Forschung für das Auto von morgen : aus Tradition entsteht Zukunft ; mit 6 Tabellen 354074150X, 9783540741503


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Forschung für das Auto von morgen : aus Tradition entsteht Zukunft ; mit 6 Tabellen
 354074150X, 9783540741503

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Volker Schindler · Immo Sievers Forschung für das Auto von Morgen

Volker Schindler · Immo Sievers

Forschung für das Auto von Morgen Aus Tradition entsteht Zukunft Mit 315 Abbildungen und 6 Tabellen

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Professor Dr. Volker Schindler TU Berlin Institut für Land- und Seeverkehr Gustav-Meyer-Allee 25 13355 Berlin Germany [email protected]

Dr. Immo Sievers [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-540-74150-3 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Sollte in diesem Werk direkt oder indirekt auf Gesetze, Vorschriften oder Richtlinien (z. B. DIN, VDI, VDE) Bezug genommen oder aus ihnen zitiert worden sein, so kann der Verlag keine Gewähr für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität übernehmen. Es empfiehlt sich, gegebenenfalls für die eigenen Arbeiten die vollständigen Vorschriften oder Richtlinien in der jeweils gültigen Fassung hinzuzuziehen. Satz: PTP-Berlin Protago-TeX-Produktion GmbH, Berlin Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Einbandgestaltung: WMXDesign, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier

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Einführung

Kraftfahrzeuge prägen unser gesamtes Leben. Sie ermöglichen die Mobilität von Personen, Gütern und Geräten in einem Maße, das vor ihrer Erfindung völlig undenkbar war. Sie sind die Basis für eine weiträumige Arbeitsteilung; die europäische Integration wäre ohne sie schwer vorstellbar. Sie erlauben die fein differenzierte Darstellung von Statusansprüchen. Sie dienen auch dem Vergnügen. Wir können uns kaum noch vorstellen, ohne sie auszukommen. Diese Entwicklung begann 1885–1887 als Daimler und Benz die ersten Kraftfahrzeuge mit Verbrennungsmotor realisierten. Automobile wurden in der Folge zunächst in Frankreich, dann bis zum 1. Weltkrieg auch stärker in England und schließlich nach 1918 in den USA zu serienmäßig hergestellten Produkten entwickelt. Der endgültige Durchbruch zur heutigen Bedeutung lässt sich mit dem Namen von Henry Ford verbinden. Unter seiner Leitung wurden die Möglichkeiten für die Massenproduktion geschaffen. Das Auto wurde billig(er) beim Kauf und im Betrieb, vielseitig(er) in der Nutzung und langsam aber sicher unverzichtbar. Inzwischen wird es weltweit in Millionenstückzahlen und in einer großen Vielfalt von Varianten gebaut. Die Prozesse, in denen es entwickelt und zur Produktion vorbereitet wird, sind heute in hohem Maße auf die Anwendung wissenschaftlicher Methoden angewiesen. Ohne eine ausgefeilte Versuchstechnik, ohne numerische Berechnungsverfahren, ohne die Simulation von Prozessen ist es nicht mehr möglich, erfolgreich Automobile für den Weltmarkt zu entwickeln. Diese „Verwissenschaftlichung“ der Kraftfahrzeugtechnik hat langsam begonnen. Professor Franz Reuleaux von der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin stand seinem Studienfreund Eugen Langen, dem Partner von Nicolaus Otto, bei der Entwicklung der ersten kompakten, grundsätzlich autotauglichen Ottomotoren mit Rat zur Seite; 1876 war schließlich der Viertakt-Ottomotor erfunden. Reuleaux war aber offenbar der einzige Hochschulforscher, der an der Pionierphase der Kraftfahrzeugentwicklung unmittelbar beteiligt war. Das änderte sich in den folgenden Jahren. Ab 1899 baute die Allgemeine Automobilgesellschaft in BerlinOberschöneweide Kraftfahrzeuge nach den Entwürfen von Professor Georg Klingenberg. Professor August von Borries hielt ab 1902 an der Königlichen

VI

Einführung

Technischen Hochschule zu Berlin die wahrscheinlich weltweit erste Spezialvorlesung zum Automobilbau. 1904 wurde dort eine Versuchshalle für Kraftfahrzeugtechnik gebaut. Ab dem Wintersemester 1904/05 wurde der Studiengang Maschinenbau aufgegliedert in Maschinenbau, Verkehrstechnik und Elektrotechnik. 1907 wurde das „Laboratorium für Verbrennungskraftmaschinen und Kraftwagen“ offiziell gegründet. Zunächst standen bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kraftfahrzeug versuchstechnische Untersuchungen im Vordergrund.Theoretische Betrachtungen waren von begrenzter Relevanz. Das änderte sich im Laufe der Zeit. Heute kann man feststellen, dass die Kraftfahrzeugtechnik Erkenntnisse und Methoden aus praktisch jeder anderen Ausprägung der Ingenieurwissenschaften, aus vielen Naturwissenschaften, aus der Mathematik und Informatik aus den Humanwissenschaften und aus der Betriebswirtschaft nutzt. Ein Ingenieur, der das Kraftfahrzeug als System verstehen will, muss Kenntnisse aus allen diesen Disziplinen haben, wenn er die erforderlichen Vereinfachungen zur Lösung seines speziellen Problem in angemessener Weise machen will. Angesichts der Breite der Themenfelder kann er nur auf wenigen selber ein Spezialist sein, er muss aber die Fähigkeit zur Einordnung und zum Stellen „der richtigen Fragen“ an die jeweiligen Spezialisten haben. Er braucht auch die Fähigkeit, sich dem geballten Spezialwissen nicht einfach zu beugen, sondern es zu hinterfragen, zu neuen Kombinationen zu kommen. Diese Systemkompetenz zu vermitteln ist ein wichtiges Ziel bei der Ausbildung von Ingenieuren der Kraftfahrzeugtechnik. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem System Kraftfahrzeug führt aber auch zu Fragestellungen, die in anderen Fachdisziplinen so nicht auftreten. So sind zum Beispiel die Optimierung der passiven Sicherheit,also des Verhaltens des Fahrzeugs und seiner Insassen im Verlauf eines Unfalls, oder des Fahrkomforts, der Querdynamik, des Kraftstoffverbrauchs, der Emissionen usw. Themen, die einen theoretisch fundierten Einblick in die wirksamen Mechanismen und in die verfügbaren Gestaltungsspielräume erfordern. Kraftfahrzeuge werden heute in hochgradig arbeitsteiligen Prozessen entwickelt. An einem neuen Modell arbeiten je nach Projektphase einige dutzend bis weit über tausend Fachleute zusammen. Dies geschieht in aller Regel in Multiprojektsituationen, es werden also mehrere Projekte zeitlich versetzt parallel bearbeitet. Viele der Beteiligten arbeiten gleichzeitig an mehreren Vorhaben, sie haben mehreren Projektleitern zu berichten und sind Teil mehrerer Arbeitsteams. Autos werden mit dem Ziel entwickelt, sie in Millionenstückzahlen zu bauen. Selbst von Fahrzeugen der Oberklasse werden täglich bis über dreihundert hergestellt. Die Möglichkeit zur kostengünstigen Fertigung dieser extrem variantenreichen Produkte muss schon in den frühen Phasen der Entwicklung mit berücksichtigt werden. Die Arbeitsteilung in der Entwicklung und die Multiprojektsituation stellt hohe Anforderungen an die soziale Kompetenz der Entwickler. Seit eini-

Einführung

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gen Jahren erfolgen Fahrzeugentwicklung und -produktion zudem in global verteilten Strukturen; es werden also zusätzlich Anforderungen an die Fähigkeit sich auf Englisch verständigen und an das Verhalten in interkulturellen Zusammenhängen gestellt. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Entwicklung eines Kraftfahrzeugs einerseits ein technisches, ganz wesentlich aber auch ein soziales Ereignis ist. Die schiere Zahl der Kraftfahrzeuge hat natürlich auch erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen in Form von Unfallopfern, Ressourcenverbrauch, Lärmbelästigung, Abgasemissionen, Energieverbrauch zur Folge. Ein dichtes Netz von Vorschriften und Normen ist zu beachten. Die Fahrzeugsicherheit wurde durch umfassende Schutzmechanismen auf ein Niveau gebracht, das noch vor einigen Jahren als undenkbar galt. Neue Ansätze vor allem in Form von Fahrerassistenzsystemen ermöglichen in den näheren Zukunft noch wesentliche weitere Fortschritte. Die Abgasemissionen moderner Kraftfahrzeuge nach europäischen oder US-amerikanischem Standard sind so gering, dass eine Gefährdung von Mensch und Umwelt praktisch ausgeschlossen werden kann. In Deutschland spielt das Kraftfahrzeug eine besonders große Rolle. Die Automobilindustrie mit ihren Zulieferern, Ingenieurfirmen, Anlagenbauern, Softwarehäusern, Vertriebsfirmen usw. ist die bei weitem größte Branche. Deutsche Firmen haben sich zu weltumspannenden und die Welt beliefernden Konzernen entwickelt. Sie stehen in einem intensiven Wettbewerb untereinander und mit französischen, italienischen, japanischen, koreanischen und US-amerikanischen Firmen. Zugleich arbeiten Automobilfirmen in zahlreichen Kooperationen zusammen; Beispiele sind gemeinsame vorwettbewerbliche Forschung,die Normierung,Entwicklung und Produktion von Komponenten.Es besteht also gleichzeitig Wettbewerb und Kooperation – „coopetition“.Weitere große Automobilfirmen wachsen vor allem in China und Indien heran. Um im Wettbewerb zu bestehen, wird weltweit intensiv an neuen Produkten gearbeitet.Die deutschen Automobilhersteller greifen dabei auf ein dichtes Netz von kompetenten Zulieferern und Ingenieurfirmen zurück. Es besteht in dieser Form nur an wenigen Stellen auf der Welt und erklärt zum guten Teil die Dominanz Deutschlands auf dem Gebiet der Premium-Kraftfahrzeuge. Es überrascht daher nicht, dass von den 38 Mrd. ¤, die in Deutschland jährlich für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden, ca. 35% auf den Fahrzeugbau entfallen. Die vielfältig differenzierte Automobilbranche ist für ihren ständigen Innovationsprozess auf hoch qualifizierte Ingenieure fast aller Fachrichtungen angewiesen. Die akademische Ausbildung von Kraftfahrzeugtechnikern richtet sich vor allem auf die Vermittlung der oben angesprochenen Systemkompetenz in ihren vielen Facetten. Sie bekommt ihre besondere Realitätsnähe durch die Teilnahme der Studierenden an aktuellen Forschungsvorhaben, die häufig zusammen mit der Industrie in Projekten

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Einführung

mit internationaler Beteiligung erfolgt. Die Forschung greift dabei auch Themen auf, die in der Industrie selber nicht so große Beachtung finden. Sie kann unabhängiger von den Notwendigkeiten einer wirtschaftlichen Verwertung arbeiten und trug und trägt so zur Schaffung eines sinnvollen regulatorischen Rahmens bei, dem die Produkte der Industrie im Allgemeininteresse genügen müssen. In der Summe kann man feststellen, dass die akademische Beschäftigung auf dem Gebiet der Kraftfahrzeugtechnik in Deutschland im internationalen Vergleich ein sehr hohes Niveau hat. Dies gilt seit Jahrzehnten auch für das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der Technischen Universität Berlin. Diese Geltung ist aus einer 100-jährigen Tradition gewachsen. Sie hat mehrere politisch bedingte Brüche überstanden. Immer wieder gelang es, die wissenschaftlichen Voraussetzungen zu schaffen, um aktuelle Fragen mit Kompetenz zu beantworten. Das ist die Leistung einer großen Zahl von engagierten Personen, die sich als Studenten, als Mitarbeiter, als Professoren für das Fachgebiet und für ihr Themenfeld eingesetzt haben. Eine wichtige Rolle spielen auch die zahlreichen Lehrbeauftragten, die ihr Fachwissen aus der industriellen Praxis den Studenten zur Verfügung stellen. Ihnen allen gebührt unser Dank. Die heutigen Mitarbeiter des Fachgebiets verstehen ihr Vorbild als Verpflichtung. Sie können mit Recht von sich behaupten, am Fahrzeug für morgen zu forschen und so weiter aus einer großen Tradition Zukunft entstehen zu lassen.

Autorenliste

Prof. Dr.-Ing. Bharat Balasubramanian Daimler AG Kapitel 10 Dr. rer. nat. Ludger Dragon Daimler AG Kapitel 6 Prof. Dr.-Ing. Horst E. Friedrich DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte Kapitel 9 Dr.-Ing. Dietmar G¨ohlich, Daimler AG Kapitel 2 Benedikt Heudorfer Takata-Petri AG Kapitel 5 Dr.-Ing. Heiko Johannsen Fachbereich Kraftfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr, Technische Universität Berlin Kapitel 3 Dr.-Ing. habil. Thomas Jürgensohn Human-Factors-Consult Kapitel 8 Dipl.-Ing. Harald Knäbel DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte Kapitel 9 Dipl.-Ing. Gundolf Kopp DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte Kapitel 9 Dipl.-Ing. Klaus Kompaß BMW Group Kapitel 7

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Autorenliste

Dirk Meissner Takata-Petri AG Kapitel 5 Prof. Dr.-Ing. Hartmut Rau Unfallanalyse Berlin Kapitel 11 Prof. Dr. rer. nat. Volker Schindler Fachbereich Kraftfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr, Technische Universität Berlin Kapitel 3 Dr. phil. Immo Sievers Archiv für Technikgeschichte Kapitel 1 Dr.-Ing. Peter Treffinger DLR-Institut für Fahrzeugkonzepte Kapitel 9 Dr.-Ing. Maik Ziegler Daimler AG Kapitel 4

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

Teil I

Geschichte

Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit Immo Sievers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Vorreiterrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Lenoir-Motor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der Otto-Motor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Gründung der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Entwicklung des automobilen Motors . . . . . . . . . . . . 6 Die ersten Automobile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Entwicklung des Diesel-Motors . . . . . . . . . . . . . . . 8 Beginn der Kraftfahrzeugtechnik an der TH Berlin . . . . . . 9 Der Wettstreit der Antriebsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Die Vorläufer der Automobil-Laboratorien . . . . . . . . . . . 11 Die Gründung des Institutes für Kraftfahrzeugwesen . . . . . 12 Im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kriegsfolgen und Wirtschaftskrisen . . . . . . . . . . . . . . . 14 Massenmotorisierung und Fließfertigung . . . . . . . . . . . . 15 Generationswechsel im Laboratorium für Kraftfahrzeuge . . 16 Der amerikanische Vorsprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die amerikanische Konkurrenz in Deutschland . . . . . . . . 18 Der Adler „Standard 6“ – ein Hochschulprojekt . . . . . . . . . 19 Beckers Rücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Forschungen zu alternativen Treibstoffen im Laboratorium . 21 Autobahn und Stromlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Entwicklung der Stromlinien-Karosserie . . . . . . . . . . 23 Das „K-Heck“, mitentwickelt an der TH Berlin . . . . . . . . .

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XII

Inhaltsverzeichnis

24 Zum zweiten Mal im Kriegseinsatz . . . . . . . . . . . 25 Der Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Helfer beim Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Das Ende der Haute Couture . . . . . . . . . . . . . . . 28 Wiederaufbau und Wirtschaftswunder . . . . . . . . . 29 Die Kleinwagen-Welle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Die Entwicklung des Kleinwagens in der DDR . . . . 31 Die Entwicklung des Wankelmotors . . . . . . . . . . 32 Die Sicherheitstechnik wird Forschungsschwerpunkt 33 Das reformierte Institut . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Anforderungen an Außenkanten von Lkw . . . . . . . 35 Rollstuhlfahrer und Telebusse . . . . . . . . . . . . . . 36 Das Uni-Car-Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Das Institut boxt sich durch . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abgaszentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Unfallanalyse und Rekonstruktion . . . . . . . . . . . 40 Hydropulsanlage und Fahrsimulatoren . . . . . . . . 41 Die Aus-Gründung von Unternehmen . . . . . . . . . 42 Der Umzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Kinderrückhaltesysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Crashanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Zukunftsforschung Mensch-Maschine-Systeme . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil II

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Gegenwart

Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse Dietmar Göhlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Historie der S-Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Baureihe 111/112 – Avantgarde der Technik und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Baureihe 108/109 – Schönheit und Leistung . . . . . 2.3 Die Baureihe 116 – die erste offizielle S-Klasse . . . . . 2.4 Die Baureihe 126 – zeitlose Eleganz . . . . . . . . . . . . 2.5 Die Baureihe 140 – Präsenz mit zwölf Zylindern . . . . 2.6 Die Baureihe W220 – Innovationen in schönster Form . 3 Gesamtkonzept der neuen S-Klasse – Souverän in Design und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Innenraum und Ergonomie – Harmonie von Mensch und Automobil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis XIII

4.1 Maßkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sicht nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Bedien- und Anzeigekonzept . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 First-Class-Komfort auf allen Sitzplätzen . . . . . . . . 4.5 Konditionssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Fahrwerksystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Lenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Luftfederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Active Body Control . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Symbiose von Fahrerassistenz, aktiver und passiver Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Nah- und Fernbereichsradar, die Augen der S-Klasse . 6.2 Abstandsregelung mit Distronic Plus . . . . . . . . . . . 6.3 PRO-SAFE – die Sicherheitsphilosophie bei Mercedes-Benz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 BAS Plus und Pre-Safe-Bremse . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Nachtsicht-Assistent: Mit Infrarot-Scheinwerfern mehr Sicherheit im Dunkeln . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Antrieb – effiziente Dynamik bei höchstem Komfort . . 8 Zukunftsweisende Gesamtkonzepte: Umweltgerecht, wirtschaftlich und dynamisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Umweltgerechte Produktentwicklung . . . . . . . . . . . 8.2 DIRECT Hybrid – der Benziner wird noch sparsamer . 8.3 Diesel mit „BLUETEC“ und Hybrid vereint Fahrfreude, Ökonomie und Ökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch Volker Schindler, Heiko Johannsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Anforderungen an ein modernes Stadtfahrzeug . . . . . . . . 2 CLEVER – Compact Low Emission VEhicle for URban Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Projektorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bedingungen für die Betrieb von CLEVER im öffentlichen Straßenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zulassung von L5-Fahrzeugen für den Straßenverkehr . 4.2 Fahrerlaubnisrecht bezogen auf CLEVER . . . . . . . . . 4.3 Helmtragepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Anrechnung auf die CO2 -Selbstverpfichtung . . . . . . . 4.5 Regeln für die Nutzung von CLEVER im Straßenverkehr 5 Fahrzeugkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Package . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Aerodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XIV Inhaltsverzeichnis

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Struktur und passive Sicherheit . . . . . . . . . . 6.1 Definition der Crashanforderungen . . . . . 6.2 Die Fahrzeugstruktur und ihre Auslegung . 6.3 Rückhaltesysteme . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Fußgängersicherheit . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Ergebnisse der Crashtests . . . . . . . . . . . 6.6 Kompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Gesamtbewertung angelehnt an EuroNCAP 7 Fahrwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Antrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Motor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Tanksystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Kraftübertragung . . . . . . . . . . . . . . . 9 Bau und Erprobung von Versuchsfahrzeugen . 10 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . .

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Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz Maik Ziegler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Markenvielfalt der Daimler Truck Group . . . . . . . . . . 1.1 Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Asien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Anspannungsgrad zwischen den globalen Kosteneffekten und den lokalen Marktanforderungen . . . . . . . . . . . . 2.1 Globale Kosteneffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Marktanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Umsetzung der Marktanforderungen am Beispiel Fahrerhauskabine . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Beispiel 1: Europäische Fahrerhauskabine . . . . . . . 3.2 Beispiel 2: Südamerikanische Fahrerhauskabine . . . 3.3 Beispiel 3: Nordamerikanische Fahrerhauskabine . . 3.4 Beispiel 4: Japanische Fahrerhauskabine . . . . . . . . 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Teil III

Zukunft

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Aktiver Eingriff in passive Systeme: Von passiver Sicherheit zu sicherem Fahren Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Inhaltsverzeichnis

3

Passive Sicherheit – gestern & heute . . . . . . . . 3.1 Sicherheitsgurte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Lenkräder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Frontairbagsysteme . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Seitenairbagsysteme . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Schutz bei Überschlägen . . . . . . . . . . . . 3.6 Anforderungen und Funktionen . . . . . . . . 3.7 Sensoren – von passiver zu aktiver Sicherheit 3.8 Aktive Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir? Ludger Dragon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Fahrzeugdynamik, was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wie alles begann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Was spielt sich beim Autofahren eigentlich ab? . . . . . . . . . . 5 Die Technik von heute und morgen . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Der klassische Maschinenbau des Automobils; über 100 Jahre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die neue Welt der Regelsysteme in den Fahrzeugen von heute und morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Die historische Zukunft der Fahrdynamik am Beispiel der Daimler-Forschungsfahrzeuge F300 und F400 . . . . . . . . 9 Die Zukunft der Fahrzeugdynamik: Tendenzen . . . . . . . . . Fahrerassistenzsysteme der Zukunft – auf dem Weg zum autonomen Pkw? Klaus Kompaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Begriffsbeschreibung: Assistenzsysteme . . . . . . . . . . . . 3 Begriffsbeschreibung: Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Triebfedern für autonom agierende Fahrerassistenzsysteme 5 Vergleich der Fähigkeiten von Menschen und technischen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Unterstützung des Fahrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Übernahme unangenehmer (Teil-)Aufgaben . . . . . . . . . 8 Autonomie in Sondersituationen . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Bewertung und Vergleich verschiedenen Autonomie-Level . 10 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ironies of Automation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Akzeptanz von Fahrerassistenzsystemen . . . . . . . . . . .

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XVI Inhaltsverzeichnis

13 Ausblick: Wie werden Fahrzeuge im Jahr 2023 fahren? . . . . . . 281 14 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung und Interaktion Thomas Jürgensohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Beanspruchung beim Fahren . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Messung der Beanspruchung . . . . . . . . . . . . 3 Messung der Aufmerksamkeitshinwendung . . . . . . 4 Fahrermodelle als Hilfsmittel des optimierten Bediendesigns . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte Horst E. Friedrich, Peter Treffinger, Gundolf Kopp, Harald Knäbel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Schlüsseltechnologie Werkstoffe und Bauweisen . . . . . . . . 1.1 Ein Blick zurück zeigt: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Evolution und aktuelle Entwicklungen der Fahrzeugstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aktuelle Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Anforderungen an Fahrzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Übersicht über die wichtigsten Bauweisen von Fahrzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Allgemeine Bauweisen für Systeme und Komponenten . 2.5 Modulbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Differentialbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Integralbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Verbundbauweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Hybridbauweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen und Strategien für den Leichtbau . . . . . . . 3.1 Massebedarfskennzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Allgemeine Auslegungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Leichtbaustrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Option Modularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Neue Fahrzeugkonzepte infolge alternativer Energiequellen . 5.1 Architekturen und innovative Energiewandlung . . . . . 5.2 Spant- / Space-Frame-Konzepte für alternative Antriebe 5.3 Sicherheits-Compartment . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Funktionale Werkstoffe und Systeme . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Funktionale Werkstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Aktive Funktionswerkstoffe und Adaptronik . . . . . . .

. . 301 . . 301 . . 302 . . 305 . . 306 . . 307 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis XVII

7 Werkstoffsysteme der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge unter den Einflüssen von Globalisierung und Lokalisierung Bharat Balasubramanian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der Entwicklungsprozess der Mercedes Car Group . . . . . 3.1 Quality Gates für Transparenz und Konsequenz im Entwicklungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Anwendung des Standardproduktentstehungsprozesses im Fahrzeugprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Herausforderungen an den Produktentstehungsprozess . . 4.1 Herausforderung der Globalisierung . . . . . . . . . . . 4.2 Integration von Entwicklungsleistungen in ein Gesamtfahrzeug am Beispiel der neuen C-Klasse 4.3 Bestätigung der Mercedes-Qualität durch eine konsequente Hardwareerprobung . . . . . . 4.4 Produktqualität durch Premium-Prozesse und hochqualifizierte Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zukunft der Unfallrekonstruktion Hartmut Rau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unfallaufnahme, Dokumentation von Schadenbildern 2.2 Simulationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Versuchstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ausblick auf weitere zukünftige Entwicklungen . . . . . .

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Teil I Geschichte

Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

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1 Vorreiterrolle Dass im modernen Automobilbau das gesamte Fahrzeug mit seinen Einzelteilen bereits am Computer vorher berechnet und entworfen wird, ist für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Genauso erwartungsgemäß gehen wir davon aus, dass die Fahrzeuge, bevor sie auf den Markt kommen,

Abb. 1 Laboratorium für Kraftfahrzeuge (Halle K) der Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin, 1911

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

von der Industrie genauestens nach wissenschaftlichen Maßstäben geprüft worden sind. Ganz anders sah es aus, als der Automobilbau noch in den Kinderschuhen steckte. Es war ein langwieriger Prozess, ehe die Fahrzeugindustrie den Nutzen aus den Erkenntnissen, die bei wissenschaftlichen Prüfungen gewonnen werden konnten, in die Produktion einfließen ließ. Vorreiter für diese wissenschaftliche Auswertung gab es einige, wobei in Deutschland insbesondere die „Königliche Technische Hochschule zu Berlin“ zu nennen ist. Als im Jahre 1907 das „Laboratorium für Verbrennungskraftmaschinen und Kraftwagen“ an der Technischen Hochschule BerlinCharlottenburg eingerichtet wurde, war die Entwicklung des Automobils noch nicht abgeschlossen. Es ist besonders bemerkenswert, dass zu diesem frühen Zeitpunkt sich die Wissenschaft dieser technischen Errungenschaft zuwandte. Hierin war sie dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld voraus, wobei gerade in Deutschland ein Interesse an dieser Innovation zu erwarten gewesen wäre. Zum einen kamen die wesentlichen Impulse zur Entwicklung des Automobils aus Deutschland, zum anderen verlief in keinem anderen Land die wirtschaftliche und technische Entwicklung um die Jahrhundertwende so stürmisch wie im deutschen Kaiserreich. Jedoch wurde das Automobil zuerst recht stiefmütterlich behandelt und erst als es in Frankreich Erfolge feierte, nahm auch das Interesse in Deutschland zu. Um dieses zeitige Bemühen würdigen zu können, muss man sowohl die wissenschaftlichen Voraussetzungen und die akademische Landschaft in Deutschland betrachten, als auch den technischen Fortschritt, die den Forschungsgegenstand Automobil überhaupt erst ermöglichten.

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Der Lenoir-Motor

In Frankreich und Deutschland wurden auch die grundlegenden Voraussetzungen für das Automobil geschaffen, und zwar die Entwicklung des Explosionsmotors zur Serienreife und seine Ortsunabhängigkeit. Es gibt nur wenige Innovationen, die einen so tiefgreifenden Einfluss auf die technische und auch gesellschaftliche Entwicklung gehabt haben wie der OttoMotor. Zwar spielte die Dampfmaschine im 19. Jahrhundert bei der Industrialisierung noch die dominierende Rolle, doch war ihr Einsatz mit erheblichen Nachteilen verbunden, so war ihr Wirkungsgrad abhängig von der Maschinengröße. Als wirtschaftliche Alternative bot sich Leuchtgas an, das preiswert aus Steinkohle gewonnen werden konnte. Alleine in den Jahren 1838 bis 1854 gab es neun internationale Patentinhaber für Gasmaschinen. Den ersten wirtschaftlich nutzbaren Erfolg auf diesem Forschungsgebiet erzielte Jean Joseph Lenoir, der 1860 einen unverdichteten Gasmotor mit sechs Liter Hubraum und ca. 1 PS Leistung zum Patent anmeldete. Die Maschine arbeitete als doppeltwirkender Zweitakter, bei dem das unverdichtete Gas-Luft-Gemisch abwechselnd auf beiden Seiten des Scheibenkolbens

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elektrisch gezündet wurde. Obwohl der Motor wegen des hohen Gas- und Schmierölverbrauchs dem wirtschaftlichen Vergleich mit einer Dampfmaschine nicht standhielt, wurden erstmals in der Motorengeschichte auf industrieller Basis mehrere hundert Motoren von Maschinenbaufirmen hergestellt. Die hohe mechanische Belastung des Motors ließ nur geringe Leistungsgrößen zu. Für kleinere Betriebe, die sich von der wachsenden Industrie bedroht sahen, bedeutete der Motor noch keine wirkliche, finanzierbare Antriebsalternative, als die er gedacht war. Durch zahlreiche Veröffentlichungen über den Lenoir-Motor, in denen über seine Funktionsweise, seine Einsatzmöglichkeiten und seine Verbreitung berichtet wurde, hatte auch der Kaufmann Nicolaus August Otto von dem Gas-Motor erfahren.

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Der Otto-Motor

Otto, 1832 als Sohn eines Gastwirtes geboren, absolvierte eine kaufmännische Lehre und wurde schließlich Handelsvertreter für eine Kölner Firma. Zusammen mit seinem Bruder Wilhelm begann Nicolaus Otto mit den ersten Experimenten zur Verbesserung des Lenoirschen Motors. Sie reichten 1861 ihren ersten Patentantrag beim Preußischen Patentamt auf einen Spiritus-Verdampfer ein. Dieser Antrag wurde abgelehnt und Otto ließ weitere Versuche mit flüssigem Kraftstoff fallen. Er wandte sich dem schon von der Dampfmaschine her bekannten Funktionsprinzip des atmosphärischen Motors zu, das er als Viertakt-Gasmotor realisieren wollte. Anstelle des Explosionsstoßes sollte der atmosphärische Druck die Arbeit verrichten und gleichzeitig die mechanische Belastung des Motors verringern. Doch Ottos erster Viertaktmotor, den er bereits 1862 fertiggestellt hatte, zerbrach nach einiger Zeit, da die Explosionsstöße noch zu hart waren. Aber der Autodidakt hatte durch zahlreiche Versuche den richtigen Weg gefunden, sein Motor arbeitete in den vier Takten „ansaugen – verdichten – verbrennen – ausschieben“.Wobei allerdings die Druckprobleme des direktwirkenden Viertaktmotors noch nicht gelöst waren. Deshalb konstruierte Otto 1863 einen Gasmotor, bei dem der Atmosphärendruck im Zylinder stoßdämpfend wirkte und den Lauf der Maschine beruhigte. Auf diese Erfindung wurde Otto in verschiedenen deutschen Staaten sowie in Belgien, Frankreich und England Patentschutz gewährt. 1864 kam Karl Eugen Langen als Partner für die neu gegründete Firma „N.A. Otto & Cie“ hinzu. Langen brachte nicht nur Kapital in die Firma, sondern verfügte auch über eine technische Ausbildung und berufliche Erfahrungen im Maschinenbau. Unterstützt von Langen konnte Otto seinen Motor technisch vervollkommnen. Internationale Anerkennung erreichte er für seinen Gasmotor auf der Pariser Weltausstellung 1867. Obwohl der Motor noch unruhig und vor allem laut lief, lag sein Gasverbrauch bei nur einem Drittel des Lenoir-Motors.

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Abb. 2

Otto-Motor 1867

Abb. 3

Otto-Motor 1874

Mit der Goldmedaille in Paris begann für das Unternehmen der wirtschaftliche Aufschwung und der internationale Absatz. Zwar eignete sich der Motor noch nicht für eine allgemeine Nutzung in der Industrie oder im Handel, aber es gab durchaus Marktnischen, wie Buchdruckereien, wo der Otto-Motor seine Vorteile ausspielen konnte und bis 1876 wurden inklusive der Lizenzfertigungen ca. 5.000 Gasmotoren gebaut. Bereits 1869 wurde eine neue Fabrik in Deutz errichtet und 1872 wurde die Aktiengesellschaft Gasmotoren-Fabrik Deutz gegründet. Im gleichen Jahr traten Gottlieb Daimler als technischer Direktor und Wilhelm Maybach als Leiter des Zeichnungsbüros in die Firma ein. Zu Maybachs Aufgaben gehörte es auch, den Gasmotor zu verbessern. Um den Patentschutz auf den Motor zu erhalten, bemühte man sich durch neue Konstruktionsmerkmale den Anspruch auszudehnen. Dies und eine Leistungssteigerung auf 3 PS wurde durch eine neue Steuerung erreicht. Trotzdem begann Mitte der siebziger Jahre die Nachfrage zu sinken.Neben der Rezession durch die Gründerkrise wirkte sich auch die Konkurrenz durch Heißluftmotoren erschwerend aus. Um konkurrenzfähig bleiben zu können, musste eine neue Maschine mit größerer Leistungsfähigkeit entwickelt werden. Vor allem musste sie universell einzusetzen sein, um möglichst eine breite industrielle Verwendung finden zu können. Den konstruktiven Grundgedanken für den direkt und mit höherem Druck arbeitenden „Hochdruckmotor“ hatte Otto bereits 1862 entworfen, die technische Umsetzung allerdings scheiterte an

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Abb. 4

Eugen Langen, 1890

Abb. 5

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Nicolaus Otto, 1890

dem Problem der Luft-Gas-Gemischbildung,die einerseits leicht zu zünden sein musste und andererseits nicht zu heftige Explosionsstöße verursachen durfte. Ein Problem, das Otto lange Zeit beschäftigte, ohne dass er eine befriedigende Lösung finden konnte. 1875 wurden die Forschungsarbeiten in Deutz forciert, für Otto wurde ein eigenes Versuchslabor eingerichtet und als sein persönlicher Mitarbeiter der Ingenieur Franz Rings eingestellt. Noch im Laufe des Jahres 1875 konnte Otto das Problem der Gemischbildung durch Kompression lösen, wobei kleine Mengen zündfähigen Gemisches in der Luftladung schweben sollten, ohne sich mit ihr zu vermischen. Dieser als Schichtenbildung im Patent DRP 532 beschriebene Vorgang reduzierte nicht nur die mechanische Belastung, sondern erhöhte auch den Wirkungsgrad des Motors. Schon in dieser Frühphase war die Technische Hochschule Berlin durch Prof. Dr. Franz Reuleaux an der Entwicklung beteiligt.1 Reuleaux, der ein Studienfreund von Eugen Langen, dem Partner von Otto in der Gasmotoren-Fabrik Deutz, war, hatte den Anstoß zur Konstruktion einer „Hochdruckmaschine“, also eines Gasmotors mit Verdichtung, 1875 gegeben.2 In seinem Brief vom 12. Juli 1875 an Eugen Langen schrieb er: 1

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Franz Reuleaux, geb. am 30.09.1829 in Eschweiler, gest. am 20.08.1905 in Berlin. 185663 Professor am Polytechnikum in Zürich, ab 1864 Professur für Maschinenlehre am Gewerbeinstitut in Berlin, von 1868 bis 1879 Direktor der Gewerbeakademie, die in der Technischen Hochschule Berlin aufging. Ab 1879 Prorektor und 1890/91 Rektor der TH Berlin. Braun, Hans Joachim / Weber, Wolfhard: Ingenieurwissenschaft und Gesellschaftspolitik – Das Wirken von Franz Reuleaux. In: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 285–290

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

„Was also zu geschehen hat, ist, dass sofort in Eurer Fabrik die Hochdruckmaschine hervorgesucht und in eine praktische Form gebracht wird. Die Daimleriaden sind mit einem Ruck zu den Akten zu legen . . . Herr Otto muss auf die Hinterbeine, Herr Daimler auf die vorderen meinetwegen, aber es darf keine Zeit mehr versäumt werden“.3 Mit „Daimleriaden“ meinte Reuleaux Vorschläge von Gottlieb Daimler, den bisherigen atmosphärischen Otto-Motor, der ohne Verdichtung mit einem Flugkolben, Freilauf und Zahnstangen-Schwungradantrieb arbeitete, auf Verdichtung und Kurbelbetrieb umzubauen. Die in Reuleaux’ salopper Formulierung erkennbare Gereiztheit Daimler gegenüber beruhte auf den zunehmenden Spannungen zwischen Otto, dem Initiator und Mitbegründer der Fabrik, und dem 1872 hinzugekommenen Daimler. Otto, der sich trotz seiner Funktion als kaufmännischer Direktor als erfinderischen Kopf des Unternehmens betrachtete, und der im Maschinenbau kompetente Ingenieur Daimler waren im Direktorium gleichberechtigt. 1875 wollte Otto zunächst einen Heißluftmotor entwickeln, der „gleichsam mit comprimierter Luft angefüllt“ werden und mit immer „demselben Quantum Luft“ arbeiten sollte, „welche abwechselnd erhitzt und gekühlt wird“. Reuleaux wies dieses Projekt mit den Worten: „Man kultiviere die Gasmaschine. Die Idee mit der langsamen Verbrennung in hohem Luftdruck ist gewiss ausbildbar. Darauf soll Otto sich legen, da steckt etwas drinn“4 zurück. Mit der „Hochdruckmaschine“, meinte er Ottos erste mit Verdichtung arbeitende Versuchsmaschine, einen 1861 von dem Kölner Mechanikermeister Michael Joseph Zons gebauten Motor mit vier paarweise gegenüberliegenden Zylindern, deren Arbeitskolben auf je einen Kurbelzapfen wirkten. Noch nicht geklärt hatte Otto das Problem der Zündung, bei dessen Lösung man schon eindeutig den Informationsfluss und Technologietransfer im globalen Maschinenbau nachvollziehen kann. So beschrieb Wilhelm Maybach 1921 in einem selbstverfassten Lebenslauf die verschiedenen Testreihen, für die u. a. Langen extra zwei Motoren des amerikanischen Ingenieurs George Brayton angekauft hatte. In Deutz war man bei Forschungsarbeiten ausgesprochen innovativ. Schon um den Gasmotor zu verbessern, hatte man Maybach in der einschlägigen Fachliteratur und in- und ausländischen Patentschriften gezielt recherchieren lassen. An der Problemlösung der Zündung des Hochdruckmotors war er allerdings nicht beteiligt. Otto entwickelte eine vom atmosphärischen Motor übernommene Zündungsmethode weiter, bei der ein Steuerschieber mit einer Flamme das Gemisch durch einen „Schusskanal“ entzündete. Otto und Rings konstruierten eine Versuchsmaschine, die im Frühjahr 1876 betriebsbereit war. 3 4

Sass, Friedrich: Geschichte des deutschen Verbrennungsmotorenbaues von 1860 bis 1918, Berlin, 1962, S. 40 Brief Reuleaux an Langen vom 19. Juli 1875

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Abb. 6

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Die Geburtsurkunde des modernen Verbrennungsmotors, 1876

Und am 9. Mai 1876 war es soweit, das erste Diagramm des neuen Motors mit einem einwandfreien Verlauf konnte aufgezeichnet werden. Heute wird dieses Diagramm, das Wilhelm Maybach aufgehoben hatte, als Geburtsurkunde des modernen Verbrennungsmotors angesehen, denn es enthält alle seine charakteristischen Merkmale. Otto war es gelungen, durch das Viertaktprinzip die mechanische Belastung des Motors zu reduzieren und durch die Kompression des Gemisches den Wirkungsgrad und die Wirtschaftlichkeit des Motors zu erhöhen. Der Motor hatte einen geringen Verbrauch, lief gleichmäßig und leise, seine Bauweise war nach der Überarbeitung durch Maybach kompakt und er war einfach zu bedienen. Der Motor hatte 6.100 cm3 und leistete bei 180 U/min 3 PS. Da man sich in Deutz des Wertes dieser Innovation voll bewusst war, beantragte die Firma bereits vier Wochen später ein Patent in Elsaß-Lothringen. Dort waren die Vorprüfungsverfahren nicht ganz so strikt wie in Preußen, zu dem Deutz ja eigentlich gehörte. Erst mit dem einheitlichen Reichspatentgesetz von 1877 wurde ihr das DRP. 532 am 4. August 1877 verliehen. Dieses aus fünf Ansprüchen bestehende Patent verhinderte eine Zeitlang die schnelle Verbreitung des Otto-Motors in Europa und Amerika. Es gibt wohl auch heute noch kaum ein Patent, über das so viel geschrieben und prozessiert wurde. Nach zahlreichen Verhandlungen wurden die Ansprüche auf Gemischbildung, Verbrennung und vor allem auf das Viertaktverfahren am 30. Januar 1886 durch das Reichsgericht aufgehoben. Nun war der Weg frei für viele Konstrukteure, unter ihnen Karl Benz und Gottlieb Daimler, selbst Viertaktmotoren zu bauen. Nachdem der Otto-Motor, der zunächst mit Leuchtgas betrieben wurde, auch für flüssige Brennstoffe modifiziert worden war, konnte er universell eingesetzt werden und erlangte innerhalb weniger Jahre weltweite Verbreitung. Er wurde unter dem Namen

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Abb. 7 Notizen von Benz über Versuche mit einer elektrischen Zündung am Zweitakt-Motor, 1882

seines Konstrukteurs der erste massenhaft hergestellte Verbrennungsmotor, dessen Bedeutung durch den Einsatz als Automobilantrieb bis heute ungebrochen ist. Zu den zahlreichen Konstrukteuren, die nun begannen Viertaktmotoren zu bauen, gehörte auch Karl Benz. Er hatte aber noch mit dem „Problem der Probleme“ im frühen Verbrennungsmotorenbau zu kämpfen, der Zündung. Auf Grund der Feuergefährlichkeit des neuen Antriebsstoffes wurde von allen an der Entwicklung beteiligten Ingenieuren nach Alternativen gesucht. So hatte Joseph Lenoir für seinen Gasmotor 1860 eine elektrische Zündung konstruiert und Zündkerzen dafür entwickelt. 1877 wurden in Deutz Versuche mit einem Wechselstrominduktor von Siemens vorgenommen. Ab 1878 experimentierte Otto mit einer elektrischen Zündung, bei der die Funken zur Gemischzündung durch die „Ankermethode“ erzeugt werden sollten. Schließlich gelang es ihm 1884 eine elektromagnetische Niederspannungszündung zu konstruieren, die für orts- und drehzahlfeste Motoren einen wesentlichen Fortschritt bedeutete. Allerdings hat man in Deutz diese Entwicklung nicht weiterverfolgt und auch nicht patentieren lassen, so dass Robert Bosch später diese Methode vervollkommnen und vermarkten konnte.

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Gründung der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin

Voraussetzung für die technischen Umwälzungen in Preußen waren die beiden traditionellen Triebfedern des Maschinenbaus, zum einen der Bergbau und zum anderen die Textilindustrie. Die Industrielle Revolution in

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England hatte gerade in diesen beiden Industriezweigen die Grundlagen geschaffen, die den Maschinenbau in Europa, insbesondere den Dampfmaschinenbau, wesentlich befruchtet haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam noch der Elektromaschinenbau hinzu,während der Verbrennungsmotor noch eine relativ geringe Rolle spielte.Der von Joseph Lenoir entwickelte Gasmotor wurde zwar in größeren Stückzahlen hergestellt, war aber noch unwirtschaftlich. Und auch der von Nicolaus Otto entwickelte ViertaktMotor war leistungsmäßig keine Konkurrenz zur Dampfmaschine oder zu Elektromotoren.5

Abb. 8 Die Königlich Technische Hochschule zu Berlin im Bau nach Plänen von Richard Lucae, 1880

In Preußen war dieser Fortschritt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besonders stürmisch verlaufen. Zusammen mit anderen deutschen Ländern versuchte man den deutlichen industriellen Vorsprung Englands und anderer Staaten aufzuholen. So wurde in Preußen bereits 1811 die Gewerbefreiheit eingeführt, vor Westfalen (1812) und mehr als 50 Jahre früher als in Sachsen und Baden (1861), Württemberg (1864) und Bayern (1868). Eine ähnliche Entwicklung gab es im Bildungssystem, insbesondere bei der Ausbildung von Ingenieuren. In allen Industriestaaten zeigte sich die Notwendigkeit, eine technische Ausbildung und berufliche Organisation auf nationaler Ebene für Ingenieure zu schaffen, um die wirtschaftlichtechnische Expansion voran zu treiben. Der bis dahin praktizierte Technologietransfer durch das Anwerben englischer Mechaniker hatte in keinem Land Erfolg. In Frankreich führte diese Erkenntnis schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gründung von „écoles polytechniques“ 5

Sievers, Immo: 140 Jahre Motoren aus Deutz in MTZ, 6/2004, 65. Jg., S. 462–465

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und der “societé des ingénieurs civils“. In allen deutschen Staaten wurden zeitgleich Gewerbeschulen und Institute gründet, die anfangs keine formale Qualifikation als Ausbildungsvoraussetzung verlangten. Dies änderte sich nach der Gründung des Vereins Deutscher Ingenieure 1856 und der Reichseinigung 1871. Das Ausbildungssystem der Ingenieure wurde nach akademischen Vorstellungen organisiert und mündete in die Gründung von Technischen Hochschulen. Beispiele dafür sind die Königlich Preußische Technische Hochschule in Berlin, die 1879 entstand, oder die Königliche Sächsische Technische Hochschule in Dresden, die, 1828 als Technische Bildungsanstalt gegründet, 1851 in Königlich Sächsische Polytechnische Schule umbenannt und 1890 zur Hochschule ernannt wurde.6 Während diese Institute eine wissenschaftliche Ausrichtung der Ausbildung anstrebten, waren es die Fachschulen in Deutschland, die einen praxisbezogenen Unterricht anboten. Neben staatlichen Einrichtungen, gab es auch private Technika, wie das 1867 gegründete Technikum Mittweida. Aus der Erkenntnis heraus, dass ein großer Bedarf an Ingenieuren vorhanden war, die Maschinen konstruieren und diese auch in der Fabrikation einsetzen konnten, wurden diese Schulen oft von Privatpersonen oder örtlichen Vereinen gegründet. Die Ausbildung war an den praxisnahen Bedürfnissen einer immer schneller wachsenden Industrialisierung ausgerichtet, die die traditionelle Handwerker-Ausbildung überforderte, aber keine theoretisch wissenschaftliche Forschung voraussetzte. Diese Schulen nahmen Schüler mit praktischen Vorkenntnissen auch ohne Abschlüsse wie das Abitur auf und bildeten sie zu Ingenieuren aus. Erst später wandelten auch sie ihre Strukturen und versuchten den anerkannten Status von Fachhochschulen zu erreichen. Gerade im pragmatischen und strikt auf den staatlichen Nutzen ausgerichteten Preußen wurde die Ausbildung der „Techniker“ schon seit dem 18. Jahrhundert gefördert. Ausdruck hierfür sind die durch Friedrich den Großen eingeführten Reformen und die 1770 durch Anton von Heinitz gegründete Bergakademie. Letztere wurde die älteste Vorgängereinrichtung der Königlichen Technischen Hochschule Berlin. Mit der Gründung der Bauakademie unter David Gilly 1799, der landwirtschaftlichen Akademie unter Albrecht Thaer 1806 und des Gewerbeinstituts unter Christian Peter Wilhelm Beuth 1821 sind die wichtigsten Vorläufereinrichtungen genannt, die am 17. März 1879 durch Ministerialerlass zur„Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin“ zusammengefasst wurden. Die Hochschule gliederte sich in fünf Abteilungen: Architektur, Bauingenieurwesen, Chemie und Hüttenkunde, allgemeine Wissenschaften und Maschinen-Ingenieurwesen einschließlich Schiffsbau. Die Hochschule errang bald nach ihrer Gründung Weltruf. Begründet wurde dieser Ruf durch namhafte Forscher, die hier lehrten.Auf dem Gebiet des Maschinenbaus waren es zwei bedeutende 6

Weber, Wolfgang: Ingenieure und Technik in Staat und Wirtschaft. In: Hrsg. König, Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte, Berlin, 1997, Bd. 4, S. 111 ff.

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Abb. 9 Hauptportal der TH Berlin 1906 fertiggestellt von Friedrich Hitzig und Julius Raschdorff

Gelehrte, die um die Vormachtstellung von Theorie und Praxis stritten. Der Theoretiker Franz Reuleaux (1829–1905) begründete die Kinematik neu. Hatte man die Getriebe bis dahin nach Zweck und Gestaltung definiert, so begriff Reuleaux sie als Verbindung elementarer Körper, deren Bewegung einander bewirken. Alle Bewegungen reduzierte er auf Elementenpaare (Schraube / Schraubenmutter), die in kinematischen Ketten Impulse übertragen. Reuleaux gab Anstöße zur Entwicklung des Otto-Motors und der nahtlosen Röhren. Er initiierte das deutsche Patentgesetz und führte zahlreiche neue Fachwörter (Regler, Werkstück) in die deutsche Sprache ein. Sein Gegner wurde Alois Riedler7 ,der Reuleaux ins Abseits drängte.Riedler forderte den Primat der Anwendung und Wirtschaftlichkeit in den Überle7

Alois Riedler, geb. am 15. Mai 1850 in Graz, gest. am 25. Oktober 1936 in Wien. Berufung 1880 an die Technischen Hochschule München, danach bekleidete er eine Professur an der Technischen Hochschule Aachen. Berufung 1888 an die TH Berlin, Professur für Maschineningenieurwesen. 1899 Rektor der TH Berlin, 1920 emeritiert. Hunecke, Volker: Der Kampf ums Dasein und die Reform der technischen Erziehung im Denken Alois Riedlers. In: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 301–313

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gungen der Techniker und nannte Reuleaux„Kreidemaschinenbauer“. 1888 wurde er auf die Professur für Dampfmaschinen und Maschinenanlagen an der Technischen Hochschule Berlin berufen. Bei seiner Berufung handelte er aus, dass er an der Hochschule ein privates Konstruktionsbüro einrichten könne.8 Dort entwickelte er schnelllaufende Pumpen für den Einsatz in Wasserwerken und zur Wasserhaltung in Bergwerken. Diese Expresspumpen waren allerdings nach wenigen Jahren durch den Fortschritt auf diesem Gebiet überholt, was blieb war der Grundgedanke, durch größere Arbeitsgeschwindigkeit mehr Leistung zu erreichen. Eine wegweisende Erkenntnis im Maschinenbau, nach der Riedler das Maschinenbauwesen in Lehre und Forschung neuorientierte.9

Abb. 10

Prof. A. Riedler, 1910

Abb. 11

Prof. F. Reuleaux, 1890

Auch wenn Reuleaux und Riedler verschiedene Ansichten vertraten, waren sie sich in einem Punkt einig: der deutsche Maschinenbau musste sich grundlegend verbessern, um an den Weltstandard Anschluss zu finden. 1876 hatte Reuleaux die Weltausstellung in Philadelphia / USA besucht und in seinen berühmt gewordenen „Briefen aus Philadelphia“ ein vernichtendes Urteil über die deutschen Produkte (billig und schlecht) gefällt. 1893 besuchte Riedler die Weltausstellung in Chicago, im Anschluss an diese Reise verfasste er eine Denkschrift, die die Errichtung von Maschinenlaboratorien an den deutschen Technischen Hochschulen forderte. Angelehnt an die amerikanischen Ausbildungsmethoden entwickelte Riedler darin Methoden für eine bessere Ausbildung der Studenten im praktischen Um8 9

Manegold, Karl-Heinz: Alois Riedler, in: Berlinische Lebensbilder – techniker, Hrsg. Treue, Wilhelm/König, Wolfgang, Berlin, 1990, S. 292–307 Manegold, S. 303

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gang mit den Maschinen. Als Folge dieser Erkenntnisse wurden 1895 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) die sogenannten„Aachener Beschlüsse“ gefasst, in denen die Reformierung des Unterrichts an Technischen Hochschulen und die Einrichtung von Ingenieurlaboratorien gefordert wurden. Bereits ein Jahr später wurden an der Technischen Hochschule Berlin ein Festigkeits- und ein Maschinenlaboratorium eingerichtet. Letzteres entwickelte sich durch Riedlers Engagement und Spenden aus der Wirtschaft rasch zum größten seiner Art in Deutschland.Aus Protest gegen die Anlage dieses Laboratoriums, für das Riedler auch die Unterstützung der preußischen Regierung erhielt, verließ Reuleaux 1896 die Hochschule. Vier Jahre später folgte die Einrichtung einer Versuchsanstalt für Wassermotoren und 1902 nach amerikanischem Vorbild eine Prüfanlage für Lokomotiven. 1903 wurde das Laboratorium für Verbrennungskraftmaschinen unter Leitung von Riedler gegründet und ein elektrotechnisches Versuchsfeld eingerichtet, das u. a. von Prof. Dr. Georg Klingenberg betreut wurde. 1906 folgten das Versuchsfeld für Maschinenelemente und das Laboratorium für Werkzeugmaschinen, letzteres unter der Leitung von Prof. Dr. Georg Schlesinger, der seit 1904 den neu gegründeten Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb inne hatte.10 Riedlers Bestrebungen die Technikerausbildung in Deutschland zu reformieren und ihr nicht nur neue Inhalte und Ziele zu geben, sondern ihr auch in der Gesellschaft ein gleichberechtigtes Ansehen mit geisteswissenschaftlichen Fächern zu verschaffen, gipfelten in der Erklärung, dass das Promotionsrecht der Technischen Hochschulen eine Lebensfrage der gesamten deutschen Technik sei. In dieser Forderung nach akademischer Gleichberechtigung wurde er von Prof. Dr. Adolf Slaby unterstützt.11 Slaby hatte direkten Zugang zu Kaiser Wilhelm II., der sich gelegentlich Vorlesungen von Slaby anhörte und von diesem in technischen Fragen beraten wurde. Riedler und Slaby nutzten das Interesse des Kaisers, so dass dieser trotz erheblicher Widerstände der Universitäten anlässlich der Hundertjahrfeier der TH Berlin 1899 allen Technischen Hochschulen in Preußen das Promotionsrecht verlieh. Mit diesem „Ritterschlag für die Technik“ hatte Riedler nicht nur den Zenit seiner akademischen Karriere erreicht, sondern auch eine wahre Technikbegeisterung unter den Studenten ausgelöst. Beleg für diese Begeisterung ist der Ehrenschild, den die Studentenschaft 1899 anlässlich der Hundertjahrfeier Prof. Riedler gewidmet hat und der heute im Eingangsbereich des Institutes hängt. 10

11

Georg Schlesinger, geb. am 17. Januar 1874 in Berlin, gest. am 6. Oktober 1949 in London. Berufung an die TH Berlin 1904, 1933 entlassen. 1934 Professur in Zürich, 1934–1938 Professur in Brüssel, ab 1939 in London.Wegbereiter der Rationalisierung in Deutschland Adolf Slaby, geb. 18. April 1849 in Berlin, gest. am 6. April 1913 ebenda. Slaby habilitierte sich 1876 an der Gewerbeakademie für das Fach Theoretische Maschinenlehre. 1882 wurde Slaby zum Professor für„Theoretische Maschinenlehre und Elektrotechnik“ an der TH Berlin berufen. 1894 Berufung zum Professor für Elektrotechnik, 1903 Mitbegründer der AEG.

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 12

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Prof. G. Schlesinger, 1904

Abb. 13

Riedler-Ehrenschild

Die Entwicklung des automobilen Motors

Diese Technikbegeisterung wurde aber, was das Automobil betraf noch nicht von vielen geteilt. Gerade in Deutschland, wo das Automobil mit Verbrennungsmotor entwickelt und zur Serienreife gebracht worden war, war dies erstaunlich. Um so mehr als es zwei Firmen gab, die an dieser Innovation arbeiteten und durchaus auch versuchten sie in Deutschland bekannt zu machen. Gute Voraussetzungen hierfür hatte Gottlieb Daimler, der ehemalige technische Direktor der Gasmotoren Fabrik Deutz. Er und Wilhelm Maybach12 hatten mit der Konstruktion eines kleinen, schnelllaufenden Verbrennungsmotors in Deutz begonnen. Daimlers Vermögen ermöglichte es ihnen, ohne weitere Verpflichtungen sich ganz auf die Weiterentwicklung des Ottomotors zu konzentrieren. Grundvoraussetzungen für einen mobilen Motor war nicht nur eine Gewichts- und Größenreduzierung, sondern gleichzeitig eine Leistungssteigerung. Für hohe Drehzahlen war aber die bis dahin verwandte schiebergesteuerte Flammenzündung zu unzuverlässig. Erst als Maybach bei der Recherche in Patentveröffentlichungen die Glührohrzündung von William Watson entdeckte, konnte dieses Problem

12

Gottlieb Daimler, geb. am 17. März 1834 in Schorndorf, gest. am 6. März in Bad Cannstatt. Dr.-Ing. h. c. Wilhelm Maybach, geb. am 9. Februar 1846 in Heilbronn, gest. am 29.12.1929 in Stuttgart. Sievers, Immo: Karl Benz und Gottlieb Daimler – Väter des Automobils. In: Brockhaus Infothek, Mannheim, 2000 Ders.: Karl Benz, in: ATZ 106, Nr. 5/2004, Sn 922–927

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überwunden werden.13 In der 1883 geschickt abgefassten Patentanmeldung zum DRP. 28022 gelang es Daimler, das Viertakt-Otto-Patent zu umgehen. Otto hatte ja den Explosionsdruck vermeiden wollen, indem er das Gasgemisch im Zylinder sich schichtenförmig bilden ließ. Daimler dagegen beschreibt in Anspruch 1 des Patentes eine rasche Kompression in einem geschlossenen, heißen Raum (Zylinder), wo nach der Explosion eine rasche Verbrennung einsetzt. In Anspruch 2 umschreibt er ein offenes Glührohr, das mit dem Brennraum in Verbindung steht und von außen mit einer offenen Flamme erhitzt wird.

Abb. 14

Karl Benz

Abb. 15

G. Daimler

Abb. 16 W. Maybach

1884 war das Jahr, in dem die grundlegende Voraussetzung für das Automobil geschaffen wurde: der kleine, leichte, schnelllaufende Verbrennungsmotor.An drei Orten gleichzeitig wurden hierzu entscheidende Fortschritte erzielt: In Cannstatt gelang Daimler und Maybach der größte Fortschritt mit der Entwicklung eines einzylindrigen Viertakt-Motors, der wegen seiner aufrecht stehenden Bauweise auch die „Standuhr“ genannt wurde. Das wesentliche Merkmal dieses Motors war die sowohl leichte wie auch kleine Konstruktion, die die Voraussetzung für den Betrieb von Fahrzeugen war. Auf den Motor wurde das DRP. 34926 auf Daimlers Namen ausgestellt. Zusammen mit dem von Maybach entwickelten Vergaser, wegen seiner Funktionsweise „Schwimmvergaser“ (freibeweglicher Schwimmer hält im Vergaser die Schichthöhe des Benzins konstant) genannt, wurde der Motor benzingetrieben. Maybach hatte bereits in Deutz an der Umstellung von Motoren auf Benzinverbrennung gearbeitet und so einen Forschungsvorsprung mit nach Cannstatt nehmen können. Neun Jahre später entwickelte Maybach daraus den Spritzdüsenvergaser, der den Motorenbau nachhaltig beeinflussen sollte. Die „Standuhr“ aber wurde in das Zweirad 1885 und in die Daimler-Kutsche von 1886 eingebaut. 13

Sievers, Immo: AutoCars, Die Beziehungen zwischen der englischen und der deutschen Automobilindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M, 1995, S. 244ff.

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Abb. 17 Patentzeichnung zum Zweirad von Daimler und Maybach mit der „Standuhr“, 1885

In Mannheim arbeitete Karl Benz schon seit fünf Jahren an ZweitaktMotoren. Ausgestattet mit einer batteriebetriebenen „Summerzündung“, entwickelte Benz aus dem noch ortsfesten Motor einen Viertakt-BenzinKleinmotor. Der auffälligste Unterschied zu Maybachs Motor war das elektrische Zündungsverfahren,welches wesentlich fortschrittlicher war als das Glührohrverfahren. Die Funken, die das Gemisch entzündeten, wurden von einem Funkeninduktor geliefert, der seinen Strom von einer Batterie oder einem Dynamo erhielt. Außerdem eignete sich die liegende Konstruktion des Benz-Motors im Gegensatz zur stehenden Bauweise von Maybach besser zum Einbau in ein Fahrzeug. In Deutz bemühte man sich, den Ottomotor auf Benzinbetrieb umzustellen. Unproblematisch war die Vergasung des Gemisches, da man bereits für den „Atmosphärischen Motor“ neun Jahre vorher einen Oberflächenvergaser entwickelt hatte. Schwierigkeiten dagegen bereitete das „Problem der Probleme“, die Entzündung der feuergefährlichen Flüssigkeit. Auf Anregung von Franz Reuleaux wurden Versuche mit elektrischen Zündapparaten von Siemens durchgeführt, die aber nicht befriedigend verliefen. Otto selbst gelang es dann 1884, eine„Ankerzündung“ (zwischen zwei Magnetpolen dreht sich ein Anker, der Stromstöße erzeugt) zu konstruieren, die zuverlässig genug arbeitete, um in einen schnelllaufenden Motor eingebaut

Immo Sievers

Abb. 18

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Benz Dreirad – 1886

zu werden. Später sollte Robert Bosch ein ähnliches Zündungssystem bauen und damit einen weltweiten Markt erschließen. Noch während der Forschungsarbeiten zum Motor suchte Maybach nach einem geeigneten Fahrzeug, um die Betriebstauglichkeit des Schnellläufers zu demonstrieren. Im Gegensatz zu Benz, der von vornherein an einer Gesamtkonzeption „Automobil“ arbeitete, ging es Daimler und Maybach darum, die Einsatzmöglichkeiten ihres kleinen Motors zu demonstrieren. Bereits 1882 notierte Maybach sich in seinem Tagebuch ZweiradBeschreibungen von Louis Hardaker und Henry Lawson, die er für den Einbau der „Standuhr“ geeignet hielt. Im November 1885 konnte er dann die ersten Probefahrten mit dem Reitwagen unternehmen. Patentiert im DRP 36.423 vom 8. August 1885 wurde so die Testserie für das Auto auf die Straße gebracht. Die Bedeutung, die das erste betriebssichere Zweirad mit Verbrennungsmotor für den weiteren Verlauf der Technik-, Wirtschaftsund Sozialgeschichte hat, ist kaum überzubewerten. Das lange nicht zu überwindende Hindernis von Gewicht und Leistung der Antriebsquelle war gelöst. Als Maybach im November 1885 die ersten Testfahrten unternahm, wurde das Zweirad von einer verkleinerten Version der „Standuhr“ mit einem 264 cm3 großen und 0,5 PS leistenden Motor angetrieben. Das Rad war aus Holz und ungefedert, die hölzernen Räder eisenbeschlagen. Der Antrieb erfolgte über einen Riemen auf das Hinterrad. Durch das Ver-

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

schieben des Riemens auf eine kleinere Scheibe per Hand konnte nach Motorstillstand ein zweiter Gang eingelegt werden.14

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Die ersten Automobile

Zeitgleich mit seiner Cannstätter Konkurrenz kam Karl Benz mit seinem Dreirad auf die Straße.Bereits im Oktober 1885 war das Fahrzeug fahrbereit und wurde in Mannheim getestet. Das Patent DRP 37.435 vom 29. Januar 1886 macht deutlich,dass hier eine Fahrzeug-Gesamtkonzeption vorgestellt wurde, mit Ansprüchen auf das Bremssystem, Vergaser und Differentialgetriebe. Im Gegensatz zu der stehenden Motorkonstruktion von Daimler und Maybach, wählte Benz eine liegende Anordnung hinter der Sitzbank, über der angetriebenen Hinterachse. Ein Einzylinder-Motor leistete bei 985 cm3 0,88 PS und brachte es bei 400 U/min auf 12 km/h Höchstgeschwindigkeit. Die wesentlichen Komponenten des Motors waren aus Grauguss und Stahl, die Kurbelwelle aus Stahl geschmiedet, Leitungen und Behälter waren aus Kupfer gefertigt. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die von Benz entwickelte Summerzündung. Die Steuerung des Sekundärstromes erfolgte über eine Steuerscheibe, die eine von zwei Blattfedern bewegte. Solange die Federn sich nicht berührten, floss der Sekundärstrom zu einer von Benz selbstentwickelten Zündkerze (Bild einfügen) und bildete so Zündfunken. Da der Primärstrom aber ständig erzeugt wurde, waren die Batterieelemente bereits nach ca. 10 km erschöpft.15 Im Anschluss an die Versuche mit dem Zweirad entschlossen sich Maybach und Daimler, die „Standuhr“ in der größeren Version mit 1,1 PS und 462 cm3 in eine Kutsche einzubauen. Hierzu kaufte Daimler einen vorgefertigten Pferdewagen Typ „American“, der am 28. August 1886 in Cannstatt ausgeliefert wurde. Wann die ersten Probefahrten nach dem Umbau stattfanden, ist nicht mehr festzustellen, aber sicherlich noch im Laufe des Jahre 1886. Die Kutsche bot vier Personen Platz und erreichte dank der größeren Leistung eine Höchstgeschwindigkeit von 16 km/h. Anfangs war der Motor luftgekühlt, im Januar 1887 wurde dies durch eine Wasserkühlung hinter der Rücksitzbank ersetzt. Mit der Motorkutsche sind nun die ersten drei Automobile der Welt mit Verbrennungsmotor genannt.Hier sollen aber keine Prioritätsansprüche geltend gemacht, sondern die Grundlagen für die wissenschaftliche Erforschung des Kraftfahrzeugbaus zusammengetragen werden.Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist,dass an dieser Frühphase kein Wissenschaftler beteiligt gewesen ist. Sieht man von Reuleaux ab, der die Entwicklung des Otto-Motors jahrelang intensiv begleitet hat, wird die Innovation des Automobils von Autodidakten betrieben. Zwar 14 15

Sass, Friedrich: Geschichte des deutschen Verbrennungsmotorenbaus, Berlin, 1962, S. 96 Lehr, Wilhelm: Die Anfänge der Autoelektrik, in: Automobil-Industrie, Heft 3, 1969, S. 69– 72. Sievers: AutoCars, S. 33f.

