichkeiten der Manipulation durch die Presse thematisiert werden. Außerdem wird die Frage nach der Zukunft der Medien gestellt. Nach wie vor profitiert das Museum von seinem großen Bestand an Zeitungen, der teilweise digitalisiert wurde und Besuchern so zur Verfügung gestellt werden kann. Tagesaktuelle Zeitungen liegen in der Bibliothek aus. Die heutige Sammlung umfasst etwa 200.000 Exemplare von Zeitungen. Dabei hat das Museum seinen Schwerpunkt auf folgende Bereiche gelegt, die teilweise an die des Begründers Forckenbeck anknüpfen: – Erst-, Letzt-, Jubiläums- und Sonderausgaben – Zeitungen, die weltpolitisch bedeutsame Ereignisse oder Naturkatastrophen aufgreifen – jüdische Presse des 19. Jahrhunderts – Dokumente des Pressewesens des Deutschen Reiches und der DDR – Kriegs- und Lagerzeitungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg – Dokumentation der Titel-, Format- und Layoutänderungen von Zeitungen – Kuriositäten (wie etwa die kleinste Zeitung der Welt) – deutschsprachige Presse aus dem Ausland – aus jeder Region dieser Welt möglichst ein Exemplar
2.1
Möglichkeiten im Zeitungsmuseum
2.1.1 Die Dauerausstellung Die Dauerausstellung des Zeitungsmuseums umfasst fünf Räume mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die einzelnen Räume bieten den Schülern einen sinnes- und handlungsorientierten Zugang und ermöglichen sowohl individuelles als auch kooperatives Lernen. In Raum 1 »Vom Ereignis zur Nachricht« geht es um die Grundzüge der zwischenmenschlichen Kommunikation. Dieser Raum macht deutlich, dass es den Menschen stets ein Bedürfnis war, sich auszutauschen, und dass die Menschen immer Wege dazu gefunden haben: von Trommelzeichen über Postkutschen bis zum Internet. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Doch was ist Gegenstand unserer Kommunikation? Es können persönliche Erlebnisse sein oder
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aber auch Ereignisse, die weit über unseren persönlichen Lebenskontext hinausgehen. Diese Ereignisse sind die Grundlage, die Basis unserer Medien. Sie berichten von Politik, Wirtschaft, Sport oder Kultur. In diesem Raum wird auch erklärt, wie Nachrichtenagenturen arbeiten und wie Medien an ihre Informationen kommen. In Raum 2 »Medien für die Massen« wird erklärt, wie technische und gesellschaftliche Veränderungen zur rasanten Entwicklung der Massenmedien geführt haben. Hier wird die Erfindung des Buchdrucks aufgegriffen, aber auch die Zunahme der Alphabetisierung durch die Einführung einer Schulpflicht und die Bedeutung für die Massenmedien. Die Blütezeit der Zeitung wird deutlich und auch die Entwicklung von Radio und Fernsehen wird erklärt. Ohne Schrift wäre unsere Kommunikation nicht so weit, wie sie heute ist; das zeigt Raum 3 »Lesen und Schreiben«. Hier geht es auch darum, zu zeigen, dass sich die Schrift parallel an unterschiedlichen Orten entwickelt hat. Wie unterschiedlich unsere Schriftkultur im Vergleich zu anderen Ländern ist, wird anhand der digitalen Zeitungen aus aller Welt deutlich, die am Touchscreen aufgerufen werden können. Damit wird die ursprüngliche Idee des Sammlers Forckenbeck – aus jedem Land eine Zeitung – wieder aufgegriffen. Dass Medien nicht immer ausgewogen und sachlich