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Abb. 19 Daimler Kutsche 1886, Gottlieb Daimler lässt sich von seinem Sohn Paul Daimler fahren

haben sowohl Benz wie auch Daimler nicht nur eine solide handwerkliche Ausbildungen absolviert, sondern auch an der Polytechnischen Schule Karlsruhe studiert. Beide Autopioniere wurden durch Ferdinand Redtenbacher (dem Begründer des theoretischen Maschinenbaus), Benz darüber hinaus auch durch Franz Grashof (Mitbegründer des VDI und Professor für angewandte Mechanik) beeinflusst. Trotzdem scheinen die beiden Pioniere keine Unterstützung von akademischer Seite für ihre Projekte gesucht zu haben. Offensichtlich hatten sie sich auch keinen Vorteil von Werbemaßnahmen versprochen, denn die zaghaften Versuche in den ersten Jahren durch Zeitungsannoncen oder Ausstellungen ihre neuen Produkte zu vermarkten, scheiterten kläglich. Erst als der Ehefrau von Benz, Bertha Benz, 1888 mit ihren Söhnen eine 120 km Fahrt gelang, wurden potentielle Kunden aufmerksam. Der erste Käufer eines Benz-Wagens war der Franzose Emile Roger, der dann in der Folgezeit Importeur für Benz-Wagen in Frankreich wurde. Dieses Exportgeschäft und eine solide Geschäftspolitik ließen Benz bis zur Jahrhundertwende zum größten Autohersteller der Welt aufsteigen. Auch Gottlieb Daimler profitierte von seinen Kontakten nach Frankreich,

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wo die Firmen Panhard & Levassor und Peugeot Daimler-Motoren in ihre Fahrzeuge einbauten. Trotz früher Exporte in die USA, 1893 wurden sowohl ein Daimler Stahlrad-Wagen wie auch ein Benz Velo importiert, gelang es den beiden Deutschen nicht, dort Fuß zu fassen.16 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch Prof. Riedler, der 1893 die Weltausstellung in Chicago besuchte hatte, in seinen Berichten von dort nicht über die beiden deutschen Wagen berichtete,die extra zu diesem Anlass dort ausgestellt wurden. Dabei hatten Benz und Daimler in der Zwischenzeit nicht nur neue Modelle konstruiert, sondern auch versucht, deren Alltagstauglichkeit unter Beweis zu stellen. Daimler, der das Automobil ja ohnehin nur als eine von verschiedenen Möglichkeiten betrachtete, seine Motoren zu verkaufen, motorisierte in der Folgezeit Miniaturstraßenbahnen, Feuerwehrspritzen und sogar einen Heißluft-Ballon. Vor allem aber Bootsmotoren erwiesen sich als aufsteigender Geschäftszweig für Benz und Daimler.17 Während in Frankreich das Automobil sich als Sportgerät wie das Fahrrad schnell einen Markt erobern konnte, verlief diese Entwicklung in Deutschland wesentlich langsamer. Bis 1900 nahmen hierzu Lande immerhin 30 weitere Firmen den Automobilbau auf, von denen heute noch „Daimler & Benz“ und Opel existieren.

Abb. 20

Prof. Klingenberg

Abb. 21

Klingenberg-Wagen, 1901

Auch die TH Berlin hatte schon vor der Jahrhundertwende Anteil daran, als 1899 die „Allgemeine Automobilgesellschaft“ in Berlin-Oberschöneweide die ersten Automobile nach den Konstruktionen von Prof. Dr. Georg Klingenberg baute.18 Der Wagen wurde von einem Einzylinder-Motor, 16 17 18

Seiffert, Reinhard: Deutschland-USA, Brayton, Otto, Daimler, Steinway, in: Automobilhistorische Gesellschaft, Tagungsband 2006, Marlow, 2007, S. 7–33 König,Wolfgang: Der Drang zur individuellen Mobilität: in Staat und Wirtschaft, in: Hrsg. König, Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte, Berlin, 1997, Bd. 4, S. 456 ff. Georg Klingenberg, geb. am 28. November 1870 in Hamburg, gest. am 7. Dezember 1925 in Berlin. Professor für Elektrotechnik an der TH Berlin, ab 1902 Vorstandsmitglied der AEG.

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der 4,5 PS leistete, angetrieben und erreichte 35 km/h. Motor und Getriebe waren in einem Block direkt mit der Hinterachse verbunden. Ab 1901 übernahm die NAG, eine Tochtergesellschaft der AEG, die Fabrikation des Klingenberg-Wagens im Kabelwerk Oberspree. Zwischen 1898 und 1902 wurden verschiedene Patente zur Automobiltechnik auf Klingenberg ausgestellt.

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Die Entwicklung des Diesel-Motors

Vor der Jahrhundertwende kam mit dem Dieselmotor eine weitere in Deutschland entwickelte Verbrennungskraftmaschine hinzu, die für den Fahrzeugbau von grundlegender Bedeutung ist und im Gegensatz zu den Motoren von Benz und Daimler in enger Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen konstruiert wurde. Rudolf Diesel besuchte die Industrieschule in Augsburg, ehe er sich 1875 an der Technische Hochschule München im Fach Maschinenbau immatrikulierte.19 Hier hörte er u. a.Vorlesungen bei Carl von Linde über Thermodynamik. Linde machte Diesel auf den außerordentlich geringen thermischen Wirkungsgrad der Dampfmaschinen aufmerksam und auf die theoretischen Möglichkeiten eines idealen Kreisprozesses. Nach seinem Examen ging Diesel 1880 nach Paris, um die Leitung der dortigen Linde-Fabrik zu übernehmen. Nebenbei arbeitete er an einer Wärmekraftmaschine, die einen höheren thermischen Wirkungsgrad hatte als alle bis dahin bekannten Maschinen. Anfang 1890 zog Diesel nach Berlin und leitete dort das Technische Büro von Lindes Eismaschinen-Fabrik. Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zu einer Wärmekraftmaschine fort, die den von Sadi Carnot beschriebenen Kreisprozess realisieren sollte. Am 27. Februar 1892 reichte er hierzu ein Patent ein, das ihm 1893 als DRP. 67.207 erteilt wurde. Als er erkannte, dass der dort beschriebene Prozess nicht realisierbar war, meldete er noch im gleichen Jahr ein weiteres Patent DRP. 82.168 an, mit dem er hoffte, die Fehler korrigieren zu können, ohne seine inzwischen abgeschlossenen Verträge mit der MAN, Krupp und den Gebrüdern Sulzer zu gefährden. Diesel wollte anstatt des Benzin-Luft-Gemisches wie beim Otto-Motor nur die Luft komprimieren, um so eine höhere Verdichtung zu erreichen. Zuerst rechnete Diesel mit einem Druck von 250 Atmosphären, aber dieser Druck ließ sich mit den damaligen Möglichkeiten nicht erreichen. Nachdem die MAN jahrelang intensiv an dem Motor gearbeitet hatte, wurden schließlich 30 bis 40 Atmosphären erreicht. Auch in der Frage des Brennstoffes unterlag Diesel zunächst Irrtümern und erkannte erst im Laufe einer langen Entwicklungsphase die Selbstentzündung des Brennstoffes durch die Verdichtungshitze der Luft. Diesel glaubte, den isothermen Betrieb, das 19

Rudolf Christian Diesel geb. am 18. März 1858 in Paris, gest. am 29. September 1913 (ertrunken im Ärmelkanal).

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Abb. 22

Dr.-Ing. R. Diesel, 1900

Abb. 23

Diesel-Motor, 1893

heißt ohne Temperaturveränderungen, eines Motor erreicht zu haben. Bei einer Verbrennungstemperatur von ca. 1.000 Grad errechnete Diesel einen thermischen Wirkungsgrad von 73 Prozent. Der Versuchsmotor von 1897 erreichte aber nur etwa 26 Prozent, womit er immer noch weitaus effektiver arbeitete als Dampfmaschinen, die ca. 10 Prozent, oder Otto-Motoren, die damals ca. 20 Prozent erreichten. Nach der Veröffentlichung seiner Forschungsarbeiten 1893 bei Julius Springer in Berlin, fand sich auch eine Reihe von Mäzenen, zu denen auch Hermann Buz, der Direktor der MAN gehörte.20 Vor allem die positiven Beurteilungen von verschiedenen Hochschulen waren für die weitere Förderung des komplexen Verfahrens ausschlaggebend. Besondere Unterstützung erfuhr Diesel durch die Professoren Gustav Zeuner von der Technischen Hochschule Dresden und Professor Moritz Schröter von der Technischen Hochschule München.21 Aber es gab auch schon zu diesem Zeitpunkt akademische Kritiker, zu denen Prof. Alois Riedler von der TH Berlin gehörte. Diesel hatte ihm 1893 sein Buch 20 21

Diesel, Rudolf: Die Entstehung des Dieselmotors, Springer, Berlin, 1913 Moritz Schröter, geb. 1851, gest. 1925, seit 1879 Professor an der TH München für Theoretische Maschinenlehre, ab 1908 dort Rektor. Gustav Zeuner, geb. am 30. November 1828 in Chemnitz, gest. 17. Oktober 1907 in Dresden. Ab 1855 Professor für Mechanik und theoretische Maschinenlehre am Polytechnikum Zürich. U. a. Doktorvater von Carl von Linde. Ab 1871 Professur für Mechanik an der Bergakademie Freiberg, ab 1873 Rektor des Polytechnikums Dresden. Unter ihm Ausbau zur Technischen Hochschule Dresden 1890.

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zugeschickt und Riedler konnte bei seinen Besuchen der Maschinenfabrik MAN die zahlreichen Korrekturen an Diesels Versuchsmotor begutachten. In seinem Buch „Groß-Gasmaschinen“ bezeichnete Riedler 1905 den Dieselmotor als die Wärmekraftmaschine mit dem niedrigsten spezifischen Wärmeverbrauch. Sieben Jahre später verstärkte Riedler anlässlich eines Vortrages von Diesels seine Kritik und veröffentlichte diese 1914 in seinem Buch „Dieselmotoren“. Er warf Diesel vor, dass im „schließlich gangbaren Motor“ keiner der in den Patenten aus dem Jahre 1893 erhobenen Ansprüche verwirklicht worden sei, womit er teilweise Recht hatte. Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt der Dieselmotor, aufgrund seines hervorragenden Wirkungsgrads, schon längst seinen Siegeszug um die Welt angetreten. Und auch Riedler musste letztendlich anerkennen: „Gleichwohl liegt in der reinen Kompressions-Selbstzündung ohne örtliche Glühstellen die wesentliche Eigenart des Dieselmotors, das Neue in der Verwirklichung und zugleich das Wesentliche hinsichtlich der motorischen Verbrennung von Schwerölen, somit auch eine entscheidende wirtschaftliche Bedeutung.“22 Nach den erfolgreichen Tests bei der MAN 1897 hoffte Diesel, den Durchbruch mit seinem Motor erreicht zu haben, aber die ersten verkauften Maschinen waren äußerst wartungsintensiv und führten bald zu zahlreichen Reklamationen. Hinzu kamen eine Reihe von Patentstreitigkeiten im Inund Ausland, insbesondere die Ansprüche von Herbert Stuart Akroyd auf die Priorität seines Glühkopfmotors, den dieser 1890 zum Patent angemeldet hatte. Konstruktionsmängel führten zur mehrfachen Überarbeitung des Diesel-Motors durch die MAN, die sich trotzdem ganz auf Dieselmotorenbau einstellte und die Herstellung von Dampfmaschinen aufgab. Kurz nach der Jahrhundertwende waren die konstrutiven Probleme gelöst und der Absatz begann sich spürbar zu heben. 1903 lief das erste Dieselmotorschiff „Wandal“ vom Stapel. In den folgenden Jahren begann Diesel eine Lokomotive mit Dieselmotor, einen Kleinmotor und einen Motor für Kraftwagen mit Kompressor zu entwerfen. Solange aber ein Luftkompressor, der den Kraftstoff in den Zylinder blies, benötigt wurde, blieb der Motor zu groß, um in ein Auto eingebaut werden zu können. Diesel war davon überzeugt, dass ohne Kompressor sein Motor nicht funktionieren könne. Als er 1910 den „kompressorlosen“ Vorkammer-Dieselmotor von Prosper l’Orange bei Benz in Mannheim sah, war er zwar beeindruckt, hielt aber an seiner Luftpumpe fest. Zusammen mit Heinrich Dechamps konstruierte Diesel ebenfalls 1910 einen Vierzylinder-Kraftwagenmotor, der aber in kein Fahrzeug eingebaut wurde, da keine geeignet Pumpenkonstruktion gefunden werden konnte. Diesel selbst erlebte den Durchbruch seiner Maschinen 22

Riedler, Alois: Dieselmotoren, Beiträge zur Kenntnis von Hochdruckmotoren, Berlin, 1914.

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nicht mehr. Die Streitigkeiten um seine Patentansprüche und die Probleme mit den ersten, schlecht konstruierten Motoren griffen seine Nerven an. Und so könnte sein rätselhaftes Verschwinden am 30. September 1913 von Bord einer Kanalfähre auf dem Weg nach England Selbstmord gewesen sein.23

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Beginn der Kraftfahrzeugtechnik an der TH Berlin

Betrachtet man die Geschichte des Verbrennungsmotorenbaus und der davon abhängigen Entwicklung des Automobils, stellt man fest, dass sich die Lehrstuhlinhaber an der TH Berlin relativ früh für diese Innovationen interessierten und aktiv an deren Realisierung teilnahmen. Alois Riedler las seit 1899 bis 1903 über Verbrennungskraftmaschinen und Automobilbau im Rahmen des allgemeinen Maschinenbaus. Nachdem Riedler 1900 Rektor der Berliner Hochschule geworden war, wurde die Ausrichtung der industrienahen Forschung verstärkt. So sorgte er 1901 dafür, dass im Maschinenbaulaboratorium ein 20-PS-starker Dieselmotor installiert wurde, den der Krupp-Konzern zur Verfügung gestellt hatte. Er war aber nicht der einzige Hochschullehrer, der Vorlesung darüber hielt und Verbindungen zur Industrie suchte. So referierte ab 1900 Prof. Dr. Georg Klingenberg über den Bau und Betrieb von Automobilen, wobei er sich auf praktische Erfahrungen im Automobilbau bei der AEG beziehen konnte. Ab 1902 begann Prof. Dr. August von Borries im Rahmen seines Lehrstuhles für Verkehrsmaschinenwesen an der TH Berlin Vorlesungen und Übungen zum Thema Automobilbau zu halten. Er war 1904 an der Gründung der Automobiltechnischen Gesellschaft beteiligt, deren Ehrenpräsident er wurde.24 1903 richtete Riedler das Laboratorium für Verbrennungskraftmaschinen ein und löste damit dieses Forschungsgebiet aus dem allgemeinen Maschinenbau heraus. Folgerichtig wurde im Wintersemester 1904/05 der Studiengang Maschinenbau aufgegliedert in Maschinenbau, Verkehrstechnik und Elektrotechnik.Im Wintersemester 1906/07 kam noch der Studiengang des Laboratoriums-Ingenieurs dazu. Riedler hielt in diesem Semester als Einziger an der TH Berlin Vorlesungen über Kraftfahrzeugbau. Angeregt durch seine Beobachtungen während der Weltausstellung in Chicago, wollte Riedler einen Prüfstand für Automobile einrichten. In seinen Forderungen nach wissenschaftlich exakten Messungen für den Automobilbau wurde er auch von anderen Hochschullehrern unterstützt, so etwa von Prof. Dr.-Ing. Robert Lutz von der Technischen Hochschule Aachen, 23 24

Diesel, Eugen: Diesel – Der Mensch, Das Werk, Das Schicksal, Hamburg, 1937, Sievers: AutoCars, S. 58 ff. August von Borries, geb am 27. Januar 1852, gest. am 14. Februar 1906. Vorstand des maschinentechnischen Büros der Preußischen Staatsbahnen, ab 1902 Professor für das Verkehrsmaschinenwesen an der TH Berlin.

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der seit dem Wintersemester 1902/03 an der TH Aachen zum Automobilbau Seminare gab. Im Wintersemester las er 2 Semesterwochenstunden über die Konstruktion und den Betrieb von Kraftwagen, die Gesetze und Verordnungen über Kraftwagenverkehr, Explosionsautomobilbau (Motoren, Kraftübertragung, Laufwerk, Fahrzeugtypen, Betriebsstörungen und Rentabilität), Dampfautomobilbau (Dampfkessel, Motoren, Bauarten), Elektromobile (Akkumulatoren, Motoren, Schaltungen, Kontroller, Gesamtanordnung). Im Sommersemester hielt er Übungen ab, insbesondere ließ er die Studenten konstruktive Aufgaben aus den vorgenannten Feldern bearbeiten. Hierbei fallen zwei Punkte auf, die für den heutigen Leser einer Erläuterung bedürfen. Dass über Gesetze und Verordnungen schon 1902 referiert wurde, ist ein ungewöhnlich früher Zeitpunkt. Bis 1906 waren die Verordnungen zum Automobilverkehr reine Länderangelegenheit, die sich zumeist auch auf die Erhebung von Steuern beschränkte. Auch das erste reichseinheitliche Gesetz, das Reichsstempelgesetz vom 3. Juni 1906, führte die allgemeine Automobilsteuer (Grundlage der Berechnungsformel war die Zylinderzahl, Zylinderbohrung und Kolbenhub, aus der eine PS-Zahl errechnet wurde) ein. Erst drei Jahre später erließ Reichskanzler Wilhelm Fürst von Bülow im Auftrage des Kaisers Wilhelm II. das „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“. Ganze sechs Paragraphen umfasste der Erlaß, aber es gab ja auch erst 21.176 Motorräder, 18.547 Automobile und 2.004 Nutzfahrzeuge auf Deutschlands Straßen. Die allerdings eine so beängstigende Zahl von Unfällen verursachten, dass man sich gezwungen sah, ebenfalls 1909 ein Automobil-Haftpflichtgesetz und 1910 die Führerscheinpflicht einzuführen. Wobei anfangs ein behördliches Zeugnis über die Vertrautheit mit dem Fahrzeug und ein Attest über die moralische Eignung des Fahrers genügten.25

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Der Wettstreit der Antriebsarten

Dass nicht nur über Automobile mit Verbrennungsmotoren, sondern auch ausführlich über die Konstruktion von Dampffahrzeugen und Elektromobilen gelesen wurde, ist für die Zeit um die Jahrhundertwende typisch. Denn in der Frühphase des Automobils war noch nicht entschieden, ob der Verbrennungs- oder der Elektromotor die geeignetste Lösung des Antriebs für Automobile sein würde. Die Elektrizität galt schon Ende des 19. Jahrhunderts als die Energieform der Zukunft, die nicht nur in allen Bereichen der Technik für Innovationen sorgte, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen herbeiführte. Während Benz und Daimler ihre Benzinkutschen entwickelten, wurden in den USA und England schon Versuche unternommen, Dreiräder mit Elektromotor zu bauen. 1895 gab es in den USA be25

Sievers, Immo: Geschichten aus der Automobilgeschichte, Berlin, 2000, S. 49 ff. und 110 f.

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reits 13 verschiedene Elektrofahrzeughersteller. In Deutschland waren es Emil Rathenau und Werner von Siemens, die den Einsatz der Elektrizität in vielen Bereichen, auch im Automobilbau, vorantrieben. 1899 baute die Nürnberger Firma Schuckert & Co. ihre ersten Dreiräder „Elektra“ mit Batteriebetrieb und der Belgier Camille Jenatzy erreichte mit einem Elektrowagen die Rekordgeschwindigkeit von 105,88 km/h.26

Abb. 24 Caimlle Jenatzy fuhr als erster Mensch über 100 km/h – mit einem Elektrowagen, 1899

Dampffahrzeuge waren seit langem bekannt und hatten vor allem in England eine Tradition. Dort fuhren bereits im 19. Jahrhundert dampfgetriebene Omnibusse in regelmäßigem Pendelverkehr über Land. Diese Busse transportierten bis zu 40 Personen und erreichten eine Geschwindigkeit von ca. 50 km/h. Zahlen, von denen die deutschen Pioniere lange nicht zu träumen wagten. Einzig die damals nicht zu überwindenden Gewichtsprobleme sowohl bei den dampf- wie auch den elektrisch-angetriebenen Fahrzeugen verschafften dem Verbrennungsmotor die Chance zum automobilen Antrieb. Noch 1906 war das schnellste Automobil der Welt ein StanleyDampfwagen, mit dem Fred Marriot in Florida die Höchstgeschwindigkeit von 205,4 km/h erreichte. Eine Marke, die erst 1909 von einem Rennwagen mit Benzinmotor erreicht wurde, dem legendären „Blitzen-Benz“, dessen 26

Sievers, Immo: Zweirad – Vierrad – Allrad, Berlin, 1995, S. 18 f.

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Vierzylinder-Motor bei 21,5 Liter Hubraum 150 PS leistete und 202,7 km/h schnell war .27

10 Die Vorläufer der Automobil-Laboratorien Bereits 1905 berichtete die Zeitschrift „Der Motorwagen“ (ab 1929 Automobiltechnische Zeitschrift ATZ) ausführlich über das Verhältnis von Hochschule und Automobilbau und mahnte die Einrichtung von Automobil-Laboratorien an: „Nur durch solche kann der Studierende die unerlässliche Anschauung von den Schwierigkeiten automobil-technischer Aufgaben gewinnen und sich mit ihrer versuchsmäßigen Behandlung ein wenig vertraut machen, nur in ihnen kann die Hochschule ihrer Forschungsaufgabe gerecht werden. Denn wenn schon sonst im Maschinenwesen die Laboratoriumsforschung bessere Erfolge als etwa die mathematische Behandlung zeitigt, so versagt letztere im Kraftwagenbau fast ganz. Der Versuch bietet hier allein Aussicht.“28 Diese „Automobilstationen“ sollten Versuchsstände für Motoren mit elektrischen Bremseinrichtungen, für rotierende Teile wie Getriebe, Pumpen und Ventilatoren sowie einen Versuchsstand für den Vergleich von Apparaten unter gleichen motorischen Verhältnissen haben.Darüber hinaus forderte Prof.Lutz von der TH Aachen ein Rollgerüst für die Untersuchung kompletter Autos und Motorräder sowie eine Reifenprobiermaschine. Mit dieser Ausrüstung sollten Versuche am Motor (Leistung, Wirkungsgrad, Abmessungen) und dessen Zubehör (Kühler, Zündung, Vergaser), Trieb- und Laufwerk (Kupplung, Getriebe, Bremsen, Öler, Lampen, Federn, Reifen, Tachometer) und am Wagen (Leistung, Wirkungsgrad, Leerlaufarbeit, Zugkraft, Schwingungserscheinungen etc.) selbst unternommen werden. Anstoß zu diesen Überlegungen kamen aus den USA, wo Dr. Schuyler S. Wheeler 1904 vom New Yorker Automobil-Club mit der Planung eines Automobilprüfstandes beauftragt worden war, um die Leistungsfähigkeit von Autos zu messen. Dieser Prüfstand wurde dann 1908 in Betrieb genommen. Hauptmerkmal waren drehbare Walzen, auf denen das Fahrzeug mit der Antriebsachse stand. Angetrieben bzw. abgebremst von Elektromotoren, konnten so die gewünschten Messdaten ermittelt werden.Neben dieser Einrichtung gab es 1905 schon in Paris und an zwei weiteren amerikanischen Universitäten Kraftwagenprüfstände. Außerdem hatte die „Pennsylvania Eisenbahn Gesellschaft“ einen Lokomotivprüfstand eingerichtet, der zuvor 1904 auf der Weltausstellung gezeigt worden war. Zwar sind aus keinem dieser Prüfstände vollständige Wagenuntersuchungen hervorgegangen, aber sie waren die Vorbilder, an denen sich Lutz und Riedler orientiert haben 27 28

Sievers: AutoCars, S.108f. Lutz, Robert: Automobilbau und Hochschule, in: Der Motorwagen, Heft 28, 10.10.1905, S. 660–665

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

müssen. Trotz dieser klaren Erkenntnisse blieb es in Aachen zunächst bei Seminaren zum Thema Automobilbau, ein eigenes Laboratorium für das Lehrgebiet wurde erst 1921 gebaut und 1923 das Institut für Kraftfahrwesen und Verbrennungsmotorenbau an der TH Aachen unter Prof. Langer eingerichtet. An der TH Dresden war bereits 1918 unter Prof. Dr.-Ing. Otto Wawrziniok ein Institut für Kraftfahrwesen eröffnet worden, Karlsruhe folgte 1924 unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Kluge, 1928 kamen noch Hannover unter Prof. Dr. Hermann Potthoff und Stuttgart unter Prof. Dr. Alexander Baumann hinzu.

11 Die Gründung des Institutes für Kraftfahrzeugwesen Am konsequentesten und schnellsten handelte aber Prof. Dr. Alois Riedler an der TH Berlin. Bereits 1904 wurde eine Versuchshalle für Kraftfahrzeugtechnik (Halle K) als Erweiterung des Gebäudes der „Königlichen mechanisch-technischen Versuchsanstalt“ (dem Vorgänger des Amtes für Materialprüfung) nach Entwürfen des Architekten Julius Raschdorff gebaut. Raschdorff hatte nach Plänen von Richard Lucae zusammen mit Friedrich Hitzig auch schon das Hauptgebäude der TU von 1878 bis 1884 erbaut. Ausgeführt als Ziegelrohbau mit flachgeneigtem Dach erinnert die Halle K an eine kleine Fabrik des frühen 19. Jahrhunderts. Funktional und schmucklos, jedoch mit großen Fenstern ausgestattet, hat das Gebäude über 100 Jahre und zwei Weltkriege gut überstanden. Von der Innen- und Laboratoriums-Einrichtung, wie sie auf alten Photographien zu erkennen sind, ist nur der Laufkran der Firma Krupp aus dem Jahre 1904 erhalten geblieben. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Riedler erfolgreich Drittmittel für seine Forschungsvorhaben einzuwerben verstand. Die Untersuchungsgruben und Rollenprüfstände wurden überbaut. Heute nutzt das Institut für Strömungstechnik das Gebäude für seine Versuche.29 Nach den schon erwähnten Umstrukturierungen des Studiengangs Maschinenbau im Wintersemester 1904/05 folgte zum Sommersemester 1907 die Erweiterung des Laboratoriums für Verbrennungskraftmaschinen, das bereits 1903 eingerichtet worden war, zum Laboratorium für Verbrennungskraftmaschinen und Kraftwagen. Diese Umbenennung markiert nicht nur die Hinzunahme eines neuen Forschungsgebietes, welches Riedler wie seine Kollegen in Aachen, München oder Dresden auch unter dem Dach des Maschinenoder Verbrennungsmotorenbaus weiterhin hätte lehren können. Es ist genausowenig nur eine bürokratische Maßnahme gewesen, um dem neuen Lehrgebiet einen Platz zuzuweisen. Sondern Riedler hat an der TH Berlin ganz bewusst und als Erster in Deutschland ein neues Institut ins Leben 29

Peschken, Goerd: Zur Baugeschichte der Technischen Universität Berlin, in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 171–185

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gerufen, in dem er dann 1909 auch den ersten Rollenprüfstand und die „Amtliche Prüfstelle für Kraftfahrzeuge“ einrichtete. Dass Riedler„sein“ Institut auch so autark gesehen hat, dokumentiert sich in Veröffentlichungen Riedlers, der bereits 1911 als Herausgeber für seine Berichte zur Wissenschaftlichen Automobil-Wertung nur das Laboratorium für Kraftfahrzeuge im Titel angab und auf einen Zusammenhang mit dem Laboratorium für Verbrennungsmotorenbau nicht mehr hinwies.30 Zum ersten Mal war es möglich, die unterschiedlichsten Fahrzeugtypen vollständig zu untersuchen, wobei die Versuche genau dem praktischen Fahrbetrieb entsprechen sollten. Die Erprobung bestand darin, dass der zu untersuchende Wagen mit der Antriebsachse auf die Prüftrommeln gestellt wurde und der Wagenmotor diese Trommeln antrieb. So konnte die Leistung und zugleich die Zugkraft gemessen werden. Jede Trommel war dazu mit einem Bremsdynamo ausgestattet.Wurden diese Dynamos umgeschaltet, so wurde der Wagen durch die Trommeln angetrieben und die auftretenden Widerstände am Fahrzeug konnten gemessen werden.An gesondert aufgebauten Prüfständen konnten Versuche an einzelnen Fahrzeugteilen, wie dem Motor oder dem Kühler vorgenommen werden. Die Versuchsmethoden, Berechnungen und Ergebnisse wurden in zehn Berichten des Laboratoriums unter dem Titel „Wissenschaftliche Automobilwertung“ in den Jahren 1911/12 veröffentlicht. Für ein bis dahin noch unerforschtes Gebiet waren die Ergebnisse, die Riedler dort summarisch beschrieb, sehr reichhaltig. So ergaben die Berichte bereits einen Überblick über Kraftwirkung und Kraftverteilung im Triebwerk. Vollständige Fahrdiagramme und übersichtliche Darstellung der Energieverteilung ließen Verlustquellen erkennen. Folgende Detailergebnisse zahlten sich besonders für die Praxis aus: Feststellung über den geringen Triebwerkverlust für den direkten Schaltgang, quadratisches Anwachsen desselben mit der Übersetzung, großer thermischer Verlust, die Bestimmung der erreichbaren Höchstgeschwindigkeiten und der fahrbaren Höchstleistungen, Bestimmung der Überschussleistungen und des Beschleunigungsvermögens, Eigenverbrauch der Wagen, Brennstoffwirkungsgrad und Benzinverbrauch. Der größte Gewinn der wissenschaftlichen Versuche lag in den Zahlenwerten, insbesondere den relativen Zahlenwerten, die den Vergleich von Wagenleistungen verschiedener Bauarten ermöglichten. Die wesentlichen Erkenntnisse der Nutzleistungen und Verluste im Motor und in den Fahrzeugteilen wurden in Fahrdiagrammen zusammengefasst und graphisch dargestellt, wobei die Resultate bereits die Leistungen in den verschiedenen Gängen, auf ebener Strecke und an Steigungen berücksichtigten. Diese Fahr- und Energiediagramme wurden durch eine besondere Beachtung der Motor-, Getriebeund Reifenverluste, der Überschussleistung und des Beschleunigungsver30

Riedler,Alois: Wissenschaftliche Automobil-Wertung Berichte I-X des Laboratoriums für Kraftfahrzeuge an der Könglichen Technischen Hochschule Berlin, Berlin, 1911

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 25 Laboratorium für Kraftfahrzeuge westliche Ansicht, errichtet 1904 durch Julius Raschdorff

Abb. 26 Laboratorium für Kraftfahrzeuge östliche Ansicht,errichtet 1904 durch Julius Raschdorff

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mögens der Fahrzeuge ergänzt. Auch Benzin- und Ölverbrauch wurden gemessen, wobei sich besonders deutlich die Fragwürdigkeit von Werksangaben herausstellte. Es verwundert also nicht, dass sich Riedler wiederholt gegen die Bewertung von Kraftfahrzeugen durch Rennen und Reklame aussprach und im Gegensatz dazu allein die wissenschaftliche Prüfung gelten lassen wollte. Die im Labor vorgenommenen Prüfungen wurden vorher und nachher durch Probefahrten ergänzt, so dass sich tatsächlich erstmals ein umfassendes Testergebnis darstellen ließ. Die Aussagen wurden durch den Test von fünf verschiedenen Fahrzeugtypen, ein 30 PS Renault-Wagen, ein 100 PS Benz-Rennwagen, ein 75 PS Adler-Rennwagen, ein 35 PS Lkw von Büssing und ein Daimler-Elektrowagen (System Lohner-Porsche), auf eine breitere Basis gestellt. Die Prüfungen sollten nicht nur die Fragen des Verbrauchs und der Leistung beantworten, sondern auch ganz allgemein die Vorzüge und Mängel eines Automobiltyps darstellen sowie Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen. Darüber hinaus sollten die Ergebnisse auf den Prüfständen als Maßstäbe für Zuverlässigkeit und Betriebssicherheit gelten können. So wurden auch allgemeinere Eigenschaften der Fahrzeuge bewertet, wie etwa Handhabung der Steuerung, die Wirksamkeit der Bremsen, die Zugänglichkeit aller wesentlichen Teile, die Wirkung der Federung, auftretende Schwingungen und das Verhalten bei Kurvenfahrt und beim Schleudern, sozusagen ein Vorläufer des „Elchtestes“. Durch die auf Grund von Wertzahlen vergleichbaren Versuchsergebnisse ließen sich alle wesentlichen Vorzüge und Schwächen einer Bauart oder Ausführung hinsichtlich der Leistung und des wirklichen technischen wie wirtschaftlichen Wertes feststellen. In dieser Erkenntnis liegt der Hauptnutzen der wissenschaftlichen Kraftfahrzeuguntersuchungen bis heute. Die Prüfungsergebnisse, die

Abb. 27 100 PS Benz-Rennwagen auf dem Prüfstand des KraftfahrzeugLaboratoriums, 1911

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 28

75 PS Adler-Wagen auf dem Prüfstand 1911. Benzinmessung

Riedler veröffentlichte, und vor allem seine Wertungsmaßstäbe fanden bereits vor 1914 in der Automobilindustrie großen Widerhall. Zu seinem Kerngebiet gehörten außer den Kraftfahrzeugen auch Mechanische Technologie,Maschinenbaukunde und Maschinenanlagen.Während sich so Riedlers Forderungen nach einer Emanzipation des Technikerberufes und eines Wandels des gesellschaftlichen Umfeldes, den er zum „Kampf ums Dasein“ stilisierte, erfüllten und der technische Fortschritt zum Gradmesser des nationalen Prestiges wurde, trat er selbst immer mehr in den Hintergrund. Durch seine kurz vor und nach dem Ersten Weltkrieg geführten Auseinandersetzungen, wie die Kritik an Diesel oder den Reformplänen der Hochschulen nach 1918, geriet Riedler in eine Aussenseiterposition. Nach seiner Emeritierung 1920 zog er nach Wien, wo er 1936 fast vergessen starb. Nicht vergessen werden sollte dagegen die wissenschaftlich-technische Entwicklung in der Automobilindustrie, die Riedler durch seine Forschungsarbeiten begründet hat. Insbesondere in Deutschland flossen seine Erkenntnisse in den Automobilbau ein, nachdem dieser seinen internationalen Vorsprung nach der Jahrhundertwende eingebüßt hatte. Wilhelm Maybach hatte mit dem „Mercedes“-Wagen von 1901 noch einmal weltweit technische Maßstäbe gesetzt, aber die französische Automobilindustrie war nicht nur produktionsmäßig in Europa führend, sondern auch technologisch. Eine Rolle,die bis zum Ersten Weltkrieg dann von England übernommen wurde, ehe die USA nach 1918 zum Weltmarktführer aufstiegen. Die ge-

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Abb. 29

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PS Adler-Wagen auf dem Prüfstand, Kühlwassermessung

samtwirtschaftlichen Einflüsse hatten auch Auswirkungen auf technische Entwicklungen. Nach Überwindung der „Jahrhundertwendenkrise“ kann man von einem Aufschwung ab 1905 in der deutschen Automobilwirtschaft sprechen. 1907 hatte die Welle der Markteintritte ihren Höhepunkt mit 65 Automobilherstellern in Deutschland erreicht. 1907 herrschte ein regelrechter Facharbeitermangel in der Autoindustrie, die 13.423 Arbeitnehmer beschäftigte.1906 sind in Deutschland 5.218 Fahrzeuge (Pkw und Lkw) gebaut worden, eine Zahl, die nach der sogenannten Automobilkrise 1908 stetig abnahm und sich erst in den letzten Jahren vor 1914 wieder erholte. 1914 gab es in Deutschland nur noch 46 Automobilhersteller, insgesamt waren 60.876 Pkw, 9.639 Lkw und 22.557 Motorräder in Deutschland angemeldet. Alleine England verzeichnete viermal so viele Fahrzeuge, aber die Führungsrolle zumindest produktionstechnisch hatten bereits die USA mit der Hälfte des Weltbestandes an Fahrzeugen übernommen. Dass dies nicht auch auf den technischen Entwicklungsstand zutraf, ist den Forschungsergebnissen der Technischen Hochschulen in Deutschland zu verdanken gewesen.31

31

Hentschel, Volker: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland, Stuttgart, 1978, S. 181 f Statistik des Deutsches Reiches, 1907–1914, Kaiserliches Statistik Amt, Berlin, Jg. 1907 bis 1914

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 30

Abb. 31

75 PS Adler-Wagen auf dem Prüfstand 1911. Zugkraftmessung

75 PS Adler-Wagen auf dem Prüfstand 1911. Abgasmessung

12 Im Ersten Weltkrieg Auch die Forschungseinrichtungen der TH Berlin wurden in die „moderne Kriegsführung“ mit einbezogen. So schrieb das Kriegsministerium einen Wettbewerb für Gummireifen aus, den die Prüfstelle an der TH Berlin auszuwerten hatte. Gummi, ein wichtiger und nur in beschränkten Mengen zu beschaffender Rohstoff für die Mittel-Mächte, war rationiert und die Haltbarkeit der Fahrzeugreifen daher ein wichtiger Gesichtspunkt, über den

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man so gut wie keine Erkenntnisse hatte. Riedler begab sich also mit seinen Untersuchungen auf unerforschtes Neuland, wie er in seinem „Bericht der Prüfanstalt für Kraftfahrzeuge an der Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin“ 1915 auch gleich einleitend feststellte. Noch ernüchternder war seine Schlussfolgerung: „Keiner der preiswerbenden Reifen hat Ergebnisse geliefert, die eine Preiszuerkennung oder weitere Versuche für Heereszwecke rechtfertigen könnten. Die nachgewiesene geringe Lebensdauer und die ungünstigen Betriebseigenschaften kennzeichnen sie als unverwendbar.“32 Der noch am besten abschneidende Reifen hatte eine Lebensdauer von 2.000 bis 4.000 km, je nach Beanspruchung. Versuche mit Reifen für Nutzfahrzeuge wurden nach dem Krieg von Riedlers Nachfolger Gabriel Becker fortgeführt. Riedlers Gedanken zur Wirtschaftlichkeit in der technischen Produktion führte Georg Schlesinger,der Begründer der deutschen Betriebswissenschaftslehre, auch im Ersten Weltkrieg fort. Schlesinger zerlegte die betrieblichen Arbeitsprozesse und förderte die Spezialisierung der Arbeit. Er forderte die Fertigung mit austauschbaren Teilen, zu deren Normierung er neuartige Messgeräte und die ersten DIN-Maße (1923 für Schraubengewinde) festsetzte. Ein Streik in der Firma Loewe (1901), wo er vor seiner Berufung an die TH Berlin arbeitete, brachte ihn zur Objektivierung der Messverfahren für die Arbeitszeiten der Akkordlöhne. Die Grundlagen der Rationalisierung in der deutschen Automobilindustrie waren damit gelegt. Die Austauschbarkeit von Ersatz- und Verschleißteilen ist heute kein Problem mehr, sie sind genormt und somit auswechselbar und zwar bei allen Automarken. Ja, die Austauschbarkeit geht soweit, dass die Hersteller sich nicht nur der gleichen Zulieferfirmen bedienen, sondern auch die gleichen Teile in ihre Fahrzeuge einbauen. In den Anfangsjahren des Automobils war dies nicht der Fall, jeder Hersteller benutzte unterschiedliche Komponenten. Da die Firmen früher meist auf Zulieferer verzichteten und so gut wie alles selbst fabrizierten, waren die Ersatzteile nur für ihre eigenen Fahrzeuge zu verwenden. Als Beispiel sei der Zylinderbau genannt. Noch vor der Jahrhundertwende war es durchaus üblich, die Zylinder einzeln auszubohren und den Kolben dazu dann passend zu schleifen. Ergebnis dieser handwerklichen Fertigung war, dass nur dieser eine Kolben in jenen bestimmten Zylindermantel passte.Von dem Spiel des Kolbens im Zylinder ist dabei nicht die Rede, das war vom Augenmaß des jeweiligen Meisters abhängig. Hundertstel-Werte, wie sie heute im Motorenbau üblich sind, waren vor 100 Jahren unvorstellbare Welten. Erst mit dem Einsatz von industriellen Werkzeugmaschinen gelang es, auswechselbare Teile herzustellen, wobei z. B. die Kolben eines Protos-Wagens noch immer nicht in die Zylinder eines Stoewer-Wagens passten. Während die Forschungsarbeiten von Prof. Schlesinger vor allem im Werkzeugmaschinenbau und bei Messverfahren zu grundlegenden Inno32

Bericht der Prüfanstalt für Kraftfahrzeuge an der Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin, Berlin, 1915, S. 44

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 32

Büssing Subventions-Lastwagen auf dem Prüfstand der TH Berlin, 1911

vationen führten, war es die deutsche Heeresverwaltung, die der industriellen Normung in der Fahrzeugindustrie zum Durchbruch verhalf. Bahnbrechend für die industrielle Normung war die Einführung des Gewindesystems für Schrauben 1841 durch den englischen Fabrikanten Sir Joseph Whitworth. Zwar hatte ab 1860 der Verein Deutscher Ingenieure bestimmte Normen vorgegeben, konnte sich aber damit vor der Gründung des Deutschen Reiches noch nicht durchsetzen.Die immer wichtiger werdende Rolle des Lkw wurde damals nicht nur in der Industrie erkannt, sondern auch bei militärischen Dienststellen. Die deutsche Heeresverwaltung, die dem Nutzfahrzeug reserviert gegenüberstand, konnte ein wichtiges Gegenargument ins Feld führen: während man jedes beliebige Pferd vor jede Protze spannen konnte, konnte ein liegengebliebener Adler-Lkw nicht mit Ersatzteilen eines Büssing-Lkw repariert werden. Für die Automobilindustrie stellte dies kein Problem dar, obwohl sie eigentlich im eigenen Interesse eine Massenproduktion anstrebte. Dies änderte sich erst 1908, als die deutsche Heeresverwaltung die Anschaffung von Lkw durch Privateigentümer unter der Bedingung subventionierte, dass sie nur Fahrzeuge anschafften, die folgende technische Voraussetzungen erfüllten: Die Lkw mussten eine Nutzlast von 4 Tonnen haben und durften ein Eigengewicht von 4,5 Tonnen nicht überschreiten. Darüber hinaus sollten nur Fahrzeuge gekauft werden, die im wesentlichen mit den anderen Subventionsmarken übereinstimmten, d. h. die genormte Einzelteile oder Aufbauten hatten, die austauschbar waren. Später wurde eine verbindliche Bau-Norm (Regel) auch für kleinere Typen, die sogenannten „Regel-Dreitonner“ eingeführt. Die Subventionierung sah einen Beschaffungszuschuss von 4.000 Mark und eine Betriebskostenpau-

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schale von 1.000 Mark pro Jahr in den ersten fünf Jahren vor. In den ersten Jahren entschlossen sich nur 158 private Käufer auf dieser Basis zur Anschaffung eines normierten Lkw. Ende 1913 waren es 875 Lkw, insgesamt gab es damals aber bereits ca. 9.000 Lkw in Deutschland. Dies bedeutete immerhin einen Teilerfolg für die Normierung, aber es führte nicht dazu, dass die industrielle Normung sich vor 1914 durchsetzten konnte. Erst mit der Gründung des Normenausschusses der deutschen Industrie (DIN) 1917 (seit 1975 Deutsches Institut für Normung e.V.), dem auch Prof. Schlesinger angehörte, verbesserte sich diese Situation. Vor allem in den 20er Jahren wurden dann im Ausschuss für wirtschaftliche Fertigung entscheidende Vorschläge zur Verbesserung der industriellen Produktion durch die Normierung erarbeitet, die noch heute Gültigkeit haben.

13 Kriegsfolgen und Wirtschaftskrisen Das Kriegsende, die November-Revolution 1918 und die Auflagen des VersaillerVertrages von 1919 stürzten Deutschland in ein wirtschaftliches Chaos, von dem das ganze Land betroffen war. Seit der Reichseinigung 1871 wuchs die Wirtschaft im Deutschen Reich kontinuierlich an. Es gab zwar auch Krisen, z. B. nach der Gründerzeit in der Bauwirtschaft oder um 1905 in der Automobilindustrie. Aber im wesentlichen expandierte die Gesamtwirtschaft in Deutschland in so einem rasanten Tempo, dass dieser Aufschwung nur mit den USA verglichen werden konnte. Der Erste Weltkrieg beendete diese Entwicklung abrupt. Die Folgen der Niederlage, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und der Gesellschaft waren so tiefgreifend, dass sie noch Jahrzehnte danach nicht überwunden waren.33 Daraus folgte eine besondere wirtschaftliche Entwicklung in dieser Zeit, die gekennzeichnet war durch zwei Wirtschaftskrisen mit einer kurzen Periode der Stabilisierung, die dann auch als „goldene zwanziger Jahre“ empfunden wurde. Wobei die deutsche Wirtschaft nicht nur den Verlust von bis dahin heimischen Absatzgebieten und Bevölkerung zu verkraften hatte, sondern zudem mit einer weltwirtschaftlichen Stagnation und sogar Rezession zu kämpfen hatte. Dies führte in den meisten Ländern, auch in Deutschland, zu einem Protektionismus, dem die vom Export abhängige deutsche Wirtschaft nicht gewachsen war. Das Zusammenbrechen der Exportmärkte und die unrealistischen Forderungen des Versailler Vertrages führten dazu, dass die deutsche Wirtschaft sich bis in die 1920er Jahren auf Vorkriegsniveau bewegte.34 33

34

Hentschel, Volker: Staat und Verkehr, in: Hrsg. Pohl, Hans / Treue, Willhelm: Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen, Stuttgart, 1988S. 72 ff. Sievers: AutoCars, S. 103 ff. Fischer, Wolfram: The Role of Science and Technology in the Economic Development of Europe, in: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Technik, 7. Report Wissenschaftsforschung, Universität Bielefeld, 1976, S. 176 ff.

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Abb. 33

Revolutions-Truppen mit Lkw 1918 am Brandenburger Tor

Von dieser Entwicklung war auch die Automobilindustrie betroffen, die allerdings keinen so entscheidenden gesamtwirtschaftlichen Faktor darstellte, wie heute. Die Umstellung auf eine Kriegsproduktion bedeutete für fast alle Hersteller das vorübergehende Aus der Fahrzeugproduktion zugunsten von militärischen Erzeugnissen.Wobei kleine Automobil-Fabriken noch den Vorteil hatten, keine so spezialisierte Fertigung und einen so geschulten Facharbeiterstamm aufgebaut zu haben, im Gegensatz zu großen Herstellern, die sich schon vor dem Krieg auf den Bau von Verbrennungsmotoren und Automobilen beschränkt hatten und dementsprechende Maschinen und Personal besaßen. Für diese Firmen wie Adler, Daimler-Benz oder Opel war es schwierig, wieder an die Vorkriegsproduktion anzuknüpfen, da entweder die Maschinen nicht mehr vorhanden waren oder die Fachleute fehlten. Hinzu kam, dass wenn überhaupt im Krieg nur der Nutzfahrzeugbau weiterentwickelt wurde. So gab es im Nutzfahrzeugbau nach dem Ersten Weltkrieg sogar ein Überangebot, das erst Anfang der 20er Jahre abgebaut werden konnte. Was dazu führte, dass auf diesem Sektor in konstruktionstechnischer Hinsicht kaum eine Weiterentwicklung stattfand.35 Die Situation wurde dadurch verschärft, dass nach dem Krieg ehemalige Rüstungsproduzenten wie die Deutschen Werke (D-Rad und D-Wagen) oder die Krupp AG (Motorroller und Lkw) versuchten, sich neue Geschäfts35

Blaich, Fritz: Why did Pioneer Fall Behind?, in: Barker, Theodor (Hrsg.): The Economic and Social Effects of the Spread of Motor Vehicles, London, 1987, S. 148 ff. Stahlmann, Michael: Die erste Revolution in der Autoindustrie, Frankfurt, 1993, S. 35–42

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Abb. 34 Berlin

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Dr. Rudolf Slaby in einem SB-Elektrowagen mit Notbereifung 1919 in

felder im Kraftfahrzeugbau zu erschließen. 1914 gab es 46 Automobilproduzenten in Deutschland, die Zahl stieg bis 1924 auf 121 Firmen an, die dann drastisch in der Weltwirtschaftskrise reduziert wurde. Im Motorradbereich war die Situation noch schlechter, hier versuchten sich in den 20er Jahren mehrere hundert Anbieter den Markt zu teilen. Die meisten dieser Hersteller hatten nur kleine Belegschaften oder hatten ihre Mitarbeiterzahlen nach dem Krieg verringen müssen. Der Fahrzeugbau insgesamt hatte in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg keine besonders guten Zukunftsaussichten, der Benzinmangel und die Fahrverbote für Privatfahrzeuge ließen eigentlich keine Hoffnung auf Besserung zu. Beispielhafter Ausdruck dieser Mangelwirtschaft war der kleine Slaby-Beringer-Elektrowagen mit Notbereifung oder die starke Nachfrage nach Fahrrad-Hilfsmotoren. Dr.Ing. Rudolf, Sohn von Prof. Dr.-Ing. Adolf Slaby, studierte an der TH Berlin und legte seine Diplom-Hauptprüfung 1911 mit Auszeichnung ab. Slaby gründete mit seinem Vetter Hermann Beringer 1919 die „SB-AutomobilGesellschaft m.B.“ mit Sitz in Berlin-Charlottenburg, in der ehemaligen Sophienstraße 19–22, unweit des Hauptgebäudes der Technischen Hochschule.36 Der von Dr. Slaby entwickelte Elektrowagen hatte anfangs noch 36

Rudolf Slaby wurde am 8. Januar 1887 in Berlin geboren. Sein Vater Adolf Slaby war seit 1882 Professor für Elektrotechnik, 1903 Mitbegründer der AEG. Rudolf Slaby studierte an der TH Berlin, ab 1913 arbeitete er für Daimler-Motoren-Gesellschaft in Untertürkheim und die Nationale Automobil AG in Berlin-Oberschöneweide. 1919 promovierte Adolf

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

eine Notbereifung mit Stahlfedern und verzichtete auf jeglichen Komfort. Der Elektromotor mit 24-Volt-Batterie leistete ca. 0,25 PS und verbrauchte nur 0,05 Kwstd pro Kilometer. Ein besonderes Merkmal der Konstruktion war die selbsttragende Sperrholzkarosserie, bei deren Entwurf Slaby Erfahrungen aus dem Flugzeugbau verwertet hatte. Das gesamte Fahrzeug wog nur 180 kg, wobei der Motor 20 kg und die 12 Zellen große Batterie 80 kg wog. 1920 konnten 200 SB-Wagen nach Japan verkauft werden, das in der Folgezeit der Hauptabsatzmarkt wurde. Bis zum Produktionsende 1924, sind 2.005 SB-Wagen gebaut worden.

14 Massenmotorisierung und Fließfertigung Erst 1921 änderte sich diese Situation, zu diesem Zeitpunkt gab es zumindest wieder so viele Autos wie 1914 in Deutschland. Die beschränkte Nachfrage im eigenen Land führte dazu, dass die Automobilindustrie auch kaum Anstrengungen unternahm, sich wirtschaftlich oder auch technisch weiterzuentwickeln. Im Gegenteil, Ansätze zur Großserienfertigung, wie es sie unter Umständen bei den großen Herstellern gegeben hat, wurden im Keim erstickt und man verharrte in Deutschland auf der Einzel- bzw. Kleinserienfertigung. Diese oft kritisierte Produktionsweise und die Typenvielfalt in Deutschland entsprachen aber den speziellen Gegebenheiten des Marktes und der Binnen-Nachfrage, welche durch die schon genannten Beschränkungen wesentlich geringer war als in den USA, England oder Frankreich. Gleichzeitig gab es einen Markt für hochwertige Automobile, so konnte sich die Marke Maybach etablieren oder Benz, Daimler und Horch sich in der Oberklasse behaupten. Durch die inflationär schwache Mark ließen sich deutsche Luxus-Autos auch gut ins Ausland verkaufen.37 Die vielbeschworene Fließband-Technik der amerikanischen Hersteller konnte nicht die Lösung für die strukturellen Probleme der deutschen Automobilindustrie sein. Markt, Nachfrage und Anspruch an das Produkt selbst waren zu verschieden, als dass man eine simple Übertragung der amerikanischen Produktionsabläufe auf europäische Hersteller befürworten konnte. Selbst wenn man die Fordsche Fließfertigung, von einer Fließbandtechnik konnte man auch damals noch nicht sprechen,auf europäische oder auch nur auf deutsche Firmen übertragen hätte, so hätte es noch kei-

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Slaby an der TH Hannover, ab 1924 Betriebsleiter des DKW-Werkes Berlin-Spandau. 1953 starb Dr. Rudolf Slaby in Berlin. Sievers, Immo: Wie alles anfing - Erste deutsche Prüfstelle für Automobile, in parTU Berlin, 3. Jg., Heft 5, 12/2001, S. 8 f. Ders.: Die Anfänge der wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der Kraftfahrzeugtechnik an der Technischen Hochschule Berlin, in: Automobilhistorische Gesellschaft, Tagungsband 2001, Berlin, 2002, S. 35–46 Hentschel,Volker: Staat und Verkehr, in: Hrsg.: Pohl, Hans / Treue, Wilhelm: Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen, Stuttgart, 1988, S. 53–78 Braun, S. 103 ff.

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Abb. 35

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Fließende Fertigung von DKW-Motorräder in Zschopau, 1926

nen Markt für die Massenprodukte gegeben. Außer den schon genannten Hintergründen in der Nachkriegszeit, war auch die Kaufkraft in Deutschland viel zu niedrig. Eine Nachfrage bestand nur für Repräsentationsfahrzeuge, wie sie ja auch erfolgreich angeboten wurden, oder nach kostengünstigen Fahrzeugen, die den Arbeitnehmer zum zumeist nahegelegenen Arbeitsplatz transportieren konnten. Weite Entfernung zum Arbeitsplatz, wie sie in den USA üblich waren, waren in Europa eher selten. Der Anspruch an das Transportmittel reduzierte sich daher auf das Minimum, und so hat das Motorrad in Deutschland die Massenmotorisierung eingeleitet. In dieser Beziehung schlug Deutschland einen Sonderweg ein, der sich in der großen Anzahl von Motorrad-Herstellern in den 1920er Jahren dokumentiert.38 Das Ideal der Fertigungstiefe wurde von den meisten großen Fahrzeugherstellern Europas bis in die 1920er Jahre angestrebt. Erst dann folgte man dem amerikanischen Vorbild, Einzelteile von Zulieferern zu beziehen. In Deutschland begann die Marke Brennabor in Brandenburg 1921 als erster Hersteller eine für damalige Zeiten optimierte, fließende Fertigung, noch bevor Opel 1924 seine Fertigung auf das fließende Band umstellte.Anfang der 1920er Jahre reisten viele europäische Unternehmer und Ingenieure in die USA, um sich über die Produktionsmethoden und Fahrzeugtypen zu informieren. Auch wenn nicht alle Fabrikationsvorbilder des amerika38

Blaich, Fritz: Die Fehlrationalisierung in der deutschen Autoindustrie, in: Tradition, 1973, Jg. 18, S. 18–33 Pohl, Hans: Die Entwicklung des Verkehrswesens in den vergangenen 100 Jahren, in: Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986, Hrsg. Hans Pohl, Stuttgart, 1988 Laux, James M.: The European Automobile Industry, New York, 1992, S. 249 ff.

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

nischen Marktes auf Europa anzuwenden waren, profitierten die europäischen Fahrzeughersteller von diesem Technologietransfer. Zwar ließ sich so die Fertigung optimieren, nicht aber die erheblich niedrigere Kaufkraft der deutschen Kunden. Selbst wenn man Automobile nach dem Fordschen Baukastensystem sehr preisgünstig gestalten konnte, ließen sich diese in Deutschland nur schwer verkaufen. Hier konnte der Durchschnittsbürger höchstens von einem Motorrad träumen. Nicht umsonst stieg die Zahl der Motorrad-Firmen in Deutschland wärend der 1920er Jahre inflationär an und die Marke DKW war Ende der 1920er Jahre sogar der größte Motorradhersteller der Welt. Interessanterweise hat sich Riedlers Laboratorium, das seit 1916 als Versuchsanstalt firmierte, nicht um diese Entwicklung gekümmert.

15 Generationswechsel im Laboratorium für Kraftfahrzeuge Nach der Emeritierung von Prof. Riedler 1920 übernahm sein ehemaliger Assistent Dr.-Ing. Gabriel Becker dessen Aufgaben. Becker hatte ab 1904 zunächst an der Universität Karlsruhe, dann an der TH Aachen und schließlich an TH Berlin Verbrennungsmotorenbau studiert. 1908 legte er bei Prof. Riedler seine Diplomprüfung ab und wurde dessen Assistent sowie Betriebsleiter der angeschlossenen Prüfstelle für Kraftfahrzeuge. Dort wurden die bereits erwähnten „Berichte zur Wissenschaftlichen Automobilwertung“ herausgegeben, u. a. an einem Büssing-Subventionslastwagen. Über die Versuche mit diesem Fahrzeug promovierte Becker 1912 zum Dr.Ing. 1914 wurde Becker zum Kriegsdienst eingezogen, den er bis 1917 leistete, ehe er als Konstrukteur zur Motorenfabrik Oberursel abkommandiert wurde.Als Becker 1918 an die TH Berlin zurückkehrte, war die Arbeits- und Forschungssituation äußerst schwierig. Zum einen war fraglich, ob und in welcher Form Automobilentwicklungen in Deutschland überhaupt wieder stattfinden könnten. Es herrschte ein Fahrverbot für Privatfahrzeuge und die Bestimmungen des Versailler Vertrages schienen keine Perspektiven auf diesem Gebiet zuzulassen. Zum anderen war die Hochschule selbst in ihren Strukturen erschüttert und man rang um eine Reform der Lehre. Riedler hatte sich als strikter Gegner der Hochschulreform geäußert, seine konservativen Ansichten passten aber nicht mehr in die Bedürfnisse der deutschen Nachkriegszeit. 1919 übernahm Becker als Vorstand die Leitung des Riedlerschen Laboratoriums, jetzt umbenannt in „Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge und Leichtmotoren“ mit der angeschlossenen Prüfstelle für Kraftfahrzeuge. 1920 wurde er zum Titularprofessor ernannt, um den neugeschaffenen „Lehrstuhl für Kraftfahrzeuge“ übernehmen zu können. 1922 erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen und 1927 schließlich zum ordentlichen

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Abb. 36

Prof. G. Becker, um 1914

Abb. 37

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Prof. Riedler, um 1930

Professor. Als 1919 das „Reichsamt für das Luft- und Kraftfahrzeugwesen“ die Bildung einer zentralen „Reichsversuchsanstalt“ für die beiden Gebiete durch Ausbau der „Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt DVL“ plante, widersetzen sich Becker und andere Hochschul-Professoren diesem Vorhaben erfolgreich. Becker setzte in der Folgezeit seine Versuchsanstalt mit dem Schwerpunkt zur Förderung von technischen Innovationen für die deutsche Kraftfahrzeugentwicklung ein. Neben der Lehr- und Forschungstätigkeit pflegte Becker eine intensive Zusammenarbeit mit der deutschen Kraftfahrzeugindustrie und -wirtschaft, besuchte auch große europäische und amerikanische Werke der Auto- und Zubehörindustrie auf Studienreisen. Als Hochschullehrer war Becker aufgeschlossen und versuchte seinen Studenten mit praktischer Forschungsarbeit im eigenen KraftfahrzeugLabor die Verbindung mit seinen wissenschaftlichen Vorlesungen näher zu bringen.Becker wertete 1921 einen vom Reichsverkehrsministerium veranstalteten Wettbewerb für Leichtmetallkolben aus. Er prüfte die Leistungssteigerung und Brennstoffersparnis der Versuchsmotoren, die Gewichtsminderung, die Kugeldruckhärte und die Wärmeausdehnung der Kolben sowie die Schwankungen der Abgas- und Kühlwassertemperaturen. Die angelieferten Leichtmetallkolben auf Aluminium- oder Magnesiumbasis wurden in physikalisch-chemisch-metallografischen Versuchseinrichtungen und auf dem Motorenprüfstand im Vergleich mit Gusseisenkolben untersucht. 1923 untersuchte Becker einen 2-t-Schnellastwagen der Deutschen Lastautomobilfabrik AG (DAAG) mit sogenannten Riesenluftreifen. Die 1910 bei Düsseldorf gegründete DAAG hatte zunächst konventionelle Lastwagen gebaut. Als nach 1918 ein Überangebot an Lastwagen in Deutschland

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 38 DAAG 2-Tonner-Schnelllastwagen auf dem Rollenprüfstand der TH Berlin 1923

herrschte, entschloß sich die DAAG neue, konkurrenzfähige Typen zu entwickeln und wollte sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. Die Firma war ausgesprochen innovativ und bestückte als erste ihre Nutzfahrzeuge bereits 1921 mit sogenannten Riesenluftreifen. In der Folgezeit schickte sie ein 3-Tonner- und ein 4,5-Tonner-Modell zu Becker an die TH Berlin, der die Fahrzeuge testen und auswerten sollte. Auf Grund von Beckers Gutachten entwickelte man in Düsseldorf einen Schnellastwagen mit 2 Tonnen Nutzlast, der dann 1923 ebenfalls in der Versuchsanstalt der TH Berlin getestet wurde. Das Ergebnis war ein für damalige Zeiten ausgesprochen fortschrittliches Nutzfahrzeug-Konzept. So wurden weitgehend Leichtmetalle bei der Herstellung der Motorengehäuse, der Zylinder, der Kolben, der Getriebekästen, der Kupplungsteller und des Differentialgehäuses der Hinterachsbrücke verwendet. Auch die Vorder- und Hinterachsen wurden aus Silicium-Aluminium hergestellt. Im Gegensatz zu der bis dahin üblichen Eisen- oder Vollgummibereifung von Nutzfahrzeugen, sollten die Luftreifen die Rad- und Achsmassen abfedern. Viele umlaufenden Teile wurden auf Kugellagern oder Rollenlagern gelagert, um die Triebwerksverluste zu vermindern und die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Das Fahrzeug wurde von einem 60-PS-Ottomotor angetrieben, verfügte über einen elektrischen Anlasser, elektrische Lichtanlage und eine ausrückbare Luftpumpe für die Reifen. Diese Details waren in den 1920er Jahren noch lange kein Standard im Nutzfahrzeugbau und so fiel das Gutachten von Prof. Becker auch dementsprechend positiv aus: „Der DaagSchnelllastwagen besitzt im hervorragendem Maße alle Eigenschaften eines

Immo Sievers

Abb. 39

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Ackerschlepper auf dem Prüfstand der TH Berlin, 1926

für höchste Leistung und wirtschaftlichen Betrieb bestimmten Transportmittels.“39 1925 wurde die bis dahin nur auf die Hinterräder wirkende Bremse durch eine Vierradbremse ersetzt und eine pneumatische Federung eingeführt. Trotzdem musste die DAAG aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten 1929 ihre Produktion einstellen. Prof. Becker veröffentlichte in der Folgezeit weitere Gutachten und Untersuchungen, 1925 war er Mitbegründer des Fachnormen-Ausschusses der Kraftfahrzeugindustrie FAKRA im Deutschen Normenausschuss DIN. 1926 begutachtete er Kleinkraftschlepper zur Förderung der Landwirtschaftsmotorisierung, 1927 stellte er Untersuchungen an dem ReihenAchtzylinder-Motor von Röhr an und war Berater des Reichsverkehrsministeriums bei der Kfz-Steuernovelle 1927. Zusammen mit Prof. Dr.-Ing. Hans Fromm und Dr.-Ing. Herbert Maruhn untersuchte er 1931 Schwingungen in Automobillenkungen. Zusammen mit Becker lehrte der ehemalige Riedler-Assistent Dr. phil. Dr.-Ing. Stephan Löffler am Institut in Berlin, welcher u. a. 1925 einen Brennstoffilter (DRP 357064) entwickelte.40 39 40

Becker, Gabriel: Schnelllastwagen mit Riesenluftreifen, Berlin, 1923 Becker, Gabriel: Vervollkommnung der Kraftfahrzeugmotoren durch Leichtmetallkolben, Oldenburg 1922 Becker, Gabriel: Motorschlepper für Industrie und Landwirtschaft. Versuchsanstalt für Kfz der TH Berlin, Berlin, 1926 Becker, Gabriel: Automobilreifen. Versuchsanstalt für Kfz der TH Berlin, Berlin, 1929 Becker, Gabriel: Raupenschlepper-Laufwerke für Radschlepper, in: Der Motorwagen 1928,

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

16 Der amerikanische Vorsprung Die wohl folgenreichste Aufgabe übernahm Becker 1926, als er im Auftrag der Adler-Werke in Frankfurt / M einen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten ausgerichteten MittelklasseWagen konstruieren sollte, der für die Serienproduktion vorgesehen war. Den Anstoß zur Entwicklung des „Standard 6“ bei Adler gaben zwei richtungsweisende Vorträge, die Prof. Becker im Januar der Jahre 1925 und 1926 vor deutschen Industriellen bei den Jahrestagungen der „Automobil- und Flugtechnischen Gesellschaft (ATG)“ in Berlin hielt. 1925 referierte Becker über den Automobilbau als Bedarfsindustrie und 1926 über die Lehren des amerikanischen und europäischen Automobilbaues. In diesen beiden sich ergänzenden Referaten machte Becker mit exakten Vergleichsdaten und Diagrammen den großen deutschen Rückstand auf Grund des Krieges gegenüber dem führenden amerikanischen und auch dem europäischen Automobilbau deutlich. Für die Vergleiche dienten ihm Kenngrößen wie „Einheitspreis“ (Preis pro kg Wagengewicht), „Fahrtechnische Werte“, „Leistungsgewicht“ (PS pro kg Wagengewicht),

Abb. 40 Licht-Überprüfung an einem Buick aus dem Berliner GM-Montagebetrieb, 1932 S. 635–638. Becker, Gabriel: Leichtmetallkolben. Betriebstechnische Grundlagen für die Durchbildung der Kolben. Berlin, 1929. Becker / Fromm / Maruhn: Schwingungen in Automobillenkungen „Shimmy“. Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge und Festigkeitslaboratorium der TH Berlin, Berlin, 1931

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„Ladungsausnutzung“ (Drehmoment pro Liter Hubraum), „Schnelllauf“ (Drehzahl U/min bei bestimmter Geschwindigkeit im direkten Gang, z. B. bei 25 km/h),„Drehzahlausnutzung“ (Motorumdrehungen pro 100 m Fahrstrecke) und „Elastizität“ (m/s2 Beschleunigungs- und Steigungsvermögen im direkten Gang) proportional dem Produkt aus Hubraum, Ladungsausnutzung und Achsuntersetzung, dem Quotienten aus Wagengewicht und Reifendurchmesser, sowie der Kraftstoffverbrauch in Liter pro 100 km. Den Hauptvorteil der zunehmend in Deutschland montierten USAMittelklassetypen von Chrysler, Ford, General Motors oder Hudson sah Becker (neben dem günstigen Einheitspreis) in ihrer hohen Motorleistung bei großem Hubraum und niedrigem Wagengewicht. Dazu führt er aus: „Leistungssteigerung bedeutet einfachen, Gewichtsminderung aber vierfachen Gewicht: preissenkend, fabrikatorisch, fahrtechnisch und betriebswirtschaftlich. Das Ausland wertet nicht nach höchster Motorleistung, sondern nach Elastizität und verlangt heute schon als Normalleistung eine Wagenbeschleunigung von 8 auf 40 km/Std in 10 sec, meist sogar 8 sec beim direkten Gang.“ Daneben machte Becker mit Zeichnungen vorbildliche Konstruktionsdetails in- und ausländischer Wagen und Motoren deutlich. Von den Vorträgen Beckers war Heinrich Kleyer, Aufsichtsratvorsitzender der AdlerWerke, beeindruckt. Zum Ende der ATG-Tagung am 23. Januar 1926 schlug Prof. Becker vor den versammelten Spitzenvertretern der deutschen Automobilindustrie vor, sofort gemeinsam an die Entwicklung eines fortschrittlichen Einheitsmodells zu gehen. Jedes Werk könne eine bestimmte Baugruppe fertigen und zur Montage die übrigen Teile von den anderen Werken beziehen. Dieser radikale Vorschlag Beckers entstand aus dem akuten Mangel an Eigenkapital bei der gesamten deutschen Autoindustrie, scheiterte aber am Willen der Werke zur Eigenständigkeit. Am gleichen Abend fand im Hotel „Kaiserhof“ dann eine Aussprache zwischen Heinrich Kleyer und Gabriel Becker statt, in der eine konkrete Zusammenarbeit beschlossen wurde.

17 Die amerikanische Konkurrenz in Deutschland Grundsätzlich war die Idee, Sechs- und Achtzylindermotoren nach amerikanischem Muster in Deutschland zu produzieren, richtig. Um der deutschen Automobilindustrie den Wettbewerb mit preiswerteren, ausländischen Firmen zu erleichtern, gab es bis 1925 hohe Importzölle auf Fahrzeuge und Einzelteile. Erst als diese Zölle gesenkt wurden, begannen sich amerikanische Automobilfirmen für den expandierenden deutschen Markt zu interessieren. Die USA stiegen in dieser Zeit zum größten Automobil-

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produzenten der Welt auf und alle großen amerikanischen Autokonzerne eröffneten in Europa Vertretungen. Einige Hersteller, wie General Motors, Chrysler, Ford, Hudson und Durant richteten sogar in Berlin Fabrikationen ein, die sich aber auf die Endmontage von Halbfertigprodukten beschränkten, da diese zoll- und steuerbegünstigt waren. Die im Vergleich zu deutschen Automobilen preiswerteren und besser ausgestatteten „Amerikaner“ erfreuten sich einer so großen Beliebtheit, dass sie Ende der 1920er Jahre bis zu einem Drittel aller in Deutschland verkauften Automobile ausmachten. Bei Lastkraftwagen lag der Anteil sogar noch höher. In den großen Hubraumklassen brachten sie es auf die Hälfte aller in Deutschland neuzugelassenen Autos.41

18 Der Adler „Standard 6“ – ein Hochschulprojekt Das von Kleyer und Becker beschlossene Projekt, das sich schon mit seinem Namen „Standard 6“ an amerikanische Vorbilder anlehnte, sollte sich auch technisch weitgehend an diesen orientieren.Der Wagen sollte in Großserien zu bauen sein und musste innerhalb kürzester Zeit mit einem erschwinglichen Aufwand zu entwickeln sein. Für den Wagen war ein elastischer und großvolumiger Sechszylindermotor vorgesehen. Um eine Leichtbauweise zu ermöglichen, wollte man neuste Metalllegierungen, wie Elektron, einsetzen und zudem sollte erstmals serienmäßig ein deutscher Wagen eine Ganzstahlkarosserie bekommen. Hierfür nutzte Becker bereits bestehende

Abb. 41 „Standard 6“, 1928

41

Sievers, Immo: Zweirad-Vierrad-Allrad, Berlin, 1995, S. 52

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Kontakte zu Edward C. Budd in Philadelphia, dessen Firma weltweit führend im Ganzstahlkarosseriebau war. Zusammen mit der Firma Arthur Müller Bauten und Industriewerke Berlin (Ambi) wurde im Frühjahr 1926 in Berlin-Johannisthal die Ambi-Budd Presswerk GmbH (ABP) gegründet. Noch in Jahresfrist entstand auf dem Flugplatzgelände das größte und modernste deutsche Karosseriewerk, das bis zu 200 Ganzstahlaufbauten täglich herstellen konnte. Mit dem Auftrag über 10.000 Karosserien für den „Standard 6“ begann die Serienproduktion im Frühjahr 1927. Zur selben Zeit ließ Heinrich Kleyer seine Werksanlagen in Frankfurt ausbauen, bald verfügte Adler über eine der größten deutschen Fließbandfertigungen, die bis zu 100 Autos täglich produzierte. Weitere technische Neuerungen des Adler „Standard 6“ waren u. a. der Einbau von Aluminiumkolben und die serienmäßige Verwendung von Magnesiumlegierungen für andere Bauteile. Man wollte so die Leichtbauweise verwirklichen, es zeigten sich aber bald Mängel an den Elektron-Komponenten. Die Teile neigten zur Rissbildung oder Sprödigkeit, waren korrosionsanfällig und verursachten hohe Kosten. Trotzdem wurde hiermit eine Entwicklung eingeleitet, die für die Kolbenindustrie von größter Bedeutung gewesen ist.Auch die Verwendung einer hydraulischen Vierradbremse nach dem Lockheed-Patent war ausgesprochen innovativ. Im Gegensatz zu den bis dahin üblichen gestängeoder seilzugbetätigten mechanischen Bremsen, fiel bei der hydraulischen Vierrad-Bremsanlage das Schmieren und Nachregulieren fort. Das gleiche galt für die per Pedal betätigte Zentral-Druckschmierung. Nach amerikanischem Vorbild erhielt der „Standard 6“ eine Batteriezündung mit Lichtmaschine, einen elektrischen Anlasser und Scheibenwischer. Der seitengesteuerte Sechszylinder-Motor mit abnehmbarem Zylinderkopf hatte eine siebenfach gelagerte Kurbelwelle in einem Elektrongehäuse und Aluminiumkolben. Er leistete bei 2916 cm3 50 PS. Damit konnte man schaltfaul im 3. (direkten) Gang zwischen 5 km/h Mindest- und 90 km/h Höchstgeschwindigkeit fahren und in 8.1 sec von 4 auf 40 km/h beschleunigen.Werte, die damals durchaus beeindruckten und den Wagen vom Start weg zum Verkaufsschlager werden ließen. Ein Übriges dazu tat eine werbewirksame Kampagne, zu der auch eine Fahrt um die gesamte Welt gehörte.Am 25. Mai 1927 startete die 26jährige Clärenore Stinnes, Tochter des Industriemagnaten Hugo Stinnes, mit einer der ersten 50-PS-Serien-Limousinen zu einer insgesamt 46.758 km langen Fahrt. Die deutsche Presse berichtete laufend über den Stand der Fahrt durch Europa, Asien, Nord- und Südamerika. Nach 26 Monaten trafen die Weltenbummler im Juni 1929 wieder in Berlin ein. Dank dieses gelungenen Werbefeldzuges konnten sich die Adler-Werke auf dem Markt trotz Weltwirtschaftskrise behaupten.Der„Standard 6“ wurde zum beliebtesten Wagen seiner Klasse, insgesamt sind bis 1932 14.334 Stück gebaut worden. 1928 wurde der „Standard 6“ durch den „Standard 8“ ergänzt, dessen 3887 cm3 großer Achtzylinder-Motor70 PS leistete. Für diesen Wagen entwarf der Bauhaus-Architekt Walter Gropius eine Karosserie.

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Abb. 42 „Standard 8“, 1930

19 Beckers Rücktritt Nachdem Prof. Becker schon Ende der 1920er Jahre eindrucksvoll bewiesen hatte, dass die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft für beide Seiten von Vorteil sein konnte, widmete er sich wieder verstärkt seinen akademischen Aufgaben an der TH Berlin. In seinen als „temperamentvoll“ beschriebenen Vorlesungen vermittelte er seinen Studenten nicht nur „graue“ Theorie, sondern auch viel von seiner praktischen Erfahrung.42 Neben der Zusammenarbeit mit Industrie, Ministerien und der Hochschul-Lehrtätigkeit war Becker auch als amtlich vereidigter Prüfleiter für die Ausbildung und Prüfung des Lehrpersonals deutscher Fahrschulen tätig. Diese Prüfaufgaben, deren Einnahmen der Versuchsanstalt als Zusatzfinanzierung dienten, wurden Becker Ende 1930 im Rahmen der „Brüningschen“-Notverordnungen entzogen. Darüber sehr verärgert und unzufrieden mit der politischen Entwicklung legte Prof. Becker 1931 seine Professur nieder und schied aus dem Staatsdienst aus. Er ging in die USA, ohne seine Forschungen dort fortzusetzen. Nach dem Krieg siedelte er in die Schweiz über, wo er wie Riedler fast vergessen 1975 verstarb. In Prof. Dr.-Ing. Gabriel Becker verbanden sich die akademische Lehrtätigkeit mit praxisnaher Laborforschung und einer weitzielenden industriefähigen Entwicklungsplanung.

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Grassmann,Kurt: Gabriel Becker und sein Adler-Standard-6-Programm,in: Tagungsband der Automobilhistorischen Gesellschaft, 1999, S. 24–54

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20 Forschungen zu alternativen Treibstoffen im Laboratorium 1933 bis 1939 war Prof. Dr.-Ing. Alfred Reinsch Leiter der Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge in Berlin, wie das Institut bis 1950 hieß. Reinsch arbeitete seit 1922 bei der Daimler-Motoren-Gesellschaft in Berlin-Marienfelde an der Konstruktion einer Versuchsserie von Fahrzeug-Dieselmotoren mit Lufteinblasung. Er hatte den 40-PS-Motor, der mit einer Einspritzpumpe der DMG ausgestattet war, konstruiert. Nach seinen Plänen wurde ein Lkw gebaut (DRP 427 674) und auf der IAA Berlin 1923 ausgestellt. Doch höhere Drehzahlen waren mit der Lufteinblasung nicht mehr zu beherrschen. Nicht die Luft, sondern der Treibstoff musste mit einer Pumpe in den Zylinder gedrückt werden. Am bekanntesten wurde das Verfahren von Prosper L’Orange, der 1924 für die Benz AG einen Lkw-Dieselmotor mit Pumpeneinspritzung konstruiert hatte. Da die Fusion der beiden Automobilfirmen zu diesem Zeitpunkt schon beschlossen worden war, übernahm die DMG den Benz-Dieselmotor. Im gleichen Jahr erschienen die ersten Lkw von Benz und MAN mit Dieselmotoren auf dem Markt.

Abb. 43

Benz-Lkw mit Dieselmotor und Vollgummi-Bereifung, 1923

Lag um die Jahrhundertwende der Schwerpunkt des Lehrstuhles an der TH Berlin auf Motoren- und Getriebeuntersuchungen, kam ab 1926 auch die Entwicklung von Pkw und der Aluminum-Karosserie hinzu. 1930 folgten Prüfungen (Fahrwiderstände) der Reifen, des Schräglaufs, der Radaufhängungen und der Federung. 1935 wurden zudem Gasmotoren (Holz, Propan, Methan) untersucht und in ihrer Rentabilität berechnet. An die-

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sen Forschungsarbeiten war auch Prof. Dr.-Ing. Werner Rixmann beteiligt, der zwischen 1926 und 1941, zunächst als Konstrukteur, dann als Oberingenieur und schließlich als Dozent die Einsatzmöglichkeiten von Gas als Kraftstoff für Kraftfahrzeuge erforschte. Im Zuge der Autarkiebestrebungen im Dritten Reich hoffte man, die Treibstoffknappheit durch die Verwendung von heimischen Naturprodukten auszugleichen. Über das Thema „Gasbetriebene Fahrzeugmotoren“ referierte Prof. Dr.-Ing. Rixmann vielbeachtet auch auf der VDI-Herbsttagung 1938. Am bekanntesten wurde der 1924 bis 1926 von Georg Imbert entwickelte Holzgasgenerator. Im Generator wurde Holz zu Holzgas verschwelt, das entstehende Gasgemisch gereinigt, gekühlt und im Motor verbrannt. Jeder Pkw oder Lkw ließ sich darauf umrüsten, nachteilig wirkte sich der starke Leistungsverlust und die aufwendige Bedienung aus. Trotzdem wurden diese Holzgasgeneratoren ab 1935 subventioniert und Mitte der 1940er Jahre stellten sie oft die einzige Möglichkeit dar, ein Fahrzeug zu fahren. Prof. Dr.–Ing. Werner Rixmann war später langjähriger Herausgeber und Chefredakteur der Automobiltechnischen Zeitschrift (ATZ).

Abb. 44 Versuchs-Lastwagen der Berliner GASAG mit Leuchtgasmotor auf der AVUS, 1936. Links H. Brettschneider, rechts Koch

Immo Sievers

Abb. 45

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Ford Eifel mit Imbert-Holzgasanlage, 1940

21 Autobahn und Stromlinie Mitte der 1930er Jahre beherrschten zwei Zauberworte den deutschen Automobilbau: Autobahn und Stromlinie. Auf den neuen Schnellstraßen sollten nach aerodynamischen Gesichtspunkten gestylte Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit dahingleiten können. Beides wurde politisch propagiert und die Autobranche sah sich unter Zugzwang, entsprechende Fahrzeuge herauszubringen. So gut wie alle großen Firmen ließen sich von einem der Stromlinien-Experten beraten und Test- oder Rennwagen konstruieren. Auch die TH Berlin hatte an dieser Entwicklung Anteil durch Prof. Dr.-Ing. Emil Everling,43 der 1923 als Professor für Luftfahrtmechanik an die TH Berlin berufen wurde und über die Erkenntnisse aus dem Flugzeugbau zu ähnlichen Forschungsergebnissen kam, wie die bekannten StromlinienForscher Paul Jaray, Prof. Dr.-Ing. Wunibald Kamm, Reinhard Freiherr von Koenig-Fachsenfeld oder Dr.-Ing. Edmund Rumpler. 44 43

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Emil August Everling wurde am 19.06.1880 in St. Goar geboren. Ab dem 09.09.1916 als Assistent an der TH Berlin, ab dem 02.06.1923 ausserordentlicher Professor, ab dem 01.04.1936 ordentlicher Professor für Luftfahrtmechanik. 1945 emeritiert, 1959 Ehrensenator der TU Berlin. Starb am 07.08.1973 in Berlin Paul Jaray, geb. Am 11.03.1889 in Wien. Studierte an der TH Wien und Prag, ging 1913 nach Friedrichshafen zu Zeppelin. Jaray konstruierte bis 1918 die Luftschiffe LZ 38 bis LZ 126. 1919 konstruierte Jaray einen Windkanal für Zeppeline. Ab 1923 lebte Jaray wieder in der Schweiz, wo er am 22.09.1974 in St. Gallen verstarb. Wunibald Kamm, geb. am 26.04.1893 in Basel. Studierte an der TH Stuttgart, wo er 1922 zum Dr.-Ing. promovierte. Arbeitete dann bei der DMG und der Dt. Versuchsanstalt für

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22 Die Entwicklung der Stromlinien-Karosserie Stromlinie – wohl kaum ein anderer Begriff hat in der Geschichte des Automobilbaus einen so nachhaltigen Einfluss über Jahrzehnte hinweg ausgeübt und wurde doch so oft als reines Designelement missverstanden. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Konstrukteure, die Karosserie so zu formen, dass sie möglichst wenig Luftwiderstand bot. Die Anregungen dazu bekamen sie von der Fliegerei und vor allem vom Zeppelinbau, wo die Bedeutung der Aerodynamik schon früh erkannt worden war. Einer der ersten Verfechter der Stromlinienform im Automobilbau war der Berliner Wagenbaumeister Oskar Bergmann, der bereits 1906 in seiner WagenbauSchule stromlinienförmige Aufbauten konzipierte. 1911 entwarf er eine Limousine in Zeppelin-Form, die schon wesentliche Stromlinien-Details aufwies. So waren die Räder und das Chassis vollständig in die Karosserie integriert worden. Doch seine Ideen wurden genauso wenig aufgegriffen wie die des italienischen Grafen Marco Ricotti, der 1913 bei der Karosseriefirma Castagna auf einem Alfa-Chassis den Stromlinienwagen Siluro bauen ließ. Bei diesem futuristischen Gefährt wie auch bei dem sogenannten „Opel-Ei“ von Max Lochner, der 1912 nach eigenen Plänen eine eiförmige Karosserie mit geteilter und schräggestellter Windschutzscheibe auf

Abb. 46 Kamm

Prof. W.

Abb. 47

Prof. Everling

Abb. 48

Paul Jaray

Luftfahrt in Berlin-Adlershof. 1929 nahm er einen Ruf an die TH Stuttgart an, wo er das Institut für Kraftfahrwesen leitete. Nach 1945 in den USA am Stevens Politechnic Institute of Technology. Ab 1955 Leitung der Maschinenabteilung des Batelle-Instituts in Frankfurt/M. Prof. Kamm verstarb am 11.10.1966 in Stuttgart. Reinhard Freiherr von König-Fachsenfeld, geb. am 19.03.1899 in Stuttgart. Ab 1919 Studium an der TH Stuttgart. Zahlreiche Rennsiege und Rekorde. 1935 DRP 743115 auf Wagenkasten für Kfz (K-Heck). Insgesamt 26 Patente. Verstarb am 09.03.1992. Edmund Rumpler, geb. am 04.01.1872 in Wien. Studierte dort an der TH Wien Maschinenbau, promovierte an der TH Berlin bei Prof. Romberg 05.02.1921 zum Dr.-Ing. Im 1. Weltkrieg Flugzeug-Konstrukteur, 1921 Tropfenwagen. Starb am 07.09.1940 in NeuTollow / Mecklenburg.

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ein Opel-Fahrgestell setzen ließ, ging es nicht so sehr um die energieverzehrende Kraft der Luftwirbel, sondern sie sollten einfach möglichst wenig Staub auf den damals zumeist ungepflasterten Straßen aufwirbeln. Dass sich höhere Geschwindigkeiten mit niedrigerem Luftwiderstand erzielen ließen, war nur für Rennwagenkonstrukteure von Bedeutung. Die meisten Automobile vor 1914 blieben hingegen hochbeinig und eckig, selten hatten sie einen geschlossenen Aufbau. Für die Käufer, die sich zu jener Zeit einen Motorwagen leisten konnten, war die Bequemlichkeit etwa beim Ein- und Aussteigen wichtiger als der Verbrauch oder eine höhere Reisegeschwindigkeit, die sich ohnehin auf den meisten Chausseen nicht erzielen ließ. Der schlechte Allgemeinzustand der Straßen war auch mit dafür verantwortlich, dass sich stromlinienförmige Automobile erst in den 30er Jahren durchzusetzen begannen, wo sie auf Asphaltstraßen und auf den aufkommenden Autobahnen ihre Vorzüge ausspielen konnten. Ein weiterer Hinderungsgrund für die Verbreitung der Stromlinienwagen waren die avantgardistischen Karosserieformen, die nicht den Geschmack der Kunden trafen. Fahrzeuge, die konsequent nach den Erkenntnissen der Aerodynamik entworfen wurden, hatten doch ein zu futuristisches Aussehen für den Zeitgeist. Ein gutes Beispiel dafür ist Edmund Rumpler, der sich wie viele andere europäische Flugzeugkonstrukteure nach dem Ersten Weltkrieg dem Automobilbau zuwandte. 1920 entstand der Prototyp des „Rumpler-Tropfen-Autos“, das mit allen bis dahin gebräuchlichen Formen brechen sollte. Der Grundgedanke des Tropfenwagens war der geringe Luftwiderstand durch die Formgebung eines Wassertropfens und das Strö-

Abb. 49

Opel Typ 13/30, Stromlinien-Karosserie von Max Lochner, 1912

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mungsverhalten der Luft um ihn herum. Eine fundamentale Feststellung für die Aerodynamikforschung, die umgesetzt in den Automobilbau eine möglichst geschlossene Bauform erforderte. Und so war an Rumplers Tropfenkarosserie außen so gut wie nichts befestigt, ein Mittelscheinwerfer war in die Wagenfront integriert. Als erstes Automobil hatte der Wagen dazu eine runde Frontscheibe und erreichte so einen Luftwiderstandswert von nur 0,28 cw ! Zwar ließen sich die Tropfenwagen wegen ihres ungewöhnlichen Designs, ihrer zahlreichen technischen Mängel und des hohen Preises schwer verkaufen, aber in Fachkreisen wurde ihre richtungsweisende Technologie erkannt. Insgesamt gesehen beeinflusste Rumplers Konstruktion den Automobilbau jedoch nicht so weitreichend wie die Innovationen seines Konkurrenten Paul Jaray.

Abb. 50 Dr. Edmund Rumpler (links) mit Direktor Woischke vor einem Tropfenwagen 4A 106, 1925

Nach dem Ersten Weltkrieg stand dieser vor der Situation, keine Zeppeline mehr bauen zu dürfen, und hoffte nun im Automobilbau seine aerodynamischen Kenntnisse anwenden zu können. 1921 meldete er ein Patent zum „Stromlinienwagen“ an, worauf er von Rumpler verklagt wurde, der die „Erfindung“ der Stromlinie für sich in Anspruch nahm. Dieser Rechtsstreit zog sich bis 1926 hin, erst nachdem Jaray den Prozess gewonnen hatte, wurde ihm am 25. Januar 1927 das Patent (DRP. 441.618) erteilt. Darin beschrieb er die Stromlinienform wie folgt:

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„Kraftwagen, dessen Maschinenanlage, die Nutzräume, das Fahrgestell und die Räder überdeckender Oberbau einen halben Stromlinienkörper mit im wesentlichen ebener, der Fahrbahn paralleler Bodenfläche bildet, dadurch gekennzeichnet, dass der Stromlinienkörper an seinem hinteren Ende in eine waagerechte Schneide ausläuft“ Das Auslaufen des Hecks in eine spitze bzw. flache Form wurde für Jarays Konstruktionen typisch. Während Rumpler in dieser Zeit vergeblich versuchte, in Berlin eine Serienproduktion aufzubauen, ging Jaray 1923 in die Schweiz und gründete ein Ingenieurbüro. Als erster erkannte Rudolf Ley die Bedeutung von Jarays Entwicklungen und ließ 1922 in seiner Maschinenfabrik im thüringischen Arnstadt auf ein Fahrgestell eines Ley T 6 eine Jaray-Karosserie bauen. Dieser Ley-Wagen kann für sich in Anspruch nehmen,das erste wirklich konsequent stromlinienförmig konstruierte Automobil zu sein. Im Gegensatz zu Rumplers hochbeinigem Tropfenwagen, hatte der Ley ein tiefliegendes Chassis. Jarays Forderung „beseitigen oder stromlinienförmig gestalten“ war dabei bis in Detail umgesetzt worden. Zusammen mit zwei anderen Stromlinien-Wagen, die Jaray für die Dixiund die Audi-Werke entworfen hatte, wurde der Ley auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt und auf ausgedehnte Testfahrten geschickt. Es folgten weitere Aufträge aus der Industrie etwa von DKW, Mercedes-Benz oder Maybach, aber keine Firma nahm den serienmäßigen Bau von StromlinienWagen auf. Dabei entwickelte Jaray nicht nur als erster strömungsgünstige Außenformen, sondern er erfaßte auch als erster den Gesamtkomplex der „Fahrzeug-Dynamik“ und stellte eine Theorie der Strömungstechnik auf. Wie sein Konkurrent Rumpler verkannte er aber die Notwendigkeit, dass ein Massenprodukt sich am Geschmack der potentiellen Käufer orientieren muss. Ein Mitstreiter von Jaray war Wilhelm Reinhard Freiherr von KoenigFachsenfeld. Im Gegensatz zu Rumpler und Jaray führte sein Weg nicht über den Flugzeugbau, sondern über den Sport zur Aerodynamik. Er nahm an Auto- und Motorradrennen teil, Anfang April 1930 auch als Testfahrer an Rekordversuchen mit einem DKW-Rennwagen in Monthléry bei Paris. Seine Theorien konnte er 1934 in Zusammenarbeit mit dem Flugtechnischen Institut der TH Stuttgart entwickelten und in einem bei Imperia in Godesberg gebauten „Volksrennwagen“ mit Mittelmotor verwirklichen. Der Wagen hatte eine geschlossene und nach hinten auslaufende Form, allerdings waren die Räder noch nicht in die Karosserie einbezogen. Die Ergebnisse seiner Forschungen faßte Koenig-Fachsenfeld in seinem Buch „Aerodynamik des Kraftfahrzeugs“ zusammen. In Windkanalversuchen hatte Koenig-Fachsenfeld ermittelt, dass die auslaufende und sich stark verjüngende Heckform, wie von Jaray propagiert, strömungstechnisch noch nicht optimal war. Dazu hätte man das Heck so weit verlängern müssen, dass es verkehrshinderlich gewesen wä-

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Abb. 51 Stromlinien-Wagen von Ley, Audi und Dixi (v.l.n.r.) vor dem Berliner Stadtschloß, 1923

Abb. 52

Stromlinien-Wagen mit K-Heck von Wunibald Kamm, 1938

re. Leitete man dagegen die Strömung über das Dach und beschnitt das Heck, wurden wesentlich bessere Werte ermittelt. Diese Forschungsergebnisse faßte Koenig-Fachsenfeld in seiner Patentanmeldung vom 18.2.1936 unter dem Titel „Wagenkasten für Kraftfahrzeuge“ wie folgt zusammen:

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„Wagenkasten für Kraftfahrzeuge, dessen Umrißform vom größeren Querschnitt an nach hinten verjüngt ist, dadurch gekennzeichnet, dass die Verjüngung bis an das Ende des Wagenkastens so stark ist, wie die Forderung auf Anliegen der Luftströmung zulässt, und das Ende durch eine im wesentlichen senkrechte Fläche von kleinstmöglicher Höhe gebildet wird, ohne dass die zweck- und verkehrsbedingte Wagenlänge wesentlich überschritten wird.“

23 Das „K-Heck“, mitentwickelt an der TH Berlin Diese Innovation wurde später unter dem Namen „K-Heck“ bekannt, das, im Gegensatz zum Jaray-Prinzip, die Heckpartie jäh abreißen läßt und trotzdem den Luftstrom stabilisiert, wirbelfrei führt und leitet. Die Früchte seiner Arbeit konnte Koenig-Fachsenfeld aber nicht ernten, nach Intervention staatlicher Stellen musste er seine Anmeldung an das Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Flugzeugmotoren in Stuttgart (FKFS) verkaufen, auf dessen Namen das Patent auch eingetragen wurde. Geleitet wurde dieses Institut von Prof. Dr. Wunibald Kamm. Nach verschiedenen Stationen übernahm er 1930 die Leitung des FKFS. 1936 erschien sein Buch „Das Kraftfahrzeug – Betriebsgrundlagen, Berechnung, Gestaltung und Versuch“. Kamm war bei seinen Forschungsarbeiten ebenfalls auf die Vorzüge des abgeschnittenen Hecks gestoßen und nahm für sich diese Entdeckung ebenso in Anspruch wie auch Prof. Dr. Emil August Everling von der Technischen Hochschule Berlin. Everling, seit 1923 außerordentlicher und seit 1936 ordentlicher Professor für Luftfahrtmechanik, las über Flugzeugbordgeräte und Luftfahrtmechanik. Darüber hinaus war er auf dem Forschungsgebiet Aerodynamik im Kraftfahrzeugbau und der Verwendung von selbsttragenden LeichtmetallKarosserien aktiv. Bereits 1933 stellte Everling einen Autobahn-Messwagen auf der IAA aus, den er im Auftrag der Deutschen Reichsbahn entworfen hatte und der bei der bekannten Karosseriebaufirma Erdmann & Rossi in Berlin-Halensee gebaut worden war. Die Wagen sollte bei der Streckenplanung der Autobahnen eingesetzt werden. In den folgenden Jahren konstruierte Everling weitere Pkw, die, von Erdmann & Rossi karossiert, auf den Ausstellungen 1936 und 1937 von Mercedes-Benz gezeigt wurden. 1938 stellte Everling bei der IAA auf dem Stand der Vereinigten Leichtmetall Werke den Prototyp des E-Wagens aus. Auf das Chassis eines Mercedes 170 hatte der Berliner Karosseriebauer Voll & Ruhrbeck eine LeichtmetallKarosserie nach Everlings Angaben gesetzt.Zusammen mit Dipl.-Ing.Brauer, einem ehemaligen Schüler Everlings, wurde dieser Leichtmetallaufbau als Schweißkonstruktion ausgeführt. Der Bau wurde als Forschungsauftrag des Reichsverkehrsministeriums finanziert, das durch Windkanalversuche von dem einmaligen Luftwiderstandswert des E-Wagens überzeugt wurde,

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Abb. 53

Everling-Wagen mit K-Heck auf Mercedes-Benz Chassis, 1938

der bei nur cw 0,15 liegen sollte. Messungen am fertiggestellten Wagen ergaben jedoch nur einen Wert von 0,31 cw und auch eine niedrigere Höchstgeschwindigkeit, die bei 120 km/h lag. Dies waren wesentlich schlechtere Ergebnisse als die des 1935 im Auftrag der Reichsbahn gebauten EverlingStromlinienbusses. Dieser sollte auf einem Chassis von Krupp, mit einer Karosserie von Erdmann & Rossi und ausgestattet mit einer Windbremse nach einem Patent von Everling, mit 200 km/h auf der Autobahn zwischen Berlin und München verkehren. Dazu kam es nicht mehr vor Kriegsausbruch, aber Everling konnte für sich in Anspruch nehmen, die Innovation des „K-Hecks“ als Erster an einem Prototypen realisiert zu haben.45 Zusammen können diese drei Persönlichkeiten als die Vorkämpfer des „K-Wagens“ angesehen werden, auch wenn es umstritten bleibt, wer der eigentliche Vater des Gedankens war. Für alle drei Forscher ergaben sich in den 30er Jahren Möglichkeiten, ihre Ideen zu realisieren. BMW ließ ab 1936 unter Beratung von Koenig-Fachsenfeld verschiedene Wagen bauen, seit 1938 wurden zudem die sogenannten „K-Modelle“ hergestellt. Das gleiche galt für Mercedes-Benz, die zwar 1935 mit dem Heckmotor-Wagen 150 H schon Ansätze einer Stromlinien-Karosserie zeigten, sich aber sonst dem neuen Trend nicht anschließen wollten.Im Rennsport dagegen machte man sich in Untertürkheim die Erkenntnisse der Aerodynamik gerne zunutze. 45

Everling, Emil: Die Stromlinie des Gebrauchswagens, in: Der Motorist, 07.04.1937, S. 2–7 Kamm, Wunibald: Vergleichsmessungen an einem Fahrzeug mit Everling-Aufbau und einem Fahrzeug mit gewöhnlichen Aufbau, in: Deutsche Kraftfahrtforschung, Zwischenbericht, Nr. 33, 1938 Röder, K.: Die E-Stromlinienform, in: Motor-Kritik, Heft 4 1938, S. 128 ff.

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Abb. 54

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Everling-Stromlininenbus auf Krupp-Chassis, 1935

Ebenso wie der Dauergegner Auto Union, die 1938 den wohl bekanntesten Rekordwagen dieser Zeit baute. Auf Basis aller vier Auto Union-Marken gab es Stromlinien-Versuche, ohne tatsächlich in eine Serie zu münden. Die meisten Testwagen wurden auf DKW-Basis gebaut, wobei man sich anfangs von Jaray beraten ließ. Daneben ließen auch versuchsweise Hanomag, Ford, Opel, NSU-Fiat u. a. Stromlinien-Wagen bauen. Aber nur in wenigen Fällen kam es zur tatsächlichen Serienfertigung.

Abb. 55 Adler „Autobahnwagen“, 1937

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Eine dieser Ausnahmen waren die Adler-Werke, die 1935 und 1936 mit Stromlinienwagen nach Jarays Entwürfen nicht weniger als 22 internationale Rekorde aufstellten. Diese Erfolge führten 1937 zum Serienbau des Typs 10 oder „Autobahn-Adlers“, wie der 2,5-l-Wagen genannt wurde, der bis 1940 gebaut wurde.

24 Zum zweiten Mal im Kriegseinsatz In den Kriegsjahren wurde das Institut zuerst von Prof. Dr.-Ing. Alfred Schöne (1939–41), dann von Prof. Dr. – Ing. Georg Beck (1941–43) geleitet.46 Beck wurde Lehrstuhlinhaber sowie Leiter der Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge und der amtlichen Prüfstelle für Kraftfahrzeuge. Die Versuchsanstalt wurde vom Reichsamt für Wirtschaftsaufbau zum Vierjahresplan-Institut erhoben. Dieser 1936 erstmals aufgestellte Plan sah vor, das Deutsche Reich innerhalb von vier Jahren unabhängig von Grund- und Rohstoffen aus dem Ausland zu machen. 1938 wurde der Plan auf eine kriegswirtschaftliche Mobilmachung umgestaltet. Mit der Ausrichtung auf eine umfassende Kriegswirtschaft durch Albert Speer 1942, verlor der Vierjahresplan und damit auch die Untersuchungen der TH Berlin an Bedeutung. Zu den Aufgaben des Institutes gehörten bis dahin auch die von Prof.Rixmann durchgeführten Versuche, Gasmotoren auf ihre Einsatzmöglichkeiten in Militärfahrzeugen zu prüfen. So fanden noch 1941 Erprobungsfahrten mit einem Wehrmachts-Einheitsdiesel-Lkw mit Imbert-Holzvergaser unter Leitung von Dr.-Ing. Rixmann am Großglockner statt. Zu weitergehenden Forschungen kam es an der Versuchsanstalt aber nicht mehr, anstatt zu lehren, stellten seit 1940 rund 200 Mann unter Leitung von Meister Brettschneider im Laboratorium Granaten her. Am 4. November 1943 verunglückte Prof. Beck auf einer Dienstfahrt tödlich. Daraufhin übernahm Dr.–Ing. habil. Ulrich Schmidt (1943–45) kommissarisch die Leitung.47 Im Jahr 1943 wurden große Teile der Hochschule durch Bombenangriffe beschädigt, weitere wesentliche Schäden entstanden bei den Endkämpfen im Frühjahr 1945. Nach Kriegsende war die TH Berlin größtenteils zerstört, das Inventar, soweit es den Krieg überstanden hatte, wurde geplündert oder beschlagnahmt. Aus dieser Situation heraus war an einen Fortbestand des Laboratoriums für Kraftfahrzeuge nicht zu denken. Auch wenn bereits im Sommer 1945 die Universität und die Hochschulen für Musik und bildende Künste wiedereröffnet wurden, brauchte es eine Zeit der Besinnung, ehe am 9. April 1946 eine Neugründung der nun als „Technische Universität 46 47

Georg Beck, geb. 1901, gest. 1943 Ulrich Schmidt, Dr.-Ing. habil. Seit 1949 Leiter der technischen Kommission des VDA, seit 1951 Privatdozent für Kraftfahrwesen an der TH Darmstadt.

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Abb. 56 Testfahrten mit Wehrmachts-Lkw mit Imbert-Holzgasanlage am Großglockner, 1941 v.l.n.r. H. Brettschneider, Pratzack und Rixmann

Abb. 57 Das mühselige Reinigen der Holzgasanlage von Teerschlamm nach jeder Fahrt, 1941

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Berlin“ bezeichneten TH stattfand. Mit dieser Namensänderung sollte ein Neuanfang markiert werden, der auch eine Ausrichtung des Studiums auf eine breite akademische Ebene beinhaltete. Nicht mehr nur der „Kampf ums Dasein“ wie Riedler die Emanzipation des Technikerberufes stilisiert hatte, sondern ein erneuter Wandel des gesellschaftlichen Umfeldes sollte Gradmesser der akademischen Jugend werden. Doch nicht nur ein auf die inneren Werte bezogener Neuanfang war nötig, sondern auch ein ganz handfester Einsatz des Lehrkörpers und der Studentenschaft war notwendig, um die Trümmer beiseite zu räumen und beim Wiederaufbau zu helfen. So wurden von den 1.556 Studenten, die 1946 angenommen wurden, 100 Stunden Arbeitseinsatz bei Wiederaufbauarbeiten gefordert, ehe sie sich an der neugegründeten TU Berlin immatrikulieren durften. In dieser Zeit war an Forschung nicht zu denken, das Institut wurde in der Nachkriegszeit von Prof. Dr.-Ing. Bernhardt Förster (1945–50) kommissarisch mit dem Lehrauftrag „Das Kraftfahrzeug im Bauwesen“ geleitet.

Abb. 58

Das zerstörte TU-Hauptgebäude nach 1945

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Abb. 59

Prof. Dr.-Ing. G. Beck

Abb. 60

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Prof. Dr.-Ing. U. Augustin

25 Der Neuanfang Nach dem Krieg war Deutschland in vier Besatzungs- und Wirtschaftszonen aufgeteilt worden, wobei das Saarland und Berlin einen Sonderstatus erhielten. Die Hauptstadt wurde in vier Sektoren unterteilt, obwohl sie vollständig in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) lag. Dieser Umstand, auf dem die westlichen Siegermächte beharrt hatten, sollte nicht nur politisch für die nächsten 45 Jahre von entscheidender Bedeutung bleiben, sondern auch die freie Entwicklung an der Technischen Universität Berlin sichern. Wobei es zunächst nicht danach aussah, dass sich in Deutschland je wieder sich eine Technikkultur entfalten könnte, zumal der ursprüngliche amerikanische Morgenthau-Plan die Umwandlung Deutschlands in ein Agrarland vorsah. Noch im Herbst 1944 sollte Deutschland in Kleinstaaten aufgeteilt und sämtliche Industrieanlagen demontiert werden. Auch wenn dieser Plan letztendlich nicht ganz umgesetzt wurde, kam es zur Teilung des Landes, Demontagen von Industriebetrieben und Verschleppungen von Ingenieuren in allen vier Besatzungszonen. Um so erstaunlicher sind die Wiederaufbauleistungen sowie das Überleben von technischem Wissen und industriellen Infrastrukturen.Wurden diese in der sowjetischen Besatzungszone fast völlig ausgelöscht, gelang es in den drei westlichen Zonen zumindest teilweise eine eigenständige technische Entwicklung zu reorganisieren. Hier kamen dem Wiederaufbauwillen der Bevölkerung zwei politische Umstände zu Hilfe, die sich in der SBZ ausschlossen. Zum einen

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

kristallisierte sich noch vor Kriegsende der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion heraus, zum anderen wollten die westlichen Siegermächte nicht die Verantwortung für ein wirtschaftlich zerstörtes Deutschland tragen, von dem absehbar war, dass es zur Bühne des schwelenden Ost-West-Konfliktes werden würde. Es erschien sinnvoller, durch gezielte Infrastrukturmaßnahmen eine sich selbst tragende Wirtschaft zu fördern. Im wesentlichen waren es dann drei Maßnahmen, die dies realiserten: Die Einführung der Währungsreform am 21. Juni 1948 und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft mit ihrem Verzicht auf jegliche Preisvorgaben. Hinzu kamen seit April 1948 Gelder aus dem European Recovery Program, dem sogenannten Marschall-Plan. Dabei wurden nicht flächendeckend finanzielle Spenden verteilt, sondern gezielt Industrieprojekte in ganz Westeuropa gefördert. Der psychologische Effekt dieser Maßnahmen übertraf die tatsächlichen finanziellen Leistungen, insbesondere in Westdeutschland, bei weitem. Die Bundesrepublik erhielt ca. 14% der von den USA bereitgestellten Gelder und investierte diese im Wesentlichen in den Grundstoffindustrien, dem Wohnungsbau, in der Exportförderung, im Verkehrswesen und in der Forschung. In der Bundesrepublik wurde der Marschall-Plan geradezu zu einen Synonym für die Zukunftsfähigkeit des Landes. Auf der ersten Nachkriegs-Automesse in Hannover 1947 hatte es nur sieben Aussteller gegeben, wobei der Verkauf an Deutsche ausgeschlossen war. 1949 wurden dann erstmals auch wieder Ausstellungen in anderen deutschen Städten ermöglicht, darunter auch in Berlin. Die Nutzfahrzeughersteller Daimler-Benz, MAN, Büssing, Ford und Tempo sowie die Motorradfabriken der drei Westzonen produzierten bereits 1950 mehr Fahrzeuge als 1938 die Hersteller im ganzen Reichsgebiet. Ein Jahr später überschritt auch die PKW-Produktion die Zahlen von 1938, obwohl es weniger Firmen als vor dem Krieg gab. Renommierte Hersteller wie Adler, Hanomag oder Maybach gaben den Automobilbau auf. Hanomag konzentrierte sich fortan auf den Nutzfahrzeugsektor. Die Auto Union, BMW und Opel verloren ihre Werke in der SBZ. Zusätzlich musste Opel seine Kadett-Produktionsanlage in Rüsselsheim als Reparationsleistung an die UdSSR ausliefern. Komnick, Stoewer und andere Traditionsmarken lagen nun auf polnischem Gebiet. Schwierig war es auch für die Berliner Hersteller geworden, insbesondere in der Zeit der Blockade Berlins durch die Sowjetunion. Aus Anlass der Währungsreform wurden alle Zufahrtswege, zu Land und zu Wasser, am 24. Juni 1948 von sowjetischen Truppen gesperrt. Bereits zwei Tage später hatten die Westalliierten die sogenannte „Luftbrücke“ organisiert, sie versorgten den Westteil der Stadt nun auf dem Luftweg. Damit wurde auch die bis dahin gemeinsame Zivilverwaltung getrennt und die nicht kommunistischen Stadtverordneten verließen den Ostsektor. Sie trafen sich zunächst in der TU Berlin in Charlottenburg, später im Rathaus Schöneberg. Eine weitere Schwierigkeit für die Alliierten und die Westberliner war die Vertei-

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lung der mit Flugzeugen herangeschafften Güter, insbesondere Kohle und Lebensmittel, aber auch ein komplettes Kraftwerk. Für diese Aufgabe gab es zu wenig Nutzfahrzeuge in Berlin. In dieser Situation gründete Dipl.-Ing. Hellmuth Butenuth in Berlin-Spandau sein Econom-Werk.48

26 Helfer beim Wiederaufbau Hellmuth Butenuth studierte seit 1920 an der Technischen Universität in Hannover, wo er sich bereits mit dem Bau von Kleinwagen beschäftigte. Wagemutig soll er als Student eine Firma, die Butenuth Fahrzeug AG, gegründet und tatsächlich einige seiner Bufag-Dreirad-Autos verkauft haben. Diese waren für zwei Personen ausgelegt, die hintereinander saßen, hatten zwei Vorderräder und ein Hinterrad sowie einen kleinen Motor.49 Der Erfolg reichte aber noch nicht aus, um sich als selbständiger Automobilhersteller zu etablieren,zumal sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auch viele andere Hersteller von preiswerten „Volksautos“ auf den Markt wagten. Unter ihnen befand sich auch die Hannoversche Maschinenbau AG, die in erster Linie Lokomotiven und Dampfmaschinen herstellte. Hier trat Hellmuth Butenuth 1922 als Versuchsingenieur ein, um an der Entwicklung des Hanomag-Kleinwagens, im Volksmund seiner Form wegen „Kommißbrot“ genannt, zu arbeiten. In den folgenden Jahren nahm Hell-

Abb. 61

48 49

Hanomag „Kommißbrot“ als Postauto, 1924

Ribbe, W./Schmädeke, J.: Kleine Berlingeschichte, Berlin, 1994, S. 201 f. Hellmuth Butenuth, geb. Am 19.02.1898 in Dortmund, gest. am 20.08.1990 in Berlin. Sievers, Immo: Zweirad – Vierrad – Allrad, Berlin, 1995, S. 80–87.

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muth Butenuth an zahlreichen Autorennen und Langstreckenfahrten teil, um die Qualitäten des kleinen Hanomags zu demonstrieren. Den Erfolgen auf der Rennstrecke folgten die Erfolge im Verkauf. 15.775 „Kommißbrote“ fanden in den 20er Jahren ihre Käufer und Hellmuth Butenuth stieg zum technischen Direktor der Hanomag auf. Da aber bei Hanomag die weitere Entwicklungsarbeit an Personenwagen zugunsten der Rüstungsproduktion vernachlässigt wurde,zog es Butenuth 1933 vor,in Berlin eine HanomagGeneralvertretung für Berlin und Brandenburg zu übernehmen, wo er in Wilmersdorf und Halensee Hanomag-Niederlassungen einrichtete. Bedingt durch die Rationierung von Treibstoffen im Krieg, begann Hellmuth Butenuth 1943 mit der Entwicklung von Dampfmotoren für Nutzfahrzeuge. Hierfür baute er Dreitonner-Lkw von Ford um,derenVierzylinder-Motoren 4,5 Liter Hubraum hatten. Insgesamt fünf Fahrzeuge rüstete Butenuth bis 1945 auf Steinkohlebetrieb um. Unmittelbar nach dem Krieg improvisierte Butenuth in seinen zerstörten und demontierten Werkstätten eine Produktion von emaillierten Kochtöpfen, die er aus Stahlhelmen pressen ließ. Der Betrieb in der Mecklenburgischen Straße wurde von der englischen Besatzungsmacht beschlagnahmt, aber in der ehemaligen Ford-Niederlassung in der Karlsruher Straße setzte er 1946 mit der „Berliner Dampfmotoren Gesellschaft mbH“ seine Entwicklung des Dampfantriebs fort.Diese Gesellschaft bestand immerhin noch bis 1952 und dokumentiert die Schwierig-

Abb. 62

Butenuth-Dampflastwagen im zerstörten Berlin, 1945

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keiten, mit denen in der Nachkriegszeit der Fahrzeugbau in Deutschland zu kämpfen hatte. Das Besondere an diesen Dampfwagen war, dass ihre Motoren nicht durch die in der Kriegszeit weit verbreiteten Holzgasanlagen angetrieben wurden, sondern durch einen Zweitakt-Dampfmotor, der mit Koks oder Steinkohle betrieben werden konnte. Fahrgestell und Getriebe blieben hierbei völlig erhalten. In der Folgezeit musste Butenuth dann auf russischen Befehl hin in Berlin-Adlershof an der Weiterentwicklung der Dampfwagenidee arbeiten, da Kraftstoffe noch nicht in ausreichenden Mengen vorhanden waren, bzw. aus dem Ausland importiert werden mussten. Die Laster sollten zur Räumung von Trümmern eingesetzt werden, allerdings befahl die sowjetische Kommandantur den Abbruch der Entwicklung bereits nach wenigen Monaten. Die Konstruktionspläne wurden beschlagnahmt und zum Bau von Dampfmotoren für Flussschliffe in Russland genutzt. Einen bereits fertiggestellten Lkw brachte man von Adlershof nach Leningrad.

Abb. 63

Econom Sattelschlepper „Kohlenkuli“ vor dem Werk in Spandau, 1954

Nachdem seine Dampfwagen-Entwicklung gebremst und die Währungsreform in den Westsektoren im Juni 1948 durchgeführt worden war, gründete Butenuth eine neue Firma in Spandau, das damals zum britischen Sektor Berlins gehörte. Während in Wilmersdorf der Vertrieb blieb, baute Butenuth mit Hilfe von Finanzmitteln aus dem Marshallplan in der Rhenaniastraße 14 in Spandau-Haselhorst das „Econom-Werk“ auf. Schon der Name des „Econom-Werks“ enthielt das Motto der Fahrzeuge, die dort

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

gebaut werden sollten. Wirtschaftlich und preiswert sollten sie sein, mit einem kleinen Motor eine große Zugkraft entwickeln. Die Produktion hatte anfangs aber vor allem an Materialknappheit zu leiden, so dass man versuchte aus verschiedenen Restfahrzeugen neue Lastwagen zusammenzubauen und Baugruppen von mehreren Zulieferern zu verwenden. Die ersten Econom-Lkw hatten Zweizylinder-Motoren mit 25 PS der Motoren-Werke Mannheim, Achsen von Ford und Getriebe von Prometheus Berlin, Fahrerhäuser und Pritschen fertigten die Berliner Karosseriefirmen Buhne und Gaubschat an. Die Verkaufsprospekte von 1949 warben mit dem billigsten und wirtschaftlichsten Lastwagen für den Nahverkehr, bei dem es nicht so sehr auf die Geschwindigkeit ankam. Der Econom erreichte maximal 35 km/h, konnte fünf Tonnen Nutzlast und weitere fünf Tonnen Anhängelast befördern und verbrauchte dabei etwa 14 Liter Diesel auf 100 Kilometer. Im Gegensatz zu Fahrzeugen für den Fernverkehr benötigten Nahverkehrs-Lastwagen keine 100 PS und mehr, so die EconomFirmenphilosophie. Tatsächlich bot Butenuth für seine Fahrzeuge wesentlich schwächere Motoren an,nämlich luftgekühlte KHD-Dieselmotoren mit ein bis drei Zylindern, die nur 15 bis 45 PS leisteten. Zur Wahl standen auch Modelle mit wassergekühlten Zweizylinder-Aggregaten von MWM mit 30 PS. Auf besonderen Wunsch wurden die Lastwagen auch mit einem 57 PS leistenden Vierzylinder-Benzinmotor und Treibgasanlage geliefert, was auf die Probleme mit der Kraftstoffversorgung Berlins während der Blockadezeit hinweist. Hatten anfangs nur ein bis zwei Fahrzeuge pro Monat die Spandauer Werkshallen verlassen, arbeitete 1952 mittlerweile eine Belegschaft von etwa 200 Personen an der Fertigung von monatlich 12 Lastwagen und Kommunalfahrzeugen. Der Econom wurde zu Anfang der fünfziger Jahre nicht nur in der Presse gelobt, er fand auch im Ausland seine Abnehmer. So konnte das Berliner Sparwunder nach Belgien, Portugal und in die Türkei exportiert werden. 1954 stellte Butenuth ein dreiachsiges Modell vor, bei dem die beiden Vorderachsen lenkbar waren. Dieses Fahrzeug wurde mit einem Spezialaufbau auch als „Econom-Kohlen-Kuli“ angeboten, der nicht nur wegen seines guten Rangiervermögens in engen Höfen Anerkennung fand, sondern dessen Vorteile auch in der Art der Entladung lagen. Sie erfolgte nicht wie üblich durch Kippen, sondern mittels hydraulisch betriebener Förderbänder. Der siloförmige Laderaum war in vier Kammern unterteilt, die unabhängig voneinander be- und entladen werden konnten. Die Entladung von sechs Tonnen Kohle dauerte nur sechs Minuten. In den Jahren des aufkommenden Wirtschaftswunders konnte sich jedoch das Kleinserienprogramm des Econom-Werks nicht mehr gegen die Massenproduktion westdeutscher Nutzfahrzeughersteller behaupten. 1954 beschloß Hellmuth Butenuth, seine Lkw-Produktion in Spandau einzustellen. Insgesamt haben ca. 250 Econom-Lkw mit dem Berliner Bären im Kühleremblem das Werk in der Rhenaniastraße verlassen.

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Abb. 64

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Econom Wasserwerfer der Berliner Polizei, 1951

27 Das Ende der Haute Couture Der Krieg und die Insellage Westberlins zerstörten die Infrastruktur der Autostadt Berlin nachhaltig. Nicht nur die Nutzfahrzeugherstellung wurde aufgegeben,schwerwiegender war wohl der Niedergang des KarosseriebauGewerbes, das im Berlin der 1920er und 30er Jahre eine weltweite Geltung hatte. Als große Namen der Zunft seien nur Heinrich Buhne, Alexis Kellner oder Joseph Neuss genannt. Dabei wurde auf den feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen Schneidern, Zwischenmeistern und Couturiers unter den Karosseriefirmen geachtet.Sicherlich zu den begehrtesten Designern der Branche gehörte die Firma Erdmann & Rossi in Halensee. Hier ließen sich die Reichen und Schönen der „roaring twenties“ Luxuskarossen modellieren. Die 30er Jahre wurden zu goldenen Zeiten für die Firma. Man beschränkte sich nun völlig auf den Bau von Luxuskarosserien, wobei nicht nur Daimler-, Horch- und Maybach-Chassis eingekleidet wurden, sondern auch ausländische Nobelmarken. Nicht umsonst war Erdmann & Rossi auch eine offizielle Rolls-Royce-Vertretung. 200 Facharbeiter kreierten zwei bis drei Luxuskarosserien pro Woche, unvorstellbar im Zeitalter der „just-in-time-production“. Für Aufsehen in der Fachpresse sorgten 1933 die Stromlinienkarosserien auf Mercedes-Benz-Chassis. Auch die von Prof. Everling entworfenen Stromlinien-Wagen wurden bei Erdmann & Rossi gefertigt, nur we-

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Abb. 65

Das letzte Cabriolet aus Berlin, Modell Beeskow, 1951

nige Firmen hatten ein so hohes handwerkliches Können, um die aerodynamischen Detailanforderungen umsetzen zu können. 1933 fusionierte Erdmann & Rossi mit Joseph Neuss und bis in die 40er Jahre konnte die Firma noch Kundenwünsche erfüllen. Den Krieg überstand die Firma in Halensee, indem sie Arbeiten für russische Offiziere ausführte, die sich ihre Maybach-, Horch- und Daimler-Benz-Beutefahrzeuge wieder herrichten ließen. 1949 verließ als letztes Couturier-Modell ein Maybach SW 42 das Werksgelände. Von nun an hieß es, sich den Umständen anzupassen und das Überleben sicher zu stellen. Nicht damit zufrieden geben wollte sich der Chef-Designer der Firma, Johannes Beeskow.50 Er hatte 1925 seine Lehrzeit bei Neuss begonnen und besuchte gleichzeitig die Abendschule in der Berliner Karosseriebau-Lehranstalt. Beeskow blieb als Konstrukteur im technischen Büro bei Neuss und hatte bald Gelegenheit, für die Prominenz Luxuskarosserien zu entwerfen. Nach dem Krieg arbeitete er als technischer Leiter der Firma Friedrich Rometsch in der Nestorstraße. Er fing auch wieder an, Autokarosserien zu entwerfen, wenn auch nun die Ansprüche etwas bescheidener waren, blieben die Formen trotzdem vollendet. Für das Chassis des VW-Käfers hatte Beeskow eine wunderschöne Sport-Cabriolett-Karosserie entworfen, die bei der Automobilausstellung 1950 viel bewundert wurde. Die Nachkriegs-Automobil-Ausstellung hatte bereits im Jahr zuvor 125.000 Besucher angelockt. Die Leitung der Ausstellung hatte Prof. Dr.-Ing. Udo Augustin, der 1950 die Leitung des Institutes für Kraftfahrzeuge an der TU Berlin übernehmen sollte. Ihm gelang es 20 Firmen zu bewegen, ihre Fahrzeuge in Westberlin, das gerade die Blockade überstanden hatte, zu präsentieren. Und bald fanden sich wieder potentiel50

Johannes Beeskow, geb. am 21.05.1911 in Berlin, gest. am 14.06.2005 in Osnabrück

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le und prominente Kunden ein. Der Schauspieler Victor de Kowa kaufte als Erster das Beeskow-Cabriolet, das auch im Ausland Käufer fand und 1954, 55 und 56 die „Goldene Rose“ in Genf erringen konnte, die renommierteste Auszeichnung im internationalen Karosseriebau. Als Wolfsburg aber die Lieferung von Fahrgestellen an Rometsch einstellte, war auch diese Episode zu Ende. Der Volksaufstand in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 veranlasste Beeskow, mit seiner Familie die Stadt zu verlassen.

28 Wiederaufbau und Wirtschaftswunder Auch für die Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge an der TU Berlin schien es keine Zukunft zu geben, worüber und für wen sollte Forschung betrieben werden? Die Prüfstelle existierte stiefmütterlich behandelt zwar noch, aber zukunftsweisende Innovationen waren nicht zu erwarten. Erst mit der Berufung von Prof. Dr.-Ing. Udo Augustin 1950 und Dr.-Ing. Hans-Georg Wenderoth als Oberingenieur sollte es seine ursprüngliche Aufgabe wieder aufnehmen können.51 Umbenannt nun in Institut für Kraftfahrzeuge, lag der Forschungsschwerpunkt zu dieser Zeit auf Untersuchungen zur Motorschmierung und zum Verschleiß. Augustin bemühte sich auf allen Ebenen wieder Kontakte zur Industrie herzustellen. Sei es durch die Organisation von Ausstellungen oder von Preisausschreiben, wie der Entwurfswettbewerb für das „Auto von morgen“ von den Ford-Werken Köln 1956. Zur Jury gehörte neben Prof. Dr.-Ing. Friedrich Raab und Prof. Dr.-Ing. Karl Kollmann, auch Prof. Dr.-Ing. Augustin. Unter seiner Betreuung gelang es Arbeitsgruppen des Institutes der TU 1957, 1959, 1962 und 1968 (unter Prof. Dr.-Ing. Ernst Fiala) jeweils als Sieger aus diesem Wettbewerb hervorzugehen. Die Berliner Arbeitsgruppe bestand 1957 und 1959 aus sieben Studenten und Ingenieuren. 1962 forschte ein vierköpfiges Team über die Zukunft von Otto- und Dieselmotoren und 1968 entwarfen sechs Studenten des Instituts das Fahrwerk und die Karosserie für schnelle Reisewagen. Dies war 1950 aber noch Zukunftsmusik, die Realität auf Deutschlands Straßen sah anders aus. Zwar wurde bald nach Kriegsende in einigen Automobilfirmen die Produktion wieder aufgenommen, Volkswagen 1945, Daimler Benz 1946, Opel 1947, Ford 1948, Borgward 1949 sowie die neugegründete Auto Union, Gutbrod, Lloyd, Goliath und Porsche 1950, 1952 kam BMW wieder dazu. Aber fast alle Firmen nutzen als Basis ihre Vorkriegsentwicklungen, wie etwa der Mercedes-Benz 170, der Ford Taunus, die DKW Meisterklasse oder auch der VW Käfer. Dabei wurde auch auf die durch den Krieg stark vergrößerte Infrastruktur und auch auf die Vorkriegstechnologie zurückgegriffen. 51

Udo Augustin geb. 1913, gest. 1975. Dr.-Ing. Hans-Georg Wenderoth war bis 1969 im Vorstand der NSU Motorenwerke AG tätig.

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Wenige Konstrukteure wie Carl Friedrich Borgward, der 1949 mit dem Hansa 1500 die Ponton-Karosserie in Deutschland einführte und erstmals für einen Serienwagen ein Automatik-Getriebe anbot, hatten die Möglichkeit Innovationen umzusetzen. Denn wenn auch die wirtschaftspolitischen Umstände der 1950er Jahre günstig waren und die Marktwirtschaft und die Gesetzgebung den Individualverkehr stark förderte, darf nicht übersehen werden, dass es in den ersten Nachkriegsjahren kaum Käufer gab. Das im Volkswagenwerk Wolfsburg überhaupt so früh produziert werden konnte, lag an den politischen Umständen. Vor dem Krieg sind praktische keine zivilen Wagen dort gebaut worden, erst die im Krieg stark vergrößerte Geländewagen-Produktion (Kübelwagen) schaffte die Voraussetzung für eine Fortsetzung der Herstellung direkt nach dem Krieg durch die englische Besatzungsmacht. Unter deren Vertreter Major Ivan Hurst konnten noch im Jahr 1945 in Wolfsburg 1.293 Fahrzeuge gebaut werden, zumeist auf Kübelwagen-Chassis. Diese Produktion wurde aber auch politisch gefördert, denn die Engländer wollten das Werk nicht von der Sowjetunion demontieren lassen. Bereits am 2. Januar 1948 wurde das Werk wieder in deutsche Hände gegeben und unter der Leitung des ehemalige OpelVorstandsmitglied Heinrich Nordhoff gelang Volkswagen ein rasanter Aufstieg. Der Käfer setzte nicht nur technische Maßstäbe, sondern auch Maßstäbe an seine Käufer. Mit seinem Preis von 3.790,- DM galt der Käfer bereits als Mittelklassewagen und war für den deutschen Durchschnittsverdiener unerschwinglich. Anfang der 50er Jahre verdiente der Bundesbürger ca. 784,DM pro Monat. Wenn überhaupt, dann träumte er von einem Motorrad oder einem Kleinwagen, von denen Anfang der 1950er Jahre eine größere Zahl in Deutschland entwickelt wurde. Zu dieser Zeit war Fahrkomfort nicht das ausschlaggebende Argument für den Erwerb eines Fahrzeugs, sondern dass man es überhaupt kaufen und unterhalten konnte. Da dies für viele nicht möglich war, blieb nur das motorisierte Zweirad als Alternative und so erlebte Deutschland einen Motorrad-Boom, der 1955 seinen Zenit erreichte. Die Marktsättigung sowie die Konkurrenz des Kleinwagens – mit steigendem Wohlstand erschwinglich geworden – führten zum Niedergang der Motorradindustrie. Alleine 1954 wurden über 40% mehr Autos gebaut als im Vorjahr, nur neun Jahre nach der totalen Niederlage stand Deutschland als Autohersteller mit 518.190 Pkw an dritter Stelle weltweit hinter den USA und Großbritannien. 1956 wurden in Deutschland 910.996 Pkws gebaut, ein Drittel davon waren VW Käfer und Deutschland rückte zum zweitgrößten Autohersteller weltweit auf. Die Motorradzulassungen sanken im gleichen Jahr um 38%, die Zulassung von Kleinwagen stieg fast im gleichen Maß an.Ausschlaggebend für diese „Kleinwagenwelle“ war neben den schon genannten Gründen auch die Gesetzgebung. 1954 war eine neue Führerscheinverordnung in Kraft getreten, nach der jeder, der noch den alten Führerschein IV

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Der Maßstab des Wirtschaftswunders, 1955

(für den nur eine theoretische Prüfung notwendig war) besaß, nicht nur Motorräder, sondern auch Kleinwagen mit einer Motorgröße bis 250 cm3 fahren durfte.52

29 Die Kleinwagen-Welle Sofort begann sich ein neues Marktsegment zu etablieren, auf das die Autofahrer nur gewartet zu haben schienen. Minimalste Ansprüche wurden an diese Wagen gestellt, solange sie ein Dach über dem Kopf boten und der Hubraum nicht größer als 250 cm3 war. Nun schlug die Stunde von Ingenieuren wie Fritz Fend, Hans Glas, Norbert Stevenson, Jakob Hoffmann, oder Egon Brütsch. Aber auch so bekannte Flugzeug-Konstrukteure wie Willy Messerschmitt, Ernst Heinkel und Claude Dornier waren sich nicht zu schade, ihre Erfahrungen in den Bau von Kleinwagen einzubringen. Es entstand eine Vielzahl von Fahrzeugen und Firmen, die sich auf die Kleinwagen-Klasse spezialisierten, wie der Champion 250, der Gutbrod Superior oder der Kleinschnittger F 125. Letzterer kann für sich in Anspruch nehmen, das kleinste jemals in der Bundesrepublik in Serie gebaute 52

Feldenkirchen, Wilfried: Vom Guten das Beste, München, 2003, S. 202 f

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Fahrzeug gewesen zu sein. Bis 1957 wurden immerhin 2.980 MiniaturRoadster in Arnsberg gebaut. Für sein Leergewicht von 150 kg reichte der Einzylinder-ILO-Motor, der bei 125 cm3 5,5 PS leistete, völlig aus. Damit konnte der Zwerg 2 Personen bis zu 70 km/h schnell transportieren. Um das Fahrzeug möglichst leicht zu konstruieren, hatte Paul Kleinschnittger eine offene Aluminium-Karosserie auf einen Zentralrohr-Rahmen gesetzt. Dank des Frontantriebs entfiel die Kardanwelle, auf ein Differential und einen Rückwärtsgang verzichtete er genauso wie auf einen Anlasser. Der F 125 wurde per Seilzug wie ein Rasenmäher gestartet und im Notfall erübrigte sich bei seinem Gewicht auch der Wagenheber. Das alles nahmen die Käufer damals in Kauf, auf Dauer aber nicht das fehlende Verdeck. Größeren Erfolg hatte Fritz Fend, der bereits 1948 mit seinem „Flitzer“ für Furore gesorgt hatte, dem aber das Kapital für eine Serienfertigung fehlte. Über die nötigen Ressourcen verfügte Prof. W. Messerschmitt, der in Regensburg eine Fabrik besaß. Dort wollten die neuen Partner einen Kabinenroller bauen, der zwei Personen, allerdings hintereinander sitzend Platz bot. Ein 173 cm3 großer Einzylinder-Zweitakt-Motor von Fichtel & Sachs produzierte im Heck knapp 11 PS, die das einzige Hinterrad antrieben. Die konstruktive Besonderheit des KR 175 war die seitlich hochzuklappende Kabinenhaube, die gänzlich aus Plexiglas bestand. Sie erinnerte stark an eine Flugzeugkanzel, zumal anstelle eines Lenkrades aus Platzgründen eine Lenkstange im Cockpit integriert war. Dank seines niedrigen Preises von 2.100 DM, seines niedrigen Verbrauchs von 3 Litern auf 100 km und der günstigen Steuerklasse fand das Dreirad sofort zahlreiche Käufer. Bis März 1955 konnten 10.666 KR 175 verkauft werden. Dann wurde der Hubraum des „Düsenjägers für den kleinen Mann“ vergrößert und der KR 200 erreichte mit seinem 191 cm3 großen Motor fast 100 km/h. In dieser Ver-

Abb. 67

Querschnitt durch den Messerschmitt Kabinenroller, 1955

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Abb. 68

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Zweizylinder-Zweitakt-Heckmotor und Tank des Goggomobils

sion wurde der „Schneewittchensarg“ bis 1964 insgesamt über 50.000mal gebaut. Noch erfolgreicher wurde das im Frühjahr 1955 auf den Markt gekommene Goggomobil. Hans Glas, der seit 1951 in Dingolfing bereits Motorroller unter diesem Namen produzierte, wollte auf der Kleinwagen-Welle mitschwimmen.Aber erst Ing.Karl Dompert konnte ihn von einem Entwurf überzeugen, der zwar nicht ganz so futuristisch wie der KR 175 war, dafür aber vier Personen Platz bot. Die Karosserie sollte ursprünglich eine Fronttür erhalten wie der Zündapp Janus oder der Heinkel-Kabinenroller, Glas entschied sich dann doch für eine zweitürige Limousinen-Karosserie in Pontonform. Angetrieben wurde das Goggomobil von einen ZweizylinderZweitakt-Motor, der bei 246 cm3 13,6 PS leistete und mit dem Getriebe quer hinter der Hinterachse verblockt war. Später gab es auch größere Motoren, aber 95% der Käufer entschieden sich für die robuste Basisversion, die bis 1969 über 280.000mal gebaut werden sollte, davon ca. 70.000mal in einer bildhübschen Coupé-Version, die als Sekretärinnen-Ferrari bekannt wurde. Technisch gesehen war das Goggo simpel, Zweischeibenkupplung im Ölbad, die Vorderradaufhängung mit Querlenker und Schraubenfedern, hinten eine Pendelschwingachse und Längslenker. Aber es gab schon hydraulische Trommelbremsen mit einem Durchmesser von 18 cm und einen

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Schalthebel in der Wagenmitte. Das Goggo war im Gegensatz zu seiner Konkurrenz ein richtiges Auto, nur eben en miniature. Es gab neben der Limousine und dem Coupé später auch eine Lieferwagen-Variante, die u. a. bei der Bundespost eingesetzt wurde. Eine ähnliche Bedeutung konnte die seit April 1955 bei BMW in München gebaute Isetta erlangen. BMW hatte die Lizenzrechte vom italienischen Hersteller ISO erworben und das kugelförmige „Motocoupé“ weiterentwickelt. Anstatt eines Zweitakt-Motors wurde die Isetta von einem Einzylinder-Viertakt-BMW-Motorrad-Motor angetrieben, der bei 245 cm3 12 PS leistete.Dieser Motor saß seitlich querstehend hinter dem rechten Sitz und trieb die beiden Hinterräder (ohne Differential) über eine querliegende Gelenkwelle und eine Duplex-Kette an. Der Einstieg erfolgte über eine breite Fronttür, die beim Öffnen das Steuerrad mit zur Seite klappte. Einzig der Glaskuppelaufbau wurde später durch eine geschlossene Konstruktion mit Faltdach und Schiebefenstern ersetzt. Obwohl es auch von der Isetta eine stärkere Version gab, sind über 50% der insgesamt 136.367 in München gebauten Motocoupés in der 250er Version verkauft worden. Hinzu kamen Lizenzfertigungen in Frankreich, Spanien, England und Brasilien, die die Isetta weltweit bekannt machten. Es gab noch weitere Hersteller, die ähnliche Kabinenroller anboten, die aber heute schon fast in Vergessenheit geraten sind. Darunter der Versuch von Prof. Ernst Heinkel, mit seiner „Kabine 150“ der Isetta Konkurrenz zu machen. Immerhin wog der Wagen gut 100 kg weniger und bot vier Personen Platz. Den Antrieb besorgte ein 175 cm3 großer EinzylinderViertaktmotor, der mit Getriebe und Kupplung verblockt war. Um Platz zu schaffen, hatte die Kabine eine Kulissenschaltung an der Seitenwand. Ausgelegt als Dreirad, hatte der Heinkel nur eine auf die Vorderachse wirkende Fußbremse. Ab 1956 gab es ein zweites Hinterrad, das auch als Reserverad genutzt werden konnte. Zwischen den beiden Rädern lagen ein Federbein und der Kettenkasten. Dank der schmalen Hinterachsspur konnte die Kabine auch mit einem Reifen gefahren werden. Trotzdem ließ sie sich nur ca. 12.000mal verkaufen, in England wurde sie von der Firma Trojan aber noch bis 1966 weitergebaut. Noch kürzer war die Karriere des Hoffmann Kabinenrollers, der 1954 vorgestellt wurde. Inspiriert vom italienischen Vorbild ISO, gelang es nicht den ausgereiften Konstruktionen von BMW oder Heinkel den Markt streitig zu machen, 1955 bereits musste die Produktion wieder eingestellt werden. Erwähnt seien noch zwei Kleinwagen-Projekte aus dieser Zeit, die wegen ihrer technischen Lösungen erwähnenswert erscheinen. Zum einen das Fuldamobil, das zwischen 1950 und 1969 in kleinen Serien insgesamt 2.900mal gebaut wurde.Anfangs mit einer Aluminium-Karosserie ausgestattet, wurde ab 1957 das Model S 7 mit einer Kunststoff-Karosserie gebaut. Zum anderen der Zündapp Janus, der auf einem Entwurf von Claude Dornier 1955, genannt „Delta“ beruhte. Wichtigstes Merkmal des Janus war die Sitzanordnung der Passagiere,

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Abb. 69

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Querschnitt durch Zündapp „Janus“, 1957

die Rücken an Rücken saßen. Die hinteren Mitfahrer sahen rückwärts und konnten den Wagen durch eine Hecktür besteigen, während der Fahrer und Beifahrer durch eine Fronttür einsteigen konnten. Der Motor, Tank und der Gepäckraum befanden sich zwischen den Sitzen, die sich zu einer Liegefläche umklappen ließen. Dank seiner vier Federbeine hatte der Wagen für seine Klasse eine unerreichte Straßenlage und Federungskomfort.Aber die Mittelmotor-Anordnung sorgte für einen hohen Geräuschpegel, zu hoch für viele, so dass nur knapp 7.000 Exemplaren bis 1958 gebaut wurden. Fast allen Kleinwagen-Konzepten gemeinsam war der Zweitakt-Motor, der die antriebstechnische Zukunft Deutschlands zu sein schien. Trotz so mancher technischer Mängel und der schwachen Kaufkraft der deutschen Bevölkerung fanden diese Wagen einen reißenden Absatz, bis der Koreakrieg (1950–53) diese Entwicklung stoppte. Rohmaterialien wie Kohle und Stahl mussten nach Amerika exportiert werden und die sich gerade im Aufwind befindliche deutsche Industrie hatte erhebliche Schwierigkeiten, genügend Stahlbleche zu bekommen. Einzig das VW-Werk in Wolfsburg konnte weiterhin nennenswerte Zuwachsraten vermelden, 1950 lief der 100.000ste Käfer vom Band, nur drei Jahre später war die halbe Million voll. 1955 konnte der millionste Käfer gefeiert werden, damit war er das automobile Maß der Dinge in den 1950er und 60erJahren.