berichten, zeigt Raum 4 »Lüge und Wahrheit«. Anhand von Zeitungen und Bildern wird gezeigt, wie Medien uns manipulieren können, und gleichzeitig werden Möglichkeiten aufgezeigt, dies zu verhindern, zum Beispiel durch den Deutschen Presserat. Zum Schluss wird in Raum 5 »Einblicke – Ausblicke« die Frage nach der Zukunft der Medien gestellt. Wie lange gehört die Zeitung klassischerweise noch auf den Frühstückstisch? Und was meinen Experten zum Medienwandel? Die Antwort geben sie in kurzen Videos. 2.1.2 Wechselausstellungen und Workshops Die Dauerausstellung ist dazu geeignet, Schülern einen Überblick über die Medienwelt zu geben und deren historische Entwicklung zu erarbeiten. Soll im Unterricht allerdings die Zeitung als historische Quelle genutzt werden, bietet es sich an, mit der Klasse die Wechselausstellungen des Zeitungsmuseums zu besuchen und mit den Schülern an einem thematisch dazu passenden Workshop teilzunehmen. Beispiele sind Workshops zum Thema »Staatsgründung Israels« und »Ausbruch Erster Weltkrieg«. Die Workshops bieten den Schülern einen handlungsorientierteren Zugang als der Besuch der Dauerausstellung, da sie die Möglichkeit geben und zugleich dazu auffordern, sehr viel stärker auf sich gestellt zu arbeiten. Ziel ist es, die Schüler zum kritischen Umgang mit Quellen zu ermutigen. Darüber hinaus geht es darum, bestimmte Ereignisse zu reflektieren. Mithilfe der Quellen lernen die Schüler die Deutung der Protagonisten einer bestimmten Zeit kennen, die sie anschließend bewerten können.
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
2.2
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Zeitungen im Museum
Wer als Besucher in das Zeitungsmuseum Aachen kommt, wird zunächst feststellen, dass es hier vieles zu sehen gibt, nur eines kaum: Zeitungen. Die 200.000 Exemplare, die zum Museumsbestand gehören, sind zwar digital abrufbar, jedoch ist nur ein winziger Teil der Sammlung im Museum selbst zu sehen. Das Museum reduziert sich auf bestimmte Highlights. Bei der Auswahl der Zeitungen wurde darauf geachtet, jedem Ausstellungsstück genügend Raum zu geben (und dem Besucher zusätzlich die Möglichkeit, bei näherem Interesse auch in die Tiefe gehen zu können). Einerseits trägt das zu einer besseren Übersicht bei, Inhalte können klarer transportiert werden. Auf der anderen Seite gehen aber auch Vorteile, die die Originalquellen bieten, verloren – genauer die Möglichkeit, die Geschichte in Form von Zeitungen »greifbar« zu machen. Das Zeitungsmuseum versteht sich selbst – wie viele Museen heute – eher als Ort für Erlebnisse. Dabei ist das Exponat als historischer Beleg nur eines von vielen Mitteln, um den Besuchern dieses Erlebnis zu bieten. Viele Schüler kommen aufgrund des Namens »Zeitungsmuseum« mit der Erwartung, sie würden sich nun eine Zeitung nach der anderen ansehen. Doch für die Schüler ist die Zeitung heute nicht mehr unbedingt ein relevanter Bestandteil ihres Alltags. Auch im Leben vieler Eltern spielt sie keine Rolle mehr. Um die Schüler für die Thematik zu gewinnen, braucht es also zusätzliche, andere Anknüpfungspunkte an ihre eigene Erfahrungswelt (zum Beispiel Bilder oder andere Medien) und überdies die Möglichkeit, aktiv zu werden und selbst untersuchen zu können.
3.