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 70 Selbsttragende Rohkarosserie aus Duroplast des IFA P 601 vor einer Vliesstraße, 1966

Abb. 71 Vorderachse und Zweizylinder-Zweitakt-Motor des IFA P 50, 1958

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30 Die Entwicklung des Kleinwagens in der DDR Auch in der SBZ regte sich der Willen zur Motorisierung, allerdings unter ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen. Noch radikaler waren die Demontagen und Bestimmungen für die Autoindustrie,die im wesentlichen aus den Werken der Auto Union und BMW bestand. 1949 begann man in Zwickau wieder Pkw in den nun volkseigenen Betrieben Audi und Horch zu bauen. Unterstellt waren sie der Industrieverwaltung Fahrzeugbau, kurz IFA, in der ab 1948 alle volkseigenen Automobilwerke in der SBZ zusammengefasst waren. Schon auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1948 stellte der IFA Fahrzeugbau Chemnitz die gegenüber der Vorkriegszeit nahezu unveränderten DKW-Modelle sogar unter den früheren Typenbezeichnungen aus. 1949 begann dann die Serienproduktion des IFA F 8 im ehemaligen Audi-Werk in Zwickau. Ein Jahr später wurde die Fertigung des F 9 aufgenommen, den DKW noch kurz vor dem Krieg entwickelt hatte. Gezwungen durch die Rohstoff-Knappheit, insbesondere durch das westliche Embargo für Stahlbleche, mussten die IFA-Ingenieure ein Surrogat finden. Sie konnten dabei auf die Forschungsarbeiten der Auto Union zurückgreifen, die bereits in Jahren 1936 bis 1940 im DKW-Werk Berlin-Spandau unter der Leitung von Ing. Conrad Schulz eine Kunststoff-Karosserie für Autos entwickelt hatte. Schulz besaß auf diese revolutionäre Technik drei Patente (DRP 751206 und 767115 / 1936 und DRP 867059 / 1940), die sich die IFAIngenieure Walter Haustein und Albert Locke zu Nutze machten. Bereits ab 1953 erhielt der IFA F 8 serienmäßig eine Motorhaube aus Kunststoff. Anfang der 50er Jahre wurde aber auch in der DDR offensichtlich, dass auf der Basis der Vorkriegsmodelle keine zeitgemäßen Pkw zu entwickeln waren. Deshalb beschloß man, einen neuen Kleinwagen zu konstruieren, der für eine Großserienproduktion ausgelegt war. Die selbsttragende Rohkarosserie auf einem Stahlskelett mit Duroplast-Beplankung wurde 1954 im Forschungs- und Entwicklungszentrum Karl-Marx-Stadt konstruiert. Die Mangelwirtschaft führte aber dazu, dass der P 70 genannte Wagen eine mit Duroplast beplankte Holzkarosserie hatte und das Fahrwerk vom F 8 abgeleitet wurde. Der neue Kleinwagen hatte einen 684 cm3 großen Zweizylinder-Zweitakt-Motor, der 22 PS leistete. Die Grundlage des Duroplast war ein Vlies, das aus 46% Baumwollfasern, 52% Phenolharz und 2% Trennpapier und Talkum bestand. Dieses Vlies wurde in Formteilen zugeschnitten und unter Hitze in Großpressen zu den einzelnen Karosserieteilen geformt. Damit war der P 70 der erste Serien-Pkw überhaupt mit einer solchen Kunststoff-Karosserie. Von 1955 bis 1959 sind insgesamt 36.796 Wagen als Limousine, Kombi und Coupé gebaut worden. Abgelöst wurde er am 7. November 1957 mit der 0-Serie des P 50, der 1958 als Trabant 500 auf den Markt kam. Während der Zweitakt-Motor weiterhin zwei Zylinder hatte, die bei 499 cm3 18 PS leisteten, besaß der „Trabi“ einen Stahlrahmen aus 400 Einzelteilen, der nur 127 kg wog. Auf ihn wurde in

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Skelettbauweise die Duroplast-Karosserie geschraubt. Der Trabant wurde weiterentwickelt zu den Typen P 60, ab 1964 P 601 und schließlich 1990/91 mit einem 1.1 Liter VW-Motor ausgestattet. Insgesamt sind 3.096.099 Trabanten gebaut worden, damit ist er der erfolgreichste Kleinwagen der deutschen Nachkriegsgeschichte geworden. In den 1950er Jahren gab es aber nicht nur die Kleinwagen-, sondern durchaus auch eine Innovationswelle in der deutschen Automobilindustrie, die versuchte, nachdem sie die Kriegsfolgen überwunden hatte, sich wieder international zu etablieren. Hierzu waren Rennsportveranstaltungen besonders geeignet, denn man konnte an die Erfolge der 1930er Jahre anknüpfen. Ein Beispiel ist die Benzindirekteinspritzung, die von MercedesBenz Anfang der 1950er bei Rennwagen erprobt wurde und dann in die Serienproduktion übernommen wurde. Die Borgward Isabella und der Mercedes 300 SL wurden zusammen mit dem VW Käfer sogar in den USA zu Imageträgern. Ein weiteres Beispiel sind Innovationen im Getriebebau, bereits 1949 hatte Borgward ein Automatikgetriebe (Hansamatic) vorgestellt, dem bald Kupplungsautomaten von Fichtel & Sachs, Daimler-Benz und Opel folgten. Insbesondere Porsche konnte ab 1952 weltweit Lizenzen für ein Vollsynchron-Getriebe verkaufen, für das die sportlichen Erfolge der Marke sehr gute Werbeträger waren. Nicht alle Innovationen, die weltweit vermarktet wurden, waren auch tatsächlich erfolgreich. Wie z. B. die Entwicklung des Kreiskolben-Motors durch Felix Wankel, zu dem auch an der TU Berlin Untersuchungen stattfanden.53

31 Die Entwicklung des Wankelmotors Dieser als Revolution im Motorenbau angekündigte Motor brach mit der von der Dampfmaschine übernommenen Hubkolbentechnik vollständig. Obwohl der Wankelmotor ein Verbrennungsmotor im klassischen Sinne ist, unterscheidet er sich vom Otto- bzw. Dieselmotor durch die Rotation des Kolbens. Somit kann er auf wesentliche Teile des Hubkolbenmotors, wie die Kurbelwelle, die Nockenwelle, den Kolben und Ventile verzichten. Der Wankelmotor dreht sich in einem Gehäuse um seinen Mittelpunkt und führt gleichzeitig eine Kreisbewegung aus. Dieser Vorgang garantiert einen vibrationsarmen Lauf und ermöglicht hohe Drehzahlen. Die Idee, die Kraft des Motors direkt in eine rotierende Bewegung umzusetzen, ohne den Umweg über die verlustreiche Konstruktion eines Hubkolbens, war nicht neu, aber Felix Wankel gelang es, sie konstruktiv zu realisieren und zur Serienreife zu optimieren.Der gelernte Verlagskaufmann Wankel experimentierte in seiner Freizeit schon früh mit Motoren.Seinen Enthusiasmus teilte er mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter, die in Heidelberg in einer Hinterhof53

Felix Wankel, geb. am 13. August 1902 in Lahr, gest. am 9. Oktober 1988 in Heidelberg, absolvierte in den 20er Jahren eine Ausbildung zum Verlagskaufmann.

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werkstatt anhand eines Zweitakt-Motorradmotors die Konstruktion einer „Kolben-Schaufel-Turbine“ versuchten. Bereits 1932 gelang es der Gruppe um Wankel, ein Patent auf einen Rotationskolbenmotor anzumelden. 1936 richtete Wankel in Lindau am Bodensee eine Versuchswerkstatt ein, wo er im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums an der Abdichtung drehschiebergesteuerter Flugmotoren arbeitete. Nach dem Krieg konnte Wankel in Lindau seine Arbeit fortführen, auf Grund seiner Kontakte zur Industrie kam es zu Aufträgen, die an seine früheren Forschungen anschlossen. So war für den Motorradhersteller NSU die von Wankel optimierte Drehschiebersteuerung zur Leistungssteigerung ihrer Motoren interessant.

Abb. 72

Chassis des NSU RO 80 mit Wankel-Kreiskolben-Motor, 1967

Ende 1951 begann Wankel seine Zusammenarbeit mit NSU als Berater. Er sollte eine Lösung finden, die Motorradmotoren mit DrehschieberGassteuerung anstatt mit Ventilen auszustatten. So sehr man Wankels Mitarbeit schätzte, seine Ideen zur Rotationskolbenmaschine lehnte man bei NSU noch ab. Trotzdem gelang es ihm im Lauf der Zeit, eine Drehkolbenmaschine zu entwickeln, deren Entwurf er 1953 unter der Bezeichnung „DKM 53“ veröffentlichte. Was für den Fahrzeughersteller noch als Utopie galt, war für den Maschinenbauer durchaus realisierbar. So interessierten sich bald die Berliner Borsig-Werke für Rotationskolbenmotoren als Wärmepumpen. Mit diesem namhaften Interessenten erschien nun auch für

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

NSU das Projekt in einem anderen Licht, sie bot Wankel einen Vertrag über die Entwicklung eines Drehkolbenmotors an. Der Zweiradhersteller leistete sich mit diesem noch nicht serienreifen Vorhaben eine aufwendige Grundlagenforschung, die, wie sich später erweisen sollte, seine finanziellen Möglichkeiten überstieg. 1954 brachte die Wankel-Gruppe einen Versuchsmotor,„DKM 54“ genannt, zum Laufen. Dabei zeigte sich, dass der Motor ein geringes Eigengewicht hatte und Umdrehungszahlen über 20.000 pro Minute zuließ, aber das zur Verfügung stehende Material hielt diese Belastungen nicht aus. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, entschloß man sich bei NSU den Dreh- in einen Kreiskolbenmotor umzukonstruieren. Dazu musste der mitdrehende Außenläufer stillgelegt werden. Zwar leistete der Motor nun eine geringere Umdrehungszahl, doch konnten bereits bekannte Konstruktionsteile verwandt werden.Am 24.November 1959 konnte Wankel in Neckarsulm zum ersten Mal öffentlich einen Kreiskolbenmotor vorstellen.

Abb. 73

Hercules Motorrad mit Wankelmotor von Fichtel & Sachs, 1970

Bereits am 19. Januar 1960 referierte Wankel in seinem sogenannten „Verkündungsvortrag“ vor der Automobiltechnischen Gesellschaft des VDI im Deutschen Museum zu dem Thema „Dreh- und Kreiskolbenmaschinen als Verbrennungsmotoren“. Hierin wurden die ersten Ergebnisse des neuen Antriebs vorgestellt.Als Oberbegriff wählte Wankel dafür Rotationskolbenmaschinen, die sich durch die Kinematik ihrer Läufer (feststehend

Immo Sievers

Abb. 74

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Mercedes-Benz C 111-II mit Vierscheiben-Wankelmotor, 1970

oder ebenfalls rotierend) unterscheiden. Nach dem Vorbild von Rudolf Diesel wollte Wankel durch eine großangelegte öffentliche Präsentation die Skeptiker von seiner Entwicklung überzeugen und Investoren für das Projekt werben. Zwar fanden sich in der Folgezeit zahlreiche und namhafte Lizenznehmer, doch es gelang nicht, eine breite tragfähige Gemeinschaft aufzubauen, die die Verbreitung des Wankelmotors abgesichert hätte. Anhand der Lizenznehmer kann man allerdings die ganze Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten des Wankelmotors vom Modellflugzeug, über das Motorrad, das Automobil, das Flugzeug, das Schiff bis hin zum industriellen Einsatz erkennen. Zum wichtigsten Lizenzverwerter sollte die Toyo Kogyo Ltd., später Mazda, werden. Außer NSU selbst, wagte nur sie im Gegensatz zu zahlreichen europäischen und amerikanischen Fahrzeugherstellern, den Wankelmotor als Antriebsaggregat für das Automobil serienmäßig zu nutzen. 1963 wurde auf der IAA der NSU Wankel Spider als erstes Automobil mit einem 500 ccm großen Kreiskolbenmotor ausgestellt. Da der Spider im Vergleich zu seinem revolutionären Antrieb aber eher ein konventionelles Auto war, entschloß man sich bei NSU im gleichen Jahr, die Entwicklungs-

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arbeiten zu einem wirklich zukunftsweisenden Automobil aufzunehmen. Zur IAA 1967 konnte NSU dann den Ro 80 präsentieren. Mit seinem 115 PS starken Zweischeiben-Wankelmotor zu je 995 ccm stellte er einen technischen Meilenstein dar, der seiner Zeit 20 Jahre voraus war. Wurde der Ro 80 immerhin 10 Jahre lang gebaut, blieb es bei anderen Lizenznehmern bei Prototypen.Ab 1968 wurden am Institut für Kraftfahrzeuge an der TU Berlin von Dipl.-Ing. Volker Richter Versuche zu Schwingungsproblemen an Fahrzeugen mit Wankelmotor durchgeführt. Dies geschah in Zusammenarbeit mit der Daimler-Benz AG, die zwischen 1969 und 1974 verschiedene Versuchswagen mit Wankelmotoren baute. Es gab auch Motorräder mit Wankelmotoren, so wurden 1974 die Herkules W 2000 und die Suzuki RE-5 herausgebracht und 1976 folgte die holländische Van Veen. Die meisten dieser Projekte wurden Ende der 70er Jahre wieder eingestellt, ohne eine dauerhafte Produktion erreicht zu haben. Nur der Marke Mazda gelang es, Automobile mit Wankelmotoren in größeren Stückzahlen zu bauen.

32 Die Sicherheitstechnik wird Forschungsschwerpunkt Im Dezember 1963 übernahm Prof. Dr. techn. Ernst Fiala den Lehrstuhl und die Leitung des Instituts für Kraftfahrzeuge sowie die Prüfstelle.54 In den folgenden sieben Jahren wurden als Forschungsgebiete die Passive Sicherheit, Biomechanik, Fahrsimulation, unkonventionelle Antriebe, Fahrzeugdynamik, Fahrverhalten, Mess- und Prüftechnik sowie Simulation bearbeitet. Um Entwicklungen auf dem Gebiet der passiven Sicherheit zu testen, wurde 1967 ein Beschleunigungskatapult aufgebaut, das Gurt-, Airbag-, Kopfstützen- und Polsteruntersuchungen ermöglichte. Prof. Fiala begann zahlreiche Kfz-Unfall-Versuche, die er auch für die Industrie und Verbände durchführte. So erteilte 1967 der VDA dem Institut einen Auftrag zur Erforschung der Verkehrsicherheit des Kfz und des menschlichen Einflusses. 21 Einzeluntersuchungen in drei Sammelgebieten (Fahrmechanik, Unfallmechanik und Biomechanik) wurden bis 1969 durchgeführt, für die der VDA 651.000 DM zur Verfügung stellte. Dr. Fiala fing seine Berufslaufbahn als Versuchs- und Entwicklungsingenieur bei der Daimler-Benz AG an. 1959 begann er zusammen mit Karl Wilfert und Dipl.-Ing. Willi Reidelbach bei Daimler-Benz mit Unfallversuchen. Im gleichen Jahr gründete der VDA einen Ausschuss zur „Verkehrssicherheit der Fahrzeuge“. Anregungen dazu kamen aus Amerika, wo Hugh DeHaven und John Paul Stapp seit den 1940er Jahren die Verletzungsursachen bei Autounfällen analysierten und veröffentlichten. In 54

Ernst Fiala, geb. am 02.09.1928 in Wien, studierte an der TH Wien Maschinenbau, 1954 promoviert zum Dr. techn., 1955–1963 bei Daimler-Benz, 1963–1970 Ordinarius des Institus für Kraftfahrzeug TU Berlin, 1970–1988 bei VW, seit 1973 Vorstandsmitglied. Zahlreiche Ehrungen, Dr. hc. Der Universitäten Heidelberg und Kragujevac. 1971 Dieselring

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Abb. 75

Prof. Dr. Ernst Fiala, 1965

Abb. 76

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Prof. e.h. Béla Barényi, 1985

Deutschland waren es die Ford AG und die Daimler-Benz AG, die die Vorreiterrolle in der Sicherheitstechnik übernahmen, wobei in Stuttgart Béla Barényi sich bereits seit einigen Jahren mit Konstruktionen zur Verbesserung der passiven Sicherheit beschäftigte. 1951 erhielt er das grundlegende Patent auf die Sicherheitsfahrgastzelle mit deformierbarer Front- und Heckpartie (DE-854157). Rund 2.500 Patente dokumentieren sein Wirken auf dem Gebiet der passiven Sicherheit, dessen Nestor er ist. Dr. Fiala, der mit Barényi bei Daimler-Benz arbeitete, wurde von diesem angeregt, auf dem Gebiet der Sicherheitstechnik weiter zu forschen.55 An seine Beweggründe nach Berlin an die Technische Universität zu wechseln und seine Arbeiten am Institut für Kraftfahrzeuge, erinnerte sich Prof. Fiala 30 Jahre später:

55

Béla Barényi, geb. am 01.03.1907 in Hirtenberg / Niederösterreich, gest. am 30.05.1997 in Böblingen. Studium an der Lehranstalt für Maschinebau und Elektronik in Wien. Entwarf bereits in den 1920er Jahren ein Fahrzeugkonzept, das den VW Käfer vorwegnahm. In den 1950er Jahren konnte er seine Ansprüche gegenüber Porsche und Volkswagen durchsetzen. Seit 1939 arbeitete Barényi für die Daimler-Benz AG, mit dem Forschungsschwerpunkt passive Sicherheit. Auf diesem Feld gelangen ihm grundlegende Innovationen, so dass Barényi als Nestor der passiven Sicherheit gilt. Bis 1972 leitete er die Vorentwicklung bei Daimler-Benz. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen. 1994 wurde er in die Automotive Hall of Fame aufgenommen. Stieniczka, Norbert: Vom fahrbaren Untersatz zur Chromkarosse, in: Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie, hrsg von Rudolf Boch, Stuttgart, 2001, S. 196–198

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 77

Crashtest mit Raketenschlitten an der Nordkurve der Avus, 1966

Abb. 78 VW Käfer am Testbaum, im Hintergrund die Nordkurve und Avus-Turm, 1966

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„Das war ja auch der eigentliche Grund, weshalb ich 1963 nach Berlin gegangen bin: Unfallforschung und Unfallmechanik. Überhaupt der Mensch in seiner Beziehung zur Maschine. Als Fahrzeuglenker, als Fahrzeuginsasse und als Fußgänger auf der Straße.56 . . . Nach Berlin bin ich also hauptsächlich deshalb gegangen, weil mich ein Thema vor allen anderen wissenschaftlich interessiert hat: Wie man dem menschlichen Organismus überleben hilft. Die Gurte waren ja damals noch ziemlich neu, sie hingen zwar schon in machen Autos – aber jeder fragte sich: werden sie mich halten oder auseinanderschneiden? Und wir fragten uns: Machen wir sie breiter oder schmäler? Diese Frage ist im Grunde nichts anderes als eine Frage nach der mechanischen Festigkeit des menschlichen Körpers, eine Frage an die Biomechanik also. Und gleichzeitig hat mich auch die Aufgabe fasziniert, das menschliche Verhalten kybernetisch einzuordnen, also die natürlichen Automatismen des Menschen in die mathematischen Bandformeln der Regelungstechnik einzufangen. Denn nur dann kann der humanorientierte Techniker Nägel mit Köpfen machen. . . . Bei meinem Herumschnüffeln in Berlin fand ich zwar auch nicht viel mehr als einen zweikanaligen Messverstärker und ein paar Kriegsrelikte an der Wand, nämlich kaum übertünchte Flammenwerferspuren, aber dafür waren fünfzehn Mitarbeiter und zwei Psychologen da, die vor Arbeitswut brannten, es gab eine Menge statistisches Material und nicht zuletzt eine Institutskasse, in der nicht totale Ebbe herrschte. . . . Ganz ehrlich gestanden hat mich der Berliner Lehrstuhl auch deshalb gelockt, weil man uns die berühmte Nordkurve der Avus als Teststrecke versprochen hat. Das war leider nur eine kurze Hofffnung, aber immerhin, in der Unfallforschung ist trotzdem was weitergegangen bei uns in Berlin. . . . Ja, gearbeitet haben wir viel und fröhlich in Berlin, wir haben einen druckluftgesteuerten Katapultschlitten gebaut und zwei fallgewichtgesteuerte Beschleunigungsstrecken sowie mehrere Fahrsimulatoren, . . . Auch meine ersten Katalysatorversuche habe ich damals, . . . , angestellt. Und natürlich machten wir auch ausgedehnte Versuche über den Einfluss von Alkohol, wobei es zunächst Whisky zu trinken gab. Bald stellte sich heraus, dass es gar nicht so lustig ist, allein und auf Befehl Whisky zu trinken. Vor allem dann nicht, wenn die anderen schon mit todernstem Gesicht darauf warten, den Leistungsabfall festzustellen, der ja zwangsläufig kommen muss. Dann sagten uns die Gerichtsmediziner, die wir zur Assistenz beigezogen hatten, dass es unverantwortlich sei, die Versuchspersonen binnen kürzester Zeit so massiv trinken zu lassen – also auf ein Promille oder mehr. Wir sollten, wenn’s schon sein müsste, besser Bier anbieten, da verlaufe die Sache in langsameren Bahnen. Die beleibteren Personen mussten aber 56

Fiala, Ernst: Soviel Auto braucht der Mensch, Pfäffikon, 1990, S. 33

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Unmengen von Bier in sich hineingießen, ehe sie Wirkung zeigten. Und oft revoltierte schon vorher der Magen. Jetzt rieten unsre medizinischen Freunde zu vorgewärmten Bier, um die Mägen der Versuchskaninchen zu schonen. Aber da war es überhaupt aus und vorbei. Wir konnten beim besten Willen keine freiwilligen Versuchspersonen mehr finden.“57

Abb. 79

Crashtest mit Dummies, 1966

Mit seinen letzten Bemerkungen bezieht sich Fiala auf den bemerkenswerten Beginn der Zusammenarbeit von Fahrzeugtechnik und Humanmedizin,die am Institut für Kraftfahrzeuge in Berlin sehr früh praktiziert wurde.Von medizinischer Seite war es Prof. Dr. med.Walter Krauland, ebenfalls Österreicher, der mit Prof. Fiala die ersten Untersuchungen durchführte.58 Ein weiterer Österreicher, mit dem Prof. Fiala in Berlin zusammenarbeitete, war Prof. Dr.–Ing. Eugen Sänger.59 Sänger war Raketenforscher und hat mit Prof. Fiala bereits Ende der 1950er Jahre Heißwasserraketen kon57 58

59

Fiala, S. 34–37 Walter Krauland geb. am 10.04.1912 in Mooswald, gest. am 13.08.1988 in Vöcklabruck. Seit 1955 an der Freien Universität Berlin Institut für Rechtsmedizin,Universitätsprofessor für gerichtliche Medizin in Münster und Berlin, Vorstand des Institutes für Rechtsmedizin an der FU Berlin. Eugen Sänger, geb. am 22.09.1905 in Preßnitz, gest. am 10.02.1964 in Berlin. Bis 1935 an der TH Wien, nach dem Krieg in Frankreich, dann ab 1954 in Stuttgart, ab 1957 Lehrstuhl an der TU Berlin.

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Abb. 80

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Unfallopfer-Untersuchungen, 1966

struiert, die zum Antrieb von Testwagen bei Crashtests eingesetzt wurden. In dem Kessel der Rakete wird das Wasser auf 260 Grad erhitzt, wobei ein Druck von 50 bar entsteht. Durch das Öffnen eines Ventils, strömt das Wasser aus und der Druck sinkt sofort. Das Wasser verdampft und entweicht mit hoher Geschwindigkeit aus der Düse. Der dadurch entstehende Rückstoß diente als Antriebskraft. Die Rakete war auf einen kleinen Wagen montiert, der in einer Leitschiene fuhr und das Kraftfahrzeug auf bis zu 100 km/h beschleunigte. Trotz seiner zahlreichen Kontakte, die zu weiterführenden Innovationen in der Sicherheitstechnik geführt haben und den erfolgreichen Forschungen rund um das Kraftfahrzeug, blieb Prof. Fiala nicht in Berlin. Hintergrund für seinen Wechsel von Berlin nach Wolfsburg zur Volkswagen AG war die Reformbewegung der deutschen Universitäten Mitte der 1960er Jahre. Ständig steigende Studentenzahlen standen einem relativ konservativen Lehrprogramm gegenüber, das den veränderten wirtschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr angepasst war. Die Studenten beklagten eine Reformunwilligkeit der Universitäten und ihres Lehrkörpers und organisierten sich in einer „Studentenbewegung“. Beeinflusst wurde die Bewegung auch durch den Vietnam-Krieg und die Protestbewegungen in den USA gegen den Krieg. Die Schärfe der Auseinandersetzungen, die bis hin zu militanten Aktionen reichten, nahm im Verlauf der Zeit zu und fanden in Berlin mit dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und dem Mordan-

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 81

Abb. 82

Crashtest an der Nordkurve der Avus 1966

Heißwasser-Rakete zum Beschleunigen bei Crashtests, 1960

schlag auf Rudi Dutschke am 11.April 1968 ihren Höhepunkt. Zwar war die TU nicht ein Zentrum der Auseinandersetzungen, wie die Freie Universität Berlin, aber im neuerrichteten „Auditorium maximum“ der TU wurden zahlreiche Massenveranstaltungen von den Studentenbewegungen orga-

Immo Sievers

Abb. 83 Versuchsschlitten, 1966

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Abb. 84 Versuchsanordnung, 1966

nisiert. Die durch die Hochschulreform 1969 eingeleitete Änderung der Universitätsstruktur betraf auch das Institut für Kraftfahrzeuge, das in der Folgezeit aufgeteilt wurde in die Fachgebiete Kraftfahrzeuge und Kraftfahrwesen. Zusammen mit dem Fachgebiet Spurgebundene Fahrzeuge wurden die Fachgebiete im Institut für Fahrzeugtechnik beheimatet.Diese Entwicklung konnte man 1969 absehen und sie war wohl letztendlich entscheidend für den Entschluss von Prof. Fiala, das Institut und Berlin zu verlassen oder wie er es selbst formulierte: „vor der Hochschulreform davonzulaufen“.60

33 Das reformierte Institut Nach dem Weggang von Prof. Fiala wurde das Institut zwei Jahre kommissarisch von Prof. Dr.–Ing. Günter Großmann geleitet.61 Während dieser Zeit wurden der Lehrstuhl und das Institut für Fahrzeugtechnik aus der Fakultät Maschinenwesen herausgelöst und als erweitertes Institut für Landverkehrsmittel in den neugegründeten Fachbereich „Verkehrswesen“ eingegliedert. Die Kraftfahrzeugtechnik wurde in zwei Fachgebiete aufgespalten: Fachgebiete Kraftfahrzeuge und Fachgebiet Kraftfahrwesen. Hin60

61

Rürup, Reinhard: Die Technische Universität 1879–1979, in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 37 Karl Günter Großmann, Prof. Dr.-Ing., geb am 16.07.1925, gest. am 09.01.1998

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

zu kam das Fachgebiet „Spurgebundene Fahrzeuge“, dessen Leitung 1975 Prof. Dr.-Ing. Helmut Bugarcic übernahm. Auf den Lehrstuhl Kraftfahrzeuge wurde Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel 1972 berufen, auf den Lehrstuhl Kraftfahrwesen 1973 Prof. Dr.-Ing. Hans-Peter Willumeit.62 Damit war das Reformieren noch nicht beendet, bereits 1975 wurden die beiden Kraftfahrzeug-Fachgebiete im Institut für Fahrzeugtechnik zusammengefasst und dann 1994 dem Institut für Straßen- und Schienenverkehr, dieses wiederum dem erweiterten Fachbereich „Verkehrswesen und Angewandte Mechanik“ zugeordnet. Man erhoffte sich von dieser Integration der Fachgebiete des Landverkehrs eine vernetzte Behandlung der miteinander verknüpften Herausforderungen und Probleme des zukünftigen Landverkehrs. Anfang der 1970er Jahre gab es vor allem drei Aufgaben, denen sich die Automobilindustrie und Politik weltweit stellen musste. Dies waren die hohen Zahl von Unfalltoten im Straßenverkehr, die erste und zweite Ölkrise (1973/74 und 1979–1982) sowie die sich durchsetzende Erkenntnis über den Einfluss von Emissionen auf die Umwelt.

Abb. 85

Prof. H. Appel

Abb. 86

Willumeit

Abb. 87

Bugarcic

Auf allen drei Feldern war das Institut für Kraftfahrzeugtechnik mit Forschungen aktiv und trägt seitdem an der Reduzierung dieser Probleme wesentlichen Anteil. So ist in Deutschland die Zahl der Verkehrstoten von ca. 20.000 Anfang der 1970er Jahre auf ca. 15.000 1980, ca. 10.000 1985, ca. 7.500 im Jahr 2000 und noch einmal auf 5.094 im Jahr 2006 gesunken. Die Folgen der Ölkrisen sind nicht nur anhand der durchschnittlichen 62

Hermann Appel, geb. am. 21.11.1932 in Lüneburg, gest. am 18.07.2002 in Berlin. 1965 Promotion an der TH Braunschweig, dann bei Hanomag und VW tätig. 1972 Ruf auf den Lehrstuhl Kraftfahrzeugtechnik an die TU Berlin, 1998 Emeritierung und Bundesverdienstkreuz Hans-Peter Willumeit, geb. 31.12.1937in Berlin, gest. am 16.07.2000 ebd. Studierte von 1956 bis 1964 Maschinenbau an der TU Berlin, Mitarbeiter von Prof. Fiala bis 1970. Ging mit ihm zuVW, nahm 1973 den Ruf an die TU Berlin auf den Lehrstuhl Kraftfahrwesen an.

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Verbrauchswerte von Kraftfahrzeugen abzulesen, sondern dokumentieren sich auch in der Durchsetzung des Dieselmotors für Pkw in Europa und in den Produktionszahlen weltweit. Zwar hatten die Krisen auch Auswirkungen auf den Absatz in Deutschland, aber wesentlich stärker wirkten sie sich auf die amerikanische Automobilindustrie aus. Gleichzeitig übernahmen die USA in den Jahren zwischen 1966 und 1976 eine Vorreiterrolle in der Reglementierung von Abgaswerten. Die seit Mitte der 1970er Jahre dort serienmäßig eingebauten ungeregelten Katalysatoren vermochten lediglich aber den Ausstoß von Kohlenmonoxid und Kohlenwasserstoffen zu reduzieren, Stickoxide blieben davon unberührt.63 Das Institut für Kraftfahrzeugtechnik nahm sich diesen Herausforderungen auf unterschiedlichen Feldern an.

34 Anforderungen an Außenkanten von Lkw Schon seit 1965 befaßte sich als erstes Institut in Deutschland Berlin schwerpunktmäßig mit Kraftfahrzeugsicherheit und widmete sich im Hinblick auf die hohen Unfallzahlen, die durch mangelnde passive Sicherheit an den Pkw verursacht wurden,diesen Themen.1974 erließ die Europäische Gemeinschaft einen Anforderungskatalog für Pkw-Außenkanten. Nicht berücksichtigt wurden dabei Unfälle, die durch Lkw verursacht wurden oder bei denen Lkw auf Grund ihrer Konstruktion das Unfallgeschehen verschärften. Im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen übernahm es das Institut 1976, einen Anforderungskatalog für Außenkanten an Lkw zu erstellen. Unter Leitung von Prof. Appel befassten sich Dipl.-Ing. Volker Middelhauve und Dipl.–Ing. Alfred Heger mit den verschiedenen Aspekten der passiven Sicherheit von Lkw, die aus den Besonderheiten der äußeren Kontur des Lkw resultierten. Untersuchungsziel war das Verhalten der spezifischen Lkw-Kontur gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern bei verschiedenen Unfalltypen. Anhand von Statistiken und Analysen von Unfallsimulationen wurde die Häufigkeit bestimmter Unfalltypen ermittelt. Es ließen sich typische Bewegungsabläufe rekonstruieren, was dazu führte, dass man konstruktive Änderungsvorschläge erarbeitete, die wiederum durch experimentelle Versuche auf ihre Eignung überprüft wurden. Der wohl folgenreichste und wie sich später herausstellte erfolgreichste Lösungsvorschlag war eine Verbesserung des Unterfahrschutzes am Heck und seitlich am Lkw. Diese Unterfahreinrichtung sollte sowohl stabil sein als auch das Gesamtgewicht des Lkw nicht wesentlich erhöhen. Weiterhin sollte sie energieabsorbierend und glattflächig sein. Um die Verletzungsgefahren bei Frontalzusammenstössen zu reduzieren, wurde unter dem Begriff „Partnerschutz“ vorgeschlagen, die Lkw-Frontpartie so zu konstru63

Kaiser, Walter: Technisierung des Lebens seit 1945, in: Hrsg. König, Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte, Berlin, 1997, Bd. 4, S. 432 ff.

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Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 88 1976

Versuche zum Heckaufprall, Abb. 89 Unfallsimulation ohne Unterfahrschutz

ieren, dass sie einen Teil der Aufprallenergie aufnehmen sollte. Alle Teile der Außenfläche des Lkw, auf die ein Fußgänger, Zweirad- oder Autofahrer prallen kann, sollten keine spitzen oder scharfen Elemente aufweisen dürfen, wie z. B. nach außen gebogene Stoßstangen oder feststehende Außenspiegel. Auf Grund der Forschungsergebnisse des Institutes beschloss die Bundesregierung zum 1. Januar 1992 für alle neuzugelassenen Lkw den glattflächigen Seitenunterfahrschutz vorzuschreiben.

Abb. 90 1966

Versuche zum Seitenaufprall, Abb. 91 Versuche zum Heckaufprall, 1982

35 Rollstuhlfahrer und Telebusse Der Omnibushersteller „Neoplan Gottlob Auwärter GmbH“ suchte Ende der 1970er Jahre nach Möglichkeiten einen Standort in Berlin zu errichten. Eigentlich sollte es nur ein Servicestützpunkt werden, um die Omnibusse, die auf den Transitstrecken von und nach West-Berlin eingesetzt wurden, warten zu können. Nach der Präsentation eines Kleinbusses, den Neoplan im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) für den Nahverkehr und die Behindertenbeförderung ent-

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wickelt hatte und der unter dem Begriff „Telebus“ 1979 vorgestellt wurde, schien eine Förderung durch den Senator für Wirtschaft und Verkehr möglich. Hierzu musste das Unternehmen aber einen Produktionsstandort in West-Berlin errichten. Dies geschah in Berlin-Spandau, wo im Juli 1980 mit dem Bau eines Zweigwerkes und Servicezentrums an der Freiheit begonnen wurde. Bereits am 27. März 1981 lief der erste Bus Typ N 906 T (T für Telebus) dort vom Band. Speziell für den Behinderten-, insbesondere Rollstuhlfahrer-Transport waren diese Kleinbusse entwickelt worden, die dank einer Niveauregulierung ihre Fußbodenhöhe von 23 cm über der Fahrbahn auf 15 cm absenken konnten. So konnten Rollstuhlfahrer eben vom Bürgersteig durch eine breite Hecktür oder über eine Rampe durch die Seitentür in das Fahrzeug hineinfahren. Insgesamt konnten neun Personen und vier Rollstühle befördert werden. Um ihre Sicherheit, insbesondere der Rollstuhlfahrer zu optimieren, wurden am Institut für Kraftfahrzeuge zahlreiche Tests durchgeführt. Ca. 300 Telebusse sind im Spandauer Werk gebaut worden und waren häufig im Berliner Stadtverkehr anzutreffen.64

Abb. 92 Neoplan Bus Typ 906 T „Tele- Abb. 93 Insassenschutz für Rollstuhlbus“ fahrer

36 Das Uni-Car-Projekt In diese Zeit fiel auch ein weiteres vom Bundesminister für Forschung und Technologie ausgeschriebenes Forschungsvorhaben, das 1978 den Personenwagen der Zukunft unter den Aspekten Energie- und Ressourcenschonung, Umweltfreundlichkeit, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nutzwert entwickeln sollte. Die als Ergebnis zu präsentierenden Fahrzeuge sollten entscheidende Verbesserungen gegenüber den damaligen Serienfahrzeugen aufweisen und Leitlinien für zukünftige Forschungsarbeiten vorzeichnen. Außer einigen deutschen Automobilherstellern, schlossen sich vier fahrzeugtechnische Institute der Hochschulen Aachen, Darmstadt, Stutt64

Sievers, Zweirad-Vierrad-Allrad, S. 103 f

100 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

gart und Berlin zusammen, um an der Ausschreibung teilzunehmen. Die ursprünglich an die Industrie gerichtete Ausschreibung forderte auch einige Hochschullehrer heraus, die ganz im Riedlersche Sinne beweisen wollten, dass die theoretische Lehre durchaus in praxisnahe Zukunftstechnologien münden kann. Die Entwicklungsaufgaben wurden unter den vier Instituten aufgeteilt, wobei das Berliner Institut für die Karosseriestruktur, den Fußgänger- und Insassenschutz, die Ergonomie, Sitze, Pedalerie und Lenksäule zuständig war. Die Gestaltung der Karosserie wurde nach aerodynamischen Erkenntnissen umgesetzt, wobei eine optische Nähe zum K-Wagen von 1937 (siehe Abb. 52) nicht abgestritten werden konnte. Auch der Luftwiderstandswert von unter cw 0,25 lag durchaus noch in den Bereichen von 1937.

Abb. 94

Uni-Car Konstruktionsmodelle auf der IAA, 1981

Ansonsten aber brach das Uni-Car mit vielen traditionellen Werten, so verbrauchte der Vierzylinder-Dieselmotor im Schnitt nur 6,55 Liter auf 100 km und erlaubte trotzdem eine Höchstgeschwindigkeit von ca. 190 km/h. Wichtiger als dieser Wert waren aber die Schutzmaßnahmen für Fußgänger und Zweiradfahrer und der Schutz der Insassen bei einem seitlichen Aufprall. Hieran hatte das Berliner Institut besonders gearbeitet und so sorgte die Formgebung des Vorderwagens und die Verwendung von nachgiebigem, energieaufnehmendem Kunststoff für eine deutliche Reduzierung von Verletzungen. Um den Seitenaufprallschutz der Mitfahrer zu verbessern, wurden nicht nur die Türen verstärkt, sondern darüber hinaus stützten sich die beiden mittleren Türpfosten (B-Säulen) über einen starren

Immo Sievers 101

Abb. 95

Uni-Car, 1981

Abb. 96

Uni-Car, 1981

102 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Querverbund hinter den Vordersitzen gegeneinander ab. Die massive Innenausbauweise führte zu einem Mittelpfosten zwischen den Vordersitzen, der auch die Dreipunktgurte mit Gurtstrammer aufnahm (siehe Abb. 94). Schon dieses Konstruktionsdetail zeigt, um was es der Arbeitsgemeinschaft ging. Nicht ein serientaugliches Fahrzeug sollte konzipiert, sondern vielmehr ein Ideenträger vorgestellt werden, der Lösungsmöglichkeiten für die genannten Problemfelder anbot.

Abb. 97

Uni-Car Innenraum, 1980

Zudem wollte die Arbeitsgemeinschaft beweisen, dass Hochschulen im Ideenwettbewerb mit der Industrie ein komplexes Forschungsvorhaben unter Zeitdruck praxisorientiert angehen und zu Ende führen können. Und tatsächlich konnten im September 1981 die vier Prototypen der Öffentlichkeit präsentiert werden. Im Anschluss an die IAA 1981 begann eine einjährige Erprobungsphase, in der die Uni-Cars ausführlichen Prüfungen unterzogen wurden und ihre Qualitäten in der Praxis beweisen mussten.65 Dass die TU Berlin und das Institut für Kraftfahrzeuge nicht nur zukunftsorientiert, sondern auch durchaus traditionsbewusst ist, beweist die Tatsache, dass sowohl das Berliner Uni-Car heute noch existiert, als auch noch die Rohkarosserie und das 1981 ausgestellte Konstruktionsmodell. 65

Uni-Car Der Forschungs-Personenwagen der Hochschularbeitsgemeinschaft, Sonderdruck aus ATZ 84 (1982)

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37 Das Institut boxt sich durch Für das Institut und Dipl.–Ing. Alfred Heger sollte sich auf Grund des Uni-Car-Projektes ein neues Forschungsgebiet ergeben,das im Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen erstaunen mag. Die Bayer AG und die Phoenix AG hatten Karosserie-Außenteile aus Kunststoff für das Uni-Car hergestellt. Ziel war es, die Sicherheit für Fußgänger bei Frontunfällen zu erhöhen, indem die Frontpartie und die Motorhaube Energie absorbieren sollten, ähnlich dem Grundgedanken des „Partnerschutzes“ einige Jahre zuvor beim Lkw-Außenkanten-Projekt. Die Nachgiebigkeit wurde durch die Verwendung von PU-Schaumstoffen erreicht, die der Chemiekonzern lieferte. Die Motorhaube erhielt ihre Basissteifigkeit durch ein Aluminiumoder GFK-Traggerüst, darüber lag eine ca. 50 mm starke energieabsorbierende Schaumstoffschicht, gefolgt von einer stabilisierenden, dünnen GFK-Schicht, die wiederum mit einer lastverteilenden, zähelastischen Integralschaumschicht abgedichtet war. Die Bayer AG lieferte diese Schaumschicht nicht nur für das Forschungsprojekt an die TU Berlin, sondern auch an eine Firma, die Ausrüstungsgegenstände für Kampfsportarten herstellte. Insbesondere sollte erprobt werden, ob nicht die traditionelle Verwendung von Leder bei Boxhandschuhen und Boxhelmen durch Kunst- bzw. Schaumstoff zu ersetzen sei. Schließlich beauftragten die Bayer AG und der

Abb. 98

Prüfverfahren für Boxschutz-Ausrüstungen, 1982

104 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Amateurbox-Weltverband „Association Internationale de Boxe Amateure“ (AIBA) das Institut zu erforschen, ob der energieabsorbierende Schaumstoff Kopfverletzungen beim Boxen reduzieren könne. In Zusammenarbeit mit Prof. Krauland vom Gerichtsmedizinischen Institut der FU Berlin wurden verschiedene Aspekte der Gewalteinwirkung auf den Schädel und das Gehirn (Gehirntraumata) erforscht und der Nutzen der Schaumstoffauskleidung bei Boxhelmen nachgewiesen. Bis heute werden alle weltweit von der AIBA zugelassenen Boxhandschuhe und Kopfschützer auf ihre Haltbarkeit und Dämpferwirkung im Institut für Kraftfahrzeuge geprüft. Womit bewiesen ist, dass das Institut so schlagfertig ist wie vor 100 Jahren.

38 Abgaszentrum Im Hinblick auf das sich in den 1970er Jahren verstärkende Bewusstsein für die Zusammenhänge von Emissionen und Umweltschäden sowie den vor allem in den USA eingeführten Abgasnormen wurden auch in Deutschland die Forschungen zu diesem Thema verstärkt. So wurde 1979 ein neues Abgasmesszentrum (AMZ) auf dem Gelände der Technischen Prüfstelle für den Kraftfahrzeugverkehr an der Franklinstraße unter Leitung von Prof. Appel eingerichtet und offiziell am 10. Juni 1981 in Betrieb genommen. Der Prüfstand und das Gebäude kosteten ca. 3 Millionen DM, die aus den Mitteln der Technischen Prüfstelle und des Instituts sowie durch Zuwendungen des Berliner Senats und des BMFT stammten. Dafür gehörte das AMZ mit seinen technischen Möglichkeiten in den 1980er Jahren zu den modernsten Anlagen Europas. Ausgestattet war das AMZ mit einer Abgasmessanlage und einer Partikelmessanlage sowohl für Pkw als auch für Lkw, je einem Rollenprüfstand für Pkw, Lkw und Motorräder, einer Abgasverdünnungseinrichtung, einem Leistungsprüfstand für Pkw und Konditionierungskammern. Mit diesen Messeinrichtungen konnten integrale und modale Abgas- und Kraftstoffverbrauchsmessungen an Otto- und DieselPkw, an Lkw sowie an Motorrädern durchgeführt werden. Um die Temperaturen während der Testläufe konstant halten zu können, war der gesamte Prüfungsbereich klimatisiert. So konnten Umweltbedingungen wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit simuliert werden. Verschiedene Fahrzyklen, bis zu 160 km/h und Motorleistungen bis 56 kW waren damit nachstellbar. Die Test- und Prüfstandssteuerung erfolgte durch einen Leitrechner, so dass bereits ein automatisierter Testbetrieb möglich war. Die Software war speziell für Abgasuntersuchungen erarbeitet worden und ermöglichte die schnelle Durchführung aller gängigen Testabläufe, Eichungen und Protokollausdrucke. Zur Bearbeitung spezieller Forschungsaufgaben gab es verschiedene Sonderprüfstände. Neben den automatisiert ablaufenden Messungen der limitierten Abgaskomponenten Kohlenmonoxid, Stickoxide und Partikel konnten auch die nicht limitierten Schadstoffe, wie z. B.

Immo Sievers 105

Abb. 99

Strukturbild des Abgas- und Verbrauchsprüfstandes, 1982

Benzol und Kohlendioxid an den Fahrzeugständen gemessen werden. Die Bestimmung der gas- und partikelförmigen Emissionen von Lkw erfolgte auf einem vom Institut selbstentwickelten Prüfstand.66 Ein weiteres Forschungsgebiet war in diesem Zusammenhang die Erprobung alternativer Kraftstoffe wie LPG (Liquified Petroleum Gas), Elektroenergie, Methanol (als M15 und M100) oder bleifreies Benzin. Hier galt es die Unterschiede im Abgas- und Verbrauchsverhalten im Vergleich zu herkömmlichen Kraftstoffen, wie Vergaser- oder Dieselkraftstoff aufzuzeigen. Die Voraussetzung für solche Vergleiche ist die Anpassung des Motorkonzepts an den jeweiligen Kraftstoff. Es sollte nachgewiesen werden, dass neue Motorenkonzepte tatsächlich Vorteile bei der Abgasemission und dem Verbrauch gegenüber den herkömmlichen Konstruktionen boten. Damit verbunden war die Entwicklung neuer Getriebe und Motor-GetriebeManagementsysteme. Ein dreijähriger Forschungsauftrag des BMFT begann im Dezember 1979 und diente der Auswertung von Versuchsergebnissen an 1.000 Fahrzeugen, die mit Mischkraftstoffen (z. B. M15 = 85% Ottokraftstoff und 15% Methanol) fuhren, ermöglichen. Weitere Projekte auf diesem Gebiet waren die „Demonstration alternativer Energien im Straßenverkehr“ und die „Erprobung von bleifreiem Benzin“. Für Versuche im innerstädtischen Verkehr eignete sich West-Berlin als eingeschlossenes Verkehrsgebiet bis 1989 besonders. Und so gab es eine Vielzahl von Kooperationspartnern aus der Herstellerbranche, der Mineralölindustrie bis hin zu Verbraucherorganisationen.

66

Forschung und Entwicklung, hrsg. von TU Berlin, Institut für Fahrzeugtechnik, März 1982

106 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 100 VW Golf auf dem Rollenprüfstand des AMZ, 1981

Abb. 101 Alternative Energien für den Straßenverkehr: v.l.n.r. Golf mit TreibgasAntrieb, Elektrofahrzeug, Golf mit Methanol M 15-Motor vor dem Berliner Olympiastadion, 1980

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39 Unfallanalyse und Rekonstruktion Ein weiteres Forschungsgebiet, das Anfang der 1980er Jahre am Institut bearbeitet wurde, war die Unfallerhebung. Hierbei wurden, in Zusammenarbeit mit der TU Hannover von Unfallchirurgen und Psychologen Straßenunfälle vor Ort aufgenommen. Alarmiert durch die Feuerwehr, fuhr das Team zur Unfallstelle, sicherte alle wichtigen Spuren, den Fahrweg und befragte die Beteiligten. Zum Einsatz kam dabei auch eine Stereomesskamera. Zu den Unfallunterlagen gehörten die medizinische Diagnose, die Verletzungsursachen und die Unterlagen der Unfallanalyse. Zusammengefasst wurden die Erkenntnisse in einem Großrechner gespeichert und ausgewertet. So hoffte man Erkenntnisse für die innere Sicherheit des Pkw sowie für die Wirksamkeit und Funktionsschwächen von Gurten und Kopfstützen zu erlangen. Später kamen detaillierte Untersuchungen zur Unfallsituation von Fußgängern, Rad- und Motorradfahrern dazu. Dabei wurden Aspekte der aktiven wie der passiven Sicherheit,des Selbst- und des Partnerschutzes untersucht. Ausgehend von diesen Erhebungen und von Crashversuchen wurden rechnerische und experimentelle Verfahren zur technischen Unfallrekonstruktion entwickelt. Vor allem die Geschwindigkeiten vor der Kollision waren hierbei von Bedeutung. Es wurden verschiedene rechnerische und graphische Verfahren entworfen und deren Ergebnisse mit realen

Abb. 102

Unfallanalyse mit Stereomesskamera

108 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 103

Abb. 104

Unfallrekonstruktion, um 1980

Strukturbild der Crashanlage Fallgewichtsantrieb, um 1980

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Unfällen verglichen. Basierend auf der Kraftrechnung, der Stoßtheorie und Energiebetrachtungen wurden Verfahren für den Pkw-, Fußgänger- und Zweiradunfall entwickelt. Durch den direkten Vergleich von Verletzungen in realen Unfällen mit den mechanischen Belastungen in vergleichbaren, simulierten Unfällen hat das Institut für Fahrzeugtechnik eine Verfahrenslehre entwickelt, die es gestattet, biomechanisch begründete Belastungsgrenzen festzustellen und daraus am Dummy messbare Schutzkriterien abzuleiten.

40 Hydropulsanlage und Fahrsimulatoren Die Hydropulsanlage wurde gebaut von der Firma Schenck, Darmstadt, und diente zur Schwingungsanregung von kompletten Fahrzeugen (Pkw und Motorräder) sowie beliebigen Fahrzeug-Komponenten in niederfrequentem Bereich.Die Anlage bestand aus einem Straßensimulator,der über 4 Zylinder verfügte, die 16 kN leisteten und einen Hub von 250 mm hatten. Es gab noch drei weitere Zylinder mit geringerer Leistung (z. B. 6 kN und 100 mm Hub). Die 4 Zylinder des Straßensimulators waren je nach Radstand und Spur verstellbar und auf einem Schwingfundament angebracht. Mit der Anlage wurden Dauer- und Zeitfestigkeit von Fahrzeugen geprüft. So konnte eine Fahrt bei schlechten Straßenverhältnisse simuliert werden und im Nachgang das Chassis und Zubehörteile auf Schäden untersucht werden. Auch die Fahrt auf Straßen unterschiedlicher Güte war nachzustellen und dabei konnte der Sitzkomfort im Fahrzeug getestet werden. Dabei konnte die Empfindlichkeit des Menschen gegenüber Vertikal- und Kippschwingungen überprüft werden. Die Bestimmung von Systemparametern war möglich, dynamische Reifen- und Dämpferkennlinie konnten gemessen werden. Am Institut wurden bereits seit Mitte der 1970er JahreVersuche mit Fahrsimulatoren unternommen, wobei die technischen Möglichkeiten anfangs nur sehr eingeschränkt waren. Die Fahrsimulatoren sollten Aufschluss geben, wie sich der Mensch als Fahrzeugführer in bestimmten, vorzugegebenen Situationen verhält. Man versuchte sogenannte Fahrermodelle zu entwerfen, um das menschliche Verhalten berechenbarer zu gestalten. Diese ersten Versuche zum Forschungsgebiet Mensch-Maschine erlaubten es, komplexe Untersuchungen im Hinblick auf das Wechselspiel Fahrer und Fahrumgebung bis an die Grenzen des menschlichen Leistungsvermögens durchzuführen. Darauf aufbauend sollte der Fahrsimulator zur Unterstützung der Fahrerausbildung herangezogen werden. Mit einem 1986 auf Basis eines VW Polo aufgebauten Fahrsimulators, konnte die Sichtsimulation mit Hilfe einer Grafik-Workstation ausprobiert werden. Auch die Simulation von Lenkkräften und Geräuschen sollte möglich sein. Schwerpunkte der Forschung waren die Blickbewegungsstudien und Belastungstests.

110 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 105

Fahrsimulator 1976

Abb. 106

Fahrsimulator 1986

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Abb. 107

Hydropulsanlage in der Halle K, 1990

41 Die Aus-Gründung von Unternehmen Zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der Technischen Universität 1979 wurden Prognosen und Perspektiven der einzelnen Studiengänge, Ausbildung, Forschungsschwerpunkte und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angestellt. Für den Bereich Verkehrswesen ging man davon aus, dass das Verhältnis Individual- und Massenverkehr sich zu einem Problem entwickeln würde, bei dem der Mensch mehr Anspruch auf eine humane Umwelt haben sollte. Dieses Problem hoffte man mit technischen Mitteln lösen zu können, die auch am Institut für Fahrzeugtechnik gefunden werden sollten. Angesichts der starren universitären Strukturen war es nicht einfach, die Lehre stets mit den modernsten Methoden und fachlichen Inhalten zu gestalten. Dieses Problem wurde noch durch die steigenden Studentenzahlen in dieser Dekade verstärkt.67 Prof. Appel ergriff daher 1983 gerne die sich bietende Gelegenheit, in Kooperation mit der Neoplan Auwärter GmbH & Co, der Studiengesellschaft Nahverkehr (SNV) und der VW AG die Ingenieurgesellschaft Auto und Verkehr (IAV) zu gründen. Es wurde das erste an-Institut der TU Berlin. Diese Gesellschaft konnte viel besser als die TU selber auf die Bedürfnisse der Industrie eingehen und für 67

Hans-Joachim Rieseberg: Die Technische Universität Berlin im Jahre 1979 Perspektiven und Planungen: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 543–563

112 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

sie Forschungs- und Entwicklungsaufträge durchführen. Sie wurden von studentischen Mitarbeitern unter Anleitung erfahrener Ingenieure neben ihrem Studium bearbeitet und boten ihnen die Chance,aktuelles Praxiswissen zu erwerben. Die IAV GmbH entwickelte sich zu einem erfolgreichen Unternehmen; es hatte 1998, beim Ausscheiden von Hermann Appel, bereits 1.200 Mitarbeiter, darunter 200 Studenten. Inzwischen ist die Firma zu einem der größten Ingenieurdienstleister Deutschlands geworden.68 1991 wurde als zweites Beispiel die Ingenieurgesellschaft für Automobiltechnik mbH (IAT) von Harald Morres und Gerhard Lutter, zwei ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeitern des Fachgebietes Kraftfahrzeuge, gegründet.Auch hier war Prof.Appel beratend tätig und in enger Kooperation mit der TU Berlin wurden ursprünglich Versuche zur passiven Sicherheit von Automobilen unternommen. Der Auslöser zur Gründung der Gesellschaft war die vorübergehende Schließung der Crashanlage bei Volkswagen in Wolfsburg wegen Renovierungsarbeiten.

Abb. 108 1998

Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel vor dem Firmenschild der IAV GmbH,

Auf Grund der traditionellen Kontakte von VW zur TU Berlin und Prof. Appel wurde eine Zusammenarbeit verabredet. Da sich aber die Vertragsverhandlungen zwischen VW und der Universitäts als schwierig erwiesen, kam man auf die Idee, eine eigene Gesellschaft zu gründen, die in Zusammenhang mit dem Institut stehen sollte. Bis in unsere Tage blieb Volks68

Peter Radunski in: Abschiedskolloquium für Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel am 25.09.1998, S. 19

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wagen ein Kunde der IAT, die wiederum den engen Kontakt zum Institut aufrecht erhielt. So ist auch der heutige Geschäftsführer der IAT, Thomas Deter, ein Absolvent der TU Berlin, wo er Verkehrswesen studierte. Nach einer Ingenieurstätigkeit für SEAT in Barcelona, kehrte er 1993 als Assistent des Fachgebietes Kraftfahrzeuge an die TU Berlin zurück. 1997 wechselte Deter zur IAT, deren Geschäftsführung er im Jahr 2000 übernahm. Fast alle Mitarbeiter der IAT sind Absolventen der TU Berlin und so erfüllt sich die ursprüngliche Idee der Firmengründung: die Studenten erhalten eine praxisnahe Ausbildung, die Versuchsanlagen der TU bleiben auf dem neuesten Stand und die Gesellschaft hat Anteil an der aktuellen Forschung des Instituts. IAT entwickelt und produziert heute Anlagen vor allem für die Crashtechnik, führt komplexe Berechnungen zur passiven Sicherheit durch und entwickelt Auswertungssoftware für Sicherheitstests. Als drittes Beispiel für eine Firmengründung mit enger Bindung an das Institut sei das 1992 von der Petri AG und Dipl.-Ing. Heinz-Dieter Adomeit, ebenfalls ein Absolvent des Fachgebiets Kraftfahrzeuge und Doktorand bei Hermann Appel, gegründete Entwicklungszentrum für Fahrzeugtechnik und Fahrzeugsicherheit in Berlin-Pankow erwähnt. Unter seinem Einfluss stiftete die Petri AG 1998 eine C4-Professur für den Bereich Kraftfahrzeuge für die Dauer von fünf Jahren. Sie stellte so sicher, dass für Hermann Appel nach dessen Emeritierung ein Nachfolger berufen werden konnte und damit die Tradition der von ihm vertretenen Forschungsfelder weiter geführt wurde. Nach dem Ausscheiden von Prof. Willumeit in den Ruhestand sollten dann die beiden Fachgebiete Kraftfahrzeuge und Kraftfahrwesen unter der Leitung dieses neu berufenen Professors vereinigt werden. Als Firma, die auf dem Gebiet der Kraftfahrzeug-Sicherheitstechnik Pionierarbeit geleistet hatte, war Petri an einer engen Kooperation mit entsprechenden Fachleuten an der TU Berlin interessiert. Inzwischen wurde die Firma von der japanischen Takata-Gruppe übernommen. Die Beziehungen zur TU sind dadurch eher noch verstärkt worden. Takata errichtet in unmittelbarer Nachbarschaft des TIB im Wedding gegenüber dem Sitz des Fachgebiets Kraftfahrzeuge ein großes Entwicklungszentrum; es wird 2007 bezogen. Die Firma Petri, die seit den 1920er Jahren Kfz-Teile, insbesondere Lenkräder, produzierte, konzentrierte sich seit den 1960er Jahren auf Kfz-Sicherheitstechnik. In Zusammenarbeit mit Daimler-Benz entwickelte sie verschiedene Airbag-Systeme, was 1981 zum ersten Fahrer-Airbag Deutschlands in einem Mercedes-Benz führte.69

69

Prof. Dr. Hans-Jürgen Ewers in: Abschiedskolloquium für Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel am 25.09.1998, S. 13

114 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 109 Insassenrückhaltesystem mit Airbag, Gurtstraffer und AntiBlockiersystem im Mercedes-Benz Baureihe W 126, 1981

42 Der Umzug Diese Vielzahl von Forschungsaufgaben und -gebieten führte dazu, dass das Institut, ebenso wie alle anderen Fachbereiche der TU Berlin, schon Ende der 1970er Jahre eine akute Raumnot hatte. Die Bauplanungen der 1960er Jahre hatte einen eventuell größeren Raumbedarf nicht berücksichtigt, da man auf Grund der politischen Ereignisse (Teilung und Einkesselung der Stadt sowie Mauerbau 1961) nicht davon ausgehen konnte, dass sich die Studiensituation in Berlin anders als rückläufig entwickeln würde. Als dann das Gegenteil eintraf und sich die Studentenzahlen ständig erhöhten und der Forschungsstandort West-Berlin sich nicht nur fest etablierte, sondern auch expandierte (gezielte Strukturmaßnahmen der Bundesregierung, Förderung von Wissenschaft und Wirtschaft), fehlte es nicht nur an einer geeigneten Standortplanung für die Institute, sondern auch an Grundstücksflächen in der Nähe des alten Stammgebäudes. Planungen Ende der 1970er Jahre sahen eine Ausweichmöglichkeit auf das Gelände des Spreebogens vor, eine Variante, die sich für das Institut für Kraftfahrzeugtechnik nicht realisieren ließ.70 Obwohl Prof. Appel mit der IAV in der Carnotstraße am Spreebogen einen Standort fand, bot erst die in den 1980er Jahren vom Berliner Senat beschlossene Umwandlung der ehe70

Rieseberg, S. 555

Immo Sievers 115

maligen AEG-Maschinenfabrik in Berlin-Wedding zu einem Technologieund Innovationspark genügend Raum für das Institut. In diesem Viertel hatte der Berliner Maschinenbau eine lange Tradition, schon in den Gründerjahren nach 1870 ließen sich zahlreiche Unternehmen hier nieder. Der Wedding wurde im Zeitalter der Industrialisierung Preußens zum Mittelpunkt der Berliner Industrie,Namen wie Borsig,Hoppe,Schwartzkopff und Wöhlert standen für den gewaltigen Aufschwung dieser Zeit. Auch die Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft (AEG) ließ sich hier nieder, sie verlegte 1887 einen Teil ihrer Produktion in die Ackerstraße, dem heutigen Berliner Innovations- und Gründerzentrum (BIG). Die AEG expandierte stetig weiter und dehnte sich auf das Gelände zwischen Voltastraße und GustavMeyer-Allee aus. Hier entstand ein riesiger Komplex von Fabrikgebäuden, dem heutigen Technologie- und Innovationspark (TIB). In der ehemaligen AEG-Fabrik für Bahnmaterial, errichtet in den Jahren 1911/12, fand das Institut auf ca. 7.000 m2 genügend Platz und Räumlichkeiten für seine Forschungen. Trotzdem war es wehmütiger Moment, als am 1. Juli 1991 Herr Schulz die Halleneinfahrt der alten Halle K zum letzten Mal abschloß. Nach 84 Jahren zog das Institut aus „seinem Laboratorium“ aus. Heute ist das Fachgebiet Fluidsystemdynamik des Instituts für Strömungsmechanik und Technische Akustik der TU dort untergebracht.

Abb. 110 zeuge

Auszug aus der Halle K, 1.7.1991 1907 bis 1991 Institut für Kraftfahr-

116 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 111

Abb. 112

Schlittentest mit Kinderdummy, 1975

Tests mit Kinderrückhaltesystemen, 1995

Immo Sievers 117

43 Kinderrückhaltesysteme Im TIB 13, dem neuen Domizil des Instituts, wurde dort weitergeforscht, wo man erfolgreich am alten Standort aufgehört hatte. So wurde der Forschungsschwerpunkt Kinderrückhaltesysteme, der seit 1980 in Berlin untersucht wird, vertieft. Um Versuchsreihen für kindliche Sicherheit bei Verkehrsunfällen durchführen zu können, wurden spezielle Kinderdummies entwickelt. Hierbei lag der Focus ursprünglich nicht auf Kindersitzen an sich, sondern auf der Fahrzeug-Innenraumgestaltung, um die Sicherheit der kleinen Insassen zu verbessern. Ein Versuchsprogramm für Rückhaltesysteme wurde speziell für die Klasse I (Alter der Kinder 9 Monate bis 3,5 Jahre) gestartet. Hierbei wurden neun verschiedene Sitze in 40 Versuchen mit vier unterschiedlichen Rückhalteprinzipien getestet. Zur Beurteilung dieser unterschiedlichen Rückhalteprinzipien wurden neben den Belastungsgrößen am Dummy auch die Ansprechzeiten der Rückhaltesysteme, beschrieben durch den Ride-Down-Effekt, herangezogen. Außerdem wurde die Schutzwirkung von Kindersitzen bei einem seitlichen Aufprall untersucht. Dazu wurde ein Testverfahren konzipiert, dass es ermöglicht auch die seitlich eindringende Struktur des Fahrzeugs und deren Wirkung auf den Kindersitz zu modellieren. Das Verfahren wurde in Hunderten von Tests erprobt und dient derzeit als Basis für eine ISOStandardisierung.

44 Die Crashanlage In dem neuen Gebäude war auch genügend Platz für eine neue Crashanlage modernster Bauart. Im Jahr 1988 begannen die Bauarbeiten dafür, im Jahr 1990 konnten bereits die ersten Versuche gefahren werden. Am 31. August 1992, anlässlich der Präsentation des Instituts in seinen neuen Räumlichkeiten, wurde die 19 Mio. DM teure Anlage offiziell in Betrieb genommen. Sie ersetzte die von 1976 bis 1992 genutzte Fallgewichtsanlage in Charlottenburg, die zwar sehr zuverlässig arbeitete, aber leider nicht geregelt werden konnte (siehe auch Abb. 101). Diese alte Anlage hatte eine 35 m lange Anlaufstrecke und erreichte eine maximale Aufprallgeschwindigkeit von 80 km/h. Aber auch sie war schon mit einer Beleuchtungsanlage und Hochgeschwindigkeitskameras ausgerüstet. Die neue, nun hydraulisch angetriebene Anlage kann auf einer Anlaufbahn von 70 m Länge eine Masse von über 2.000 kg auf 100 km/h geregelt beschleunigen. Die Versuchsfahrzeuge können auf verschiedene Hindernisse katapultiert werden, entweder auf einen Block (450 t), der im rechten Winkel zum Automobil steht, oder auf eine Wand, die im 30◦ Winkel zum Automobil steht, eine verstellbare Offset-Barriere (AMS-Norm) und Pfähle mit verschiedenen Durchmessern, genauso wie auf andere stehende Hindernisse oder gegen Fußgänger-

118 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 113

Die ersten Versuche auf der neuen Crash-Anlage, 1990

Abb. 114

Crashtest am 31. August 1992

Immo Sievers 119

Dummys. Dies war ein ungeheurer Fortschritt zu den Anfängen der Kraftfahrzeugforschung am Berliner Institut, wo 1907 die Fahrzeuge mit einem Kran in die Höhe gezogen und dann fallengelassen wurden, um den Grad der Deformationen am Chassis festzustellen. Für die Anlage stehen auch verschiedene Schlitten zur Verfügung, die mit Teil- oder Komplettkarosserien zur Erprobung von Airbags, Sicherheitsgurten oder anderen Komponenten ausgestattet werden können. Das Aufprallverhalten verschiedener Pkw kann dabei mit einer dreistufigen, sehr variablen Bandbremse in engen Toleranzbereichen simuliert werden. Auch für Seitentests stehen alle notwendigen fahrbaren Barrieren zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es ein hydropneumatisches Katapult (Nutzlast 300 kg), das bereits 1967 unter der Leitung von Prof. Fiala aufgebaut wurde, für Gurt-, Airbag-, Kopfstützen- und Polsterungsuntersuchungen. Für ein Forschungsprojekt wurde ein Beschleunigungskatapult entwickelt, mit dem man einen „Sled in Sled Test“ durchführen kann. Dieser Test simuliert den Seitenaufprall mit Fahrzeugbeschleunigung, Türeindrückung und Dummy-Bewegung. An einem Fallgewicht mit einer Höhe von 15 m können Aufschlaguntersuchungen an Stoßfängern, Armaturentafeln, Airbags und Lenkrädern durchgeführt werden. Zur Erprobung der statischen Kraftaufnahme von Sicherheitsgurten, aber auch von Gurtverankerungen in Fahrzeugkarosserien dient ein Zugprüfstand.

45 Zukunftsforschung Mensch-Maschine-Systeme Zu den zahlreichen Forschungsaufgaben, die am Institut aufgenommen wurden, gehören Projekte im Bereich „Mensch-Maschine-Systeme“. Diese Arbeiten haben hier schon eine Tradition, denn bereits Prof. Fiala begann Mitte der 1960er Jahre mit Experimenten an Fahrermodellen, mit denen man versuchte den Fahrer als Regler in mathematischen Gleichungen zu beschreiben. Dabei wurden so unterschiedliche Fragestellungen, wie das Lenkverhalten des Fahrers oder der Einfluss der Ermüdung oder von Pharmaka auf das Fahrverhalten untersucht. Bald erwies sich aber, dass das Autofahren nur zu einem geringen Maß Regelung bedeutet. Deshalb suchte man nach Modellen, die zur Nachbildung menschlichen Verhaltens geeigneter erschienen. Eine große Rolle spielten dabei Modelle, basierend auf der Fuzzy-Mathematik, aber auch Modelle mit neuronalen Netzen oder solche, die auf Methoden der künstlichen Intelligenz beruhten. Die bis dahin benutzten Fahrermodelle hatten den Nachteil, dass sie die besonderen menschlichen Eigenheit des Fahrers nicht berücksichtigten. Der Mensch wurde als Maschine gesehen, deren Verhalten exakt vorzubestimmen war. Um die Unsicherheiten und Ungenauigkeiten menschlichen Handels dennoch abzubilden,wurden Unschärfen in die Modelle eingefügt. Bereits Anfang der 1980er Jahre wurden am Institut in Berlin solche Fah-

120 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 115 Augenbewegungsmesser am Fahrsimulator, 1985

rermodelle entwickelt. 1983 schlossen sich fünf Fachgebiete unterschiedlicher Fachrichtungen aus den Bereichen Arbeitswissenschaft, Psychologie und Ingenieurwissenschaft zusammen, um gemeinsam die Problematik der Belastung und Beanspruchung des Menschen bei komplexen sensomotorischen Aufgaben zu untersuchen. Dabei ging es in erster Linie um die Untersuchung der Faktoren mentaler Beanspruchung, die bei komplexen Arbeitsplätzen in Mensch-Maschine-Systemen auftreten und möglicherweise zu Fehlhandlungen führen. Innerhalb dieses Rahmens hatte sich das Institut für Fahrzeugtechnik die Aufgabe gestellt, die Beanspruchung des Fahrzeugführers bei der Verarbeitung visueller Informationen zu untersuchen. Der Schwerpunkt hierbei lag auf der Entwicklung sensitiver, zuverlässiger Bewertungsverfahren und von Prädiktionsmodellen für die Arbeitsbeanspruchung des Fahrers. Seit Mitte der 1980er Jahre sind im Bereich Mensch-Maschine-Systeme verschiedene Themen untersucht worden. So wurde der INFOPILOT entwickelt, ein automatisches Fahrersystem mit visueller Eingangsinformation. Ein Modell des Fahrverhaltens wurde erforscht sowie ein kognitiv geregeltes Fahrermodell mit Hilfe von Mehrkörpersystemen. Eine Kategorisierung motorischer Gedächtnisinhalte und eine Analyse mobiler Systeme wurden erstellt. Bei der Durchführung dieser Arbeiten kamen sowohl experimentelle wie auch theoretische Untersuchungsmethoden zum Einsatz. Dabei gewannen immer mehr Computersimulationen an Bedeutung, dies war abhängig vom Fortschritt der Computerentwicklung. Unterstützt wurden

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Abb. 116 Außenansicht TIB 13, Fachgebiete Kraftfahrzeuge, 2007

diese theoretischen Ansätze von Experimenten mit Versuchspersonen in speziell umgerüsteten Messfahrzeugen und dem am Institut selbstentwickelten Fahrsimulator. Dieser Simulator, ein umgebauter VW Polo (vgl. Abb. 106), war mit Messaufnehmern für den Lenkwinkel, die Gaspedalstellung, die Bremse und den eingelegten Gang ausgerüstet. Aus den gemessenen Größen wurde mittels eines implementierten Fahrzeugmodells die Fahrzeugposition auf der Straße sowie die aktuelle Geschwindigkeit berechnet. Diese Daten wurden an eine Grafik-Workstation übermittelt, die daraus in Echtzeit die Straßenansicht für die entsprechende Position ermittelte. Diese Forschungen führten 1994 zur Einrichtung des Zentrums für Mensch-Maschine-Systeme, in dem Fachbereiche verschiedener Institute wie Raumfahrt, Arbeitswissenschaften, Fahrzeug- und Leitwartentechnik oder Psychologie zusammenarbeiten, mit dem Ziel, die interdisziplinäre Kooperation in der Mensch-Maschine-Systemforschung an der Technischen Universität Berlin auszubauen. Ausgebaut wurde 1994 durch eine neue Strukturreform auch das Institut für Straßen- und Schienenverkehr (ISS), zu dem nun die beiden Fachgebiete Kraftfahrwesen und Kraftfahrzeuge sowie die Gebiete Straßenplanung und Straßenverkehrstechnik, Eisenbahnwesen und spurgebundener Nahverkehr, Integrierte Verkehrsplanung, Verkehrswirtschaft und Verkehrspolitik, Straßenbau, Betriebssysteme elektrische Bahnen und Schienenfahrzeuge gehören. Damit sind alle

122 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

Abb. 117 Tradition und Zukunft am Fachgebiet Kraftfahrzeuge: Prof. Dr. rer. nat. Volker Schindler vor dem Riedler-Ehrenschild, 2007

für den Bereich Verkehr relevanten Gebiete in einem Institut zusammengefasst. Am 1. April 2000 übernahm Prof. Dr. rer nat. Volker Schindler das Fachgebiet Kraftfahrzeuge. Kurz darauf verstarbt Prof. Willumeit und die Fachgebiete wurden zusammengelegt, wie es ursprünglich erst nach der Emeritierung von Prof.Willumeit vorgesehen war.In dem Fachgebiet Kraftfahrzeuge wird auch weiterhin ganz in der Tradition von Prof. Dr.-Ing.Alois Riedler Forschung„auf Grund vollständiger wissenschaftlicher Versuche die wichtigen Aufgaben auf dem Gebiet des Kraftwagenbaus“ für das Auto von morgen geleistet.71

71

Jürgensohn, Thomas: Der gläserne Autofahrer, in: Forschung Aktuell Mensch und Maschine, Heft 49, 10/2001, Berlin, S. 77 f.

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Literatur 1. Becker, Gabriel: Vervollkommnung der Kraftfahrzeugmotoren durch Leichtmetallkolben, Oldenburg 1922 2. Ders.: Schnellastwagen mit Riesenluftreifen, Berlin, 1923 3. Ders.: Motorschlepper für Industrie und Landwirtschaft. Versuchsanstalt für Kfz der TH Berlin, Berlin, 1926 4. Ders.: Automobilreifen. Versuchsanstalt für Kfz der TH Berlin, Berlin, 1929 5. Ders.: Raupenschlepper-Laufwerke für Radschlepper, in: Der Motorwagen 1928, S. 635–638 6. Ders.: Leichtmetallkolben. Betriebstechnische Grundlagen für die Durchbildung der Kolben. Berlin, 1929 7. Becker / Fromm / Maruhn: Schwingungen in Automobillenkungen „Shimmy“. Versuchsanstalt für Kraftfahrzeuge und Festigkeitslaboratorium der TH Berlin, Berlin, 1931 8. Bericht der Prüfanstalt für Kraftfahrzeuge an der Kgl. Technischen Hochschule zu Berlin, Berlin, 1915 9. Blaich, Fritz: Die Fehlrationalisierung in der deutschen Autoindustrie, in: Tradition, 1973, Jg. 18, S. 18–33 10. Ders.: Why did Pioneer Fall Behind?, in: Barker, Theodor (Hrsg.): The Economic and Social Effects of the Spread of Motor Vehicles, London, 1987 11. Braun, Hans Joachim / Weber, Wolfhard: Ingenieurwissenschaft und Gesellschaftspolitik – Das Wirken von Franz Reuleaux in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 285–290 12. Diesel, Eugen: Diesel – Der Mensch, Das Werk, Das Schicksal, Hamburg, 1937 13. Diesel, Rudolf: Die Entstehung des Dieselmotors, Springer, Berlin, 1913 14. Ewers, Hans-Jürgen in: Abschiedskolloquium für Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel am 25.09.1998, S. 8–14 15. Feldenkirchen, Wilfried: Vom Guten das Beste, von Daimler und Benz zur DaimlerChrysler AG, München, 2003 16. Fiala, Ernst: So viel Auto braucht der Mensch, Pfäffikon, 1990 17. Fischer, Wolfram: The Role of Science and Technology in the Economic Development of Europe, in: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Technik, 7. Report Wissenschaftsforschung, Universität Bielefeld, 1976 18. Grassmann, Kurt: Gabriel Becker und sein Adler-Standard-6-Programm, in: Tagungsband der Automobilhistorischen Gesellschaft, 1999, S. 24–54 19. Hentschel, Volker: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland, Stuttgart, 1978

124 Das Fachgebiet Kraftfahrzeuge der TU Berlin im Wandel der Zeit

20. Ders: Staat und Verkehr, in: Hrsg. Pohl, Hans / Treue, Willhelm: Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen, Stuttgart, 1988 21. Hunecke, Volker: Der Kampf ums Dasein und die Reform der technischen Erziehung im Denken Alois Riedlers, in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 301–313 22. Jürgensohn, Thomas: Der gläserne Autofahrer, in: Forschung Aktuell Mensch und Maschine, Heft 49, 10/2001, Berlin, S. 77 f 23. Kamm, Wunibald: Vergleichsmessungen an einem Fahrzeug mit Everling-Aufbau und einem Fahrzeug mit gewöhnlichem Aufbau, in: Deutsche Kraftfahrtforschung, Zwischenbericht, Nr. 33, 1938 24. König, Wolfgang: Der Drang zur individuellen Mobilität: in Staat und Wirtschaft, in: Hrsg. König, Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte, Berlin, 1997, Bd. 4, S. 456ff 25. Laux, James M.: The European Automobile Industry, New York, 1992 26. Lehr, Wilhelm: Die Anfänge der Autoelektrik, in: Automobil-Industrie, Heft 3, 1969, S. 69–72 27. Lutz, Robert: Automobilbau und Hochschule, in: Der Motorwagen, Heft 28, 10.10.1905 28. Manegold, Karl-Heinz: Alois Riedler, in: Berlinische Lebensbilder – Techniker, Hrsg.:Treue, Wilhelm/König, Wolfgang, Berlin, 1990, S. 292– 307 29. Peschken, Gerd: Zur Baugeschichte der Technischen Universität Berlin, in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979 30. Pohl, Hans: Die Entwicklung des Verkehrswesens in den vergangenen 100 Jahren, in: Die Einflüsse der Motorisierung auf das Verkehrswesen von 1886 bis 1986, hrsg. von Hans Pohl, Stuttgart, 1988 31. Radunski, Peter in: Abschiedskolloquium für Prof. Dr.-Ing. Hermann Appel am 25.09.1998, S. 15–24 32. Ribbe, W./ Schmädeke, J.: Kleine Berlingeschichte, Berlin, 1994 33. Riedler, Alois: Wissenschaftliche Automobil-Wertung Berichte I–X des Laboratoriums für Kraftfahrzeuge an der Könglichen Technischen Hochschule Berlin, Berlin, 1911 34. Ders.: Dieselmotoren, Beiträge zur Kenntnis von Hochdruckmotoren, Berlin, 1914 35. Rieseberg, Hans-Joachim: Die Technische Universität Berlin im Jahre 1979 – Perspektiven und Planungen: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 543–563 36. Röder,K.: Die E-Stromlinienform,in: Motor-Kritik,Heft 4 1938,S.128 ff 37. Rürup, Reinhard: Die Technische Universität 1879–1979, in: Wissenschaft und Gesellschaft Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879–1979, Berlin, 1979, S. 3–47

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38. Sass, Friedrich: Geschichte des deutschen Verbrennungsmotorenbaues von 1860 bis 1918, Berlin, 1962 39. Seiffert, Reinhard: Deutschland - USA, Brayton, Otto, Daimler, Steinway, in: Automobilhistorische Gesellschaft, Tagungsband 2006, Marlow, 2007, S. 7–33 40. Sievers, Immo: AutoCars, Die Beziehungen zwischen der englischen und der deutschen Automobilindustrie vor dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M, 1995 41. Ders.: Zweirad – Vierrad – Allrad, Berlin, 1995 42. Ders.: Karl Benz und Gottlieb Daimler – Väter des Automobils, in: Brockhaus Infothek, Mannheim, 2000 43. Ders.: Dr.-Ing. e.h. Karl Benz, in: ATZ 106, Nr. 5 / 2004, S. 922–927 44. Ders.: Geschichten aus der Automobilgeschichte, ArTeG, Berlin, 2000 45. Ders.: Wie alles anfing – Erste deutsche Prüfstelle für Automobile, in parTU Berlin, 3. Jg., Heft 5, 12/2001 46. Ders.: Die Anfänge der wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der Kraftfahrzeugtechnik an der Technischen Hochschule Berlin, in: Automobilhistorische Gesellschaft, Tagungsband 2001, Berlin, 2002, S. 35–46 47. Ders.: 140 Jahre Motoren aus Deutz in MTZ, 6/2004, 65. Jg., S. 462–465 48. Ders.: Jørgen Skafte Rasmussen – Leben und Werk, Hamburg, 2006 49. Stahlmann, Michael: Die erste Revolution in der Autoindustrie,Frankfurt, 1993 50. Statistik des Deutsches Reiches, 1907–1914, Kaiserliches Statistik Amt, Berlin, Jg. 1907 bis 1914 51. Stieniczka, Norbert: Vom fahrbaren Untersatz zur Chromkarosse, in: Hrsg. von Boch, Rudolf, Geschichte und Zukunft der deutschen Automobilindustrie, Stuttgart, 2001, S. 177–200 52. TU Berlin (Hrsg.): Forschung und Entwicklung, Institut für Fahrzeugtechnik, März 1982 53. Weber, Wolfgang: Ingenieure und Technik in Staat und Wirtschaft, in: Hrsg.König,Wolfgang: Propyläen Technikgeschichte,Berlin,1997,Bd.4, S. 111 ff

Abbildungen ArTeG – Archiv für Technikgeschichte: Abb. 2–5, 8–13, 20–26, 33–35, 40–45, 49–58, 61–74, 92, 116–117 DaimlerChrysler Archiv: 6-7, 14-19 TU Berlin: Abb. 1, 27–32, 36–39, 46–48, 59–60, 75–91, 93–115

Teil II Gegenwart

Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

Dietmar Göhlich

1

Einleitung

Mit der Einführung der neuen Mercedes-Benz S-Klasse im Jahr 2005 wird die Erfolgsgeschichte dieser Baureihe bereits in der achten Generation fortgeführt. Technische Innovationen waren bei jedem neuen Modell von größter Bedeutung. So setzten die Vorgängerbaureihen vielfach Standards und haben die Automobilindustrie als Schrittmacher nachhaltig beeinflusst. Insgesamt zeigen „die Ahnen“ der heutigen S-Klasse in fünf Jahrzehnten eine stetige Steigerung des Fahrkomforts und der Fahrleistungen, sowie der aktiven und passiven Sicherheit. Zudem hat auch der Wettbewerb um die Technologieführerschaft in der automobilen Oberklasse – zum Nutzen der Kunden – in jüngster Vergangenheit deutlich zugenommen. Die neue S-Klasse setzt diese Entwicklung mit mehr als einem Dutzend technischer Innovationen fort. Von Regelsystemen mit neuer Radarsensorik bis zum fahrdynamischen Multikontursitz mit erweiterter Massagefunktion, vom Nachtsicht-Assistenten mit Infrarot-Technik bis zum weiterentwickelten COMAND-System, vom präventiven PRE-SAFE R Insassenschutz mit zusätzlichen Funktionen bis zum aktiven Fahrwerk reicht die Spanne der Neuerungen. Im folgenden Beitrag werden nach einem kurzen historischen Abriss das Gesamtkonzept und die wesentlichen Innovationen der neuen S-Klasse behandelt.Dabei wird auch aufgezeigt,wie den veränderten Erfordernissen des Weltmarktes Rechnung getragen wurde.

2

Die Historie der S-Klasse

Zwar wurde erst 1972 mit der Baureihe 116 die offizielle Bezeichnung „SKlasse“ eingeführt,doch aus technischer Sicht beginnt die Geschichte der S-

130 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

Klasse bereits in den fünfziger Jahren.Abbildung 1 zeigt die diese einmalige „Ahnengalerie“; die einzelnen Modelle und die wesentlichen Innovationen werden in diesem Kapitel behandelt.

Abb. 1 Die neue S-Klasse (Baureihe 221) und ihre Vorgänger-Modelle gesehen aus der Perspektive des Typs 220 (Baureihe 180 aus dem Jahr 1954).

2.1

Die Baureihe 111/112 – Avantgarde der Technik und Sicherheit

„Die neuen Sechszylinder – eine Klasse für sich“, so wurde 1959 – eine komplett neu konstruierte Fahrzeugpalette eingeführt. Diese Fahrzeuge setzten mit der – nach dem Patent von B´ela Bar´enyi – zukunftsweisenden gestaltfesten Fahrzeugzelle mit „Knautschzone“ vorn und hinten einen Meilenstein in der passiven Sicherheit. Der Gedanke des Insassenschutzes wurde auch im Innenraum durch weiche Oberflächengestaltung und der gepolsterten Instrumententafel und Lenkradprallplatte konsequent umgesetzt. Ein weiteres Sicherheitsmerkmal waren die neuartigen Keilzapfenschlösser. Die Eingelenkpendelachse erhielt eine horizontal über dem Drehpunkt liegende Ausgleichsfeder und weit außen angeordnete Stoßdämpfer zur Verbesserung des Fahr- und Federungsverhaltens. Ab 1961 erschien als Ergänzung der Spitzentyp 300 SE (W112). Dieses Fahrzeug bot dank eines Sechszylindermotors in Leichtmetallbauweise mit 118 kW nicht nur hervorragende Fahrleistungen, sondern setzte auch mit seiner serienmäßigen Luftfederung und Servolenkung Maßstäbe im Fahrkomfort. Außerdem ge-

Dietmar Göhlich 131

hörten ein Viergang-Automatikgetriebe, eine Zweikreisbremsanlage und Scheibenbremsen an allen vier Rädern bereits zur Grundausstattung. 2.2

Die Baureihe 108/109 – Schönheit und Leistung

Die Nachfolge der Heckflossentypen traten 1965 die Typen 250 S, 250 SE und 300 SE als Baureihe 108 an. Der 300 SE wurde nicht mehr mit Luftfederung ausgestattet, sondern erhielt, wie auch die 250er-Typen, eine hydropneumatische Ausgleichsfeder an der Hinterachse als Niveauregelung. Eine besondere Attraktion war das Spitzenmodell 300 SEL 6.3 mit 184 kW und 500 Nm Drehmoment. Die Beschleunigung erreichte mit 8 s von 0 auf 100 km/h das Niveau von damaligen Spitzensportwagen. 2.3

Die Baureihe 116 – die erste offizielle S-Klasse

Die Baureihe 116 kam 1972 als vollständige Neuentwicklung mit den Typen 280 S, SE und 350 SE auf den Markt. Die Luftfederung kam in der Baureihe W116 nicht mehr zum Einsatz. Stattdessen wurde im 1975 eingeführten Spitzenfahrzeug 450 SEL 6.9 ein neu entwickeltes Federungssystem mit Rundum-Niveauregelung eingesetzt: die hydropneumatische Federung. 1978 erschien als weltweite Neuerung im W 116 das ABS. Von der Baureihe W 116 wurden bis zum Auslauf im Jahr 1980 insgesamt 473.000 Fahrzeuge produziert. 2.4

Die Baureihe 126 – zeitlose Eleganz

Auf der IAA 1979 präsentierte Mercedes-Benz die Baureihe 126 – die bisher erfolgreichste S-Klasse Baureihe. Von 1979 bis 1991 wurden 818.000 Fahrzeuge produziert. Als Reaktion auf die Energiekrise wurden modernste und sparsame Motoren eingesetzt und das Leergewicht konnte gegenüber dem Vorgänger um 100 kg reduziert werden. Mit der Weltpremiere der Fahrerairbags wurden 1981 in der passiven Sicherheit neue Maßstäbe gesetzt, die heute selbstverständlich sind. 2.5

Die Baureihe 140 – Präsenz mit zwölf Zylindern

Der großzügige Innenraum, die hohen Anforderungen an die Fahrzeugsicherheit und den Fahrkomfort sowie ein überzeugendes Leistungsangebot – erstmals kam ein 300 kW starker V12-Motor zum Einsatz – kamen auch in Form und Gewicht deutlich zum Ausdruck. Der Typ W140 war besonders in Übersee ein großer Erfolg. Noch heute findet man ihn besonders im asiatischen Raum als „VIP-Taxi“ im Alltagseinsatz.

132 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

2.6

Die Baureihe W220 – Innovationen in schönster Form

Hervorstechendes Merkmal des 220er war die sorgfältig herausgearbeitete Form des Exterieurs und Interieurs. Die stimmige Linienführung überzeugt auch heute noch und das Fahrzeug hat nichts von seiner Eleganz verloren. Bedeutende Neuerungen waren die Einführung des optionalen Allradantriebs bei den Modellen mit V6- und V8-Ottomotoren und das Sicherheitssystem „Pre-Safe“. Durch den Einsatz von Active Body Control (als Sonderausstattung erhältlich) wurde eine bisher unerreichte Fahrdynamik bei ausgezeichnetem Fahrkomfort erreicht. Von Mitte 1998 bis zum Produktionsauslauf im Juni 2005 wurden von der S-Klasse-Limousine der Baureihe 220 mehr als 485.000 Fahrzeuge hergestellt. Sie war damit weltweit Marktführerin im Segment der Oberklasse. Die größten Absatzmäkte waren mit jeweils 35% West-Europa und die USA, in der Zukunft werden jedoch die asiatischen Märkte und hier insbesondere China zunehmend Bedeutung erlangen.

3

Gesamtkonzept der neuen S-Klasse – Souverän in Design und Technik

Bereits kurz nach der Markteinführung des Vorgängers (Baureihe 220) wurde für die neue S-Klasse ein Fahrzeugsteckbrief erarbeitet. Dieser Fahrzeugsteckbrief enthielt die damals bekannten oder prognostizierten künftigen Vorschriften, Ergebnisse aus umfangreichen Marktanalysen und eine Reihe von Innovationen, die aus dem Portfolio von Forschung und Vorentwicklung ausgewählt wurden. Bei der Neuentwicklung mit der internen Bezeichnung 221, galt es die Stärken des Konzeptes zu erhalten, die Kritikpunkte aus den Weltmärkten aufzugreifen und abzustellen und alle Innovationen nur nach sorgfältiger Prüfung des Kundennutzens einzuführen. Trotzdem ist die neue S-Klasse nicht nur die Weiterentwicklung eines bestehenden Konzeptes, sondern ein völlig neues und erlebbar verbessertes Gesamtfahrzeug. Um den eleganten Stil der S-Klasse zu bewahren, hat Mercedes-Benz zwar ein innovatives Design entwickelt, dabei aber die Vergangenheit keinesfalls vergessen. Beispielsweise gehört schon seit den frühesten Anfängen das typische Mercedes-Gesicht zu den wesentlichen Stil-Merkmalen der Automobile mit dem Stern. Wie bei früheren Modellen wurde es auch für die neue S-Klasse feinfühlig weiterentwickelt. So hat die neue S-Klasse eine deutlich stärker gepfeilte Front als das Vorgängermodell und wirkt dadurch besonders kraftvoll und selbstbewusst, ohne aggressiv zu erscheinen (Abb. 2). Die gesamte Gestaltung entspricht dem starken Charakter und dem hohen Anspruch dieses modernen Fahrzeugs. Gegenüber dem Vorgänger ist die S-Klasse in allen Dimensionen moderat gewachsen. Zwei Karosserievarianten mit 5076 oder 5206 Millimetern

Dietmar Göhlich 133

Abb. 2 Die neue S-Klasse – Zusammenspiel von technischen Innovationen und einem Höchstmaß an Ästhetik.

Länge stehen zur Auswahl.In den USA wird,den Kundenwünschen entsprechend, allerdings nur die Langversion angeboten während in Europa für beide Varianten Nachfrage besteht. Der Radstand vergrößert sich auf 3035 bzw. 3165 Millimeter. Zudem ist die Karosserie 16 Millimeter breiter und 29 Millimeter höher als bisher. Diese neuen Abmessungen, in Abb. 3 zusammengefasst, schaffen die Voraussetzungen für ein Raumkonzept, das allen Passagieren First-Class-Komfort bietet; und ein Kofferraum mit 560 Liter Volumen ermöglicht Reisen mit „großem Gepäck“ oder die Mitnahme von 4 komplett bestückten Golfbags.

134 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

Abb. 3

4 4.1

Maßkonzept mit Hauptaggregaten, Insassen und Beladung.

Innenraum und Ergonomie – Harmonie von Mensch und Automobil Maßkonzept

Die Akzeleration der Körperfülle, die insbesondere in den USA und WestEuropa zu beobachten ist, stellte neue Anforderungen an die Ergonomie des Fahrerplatzes sowie des Innenraums. Hier zu nennen sind aber auch die Herausforderungen der neuen Märkte wie zum Beispiel China, wo die Nutzung als „Chauffeur-Limousine“ überwiegt. Demzufolge waren die Innenraumabmessungen deutlich zu vergrößern und das Raumgefühl zu verbessern. Mit Hilfe eines digitalen Menschenmodells wurden aus den Ergonomiezielen 3D-CAD Vorgaben erstellt, die bei der Konzepterstellung zu berücksichtigen waren. Dabei wurde erstmals die neu definierte MercedesBenz-„Ramsis-Familie“ eingesetzt, die die Weltpopulation in ihren Körpergrößen und Proportionen repräsentiert. Die Beinräume wurden vorne und hinten in Summe 29 mm, bei der Variante mit langem Radstand sogar um 49 mm vergrößert. Dies gelang hauptsächlich durch eine optimierte Gestaltung der Fahrersitze und eine geänderte Anordnung des Fahrpedals. Abbildung 4 zeigt diese Optimierung an einer so genannten „Powerwall“, bei der das Fahrzeug im Maßstab 1:1 dargestellt wird. Die Kopffreiheit wurde durch Anheben des Daches vorne um 5 mm verbessert. Hinzu kommt, dass für Personen in vorderen Sitzpositionen das Raumgefühl und die Kopffreiheit durch ein geändertes Sitzverstellkennfeld (Abb. 5) optimiert wurden, so finden jetzt auch Menschen mit besonders langem oder besonders kurzem Oberkörper (im Volksmund „Sitzriesen“ und „Sitzzwerge“) eine optimale Sitzposition.

Dietmar Göhlich 135

Abb. 4 Optimierte Gestaltung des Fahrpedals an einer sogenannten „Powerwall“, bei der das Fahrzeug im Maßstab 1:1 dargestellt wird.

Abb. 5

4.2

Sitzverstellfeld der neuen S-Klasse im Vergleich zum Vorgänger-Modell.

Sicht nach außen

Die Sichtverhältnisse der neuen S-Klasse wurden mit modernsten Virtual Reality Entwicklungsmethoden bewertet und optimiert. In einer virtuellen Fahrklausur, dargestellt in Abb. 6, die verschiedene Fahraufgaben beinhaltet, wurden Konzeptvarianten miteinander verglichen, um die bestmögliche Sicht nach außen zu gewährleisten. Der Parcour beinhaltet Abbiegeund Einparkmanöver, Ampelsituationen an belebten Straßenkreuzungen

136 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

und das Fahren in einer schmalen Gasse mit eng geparkten Fahrzeugen, der sogenannten „italienischen Gasse“.

Abb. 6 Virtuelle Fahrklausur im Virtual Reality Studio mit einem „Mixed MockUp“. Sitz und Lenkrad sind hier real, Interieur, Cockpit und Fahrzeugumgebung werden virtuell visualisiert.

4.3

Bedien- und Anzeigekonzept

Eine wesentliche Herausforderung bei der Entwicklung eines Bedien- und Anzeigenkonzepts für ein neues Automobilmodell der Premiumklasse als Innovationsträger besteht darin, dem Kunden einen einfachen und intuitiven Umgang mit der gestiegenen Funktionalität des Fahrzeugs zu ermöglichen. Einsteigen und wohl fühlen - dieser Anspruch an die Konzeption und Gestaltung von Fahrzeug-Innenräumen wurde bei der neuen S-Klasse um einen zusätzlichen Aspekt erweitert: Einsteigen, wohl fühlen und die Technik auf Anhieb beherrschen. Dabei stellt sich die Reduzierung der Bedienelemente in Innenraum und Cockpit als ein Beitrag zur Verringerung der wahrgenommenen Komplexität dar. Die Schaffung eines beruhigten Innenraums (Abb. 7) ist aber durchaus eine Gratwanderung, die unter der Prämisse „gewünschte Funktion einfach bedienen“ unternommen wurde. Zur Gewährleistung dieser Leitlinie konnten vier Prinzipien identifiziert werden:

Dietmar Göhlich 137

1. 2. 3. 4.

Identifikation der wichtigsten Funktionen, die spontan bedient werden schnelle Verfügbarkeit der wichtigsten Spontanfunktionen einfache Bedienung der wichtigsten Spontanfunktionen alles am richtigen Ort.

Abb. 7 Interieur mit Rear Seat Entertainment und verstellbarer Einzelsitzanlage im Fond.

Die Voraussetzung dafür schafft ein neu entwickeltes Bedienkonzept als Schnittstelle zwischen Mensch und Auto.Es basiert auf umfangreichen Studien der Ergonomie und Wahrnehmungspsychologie und berücksichtigt die Ergebnisse mehrmonatiger Akzeptanzuntersuchungen mit MercedesKunden weltweit. Funktionen, die bisher durch separate Schalter oder Taster betätigt wurden, aber in der Praxis eher selten genutzt werden, wurden in zentrale Bediensysteme verlagert. Andere Funktionen, für die nach wie vor Schalter, Taster oder Hebel am besten geeignet sind, wurden in so genannten Bedieninseln zusammengefasst. Zentrales Element des Bedienund Anzeigekonzepts ist der neue COMAND-Controller aus Aluminium mit weicher Handauflage, der als mechanisch-elektronische Schnittstelle zwischen den Passagieren und einerVielzahl von Funktionen dient (Abb.8). Durch Drehen oder Schieben des Controllers werden die Haupt- und Untermenüs des Bediensystems ausgewählt und durch Drücken die Funktionen bestätigt. Ein Elektromotor mit Getriebe unterstützt die Bedienung und sorgt für eine haptische Rückmeldung. So wird zum Beispiel die Drehfunktion automatisch blockiert, wenn das Ende eines Anzeigebereichs erreicht ist.

138 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

Abb. 8

4.4

Bedien- und Anzeigekonzept mit „COMAND-Controller“.

First-Class-Komfort auf allen Sitzplätzen

Die Sitzanlage der neuen S-Klasse vereint ein Höchstmaß an Bequemlichkeit mit hervorragendem Langzeitsitzkomfort; eine Voraussetzung für entspanntes und ermüdungsfreies Fahren. So wurde unter anderem die völlig neu gestaltete Massagefunktion entwickelt, die sicherlich eines der herausragenden Features der Sitzanlage in der neuen S-Klasse ist. Gleichzeitig wurden grundsätzliche Neuerungen des Fahrzeugs auch für die Sitzanlage nutzbar gemacht. So erfolgt die Bedienung der neuen, erweiterten Konturverstellung, Sitzcharakteristikveränderung (Sitzhärte), Massage- und Fahrdynamikfunktion über das COMAND-System. Der hohe Einstellkomfort der Sitze ermöglicht eine optimale Anpassung an den Insassen, seine anatomische Gestalt und individuellen Wünsche. Diese Einstellfunktionen werden pneumatisch realisiert, das heißt, unter den Polsterauflagen sind Luftkammern angeordnet (Abb. 9), die durch neu entwickelte, dezentral angeordnete Piezoventile befüllt und entleert werden. Auf diese Weise wird bei geringem Bauteilgewicht und einfacher Integration in den Sitzgesamtaufbau eine hohe Effizienz in der Verstellfunktion

Dietmar Göhlich 139

erreicht, die außerdem nahezu geräuschlos ausgeführt wird. Die Massagefunktion stimuliert die Rückenmuskulatur und leistet dadurch einen Beitrag zu Wellness und Konditionssicherheit des Insassen. Aufgrund dieser Funktionalität und Sitzgestaltung wurde dem Fahrer- und Fondsitz das Gütesiegel der Aktion gesunder Rücken (AGR) als Qualitätsmerkmal verliehen.

Abb. 9

4.5

Schnittbild des Vordersitzes mit umfangreichen Komfortfunktionen.

Konditionssicherheit

Der hohe Komfort und die moderne Technik der neuen S-Klasse entlasten den Autofahrer und wirken sich positiv auf seine Kondition aus. Das bestätigt eine wissenschaftliche Vergleichsuntersuchung zwischen der SKlasse und Wettbewerbsmodellen auf einer rund 500 Kilometer langen Strecke mit einem gemischten Streckenprofil (Stadtverkehr, Landstraße und Autobahn). Bei einer Reihe von Probanden wurden typische StressIndikatoren aufgezeichnet.Unter gleichen Fahr- und Verkehrsbedingungen lag die durchschnittliche Herzfrequenz der Autofahrer in der MercedesLimousine um bis zu sechs Prozent (oder fünf Schläge pro Minute) unter den in Vergleichsfahrzeugen gemessenen Werten, siehe Abb. 10, ein deut-

140 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

liches Indiz für den hohen Entlastungskomfort. Der Autofahrer kann sich dadurch besser auf das Verkehrsgeschehen konzentrieren und schont seine Leistungsreserven, um in kritischen Situationen sicher und souverän handeln zu können.

Abb. 10 Konditionssicherheit der neuen S-Klasse im Vergleich zu zwei Wettbewerbsfahrzeugen.Gemessene Herzfrequenzen bei unterschiedlichen Fahrstrecken.

5

Fahrwerksystem

Von einer Limousine der Oberklasse erwarten die Kunden hinsichtlich der Fahreigenschaften mehr als „nur“ vorbildlichen Komfort; auch die Aktive Sicherheit und die Fahrdynamik müssen ebenso hohen Ansprüchen genügen. Die S-Klasse erfüllt diese Erwartungen seit jeher, doch mit der neuen Baureihe 221 wurden in allen fahrwerkstechnischen Bereichen weitere Fortschritte erzielt. Bemerkenswert – und mit jedem Kilometer erlebbar – sind vor allem die Resultate beim Abroll- und Federungskomfort, bei der Lenkpräzision und Agilität sowie bei der Fahr- und Bremsstabilität. Dazu tragen verschiedene Neu- und Weiterentwicklungen bei, doch erst die intelligente Kombination aller Systeme, die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Konstruktion, Fahrversuch, Berechnung und Messung führte zum gewünschten Ergebnis. 5.1

Lenkung

Das herausragende neue Merkmal des neuen S-Klasse-Lenkgetriebes ist die variable Mittenzentrierung. Entwicklungsziel war es, das bereits von der Parameterlenkung bekannte minimale Handmoment bei Parkier- und Rangiervorgängen und die maximale Steifigkeit und Stabilität des Fahrzeugs bei hoher Geschwindigkeit um ein sensitives und gut ansprechendes

Dietmar Göhlich 141

Mittengefühl zu ergänzen. So gelingt es ein ausgezeichnetes Anlenkverhalten und hohe Lenkpräzision ohne Einbußen in Fahrstabilität oder Fahrkomfort zu realisieren. 5.2

Luftfederung

Die neue S-Klasse verfügt bereits mit der Grundausstattung über ein volltragendes Luftfedersystem. In Kombination mit einer vollautomatischen Dämpferverstellung bietet diese Luftfederung Fahrkomfort und Fahrdynamik auf höchstem Niveau. Das adaptive Dämpfungssystem II verfügt über vier Dämpferkennlinien, von denen zwei bei Überschreitung definierter Schwellen in der Aufbaubewegung nach einem Skyhookmodus geschaltet werden. Die Wirkungsweise des Adaptiven Dämpfungs-Systems wurde durch degressive Stoßdämpfer-Kennlinien nochmals verbessert. Sie ermöglichen eine größere Spreizung der Stoßdämpferkräfte zwischen der Druck- und der Zugstufe und tragen damit maßgeblich zu dem agilen Fahrverhalten der Limousine bei. Auch den Straßenzustand, der für die situationsgerechte Steuerung der Stoßdämpfer ebenfalls berücksichtigt wird, erkennt das System dank eines verbesserten Rechenverfahrens noch präziser als bisher. 5.3

Active Body Control

Mit Active Body Control (ABC) wurde im Jahre 1999 das Alphabet der Fahrwerkstechnik um eine bahnbrechende Innovation erweitert. Das System, das damals nach 20-jähriger Forschung und Entwicklung in Serie ging, beantwortet die traditionelle Gretchenfrage bei der Abstimmung eines PkwFahrwerks: Soll man die von der Straße verursachten Schwingungen der Räder durch sportlich-straff eingestellte Stoßdämpfer gering halten oder soll man die Dämpfung zum Nachteil von Fahrsicherheit und Fahrdynamik möglichst komfortabel-weich auslegen? Mit Active Body Control stellt sich dieser Zielkonflikt nicht mehr, weil die Fahrwerkseinstellung automatisch der jeweiligen Fahrsituation angepasst wird. Hoher Komfort wird bei gleichzeitig hoher Fahrdynamik erreicht. Das aktive Fahrwerk ist als Sonderausstattung erhältlich und wurde für die neue S-Klasse nochmals weiterentwickelt.Vier Federbeine mit Plungerzylindern werden durch einen Mikroprozessor gesteuert und sind in der Lage, Hub-, Wank- und Nickbewegungen beinahe vollständig zu eliminieren.Abbildung 11 zeigt das entsprechende Systemschaubild.Der Mikroprozessor wertet zur Erfassung der jeweiligen Fahrsituation Signale der Quer-, Längs- und Vertikalbeschleunigungssensoren und der jedem Federbein zugeordneten Drucksensoren aus, die Niveaulage der Karosserie wird mit Hilfe von Niveausensoren an den Achslenkern der Vorder- und Hinterachse ermittelt. Die berechneten Steuersignale werden dann durch servohydraulische Ventile in Ölvolumenströme umgesetzt, welche die Plungerzylinder

142 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

verstellen. Die motorseitige Druckversorgung versorgt die servohydraulischen Ventile mit einem bis zu 200bar hohen Hydraulikdruck. Durch den ständig verfügbaren Systemdruck und die eingesetzten Druckspeicher ist das ABC-System in Sekundenbruchteilen in der Lage, auf Ansätze einer Karosseriebewegung zu reagieren. Bei schneller Kurvenfahrt – beispielsweise in einer Autobahnausfahrt – reduziert das ABC-Fahrwerk der zweiten Generation den Wankwinkel auf nur noch 0,75 Grad. Das sind mehr als 60 Prozent weniger als beim Vorgängermodell der neuen S-Klasse.

Abb. 11 Aktives Fahrwerk mit Active Body Control. Systemschaubild.

6

Symbiose von Fahrerassistenz, aktiver und passiver Sicherheit

Seit Jahrzehnten ist die Mercedes-Benz S-Klasse ein Synonym für höchste Sicherheit: eine ausgeprägte Verbindung wie bei keinem anderen Fahrzeug der automobilen Welt. Mit der neuen Baureihe 221 setzt DaimlerChrysler die Tradition der S-Klasse als Innovationsträger in allen Bereichen der aktiven und passiven Sicherheit fort. Wesentliche Neuerungen sind die auf einer gemeinsamen Umfeldsensorik basierenden Assistenzssysteme Distronic Plus, Bremsassistent Plus (BAS Plus) und die Pre-Safe Bremse sowie die erweiterte reversible Pre-Safe-Aktorik und ein Nachtsicht-Assistent.

Dietmar Göhlich 143

6.1

Nah- und Fernbereichsradar, die Augen der S-Klasse

Für die Fahrerassistenzsysteme Parkassistent (PAS) und Abstandsregeltempomat Distronic Plus sowie den Bremsassistenten BAS Plus und die PreSafe Bremse kommen neu entwickelte Nahbereichs-Radarsensoren zum Einsatz. Der bereits in der Vorläuferbaureihe verwendete Abstandsregeltempomat mit Fernbereichsradar hat bei einer Reichweite von 150 m einen Öffnungswinkel der Radarkeule von 10◦ und arbeitet bei 77 GHz Mittenfrequenz. Damit ist es aber nicht möglich, bei geringsten Abständen die volle Breite der Fahrspur abzudecken, was bei versetztem Fahren unter Umständen dazu führen kann, dass das Radar am vorausfahrenden Fahrzeug „vorbei sieht“. Die für die neuen Funktionen geforderte breitere Abdeckung wird mit zwei zusätzlichen im vorderen Stoßfänger untergebrachten Nahbereichssensoren erreicht, die einen Öffnungswinkel der Radarkeule von ±40◦ bieten. Sie erreichen eine Reichweite von bis zu 30 m bei einer Mittenfrequenz von 24 Hz. Abbildung 12 zeigt das Zusammenspiel von Fernund Nahbereichsradar.

Abb. 12 Reichweiten und Öffnungswinkel der Nah- und FernbereichsradarSysteme.

Dieses Prinzip bietet denVorteil einer hohen Auflösung der Entfernungsmessung, die je nach Betriebsmodus bis auf 5 cm herunterreicht. Die hohe Auflösung erlaubt es, auch nahe beieinander liegende Objekte zu unterscheiden. Durch die gute Objekttrennung kann dann über eine schaltbare Antennencharakterisktik aus zwei Messungen in Folge die Winkellage des Objekts bestimmt werden und eine „Blendung“ durch entgegenkommende Fahrzeuge mit ähnlichen Radarsystemen kann über entsprechende Signalverarbeitung ausgeschlossen werden. Die von den Radarsensoren abgestrahlte Leistung ist so gering, dass für Mensch und Tier keine Beeinträchtigungen entstehen.

144 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

6.2

Abstandsregelung mit Distronic Plus

Die Distronic Plus verhält sich wie ein konventioneller Tempomat, wenn kein Fahrzeug vorausfährt. Nähert sich das Fahrzeug einem vorausfahrenden Fahrzeug, wird die Geschwindigkeit reduziert, um möglichst den vom Fahrer gewählten Wunschabstand beizubehalten. Durch ein Potentiometer am Tempomat-Hebel kann der geschwindigkeitsabhängige Abstand (Zeitabstand) in einem Bereich zwischen einer und zwei Sekunden gewählt werden. Distronic Plus erweitert die Längsregelung auf den niedrigen Geschwindigkeitsbereich bis zum Stand und eignet sich dadurch auch zum komfortablen Bewältigen des Stop-and-go-Verkehrs. Die vom Nahbereichsradar und Fernbereichsradar gelieferten Objektdaten werden durch eine Objektfusion zusammengefasst. Der Längsregler im Radarsteuergerät berechnet und steuert mit diesen Daten die für die Einhaltung des Wunschabstands erforderlichen Eingriffe an Verbrennungsmotor, Bremse und gegebenenfalls am Automatikgetriebe. Zusätzlich findet eine permanente Sicherheitsüberwachung der Distronic-Plus-Systemeingriffe statt. 6.3

PRO-SAFE – die Sicherheitsphilosophie bei Mercedes-Benz

Zur Markteinführung der neuen Baureihe 221 wurden die Elemente des integrierten Sicherheitsansatzes von Mercedes-Benz neu gruppiert. PROSAFE summiert als Oberbegriff das ganzheitliche und stets am realen Unfallgeschehen orientierte Bestreben von Mercedes-Benz, alle Teilaspekte der Fahrzeugsicherheit weiter zu verbessern. Die Sicherheitsphilosophie PRO-SAFE umfasst vier Teilbereiche: • PERFORM-SAFE: sicheres Fahren, rechtzeitiges Erkennen kritischer Fahrsituationen, Warnen und bedarfsgerechtes Unterstützen. Beispiele: Antiblockiersystem ABS , elektronisches Stabilitätsprogramm ESP und Distronic Plus • PRE-SAFE R : Vorbereitung von Insassen und Fahrzeugen bei erhöhter Unfallwahrscheinlichkeit. Beispiele: Pre-Safe-Aktorik, der neue vorausschauende Bremsassistent BAS Plus und die Pre-Safe Bremse. Der komplette Funktionsumfang der neuen S-Klasse ist in Abb. 13 zusammengefasst. • PASSIVE-SAFE: Bedarfsgerechter Schutz der Insassen während des Unfalls durch die Fahrzeugstruktur und durch an die Insassen angepasste adaptive Rückhaltesysteme. Abbildung 14 zeigt die Rückhaltesysteme der BR 221 inkl. der Front- und Seiten-Airbags und dem durchgehenden Windowbag. • POST-SAFE: Erhöhung des Insassenschutzes nach einem Unfall und Verbesserung der Insassenrettung. Beispiele: Trennstellenmarkierungen für Rettungskräfte und automatisches Einschalten der Warnblinker nach einem schweren Unfall

Dietmar Göhlich 145

Abb. 13 Mit dem vorausschauenden Brems-Assistenten und präventiver PRESAFE-Aktorik reagiert die S-Klasse vor einem drohenden Unfall.

Abb. 14 Komponenten des Rückhaltesystems. Airbags (weiß), Gurte (braun) und Gasgeneratoren (blau).

146 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

6.4

BAS Plus und Pre-Safe-Bremse

Etwa jeder fünfte schwere Crash in Deutschland ist ein Auffahrunfall, in den USA sogar jede dritte Kollision mit Toten und Verletzten. Die Pre-SafeBremse kann dazu beitragen, solche folgenschweren Zusammenstöße zu entschärfen und im Verbund mit dem Bremsassistent „BAS Plus“ möglicherweise zu vermeiden. Das erstmalig weltweit angebotene System greift autonom in das Bremsgeschehen ein.Dafür haben die Mercedes-Ingenieure den vorausschauenden Bremsassistenten BAS Plus weiter entwickelt. BAS Plus überwacht mit den oben beschriebenen Fern- und Nahbereichsradarsensoren den Bereich vor dem Fahrzeug bis zu einer Entfernung von 150 m. Bei drohender Kollisionsgefahr berechnet und regelt BAS Plus genau die Bremskraft, die benötigt wird, um idealerweise den Aufprall noch zu vermeiden. Sobald der Fahrer in einer entsprechenden Situation deutlich aufs Bremspedal tritt, wird die Bremsunterstützung aktiviert. Sollte der Fahrer nicht rechtzeitig reagieren, kommt ihm die optisch/akustische Abstandswarnung zu Hilfe. Umfangreiche Praxistests haben erwiesen, dass diese den Fahrer rechtzeitig vor einer drohenden Kollision warnt, so dass in Verbindung mit dem Bremsassistent Plus die Unfallquote um 75% gesenkt werden kann.

Abb. 15

Funktionsweise der PRE-SAFE Bremse.

Mit der Pre-Safe-Bremse geht Mercedes nun noch einen Schritt weiter: Wenn der Fahrer auch nach mehrmaliger Warnung nicht reagiert, bremst das Auto künftig von selbst. Allerdings nicht mit voller Kraft, sondern mit maximal 40% der Bremsleistung. Abbildung 15 zeigt die Funktionsweise:

Dietmar Göhlich 147

Die Warnung des Systems ertönt 2,6s vor einer möglichen Kollision; zirka 1,6s vor dem berechneten Crash – nach dreimaligem Warnton – wird die Pre-Safe-Bremse ausgelöst. Gleichzeitig bereitet das Insassenschutzsystem Pre-Safe das Auto auf den Aufprall vor, und dem Fahrer bleibt immer noch rund eine Sekunde Zeit, den Unfall durch Vollbremsung oder Ausweichen zu vermeiden. Doch selbst wenn der Fahrer immer noch nicht reagiert, verringert die autonome Teilbremsung die Aufprallgeschwindigkeit. Tests mit 70 Personen im Fahrsimulator haben eine Geschwindigkeitsreduktion von im Schnitt 45 auf 35 km/h ergeben. Damit mindert Pre-Safe die Unfallschwere um rund 40%, das Verletzungsrisiko sinkt um bis zu 20%. Bei einem Aufprall funktioniert die Pre-Safe-Bremse also wie eine virtuelle Knautschzone, die schon vor dem Crash Energie abbaut. Das System arbeitet zwischen 30 und 180 km/h, wenn die Radarsensoren vorausfahrende Autos erfassen. 6.5

Nachtsicht-Assistent: Mit Infrarot-Scheinwerfern mehr Sicherheit im Dunkeln

Mit einem neuartigen Nachtsicht-Assistenten wird ein weiterer Beitrag zur Verringerung des Unfallrisikos bei Dunkelheit geleistet. Das System basiert auf Infrarot-Licht, das für das menschliche Auge unsichtbar ist und deshalb

Abb. 16 Verbesserte Objekterkennung bei Dunkelheit. Vergleich der Sichtweiten von Abblendlicht und Nachtsicht-Assistent.

148 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

entgegenkommende Autofahrer nicht blendet. Zwei Infrarot-Scheinwerfer beleuchten die Fahrbahn und vergrößern die Sichtweite des Autofahrers bei eingeschaltetem Abblendlicht deutlich, wie in Abb. 16 dargestellt. Eine Infrarot-Kamera an der Innenseite der Frontscheibe nimmt das reflektierte Bild der Straßenszene auf, die auf dem Display des Kombi-Instruments erscheint.

7

Der Antrieb – effiziente Dynamik bei höchstem Komfort

Die Motoren für die neue Mercedes-Benz S-Klasse sind Neu- oder Weiterentwicklungen, die im Vergleich zum Vorgängermodell bis zu 26 Prozent mehr Leistung und ein Drehmomentplus von bis zu 15 Prozent bieten. Der Kraftstoffverbrauch verringert sich um bis zu neun Prozent. Zusammen mit der neuen S-Klasse wurde ein neuer Achtzylindermotor mit einer Leistung von 285 kW entwickelt. Ausgestattet mit Vierventiltechnik, variabel verstellbaren Shifting-Nockenwellen, zweistufigem Saugmodul und Tumble-Klappen in den Einlasskanälen, siehe Abb. 17, zählt der neue V8 zu den modernsten und leistungsstärksten Motoren seiner Hubraumklasse. Das maximale Drehmoment verbessert sich gegenüber dem bisherigen V8-Motor auf 530 Newtonmeter und steht in einem breiten Drehzahlband zwischen 2800 und 4800/min zur Verfügung. Damit bietet der Achtzylinder sportwagentypischen Fahrspaß. Die Beschleunigung von null auf 100 km/h absolviert der neue S 500 in 5,4 Sekunden (Vorgänger 6,3 Sekunden). Trotz der um 26 Prozent höheren Leistung bleibt der NEFZKraftstoffverbrauch mit 11,7 bis 11,9 Litern je 100 Kilometer auf dem guten Niveau des Vorgängermodells. Auch die beiden V6-Sechszylindertriebwerke für die S-Klasse sind Neuentwicklungen. Der 200 kW starke Otto-Motor ermöglicht bei einem Leistungsplus von rund elf Prozent eine Kraftstoffersparnis von einem Liter pro 100 Kilometer. Der kombinierte Verbrauch im NEFZ-Fahrzyklus beträgt 10,1 bis 10,3 Liter je 100 Kilometer. Das 173 kW starke Dieseltriebwerk löst den bisherigen Reihensechszylinder ab und übertrifft ihn in der Leistung um 15 Prozent. Das maximale Drehmoment steigt um 40 auf 540 Newtonmeter, die ab 1600/min für vorbildliche Elastizität sorgt. Der moderne Diesel-Direkteinspritzer verbraucht 8,3 bis 8,5 Liter Kraftstoff je 100 Kilometer (NEFZ) und ist serienmäßig mit wartungsfreiem Partikelfilter ausgestattet. Die Zwölfzylinder-Limousine S600 leistet dank eines weiterentwickelten Biturbo Motors 380 kW. Das maximale Drehmoment steigt von 800 auf 830 Newtonmeter und der Kraftstoffverbrauch vermindert sich um 0,5 auf 14,3 Liter je 100 Kilometer. Mit dem V12-Motor beschleunigt die S-Klasse in nur 4,6 Sekunden von null auf 100 km/h.

Dietmar Göhlich 149

Abb. 17 Der neue Achtzylindermotor mit Vierventiltechnik, variabel verstellbaren Shifting-Nockenwellen, zweistufigem Saugmodul und Tumble-Klappen in den Einlasskanälen.

Die V6- und V8-Modelle der neuen S-Klasse stattet Mercedes-Benz serienmäßig mit Siebengang-Automatikgetriebe 7G-TRONIC aus. Ein weiteres Novum ist DIRECT SELECT – die elektronische „Shift-by-wire“-Steuerung der 7G-TRONIC durch leichtes Antippen eines Hebels rechts an der Lenksäule. Seit September 2006 ist die S-Klasse auch als 4MATIC mit permanentem Allrad-Antrieb verfügbar. Mit nur 66 kg gehört der neu entwickelte Antriebsstrang zu den absoluten Leichtgewichten und auch der Allradspezifische Mehrverbrauch konnte, bei optimaler Traktion und höchstem Komfort, auf eine neue Bestmarke reduziert werden. Die S-Klasse 4MATIC bietet damit zusätzliche Sicherheit, Souveränität und Fahrspaß selbst bei widrigen Bedingungen und wird damit der auf dem Weltmarkt weiterhin steigenden Nachfrage für Allrad-Fahrzeuge im Oberklasse Segment gerecht.

150 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

8

Zukunftsweisende Gesamtkonzepte: Umweltgerecht, wirtschaftlich und dynamisch

Entscheidend für die Umweltverträglichkeit eines Fahrzeuges ist eine möglichste geringe Belastung der Umwelt durch Emissionen und Ressourcenverbrauch, allerdings nicht nur währende der Fahrzeugnutzung, sondern über den gesamten Lebenszyklus, also auch schon während der Produktion und letztendlich auch bei der Verschrottung und Wiederverwertung. Dieser Grundsatz wurde bei der Entwicklung der neuen S-Klasse konsequent verfolgt. 8.1

Umweltgerechte Produktentwicklung

Über den Lebenszyklus einer S-Klasse ergeben Berechnungen beispielsweise einen Primärenergieverbrauch von 1364 GJ (das entspricht zirka 32 t Super Benzin), einen Umwelteintrag von 95 t CO2, 199 kg NMVOC und 73 kg NOX. Trotz eines Mehrgewichts von 30 bis 70 kg gegenüber dem Vorgängertyp können die Umweltlasten bei der neuen S-Klasse über den gesamten Lebenszyklus reduziert werden. Ein S500 Baujahr 1991 emittierte im NEFZ Zyklus noch 370 g CO2 / km, der aktuelle S500 hat ein deutlich höheres Drehmoment (+15%) und bessere Fahrleistungen. Der Kraftstoffverbrauch konnte aber gleichzeitig um 25% gesenkt werden. Die gesetzlichen Anforderungen zum Altfahrzeugrecycling können mit dem Materialkonzept der neuen S-Klasse selbstverständlich vollständig erfüllt werden. Darüber hinaus werden bei den eingesetzten Kunststoffen 45 Bauteile mit einem Gesamtgewicht von 21 kg aus hochwertigen recyclierten Kunst-

Abb. 18 Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen (links) und KunststoffRezyklaten (rechts).

Dietmar Göhlich 151

stoffen hergestellt.27 Bauteile mit einem Gesamtgewicht von 43 Kilogramm werden unter Verwendung von Naturmaterialien hergestellt. Beide Bauteilgruppen sind in Abb. 18 dargestellt. Der umweltgerechte Entwicklungsprozess (Design for Environment) der neuen S-Klasse wurde von der Zertifizierungsstelle der TÜV Management GmbH München bestätigt. Damit ist die neue S-Klasse weltweit das erste Fahrzeug mit Umweltzertifikat. In den kommenden Jahren kann der Hybrid je nach Region und Verkehrssituation den Verbrennungsmotor ergänzen, wo es zu effizienten Nutzung des Kraftstoffes und zur Erhöhung von Dynamik und Komfort sinnvoll und wirtschaftlich ist. Richtungsweisende Beispiele hierfür sind die auf der IAA 2005 vorgestellten S-Klasse Konzeptfahrzeuge „DIRECT HYBRID“ und „BLUETEC HYBRID“. 8.2

DIRECT Hybrid – der Benziner wird noch sparsamer

Der Schwerpunkt der Entwicklung beim Ottomotor liegt in der weiteren Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs. Dabei sollen seine Vorzüge – hohe Leistung sowie hervorragender Fahrkomfort bei günstigen Kosten – selbstverständlich erhalten bleiben. Gegenüber dem Diesel bringt der Benziner noch erhebliches Potenzial in der Verbrauchsreduzierung. Mit der strahlgeführten Benzin-Direkteinspritzung der zweiten Generation ist hier eine entscheidende Innovation gelungen, die deutliche Verbesserungen beim Kraftstoffverbrauch möglich macht. Auf Basis des aktuellen 3,5 Liter-V6 mit 4-Ventilen und vollvariablen Steuerzeiten wurde diese Technik in der Vision „DIRECT HYBRID“ umgesetzt. Ergänzt wird das Konzept durch eine weitere Technologie,die sowohl der Verbrauchsminderung als auch dem Fahrspaß zugute kommt – der drehmomentstarke, integrierte elektrische Antrieb. Das Elektroaggregat, das Platz sparend zwischen Verbrennungsmotor und Wandler des Automatikgetriebes 7G-TRONIC eingefügt ist (Abb. 19), wirkt je nach Fahrsituation als Starter oder als Generator. Das ist vor allem im dichten Verkehr urbaner Bereiche von Vorteil, weil sich problemlos eine Stop-and-Go-Automatik verwirklichen lässt, mit der unter diesen Verhältnissen allein drei bis sechs Prozent Kraftstoff eingespart werden. Blitzschnell bringt der Elektromotor beim Druck aufs Gaspedal den Verbrennungsmotor mit seidenweichem Start wieder auf Touren. Zugleich steuert das Elektroaggregat beim Start sein Drehmoment von 250 Nm zur Antriebsleistung bei. Damit unterstützt es optimal den Verbrennungsmotor, der prinzipbedingt sein Drehmoment erst über die steigende Drehzahl aufbaut. Die Kombination beider Motoren steigert das zurVerfügung stehende Drehmoment auf maximal 395 Nm.Die Kombination von Verbrennungs- und Elektromotor ermöglicht eine kraftvolle Anfahrcharakteristik. Durch Umkehrung seiner Funktion kann der Elektromotor sowohl in Rollphasen ohne Beschleunigung als auch durch regeneratives Bremsen einen Teil der Bewegungsenergie zurück gewinnen.

152 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

Diese Energie wird in neuartigen Hochleistungsakkus – Lithium-Ionen Batterien – gespeichert. Solche Energiespeicher zeichnen sich durch große Leistungsdichte aus,und können elektrische Energie sehr schnell laden und entladen. Sein größtes Potential spielt das Konzept mit dem Elektromotor im ausgeprägten Stop-and-Go-Verkehr aus. Trotz seiner dynamischen Beschleunigung (0–100 km/h in 7,5 Sekunden) verbraucht der „DIRECT HYBRID“ im Europa-Zyklus nur 8,3 Liter Benzin auf 100 km.

Abb. 19 Das DIRECT HYBRID Konzeptfahrzeug. Kombination von strahlgeführter Benzin-Direkteinspritzung der zweiten Generation und Hybrid-Antrieb.