Zeitungen im Unterricht
Historische Zeitungen besitzen für die Geschichtsschreibung und auch für den Geschichtsunterricht ein hohes Potenzial: »Geschichte zu schreiben, ohne die zeitgenössische Tagespresse zu konsultieren, ist für das 19. und mehr noch für das 20. Jahrhundert schlechterdings nicht möglich. Insbesondere Zeitungen zählen für die Neueste Geschichte zu den zentralen Quellenbeständen.«2 Im Unterricht wird die Einbeziehung von Zeitungen als historische Quellen deshalb immer wichtiger. Besonders gilt dies für den Geschichtsunterricht, doch auch in anderen sozialwissenschaftlichen Fächern und in der Religionswissenschaft ist der Einsatz von Zeitungen im Unterricht ein Gewinn. 2 Christian Kuchler : Die nationalsozialistische Tagespresse, deren Nachdruck in »Zeitzeugen« und der Geschichtsunterricht, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit: Einsichten und Perspektiven 1 (2010), S. 8.
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Historische Presseerzeugnisse gibt es zu unzähligen Themenkomplexen. Sie dokumentierten das Leben und die Gesellschaft als Momentaufnahme und waren nicht als Quelle für die Nachwelt gedacht. Zeitungen hatten immer eine starke Funktion im politischen Kommunikationsprozess, auch wenn ihre Geschichte immer wieder durch staatliche und kirchliche Zensur und Repressionen geprägt wurde. Gerade diese Unmittelbarkeit der Darstellung macht sie interessant, auch für die heutigen Generationen. Die unterschiedlichen Darstellungsformen, also Nachrichten, Kommentare, aber auch Karikaturen und Bilder ermöglichen eine vielschichte Auseinandersetzung. Zu sehen, welchen Stellenwert die Blattmacher dem Text beimaßen und wo sie ihn dementsprechend in der Zeitung platzierten, kann für die Analyse des Inhalts und des Kontexts ebenfalls interessant sein. Im Gegensatz zu vielen anderen Quellen stellen Zeitungen die damalige Lebenswelt aus der Perspektive der zeitgenössischen Journalisten und Verleger dar und ermöglichen den Betrachtern heute, diese Perspektive der Zeitgenossen zu rekonstruieren. Historische Zeitungen und Bilder werden herangezogen, um Antworten auf politik-, wirtschafts-, sozial-, alltags-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen zu geben; sie gewähren den Schülern einen Einblick, wie die Protagonisten der Zeit das Geschehen gewertet und wie sich diese Wertung verändert hat.3 Die Frage ist, wie ein Museum diesen Prozess unterstützen kann. Was versprechen sich Lehrerinnen und Lehrer davon, wenn sie mit ihren Klassen Zeitungen im Kontext eines Museums näher beleuchten?
4.
Zielsetzung beim Besuch des Zeitungsmuseums
Ich möchte an dieser Stelle auf meine eingangs formulierte Frage zurückkommen: Warum besuchen Lehrer mit ihren Klassen das Zeitungsmuseum? Sicher haben sie erkannt, wie wichtig der Umgang mit historischen Zeitungen als Quellen im Unterricht ist und welchen Wert Presseerzeugnisse haben. Doch es gibt noch weitere Gründe, die sie zum Museumsbesuch motivieren. Um zu überprüfen, ob das Angebot des Museums tatsächlich zielgruppenaffin ist, wurden in etwa vier Monaten im Zeitraum zwischen Januar und April 2014 19 Lehrkräfte stichprobenartig befragt, nachdem sie mit ihren Klassen das Zeitungsmuseum besucht hatten. Der Fragebogen war folgendermaßen formuliert: 3 Christian Bunnenberg: Reprints von NS-Presseerzeugnissen als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht, in: Christian Kuchler (Hrsg.): NS-Propaganda im 21. Jahrhundert. Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung, Köln 2014, S. 41–59, hier S. 48.