8.3

Diesel mit „BLUETEC“ und Hybrid vereint Fahrfreude, Ökonomie und Ökologie

Noch einen Schritt weiter geht der „BLUETEC HYBRID“, den MercedesBenz ebenfalls in einer S-Klasse auf der IAA 2005 präsentierte. Dieses Konzeptfahrzeug vereint das Maximum an Technik zur Emissionsminderung mit den typischen Dieselvorzügen Ökonomie und Agilität sowie den Verbrauchstechniken eines Hybriden. Wie die Benziner-Variante nutzt auch der „BLUETECH HYBRID“ das zusätzliche oben beschriebene Elektroaggregat. Basisaggregat des „BLUETEC HYBRID“ ist der 3 Liter-V6 Dieselmotor. Mit „BLUETEC“ steht eine Technologie zur Verfügung, mit der Diesel auch künftige strengste Abgas-Grenzwerte in Europa, USA und Japan einhalten können. Mit dem in Abb. 20 dargestellten Technologie-Paket ver-

Dietmar Göhlich 153

Abb. 20 Das BLUETEC HYBRID Konzeptfahrzeug vereint das Maximum an Technik zur Emissionsminderung mit den typischen Dieselvorzügen Ökonomie und Agilität sowie den Verbrauchstechniken eines Hybriden.

braucht der „BLUETEC HYBRID“ nur 7,7 Liter / 100 km im europäischen Fahrzyklus. Beim Diesel geht es darum, nach der Serieneinführung des Partikelfilters weltweit auch strengste Abgaslimits im Hinblick auf Stickoxid-Emissionen einzuhalten – und das unter Beibehaltung der sprichwörtlichen Sparsamkeit. Stickoxide sind derzeit der einzige Abgasbestandteil, der beim modernen Diesel noch über dem der Benziner liegt. Dieses Ziel minimierter Stickoxid-Emissionen setzt der neue 3-Liter V6-Diesel im S-Klasse Konzeptfahrzeug „BLUETEC HYBRID“ vorbildlich um. Entscheidend für den Erfolg ist hier „BLUETEC“, eine neuartige Abgasreinigungstechnologie, die durch„Selective Catalytic Reduction“ (SCR) die Stickoxide um rund 80 Prozent reduziert. Damit wird der„BLUETEC HYBRID“ zum saubersten Diesel der Welt. Voraussetzung dazu ist die gezielt dosierte Zugabe von „AdBlue“ in den Abgasstrang, einer wässrigen Harnstofflösung, die über das Zwischenprodukt Ammoniak (NH3 ) aus den Stickoxiden am Katalysator die natürlichen und unschädlichen Produkte Wasser und Stickoxid bilden. In der Ersatzmulde der S-Klasse ist Platz sparend ein 22-Liter Tank untergebracht. Der AdBlue-Verbrauch liegt durchschnittlich bei etwa 0,1 Liter pro 100 Kilometer. Die Tankfüllung reicht also für eine Fahrtstrecke zwischen zwei Wartungsintervallen und wird beim nächsten Kundendienst

154 Innovationen der Fahrzeugtechnik am Beispiel der Mercedes-Benz S-Klasse

neu aufgefüllt. Fahrspaß, Ökonomie und Ökologie, das zeigen beide Fahrzeugkonzepte, werden also auch künftig für die S-Klasse kein Widerspruch sein.

Literaturhinweis Für tiefer gehende technische Informationen zur neuen Mercedes-Benz S-Klasse wird auf folgende technische Publikationen verwiesen:

Literatur 1. Die S-Klasse von Mercedes-Benz. ATZ/MTZ extra, Oktober 2005 2. Die neue 4MATIC in der S-Klasse von Mercedes-Benz. ATZ/MZZ extra kompakt, September 2006 3. Die neue CL-Klasse von Mercedes-Benz. ATZ, Oktober 2006

CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Volker Schindler, Heiko Johannsen

1

Anforderungen an ein modernes Stadtfahrzeug

Der motorisierte Individualverkehr ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Er ermöglicht ein Maß von persönlicher Mobilität, das es nie zuvor gegeben hat. Aber diese Entwicklung bringt auch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich. Sie unterscheiden sich in ihren Ausprägungen je nach Umgebung. In der Stadt – oder etwas allgemeiner in urbanen Gebieten – kann der Platzbedarf des fließenden und des ruhenden Verkehrs nicht überall befriedigt werden. Mancherorts soll die historisch gewachsene Stadtstruktur nicht durch Bauten zu Gunsten des Straßenverkehrs verändert werden. Ein Fahrzeug, das überwiegend für den urbanen Gebrauch vorgesehen ist, muss diesen Anforderungen in besonderes Weise Rechnung tragen. Natürlich sollen auch die lokal wirksamen Emissionen wie Kohlenmonoxid (CO),Stickstoffoxide (NO,NO2 ,häufig gemeinsam mit NOx bezeichnet) und unverbrannte Kohlenwasserstoffe (HC) auf ein besonders niedriges Niveau begrenzt werden.Hinzu kommen Anforderungen an die aktive und passive Sicherheit, die für jedem modernen Pkw gelten, die aber bei einem besonders kleinen und leichten Fahrzeug nicht leicht erfüllt werden können. Der Stadtverkehr trägt auch zur Freisetzung von fossilem Kohlenstoff und damit zum Treibhauseffekt bei; der Reduzierung der CO2 -Emissionen kommt daher ebenfalls Bedeutung zu. In der Summe entsteht ein Anforderungsprofil, das nicht leicht zu erfüllen ist. Es ist vielfach versucht worden, technische Lösungen für diese Anforderungen zu entwickeln. Sie können nach den Prioritäten unterschieden werden, die bei der Auswahl des Basiskonzepts tragend waren. Eine Gruppe konzentriert sich fast kompromisslos auf die Minimierung des Platzbedarfs und nimmt dabei erhebliche Abstriche bei der Transportkapazität und bei der Unterbringung der Nutzer in Kauf. Beispiele für solche Fahrzeugkon-

156 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

zepte sind Segway, CityEl, Twike. Als weniger radikal werden Lösungen empfunden, die das Fahrrad bzw. das Leichtmotorrad weiter entwickeln. Eine andere Konzeptstrategie legt das Schwergewicht auf die Vermeidung aller lokalen Emissionen, will aber sonst die von normalen Pkw gewohnte Funktionalität bieten. Beispiele dafür sind vor allem Elektrofahrzeuge wie BMW E1, Hotzenblitz, Th!ink, GM EV1, Smart ev1 . Andere Konzepte versuchen einen besser ausgewogenen Kompromiss zwischen den verschiedenen Optimierungszielen zu finden. Ein Produkt dieser Art, das wirklich den Markt erreicht hat, ist der Smart. Er wurde 1998 eingeführt. Von der 1. Generation wurden 770.000 Fahrzeuge gebaut. 2007 kam er in einer zweiten Generation auf den Markt und wird inzwischen auch in Nordamerika angeboten. Ein ganz anderes Konzept stellt der BMW C1 dar. Hier wurde die hervorragende Tauglichkeit eines relativ kleinen Einspurfahrzeugs für den städtischen Verkehr mit den guten Eigenschaften eines konventionellen Pkw auf dem Gebiet der passiven Sicherheit verbunden.Auf die Vorschrift zum Tragen eines Helmes konnte verzichtet werden. Der C1 schuf sich ein eigenes Marktsegment, allerdings waren die Verkaufszahlen mit ca. 33.000 Fahrzeugen in drei Jahren niedriger als geplant. Die Kundengruppe erwies sich u. a. deshalb als zu klein, weil für den Betrieb des C1 ein Motorradführerschein gefordert wird; Personen mit Pkw-Führerschein dürfen ihn nur fahren, wenn sie ihn vor dem 1.4.1980 erworben haben. Zudem ist der Wetterschutz nicht ausreichend. Die Notwendigkeit, das Fahrzeug im Stand mit den Füßen zu stabilisieren, schreckte manchen potentiellen Kunden ab. Typische Motorradfahrer konnten wegen der relativ geringen Leistung und dem Erscheinungsbild kaum für das Konzept gewonnen werden. In der Summe war der BMW C1 ein interessantes Experiment mit überzeugenden Eigenschaften auf dem Gebiet der passiven Sicherheit. Vielleicht wurde es zu früh abgebrochen. Ein in mancher Hinsicht dem C1 vergleichbares Konzept wurde in dem EU-geförderten Projekt ZEDIS unter Federführung von Piaggio realisiert. Es handelte sich dabei um ein Dreiradfahrzeug mit Kurvenneigetechnik und Elektroantrieb. Es konnte in realen Crashversuchen bewiesen werden, dass selbst bei einem so kleinen Fahrzeug ein relativ hohes Maß an passiver Sicherheit möglich ist.

1

Fahrzeuge mit Brennstoffzellenantrieb bleiben hier unberücksichtigt. Sie sind in aller Regel für den Ersatz von Kfz mit Verbrennungskraftmaschinen gedacht. Wenn sie heute auch als Lösung für den Verkehr in Ballungszentren angesehen werden, hängt das mit der für den Betrieb auf langen Strecken noch nicht ausreichenden Tankkapazität zusammen.

Volker Schindler, Heiko Johannsen 157

Abb. 1

2

Der BMW C1

CLEVER – Compact Low Emission VEhicle for URban Transport

Vor diesem Hintergrund sollte im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projektes untersucht werden2 , wie ein kleines Fahrzeug für den urbanen Gebrauch aussehen kann, das möglichst viele der gewünschten Eigenschaften aufweist. Nach einer genauen Analyse des Standes der Technik und der Anforderungen an ein solche Fahrzeug wurde es wie folgt näher spezifiziert: • Geringe Außenabmessungen (0,8 m < Breite < 1,00 m, 2,5 m < Länge < 3 m) • Angemessener Raum für zwei Sitzplätze (ein 95% Mann und ein 50% Mann) plus Gepäck • Vollständig geschlossener Innenraum mit Heizung und Lüftung • Angemessene Fahrleistungen für der Verkehr in einer urbanen Umgebung (vmax > 100 km/h, b0−60 < 7 s) • CO2 -Emissionen < 50 g/km • Sehr geringe Schadstoffemissionen (10% von Euro IV) • CNG-Antrieb • Möglichkeit zum Tanken unabhängig von der Infrastruktur an CNGTankstellen • Grundsätzliche Möglichkeit zur Realisierung alternativer (z. B. elektrischer) Antriebssysteme im selben Package • Guter Insassenschutz 2

Das CLEVER Projekt wurde von der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms „Competitive and Sustainable Growth“ (GROWTH-Programm) des 5. Forschungsrahmenprogramms unter der Vertragsnummer G3RD-CT-2002-00815 finanziell gefördert.

158 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

• • • • • • •

Sehr hohes Niveau beim Fußgängerschutz Sehr gute Kompatibilität bei Unfällen mit konventionellen Fahrzeugen Standstabilität Einfaches, Pkw-ähnliches Handling Geringe Anfälligkeit gegen Seitenwind Attraktives Erscheinungsbild „Freude am Fahren“ in anderer Form

Die geringe Breite und die Forderung nach Standstabilität machen ein zweispuriges oder dreirädriges Fahrzeug fast zwingend erforderlich. Die gleichzeitige Forderung nach hoher Agilität, die sich vor allem in hohen möglichen Querbeschleunigungen äußern sollte, führt zur Auslegung als Kurvenneiger. Aus Aufwandsgründen erschien ein Zweispurfahrzeug unzweckmäßig; die Entscheidung fiel daher zugunsten eines Dreirades. Für die Wahl von Erdgas als Endenergieträger waren vier Gründe maßgebend. Einmal handelt es sich um einen erstklassigen Ottokraftstoff, der das Potential bietet, eine sehr hohe spezifische Motorleistung zu realisieren. Zweitens können bereits die Emissionen aus dem Motor vor dem Katalysator – die Rohemissionen – auf ein vergleichsweise geringes Niveau gesenkt werden, so dass nach einer Abgasnachbehandlung mit einem 3Wege-Katalysator sehr geringe Schadstoffemissionen erreichbar sind. Drittens bietet Erdgas – oder besser dessen Hauptbestandteil Methan, CH4 – das günstigstes Verhältnis von Wasserstoff zu Kohlenstoff von allen Kohlenwasserstoffen; das ist hilfreich,wenn ein ambitioniertes Ziel für die CO2Emissionen angestrebt wird. Ein weiteres Argument ist nicht-technischer Art: In einigen als potentielle Absatzmärkte wichtigen Ländern wird die Anschaffung, das Halten und der Betrieb von Erdgasfahrzeugen steuerlich begünstigt oder sogar direkt subventioniert. So wird zum Beispiel in Deutschland Erdgas als Kraftstoff wesentlich geringer besteuert als Diesel oder gar Benzin, die Kraftstoffkosten sind daher deutlich geringer3. Außerdem werden Erdgasfahrzeuge bei der Kfz-Steuer günstiger behandelt als andere Fahrzeuge. Da alle diese Regelungen einem u. U. relativ kurzfristigen politischem Meinungswandel unterliegen können, wurde bei der Festlegung des CLEVER-Konzepts darauf geachtet, dass auch andere Antriebskonzepte möglich bleiben.

3

Projektorganisation

Ziel des CLEVER-Projektes war es nun,die oben skizzierten Anforderungen in ein konkretes Fahrtzeugkonzept umzusetzen und es in der Form von Versuchsfahrzeugen erlebbar und überprüfbar zu machen.Dabei wurde der 3

Erdgas wird in Deutschland als Kraftstoff bis zum 31.12.2018 mit 13,90 ¤/MWh besteuert; daraus errechnet sich eine Besteuerung bezogen auf die CO2 -Freisetzung von 79 ¤/t. Für Benzin ergibt sich 327 ¤/t CO2 .

Volker Schindler, Heiko Johannsen 159

Schwerpunkt auf die konzeptbestimmenden Elemente gelegt.Wo immer es sonst möglich war, wurden am Markt erhältliche Komponenten verwendet. Die fertigen Fahrzeuge zeigen daher das Potential noch nicht vollständig. Die Arbeit im Projekt wurde in eine Reihe von Work Packages gegliedert, die sich ihrerseits aus zahlreichen Tasks zusammensetzten (siehe Abb. 2). Das Projektkonsortium war europäisch-international zusammengesetzt und bot das spezielle Fachwissen für fast jede der zu lösenden Aufgaben (siehe Tabelle 1); zusätzlich wurden einige Unteraufträge vergeben.

Abb. 2

Projektstrukturplan

Als Ergebnis des Projekts liegt die technische Spezifikation des Fahrzeugs mit Schwergewicht auf den folgenden Themen vor: • Attraktives Fahrzeugkonzept, • Fahrwerkskonzept für nahezu querkraftfreies Fahren bei hohen Querbeschleunigungen mit hoher Ausfallsicherheit und Sicherheitsmechanismen; • Sicherheitskonzept für Fahrzeugstruktur und Rückhaltesysteme auf dem Niveau typischer kleiner Pkw, • auf Erdgas optimiertes Motorkonzept mit geringen Schadstoff- und CO2 -Emissionen;

160 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch Tabelle 1

Partner im CLEVER-Konsortium und ihre Verantwortlichkeiten

TU Berlin Fachgebiet Kraftfahrzeuge BMW Group

Berlin, Deutschland

Projektkoordination Strukturauslegung Sicherheitsversuch

München, Deutschland

Gesamtfahrzeug, Bau der Versuchsfahrzeuge

University of Bath Department Mechanical Engineering Cooper Avon Tires Ltd.

Bath, Großbritannien

Chassis Neigetechnik

Melksham, Großbritannien Ranshofen, Österreich

Reifen

Strukturbauteile

R. Kretz U. Noster

Berlin, Deutschland Vernaison, Frankreich

Rückhaltesysteme

L. Hollmotz S. Sohr B. Martin R. Tilagone S. Venturi S. Abele E. Weh S. Hanzl A. Neumann J. Stark G. Sammer

ARC Leichtmetall Kompetenzzentrum Ranshofen GmbH Takata Petri AG Institut Fran¸cais du P´etrole Weh GmbH

Illertissen, Deutschland Universität für Wien, Bodenkultur Österreich Institut für Verkehrswesen

Motor

Gassystem Gesetzliche Rahmenbedingungen, Akzeptanz, Auswirkungen auf den Verkehr

H. Johannsen L. Lasek S. Weber V. Schindler M. Fischer P. Krams G. Matschy (PSW) P. Neumann (Neumann Design) M. Barker C. Denton B. Drew K. Edge G. Owen C. Denton M. Hinds

Volker Schindler, Heiko Johannsen 161

• Tanktechnologie mit wechselbaren CNG-Flaschen, die unabhängig von einem dichten Netz von Erdgastankstellen die Kraftstoffversorgung ermöglicht; • Fahrzeugstruktur, die für eine kostengünstige Fertigung in kleiner Serie (< 100 E/d) optimiert wurde; • zwei fahrfähige Prototypen, davon einer als voll funktionsfähiges Trimmfahrzeug; • Vorschläge für die Weiterentwicklung des europäischen Regelwerks für die Technik und den verkehrlichen Einsatz solcher Fahrzeuge; • klares Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen solcher Fahrzeugkonzepte in technischer und verkehrlicher Hinsicht.

Seither wurde das Konzept auf einer Reihe von Veranstaltungen vorgestellt und in der gedruckten und elektronischen Presse sowie in Rundfunk und Fernsehen umfangreich dargestellt.

4

Bedingungen für die Betrieb von CLEVER im öffentlichen Straßenverkehr

Auf Grund seiner speziellen Auslegung • als kurvenneigendes Dreirad mit schmaler Spur • mit Erdgasantrieb mit austauschbaren Gasflaschen

sind für CLEVER die für konventionelle Pkw geltenden nationalen und europäischen Vorschriften für die Zulassung zum öffentlichen Straßenverkehr nur in Teilen verbindlich. Nach der europäischen Richtlinie 2002/24/EG handelt es sich um ein „Dreiradfahrzeug, d. h. (um ein) mit drei symmetrisch angeordneten Rädern ausgestattetes Kraftfahrzeug mit einem Motor und Hubraum von mehr als 50 ccm und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 45 km/h“ (Fahrzeugkategorie L5). Es stellen sich die Fragen • Welche Fahrerlaubnis ermöglicht das Fahren von CLEVER? • Welche Vorschriften gelten bezüglich der passiven Sicherheit? Unter welchen Bedingungen können die Nutzer von der Pflicht zum Tragen eines Helms ausgenommen werden? • In welcher Weise kann CLEVER bei der Ermittlung des Flottenverbrauchs gemäß der Selbstverpflichtung des ACEA zur Minderung der spezifischen CO2 -Emissionen einbezogen werden? • Unter welchen Umständen dürfen austauschbare Hochdruckbehälter in Kfz eingesetzt werden? • Ist es möglich, Fahrzeugen wie CLEVER angesichts ihrer Vorteile im Stadtverkehr praktische Vorteile einzuräumen, die ihre Nutzung fördern?

162 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

4.1

Zulassung von L5-Fahrzeugen für den Straßenverkehr

Voraussetzung für den Betrieb eines Kfz auf öffentlichen Straßen ist die Zulassung durch eine dazu befugte Behörde, in Deutschland durch das Kraftfahrtbundesamt (KBA). Alternativ wäre nur der Weg der Einzelzulassung denkbar. 4.1.1 Richtlinien für die Zulassung Die europäische Richtlinie 2002/24/EG führt die Regelungen einzeln auf, die bei der Zulassung eines L5-Fahrzeugs zur Anwendung kommen müssen (siehe Tabelle 2). Auffällig ist dabei, dass weder für die passive Sicherheit besondere Anforderungen formuliert werden noch für das Tanksystem. Tabelle 2 ist

Europäische Richtlinien, deren Einhaltung für CLEVER obligatorisch

92/61/EWG 93/14/EWG 93/29/EWG 93/30/EWG 93/33/EWG 93/34/EWG 93/92/EWG 93/93/EWG 93/94/EWG 95/1/EU 97/24/EU

2000/7/EU

Betriebserlaubnis für zweirädrige oder dreirädrige Kfz Bremsanlagen für zweirädrige oder dreirädrige Kfz Kennzeichnung der Betätigungseinrichtungen, Kontrollleuchten und Anzeiger von zwei- oder dreirädrigen Kfz Einrichtungen für Schallzeichen von zweirädrige oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen Sicherungseinrichtung gegen unbefugte Benutzung von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen Vorgeschriebene Angaben an zwei- o. dreirädrigen Kfz Anbau der Beleuchtungs- und Lichtsignaleinrichtungen an zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen Massen und Abmessungen von zwei- u. dreirädrigen Kfz Die Anbringungsstelle des amtlichen Kennzeichens an der Rückseite von zwei- oder dreirädrigen Kfz Die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit sowie das maximale Drehmoment und die maximale Nutzleistung des Motors von zwei- oder dreirädrigen Kfz Bestimmte Bauteile und Merkmale von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen (betrifft Reifen, Beleuchtungs- und Lichtsignaleinrichtungen, vorstehende Außenkanten, Rückspiegel, Maßnahmen gegen die Verunreinigung der Luft, Kraftstoffbehälter, Maßnahmen gegen unbefugte Eingriffe, elektromagnetische Verträglichkeit, den zulässigen Geräuschpegel und die Auspuffanlage, Anhängevorrichtungen und die Befestigungen, Verankerungen der Sicherheitsgurte und die Sicherheitsgurte, Scheiben, Scheibenwischer und Scheibenwascher und Entfrostungs- und Trocknungsanlagen) Geschwindigkeitsmesser von zwei- o. dreirädrigen Kfz

Volker Schindler, Heiko Johannsen 163

Es existiert aber eine Reihe von anderen Regelungen, die sich indirekt auf die Zulassungsfähigkeit auswirken und daher beachtet werden müssen. 4.1.2 Abgasemissionen Für Fahrzeuge der Kategorie L5 werden die zulässigen Emissionen in der Richtlinie 97/24/EU definiert. Das Messverfahren ist viel einfacher als das für Pkw. Das führt bezogen auf CLEVER zu Grenzwerten, die deutlich über denen für von konventionellen Pkw liegen. Es wurde daher für die Auslegung das Messverfahren für M1-Fahrzeuge4 nach Euro IV zugrunde gelegt. Um dem besonderen Anspruch von CLEVER an die Umweltverträglichkeit gerecht zu werden, sollen die bereits anspruchsvollen Grenzwerte noch erheblich unterschritten werden (Ziel: 10% von Euro IV). 4.1.3 Austauschbare CNG-Behälter Die Zulassungsvorschriften nach ECE 110 sehen bisher die Verwendung von austauschbaren Druckgasbehältern in Kraftfahrzeugen nicht vor5. Im Vorfeld eines Typgenehmigungsverfahrens muss daher Klarheit über die Zulassungsfähigkeit erzielt werden. Da dies ein langwieriger Prozess sein kann, müsste CLEVER zunächst mit einem Benzinmotor ausgerüstet werden. Ein Teil der weiter unten beschriebenen Vorteile durch den Betrieb mit Erdgas ginge dann verloren. 4.2

Fahrerlaubnisrecht bezogen auf CLEVER

Die europäische Richtlinie 91/439/EEC führt die Fahrerlaubnisklassen für die EU auf. Dort wird auch die Klasse B1 definiert, nach der Personen ab 16 Jahren die Erlaubnis zum Führen eines Kfz mit einer Höchstgeschwindigkeit von mehr als 45 km/h erteilt werden kann, wenn das Fahrzeug nicht schwerer ist als 550 kg. Bei der Umsetzung in nationales Recht bestehen jedoch Spielräume (siehe Tabelle 3). Die Fahrzeugunterklasse B1 wurde nur in Frankreich und Großbritannien eingeführt. Die Anforderungen an die Fahrausbildung werden ganz unterschiedlich geregelt.

4 5

Klasse M1 : Fahrzeuge für Personenbeförderung mit höchstens 8 Sitzplätzen außer dem Fahrersitz (nach Richtlinie 70/156/EWG) ECE-R110, part II, 17.4.1.„The container shall be permanently installed in the vehicle and shall not be installed in the engine compartment.“

164 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch Tabelle 3 Welcher Führerschein berechtigt zum Führen von CLEVER? A – Motorrad, A1 – Leichtmotorrad, B – Pkw, B1 – leichter Pkw, Mitgliedsstaat der EU

Frankreich, Italien, Portugal Dänemark Österreich Finnland, Großbritannien, Spanien

Das Führen eines Kfz der europäischen Führerscheinkategorie B1 erfordert die nationale Führerscheinklasse A, A1 A, B für Dreiräder, B für vierrädrige B1-Fahrzeuge A, B bis 400 kg, B über 400 kg A

Belgien, Deutschland, Griechenland, Irland, B Luxemburg, Niederlande, Norwegen

4.3

Helmtragepflicht

Es existiert keine EU-weite Festlegung zum Tragen von Helmen oder Schutzkleidung.In den Mitgliedsländern sind jeweils nationale Regelungen gültig. Die Ausnahme von der Helmtragepflicht für den BMW C1 musste daher in jedem einzelnen Land beantragt und bewilligt werden. Sie wurde nach Nachweis der überlegenen Sicherheitseigenschaften des Fahrzeugs überall mit Ausnahme von Großbritannien erteilt. 4.4

Anrechnung auf die CO2 -Selbstverpfichtung

Der Verband der europäischen Automobilhersteller hat sich gegenüber der EU-Kommission 1998 verpflichtet, bis 2008 im Durchschnitt über alle neu zugelassenen Fahrzeuge eine CO2 -Emission von höchstens 140 g/km zu erreichen [ACEA]. Innovative Fahrzeugkonzepte werden ausdrücklich als eine Möglichkeit genannt, diesem Ziel näher zu kommen, auch wenn sie nicht in die M1-Kategorie gehören.Hierbei wird zwischen vierrädrigen und dreirädrigen Fahrzeugen unterschieden. Nach Auffassung der EU-Kommission können solche Konzepte in die Berechnung des Flottenverbrauchs einbezogen werden, wenn nachgewiesen werden kann, dass sie heute übliche Fahrzeuge ersetzen.Außerdem sollen sie Eigenschaften bei aktiver und passiver Sicherheit haben, die konventionellen Fahrzeugen nicht nachstehen, und sie müssen die Altfahrzeugverordnung 2000/53/EG erfüllen. Während die oben beschriebenen Anforderungen für vierrädrige Fahrzeuge verbindlich definiert wurden, behält sich die Kommission für dreirädrige Fahrzeugkonzepte eine Einzelfallentscheidung vor. Sofern es nicht möglich ist, nachzuweisen, dass alternative Fahrzeuge konventioneller Fahrzeuge er-

Volker Schindler, Heiko Johannsen 165

setzen, werden nur insgesamt 100.000 Fahrzeuge bezogen auf die gesamte ACEA-Flotte berücksichtigt. Da es eines der Projektziele ist, für CLEVER die Anrechnung auf den CO2 -Flottenverbrauch zu erreichen, wurden zusätzlich zu den gesetzlich verbindlichen Regelungen nach Tabelle 2 alle anderen, für M1-Fahrzeuge geltenden sinngemäß übertragen und angewendet. Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden, dass CLEVER im EuroNCAP-Testverfahren positiv bestehen kann. 4.5

Regeln für die Nutzung von CLEVER im Straßenverkehr

Die Regelungen für das Parken, die Benutzung von Sonderspuren, für die Behandlung in Gebieten mit Straßenmaut usw. werden nicht zentral von der EU vorgegeben, sondern national, regional oder sogar lokal gesetzt. Es ist daher schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Nach den Erfahrungen mit besonders kleinen M1-Fahrzeugen wie dem Smart und Leichtkraftfahrzeugen (Quadricycles, Kategorie L66 ) kann man aber damit rechnen, dass CLEVER vor allem beim Parken gelegentlich Vorrechte gegenüber M1Fahrzeugen eingeräumt würden. In London sind CNG-Fahrzeuge von der Citymaut befreit.

5

Fahrzeugkonzept

Die konzeptbestimmenden Festlegungen auf ein kurvenneigendes Dreiradfahrzeug mit Anordnung von zwei Sitzen für eine groß gewachsene Peron und eine mittlerer Größe wurden früh getroffen. Sie waren anschließend in ein konkretes Fahrzeugkonzept umzusetzen. Im Rahmen des Package-Prozesses wurden Lösungen für die räumliche Anordnung aller Komponenten unter Beachtung funktionaler – insbesondere auch ergonomischer – und fertigungstechnischer Randbedingungen erarbeitet. Aufbauend auf einem ersten, noch groben Package wurde parallel dazu das Stylingkonzept entwickelt.

6

L6 nach„Classification and Definition of Power-Driven Vehicles and Trailers“ der UNECE: „A vehicle with four wheels whose unladen mass is not more than 350 kg, not including the mass of the batteries in case of electric vehicles, whose maximum design speed is not more than 45 km/h, and whose engine cylinder capacity does not exceed 50 cm3 for spark (positive) ignition engines, or whose maximum net power output does not exceed 4 kW in the case of other internal combustion engines, or whose maximum continuous rated power does not exceed 4 kW in the case of electric engines.“

166 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

5.1

Package

In Abb. 3 wird ein sehr frühes maßliches Konzept für CLEVER im Seitenriss gezeigt.

Abb. 3 Sehr frühes Maßkonzept von CLEVER unter Beachtung ergonomischer Anforderungen an Sitzposition und Sitzverstellbereich sowie Sichtbereiche (SRP – Seat Reference Point)

5.2

Design

Das Design von CLEVER wurde von vier getrennten Teams im Wettbewerb erarbeitet.Wie die Abb.4 bis 7 zeigen,unterschieden sich die gestalterischen Auffassungen erheblich. Bei der technischen Analyse entstanden erhebliche Zweifel ob im Design 1 die erforderlichen Funktionen wie das Schwenken der Kabine realisierbar sein würden. Es wurde daher nicht weiter verfolgt. Design 2 wurde nicht weiter verfolgt, weil es dem gestalterischen Anspruch nicht gerecht wurde. Die Konzepte 3 und 4 wurden praktisch gleich bewertet. Schließlich gaben Kosten- und Kapazitätsgründe den Ausschlag zu Gunsten von Stylingthema 4. Es wurde in den Wochen nach der Entscheidung in Form von Skizzen detaillierter ausgearbeitet (siehe Abb. 8) Im nächsten Schritt wurden das optimierte Design und das Package im Detail in Übereinstimmung gebracht. Dabei wurde Gebrauch von 1 : 1 Renderings gemacht, großen Schnittdarstellungen der Charakterlinien des künftigen Fahrzeugs in Kombination mit entsprechenden Packagezeichnungen. Nach Lösen der dabei auftretenden Konflikte wurde das Design mit Hilfe entsprechender Software (ALIAS) in fotorealistischem Detail dar-

Volker Schindler, Heiko Johannsen 167

Abb. 4 Designkonzept 1 unter dem Motto „1 – 2 – 3“ (einzigartiger Zweisitzer auf drei Rädern)

Abb. 5 Beim Designkonzept 2 standen praktische Funktionen wie ein variabler Gepäckraum im Vordergrund.

gestellt und so für das Management bewertbar gemacht.Anschließend entstanden 1 : 4 Modelle,die auch ersten aerodynamischen Versuchen unterzogen wurden. Nach Abschluss der technischen und der Design-Entwicklung wurden die Prototypteile gefertigt und die Fahrzeuge aufgebaut.

168 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 6 Bei Designkonzept 3 wurde besonderer Wert auf sichtbare Technik gelegt.

Abb. 7 Mit dem Designkonzept 4 sollte ein dynamisches Erscheinungsbild erreicht werden.

Volker Schindler, Heiko Johannsen 169

Abb. 8 Ausarbeitung des ausgewählten Stylingthemas

170 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

5.3

Aerodynamik

Der erste vollständige Prototyp des CLEVER wurde im Windkanal untersucht. Er hat eine Querschnittsfläche von 1,045 m2 . Der Luftwiderstandsbeiwert liegt bei 0,456. Konventionelle Pkw erreichen Werte herab bis 0,26; es ist allerdings bekannt, dass gute cw -Werte immer schwerer zu erreichen sind, wenn die Fahrzeuglänge verringert wird. Das für den Luftwiderstand entscheidende Produkt cw × A liegt bei 0,477 m2 (ohne Spiegel). Dieser Wert ist gering im Vergleich zu konventionellen Pkw. Trotzdem wurde nach Möglichkeiten gesucht den cw -Wert zu senken. Dies gelang in relevantem Ausmaß nur durch eine durchgehende Abdeckung zwischen Frontrad und Vorderseite der Zelle. Ein anderer großer Einfluss geht von der Teilung zwischen schwenkbarer Zelle und Antriebseinheit aus. Ein Abdecken des Spalts bringt eine deutliche Verbesserung. In der Summe wäre eine Absenkung des cw -Wertes um ca. 10% möglich. Die Maßnahmen würden aber Funktion und Styling stark beeinträchtigen und wurden daher nicht umgesetzt. Die gemessenen Auftriebskräfte sind völlig irrelevant für den Geschwindigkeitsbereich von CLEVER.

6

Struktur und passive Sicherheit

Ein Motorrad muss praktisch keinen Crashanforderungen gerecht werden. Da CLEVER aber für Pkw-Nutzer interessant sein soll und als „innovatives Fahrzeugkonzept“ im Sinne der Monitoring Rules für die ACEA-Selbstverpflichtung anerkannt werden soll, wurde großer Wert auf die passive Sicherheit gelegt. Die passive Sicherheit eines Kfz beruht auf wenigen Prinzipien: • Es muss in jeder Phase des Unfalls ein sicherer Überlebensraum für die Insassen zur Verfügung stehen, in den keine Teile von außen eindringen und der selber nur geringfügig deformiert wird. • Die Insassen müssen in dieser Sicherheitszone zurückgehalten werden. Sie dürfen nicht auf Teilen der Umgebung aufschlagen. • Die Belastungen, die auf die Insassen wirken, müssen unterhalb der Grenzen bleiben, die zu Verletzungen führen.

Ein sicheres Kfz benötigt daher 1. eine sehr steife innere Zelle, in der sich die Insassen aufhalten, 2. eine Zone vor der steifen Zelle, in der die kinetische Energie der Fahrzeugbewegung abgebaut werden kann, 3. Rückhaltesysteme für die Insassen, die die Verzögerung bei einem Unfall ertragbar machen und harte Kontakten mit Teilen der Zelle verhindern.

Volker Schindler, Heiko Johannsen 171

Je kleiner ein Fahrzeug ist, desto schwieriger wird es, diese Forderungen gleichzeitig zu erfüllen. Ein Schwerpunkt der Arbeiten an CLEVER lag daher auf diesen Fragestellungen. 6.1

Definition der Crashanforderungen

Das Bestehen der gesetzlichen Tests, das eine der Voraussetzung für die Zulassung von Pkw zum Straßenverkehr darstellt, ist heute nicht mehr die härteste Anforderung an die Sicherheitsauslegung eines Fahrzeugs. Die Ergebnisse von Versuchen, die im Rahmen des EuroNCAP [EuroNCAP]7 durchgeführt werden, sind für sehr viele Kunden wichtige Entscheidungsgründe bei der Wahl eines neuen Kfz. Die Testbedingungen von EuroNCAP können jedoch auf ein schmales Fahrzeug wie CLEVER nicht unmittelbar angewandt werden. Eine Überdeckung mit einem Hindernis von 40% kann nicht sinnvoll definiert werden. Das Verfahren zur Beurteilung der Fußgängersicherheit würde bei CLEVER zu sinnlosen Resultaten führen. Daher wurden Bedingungen definiert, die EuroNCAP so gut wie möglich nahe kommen: • Frontalaufprall nach US-NCAP mit einer Bewertung nach EuroNCAP, • Seitenaufprall nach EuroNCAP, • Test der Kompatibilität bei einem Aufprall von CLEVER seitlich gegen einen üblichen Pkw, • Dacheindrücktest nach FMVSS8 216, • Bewertung der Fußgängersicherheit durch numerische Simulation

6.2

Die Fahrzeugstruktur und ihre Auslegung

Die Fahrzeugstruktur von CLEVER kann funktional in drei Abschnitte unterteilt werden. Die Front einschließlich des Vorderrades und seiner Führung dient als Crashzone; durch plastische Deformation wird im Falle eines Aufprall kinetische Energie abgebaut. Die eigentliche Kabine soll den Insassen Schutz bieten. Der Rahmen der Heckstruktur muss vor allem den Betriebslasten durch Antrieb und Neigebewegung gerecht werden; zudem schützt er die Gasflaschen und andere Komponenten. Die Struktur wird aus stranggepressten Aluminium-Profilen gebildet, die über gegossene Aluminium-Knoten miteinander verschweißt werden. Diese Bauweise ermöglicht ein relativ geringes Gewicht bei hoher Steifigkeit. Zudem sind die Kosten für Werkzeuge und andere Betriebsmittel für die Produktion relativ gering. Allerdings stehen dem höhere Stückkosten gegenüber.Die Technologie eignet sich also vor Allem für kleine bis mittlere Stückzahlen. 7 8

NCAP ist die Abkürzung für New Car Assessment Programme FMVSS ist die Abkürzung für „Federal Motor Vehicle Safety Standard“. Sie bezeichnet die Vorschriften der NHTSA – National Highway Traffic Safety Agency – , die von Kraftfahrzeugen, die in den USA zugelassen werden sollen, eingehalten werden müssen.

172 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Zur Optimierung der Struktur wurde ein numerisches Modell aufgebaut, das es erlaubt, das Verhalten bei einem Crash im Detail zu studieren. Es gelang, durch konstruktive Gestaltung der Struktur und die Formgebung der Profile Verformungszonen zu schaffen, die bei einem Aufprall Energie absorbieren können. Zugleich wurde versucht, für alle Aufprallsituationen sicherzustellen, dass der Innenraum weitgehend undeformiert bleibt und den Insassen in jeder Phase Schutz bietet (siehe Abb. 9). Das Vorderrad und dessen Führung sowie Teile der Strukturen in der Front der Zelle müssen die Energie bei einem Frontalaufprall in plastische Deformation umsetzen können. Da für das Rad, dessen Führung und die Anbindung an die Zelle wenig Erfahrungen mit Crashrechnungen vorliegen, wurde eine Serie Versuche mit verschieden ausgeführten Komponenten durchgeführt, um die Rechnungen zu validieren. Als Resultat dieser Komponententests wurde das Simulationsmodell angepasst und die Konstruktion der vorderen Crashstruktur wesentlich verändert.

Abb. 9

Lastpfade beim Frontalaufprall

Bezogen auf den Seitenaufprall ist die Quersteifigkeit der Struktur von entscheidender Wichtigkeit. Es muss vermieden werden, dass der enge Raum für die Insassen durch den seitlichen Aufprall unzulässig stark eingedrückt wird. Das gelingt durch kräftig dimensionierte Träger in der Seite des Fahrzeugs. Die relativ geringe Länge des Fahrzeug mindert die Gefahr, dass die Crashbelastung einseitig eingetragen wird und damit lokal ein Eindrücken der Struktur erfolgt. Angesichts der minimalen Wege, die für eine Relativbewegung der Insassen zur stoßzugewandten Seite des Fahrzeugs zur Verfügung stehen, können sich keine großen Relativgeschwindigkeiten

Volker Schindler, Heiko Johannsen 173

aufbauen. Allerdings muss sichergestellt werden, dass Tür und Scheiben an ihrem Platz bleiben. Das relativ geringe Gewicht von CLEVER und die steife Struktur werden bei einem seitlichen Stoß zu einem Wegschleudern des Fahrzeugs mit entsprechenden Beschleunigungen führen. 6.3

Rückhaltesysteme

Die Rückhaltesysteme von CLEVER machen Gebrauch von den Entwicklungen, die in den letzten dreißig Jahren wesentlich zur Verbesserung der Fahrzeugsicherheit beigetragen haben. Es wurden für den Vordersitz ein Dreipunkt-Sicherheitsgurt mit Gurtstraffer und zweistufigem Kraftbegrenzer und hinten ein Dreipunkt-Gurtsystem mit Kraftbegrenzung vorgesehen. Der Fahrer wird zusätzlich durch einen Frontairbag mit zwei Kammern und 60 l Volumen geschützt. Die Lenksäule ist deformierbar ausgelegt. Der recht eng hinter dem Fahrersitz untergebrachte Beifahrer wird bei einem Frontalaufprall trotz der Rückhaltewirkung des Gurtes mit dem Kopf die Rückenlehne des Vordersitzes treffen. Um Verletzungen vorzubeugen, wurde sie mit einem energieabsorbierenden Schaum gepolstert und plastisch verformbar ausgelegt. Bei der Auslegung wurde umfangreich Gebrauch von numerischen Methoden gemacht. Mit deren Hilfe wurde auch sichergestellt, dass auch bei seitlich geneigtem Fahrzeug die volle Schutzwirkung erreicht wird. Die Kraftniveaus der Gurtkraftbegrenzer, die Zündzeitpunkte für Airbag und Gurtstraffer, das Verhalten der Rückenlehne unter der Last des Passagiers usw. wurden vorab durch Simulation optimiert. 6.4

Fußgängersicherheit

Die Fußgängersicherheit wurde mit Hilfe eines numerischen Verfahrens untersucht, das für eine vergleichende Bewertung von Fahrzeugfronten entwickelt worden ist (siehe [Kühn et al.]). In den meisten Unfallkonstellationen kommt es zu einem Abgleiten des Fußgängers von der Front von CLEVER. Ein Aufschlag auf einen unnachgiebigen Teil der Struktur mit der Gefahr erheblicher Kopfverletzungen ist selten zu erwarten. CLEVER verhält sich damit erheblich „fußgängerfreundlicher“ als andere Pkw. 6.5

Ergebnisse der Crashtests

Beim Test des Frontalaufpralls wurde Zellenverzögerungen gemessen, die den Erwartungen aus der Simulation entsprachen. Die Fahrgastzelle blieb trotz der hohen Anforderungen aus dem 56 km/h Wandaufprall nahezu undeformiert. Der Sitz des Fahrers erwies sich aber als zu labil und zu schwach fixiert, die Sitzverankerung löste sich und ließ zu viel Vorverlagerung des Beckens während der Anfangsphase des Crashes zu (Abb. 10). Außerdem veränderte sich dadurch die Gurtführung des Schultergurtes. Dies führte zu hohen Belastungen des Halses des Fahrers. Derselbe Fehler

174 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

ließ den Kopf des Beifahrers zu spät (und damit zu schnell) und zu tief auf die Rückenlehne treffen und nicht, wie vorgesehen, auf einen deformierbaren und gepolsterten Bereich der Rückenlehne des vorderen Sitzes. Die Bewertung nach EuroNCAP führt zu acht Punkten (siehe Abb. 11). Einer der Sterne der Endbewertung wäre zu streichen, weil die Belastungen des Halses des Fahrers und des Kopfes des Beifahrers zu hoch waren. Eine entsprechende konstruktive Verbesserung behebt das Problem.

Abb. 10 Aufprall gegen eine starre Wand mit 56 km/h

Abb. 11 Ergebnisse für den ersten Frontalcrash ohne Abhilfemaßnahmen für die aufgedeckten Mängel

Volker Schindler, Heiko Johannsen 175

Beim Seitencrash wird CLEVER relativ flächig getroffen.Die Belastungen verteilen sich innerhalb der eigentlichen Struktur gut. Es zeigte sich aber, dass es zu einer Überbeanspruchung der Tür kommt, deren Scharniere versagen und dem Insassen Raum geben, mit Kopf und Oberkörper über die Kontur des Fahrzeugs hinaus zu pendeln (siehe Abb. 12). Ein Kopfaufprall auf ein äußeres Objekt wäre möglich. Es wurden sechs Punkte nach EuroNCAP erreicht. In Zuge einer Weiterentwicklung muss die Lage und die Dimensionierung der Türschlösser und Scharniere geändert werden.Wenn diese Mängel behoben sind, kommt es aber zu einem harten Aufschlagen des Kopfes auf die Seitenscheibe. Dies kann durch bessere Abstimmung des Gurtsystems, speziell des Gurtstraffers vermindert werden. Dennoch muss hier eine weiter gehende Lösung realisiert werden; mehrere Möglichkeiten wurden numerisch untersucht, aber noch nicht als Versuchsteile dargestellt und real getestet.

Abb. 12 Eine deformierbare Barriere trifft mit 50 km/h auf die Seite von CLEVER. Ergebnisse des ersten Seiten-Crashtests ohne Abhilfemaßnahmen

6.6

Kompatibilität

Die sehr schmale Front von CLEVER kann sich bei einem Seitenaufprall sehr aggressiv gegenüber dem gegnerischen Fahrzeug verhalten. Ein solcher Effekt war im ZEDIS-Projekt beobachtet worden. Daher wurde ein CLEVER-Prototyp auf Höhe des Fahrersitzes mit einem modernen Pkw der Mittelklasse bei 50 km/h zur Kollision gebracht. Es ergaben sich unkritische Intrusionen beim getroffenen Fahrzeug; der Insasse hätte nur geringfügige Verletzungen erlitten. 6.7

Gesamtbewertung angelehnt an EuroNCAP

Die zusammenfassende Beurteilung nach dem EuroNCAP-Protokoll führt zu vierzehn Punkten für Frontal- und Seitenaufprall. Daraus ergibt sich die Vergabe von zwei Sternen. Einer davon wird wegen der hohen Belastungen

176 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

beim Frontalaufprall und des ungünstigen Bewegungsablaufs beim Seitenaufprall gestrichen. Relativ geringfügige Optimierungen werden zu einer Bewertung mit drei Sternen führen, vier Sterne erscheinen erreichbar. Es konnte gezeigt werden, dass selbst ein Fahrzeug mit einem Gewicht um 350 kg auf ein sehr respektables Niveau bei der passiven Sicherheit gebracht werden kann. Diese Erkenntnis lässt sich relativ leicht auf andere Leichtfahrzeuge wie die in Frankreich und Italien beliebten Quadricycles (L6-Fahrzeuge) übertragen.

7

Fahrwerk

Eine der Zielstellungen von CLEVER war es, Fahrverhalten und Bedienung einem Pkw so ähnlich wie möglich zu gestalten. Ein Wechsel für Fahrer mit Pkw-Führerschein soll einfach möglich sein. Wegen der schmalen Spur wäre ein Fahrzeug mit konventionellem Chassis kippgefährdet. Es wurde daher ein kurvenneigendes Fahrzeug realisiert und eine 1F1T-Anordnung (one front wheel, one wheel tilting) gewählt. Das Fahrzeug besteht aus zwei gegeneinander verdrehbaren Baugruppen: Die Antriebseinheit im Heck bleibt stets parallel zum Boden ausgerichtet, der vordere Teil wird beim Durchfahren einer Kurve um eine Achse geschwenkt, die parallel zur Längsachse des Fahrzeugs und nach vorne leicht ansteigend orientiert ist. Das seitliche Neigen wird entsprechend der Querbeschleunigung gesteuert. Diese Anordnung bietet für die Insassen ein nahezu querkraftfreies Fahren selbst bei engen Kurvenradien. Es bereitet Vergnügen, enge Radien zu fahren. Das Fahrverhalten wird als sehr angenehm empfunden.

Abb. 13 Lenk- und Rollachse von CLEVER (Lenkachse 18◦ , Rollachse 5◦ geneigt gegen die Horizontale)

Volker Schindler, Heiko Johannsen 177

Die 1F1T-Anordnung bietet unter den untersuchten Varianten die günstigste Kombination von baulichem Aufwand und Kosten, Funktion bezüglich Fahrdynamik und Crashsicherheit, Package und Styling. Das Schwenklager zwischen der Kabine und der Antriebeinheit ist so tief wie konstruktiv möglich angeordnet, um das gewünschte Ansteigen der Rollachse nach vorne zu ermöglichen (siehe Abb. 13). Es überträgt alle Kräfte zwischen den Fahrzeugteilen.

Abb. 14

Der Fahrerplatz im CLEVER-Trimmfahrzeug

Das Vorderrad wird an zwei Längsträgern geführt. Es wird eine Achsschenkellenkung ähnlich der Bimota Tesi (ein italienisches Motorrad [Bimota]) verwendet. Sie vermeidet weitgehend Änderungen der Geometrie der Radführung beim Ein- und Ausfedern. Das Vorderrad und die Vorderradführung können als Teil der Crashzone genutzt werden. Es kann ein Lenkrad realisiert werden. Insgesamt ergeben sich Packagevorteile im Vergleich zu einer konventionellen Feder-Dämpfer-Gabel. Vorne wird ein Motorradreifen der Dimension 120/70R17 verwendet, der für wechselnde Schräglagen gebaut ist. Die Hinterräder werden an Einzelschwingen und konventionellen Federbeinen geführt; sie sind über einen Stabilisator gekoppelt. Da das angetriebene Heckmodul nicht kurvenneigend ausgelegt ist, werden Reifen in Pkw-Bauweise mit der Dimension 160/50R18 verwendet. Das ungewöhnliche Format ist dem Styling von CLEVER geschuldet.

178 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 15

Führung des Vorderrades

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Abb. 16

Führung des Vorderrades im CLEVER-Trimmfahrzeug

Abb. 17

Heckmodul am CLEVER-Trimmfahrzeug

180 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

In dem kleinen Heckmodul wurden der Motor mit Gemischaufbereitung, zwei Kühlern,Abgasstrang,Antriebsstrang und elektronischer Steuerung, die Gasversorgung, der Neigemechanismus mit seiner Steuerung und die Radführungen mit Federung, Dämpfung und Bremsen untergebracht (siehe Abb. 17). Der Rahmen wurde ebenfalls aus gebogenen Al-Profilen dargestellt. Er ist in der Lage, alle Betriebslasten zu tragen und bei einem Heckaufprall zu schützen. Das Package ist angesichts der vielen Funktionen recht eng.

Abb. 18

Struktur und Chassis des CLEVER aus unterschiedlichen Perspektiven

Volker Schindler, Heiko Johannsen 181

Das Neigen der Kabine erfolgt über zwei Hydraulikzylinder. Der Algorithmus für das Schwenken des Fahrzeugs wurde zunächst mit einem numerischen Modell vor-optimiert. Es war seinerseits anhand von Versuchen an einem passiv neigenden Dreiradfahrzeug validiert worden. Das Steuergerät benötigt dafür den Neigewinkel (–45◦ bis +45◦ ), die Fahrzeuggeschwindigkeit, den Lenkwinkel (-30◦ bis +30◦), die Querbeschleunigung, die Giergeschwindigkeit und den Druck im Hydrauliksystem. Das System arbeitet wie die Lagekontrolle für ein umgekehrtes Pendel, wobei der Abstand des Schwerpunktes von der Rollachse die Pendellänge darstellt. Der hydraulische Druck wird über eine Zahnradpumpe bereitgestellt, die von der Kurbelwelle angetrieben wird. Ein Druckspeicher ermöglicht einerseits einen energieeffizienten Betrieb und stellt für den Fall eines Motorausfalls Energie für ein mehrmaliges Neigen bereit.

8

Antrieb

Der Antrieb von CLEVER erfolgt durch einen Hubkolbenmotor. Die Kraftübertragung bedient sich einer Fliehkraft-Kupplung zum Anfahren und eines CVT-Getriebes zum Einstellen der jeweils günstigsten Übersetzung. Die Kraftübertragung auf die Räder erfolgt durch Zahnriemen. 8.1

Motor

Der Motor des CLEVER arbeitet nach dem Ottoverfahren mit äußerer Gemischbildung. Er ist monovalent auf den Kraftstoff Erdgas ausgelegt. Es handelt sich um einen kompakten, wassergekühlten 1-Zylinder-Motor mit 213 cm3 Hubraum und vier Ventilen. Mechanisch beruht er auf dem Motor des BMW C1. Die Verwendung von Erdgas als alleinigem Kraftstoff erlaubt eine konsequente Optimierung; Kompromisse, die bei üblichen Erdgasfahrzeugen erforderlich sind, konnten so vermieden werden9 . Es wurde ein maximales Drehmoment von 16 Nm bei 6500 min−1 und eine maximale Leistung von 12,5 kW bei 8700 min−1 (spezifische Leistung 58,7 kW/l) erreicht. Das günstige Verhältnis von Kohlenstoff zu Wasserstoff im MethanMolekül hilft zusätzlich die spezifischen CO2 -Emissionen zu reduzieren. Ein weiteres Ergebnis der Optimierung sind die niedrigen Rohemissionen an Schadstoffen wie Kohlenmonoxid, unverbrannten Kohlenwasserstoffen und Stickstoffoxiden.

9

Auf dem Markt verfügbare Erdgasfahrzeuge sind auf den alternativen Betrieb mit Erdgas und Benzin ausgelegt. Damit wird auf die nicht überall gesicherte Verfügbarkeit von CNG Rücksicht genommen. Außerdem fällt so die geringere Reichweite von Erdgasfahrzeugen nicht so ins Gewicht. Allerdings wird dieser Vorteil mit einem weitgehenden Verzicht auf die Nutzung der chemisch-physikalischen Vorteile von Erdgas im Vergleich zu Benzin erkauft.

182 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Zur Abgasnachbehandlung wird ein motornah eingebauter MetallKatalysator eingesetzt. Diese Wahl nimmt Rücksicht auf die starken Vibrationen, die ein 1-Zylindermotor aufweist und auf die hohen Abgastemperaturen durch den stöchiometrischen Betrieb im gesamten Kennfeld. Ein zusätzlich vorgesehener, im Auspuffkrümmer untergebrachter VorKatalysator sollte schon unmittelbar nach dem Start heiß genug werden, um auch das chemisch träge Methan umzusetzen. Der Hauptkatalysator erreicht aber so schnell die Betriebstemperatur und damit eine so hohe Konversionsrate, dass auf diese aufwändigere Lösung verzichtet werden konnte.Auf diese Weise konnte auch eine Erhöhung des schädlichen Abgasgegendrucks vermieden werden. Im selben Gehäuse ist er Schalldämpfer integriert.

Abb. 19 Abgasschalldämpfer und Katalysator in einem Gehäuse

Angesichts der hohen Anforderungen an Verbrauch und Emissionen wurde eine aufwändige elektronische Steuerung des Motors realisiert. Sie kontrolliert unter anderem: • den Anlassvorgang, • den Warmlauf unter Berücksichtigung eines schnellen Anspringens des Katalysators (erhöhte Leerlaufdrehzahl bis eine ausreichende Konversion erreicht ist), • Leerlaufkontrolle, • transiente Zustände von Drehzahl und Moment.

Volker Schindler, Heiko Johannsen 183

Dazu müssen Kennwerte wie Ansaugdruck, Drehzahl, Druck und Temperatur des Kraftstoffs, Luft-Kraftstoff-Verhältnis, Kühlwassertemperatur erfasst werden. Im elektronischen Steuergerät wurden Kennfelder hinterlegt, die für jeden der Sätze von Eingangsdaten die günstigste Einstellung aller Stellglieder am Motor festlegen. Sie wurden in umfangreichen Prüfstandsversuchen ermittelt. Zu den Aktuatoren gehören die Gasventile, der Gasinjektor und die Zündspule.

Abb. 20 Schnappschuss vom Bildschirm des Prüfstandsrechners bei der Ermittlung der Kennfelder

Aus den Prüfstandsergebnissen für den Motor ergeben sich streckenbezogene CO2 -Emissionen von 69 g/km.Wenn man berücksichtigt, dass noch nicht alle Optimierungspotentiale bei der Anpassung des Motorkennfelds an der Kraftstoff Erdgas und bei der Verminderung von Reibungsverlusten ausgeschöpft wurden, können die angestrebten 60 g/km als erreichbar eingeschätzt werden. Ähnliches kann über die Schadstoffemissionen gesagt werden. Bei Abschluss des Projekts waren je nach Schadstoff 55% bis 86% der Euro IV-Grenzwerte erreicht. Das Optimierungspotential lässt ca. 35% als realistisch erscheinen (siehe Tabelle 4).

184 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 21 Drehmoment (grün) und Leistung (rot) des CLEVER-Motor als Funktion der Drehzahl Tabelle 4 Grenzwerte nach Euro IV für Pkw, erreichte Emissionswerte und identifiziertes, weiteres Verbesserungspotential

in g/km Euro IV Grenzwerte CLEVER nachgewiesen CLEVER Potential

HC 0,1 0,086 0,035

CO 1 0,554 0,35

NOx 0,08 0,064 0,025

Abb. 22 CLEVER auf dem Rollenprüfstand. Die hintere Spur wurde für den Versuch vergrößert, um das Fahrzeug auf dem vorhandenen Prüfstand betreiben zu können. Auf dem Bildschirm werden dem „Fahrer“ die Prüfzyklen vorgegeben.

Volker Schindler, Heiko Johannsen 185

8.2 Tanksystem Die relativ geringe Dichte des Tankstellennetzes für CNG würde zu zahlreichen Umwegfahrten führen, wenn Nachtanken nur dort möglich wäre. Daher wird das Tanksystem von CLEVER aus zwei CNG-Druckflaschen mit einem Volumen von jeweils 6 l aufgebaut. Sie sind aus Composit-Material gefertigt. Die jeweils leere Flasche kann über ein Schnellwechselsystem auf einfache Weise ausgetauscht werden. Ihr Gewicht ist mit 10 kg (voll) leicht handhabbar (siehe Abb. 22). Im Verfahren „leere Flasche gegen volle Flasche“ kann Erdgas auch abseits von CNG-Tankstellen bezogen werden. Zudem kann statt des üblichen Drucks von 210 bar ein Flaschendruck von 250 bar realisiert werden. Natürlich kann mit einem solchen System auch die Einführung anderer, gasförmiger Kraftstoffe vereinfacht werden z. B. Wasserstoff.

a Schließen des Ventils an der Gasflasche

b Lösen der Gasflasche durch Zurückschieben der äußeren Hülse des Schnellverschlusses

c Herausnehmen der Gasflasche

d Einsetzen einer frisch gefüllten Gasflasche

Abb. 23 Wechseln einer Druckgasflasche an einem Versuchsaufbau

186 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 24

8.3

Anordnung der Druckgasflaschen im Fahrzeug

Kraftübertragung

Die Leistung des Motors erreicht über eine Fliehkraftkupplung ein stufenlos verstellbares Getriebe (CVT-Getriebe). Beim Fahren von CLEVER sind daher weder Kupplungsbetätigung und Schalten erforderlich. Diese Komponenten wurden von BMW C1 übernommen. Ein 50 mm breiter Zahnriemen verbindet den Ausgang des Getriebes mit dem Differential. Es wurde aus Kostengründen von einem Pkw übernommen und ist erheblich überdimensioniert. Von dort aus übertragen zwei Wellen die Drehbewegung so weit nach außen, dass sie über jeweils einen weiteren, 30 mm

Abb. 25

Radschwingen und -antriebe bei der Montage auf der Werkbank

Volker Schindler, Heiko Johannsen 187

breiten Zahnriemen das jeweilige Rad antreiben können. Die Achsen der beiden Riemenscheiben sind jeweils konzentrisch zu den Gelenken der Radschwingen angeordnet, so dass die Riemenspannung beim Ein- und Ausfedern konstant bleibt. Alle drei Zahnriemen können praktisch wartungsfrei gestaltet werden.

Abb. 26 Anordnung von Motor, Getriebe, Differential und Radantrieb dargestellt mit und ohne Hilfsrahmen

9

Bau und Erprobung von Versuchsfahrzeugen

Es wurden Teilesätze gefertigt und insgesamt fünf Versuchsfahrzeuge gebaut. Die Knoten der Struktur wurden als gefräste Teile dargestellt, da die Herstellung von Versuchswerkzeugen für Gussteile den Kostenrahmen gesprengt hätte. Ähnlich wurde bei der Außenverkleidung verfahren; an Stelle der für eine Serienlösung vorgesehenen Verkleidung aus spritzgegossenem, thermoplastischem Material wurden landlaminierte Teile verwendet. Die Profile wurden gebogen und in einer Vorrichtung geschweißt (siehe Abb. 27). Eines der Versuchsfahrzeuge diente der Entwicklung des Fahrwerks und der Fahrerprobung des Antriebs. Es erhielt keine Außenverkleidung, nur ein vereinfachtes Rückhaltesystem und einen Benzin-betriebenen Motor (siehe Abb. 27). Drei weitere Fahrzeuge wurden mit Außenverkleidung und Rückhaltesystemen, aber ohne Antrieb und Neigemechanismus gebaut; die fehlende Masse wurde aber berücksichtigt. Eines dieser Fahrzeuge diente zunächst den Windkanalversuchen. Dann wurden zwei einem Frontal- beziehungsweise Seitencrash unterzogen. Das dritte Fahrzeug wurde seitlich auf Höhe des Fahrers in ein typisches Mittelklassefahrzeug „geschossen“ und diente dem Nachweis der Kompatibilität. Das fünfte Fahrzeug wurde

188 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 27

Fertige Rahmen für CLEVER

Abb. 28 Rolling Chassis zur Erprobung und Abstimmung des Fahrwerks und des Neigemechanismus

komplett mit allen Funktionen aufgebaut und vielfach getestet und öffentlich vorgeführt.

10 Zusammenfassung der Ergebnisse Mit dem CLEVER-Projekt konnte gezeigt werden, dass es möglich ist, • ein kleines und dennoch attraktiv wirkendes Fahrzeug für den urbanen Gebrauch zu gestalten (siehe Abb. 29, 30, Tabellen 5, 6),

Volker Schindler, Heiko Johannsen 189

Abb. 29 Ansichten des CLEVER-Trimmfahrzeugs

190 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Abb. 29

Fortsetzung

• trotz geringer Motorleistung ein sehr fahraktives Fahrzeug zu schaffen, • alle einschlägigen gesetzlichen Regelungen einzuhalten und ihre Anforderungen bezüglich passive Sicherheit, Emissionen an Schadstoffen (siehe Tabelle 5) und Freisetzung an CO2 erheblich zu übertreffen, • ein konstruktives Konzept zu realisieren, dass sich für kleine bis mittlere Stückzahlen eignet, • ein neuartiges Versorgungskonzept für CNG mit austauschbaren Druckbehältern zu realisieren.

Abb. 30 Vergleich von CLEVER mit anderen Fahrzeugen

Volker Schindler, Heiko Johannsen 191 Tabelle 5

Technische Daten des Trimmfahrzeugs

Kriterium Länge Breite Höhe Spurweite hinten Radstand Höchstgeschwindigkeit Reichweite Beschleunigung 0–60 km/h cw * A Fahrzeugmasse Wendekreis

Einheit mm mm mm mm mm km/h km s m2 kg m

Erreichte Werte 3.066 998 1.386 835 2.450 98 > 100 6,5 0,477 400 < 10,4

Tabelle 6 Vergleich zwischen den Zielen und den realisierten Eigenschaften; konkret identifiziertes Potential für weitere Verbesserungen Ursprüngliche Ziele

abgesichertes Potential Verbrauch 50 g CO2 /km 69 g CO2 /km 60 g CO2 /km Emissionen 10 % von Euro IV HC 86 % HC 35 % CO 55 % CO 35 % NOx 80 % NOx 31 % passive Sicher- „comparable to high- EuroNCAP Punkte EuroNCAP Punkte für Fronatlaufprall: heit end micro cars” für Frontalaufprall: 8 11–12 für Seitenauffür Seitenaufprall: 6 prall 9–10 Kompatibilität: Kompatibilität: Ausgezeichnet Ausgezeichnet Summe ohne Seat Summe mit Seat Belt Reminder10 : Belt Reminder: 3–4 1–2 Sterne Sterne

10

Erreichter Stand

Ein Seat Belt Reminder erinnert die Insassen eine Kfz daran, den Sicherheitsgurt anzulegen.

192 CLEVER – Ein Kleinfahrzeug für den urbanen Gebrauch

Literatur [ACEA] [Bimota] [EuroNCAP] [Kühn et al.]

http://www.acea.be/acea 1998 commitment what has been agreed am 17.6.2007 http://www.bimota.it/scheda tesi2d 1 ita.htm http://www.euroncap.com Matthias Kühn, Robert Fröming, Volker Schindler, „Fußgängerschutz – Unfallgeschehen, Fahrzeuggestaltung, Testverfahren“, Springer, 2006, 249 S., 159 Illustrationen, ISBN-10: 3-540-34302-4

Zahlreiche weitere Informationen über das CLEVER-Projekt sind zu finden unter http://www.clever-project.net

Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Maik Ziegler

Nutzfahrzeuge werden heute für die unterschiedlichsten Transportaufgaben in allen geographischen Zonen unseres Globus eingesetzt. Spezifische Marktanforderungen, unterschiedliche Kundenanforderungen und Gesetzesvorschriften in den Ländern schließen jedoch einen„Einheitstruck“ aus. Ein globales Unternehmen wie die Daimler AG steht somit vor der Herausforderung, Kostenvorteile für seine Kunden durch Vereinheitlichung von Bauteilen mit der Erfüllung der spezifischen Marktanforderungen in den einzelnen Regionen zu vereinen.

1

Markenvielfalt der Daimler Truck Group

Schon heute bietet die Nutzfahrzeugsparte der Daimler AG (Truck Group) weltweit auf allen Kontinenten kundenorientierte Produkte an, die technologisch in ihren Segmenten führend sind: Unter den Markennamen Mercedes-Benz, Freightliner, Mitsubishi Fuso, Sterling, Western Star und Thomas Built Buses bietet die Truck Group eine attraktive Markenvielfalt an, die den regionalen Marktanforderungen gerecht wird. Mit ihren weltweiten Standorten verfügt die Truck Group zudem über ein starkes Netzwerk von Produktions-, Montage-, Vertriebs- und Servicestätten für Nutzfahrzeuge und Kernkomponenten. Damit ergibt sich ein abgerundetes Portfolio bestehend aus qualitativ hochwertigen Produkten und fahrzeugnahen Dienstleistungen, das weltweit seinesgleichen sucht. Individuelle Kundenwünsche weltweit zu erfüllen ist dabei die Maxime der Truck Group.

194 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Abb. 1

Die Marken der Truck Group

Abb. 2 Die Daimler AG vereint die Marken Freightliner, Mercedes Benz und Fuso

Unterschiedliche Marktanforderungen erfordern unterschiedliche Produkte. Deshalb ist jede Marke auf die spezifischen Anforderungen ihres Kernmarktes ausgerichtet: 1.1 Westeuropa Auf dem europäischen Nutzfahrzeugmarkt überzeugt Mercedes-Benz im Lkw-Segment nicht nur durch seine Kompetenz im Sinne von Qualität und Wirtschaftlichkeit, sondern auch durch die übergreifende Kompetenz für Transportlösungen.Neben dem Hauptwerk in Wörth werden die Baureihen Atego und Axor auch im türkischen Werk in Aksaray mit länderspezifischen Anpassungen produziert.

Maik Ziegler 195

1.2

Südamerika

Auch in Südamerika überzeugt die Marke Mercedes-Benz. So wurde in S˜ao Paulo dafür eigens ein Produktionswerk aufgebaut, in welchem neben den gemeinsamen Baureihen Atego und Axor auch spezifische südamerikanische Produkte wie der Accelo produziert werden. Der Accelo ist mit einem zulässigen Gesamtgewicht zwischen 7 und 9 Tonnen speziell für den Stadteinsatz in Südamerika konzipiert. Eine konsequente Weiterführung dieser Entwicklung unter Nutzung globaler Synergien ist der Unimog U 20 mit dem Accelo-Fahrerhaus aus Brasilien, der auf der IAA 2006 vorgestellt wurde. 1.3

Nordamerika

In Nordamerika hat sich Freightliner nicht nur als führender Anbieter von Langstrecken-Lkw und leistungsstarken Business-Lösungen einen Namen gemacht – auch im mittelschweren Marktsegment bietet Freightliner eine Vielzahl höchst funktionaler Lkw für den Kurzstreckentransport und das Dienstleistungsgewerbe an. Mit der Marke Sterling verbindet man robuste und maßgefertigte Lkw für den regionalen Verteilerverkehr und für spezielle gewerbliche Anwendungsbereiche,während die schweren Lkw von Western Starstets der ganze Stolz ihrer Besitzer sind – ob es sich dabei nun um Anbieter von Langstreckentransporten oder Inhaber gewerblich genutzter Lkw handelt. Fahrwerke von Freightliner Custom Chassis kommen in den angesehensten Marken der Branchen Wohnmobile und Busse zum Einsatz. Die Busmarke Thomas Built Buses prägt dagegen das Bild im Schulbusverkehr. 1.4

Asien

Eine feste Größe im asiatischen Nutzfahrzeugmarkt ist Mitsubishi Fuso mit Lkws, die die Kundenbedürfnisse nach zeitgemäßen Lösungen und Technologien vorrangig im leichten bis mittelschweren Lkw-Segment erfüllen. Der Canter ist ein gutes Beispiel für ein Produkt, das den unterschiedlichen nationalen Anforderungen in großem Umfang gerecht werden kann. Er wird daher seit 1980 von Mitsubishi Fuso auch in Tramagal (Portugal) produziert und weltweit vertrieben.

2

Anspannungsgrad zwischen den globalen Kosteneffekten und den lokalen Marktanforderungen

Betrachtet man die unterschiedlichen Marken der Daimler AG, so ist es offensichtlich,dass die Entwicklungen auf die jeweiligen Kernmärkte enorme Investitionen erfordern. Als internationaler Konzern steht die Daimler AG somit vor der schwierigen Aufgabe, die lokalen Marktanforderungen in

196 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

seinen Fahrzeugen zu realisieren und dennoch globale Kosteneffekte zu nutzen. 2.1

Globale Kosteneffekte

Aus rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten wäre ein „Einheitstruck“ wünschenswert. Die Entwicklungskapazität könnte gebündelt werden, durch Gleichteile ergäben sich günstige Einkaufspreise und die Produktionslinien wären in jedem Werk identisch. In der Realität benötigt der Kunde jedoch Fahrzeuge, die auf die individuellen Transportaufgaben zugeschnitten sind. Da die Lkw-Kunden eines global agierenden Unternehmens zu Recht auch Preisvorteile aufgrund der Internationalität erwarten können, bleiben die globalen Entwicklungsziele wie folgt bestehen: • Verwendung möglichst vieler Gleichteile und gemeinsamer Komponenten • Übernahme bereits existierender Fahrzeugkonzepte in neue Märkte • Reduktion der Variantenvielfalt • Verwendung gemeinsamer Werkzeuge sowie • Harmonisierung der Produktspezifikationen

Um diese Ziele zu erreichen, ist eine genaue Analyse der Kunden-/Marktanforderungen und der Gesetzeslage in den einzelnen Märkten erforderlich, wie sie in den nachfolgenden Kapiteln beschrieben werden. Bauteile, deren Anforderungen über die Märkte hinweg identisch sind, bieten Potenzial zur Vereinheitlichung.Die Beispielpalette reicht hier von großen Komponenten des Antriebsstrangs bis hin zum Cockpit-Schaltermodul, welches sowohl im Actros als auch im Freightliner Cascadia verwendet wird. 2.2

Marktanforderungen

Die Marktanforderungen setzen sich aus Kundenanforderungen und Gesetzesanforderungen zusammen. 2.2.1 Kundenanforderungen Der langfristige Unternehmenserfolg ist stark mit der Zufriedenheit der Kunden verbunden. Die Gestaltung des Leistungsprogramms muss auf den Kundennutzen abgestimmt werden. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur der Lkw, sondern das gesamte Leistungsprogramm und dessen Wahrnehmung durch die Kunden. Das Leistungsprogramm besteht somit aus dem primären Produkt sowie aus produktbegleitenden Serviceleistungen, die es dem Kunden ermöglichen, das gesamte Problemlösungspotenzial bei der Verrichtung seiner Transportaufgaben in Anspruch zu nehmen.

Maik Ziegler 197

Die Kundenanforderungen geben in der Produktentwicklung die Zielrichtung für die Funktionalität und das Design des Bauteiles vor. Oftmals entspricht der Lkw-Fahrer nicht dem Betreiber. Die sogenannten „OwnerDriver“, bei denen Fahrer und Betreiber identisch sind, werden nicht nur in Europa immer seltener. Im Fokus stehen deshalb zwei Sichten: die des Betreibers (z. B. Spediteur) und die des Fahrers. Beide Sichten werden nachfolgend dargestellt. Betreibersicht Während der Lkw-Fahrer eher Gesichtspunkte wie Fahren, Arbeiten, Wohnen und Schlafen beurteilt, so zählen für den Betreiber neben den Fahreranforderungen und Emotionalität hauptsächlich die wirtschaftlichen Aspekte wie Halterkosten und Arbeitseffizienz. Dies birgt jedoch keinen Widerspruch, denn Fahrer, die sich in ihrem Truck wohl fühlen,behandeln ihn und ihre Fracht nachweisbar schonender, fahren sparsamer und arbeiten zuverlässiger. Stimmt jedoch die Qualität des Lkw nicht, kann der Lkw-Fahrer noch so professionell arbeiten, denn mit Fahrzeugen die in der Werksatt stehen, wird der Betreiber keinen Profit erwirtschaften. Die Margen werden geringer und der Wettbewerb wird nicht zuletzt durch die Globalisierung immer intensiver. Zur Gesamtwirtschaftlichkeit gehört neben einem geringen Kraftstoffverbrauch auch wenig Verschleiß, wenig Reparaturen, große Wartungsintervalle, geringe Ausfalltage und ein hoher Wiederverkaufswert. Auch nach einer Vielzahl von Jahren im harten Einsatz müssen die Lkw immer noch einwandfrei ihren Zweck erfüllen. Fällt der Lkw doch einmal aus, muss er schnell und unkompliziert repariert werden. Hierfür ist ein ausgedehntes Servicenetz mit Mitarbeitern, die dem Kunden kompetent, engagiert und zuverlässig zur Seite stehen, äußerst wichtig. Der hohe Wettbewerbsdruck führt des Weiteren zu einem steigenden Bedarf nach Fahrzeugen für spezifische Logistik- und Einsatzsegmente. Ein Fahrzeug, das hauptsächlich im Geländeeinsatz (Baustellenfahrzeug) agiert, hat andere Anforderungen als ein Fahrzeug, das nur auf der Straße fährt (Fernverkehrsfahrzeug). Genauso verhält es sich bei einem Lkw, der auf maximale Nutzlast (z. B. Tanklastzug) ausgerichtet ist im Gegensatz zu einem Fahrzeug, das seinen Fokus auf dem maximalen Volumen hat. Aufbauten für eine flexible Güteraufnahme unterscheiden sich zu Aufbauten, die auf ein Gut optimiert (z. B. Betonmischer) sind. Daraus abgeleitet hat ein Hersteller wie die Daimler AG, der für sich in Anspruch nimmt, ein Komplettanbieter zu sein, eine sehr hohe Fahrzeugvarianz, die er durch sein Produktprogramm abdecken muss. Dies ist auch der Grund dafür, dass sich viele Wettbewerber auf ein Segment spezialisiert haben, um so die Varianz einzudämmen.

198 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Klassischerweise unterscheidet man die Einsatzsegmente in: • • • •

Fernverkehr, Verteilerverkehr, Baustellenverkehr und Kommunalverkehr,

deren Anforderungen am Beispiel der Fahrerhäuser aufgezeigt werden. Im Fernverkehr werden Güter über große Entfernungen (über 150 km) befördert.Somit verbringt der Fahrer oft Tage oder sogar Wochen in seinem Fahrzeug. An die Fahrerhauskabine werden deshalb hohe Anforderungen an den Arbeits- und Wohn- / Schlafkomfort gestellt.

Abb. 3 Der Fahrer arbeitet, isst, schläft und entspannt sich in seinem Fernverkehrsfahrerhaus

Die Fahrerhauskabine des Fernverkehrsfahrzeugs stellt meist die hochwertigste Variante jedes Fahrzeugherstellers dar. Die gesetzlich möglichen Abmessungen für die Kabine werden voll ausgenutzt. Durch ein erhöhtes Dach ist beispielsweise aufrechtes Stehen im Inneren möglich und es gibt viel Stauraum für die Unterbringung persönlicher Gegenstände. Die Betten im Bereich hinter den Sitzen ermöglichen einen geruhsamen Schlaf. Im Verteilerverkehr werden Güter im Nahverkehr (unter 150 km) befördert. Hierbei sind Absender und Empfänger örtlich so nah beisammen, dass der Lkw-Fahrer an jedem Tag zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren kann. Der Umschlag von Waren hat oberste Priorität. Das Arbeiten steht im Vordergrund. Die Fahrerhauskabine des Verteilerfahrzeuges ist deshalb meist weniger komfortabel ausgestattet als die des Fernverkehrsfahrzeugs. In der Regel werden kleinere Fahrerhauskabinen verwendet ohne zusätzliche Ruheliegen (z. B. kurze bis mittellange Kabinen). Der verfügbare Stauraum wird für Büroutensilien und die Verpflegung für unterwegs verwendet.

Maik Ziegler 199

Abb. 4

Atego Verteilerfahrzeug

Charakteristische Merkmale für den klassischen Verteilerverkehr sind: • • • • • • •

Keine Übernachtung, Einzelfahrer Häufiges Be-/Entladen, enger Kundenkontakt Kurze Arbeitstakte Vorwiegend Stadtverkehr, enge Straßen, häufiges Rangieren Standardtouren (z. B. Werksverkehr) vs. variable Strecken Starker Zeitdruck, kleine Pausen Schichtbetrieb

Wichtig für die Verteilerkabine sind ein tiefer Einstieg und weit öffnende Türen, um das häufige Ein- und Aussteigen zu erleichtern. Ein einfacher Durchstieg ermöglicht das ungefährlichere Aussteigen auf der Beifahrerseite. Für den „Stop-and-Go-Verkehr“ in der Stadt erleichtern oft automatisierte Getriebe das Schalten, indem Kuppeln überflüssig wird. Im Baustellenverkehr werden an das Fahrzeug hohe Anforderungen an Robustheit und Geländegängigkeit gestellt. Auch hier steht für den Fahrer das Arbeiten im Vordergrund, allerdings unter erschwerten Rahmenbedingungen wie Schmutz und Staub oder unruhiger Fahrt aufgrund fehlender Straßen. Charakteristische Merkmale für den klassischen Baustellenverkehr sind: Keine Übernachtung, Einzelfahrer Häufiges Be-/Entladen Vorwiegend häufiges Rangieren, Geländefahrten Wechselnde Baustellen/ Einsatzorte Vor Ort: gleicher Arbeitstakt: z. B. Kies holen, Schutt abladen, Kies holen, . . . • Pausengestaltung durch Arbeitsrhythmus • Viel Schmutz und Staub auf der Baustelle • Einzelfahrer mit kurzzeitigem Beifahrer • • • • •

200 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Abb. 5 Baustellenfahrzeuge von Mercedes Benz auf einem Blick: Actros, Axor und Atego

Abb. 6

Actros Fahrerkabine Bausteller

Wichtig für die Baustellenkabine ist ein Interieur, das schmutzunempfindlich und/oder einfach zu reinigen ist. Im Kommunalverkehr werden Sonderfahrzeuge für den speziellen Einsatz wie beispielsweise Löschzüge oder Müllfahrzeuge verwendet. In der kommunalen Abfallentsorgung dürfen die Arbeiter ab einer Geschwindigkeit von 30 km/h nicht auf dem Trittbrett mitfahren und müssen somit in der Fahrerhauskabine Platz nehmen. Damit ist ein häufiges Einund Aussteigen verbunden. Ein Niederflurkonzept ermöglicht einen extrem niedrigen Einstieg, sowie eine tiefe Sitzposition des Fahrers. Eine breite Türöffnung und eine pneumatisch betätigte Falttür ermöglicht den Beifahrern einen schnellen und ungehinderten Ein- und Ausstieg – auch bei beengten Platzverhältnissen am Straßenrand. Ein automatisches Schließen der Tür ab 3 km/h erleichtert die Abläufe. Das Einklemmen von Körperteilen oder Gegenständen wird durch einen automatischen Reversierschutz

Maik Ziegler 201

Abb. 7a

Econic Müllfahrzeuge

Abb. 7b

Econic Feuerwehrfahrzeug

verhindert. Die tiefe Sitzposition des Fahrers erhöht die Übersicht und damit auch die Sicherheit der Passanten, die mit dem Fahrer auf Augenhöhe sind. Der durchgehend ebene Boden und eine Stehhöhe von 193 cm im hohen Fahrerhaus schaffen für bis zu vier Insassen optimale Raumverhältnisse und ermöglichen im Stehen Arbeitskleidung an- und auszuziehen. Feuerwehrfahrzeuge müssen sowohl die Besatzung als auch die zum Löschen, Retten und Schützen notwendigen Hilfsmittel aufnehmen. Niedere Kabinen begünstigen hierbei die Aufnahme von Aufbauten wie beispielsweise einer Drehleiter. Oftmals ist der Rettungsweg durch parkende Autos oder enge Straßen im Altstadtbereich erschwert. Ein kurzer Radstand in Verbindung mit einer hydraulisch gelenkten Nachlaufachse verleiht dem Fahrzeug die Wendigkeit, die für eine schnelle Rettung erforderlich ist. Für millimetergenaues Rangieren sind hervorragende Sichtverhältnisse unumgänglich. Fahrersicht Während der Betreiber auf wirtschaftliche Aspekte seinen Hauptfokus legt, betrachtet der Fahrer eher die Funktionalität. Es liegt jedoch im Ermessen des Betreibers, ob er seinem Fahrer mehr Komfort durch eine bessere Ausstattung zu Teil werden lässt. Für den Fahrer ist das Fahrerhaus wie dessen Eigenheim. Es bietet Schutz vor den äußeren Einflüssen, ist Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer zugleich. Eine wichtige Anforderung aus Fahrersicht ist neben Zuverlässigkeit und Komfort die Ergonomie. Hauptziel der ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung ist die Anpassung des Arbeitsumfeldes an den Menschen. Dies erfordert vor allem die Beachtung der Körpermaße bei der Dimensionierung des Arbeitsplatzes (Anthropometrie). Eine ungünstige Sitzposition während der Fahrt kann zu Motivationsund Leistungsminderung führen, die unter Umständen zu lebensgefährlichen Situationen führen können. Körpermaße und Körperproportionen sind jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Bei der Arbeitsplatzgestaltung darf jedoch nicht mit Durchschnittswerten gerechnet werden, da auch kleine und große

202 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Menschen gute Arbeitsbedingungen erwarten können. Damit der Fahrer beschwerdefrei, mit geringster Ermüdung und mit möglichst großer Bequemlichkeit arbeiten kann, muss der Arbeitsplatz nach den richtigen Maßen und individuell einstellbar sein. Deshalb wird bei der Auslegung des Fahrerarbeitsplatzes der Bereich zwischen dem 5. Perzentil Frau bis zum 95. Perzentil Mann berücksichtigt. Arbeitshöhe, Sitzhöhe und Greifraum hängen eng miteinander zusammen und müssen immer gemeinsam betrachtet werden. Überträgt man dies auf den Arbeitsplatz des Lkw-Fahrers so bilden Sitz, Cockpit und Lenkung eine wichtige Einheit und wirken aktiv auf die Gesundheit des Fahrers ein, zumal er bei einer Gesamtjahresfahrtzeit von bis zu 2.200 h sehr viel Zeit hinter dem Steuer verbringt. Nur wer entspannt sitzt, wird auch konzentriert fahren können. Eine falsche Sitzposition behindert die Durchblutung und Atmung bis hin zur Verdauung. Dies führt zu vorzeitiger Ermüdung, Durchblutungs- und Verdauungsstörungen, Rückenschmerzen und Muskel- und Skeletterkrankungen. Deshalb verfügen die Lkw von Mercedes Benz in Europa serienmäßig über einen luftgefederten Schwingsitz, der dem Fahrer mit einer Vielzahl von Verstellmöglichkeiten eine individuelle Sitzposition ermöglicht. Auf Wunsch ist auch der luftgefederte Komfort-Schwingsitz für Fahrer und Beifahrer oder der Maximum an Sitzkomfort bietende Klima-Schwingsitz erhältlich,der durch eine mehrstufige Belüftung die entstehende Sitzwärme gezielt abgeführt, ohne dass unangenehme Zugerscheinungen im Nierenoder Steißbereich auftreten. Der Greifraum des Fahrers ist begrenzt durch dessen Armlänge. Nicht alle Zonen dieses Greifraums sind gleich gut zu erreichen. Das Zusammen-

Abb. 8

Standard-Schwingsitz und Komfort-Schwingsitz

Maik Ziegler 203

Abb. 9a Actros Fahrerplatz

Abb. 9b rerplatz

Freigtliner Coronado Fah-

spiel der Gelenke führt zu günstigen und weniger günstigen Greifpositionen. Das Cockpit ist deshalb ergonomisch um den Fahrer geschwungen und trägt erheblich zum entspannten Arbeiten bei. Dabei sind die Bedienelemente so angeordnet, dass die Schalter, die am häufigsten verwendet werden am nächsten beim Fahrer sind. Die vorgezogene Brüstung wird für zusätzliche Ablagen genutzt. Alles, was der Fahrer braucht, findet hier problemlos Platz. Das blendfreie Kombiinstrument rundet den Komfort während der Arbeitszeit ab. Beim Thema Cockpit spielt neben der Ergonomie jedoch auch das Design eine große Rolle. Während in Europa die Instrumente in einem Kombiinstrument zusammengefasst sind, werden in Amerika einzelne Rundinstrumente mit Chromeinfassung (Retrodesign) bevorzugt. Die Schnittstelle zwischen Fahrersitz und Cockpit bildet das Lenkrad mit Lenksäule. Aus ergonomischen Gesichtspunkten sollten diese auf die Körpergröße angepasst werden können. Bei Fahrzeugen mit integrierten Multifunktionstasten im Lenkrad können nicht nur Radio, CD-Player und Telefon bedient, sondern auch Betriebs- und Service-Informationen aus dem Fahrer-Informationsdienst abgerufen werden. So bleiben die Hände immer, wo sie sein sollen: Am Lenkrad. Die Ruhepausen dienen dem Fahrer zur Erholung. Eine wohnliche Atmosphäre bietet bei Mercedes-Benz Trucks beispielsweise der Ruhesitz auf der Beifahrerseite mit Nackenrolle. Für einen gesunden Schlaf sorgt ein serienmäßiges Standardbett mit einteiliger Federkernmatratze. Oben ist eine Komfort-Bett mit spezieller Unterfederung erhältlich. Die Federelemente sorgen für eine richtig gelagerte unbelastete Wirbelsäule und so für einen erholsamen Schlaf. Für ein angenehmes Wohn- und Arbeitsklima sorgt die luftgeregelte Heizung, die schnell auf gewünschte Temperaturveränderungen reagiert. Ein ausgeruhter Fahrer, der sich in seinem Fahrzeug wohl fühlt, ist der sicherere Verkehrsteilnehmer!

204 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Abb. 10

Der Actros bietet einen hohen Erholungsfaktor

2.2.2 Gesetzesanforderungen Die zweite Größe, die die Marktanforderungen maßgeblich beeinflussen, sind die Gesetzesanforderungen. Werden die jeweilig gültigen Vorschriften nicht eingehalten, bekommt das Fahrzeug für dieses Land keine Zulassung. Für weltweit operierende Firmen bedeutet dies,die vielfältigen gesetzlichen Bestimmungen der Zielmärkte zu analysieren und im Fahrzeug umzusetzen. Anhand von drei Beispielen soll dies verdeutlicht werden. Beispiel 1: Fahrzeuglängen Die Abmessungen eines Fahrzeuges beeinflussen dessen Erscheinungsbild, sowie verschiedene Funktionalitäten maßgeblich. In der StVZO werden die Abmessungen von Kraftfahrzeugen detailliert beschrieben. So beträgt die Sattelzuglänge beispielsweise 16,5 m. In den Vereinigten Staaten ist nicht wie in Europa die Gesamtlänge des Sattelzuges begrenzt,sondern lediglich die Länge des Aufliegers.Somit sind der Fahrerhauslänge keine Grenzen gesetzt. Dies führt zur Präsenz von Haubenfahrzeugen, welche durch den stufenförmigen Aufbau eine bessere Aerodynamik, einen niedrigeren Einstieg, Vorteile bei der Crashsicherheit für die Insassen und auch einen einfacheren Motorzugang durch Öffnen der Haube im Vergleich zu Frontlenkerfahrzeugen ermöglichen. Im australischem Outback stellen Road Trains vornehmlich die Versorgung entlegener Regionen sicher. Da viele Gebiete nicht an das Eisenbahnnetz angebunden und die Entfernungen sehr groß sind, ist die Lieferung per Road Train eine besonders wirtschaftliche Transportlösung. Die sehr geringeVerkehrsdichte erlaubt auch im weltweitenVergleich außergewöhnliche Zuglängen (bis zu 53,50 m). In Ballungsräumen ist der Betrieb von Road Trains nicht erlaubt. Die Roadtrains werden außerhalb der größeren

Maik Ziegler 205

Abb. 11

Grafische Darstellung Längenbegrenzungen EU zu US

Abb. 12

Road-Train in Australien

Städte zu „normalen“ Beförderungseinheiten geteilt und fahren dann als kürzere Züge in die Ballungsräume ein. Aufgrund des hohen Fahrzeuggewichts von bis zu 132 Tonnen und der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von bis zu 100 km/h ist ein Bremsweg bis zu 1 bis 1,5 km erforderlich, um das Gesamtfahrzeug zum Stehen zu bringen. Charakteristisch für Road-Trains sind deshalb ein Rammschutz zum Schutz vor Kollisionen und ein lautstarkes Signalhorn, um entgegenkommende Fahrzeuge zu warnen.

206 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Beispiel 2: Direkte Sicht Eine wesentliche Voraussetzung, um Unfälle zu vermeiden ist eine optimale Sicht. Nach der StVZO § 35b muss diese unter allen Betriebs- und Witterungsverhältnissen gewährleistet sein. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Sichtverhältnisse ist der Augpunkt des Fahrers (Augen des Fahrers in einem Punkt vereint). Das Sichtfeld nach vorn gilt als ausreichend, wenn sich die Sichtgrenzen – d. h. die Grenze der Fläche auf der Fahrbahn, die vom Fahrzeugführer nicht mehr eingesehen werden kann – innerhalb eines Halbkreises mit 12 m Radius befinden. In Japan wird das Sichtfeld über die MLIT Announcement 619/2002 geregelt. Das Sichtfeld gilt hier als ausreichend, wenn ein 1m hohes Hindernis in 2m Abstand zum Fahrzeug gesehen wird. Die MLIT Announcement 619/2002 ist eine Pkw-Norm, deren Anwendung für den Nutzfahrzeugsektor in naher Zukunft erwartet wird.

Abb. 13

Sichtfeld nach MLIT Announcement 619/2002

Maik Ziegler 207

Die Einhaltung des Sichtfeldes hat immer direkten Einfluss auf die Gestaltung des Cockpits, vor allem auf die Höhe des Cockpits. Während bei der europäischen Auslegung durch den vorgegebenen Sichtkegel der Beifahrerbereich betroffen ist, wirkt sich die Begrenzungsfläche des Sichtfeldes nach der japanischen Vorschrift auf die Cockpithöhe über die gesamte Cockpitbreite aus. Beispiel 3: Abgasvorschriften Anfang der 90ziger-Jahre hat die Europäische Union erstmals Abgasgrenzwerte für Dieselmotoren in Nutzfahrzeugen festgelegt und beschlossen, diese in fünf Schritten bis Herbst 2009 auf immer niedrigere Werte zu senken. Im Vergleich zu den ersten EU-Limits müssen bis dahin die Schadstoffe beim Stickoxid um 86 Prozent und bei den Partikeln um 98 Prozent reduziert werden. Im Oktober 2006 trat die vierte der fünf Stufen in Kraft – die EURO-4-Richtlinie. Konnten die Abgaslimits EURO 1 bis EURO-3-Werte durch innermotorische Verbesserungen erreicht werden, so lassen sich die Grenzwerte EURO 4 und 5 nur noch mit einer effektiven Abgasnachbehandlung einhalten. Die Daimler AG hat sich deshalb bereits 2002 dafür entschieden, die Dieseltechnologie auf Basis des SCR-Verfahrens (Selective Catalytic Reduction) voranzutreiben. Aus der Kombination verbesserter Motoren plus SCR-Technologie haben die Ingenieure der Nutzfahrzeugsparte die neue Dieseltechnologie BlueTec geschaffen. Vereinfacht ausgedrückt wird dabei der Motor auf eine optimale Verbrennung ausgelegt und somit eine niedrige Partikelemission bei gleichzeitig verringertem Kraftstoffverbrauch erreicht. Erkauft werden diese beiden Vorzüge aber zu Lasten relativ hoher Stickoxidemissionen (NOX), die dann im Abgasstrang behandelt werden müssen. Dafür sorgt die Zugabe der wässrigen Reduktionslösung AdBlue: Sie verwandelt sich im heißen Abgasstrang zu Ammoniak (NH3 ), der dann im sich anschließenden SCR-Katalysator die unerwünschten Stickoxide chemisch zu harmlosem Stickstoff (N2 ) und Wasserdampf (H2 O) reduziert. Auch in Amerika und in Japan werden die Abgasgrenzen durch gesetzliche Vorschriften geregelt. So ist zum Jahresbeginn in Amerika ein Gesetz in Kraft (EPA 07) getreten, das ebenfalls eine deutliche Reduktion der Grenzwerte vorschreibt. Die EPA-Richtlinie schreibt vor, die Emissionsgrenze in mehreren Schritten bis 2010 anzupassen. In der ersten Stufe 2007 müssen 60% Emissionsreduktion bei den Stickoxiden erreicht werden, bei den Partikeln liegt der Grenzwert bei 0,013 g/kWh. Drei Lkw-Motoren der Truck Group sind bereits nach EPA 07 zertifiziert.Sie stoßen 95% weniger Partikel aus als vergleichbare Motoren aus dem Jahr 2006, die Stickoxid-Emission der Aggregate wurde halbiert. Erreicht werden diese Grenzwerte durch eine

208 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

Abb. 14 Auf der Straße: Die drei Baureihen Atego, Actros und Axor (von links) bietet Mercedes-Benz inzwischen mit BlueTec an – und nahezu alle Kunden entscheiden sich für die sparsamen und umweltfreundlichen Diesel-Lkw

innermotorische Abgasrückführung mit nachgeschaltetem Dieselpartikelfilter. In Japan ist seit 2005 die strenge Abgasvorschrift JNP 05 gültig. Eine Antwort von Mitsubisi Fuso auf die Frage nach umweltverträglicheren Nutzfahrzeugen ist der Canter Eco Hybrid. Durch sein paralleles HybridSystem besteht die Wahl zwischen Antrieb durch Elektromotor, durch Verbrennungsmotor – oder durch beide Motoren gemeinsam. So wird der Elektromotor für das Anfahren eingesetzt, der Verbrennungsmotor für das Fahren mit konstanter Geschwindigkeit, beispielsweise auf einer Schnellstraße. Bei Beschleunigung und Bergauffahrten arbeiten beide Motoren. Durch die Unterstützung des Elektromotors reicht ein kleiner Hubraum des Verbrennungsmotors aus.

Abb. 15

Canter Eco Hybrid

Maik Ziegler 209

3

Umsetzung der Marktanforderungen am Beispiel Fahrerhauskabine

So wie Geschmäcker und Gepflogenheiten in den Ländern unterschiedlich sind, so sind auch die Marktanforderungen an einen Lkw unterschiedlich. Diese können aus unterschiedlichen gesetzlichen Vorschriften, aber auch aus geographischen Gegebenheiten (z. B. Klimaregionen) oder unterschiedlichen Wertvorstellungen resultieren. 3.1

Beispiel 1: Europäische Fahrerhauskabine

Aufgrund der gesetzlich vorgeschriebenen Längenvorschriften (siehe Gesetzesanforderungen) stellt das Fahrerhaus in Europa immer einen Kompromiss zwischen Arbeitsplatz und Wohnraum dar. So besteht beispielsweise zwischen den Wünschen nach einer maximalen Liegenbreite und einem maximalen Sitzverstellfeld im Fernverkehr ein Zielkonflikt.

Abb. 16

3.2

Fahrerhauskabine Mercedes Benz

Beispiel 2: Südamerikanische Fahrerhauskabine

In S˜ao Paulo hat Mercedes ein Produktionswerk, wo auch die europäischen Baureihen Atego und Axor hergestellt werden. Diese werden um spezifische brasilianische Marktanforderungen ergänzt. Hierzu gehört beispielsweise eine Verlängerung der Tür, so dass die Trittstufen bedeckt sind. In den südamerikanischen Regionen ist die Kriminalitätsrate im Durchschnitt höher als in Europa. Durch das Abdecken der Trittstufen wird ein Aufspringen während der Fahrt erschwert und das Ri-

210 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

siko, mit einer Waffe bedroht zu werden, reduziert. Wagenheber und Werkzeugkasten befinden sich im Inneren der Fahrerhauskabine, um Diebstähle zu verhindern. Aufgrund des staubigen Klimas im Winter sind abwaschbare Innenverkleidungen erwünscht. Um eindringenden Staub zu vermeiden, wurde die Türdichtung an die Verhältnisse angepasst. Die Straßen sind meist nicht asphaltiert (häufig Erdstraßen) und /oder sehr ungleichmäßig. Das Fahrzeug ist deshalb erhöhten Schwingungs- und Torsionsbelastungen unterworfen, was zu erhöhten Anforderungen an die Bauteilfestigkeit führt. 3.3

Beispiel 3: Nordamerikanische Fahrerhauskabine

Denkt man an Nordamerika verbindet man hiermit häufig geographisch große Weiten. Aufgrund der geringeren gesetzlich vorgeschriebenen Längenbegrenzungen findet sich diese „Weite“ auch in den Fahrerhauskabinen der Haubenfahrzeuge wieder. Das Interieur gleicht wohnmobilähnlichen Ausbauten mit Kleiderschränken, Kochnische und einem breiten Bett.

Abb. 17

3.4

Fahrerhauskabine Freightliner

Beispiel 4: Japanische Fahrerhauskabine

Aufgrund der geographischen Gegebenheiten gibt es in Japan keinen klassischen Fernverkehr, da die Transportaufgaben innerhalb eines Tages ausgeführt werden können. Daraus abgeleitet bestehen an den Kabinenkomfort geringere Anforderungen an eine wohnliche Atmosphäre bzw. an den Schlafkomfort. Das Fahrzeug dient primär der reinen Arbeitsaufgabe. Jedoch ist nicht nur die Fahrzeuglänge aufgrund der geringeren Anforderungen an die Liegenbreite, sondern auch die Fahrzeughöhe und Fahrzeugbreite eingeschränkt. Neben den reinen Kostenkriterien sind dabei eine geringere Anforderung an das Ablagevolumen sowie – speziell in Japan – die engen Straßenverhältnisse ausschlaggebend, die zum häufigeren Einsatz von 2,1 m breiten Fahrzeugen führt.

Maik Ziegler 211

Abb. 18

Fahrerhauskabine Mitsubishi Fuso

Gesetzlich vorgeschrieben befinden sich alle fahrrelevanten Bedienelemente in einem Abstand von 500 mm Entfernung zur Lenkradmittelachse. Neben den auf den ersten Blick ersichtlichen Anforderungen, die sich aus geographischen und gesetzlichen Vorgaben ergeben, gibt es detailliertere Wünsche die erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. Spezielle japanische Marktanforderungen sind beispielsweise ein Aschenbecher in der Türe, die für einen Rechtshänder in einem Rechtslenkerfahrzeug ergonomisch günstiger sind als die in europäischen Fahrzeugen übliche Unterbringung des Aschenbechers in der Cockpitmitte. Ein weiteres Beispiel für die marktspezifischen Anforderungen ist die höhere Anzahl an DIN-Fächer in der Instrumententafel, die sich wiederum aus der geringeren Verbauung von Hochdächern mit DIN-Fächern und einem stärkeren Aftersales-Geschäft ergeben.

4

Zusammenfassung

Die Lösung des Zielkonflikts zwischen Kosteneinsparung durch eine Gleichteilstrategie einer internationalen Marke einerseits und die Erfüllung der marktspezifischen Anforderungen andererseits ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller und ist weit mehr als nur unter den unterschiedlichen Gesetzesanforderungen zu betrachten. Hierzu zählen insbesondere Marktanforderungen, die sich aus den geographischen Gegebenheiten, der Infrastruktur des Verkehrsnetzes, der Besonderheiten der Transportgüter, des ökonomischen Gesamtumfeldes und durch die unterschiedlichen ergonomischen Anforderungen ergeben. Bauteile, Bauteilgruppen bzw. gesamte Nutzfahrzeuge, welche diesen ggf. unterschiedli-

212 Nutzfahrzeuge für den globalen Einsatz

chen Anforderungen umfänglich genügen, ohne im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung die Kostenbilanz zu verschlechtern, können einem „Communalityumfang“ zugeführt werden. Gemeinsam haben die Nutzfahrzeugentwickler – unabhängig auf welcher Hälfte des Globus sie arbeiten – im Gegensatz zu den PKW-Kollegen einen weiteren Zielkonflikts zu lösen: Die Entwicklung eines Produktes, welches die hohen Anforderungen sowohl der Fahrer als auch die der Betreiber erfüllt!

Teil III Zukunft

Aktiver Eingriff in passive Systeme: Von passiver Sicherheit zu sicherem Fahren

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner

1

Abstract

Die Geschichte der passiven Fahrzeugsicherheit begann mit dem Sicherheitsgurt. Es folgte die Entwicklung verschiedener Maßnahmen, die den Insassen schützen. Dazu gehören beispielsweise Fahrer- und Beifahrerairbags sowie Knie-, Brust- und Kopfairbags, aber auch Sensoren und elektronische Stabilisierungsprogramme. Aufgrund der zunehmenden Vielfalt lässt sich leicht erkennen, dass die Zukunft der Sicherheit im Fahrzeug in immer stärkerem Maße im gegenseitigen Zusammenspiel verschiedener Technologiedisziplinen liegt und letztlich neue Sicherheitsgebiete erobert. Der vorliegende Text gibt einen historischen Überblick über die passiven Rückhaltesysteme und deren Komponenten. Darüber hinaus informiert er über den gegenwärtigen Entwicklungsstand und veranschaulicht die einzelnen Schritte bis dorthin. Zum Abschluss folgt ein kurzer Blick in die Zukunft der passiven Rückhaltesysteme und die Entwicklung aktiver Sicherheitssysteme.

2

Einführung

In den 1960er Jahren stieg die Zahl der Fahrzeuge auf den Straßen an. Gleichzeitig erhöhte sich die gefahrene Geschwindigkeit. Dies führte zu mehr Verkehrstoten und Schwerverletzten, wodurch die Kosten für die Gesellschaft stiegen. Dabei handelte es sich nicht nur um Kosten für Behandlung und Rehabilitation der schwer verletzten Unfallopfer, sondern auch um den Ausgleich der Einkommensverluste von Familien, verursacht entweder durch den Verdienstausfall der Verletzten oder durch den Wegfall der Leistungsfähigkeit von Familienmitgliedern. Sicherheitsaktivisten drängten die US-Regierung Gesetze zu verabschieden, die die Sicherheit von

216 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Fahrzeugen zu einer Frage des Gesundheitswesens erklären. Am 9. September 1966 unterzeichnete Präsident Lyndon B. Johnson den National Traffic and Motor Vehicle Safety Act (Gesetz über den nationalen Straßenverkehr und die Sicherheit von Kraftfahrzeugen), der als Folge die National Highway Traffic Safety Administration hervorbrachte, eine Regierungsorganisation der USA zur Definition von Sicherheitsstandards für Kraftfahrzeuge. In seiner Rede anlässlich der Unterzeichnung des Gesetzes verwies Präsident Johnson darauf, dass bis dahin mehr als 1,5 Millionen Menschen auf den Highways der USA getötet worden waren; mehr als sämtliche Kriegstoten aus allen kriegerischen Auseinandersetzungen zusammengenommen, in die die USA seit ihrer Gründung verwickelt waren. Alle elf Minuten wurde ein Mensch auf den Straßen getötet [1]. Die Ära der Fahrzeugsicherheit begann. Sicherheitssysteme wurden entwickelt und umgesetzt sowie Verbesserungen an den Fahrzeugen selbst vorgenommen, um so die Zahl der Unfalltoten und -verletzten zu senken. In seinem richtungsweisenden Buch „Unsafe At Any Speed“ („Unsicher bei jeder Geschwindigkeit“), erschienen 1965, schlug der Verbraucheranwalt Ralph Nader die Einführung automatischer „passiver Rückhaltesysteme“ vor. Sie sollten nicht zwangsweise die Mitwirkung des Insassen erfordern, um sie zu schützen [2]. Er erkannte, dass sich nicht darauf verlassen werden konnte, dass Fahrzeuginsassen die vorhandenen Sicherheitseinrichtungen korrekt benutzten oder immer so handelten, dass Unfälle und Verletzungen vermieden werden können. Hinsichtlich des damaligen Stands der Technik in Bezug auf Fahrzeugsicherheit, Unfallerkennung und Entscheidungssystemen (Algorithmen und Mikroprozessoren) stellte diese Erkenntnis eine beträchtliche Herausforderung dar. Immerhin führte Naders Forderung dazu, dass erstmals Sicherheitsgurte und Airbags in Fahrzeuge eingebaut wurden und diese Systeme eine verbesserte Leistung hinsichtlich unterschiedlicher Unfallszenarien, Körpergröße und Statur der Insassen boten. Gleichzeitig wurden die Voraussetzungen für die heutige Entwicklung passiver Sicherheitssysteme und die Integration der passiven und aktiven Sicherheit in umfassende Sicherheitsstrategien für Kraftfahrzeuge geschaffen.

3 3.1

Passive Sicherheit – gestern & heute Sicherheitsgurte

Auf die anfänglichen Regelungen der US National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) folgte die bundeseinheitliche Auflage zur Einführung von Becken- und Schultergurten ab 1968. Doch trotz intensiver öffentlicher Werbekampagnen benutzte noch 1970 in den USA nur einer von zehn Insassen den Gurt [3]. Verbesserungen des Tragekomforts des 3-Punkt-Gurts sowie auch die zunehmende Akzeptanz und die gesetzliche

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 217

Einführung der Gurtpflicht in den Vereinigten Staaten führten schließlich zu einer Gurtnutzung auf den vorderen Sitzen von 82 Prozent im Jahre 2005, dem bisherigen Rekordhoch [4]. Heutige Fahrzeuge verfügen über hoch entwickelte 3-Punkt-Gurtsysteme, die an den äußeren Sitzpositionen verankert sind.

Abb. 1

3-Punkt Gurtanordnung

Abbildung 1 zeigt eine typische 3-Punkt-Gurtanordnung in einem Fahrzeug. Hierbei übernimmt der Aufroller die automatische Anpassung der Gurtlänge an die Körpergröße des Insassen. Um den Fahrkomfort zu erhalten, sollte die Bewegungsfreiheit des Insassen in keiner Weise eingeschränkt werden. Die Sperreinrichtung des Retraktors wird während oder vor einem Unfall aktiviert, indem aufgrund der Fahrzeugverzögerung oder einer Änderung des Neigungswinkels des Fahrzeugs (z. B. langsamer Überschlag) das Gurtband fixiert wird. Mit dem Höhenversteller und dem Umlenker kann der Insasse den Gurt selbst an seine Körpergröße und Sitzposition anpassen. Das Gurtschloss übernimmt die Öffnungs- und Schließfunktion des Gurts. Weiterhin stehen Zusatzfunktionen wie Gurtstraffung oder Gurtkraftbegrenzung zur Verfügung. Ersteres wurde erstmals in den 1980er Jahren eingeführt. Die vorrangige Aufgabe eines Gurtstraffers besteht darin, die Gurtlose im Gurtsystem zu reduzieren und so den Rückhalteeffekt im Falle eines Aufpralls früher einsetzen zu lassen. Die Energiemanagementfunktion des Gurts ist wichtig, wenn der Gurt während eines Crashes durch den Insassen belastet wird. Die Vorwärtsbewegung des Passagiers wird so kontrolliert. Es soll erreicht werden, dass sich der Insasse so weit wie möglich ohne harten Kontakt nach vorn bewegen kann.

218 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Abb. 2 Aufroller Gurtstraffer [5]

Außerdem reduziert sich in einer sanften ride-down-Phase das Verletzungsrisiko. Der Gurtstraffer kann als Zusatzausstattung am Aufroller, am Gurtschloss oder der Gurtverankerung angebracht werden. Abbildung 2 zeigt beispielhaft einen Gurtstraffer für Aufrollautomaten. Der Gasgenerator liefert unter Druck gesetztes Gas, das am Gurtstrafferband zum Einsatz kommt. Dieses Band wird auf eine zentrale Kupplung im Straffer aufgerollt. Als Reaktion auf den Gasdruck wird die Gurtspindel in Rotation versetzt. Es gibt verschiedene Gurtstrafferkonzepte, die teilweise Rückhaltekräfte von bis zu mehreren kN an der Schulter produzieren können. Ein anderer

Abb. 3 Nach Zündung des Gasgenerators wird der Druck innerhalb des Zylinders aufgebaut. Der Kolben bewegt sich im Zylinder und zieht das Gurtschloss über ein Kabel nach unten.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 219

Weg, die Strafferfunktion zu nutzen, ist die Verwendung von Gurtschlossstraffern wie in Abb. 3 dargestellt. Die nächste Entwicklungsstufe der Gurtstraffung war die Einführung elektrischer Straffer oder motorisierter Gurte (MSB). Der entscheidende Unterschied zwischen einem motorisierten und einem herkömmlichen Gurtstraffer liegt in der Wiederverwendbarkeit. Reversibel stellt er Kräfte bis zu 250 N zur Verfügung. Darüber hinaus bietet er die Möglichkeit zum Einbau von Warn- oder Komfortfunktionen.Gekoppelt mit Pre-CrashSensorsystemen kann der motorisierte Gurtstraffer den Gurt mehrere hundert Millisekunden vor dem eigentlichen Aufprall aufrollen lassen und erreicht so eine viel frühere Anbindung des Insassen an die Fahrzeugstruktur.

Abb. 4

3.2

Motorisierter Gurt (MSB)

Lenkräder

3.2.1 Die Integration von Sicherheitsfunktionen in das Lenkrad Die zunehmende Konzentration auf Sicherheitsfragen führte neben der Einführung von Gurtsystemen auch zu der Erkenntnis, dass die Lenkradkonstruktion ebenso Auswirkungen auf die Fahrzeugsicherheit hat. Inzwischen ist das Lenkrad für den Fahrer ein Hauptbestandteil des Insassenrückhaltesystems. Mercedes Benz unternahm mit der Einführung des Pralldämpfers einen ersten Schritt, um energieabsorbierende Strukturen in das Lenkrad einzubringen. Der nächste entscheidende Schritt hin zu mehr Sicherheit war die Integration des Airbags in das Lenkrad. Während General Motors mit dem ACRS (Air Cushion Restraint System) das erste Airbaglenkrad in den Jahren 1973–1976 vorstellte, begann auch in Europa die Entwicklung von AirbagSystemen. Anfänglich übernahm die Daimler-Benz AG in Kooperation mit der PETRI AG die europäische Leitentwicklung. Das erste europäische

220 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Abb. 5

Lenkrad mit Pralldämpfer 1967

Lenkrad mit einem integrierten Airbagmodul, siehe Abb. 6, wurde 1980 im Mercedes-Benz W126 (S-Klasse) als Zusatzausstattung angeboten und von der PETRI AG (heute Takata-Petri AG) produziert.

Abb. 6

Schnittmodell eines Mercedes Benz Airbag-Lenkrads aus dem Jahr 1980

3.2.2 Aktive Sicherheitsfunktionen Das Lenkrad leistet heute auch einen wesentlichen Beitrag zur aktiven Sicherheit. Die Bedienung von Komfortausstattungen, wie Radio/CD oder auch Tempomat erfolgen über Multifunktionsschalter im Lenkrad. Im Bereich der Fahrerassistenzsysteme werden Warnungen zur Spurabweichung über Vibrationen oder Momente im Lenkrad an den Fahrer vermittelt. Neben haptischen Informationen kann der im peripheren Aufmerksamkeitsbereich des Fahrers liegende obere Lenkradkranz auch mit optischen Informationsgebern ausgestattet werden. Interne Untersuchungen zeigen,

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 221

Abb. 7

Lenkrad mit Kommunikationseinheit

dass auf diesem Wege eine Verkürzung von Reaktionszeiten sowie eine Entlastung in der immer komplexer werdenden Fahraufgabe erreicht werden können. Die Gestaltung der Schnittstelle Mensch-Maschine spielt herbei eine entscheidende Rolle und erfordert eine Zusammenarbeit von Ingenieuren und Psychologen. Das Lenkrad entwächst der klassischen Ingenieursaufgabe und steht im Zentrum eines multidisziplinären Entwicklungsteams. Nur so werden weitere Entwicklungen auf dem Weg zu Steer by Wire Systemen, auch einen Zugewinn an Sicherheit erreichen. 3.2.3 Steer by Wire Wir stehen am Beginn der Entwicklung vollkommen neuer Technologien, die den Fahrer nicht nur unterstützen werden, sondern ihm auch einen Teil seiner Aufgaben abnehmen können. Üblicherweise wird ein Fahrzeug manuell mit Hilfe eines Lenkrads gesteuert, das über verschiedene Schnittstellen zum Fahrer verfügt. Der Fahrer hat die Möglichkeit, eine Handlung zu steuern und gleichzeitig die Reaktion des Lenkrads zu überwachen. Der Informationsfluss zwischen Fahrer und Fahrzeug erfolgt in beiden Richtungen: über die mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und Lenksäule. Die Idee des „Steer by Wire“ ist es, diese Verbindung zu trennen und durch ein programmierbares elektronisches Gerät zu ersetzen. In diesem Falle würden elektronische Aktuatoren über rechnergesteuerte Daten-/ Controlbusse gelenkt. Ein erstes Beispiel für ein derartiges ferngesteuertes Kontrollsystem ist bereits auf den Straßen unterwegs. Allgemein als „Throttle-by-Wire“ bezeichnet, hat das Gaspedal keinen direkten mechanischen Kontakt mehr zur Drosselklappe. Sie ist computergesteuert über die mechanische Bewegung des Gaspedals. Eine andere Form der Fernsteue-

222 Aktiver Eingriff in passive Systeme

rung, die bereits heute verfügbar ist, ist das „Brake-by-Wire“-Konzept, das schon in einigen Modellen eingesetzt wird. Steer by Wire Systeme erlauben auch eine Erweiterung des Einsatzes für die Insassensicherheit. In Verbindung mit vorausschauender Sensorik zur Einschätzung einer Unfallwahrscheinlichkeit, können reversible Stellglieder das Lenkrad optimal an seine Schutzaufgabe im Crash anpassen.

Abb. 8

Lenkrad mit integrierter PreCrashfunktion

Obwohl Steer-by-Wire Systeme erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen werden, ist doch bereits heute klar, dass die automobile Entwicklung in diese Richtung geht. Neue Generationen von Autofahrern erobern die Straßen, vertraut im Umgang mit Computerspielen und anderen MenschMaschine-Schnittstellen. Sie werden eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung neuer Lenkradgenerationen spielen. 3.3

Frontairbagsysteme

In den späten 1960er Jahren wurden die ersten praxistauglichen Airbags vorgestellt. Diese einfachen Systeme bestanden aus einem elektromechanischen ballistischen Sensor, der die Crashbeschleunigung anzeigte. Der Sensor löste das Ausströmen des Gases aus einer mitgeführten Gasflasche aus und so entfaltete der Luftsack sich zwischen Instrumententafel und Insassen. Dieser wurde zurückgehalten und Verletzung somit vermindert. Aufgrund dieser erfolgreichen Demonstration wurde im November 1970 der Automatic Crash Protection Standard eingeführt, zusammen mit Crashtestanforderungen. In der Mitte der 1970er Jahre wurde in Victoria, Australien das erste Gesetz zur Gurtanlegepflicht verabschiedet. Andere Länder folgten dem schnell nach. In den Vereinigten Staaten allerdings konnte sich kein Staat entschließen, dieser Regelung zu folgen.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 223

Abb. 9

GM Air Cushion Restraint System (ACRS) [6]

Im Modelljahr 1973 führte GM die ersten Airbagsysteme für Fahrer und Beifahrer ein.Anfänglich wurden 1000 GM Chevrolet Impala in einem Feldversuch getestet. Diesem folgte der kommerzielle Vertrieb des Air Cushion Restraint System (ACRS) (siehe Abb. 8) als Zusatzausstattung für den Automobilkunden. In den Modelljahren 1974 bis 1976, wurden insgesamt 10.321 Buick, Oldsmobile und Cadillac mit Airbagsystemen hergestellt, ehe aufgrund der geringen Nachfrage die Produktion wieder eingestellt wurde. Allerdings wurden Untersuchungen zu den ersten ACRS-Anwendungen durchgeführt, die die Wirksamkeit eines Airbags als Schutzmaßnahme für den Insassen bestätigten. Gleichzeitig stellte sich heraus, dass der Airbag auch Verletzungen verursachen konnte, wenn die Insassen „out-ofposition“ waren oder Kinder nicht in einem Kinderrückhaltesystem platziert wurden. Europäische Hersteller erzielten später bessere Ergebnisse beim Einsatz von Airbags, da in Europa bereits Gesetze zur Gurtanlegepflicht verabschiedet worden waren. Airbags erwiesen sich als eine sehr wirkungsvolle zusätzliche Rückhaltekomponente, die Kopf-, Gesichts- und Brustverletzungen mindern konnten, wenn sie gemeinsam mit dem Sicherheitsgurt verwendet wurden. Die Forderung nach einem automatischen Crashschutz für das Modelljahr 1986 wurde ein Jahr zuvor von der NHTSA-Administratorin Elizabeth Dole wieder aufgebracht. Mit der Unterstützung der IIHS und mit Hilfe einer Marketingkampagne der Chrysler Corporation wurde der Einbau von Airbags in Fahrzeuge in den USA wieder aufgenommen. Weitere gesetzliche Regelungen führten 1997 dazu, dass ab Modelljahr 1998 alle PKW und leichten Nutzfahrzeuge mit Airbags für den Fahrer und den außen sitzenden Beifahrer ausgestattet sein mussten [7].

224 Aktiver Eingriff in passive Systeme

3.3.1 Der Zwang zur Verbesserung der Airbagleistung 1997 begannen US-amerikanischen Zeitungen, über airbaginduzierte Verletzungen und Airbagunfälle mit Todesfolge zu berichten. Diese Fälle betrafen in erste Linie nicht angegurtete Erwachsene und Kinder, Babys in Kindersitzen und kleine Insassen, die dicht vor dem Airbag platziert waren und so in der ersten Phase der Airbagentfaltung mit diesem in Kontakt kamen. Mit Häufung dieser Berichte und dem Wissen, dass auch fortschrittlichere Sensoren, Aktuatoren und Steuersysteme noch nicht hinreichend weit entwickelt waren, um bei ihrer Einführung derartige Risiken sofort zu eliminieren, nivellierte die NHTSA vorübergehend die Testanforderungen aus der FMVSS208 dahingehend, dass die Möglichkeit der Airbagdeaktivierung gegeben wurde, solange noch keine besseren Komponenten zur Verfügung standen. Es wurden daneben auch andere Maßnahmen ergriffen wie z. B. die Anbringung eines Schalters zur manuellen Airbagabschaltung, und es wurde in der Öffentlichkeit ausführlich darüber informiert, dass der Gurt angelegt, Kinderrückhaltesysteme benutzt und Kinder in Kindersitzen auf der Rückbank des Fahrzeugs platziert werden sollten. In immer mehr Ländern wurde die Gurtanlegepflicht eingeführt. Zur gleichen Zeit beschleunigte sich die Entwicklung moderner Komponenten. Das zeigte sich im Modelljahr 2001 mit der Einführung hoch entwickelter Airbagsysteme mit zweistufigen Airbags sowie Sensoren, die die Unfallschwere ermitteln, Insassenungssystemen und verbesserten Algorithmen zur Entscheidungsfindung. 3.3.2 Moderne Airbagsysteme Im Allgemeinen bestehen alle Frontairbagsysteme aus verschiedenen Komponenten wie: 1. dem Gewebeluftsack, 2. dem Gasgenerator, 3. dem Airbagmodul bestehend aus einer Montagehalterung und dem Airbaggehäuse, das den gefalteten Luftsack und den Generator aufnimmt, 4. den Sensoren zur Crasherkennung und 5. einer elektronischen Steuereinheit, die die Informationen der Sensoren erhält, verarbeitet und so bestimmt, ob der Airbag ausgelöst wird. Abbildung 9 zeigt den Aufbau eines Fahrerairbagmoduls mit allen Komponenten sowie Halterung und Gehäuse. In Abbildung 10 ist ein typisches Beifahrerairbagmodul dargestellt. Beide verfügen über ähnliche Komponenten, die lediglich in ihrer Größe variieren. Sie hängt jeweils von ihrer Einbaulage, dem auszufüllenden Raum und den spezifischen Schutzvorschriften für den Insassen ab. Während einige neuere Airbagsysteme in der Lage sind, mit einem einstufigen Generator und modernen Luftsackkonstruktion zufrieden stel-

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 225

Abb. 10

Komponenten des Fahrerairbagmoduls

lende Ergebnisse für alle geforderten Bedingungen zu liefern, müssen sich viele andere Systeme nach wie vor auf zweistufige Generatoren verlassen, um einerseits für z. B. dicht am Modul sitzende, kleine Insassen eine schwächere Leistung abzugeben und andererseits für größere Passagiere bei höheren Geschwindigkeiten einen größeren Leistungsumfang zur Verfügung zu stellen. Pyrotechnische zweistufige Generatoren (siehe Abb. 11 und 12) geben das Gas in zwei Phasen ab. Der Ausstoß variiert hinsichtlich der Zeitverzögerung zwischen dem Zündungssignal für die erste und zweite Stufe, wobei eine größere Verzögerung eine geringere Leistungsabgabe zur Folge hat. Einige Airbagmodule nutzen auch einen einstufigen Generator mit einer pyrotechnisch ausgelösten Abströmöffnung, zur Anpassung des Drucks im

Abb. 11

Komponenten des Beifahrerairbagmoduls

226 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Abb. 12

Abb. 13

Zweistufiger Fahrergenerator

Zweistufiger Beifahrergenerator

Luftsack. In beiden Fällen gleicht sich der Kissendruck an und reagiert so auf die jeweiligen Crash- und Insassenbedingungen. 3.3.3 Airbags in Aktion Frontairbags sind so ausgelegt, dass sie sowohl über eine „Must-fire“ als auch über eine „No-fire“ –Schwelle verfügen, die sich typischerweise an der Geschwindigkeit des bestimmten Unfalltyps orientieren. Ein elektronisches Steuermodul interpretiert die Unfallschwere, indem die Signale aus den Beschleunigungsaufnehmern analysiert und verarbeitet werden. Die gängigsten in der Automobilindustrie verwendeten Crashalgorithmen verarbeiten die Daten anhand der generellen Änderungen der Fahr-

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 227

Abb. 14 Airbags in heutigen Fahrzeugen

zeuggeschwindigkeit. Modernere Algorithmen gewinnen andere Informationen aus den Beschleunigungssignalen und bieten so eine weitaus bessere Leistung. Eine bessere Bewertung der tatsächlichen Crashschwere wird so ermöglicht. Die Unterscheidung in verschiedene Unfallgrade ist besonders für mehrstufige Generatoren oder Airbagsysteme wichtig, die programmierbare Abströmöffnung in Abhängigkeit von der Unfallschwere verwenden. Je nach Schwere des Unfalls und den Besonderheiten der Insassen kann entweder ein hoher oder ein geringerer Gasausstoß benötigt werden. 3.3.4 Schutz der Beine durch Knieairbagsysteme Zusätzlich zu den Fahrer- und Beifahrerairbagsystemen werden Knieairbags eingesetzt, um ein hohes Schutzniveau bei Frontalunfällen zu bieten. Verletzungen der Unterschenkel ziehen oft komplizierte Heilungsprozes-

Abb. 15

Knieairbag zusammen mit Fahrerairbag

228 Aktiver Eingriff in passive Systeme

se nach sich und können sogar zu einer lebenslangen Körperbehinderung führen. Knieairbags kontrollieren die Insassenkinematik bei einem Frontalaufprall, indem sie den Passagier an die Fahrgastzelle anbinden. Durch eine frühzeitige und kontrollierte Rotation des Beckens wird eine positive Wirkung erzielt, die bis zur Vermeidung eines Kopfkontakts des Insassen mit der Windschutzscheibe führen kann. Dies ermöglicht, dass die Belastung des Insassen reduziert und kontrolliert werden kann. 3.4

Seitenairbagsysteme

Der Airbag bewährte sich als ein erfolgreiches Instrument zur Verringerung von Verletzungen bei frontalen Zusammenstößen. Es bot sich an, diese Technologie auch zur Reduzierung von Verletzungen bei Seitenaufprallund Überschlagunfällen einzusetzen. Zahlreiche Statistiken weisen nach, dass 30–40 Prozent aller Unfalltoten Verletzungen aus Seitenaufprallunfällen erlegen sind. Ungefähr 70 Prozent dieser tödlich verletzten Personen saßen auf der Anstoßseite, die restlichen 30 Prozent auf der dem Stoß abgewandten Seite. Da bei einem Seitenaufprall der Unfallgegner massiv in die Seitenstruktur eindringt, benötigt der nah an diesem Kontaktpunkt platzierte Insasse hauptsächlich Schutz für seine Oberkörper- und Kopfregionen. Daher wurden 1995 erste Seitenairbags in Fahrzeuge eingebaut. Über die Jahre setzte sich dieser positive Trend fort, so dass praktisch jedes Neufahrzeug, zumindest optional, über Seitenairbags verfügte. Heute gehört der Seitenairbag bei vielen Fahrzeugen zur Standardausstattung. Ein Zustandsbericht der IIHS informiert darüber, dass sich das Risiko eines tödlichen Unfalls auf bis zu 45 Prozent senken lässt, wenn der Kopf der Insassen mit einem Seitenairbag geschützt wird. [8] Das Seitenschutzsystem besteht hauptsächlich aus einem Seitenaufprallsensor, einem Thoraxseitenairbag und einem Kopfairbag. Durch die Versteifung der seitlichen Fahrzeugstruktur, besonders an der B-Säule und der Tür, aber auch durch die Polsterung lässt sich die Gefahr schwerer Verletzungen ebenfalls stark begrenzen. Ein Thoraxseitenairbag hat ein Volumen von ungefähr zehn bis 15 Litern und wird durch einen Generator in sieben bis zehn Millisekunden aufgeblasen. Der Seitenairbag kennt zahlreiche Varianten wie Becken-Thorax- oder Kopf-Thorax-Airbags. Besonders für den Thoraxschutz ist es entscheidend, dass sich der Airbag sehr rasch entfaltet und die eindringende Struktur an den Oberkörper des Insassen koppelt und so eine frühzeitige Bewegung ermöglicht, die zu einer ausgewogenen Belastung des Insassen führt. Der Seitenairbag wird unter der Dachreeling verstaut und entfaltet sich innerhalb von etwa 20 Millisekunden in seine vorgesehene Position. Die Kriterien für die Konstruktion umfassen auch den Schutz des Kopfes bei Pfahlunfällen oder bei einem Zusammenstoß mit einem SUV, der eine hohe Motorhaubenstruktur hat. Ein Seitenairbag wird so entwickelt, dass er dick

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 229

Abb. 16

Seitenschutzsystem

genug ist und über ausreichenden Innendruck verfügt, um Verletzungen während eines Unfalls zu mindern. Insassen, die weiter entfernt vom Aufprallpunkt sitzen, benötigen andere Schutzmechanismen. Sie sind zwar nicht so sehr von der eindringenden Struktur bedroht, gleiten jedoch oft aus dem Schultergurt und vollführen eine Art Dehnbewegung in Richtung Unfallzone. Sowohl Kopf- und Halsverletzungen als auch Unterleibsverletzungen sind weit verbreitet. Um den Insassen davor zu schützen, ist es das Ziel eines optimal ausgelegten Sicherheitssystems, den Insassen durch Gurtstraffung und eventuell weitere aufblasbare Hilfsmittel in seiner Sitzposition zu halten. 3.5

Schutz bei Überschlägen

Die wachsende Beliebtheit von Geländewagen hat Unfallkonstellationen mit tödlichem Ausgang bedrohlich anwachsen lassen. Viele nicht angegurtete Insassen wurden während eines Überschlags aus dem Fahrzeug katapultiert, aber auch angegurtete Passagiere wurden teilweise aus dem Auto geschleudert und erlitten ernsthafte Verletzungen. Den besten Schutz bei Überschlagunfällen liefern zuverlässig erkennende Überschlagsensoren, ein Sitzgurt, der sich adäquat strafft und ein Kopfseitenairbag, der über die ausreichende Steifigkeit verfügt, um das vollständige oder teilweise Herausschleudern abzuschwächen. Wünschenswert ist es natürlich, einen Überschlag von vornherein zu vermeiden. Die Einführung elektronischer Stabilitätskontrollen (ESP) in den letzten Jahren stellt hierbei einen entscheidenden Schritt dar. Untersuchungen ergaben, dass sich damit Roll-over-Unfälle bei Geländewagen um bis zu 65 Prozent reduzieren lassen und bei Limousinen um 30–35 Prozent. [9] In den nächsten Jahren wird durch die höhere Marktdurchdringung von ESP-ausgerüsteten Autos die Zahl der Todesopfer bei Überschlagunfällen

230 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Abb. 17 Vergleich eines Überschlags zwischen Simulation und realem Crash während des kritischen Zeitpunkts – dem Aufschlagen des Daches auf dem Boden

drastisch sinken. Darüber hinaus wird die Einführung modernerer Leitund Warnsysteme den Fahrer in kritischen Situationen unterstützen und ihm so helfen, Überschläge zu vermeiden. 3.6

Anforderungen und Funktionen

Heutige passive Sicherheitssysteme müssen unterschiedliche Anforderungen erfüllen, die von Land zu Land variieren. Die bekannteste Vorschrift in Europa ist der Euro-NCAP. Daneben gibt es auch in Asien, Australien und besonders in Nordamerika strenge gesetzliche Regelungen wie z. B. den „Federal Motor Vehicle Safety Standard 208“ („FMVSS 208“). Dieses US-weit gültige Gesetz fordert von den Autoherstellern, dass sie Crashtests mit angegurteten und nicht angegurteten Insassen sowie Versuche unter „Out-of-Position“-Bedingungen durchführen. Ein typischer Frontalcrash, z. B. gemäß „FMVSS 208“, wird mit zwei mit Messgeräten ausgestatteten 50%-Crashtestdummys bei einer Geschwindigkeit von 56 km/h gegen eine starre Barriere durchgeführt. Auf der Grundlage der Verletzungskriterien, die sich aus Messungen der Belastungen von Kopf, Hals, Brust, Oberschenkel usw. ergeben, müssen die Hersteller nachweisen, dass die Dummys verschiedene Grenzwerte einhalten.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 231

3.7

Sensoren – von passiver zu aktiver Sicherheit

Frühe Airbagsysteme wurden von trägen,schalterähnlichen,mechanischen Sensoren ausgelöst, die ursprünglich von militärischen Waffen- und Sicherheitssystemen übernommen wurden. Wenigstens ein Sensor wurde an der Frontstruktur des Fahrzeugs angebracht und diente als Crashdetektor. Ein zweiter Sensor wurde normalerweise in der Fahrgastzelle angebracht und als Sicherungssensor eingesetzt, der ein unbeabsichtigtes Auslösen des Airbags während der Fahrt verhindern sollte. Das elektronische Modul, das die Verbindung zwischen den Fernsensoren und den Airbagmodulen herstellte, diente nur dazu, eine zuverlässige Stromzufuhr und die richtige Verbindung der Systemkomponenten miteinander sicherzustellen. Seine Fähigkeit, Systemfehler aufzudecken, war jedoch begrenzt. Moderne passive Insassenschutzsysteme nutzen die elektronische Abtastung, wobei die meisten Systeme Mikrobeschleunigungsaufnehmer aus Silizium und Mikroprozessorsysteme verwenden, um mit in Software implementierten Algorithmen Unfallart und -schwere zu bestimmen. Diese Systeme, für die in Abb. 17 Beispiele zu sehen sind, können auch Zusatzinformationen liefern. So unter anderem der Gurtschlossschalter, der die Nutzung des Sicherheitsgurtes anzeigt oder Sitzpositions- oder Insassenklassifizierungssensoren. Letztere Sensoren bestimmen die Körpergröße, um das Maß der Airbagentfaltung dem Passagier anzupassen. Sie können ebenfalls benutzt werden, um festzustellen, ob ein rückwärts gerichteter Kindersitz auf dem Beifahrersitz in Vorwärtsrichtung angebracht wurde. Die elektronischen Abtast- und Entscheidungssysteme liefern die auslösenden Signale an die modernen Airbags und Gurte und schneiden deren Reaktion auf die jeweiligen Bedingungen zu. Eine neue Sensorengeneration eröffnet neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit passiver Sicherheitssysteme. Hierbei handelt es sich um zwei Arten von PreCrash-Sensoren, die das Sicherheitssystem auf einen zu erwartenden Unfall mit Verletzungsrisiko vorbereiten. Sowohl das PreCrash-Radar als auch Stereokamerasysteme werden von Takata entwickelt. Sie stellen Informationen über mögliche Gefahren zur Verfügung, um die Leistung bestehender passiver Rückhaltesysteme zu verbessern. Für die Weiterentwicklung aktiver Sicherheitssysteme werden diese vorausschauenden Sensoren entscheidend sein. Gegenwärtig ist die PreCrash-Sensorik für einige Fahrzeugplattformen als zusätzliche Option erhältlich. Radarsysteme, die entweder mit 24 GHz oder mit 77 GHz arbeiten, sind für Fahrerassistenzfunktionen und zur Kollisionswarnung oder Kollisionsvermeidung verfügbar.Sichtsysteme werden ebenfalls als attraktive und kostengünstige Sensoren für Fahrerassistenz und einige PreCrash-Anwendungen zu erwerben sein. Takata hat sowohl einen Stereo-Kamerasensor als auch einen elektronisch abtastenden 24 GHz Ra-

232 Aktiver Eingriff in passive Systeme

darkopf entwickelt, um beide Bereiche – Fahrerassistenz und PreCrashFunktionen – bedienen zu können (siehe Abb. 18 und 19).