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
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1) Im Rahmen welches Unterrichtsfaches sind Sie mit Ihrer Klasse ins Internationale Zeitungsmuseum gekommen? 2) Mit welcher Klassenstufe sind Sie ins IZM gekommen? 3) Wie schätzen Sie das Vorwissen der Schüler zum Thema Zeitungen ein? 4) Mit welchem Ziel sind Sie ins IZM gekommen? 5) Welches neue Wissen sollen die Schüler aus dem Museumsbesuch mitnehmen? 6) Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt? 7) Was hätte noch aufgegriffen werden müssen? Diese Befragung zeigte: Die Gruppen, die das Zeitungsmuseum besuchen, sind sehr heterogen. Jede Schulform und Klassen jeden Alters sind vertreten. Um dennoch Schlussfolgerungen ziehen zu können, wurden die Antworten systematisiert und Gruppen gebildet. Teilweise gaben Lehrer mehrere Beweggründe für ihren Besuch an. Sie wurden dann gegebenenfalls doppelt in die Auswertung aufgenommen.
4.1
Gruppe 1: Motivation durch den Lehrplan
»Zeitungen sind einfach Thema im Lehrplan.« (Gymnasiallehrerin einer 8. Klasse)
In 11 der 19 Antwortbögen wurde ein Zusammenhang zwischen der Lehrplananforderung und dem Museumsbesuch hergestellt. Zwar fallen nicht alle Antworten so plakativ und eindeutig aus wie das obige Beispiel, doch ohne den Lehrplanbezug würden viele Lehrer wohl auf einen Besuch des Museums verzichten. Der Zusammenhang spiegelt sich auch in der Altersstruktur der Gruppen wider. Besonders häufig kommen Schüler der 7. und 8. Klassen ins Museum. Das liegt daran, dass in Nordrhein-Westfalen das Thema »Zeitung« in diesen Stufen im Lehrplan vorgesehen ist. Beispielsweise heißt es im Lehrplan für die Realschulen in NRW für den Deutschunterricht der 7. und 8. Klasse: »Sie [die Schüler] orientieren sich in Zeitungen (elementare Merkmale erkennen – z. B. Schlagzeile, Ressorts, Nachrichtentext; Textsorten und Stilformen in Zeitungen und Zeitschriften unterscheiden – z. B. Bericht, Reportage, Kommentar, Interview, Werbung; mit ihnen experimentieren; Wirkungsweise und Inhalt ausgewählter Zeitungstexte beschreiben).«4 Auffällig ist hier jedoch der unterschiedliche Umgang mit dem Besuch beziehungsweise der Zeitpunkt, den die Lehrer dafür auswählen. Das lässt sich 4 Vgl. http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-i/realschule/deutsch/ kernlehrplan/kompetenzen/ (10. 09. 2014).
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Rebecca Krizak
daran erkennen, wie unterschiedlich die Lehrer das Vorwissen ihrer Schüler beschreiben. 1) »Erster Kontakt mit dem Thema Zeitungen. Kein Vorwissen, da zu Beginn der Unterrichtseinheit«
Viele nutzen den Aufenthalt zu Beginn der Unterrichtsreihe als motivierenden Einstieg. Es kann so gelingen, die Schüler neugierig zu machen und zu Fragen anzuregen, die anschließend im Unterricht weiter behandelt werden können. Jedoch scheinen die Schüler, die ohne jedes Vorwissen ins Museum kommen. Warum sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ein Museum besuchen, ist ihnen nicht klar. Dementsprechend leidet die Lernmotivation, da nicht klar ist, welchem Zweck der Besuch dienen soll. Eine Einführung in das Thema vorab im Unterricht und die entsprechende Absprache zwischen Lehrern und Museumspädagogen könnte dem entgegenwirken. Geschieht das nicht, bleibt das Lernergebnis gering und der Besuch kann ins Gegenteil umschlagen und demotivierend wirken, weil er zunächst beliebig wirkt. 2) »Textgattungen und Aufbau einer Zeitung haben wir bereits behandelt und selbst ausprobiert. […] Heute sollte das Wissen vertieft [und ein] praktischer Bezug hergestellt werden.« (Gymnasiallehrer einer 8. Klasse)
Hier wird der Besuch im Museum in die Lerneinheit eingebettet. Das erscheint sinnvoll, da auf dem Vorwissen der Schüler aufgebaut werden kann und offene Fragen anschließend im Unterricht besprochen werden können. Zusätzlich kann der Besuch als Motivationsschub genutzt werden. Dass außerdem der Lerneffekt am größten ist, wenn die Schüler mit einem gewissen Vorwissen ins Museum kommen, an das sie anknüpfen können, haben Wilde und Bätz gezeigt5. Auch wenn sich die Arbeit der Autoren auf die naturwissenschaftlichen Fächer bezieht, lässt sich ihr Ergebnis durchaus auf den gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichtsbereich übertragen. 3) »Ausflug zum Abschluss des Themas«
Zwar haben die Schüler, die bereits das Thema ausführlich im Unterricht behandelt haben, ein gutes Vorwissen, an das sie anknüpfen können, allerdings bleibt der Motivationsschub, der beim Besuch entstehen kann, ungenutzt. Auch offene Fragen können nicht mehr geklärt werden. Wenn der Museumsführer nicht darauf vorbereitet ist, dass die Gruppe mit großem Vorwissen kommt, werden inhaltliche Dinge teils nur wiederholt und die Schüler verlieren schnell das Interesse. 5 Bätz, Katrin/Wilde, Matthias: Einfluss unterrichtlicher Vorbereitung auf das Lernen im Naturkundemuseum, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 12 (2006), S. 77–89.
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
4.2
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Gruppe 2: Medienkompetenz fördern
»Die Schüler sind häufig einer medialen Berieselung ausgesetzt, die sie als normal empfinden und hinnehmen. Sie sollen aber auch lernen, die Darstellung in den Medien kritischer zu sehen.« (Hauptschullehrerin einer 9. Klasse)
Der kritische Umgang mit Medien ist wichtig und auch im Lehrplan verankert (zum Beispiel Gymnasium NRW 9. Klasse). Im Zeitungsmuseum gibt es mehrere Abteilungen, wo die Schüler erarbeiten können, wie Zeitungen manipulieren (sowohl im Text als auch im Bild). Gerade die Bilderstation zeigt den Schülern, dass auch ohne Hilfe von Bildbearbeitungsprogrammen an einer Bildaussage viel verändert werden kann. Gleichzeitig sehen sie im Raum »Lüge und Wahrheit« aber auch, wie die Presse versucht, sich selbst zum verantwortungsvollen Handeln zu bewegen, etwa durch die Einrichtung von Presseräten oder der Ausarbeitung eines Pressekodexes. Im Lehrplan heißt es für das Gymnasium NRW 9. Klasse: »Sie [die Schüler] untersuchen die Informationsvermittlung und Meinungsbildung in Texten der Massenmedien und berücksichtigen dabei auch medienkritische Positionen.«6
4.3
Gruppe 3: Außerschulischen Lernort nutzen
»Mal rauskommen, Neues sehen, Neues erleben« (Lehrerin 6. Klasse Gesamtschule)
Mit diesem Satz fasst eine der befragten Lehrerinnen ihre Motivation zum Besuch des Zeitungsmuseums zusammen: Der Unterricht soll aus dem schulischen Kontext gelöst werden. Als situativer, informeller Lernraum bieten sich außerschulische Lernräume wie das Museum an, da das Lernen dort genau diesen beiden Anforderungen entsprechen kann. Beides kann auf die Schüler motivierend und aktivierend wirken. Dabei ist die Absprache zwischen dem Museumspersonal und den Lehrern besonders wichtig. Denn je informeller der Lernprozess gestaltet werden soll, desto mehr muss sich der Museumsführer zurücknehmen. Er sollte dann nicht mehr als ein Impulsgeber sein. Im Zeitungsmuseum Aachen wird diese Form des Lernens häufig bei besonders jungen Schülern genutzt. Die Schüler bekommen Gegenstände an die Hand und müssen diese im Museum verorten. Oder sie erarbeiten sich mithilfe von Fragen die einzelnen Räume und werden zu Experten, die später den anderen Schülern dieses Wissen vermitteln können. Fünf der 19 befragten Lehrer äußerten im Anschluss die Kritik, sie hätten sich 6 Vgl. http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-s-i/gesamtschule/deutsch/ kernlehrplan/kompetenzen/ (11.09.2014).
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mehr Freiraum für die Schüler gewünscht, damit diese sich selbstständig in das Angebot des Museums einarbeiten können. Dies ist einerseits sicher durch eine bessere Absprache im Vorfeld möglich. Wünsche müssen dabei klar kommuniziert werden, um im Museum dann auch umgesetzt werden zu können. Zum anderen wäre hier aber auch zu überlegen, ob der Ansatz, der bisher häufig nur mit jüngeren Schülern gewählt wurde, auch auf ältere Klassen erweitert werden kann. Nur so können die Vorteile des Museums als außerschulischer und informeller Lernort tatsächlich für alle genutzt werden.
4.4
Gruppe 4: Zeitungen als Quelle nutzen lernen
»Im Unterricht bleibt zu wenig Zeit (und es gibt zu wenig Angebote), mit Originalquellen zu arbeiten. Der Workshop hat dies heute dafür komprimiert ermöglicht.« (Lehrerin Montessori-Schule 11. Klasse)
Wenn Lehrer mit ihren Klassen mit Zeitungen als historischen Quellen arbeiten möchten, dann bietet es sich an, nicht die Dauerausstellung, sondern einen der Workshops zu besuchen. Die Workshops des Museums beziehen sich in den meisten Fällen auf die Wechselausstellungen. In den Workshops geht es nicht um ›das große Ganze‹, sondern um einzelne Perspektiven. Anders als bei der Dauerausstellung haben die Schüler Vorwissen, denn der Workshop wird als Ergänzung besucht und nicht primär dazu, um den Lehrplaninhalt abzuarbeiten. Die eingangs erläuterten Vorteile des Arbeitens mit Zeitungen, also die Unmittelbarkeit, die Perspektive von Zeitzeugen etc., können in den Workshops besonders gut genutzt werden. Anders als in der Dauerausstellung stehen Zeitungen hier tatsächlich im Mittelpunkt – nicht nur inhaltlich, sondern auch als reale Zeitungsexemplare, die durchgeblättert werden können und mit denen im Anschluss nicht nur ein inhaltlicher Lernerfolg verbunden wird, sondern auch ein haptisches Erlebnis. Die Vorteile von Zeitungen als historischen Quellen im Unterricht, die Bunnenberg wie gesehen erläutert hat, können hierbei ausgeschöpft werden: Historische Zeitungen und Bilder werden herangezogen, um politik-, wirtschafts-, sozial-, alltags-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen zu beantworten und den Schülern einen Einblick zu geben, wie die Protagonisten der Zeit das Geschehen gewertet und wie sich diese Wertung verändert hat.
Das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort
5.
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Fazit
Von wegen ›abgegriffen‹: Zeitungen und Medien werden im Unterricht immer wichtiger. Davon profitiert auch das Zeitungsmuseum Aachen. Mit historischen Zeitungen macht das Museum Geschichte für Schüler im wahrsten Sinne des Wortes greifbar und trägt so zum historischen Lernen bei. Das Thema Zeitungen lässt sich auf unterschiedliche Weisen im Unterricht behandeln. Nicht nur im Deutsch- und Geschichtsunterricht kann der Umgang mit dieser Quelle sinnvoll sein, auch im Religionsunterricht und in den Sozialwissenschaften kommen Zeitungen zum Einsatz. Die Auseinandersetzung mit historischen Zeitungen erleichtert es den Schülern, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Mit den Originalquellen zu arbeiten ist für sie häufig attraktiver, als dies mit Darstellungstexten zu tun. Hinzu kommen unterschiedliche Textformen und Bilder, die die Attraktivität zusätzlich erhöhen können. Dabei steht das Museum vor der Herausforderung, die richtige Mischung aus Originalquellen und einordnenden Hintergrundinformationen zu finden. Nicht zwangsläufig ist ein Mehr an Originalzeitungen auch attraktiver bzw. trägt besser zum Verständnis historischer Prozesse bei. Das Zeitungsmuseum Aachen konzentriert sich auf einige ausgewählte Originalquellen, um mit deren Hilfe exemplarisch bestimmte Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Reaktionen der Schüler vor und nach ihrem Besuch im Museum haben gezeigt, dass die anfängliche Skepsis gegenüber den Originalzeitungen deutlich abgebaut werden konnte. Die Stationen im Museum, die einen Umgang mit den Originalzeitungen ermöglichen, sind bei Schülern besonders beliebt. Die Befragung der Lehrer, die mit ihren Klassen das Museum besuchen, sollte verdeutlichen, welche Ansprüche sie an ihren Besuch haben. Das Ergebnis kann für das Museum als Orientierung bei der Frage dienen, ob das Angebot auch zu den Ansprüchen der Schulklassen passt. Es hat sich jedoch gezeigt, wie heterogen die Ansprüche an den Besuch sind. Das Museum steht damit vor der Herausforderung, die unterschiedlichsten Anforderungen von Lehrern und ihren Schulklassen zu erfüllen. Lehrkräfte besuchen das Museum sowohl aus dem Wunsch heraus, den Schülern zu einem reflektierten Umgang mit der alltäglichen Berichterstattung zu verhelfen, als auch mit dem Ziel, ihnen die Quellengattung Zeitung näherzubringen. Manche suchen die Arbeit mit historischen Quellen, andere wollen ihre Schüler zu einem kritischeren Umgang mit dem Thema Zeitungen und Medien ermuntern. Das Zeitungsmuseum bewegt sich in diesem Spannungsfeld und muss versuchen, den äußerst unterschiedlichen Ansprüchen der Besucher gerecht zu werden.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Michele Barricelli ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Leibniz Universität Hannover. PD Dr. Astrid Blome arbeitet als Kuratorin am Gutenberg-Museum in Mainz. Prof. Dr. Frank Bösch ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Prof. Dr. Peter Geiss ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Thomas Göttlich ist Lehrer an der Goetheschule Wetzlar und arbeitet als Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für die Didaktik der Geschichte der Justus-Liebig Universität Gießen. Rebecca Krizak arbeitete als freie Mitarbeiterin am Internationalen Zeitungsmuseum in Aachen und ist derzeit Redakteurin bei der Deutschen PresseAgentur. Prof. Dr. Christian Kuchler leitet den Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen, University. Christa Müller arbeitet als Abteilungsleiterin für »Digitale Services« an der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Sven Oleschko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität DuisburgEssen und leitet das Projekt »Sprachsensibles Unterrichten in der 2. Lehrerausbildungsphase« der Bezirksregierung Arnsberg, NRW.
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Autorinnen und Autoren
Fiona Pollmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrund Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der RWTH Aachen, University. Dr. Astrid Schwabe arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Flensburg. Benjamin Städter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen, University. Zudem arbeitet er als Studienrat am Gymnasium St. Ursula in Dorsten. Holger Wettingfeld arbeitet als Journalist und Kulturmanager in Berlin und ist Initiator des Museumsprojekts »Deutsches Pressemuseum im Ullsteinhaus«. Cajus Wypior ist Fachleiter für Geschichte am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung, Heilbronn. Zudem arbeitet er als Fachberater für Geschichte am Regierungspräsidium Stuttgart, Lehrbeauftragter für Fachdidaktik an der Universität Heidelberg und Studiendirektor am Robert-Mayer-Gymnasium, Heilbronn.