Abb. 18

Elektronisches Steuermodul für Rückhaltesensorsysteme

Abb. 19

24 GHz PreCrash-Radar

Fortschrittliche Sensoren und Klassifizierungsalgorithmen werden auch entwickelt, um die PreCrash-Position des Insassen besser bestimmen und die Airbags und Gurte noch präziser auf die Insassenbedingungen einstellen zu können. Sensortechnologien und damit verbundene Elektronik werden weiter reifen. Sie können somit noch besser die Sicherheitssysteme künftiger Automobile einstellen und koordinieren, moderne Sicherheitsmaßnahmen zur Unfallvermeidung anbieten und Verletzungsrisiken bei Unfällen weiter reduzieren. Fortschritte in der drahtlosen Kommunikation zwischen Sensoren und Aktuatoren führen zu einer Verbesserung der Zuverlässigkeit und Leistung. Daraus ergeben sich beträchtliche Kostensenkungen für Verkabelung, Anschlüsse und Kabelbäume bei den Automobilherstellern.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 233

3.8

Aktive Sicherheit

Die aktuelle Situation am Ende des Jahres 2005 zeigt, dass die Gurtnutzung in den USA inzwischen auf 82 Prozent gestiegen ist. NHTSA-Schätzungen zufolge hat der Gurt 15.700 Verkehrstote verhindert, 350.000 schwere Verletzungen vermieden und etwa 67 Milliarden US$ volkswirtschaftliche Kosten gespart, verbunden mit reduzierten Verlusten [10]. Weitere US-Staaten haben inzwischen die Gurtpflicht verbindlich eingeführt. Trotzdem sind Verkehrsunfälle nach wie vor die häufigste Todesursache für Personen zwischen drei und 33 Jahren [11].Die in Abb.20 dargestellten Daten illustrieren den dramatischen Rückgang der Todesopfer je 100 Millionen Fahrkilometer.

Abb. 20

Stereo Vision PreCrash Sensor

Diese Rate wird jedoch zukünftig nicht in gleichem Maße weiter sinken, obwohl die NHTSA für die nächsten Jahre weitere Fortschritte erwartet. Verbesserungen heutiger passiver Sicherheitssysteme führen nicht mehr unbedingt zu einem starken Rückgang tödlicher Unfälle. Nur wenn der Focus künftig auf der Optimierung des Zusammenspiels aktiver und passiver Sicherheitssysteme und hoch entwickelter PreCrash Sensorsysteme liegt, lassen sich Unfälle mit tödlichem Ausgang noch weiter verringern. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden Antiblockier-Bremssysteme eingeführt, die eine frühe Umsetzung der aktiven Sicherheitstechnologien sind. Sie helfen dem Fahrer, das Fahrzeug auf nasser oder eisiger Straße beim Wechseln der Fahrtrichtung oder Bremsen unter Kontrolle zu halten und so ein Schleudern zu vermeiden. Durch die Kontrolle der auf die Radbremszylinder aufgebrachten Bremskraft soll die Möglichkeit, dass einzelne Räder blockieren, begrenzt werden, um so während des Bremsvorgangs kontrollierter steuern zu können.Früher nahmen die Fahrer die Intervallbremsung auf nassen oder vereisten Straßen selbst vor, anstatt das Bremspedal kontinuierlich durchzutreten. Als das Ant-Blockier-System (ABS) eingeführt wurde, stellten sich die erwarteten Effekte einer verbesserten Fahrzeugsicherheit nicht ein. Der Grund hierfür lag in der mangelnden Aufklärung der Öffentlichkeit über den Nutzen des Systems. Im Laufe der Zeit und mit entsprechenden Nutzerschulungen wurden die ABS-Systeme zunehmend akzeptiert und von den Verbrauchern effektiver eingesetzt. Bei

234 Aktiver Eingriff in passive Systeme

der Einführung der Elektronischen Stabilitätskontrolle (ESP) und der Roll Stability Control (RSC) stellte sich dieses Problem nicht. Beide Systeme sind so konzipiert, dass sie für den Fahrer „transparent“ funktionieren. ESP-Systeme beobachten mit Hilfe verschiedener Sensoren das Fahrverhalten, u. a. Lenkwinkel, Einzelradumdrehungen, Fahrzeuggeschwindigkeit und Querbeschleunigung. Entsprechend der Einschätzung des Fahrzeugstatus werden Aktionen in Gang gesetzt, um das Fahrzeug „stabil“ oder „unter Kontrolle“ zu halten. Ein Zusammenstoß kann zwar nicht immer verhindert werden, aber eine Verminderung der Kollisions- und Verletzungsgefahr ist nachgewiesen. Unfälle mit Überschlag wurden reduziert. ESP und RSC liefern darüber hinaus nützliche Informationen an das elektronische Modul, das die passive Sicherheit kontrolliert, beispielsweise über Bremsstatus, Gier- und Fahrzeuggeschwindigkeit. Dies gestattet bereits eine Voreinstellung der passiven Rückhalteelemente wie Straffung der Gurte,Justierung der Sitze,das Schließen der Fenster und des Schiebedachs, Weiterhin werden Warnungen an den Fahrer möglich. PreCrash Sensoren, die mit Daten aus den Fahrzeugstabilitätsprogrammen arbeiten, können die Entwicklung der Kollisionswarnung voranbringen und das Potential zur Vermeidung oder Verringerung von Verletzungen vergrößern. Der in Abb. 21 dargestellte Zeitverlauf von normalem Fahrgeschehen bis zur Bergung und medizinischer Notfallversorgung kann in Phasen eingeteilt werden. Hier lassen sich Möglichkeiten identifizieren, die den Unfallausgang durch eine erhöhte Integration der aktiven und passiven Fahrzeugsicherheitssysteme positiv beeinflussen. Die Anfangsphase wird als Crashvermeidung bezeichnet.Die zweite Phase ist die verstärkte Kontrolle in Notsituationen, die dritte Phase ist der Insassenschutz und die vierte Phase ist das Absetzen eines Notrufs nach dem Unfall und die medizinische Versorgung. In der Crashvermeidungsphase beobachten PreCrash-Radar und/oder ein Kamerasystem kontinuierlich das Umfeld und überwachen die Position und das Spurhalten des Fahrzeugs. Dem Fahrer können visuelle, akustische oder haptische (z. B. Anziehen des Gurts) Signale gegeben werden, um ihn vor potentiell gefährlichen Situationen zu warnen. In der zweiten Phase kann das ESP dem Fahrer helfen, die Kontrolle über das Fahrzeug zu behalten. (Halb-)automatisches Bremsen reduziert die Fahrzeuggeschwindigkeit und damit die beim Crash freigesetzte Energie. Für eine optimale Funktion des Rückhaltesystems bei einem Aufprall könnten vorbereitende Systeme das Schiebedach und die Fenster schließen, den Sitz ausrichten und die Sitzgurte straffen. In der dritten Phase arbeiten die entsprechenden Module in einem optimierten Ablauf und mit dem gemäß den Unfallbedingungen jeweils erforderlichen Energieniveau zusammen. Anschließend kann durch einen automatischen Notruf Hilfe angefordert werden, wodurch Rettungsmaßnahmen und medizinische Versorgung beschleunigt und erleichtert werden können.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 235

Abb. 21 Rate der tödlichen Unfälle je 100 Millionen Fahrkilometer von 1966 bis 2004 in den USA [12]

Darüber hinaus bestehen weitere Möglichkeiten, die Einführung moderner aktiver Sicherheitssysteme zu fördern. Ein Mittel ist die Standardisierung von Warnsignalen. Aber auch Vorschriften zur Systemleistung, Pflichtprüftests und Datenkommunikationsprotokolle zählen dazu. Kurzfristige Maßnahmen sind die Standardisierung von Symbolen, Timing und Methoden, um den Fahrer zu warnen. Er kann so adäquat auf kommende Gefahrensituationen reagieren.Standardisierte Warnungen könnten dazu beitragen, richtig zu handeln,Verwirrung und Verwechslungen zu vermeiden,deren Ursache in der Verwendung sich unterscheidender Systeme in unterschiedlichen Fahrzeugen liegt. Unvorstellbar wäre, dass jede Fahrzeuglinie oder Marke ihre eigenen Symbole oder Warnsignale hätte. Nur eine herstellerübergreifende Zusammenarbeit zwischen MenschMaschine-Schnittstellenspezialisten (HMI) und Ingenieuren aus der aktiven Sicherheit kann dieses Problem lösen. Eine weitere kurzfristig umsetzbare Möglichkeit besteht darin, die Systemkommunikation und standardisierte Tests und Leistungskriterien für derzeitig noch unreglementierte Sicherheitssysteme zu definieren. Standardisierte Systemtests sind notwendig, um wenigstens die minimalen Leistungskriterien eines aktiven Sicherheitssystems festzulegen.Besonders hinsichtlich Fahrerassistenzsysteme (FAS) müssen die Erwartungen an ein System von Komponentenhersteller, OEM’s und Kunden gleichermaßen verstanden werden. Dies betrifft die Bedingungen, unter denen ein solches

236 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Abb. 22 Zeitspanne zwischen normalem Fahren und den Rettungsmaßnahmen nach einem Unfall

System Vorteile bringt sowie den Nutzenumfang und die Situationen, in denen kein Nutzen erwartet werden kann. Ebenso sollten Überlegungen zum Gebrauch oder eventuellen Missbrauch der Systeme durch den Kunden kommuniziert werden. Komponentenhersteller können dementsprechend Sensoren mit Minimalanforderungen und Leistungskataloge für Algorithmen entwickeln. OEM’s wären in der Lage, go / no-go Bewertungskriterien in den Fahrzeugen zu koordinieren. Kunden würden besser verstehen, was FAS leisten und wo ihre Grenzen liegen. Akzeptanzprobleme der Kunden,wie bei der Einführung des ABS Anfang der 1990er Jahre, lassen sich so vermeiden. Potentielle Missverständnisse bezüglich der Leistungen dieser Systeme werden ausgeräumt. Dies trägt dazu bei, Rechtstreitigkeiten vorzubeugen. Kurz- bis mittelfristige Ansatzpunkte liegen in der Standardisierung der Kommunikationsprotokolle für alle OEM’s. Datenkommunikationsprotokolle mit hoher Zuverlässigkeit und Bandbreite erlauben das Hinzufügen von Sensoren und Aktuatoren der aktiven Sicherheit und den Datenaustausch zwischen Fahrzeugdynamik und Sicherheitssystemen, um eine besser koordinierte Entscheidungsfindung zur Unfallvermeidung und zum den Insassenschutz zu ermöglichen. Angesichts der Latenz- und Erweiterbarkeitsproblematik aktueller eventgesteuerter asynchroner Protokolle wie z. B. CAN oder zeitgesteuerter synchroner Systeme wie TTP könnten OEMs und Zulieferer gleichermaßen von der Einführung flexibler Zeitmultiplexverfahren (TDMA) wie FlexRayTMprofitieren.

Benedikt Heudorfer, Dirk Meißner 237

Heutige Fahrzeuge nutzen multiple Bussysteme. Die Einigung auf ein gemeinsames Bussystem durch die OEM’s erhöht die Flexibilität des Systems und eröffnet weitere Möglichkeiten zur Kostenreduzierung. Komponenten können eingebunden und zusätzliche Knoten hinzugefügt werden, die vielfältige Variationsmöglichkeiten beim Einsatz von gemeinsamen Komponenten im Fahrzeug zulassen. Mit einem gemeinsamen Bus können Zulieferer Sensoren und Aktuatoren entwickeln und produzieren, die gemeinsame Kommunikationsschnittstellen haben. Dadurch reduzieren sich die Zahl der Einzelteile und die Höhe der Ausgaben für Entwicklung, Testing und Support. Zur raschen Umsetzung dieses Ansatzes wird das aktive Handeln der Industrie nötig sein, um die gewünschte Hardware so schnell wie möglich zu marktgerechteren Konditionen anzubieten, so dass sie mit gegenwärtig zur Verfügung stehenden Alternativen für Basisanwendungen gleichzieht. Wollte man CAN durch FlexRayTM ersetzen, so scheint dies aus Kostengründen und auf Grund begrenzter Kommunikationsanforderungen heutiger Crashmodule nicht sinnvoll. Eine abgespeckte FlexRayTM-Version „Lite“ könnte entwickelt werden, um die Kostenfrage zu klären. Dies würde den Standardisierungsansatz aufrechterhalten, aber die Schnelligkeit und Sicherheit beeinträchtigen, da verdrillte Leitungspaare statt optischer Netzwerkverbindungen genutzt und die Schnittstellenfunktionen modifiziert würden. Zudem sind die Kostenunterschiede zwischen CAN und FlexRayTM nicht zuletzt den starken Unterschieden in Produktionserfahrung und -volumen geschuldet. Für die Einführung von PreCrash-Radarsystemen ist FlexRayTM, aufgrund der nicht ausreichenden Bandbreite von CAN, eine gute Alternative. Bis die Kostenfrage gelöst wird, müssen die Entwickler aktiver Sicherheit Komponenten mit multiplen alternativen Kommunikationsoptionen liefern.

4

Schlussfolgerungen

Zur weiteren Verbesserung des Insassenschutzes muss die technische Entwicklung enger mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über menschliche Reaktionen verknüpft werden. Unter Nutzung des ständig wachsenden Wissens über das menschliche Verhalten in Fahrsituationen sowie dem Einfluss von Verwirrung und Reizüberflutung können fortschrittliche Systeme dazu beitragen, die Belastung des Fahrers so zu steuern, dass er sich auf die Kontrolle des Fahrzeugs konzentrieren kann. Der dargestellte Ansatz kann den Rahmen der Sicherheitsfunktionen beträchtlich erweitern und das Niveau der automobilen Sicherheit erhöhen. Die Zusammenarbeit von vorausschauender Sensortechnologie, Interpretation der situationsbedingten Bedürfnisse des Fahrers, warnende

238 Aktiver Eingriff in passive Systeme

Mitteilungen an den Fahrer und der situativen Vorbereitung der aktiven und passiven Sicherheitssysteme eröffnet dem „sicheren Fahren“ eine neue Welt.

DANKSAGUNG Die Autoren danken dem globalen R&D Team von Takata, dessen Kreativität, Kooperation und Kameradschaft Engineeringprozesse weiter voranbringt.

Literatur 1. US President Lyndon B. Johnson, speech at the signing of the National Traffic and Motor Vehicle Safety Act, September 9, 1966. 2. Nader, Ralph – „Unsafe at Any Speed“ 1965 3. NHTSA „Initiatives to Address Safety Belt Use,“ NHTSA, July 2003 4. Glassbrenner Donna, Ph.D. „Safety Belt Use in 2005 – Demographic Results: Traffic Safety Facts“, Research Note DOT HS 809 969,NHTSA’s National Center for Statistics and Analysis, December 2005. 5. VDI Reports 1794, „Innovative Occupant and Partner Crash Protection - Vehicle Safety 2010“, Conference Berlin, November 20-21, 2003. 6. „Air Cushion Restraint System“ Figure from 1975 Buick Owners Manual by General Motors 7. „Intermodal Surface Transportation 8. Efficiency Act,“ US Congress 1991, 9. US Federal Register 10. IIHS „Side Airbags with Head Protection have looked promising in Crash Tests: Are they also saving lives in real-world crashes“, Status Report, Vol. 38, Nr. 8, IIHS, August 26th , 2003. 11. Rollover fatality reduction due to the use of Electronic Stability Control 12. „NCSA Annual Report Documents Increase In Seatbelt Use“ article in Highway & Vehicle Safety Report, January 2, 2006, Page 2 13. US Department of Health and Human Services, current population statistics 2005 14. NHTSA Traffic Safety Facts, 2004, Page 25

Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Ludger Dragon

1

Einleitung

Fahrzeughersteller investieren in ihre Forschungsabteilungen viel Geld,immer in der Hoffnung dem Fahrzeug der Zukunft etwas näher zu kommen und damit im stark umkämpften Automobilmarkt die Nase vorn zu haben. Dabei werden in der Regel alle wichtigen Eigenschaften eines Fahrzeuges neu überdacht. Im Fokus stehen dabei Themen wie die Verwendung

Abb. 1

240 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

neuer Materialien, alternative Antriebe, neuartige Funktionalitäten für die aktive und passive Sicherheit und natürlich auch die Weiterentwicklung der Fahrdynamik (siehe Abb. 1). Die Umsetzung dieser neuen Ideen hängt von vielen Faktoren ab. Da gibt es zum Beispiel die gesetzlichen Vorgaben und die so genannten Ratings, die von unabhängigen Institutionen durchgeführt werden und für den Kunden als Unterstützung der Produktauswahl dienen sollen. Eine wichtige Rolle spielen ebenfalls wirtschaftliche Gesichtspunkte und ebenfalls das Bestehen von Manövern, wie dem „Elchtest“. Ganz wichtig ist natürlich wie der Kunde ein Produkt sieht. Ist das Produkt für ihn ausreichend attraktiv bzw. sogar begehrenswert, um dafür Geld auszugeben? Und selbstverständlich auch die Frage: Kann der Kunde sich das Produkt leisten? Im Folgenden wird versucht, aus einem Blick zurück über die Technik von heute ein Bild für morgen zu erzeugen. Der Blick zurück deutet kurz an wie alles begann und wie der Siegeszug der individuellen Mobilität bis heute die entscheidende Triebfeder für die Automobilhersteller geblieben ist. Der Blick auf die Zukunft der Fahrzeugdynamik wird aus Sicht der aktuellen Entwicklungen skizziert. Zunächst wird der Begriff Fahrzeugdynamik kurz erläutert und dann die Fahraufgabe in die wesentlichen Bausteine gegliedert. Der größte Teil des Artikels widmet sich der Technik von heute und morgen für die Fahrzeugdynamik.

Abb. 2

Typische Arbeitsgebiete in der Forschung der Automobilindustrie

Ludger Dragon 241

2

Fahrzeugdynamik, was ist das?

Aus technischer Sicht wird die Fahrzeugdynamik in drei Gebiete unterteilt: die Quer-, die Längs- und die Vertikaldynamik. In der Umgangssprache wird die Quer- und Längsdynamik mit dem Wort Agilität und die Vertikaldynamik mit dem Wort Komfort umschrieben. Fahrzeuge haben eine hohe Längsagilität, wenn der Fahrer hohe Beschleunigungswerte erzielen kann. Sind hohe Kurvengrenzgeschwindigkeiten möglich bzw. ist der Lenkaufwand relativ zur erzeugten Querbeschleunigung bei Kurvenfahrt gering, so wird von einer hohen Queragilität gesprochen. Typischerweise erlebt der Normalkunde Querbeschleunigungen bis ca. 4 m/s2 .Wie Abb. 2 zeigt werden diese Querbeschleunigungen vor allem im Geschwindigkeitsbereich von 50 bis 100 km/h erreicht, also bei Fahrten auf europäischen Landstraßen. Heutige Personenwagen verhalten sich in diesem Querbeschleunigungsbereich linear, d. h. das gelernte Fahrzeugverhalten bei geringer Querbeschleunigung kann linear auf den gesamten Fahrbereich übertragen werden. Experten und oft auch Journalisten können sich mit Fahrzeugen im physikalischen Grenzbereich bewegen, der bei ca. 8 m/s2 liegt und dabei das Fahrzeugverhalten beurteilen. Im physikalischen Grenzbereich ist das Fahrzeugverhalten oft stark nichtlinear und damit kann das im Normalfahrbereich erlernte Fahrverhalten nur eingeschränkt verwendet werden. Jeder, der schon ein Fahrsicherheitstraining absolviert hat, kennt den Unterschied zwischen beiden Querbeschleunigungsbereichen. Die Vertikaldynamik wird oft kurz als Komfort bezeichnet.Das ist jedoch zu ungenau, da es im Automobilbau ebenfalls folgende Komfort-Begriffe verwendet werden: thermischer Komfort, Bedienkomfort, Geräuschkomfort etc. Deshalb soll unter der Vertikaldynamik der bessere Begriff Fahrkomfort verstanden werden. Der Fahrkomfort charakterisiert das Verhalten beim Fahren über Straßenunebenheiten. Im Wesentlichen handelt es sich hier um Beschleunigungen die auf die Insassen wirken. Im Allgemeinen gilt: je geringer diese Beschleunigungen, desto komfortabler ist das Fahrzeug. Die Fahrzeugdynamik sagt also nicht nur, dass man überhaupt von A nach B gelangt, sondern vor allem wie der Fahrer von seinem Ausgangsort A zu seinem Ziel B kommt. Bis zum heutigen Tage ist es das Ziel, Fahrzeuge mit hoher Agilität bei gleichzeitig sehr gutem Fahrkomfort zu bauen. Technisch entsteht hierbei ein Zielkonflikt, den man bei jedem Fahrzeug neu lösen muss und der letztendlich die Fahrkultur des Personenwagens beschreibt. Dabei entscheidet man sich entweder für mehr Fahrkomfort zuungunsten der Agilität und erhält damit ein komfortables Fahrzeug oder umgekehrt. Darüber hinaus wird versucht diesen Zielkonflikt mit Regelsystemen zu lösen. Diese Regelsysteme sollen erkennen, ob die Anregung durch die Strasse induziert wurde und damit ein weicheres Fahrwerk an-

242 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Abb. 3 Querbeschleunigung über Geschwindigkeit: Dargestellt sind die Bereiche in denen der Normalkunde in der Stadt, auf der Landstraße und auf der Autobahn fährt

zustreben ist oder ob die Anregung auf Wunsch des Fahrers entsteht und damit der Aufbau eher straff geführt werden soll. Neben dieser fundamentalen, beim Fahren subjektiv erlebbaren Eigenschaft nimmt der Kunde sein Fahrzeug noch in ganz anderen Zusammenhängen wahr. Diese weiteren kauf-entscheidenden Aspekte müssen gleichrangig zur Fahrdynamik befriedigt werden und erzeugen so weitere Abstimmungsbedarfe in der Fahrzeugentwicklung. Zu nennen sind an dieser Stelle: • das Design, also die erzeugte Erwartungshaltung beim Betrachter des Fahrzeugs noch bevor auch nur ein Meter mit dem Fahrzeug gefahren wurde; • das Verhalten der Fahrzeuge bei Unfällen, die so genannte passive Sicherheit (meist auch verkürzt Crash-Verhalten genannt); • der Verbrauch und hier vor allem der zur Zeit viel diskutierte CO2 Ausstoß, sowie weitere Bestandteile der Abgase; • die Betriebsfestigkeit und der Verschleiß, also die Langlebigkeit eines Fahrzeugs;

Ludger Dragon 243

Abb. 4 Positionierung der Fahrkultur im Zielkonflikt zwischen Fahrkomfort und Agilität; der Fahrkomfort wird durch das straßeninduzierte Fahrverhalten beschrieben und die Agilität durch das fahrerinduzierte Fahrverhalten

• das Akustikverhalten, also wie laut bzw. subjektiv akzeptabel die erzeugten Geräusche sowohl im Innern des Fahrzeugs als auch außen sind; • und viele mehr . . .

3 Wie alles begann?1 Am 29. Januar 1886 erhält Carl Benz das Patent Nr. 37435 für seinen Patent Motorwagen („Dreirad“). Im August 1888 wagt seine Frau Bertha Benz mit ihren beiden Söhnen Eugen und Richard die erste Fernfahrt der Automo1

Herausgeber: DaimlerChrysler AG, Titel: Daimler-Benz Chronik 2000

244 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Abb. 5 Benz Patent-Motorwagen mit schnelllaufendem Einzylinder-Viertaktmotor. Der Benz Patent-Motorwagen stellt eine eigenständige Konstruktion dar und basiert nicht auf einer umgebauten Kutsche.

bilgeschichte. Die Strecke betrug über 100 km und führte von Mannheim nach Pforzheim. Nachdem sich mit dieser Pioniertat das Automobil und damit die individuelle Mobilität durchgesetzt hatte, gab es bereits 1894 das erste Autorennen der Welt. Die Strecke Paris-Rouen war 126 km lang. Die Motoren hatten eine maximale Leistung von ca. 3,5 PS und der Sieger erreichte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20,5 km/h. Die individuelle Mobilität ist bis heute die größte Triebfeder für das Automobil. Schon früh haben Fahrzeuge über ihr fahrdynamisches Verhalten viel zur Verwirklichung von Träumen und Lebensgefühlen beige-

Abb. 6 Links: der Mercedes-Benz 300 (W186) von 1952 ist der Wagen des Kanzlers Adenauer; rechts: der Silberpfeil (W196) Weltmeister Fahrzeug 1954 und 1955 in der Formel 1

Ludger Dragon 245

tragen. Einfach ist dies an den beiden folgenden historischen MercedesFahrzeugen zu erkennen: An dem legendären Silberpfeil von 1954 (W196) mit dem 1954 und 1955 die Weltmeisterschaft in der Formel 1 gewonnen wurde. Und an dem so genannten „Adenauer“-Wagen, dem Dienstfahrzeug des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, ein Fahrzeug das damit zur Staatslimousine wurde.

4 Was spielt sich beim Autofahren eigentlich ab? Da das Automobilnur etwa 100 Jahre alt ist, hat die Evolution des Menschen keine Zeit gehabt, sich auf das Autofahren einzustellen. Dennoch folgt die Maschine Auto unseren Wünschen, d. h. Automobile werden so gebaut, dass der Mensch mit seinen Fähigkeiten damit umgehen kann.

Abb. 7 Fahrdynamische Wechselwirkungen zwischen Fahrer, Fahrzeug und Umwelt.

Das Fahren eines Fahrzeuges wird in diesem Abschnitt aus zwei Blickwinkeln betrachtet. Beide Blickwinkel ergänzen sich. Da ist zum einen die eher regelungstechnische Sichtweise,die den Fahrer als Regler ansieht.Zum anderen gibt es natürlich die eher medizinische Sichtweise. Hier stehen die Sinnesorgane des Menschen im Vordergrund. Denn nur was der Fahrer wahrnimmt, kann er auch beurteilen und daraus sein zukünftiges Handeln ableiten. Zunächst also die eher technische Darstellung. Das Autofahren kann in folgende Teilschritte gegliedert werden:

246 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

1. Der Wunsch des Fahrers ist es, dass das Fahrzeug einem gewünschten Soll-Kurs folgt.Der Fahrer realisiert dies,indem er lenkt,Gas gibt,bremst und je nach Getriebe im Fahrzeug auch schaltet. 2. Das Fahrzeug reagiert auf diese Fahrer-Wünsche, indem es sich entsprechend den Fahrer-Eingaben (Lenken, Gasgeben, Bremsen, Schalten) in der Umwelt bewegt. Dieser Vorgang ist rein technisch zu verstehen. 3. Wie sich die Fortbewegung gestaltet, hängt neben dem Fahrzeug natürlich auch an der Umgebung: • Welche Reibwerte stellen sich zwischen Fahrzeugreifen und Straße ein? • Wieviel Platz ist zum Befahren vorhanden? • Ist die Straße eben oder uneben? • Ist der Straßenverlauf kurvig oder gerade? • Ist es windig? • Wie viel Verkehr herrscht auf dem Kurs? • Muss der Fahrer auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren? • Gibt es Kreuzungen? • Wie sind die Sichtverhältnisse? 4. Aus den Fahrervorgaben ergibt sich ein Ist-Kurs.Dieser Ist-Kurs wird mit dem Soll-Kurs verglichen. Ist die Abweichung gering, so überwiegt das Steuerverhalten des Fahrers. Erlebt der Fahrer größere Abweichungen zwischen Soll- und Ist-Kurs, so muss er die Fahrzeugreaktion ausregeln. Da im Normalfall der Autofahrer kein Fahrzeugingenieur ist, muss das Fahrzeug so gebaut werden, dass das Fahrzeug sich intuitiv richtig verhält. Man spricht auch oft davon, dass der Fahrer sich im Fahrzeug zu Hause fühlt. Ein gutes Fahrzeugverhalten zeichnet sich dadurch aus, dass der Steueranteil beim Fahren deutlich höher als der Regleranteil ist. Man kann es auch im Sinne von Prof.Bernt Spiegel2 wie folgt ausdrücken: Erst wenn der Mensch das Fahrzeug quasi als Teil von sich selbst begreift, wird das Fahrzeug akzeptiert. Dies gelingt dem Menschen um so leichter, je eher er sich ein „inneres Modell“ 3 vom Fahrzeug und seinem Fahrverhalten machen kann. Sieht ein Fahrzeug sportlich aus und ist das Fahrverhalten entsprechend dieser Vorstellung, so hat der Fahrer das Bild eines Sportwagens im Kopf und findet sich zurecht. Die technische Realisierung spielt dabei letztendlich keine Rolle. Der Begriff „inneres Modell“ ist hier im Sinne vom Wahrnehmen, Denken und Fühlen gemeint, wobei alle drei Aktivitäten zunächst nur dem jeweiligen Menschen zugänglich sind. Für den normalen Kunden ist dies das Entscheidende. Versuchsfahrer müssen darüber hinaus die Fähigkeit 2 3

Autor: Prof. Bernt Spiegel: Titel: Die obere Hälfte des Motorrades; Motorbuchverlag, ISBN 3-613-02268-1 Autoren: Prof. Bubb und Bolte; Titel: Einfluß der fahrdynamischen Kräfte auf die haptische Rückmeldung bei konventionellen Bedienelementen und bei Aktiven Bedienelementen, Mitteilung Lehrstuhl für Ergonomie TU-München 1987

Ludger Dragon 247

besitzen, aus ihrem inneren Modell ein äußeres zu machen, indem der Versuchsfahrer möglichst eindeutig über das Erlebte reden kann. Nur so kann der jeweilige Entwicklungsstand bewertet und damit weiter optimiert werden. Um die Fahraufgabe lösen und das Fahrverhalten bewerten zu können, benötigt der Fahrer Informationen. Die wichtigsten Wahrnehmungen für die Fahrdynamik laufen über die Augen, die Ohren und den Tastsinn. Mit dem Ohr können akustische Signale aufgenommen werden. Viel wichtiger für die Fahrdynamik ist jedoch das Vestibular-Organ, das sich im Innenohr befindet und als Gleichgewichtsorgan dient. Mit dem Vestibular-Organ werden die Aufbaubewegungen sehr genau registriert, z. B. können unterschiedliche Wankbewegungen des Fahrzeugaufbaus (siehe Abb. 13) immer noch mit dem Vestibular-Organ sicher aufgelöst werden, obwohl rein optisch kaum ein Unterschied zu erkennen ist. Das Zusammenspiel dieser Wahrnehmung mit dem Tastsinn und der optischen Information sowie deren ganzheitliche Bewertung sind bis heute Gegenstand der Forschung. Daher lassen sich diese subjektiven Bewertungen nur aus der Erfahrung und damit näherungsweise vorhersagen. Aus dem vorangegangenen Abschnitt wird klar, dass die Technik immer so gestaltet werden muss, dass möglichst viele Kunden sich ein „inneres Modell“ vom Fahrzeug machen können und dass dieses „innere Modell“ auch attraktiv ist.

5

Die Technik von heute und morgen

Die Fahrzeuge von heute besitzen zunehmend Systeme, die die klassischen Zielkonflikte auflösen sollen. Dies soll am Beispiel des Lenkradmomentes kurz erläutert werden. Beim Lenken in eine Kurve werden durch die Achskinematik die beiden vorderen Räder in die Richtung der Kurve bewegt. Dabei entsteht zwischen Straße und Reifen eine Seitenkraft, die zur Kurvenfahrt benötigt wird. Gleichzeitig entsteht ein Lenkradmoment, das dem Fahrer eine erste Information über die Kurvenfahrt gibt. Bei den ersten Fahrzeugen entsteht das Lenkradmoment rein mechanisch aus dem Reifenverhalten, der Achskinematik, dem Gewicht an der Vorderachse und dem Lenksystem. Heute ist in den Fahrzeugen fast immer eine Servo-Unterstützung eingebaut (siehe Abb. 7). D. h. das rein mechanische Lenkradmoment wird durch ein Zusatzmoment überlagert. Das Überlagern dieses Handmomentes geschieht so, dass der Fahrer das gesamte Handmoment als „natürlich“ empfindet, also sein „inneres Modell“ stimmig ist. Er weiß nicht, dass die rein mechanischen Lenkradmomente bei heutigen Fahrzeugen im Allgemeinen deutlich höher sind als die tatsächlich gefühlten Lenkradmomente.

248 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Ohne die Servo-Unterstützung musste in der Vergangenheit oft eine indirektere Lenkübersetzung gewählt werden, um die Lenkradmomente auf einem akzeptabel niedrigen Niveau zu halten. Diese Wahl der Lenkübersetzung hatte folgende Nachteile: Zum einen wurde die Queragilität reduziert, da das Fahrzeug auf einen gegebenen Lenkradwinkel nicht sehr stark reagierte. Zum anderen wurde dadurch natürlich der Lenkaufwand beim Rangieren sehr stark erhöht. Heute können geringere Handmomente erzeugt werden und gleichzeitig eine hohe Queragilität durch eine geringe Lenkübersetzung erzielt werden. Analoge Verhältnisse sind beim Gasgeben, Bremsen und Schalten gegeben. Das „innere Modell“ des Fahrers kennt diese Zusatzsysteme in aller Regel nicht. Zur Zielkonfliktlösung oder aber zur Erzeugung eines bestimmten Fahrverhaltens werden die Zusatzsysteme eingesetzt. Im Folgenden wird zunächst auf die Weiterentwicklung der klassischen Baugruppen eingegangen. Danach werden die Zusatzsysteme dargestellt, die heute immer mehr Bedeutung erlangen.

Abb. 8

Der Wirkzusammenhang: Lenken, Achskinematik, Reifenverhalten

Ludger Dragon 249

6

Der klassische Maschinenbau des Automobils; über 100 Jahre Entwicklung

Das Fahrzeug besitzt seit seiner Erfindung folgende Baugruppen: 1. Motor, Getriebe, Kraftübertragung (Längsagilität) 2. Reifen, Achsen, Lenkung, Federung, Dämpfung (Queragilität, Fahrkomfort) 3. Aufbau, Sitze (Queragilität, Fahrkomfort, Seitenwindverhalten) Alle drei Baugruppen sind für die Fahrdynamik von Bedeutung. Trotz der Einteilung in drei Baugruppen gibt es in der Fahrdynamik immer Wirkketten mit vielen einzelnen Komponenten. So spielt z. B. die Sitzposition eine Rolle für den Fahrkomfort und die Queragilität. Exemplarisch wird der Fortschritt an der Entwicklung der Achsprinzipien und den Querschnittsverhältnissen der Reifen aufgezeigt. Ausgangspunkt für die ersten Achsen waren die Kutschen. Dort gab es vor allem Starrachsen. Dieses Achsprinzip hat sich über die Einzelradaufhängung mit wenigen Lenkern bis zu Mehrlenkerachsen mit so genannten virtuellen Spreizachsen weiterentwickelt. Natürlich gibt es bis heute in einzelnen Marktsegmenten noch Starrachsen, z. B. bei echten Geländefahrzeugen, also nicht den heute populären SUVs4 oder bei den so genannten Pick Ups, die bis heute in den USA große Verbreitung haben. Besseres Fahrverhalten für Personenwagen lässt sich mit Einzelradaufhängungen erzielen. Diese Achstypen haben mehr Möglichkeiten, die unterschiedlichen fahrdynamischen Anforderungen zu erfüllen. Die wesentlichen Anforderungen einer Achse sind: 1. Für eine hohe Queragilität eines Fahrzeuges müssen die Seitenkräfte immer so abgestützt werden, dass ein untersteuerndes, d. h. stabiles Fahrverhalten entsteht. Auch sollten keine Aufstützeffekte entstehen, d. h. der Aufbau wird bei hohen Querbeschleunigungen nicht durch die Seitenkräfte angehoben. 2. Für guten Fahrkomfort muss die Achse eine möglichst hohe Längsnachgiebigkeit besitzen, d. h. beim Überfahren eines Einzelhindernisses, wie z. B. eines Kanaldeckels, werden nur geringe Beschleunigungen in den Fahrzeuginnenraum übertragen. Darüber hinaus soll das Rad, das über das Einzelhindernis fährt, seine Bewegung nicht auf das andere Rad der Achse übertragen. 3. Die Achse sollte für das Package optimal sein, d. h. nur wenig Raum für die Lenk- und Federbewegung benötigen. 4. Rückwirkung der gelenkten Vorderachse auf das Lenksystem sollte minimiert werden, d. h. Antriebs- oder Bremskräfte sollten keine Rückwirkung auf das Lenkmoment bzw. den Lenkradwinkel haben. Dies wird 4

SUV=sport utility vehicle

250 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

heute bei Fahrzeugen der Premiumklasse durch Mehrlenkerachsen mit virtuellen Spreizachsen realisiert. 5. Die Federung und Dämpfung sollte so realisierbar sein, dass keine zu großen Übersetzungsverhältnisse innerhalb der Achse auftreten. Direkte Übersetzungsverhältnisse ermöglichen höheren Komfort und die auftretenden inneren Kräfte bleiben gering. Die Achsprinzipien liefern damit einen wesentlichen Beitrag zur Auflösung des Zielkonfliktes zwischen Fahrkomfort und Agilität. Ähnliches hat sich auf dem Gebiet der Reifen getan. Für fahrdynamisch ambitionierte Normalkunden, ist teilweise die Breite der Reifen und der Durchmesser der Felgen von kaufentscheidender Bedeutung. Ist der Reifen sehr breit und besitzt eine möglichst große Felge, so ist das Verhältnis aus Reifenhöhe zu Reifenbreite gering und der Kunde erwartet von dem Reifen eine sehr hohe Querdynamik. In der Tat werden bei solchen Rädern die Seitenkräfte schnell aufgebaut und das Seitenkraftpotenzial ist entsprechend hoch. Dem oft beschworenen Fahren wie auf Schienen kommt man näher. Abb. 8 zeigt, dass sich das Verhältnis aus Reifenhöhe zu Reifenbreite, auch Querschnittsverhältnis genannt, über die Jahre von 113% auf 30% verringert hat und damit heute ein entsprechend besseres querdynamisches Verhalten vorhanden ist. Niedrige Querschnittsverhältnisse bedeuten höhere Reifenfedersteifigkeiten und damit zunächst eine Fahrkomfortverschlechterung. Dieser Nachteil muss durch eine entsprechende Fahrwerksabstimmung kompensiert werden, so dass der Zielkonflikt zwischen Agilität und Fahrkomfort auch hier besser ausgelegt werden kann.

Abb. 9 Entwicklung der Achsprinzipien und der Querschnittsverhältnisse bei Reifen von ca. 1900 bis heute

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Natürlich haben sich bei den Reifen weitere, nicht so deutlich sichtbare, aber erfahrbare Eigenschaften weiterentwickelt. Exemplarisch ist hier der Reifenaufbau zu nennen.Wurden früher fast ausschließlich Diagonalreifen gebaut,so gibt es heute nur noch Radialreifen.Auch die Gummimischungen haben sich weiterentwickelt. Früher wurde vorwiegend Ruß der Gummimischung beigefügt, heute sind es oft auch Silica. Dies führt zu günstigem Rollwiderstand und besserer Nasshaftung bei gleich bleibendem Abriebwiderstand. Die dargestellte Weiterentwicklung der Achse und der Reifen ist hier exemplarisch für alle anderen oben erwähnten Baugruppen zu sehen. Charakteristisch ist hier, dass ein Zeithorizont von ungefähr 100 Jahre zu betrachten ist, um den Fortschritt zu verdeutlichen. Dies liegt daran, dass die Abstimmung der Fahrdynamik immer alle Aspekte berücksichtigen muss, um ein für den Kunden einfach zu findendes inneres Modell zu ermöglichen. Würde man Reifen mit geringem Querschnittsverhältnis einsetzen und dabei den Zielkonflikt zwischen Agilität und Fahrkomfort völlig außer Acht lassen, so würde das innere Modell gestört und unter Umständen das Fahrverhalten nicht akzeptiert.

7

Die neue Welt der Regelsysteme in den Fahrzeugen von heute und morgen

Im Vergleich zum klassischen Maschinenbau des Automobils sind die so genannten Regelsysteme deutlich jünger und spielen in der Wettbewerbsdifferenzierung eine immer größere Rolle. Typischerweise besteht ein Regelsystem aus drei Bausteinen; 1. den Sensoren, die den Ist-Stand erfassen, 2. der Software, die die Sensordaten aufnimmt und dann mit einem Regelund/oder Steueralgorithmus entscheidet, ob und wenn ja, was getan werden soll, 3. der Aktuatorik, die die Aufgabe der Software umsetzt. Ihre Verbreitung beginnt für die Fahrdynamik erst Anfang der 80er Jahre mit dem Bremssystem ABS. In den heutigen Fahrzeugen wird die Anzahl der Regelsysteme immer größer und zwar für alle Fahraufgaben: Lenken, Bremsen, Gasgeben und schalten. Mit Regelsystemen können Zielkonflikte aufgelöst werden, die im klassischen Maschinenbau nicht lösbar wären (siehe das Beispiel des Lenkradmomentes). Diesem Mehrwert steht eine immer bessere Wirtschaftlichkeit gegenüber, so dass damit der Sog zu mehr Regelsystemen erklärbar wird. Wie man in Abb. 9 erkennt, kann man die Regelsysteme grob in zwei unterschiedliche Gruppen aufteilen. Zum einen die Gruppe der Regelsysteme,

252 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

die die Fahrsicherheit erhöht und zum anderen die Regelsysteme, die die Fahrkultur betreffen. In diesem Abschnitt wird je ein Vertreter aus beiden Gruppen in der prinzipiellen Wirkungsweise vorgestellt, das ESP-System für die Fahrsicherheit und das ABC-System für die Fahrkultur. Das ESP hat zur Aufgabe den Fahrzustand entsprechend dem Fahrerwunsch auch in den Situationen zu ermöglichen, in denen es zu instabilen Fahrsituationen kommen kann. Man spricht hier von so genannten Fahrunfällen, also Situationen bei denen keine Fremdeinwirkung zum Unfall geführt hat. Die Bedeutung dieser Situationen können in der Unfallstatistik abgelesen werden. Abb. 10 zeigt, dass 42% aller Unfälle mit Todesfolge Fahrunfälle sind. Bei den Verkehrsunfällen mit Verletzten sind es immerhin noch 17% aller Unfälle. Schätzt z. B. ein Fahrer die mögliche Durchfahrtsgeschwindigkeit für eine Kurve falsch ein, so versucht das ESP das Fahrzeug durch einen radselektiven, aktiven Bremseingriff zu stabilisieren. Damit die entsprechende Software ihre Aufgabe erfüllen kann,muss zunächst der Fahrerwunsch festgestellt werden. Dazu werden folgende Größen gemessen (siehe Abb. 11): der Lenkradwinkel, die Raddrehzahlen, der Bremsdruck. die Giergeschwindigkeit, also die Drehrate um die Fahrzeughochachse und der Bremsdruck im Hauptbremszylinder. Aus dem gemessenen Lenkradwinkel und den Raddrehzahlen kann die erwartete Querbeschleunigung oder Giergeschwindigkeit errechnet werden. Ist die gemessene Giergeschwindigkeit deutlich geringer als die errechnete, kommt es zu einer radselektiven Bremsung, z. B. am hinteren,

Abb. 10 Entwicklung der Regelsysteme für Fahrsicherheit und Fahrkultur von ca. 1980 bis heute

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Abb. 11 Anteil der Fahrunfälle bei Verkehrsunfällen mit Getöteten und mit Verletzten in der Bundesrepublik Deutschland

Abb. 12 A-Klasse, erstes Kompakt-Fahrzeug mit ESP als Serienausstattung

kurveninneren Rad. Das Fahrzeug kann dem Soll-Kurs weiter folgen. Die Bremshydraulik besitzt die Möglichkeit, diesen Radbremsdruck ohne Betätigung des Bremspedales aufzubauen. Ein leuchtendes Warndreieck im Fahrzeug signalisiert den ESP-Eingriff und fordert damit den Fahrer auf, seine Fahrweise der Situation anzupassen. Wie wirksam solch ein System ist, zeigt Abb. 12. Rein statistisch konnte nachgewiesen werden, dass die Anzahl der Fahrunfälle durch Fahrzeuge

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mit ESP signifikant reduziert werden konnte. Die Eingriffe sind immer so gestaltet, dass sie den Fahrer unterstützen. Heute dient das ESP-System als Plattform für weitere Funktionalitäten, wie dem Bremsassistenten (BAS) oder dem Sicherheitssystem Pre-Safe zur Erkennung von kritischen Fahrsituationen,die sich aus der Eigenbewegung des Fahrzeuges ergeben. Der Erfolg des ESP hat die US-amerikanische Verkehrsbehörde NHTSA dazu bewogen ab dem 1. September 2011 für alle auf dem US-amerikanischen Markt neu zugelassenen Fahrzeuge ein ESP-System vorzuschreiben. Wohin geht der Trend beim ESP? Zunehmend wird heute durch Radar und Kamera die Umgebung erfasst. Dies gibt die Möglichkeit in bestimmten Situationen sogar autonome Teilbremsungen durchzuführen. Ein solches System ist die Pre-Safe Brake. Wird mit dem Radar erkannt, dass es zu einer Kollision mit einem vorausfahrenden Fahrzeug kommen wird, so wird eine autonome Teilbremsung auch dann eingeleitet, wenn der Fahrer nicht das Bremspedal betätigt. In dieser Situation unterstützt das Regelsystem den Fahrer und hilft somit die Folgen des Unfalles zu lindern. Neben diesen Regelsystemen für die Fahrsicherheit gibt es ebenfalls Regelsysteme für die Fahrkultur (siehe Abb. 9). Ziel dieser Systeme ist es, eine Fahrkultur zu verwirklichen, die mit passiven Bauteilen nicht realisierbar ist und dem Kunden ein neuartiges inneres Modell ermöglicht.

Abb. 13 Anteil der Fahrunfälle in Prozent für Mercedes-Benz Fahrzeuge und andere Marken in Abhängigkeit des Jahres der Neuzulassung und des Unfalls

Ludger Dragon 255

Abb. 14 Aufbaubewegungen die mit dem ABC-Regelsystem beeinflusst werden

Abb. 15

Komponenten des ABC+ System

256 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Abb. 16 Reduzierung des Wankwinkels durch das ABC+ System im Vergleich zum ABC-System

ABC arbeitet im Schwingungsbereich bis fünf Hertz und hat zur Aufgabe, den Aufbau möglichst horizontal zu halten, d. h. ABC beeinflusst die Aufbau-Freiheitsgrade Huben, Nicken und Wanken (siehe Abb. 13). Eine Vielzahl von Sensoren nimmt den Fahrzeugzustand auf und entscheidet dann, welches Federbein den Aufbau wie abstützen soll. Die wichtigsten Sensoren für ABC messen die Aufbau-Beschleunigungen, das Federungsniveau an jedem Rad und den Druck in den Plunger-Zylindern (siehe Abb.14). Darüber hinaus werden natürlich die Informationen genutzt, die bereits ESP zur Verfügung stellt, z. B. der Lenkradwinkel. Bei Kurvenfahrt wird der Aufbau horizontal gehalten, indem jeder Plunger-Zylinder mit einem entsprechenden Hydraulikdruck beaufschlagt wird. Bei dynamischen Fahrmanövern oder bei Autobahnausfahrten wird dadurch der Wankwinkel stark reduziert (siehe Abb. 15). Mit einer entsprechend straffen Feder-Dämpfer-Abstimmung eines passiven Fahrwerkes ist dies ohne Regelsystem näherungsweise auch möglich. Nur hat das straffe Fahrwerk beim Überfahren von Unebenheiten deutliche KomfortNachteile. Gerade hier bietet das ABC-System aber nach wie vor einen sehr guten Fahrkomfort. ABC realisiert für den Kunden ein sehr queragiles Fahrzeug und lässt trotzdem ein komfortables Dahingleiten zu. Das Fahren von A nach B erhält einen ganz neuen Erlebniswert. Schlechte Landstraßen erscheinen komfortabler und das dynamische Fahren von Kurven macht

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Spaß. Damit ist der Zielkonflikt zwischen Agilität und Fahrkomfort weiter aufgelöst. Entwicklungstechnisch stellen diese Regelsysteme den Automobilhersteller vor neue Herausforderungen und Möglichkeiten. Die Herausforderung besteht natürlich darin, in allen Situationen ein Fahrzeug ohne Fehlfunktionen zu gewährleisten. Darüber hinaus muss natürlich auch der Ausfall einer der Regelsystemkomponenten abgesichert werden. Auf der anderen Seite werden neue, bisher nicht mögliche, fahrdynamische Auslegungen realisierbar.

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Die historische Zukunft der Fahrdynamik am Beispiel der Daimler-Forschungsfahrzeuge F300 und F400

Forschungsfahrzeuge zeigen zum einen was technisch möglich ist und testen zum anderen wie hoch die Attraktivität des Fahrzeuges bei der potentiellen Kundschaft ist. In diesem Abschnitt werden die beiden DaimlerForschungsfahrzeuge F300 und F400 besprochen. Der F300 wurde 1997 auf der IAA vorgestellt (siehe Abb. 16). Die Idee des F300 bestand darin ein Fahrzeug zu präsentieren, das so sicher und komfortabel ist wie ein Vierrad und zugleich so dynamisch wie ein Motorrad. Der Zielkonflikt zwischen Agilität und Fahrkomfort sollte durch eine spezielle Neigetechnik der Achsen gelöst werden. Wankwinkel bis zu 30 Grad wurden realisiert. Die Insassen verspürten die in Kurven auftretenden Zentrifugalkräfte wesentlich geringer, da diese Kräfte durch die Neigung teilweise kompensiert wurden. Die erreichte maximale Querbeschleunigung lag bei dem 0,9fachen der Erdbeschleunigung und damit deutlich oberhalb der heute bei Fahrzeugen üblichen maximalen Querbeschleunigungen.

Abb. 17

Forschungsfahrzeug Life-Jet F300 vorgestellt 1997 auf der IAA

Eine alternative Entwicklung zum F300 war der F400, der auf der Tokio Motor Show im Jahre 2001 vorgestellt wurde. Wieder sollte der Zielkonflikt aufgelöst werden. Es sollte eine Fahrdynamik quasi ohne Reue entstehen.

258 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

Sehr guter Fahrkomfort bei gleichzeitig erhöhter Agilität. Dazu wurden Räder verwendet, die aus zwei unterschiedlichen Gummimischungen aufgebaut wurden. Die Gummimischung an der kurvenäußeren Seite hat geringere Reibwerte als die Gummimischung auf der kurveninneren Seite. Um höhere Querbeschleunigungen zu ermöglichen, wird in der Kurve das äußere, vordere Rad zur Fahrzeuginnenseite aktiv von der Achse geneigt (siehe Abb. 17). Damit berührt dieses Rad die Straße vor allem mit der Gummimischung, die einen deutlich höheren Reibwert besitzt und somit höhere Seitenkräfte ermöglicht. Mit dem F400 sind so Querbeschleunigungen bis zum 1,28-fachen der Erdbeschleunigung erzielt worden. Dabei stellt sich natürlich die Frage: Kann man nicht den gesamten Reifen für den höheren Reibwert bauen und damit das aufwendige aktive Achssystem einsparen. Im Prinzip ja, aber diese Gummimischung besitzt im Alltagsgebrauch eingesetzt eine geringere Laufleistung.

Abb. 18 Show

Forschungsfahrzeug Carving F400 vorgestellt 2001 auf der Tokio Motor

Beide Varianten haben gezeigt, dass es möglich ist den Zielkonflikt zwischen Agilität und Fahrkomfort weiter zu lösen und so noch attraktivere Produkte für den Kunden entstehen zu lassen. Die „inneren Modelle“ bei diesen Fahrzeugen sind dabei deutlich unterschiedlich. Denkt man beim F300 eher an ein Motorrad, so entsteht beim F400 eher das Bild eines Sportwagens. Beim F300 wird der Fahrer zur kurveninneren Seite geneigt und beim F400 eher nach außen beschleunigt. Beides ist möglich, da die „inneren Modelle“ jeweils für sich stimmig sind.

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Die Zukunft der Fahrzeugdynamik: Tendenzen

Die Zukunft der Fahrdynamik kann natürlich nicht eindeutig beschrieben werden. Ansonsten würde das Lesen dieses Artikels helfen das Budget der Forschungsabteilungen einzusparen. Es bleiben aber Tendenzen, die die Fahrtrichtung angeben:

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Abb. 19 Radar-System in der S-Klasse: Fernbereichsradar mit 77 GHz und Nahbereichsradar mit 24 GHz

• Fahrzeuge werden so gebaut, dass es immer einfacher wird ein „inneres Modell“ vom Fahrzeug zu erzeugen. • Es werden gezielt fahrdynamische Verhaltensweisen angeboten, die etwas Besonderes darstellen,also z. B.beim Wanken vom in die Kurven neigen bis zum Horizontrieren. Systeme wie ESP und ABC werden zunehmend in allen Fahrzeugen verfügbar sein. Dabei haben die ESP-Systeme den Durchbruch bereits geschafft. Bei den Systemen zur Steigerung der Fahrkultur werden noch neue, intelligente Weiterentwicklungen benötigt. • Der Traum der echten Individualisierung des Fahrverhaltens im Sinne von unterscheidbaren „inneren Modellen“ bleibt bestehen. Z. B. morgens mit dem Fahrzeug fast autonom zur Arbeit zu fahren,am Feierabend entspannt zu cruisen und am Wochenende dann eher sportlich unterwegs zu sein.

Abb. 20 Kamerasysteme in der S-Klasse: Links: Nachtsicht-Assistent, rechts: Rückfahrkamera

Die nächste Stufe der Evolution wird sicherlich durch die Umgebungssensorik, wie Radar (siehe Abb. 18) und Kamera (siehe Abb. 19), realisiert. Die Fahrzeuge der Zukunft werden mehr von der Umwelt wissen und damit den Fahrer zunehmend unterstützen, sowohl in der Fahrsicherheit als

260 Fahrzeugdynamik: Wohin fahren wir?

auch in der Fahrkultur. Dabei sind Systeme, die das Verlassen der Spur mitteilen (Lane Departure Warning) sowie Systeme, die bemerken, dass sich ein Fahrzeug im toten Sichtwinkel befindet (Blind Spot Monitoring) bereits in der Entwicklung. Die Nutzung der Kamerasysteme wird nicht nur die Umgebung dem Fahrer darstellen, sondern auch zukünftig eine Bildauswertung ermöglichen, d. h. die Umwelt wird vom Fahrzeug besser verstanden. Die Fahrsicherheit und Fahrkultur werden durch Radar- und Kamera-Systeme verbessert. Immer wird versucht eine bessere Lösung des vielzitierten Zielkonflikts zwischen Agilität und Fahrkomfort zu finden, ohne dass der Kunde diese ingenieurmäßige Meisterleistung im Einzelnen verstehen muss. Im Idealfall nimmt der Kunde dies noch nicht einmal wahr, sondern freut sich am Ergebnis.

Fahrerassistenzsysteme der Zukunft – auf dem Weg zum autonomen Pkw?

Klaus Kompaß

1

Einleitung

Der Begriff „Fahrerassistenzsystem“, bis vor wenigen Jahren eigentlich nur Insidern aus den Forschungsabteilungen der Fahrzeugherstellern und Zulieferindustrie bekannt, findet seinen Weg in das breite Publikum. Immer häufiger wird über Unterstützungssysteme wie ESP, Kurvenlicht, Aktive Geschwindigkeitsregelung ACC, Spurverlassenswarnung, Rückfahrkamera oder Fernlichtassistenz auch in Automagazinen berichtet oder bei Fahrzeug-Verkaufsgesprächen diskutiert. Dabei stehen sowohl die Unterstützungsaufgabe im Sinne der Möglichkeit zur Delegation unerwünschter Aufgaben an das Fahrzeug als auch oder teilweise sogar vor allem die sicherheitstechnischen Aspekte einer Übernahme von komplexen und schnell durchzuführenden Aufgaben im Vordergrund. Die Erfahrung zeigt, dass solche Diskussionen oft sehr schnell an den Punkt kommen, wo über Sinn und Unsinn von autonom agierenden Systemen bis hin zu selbst fahrenden Fahrzeugen debattiert wird. Dabei ist zwangsläufig ein gutes Stück Emotion auf beiden Seiten im Spiel. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Argumente gesamtheitlich darzustellen und eine Vision zum Fahrerassistenzsystem der Zukunft zu geben. Dabei erfolgt ein Ausblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Systemautonomie unter Berücksichtigung fahrzeugtechnischer, verkehrstechnischer und emotionaler Aspekte.

2

Begriffsbeschreibung: Assistenzsysteme

Die Fahraufgabe wird im Allgemeinen in die drei Ebenen der Planung, der Führung und der Stabilisierung unterteilt. Diese Einteilung hilft bei der Spezifikation der Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme. Während

262 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

auf Planungsebene die Handlungen für gewöhnlich im Bereich mehrerer Minuten ablaufen, werden für die Führungsebene Zeiträume im Bereich von Sekunden benötigt. Auf der Stabilisierungsebene dagegen laufen die Handlungen meist in wenigen Millisekunden ab. Bezogen auf Assistenzsysteme bedeutet dies, dass für die Berechnung von z. B. Navigationshinweisen eine lange Zeitspanne zur Verfügung steht, in der Alternativen berücksichtigt oder (z. B. aufgrund aktueller Verkehrshinweise) Handlungskorrekturen durchgeführt werden können. Dagegen müssen FahrdynamikRegelsysteme als prominente Vertreter der Stabilisierungsebene innerhalb von wenigen Millisekunden oftmals außerordentlich komplexe Situationsanalysen und Handlungskombinationen erledigen. Einschränkend muss aber bemerkt werden, dass die zu analysierenden Situationen wohl definiert und bezüglich der Situationsvielfalt und dem Informationsbedarf begrenzt sind. Dabei übertreffen diese Systeme der Fahrdynamik-Regelung nicht selten die Handlungsfähigkeiten des Menschen, wenn sie, wie zum Beispiel beim Dynamic X-Drive Antrieb der BMW Allradfahrzeuge innerhalb weniger Tausendstel Sekunden die Antriebsmomenten-Verteilung vom 60/40 Verhältnis zwischen Hinter- und Vorderachse auf bis zu 35/65 bzw. 100/0 verschieben, um einer detektierten Über- oder Untersteuerneigung in ei-

Abb. 1

3-Ebene-Modell der Fahraufgabe

Klaus Kompaß 263

ner bestimmten Fahrsituation entgegenzuwirken. Selbst wenn man dem Fahrer geeignete Steuerelemente für eine solche Aktion an die Hand geben würde, wäre er nicht in der Lage, diese Leistung in so kurzer Zeit zu vollbringen.

Abb. 2

Dynamic X-Drive – Fahrerassistenzsystem auf der Stabilisierungsebene

Neben diesen Stabilisierungssystemen etablieren sich heute immer mehr Assistenzsysteme auf der Fahrzeug-Führungsebene. Hier werden dem Fahrer Informationen, Warnungen oder Empfehlungen zur Optimierung seiner Handlungen gegeben. Eingangsgrößen dieser Handlungshinweise sind Interpretationen des Fahrzeugumfelds auf Basis verschiedener Beobachtungsparameter wie Abstand oder Relativgeschwindigkeit zumVorderfahrzeug, relative Position zu vorhandenen Fahrbahnmarkierungen, Anwesenheit und Relativgeschwindigkeit anderer Fahrzeuge auf den Nebenspuren etc. Die Messungen werden häufig vervollständigt durch Kontexthypothesen, welche auf Basis unterschiedlicher Beobachtungen Annahmen über die Verkehrssituation rund um das Ego-Fahrzeug ermöglichen.

3

Begriffsbeschreibung: Autonomie

Unter der Autonomie versteht man im Sinne der Fahrerassistenz die Fähigkeit eines Systems oder Systemverbunds, sich ohne Eingreifen des Fahrers selbstständig richtig zu verhalten. Dabei wird eine erwartungskonforme

264 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

und nachvollziehbare Handlung erwartet. Vollautonomes Fahren würde bedeuten, dass das Fahrzeug ohne menschliche Führung sich selbstständig im Verkehr bewegen könnte. In der Abschwächung einer Teilautonomie behält der Fahrer noch einzelne Fahraufgaben, kann sich aber aus den betroffenen autonomen durchgeführten Teilaufgaben weitgehend zurückziehen. Je nach Ausprägung bleibt dem Fahrer höchstens noch die Aufgabe der Überwachung und des Eingreifens in vom System nicht beherrschten Situationen.

4 Triebfedern für autonom agierende Fahrerassistenzsysteme Die Kernaufgaben der Fahrerassistenzsysteme liegen im Wesentlichen in den beiden Bereichen der Fahrerentlastung und der Kompetenzsteigerung. Die Intention des vollautonomen Fahrens liefert hierzu die Extremwerte: auf der einen Seite soll der Fahrer so weit entlastet werden, dass das „Fahren“ zum „Gefahren Werden“ mutiert, auf der anderen Seite soll durch autonom agierende Sicherheitssysteme der vermeintlich unsicher agierende Mensch durch ein technisches System ersetzt werden. Damit ist eine stärkere Verantwortungs-Übertragung an das technische System verbunden. Im Folgenden wird erörtert, welchen Konsequenzen eine stärkere Autonomisierung mit sich bringt.

Abb. 3

Kernaufgaben der Fahrerassistenz

Klaus Kompaß 265

5 Vergleich der Fähigkeiten von Menschen und technischen Systemen Bei der Betrachtung der menschlichen Fähigkeiten und deren Vergleich mit denen eines technischen Systems stellen sich schnell komplementäre Stärken und Schwächen heraus. Dort, wo der Mensch nachweislich weniger stark ist, kann er sich gut von einem technischen System unterstützen lassen. Auf der anderen Seite ist der Mensch in vielen Situationen in der Lage, die Aufgaben deutlich besser zu meistern als selbst aufwändige technische Systeme.

Abb. 4 temen

Stärken und Schwächen des Menschen im Vergleich zu technischen Sys-

Auch wenn sich die Technik in rasanten Schritten weiterentwickelt, so bleibt doch zu konstatieren, dass technische Systeme in absehbarer Zeit nicht in der Lage sein werden, den Menschen in seiner Fahraufgabe in vollem Umfang zu ersetzen. Die Vielfalt und Komplexität der im realen Straßenverkehr auftretenden Situationen ist noch lange nicht in Gänze automatisiert zu beherrschen. Zwei Wege führen jedoch zur Automatisation: Entweder strukturiert man das System „Straßenverkehr“ so um, dass man die Anzahl und Komplexität der Situationen auf das Beherrschbare reduziert (in dieser Weise funktioniert heute jedes industrielle Automatisierungssystem!) oder man wendet die (Teil-)Automatisierung auf abgrenzbare Einzelsituationen in kalkulierbaren Verkehrs-Szenarien an. Im Folgenden sollen einige Beispiele für Systeme auf verschiedenen AutonomieEbenen benannt und erörtert werden.

266 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

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Unterstützung des Fahrers

Ein Navigationssystem, das dem Fahrer in unübersichtlichen, fremden Verkehrssituationen die Aufgabe der Routenfindung abnimmt und ihn durch Navigationshinweise unterstützt, hilft gerade in sehr komplexen Verkehrssituationen, übernimmt aber keine Verantwortung für die Fahraufgabe sondern beschränkt sich auf eine reine Informationsübermittlung mit Handlungsempfehlungen. Eine Spurverlassenswarnung agiert ebenfalls als reine Informationsquelle für den Fahrer, wenn das Überfahren der Spurbegrenzung droht. Eine Verantwortungsübernahme erfolgt nicht, es kann nur anhand von Hypothesen abgeschätzt werden, ob dieses Spurverlassen absichtlich oder ungewollt erfolgt. Die Ableitung von Konsequenzen und deren Ausübung obliegt dem Fahrer. Einen Schritt weiter geht der Spurhalteassistent. Er kommt in Situationen mit ähnlicher Komplexität wie die Spurverlassenswarnung zum Einsatz, reagiert aber bereits mit einem aktiven Lenkeingriff und dem Versuch, das Fahrzeug innerhalb der erkannten Spurbegrenzungen zu halten. Somit übernimmt diese Funktion bereits einen kleinen Teil der Fahraufgabe. Eine mangelnde Erwartungskonformität wird hier bereits deutlich kritischer vom Fahrer beurteilt als bei der rein informativ agierenden Spurverlassenswarnung.

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Übernahme unangenehmer (Teil-)Aufgaben

Verschiedene Fahrzeughersteller bieten inzwischen Parkmanöver-Assistenten an, die den Fahrer durch Übernahme der Querführung beim Einparken unterstützen. So vermisst zum Beispiel im VW Touran eine erweiterte Ultraschall-Parksensorik die potenzielle Parklücke, berechnet die EinparkTrajektorie und übernimmt dann die Bedienung der Lenkung,um das Fahrzeug in Längs-Parklücken einzuparken. Die Längsführung verbleibt beim Fahrer,er muss selbst eigenverantwortlich für die Bedienung von Fahrpedal und Bremse sorgen und die sichere Funktion des Parkmanöver-Assistenten überwachen. Technisch wäre bereits heute auch die Übernahme der Längsführung durch das Fahrzeug möglich, einer der Hauptgründe für die Reduzierung auf eine Teilautonomie mit Aufgabenteilung zwischen Fahrer und Fahrzeug ist die Frage der Verantwortung bei einem noch nicht annähernd ausreichend zuverlässigen Fahrzeugumfeld-Messsystem. Mit dem Verbleib der Restaufgabe beim Fahrer soll sichergestellt werden, dass die Fähigkeit des Menschen, auch in komplexen Situationen noch einen Gesamtüberblick zu behalten und zwischen unkritischen und gefährlichen Situationen unterscheiden zu können, genutzt wird. Einen Schritt weiter geht der so genannte Garagenparker, den die BMW Group in 2006 als Forschungsthema vorstellte: diese Funktion adressiert

Klaus Kompaß 267

Abb. 5

Parkmanöverassistent

das Problem des Einparkens von großen, breiten Fahrzeugen in schmalen (Norm-)Garagen. Hierbei verlässt der Fahrer das Fahrzeug vor der Garage und aktiviert über eine Fernbedienung den automatischen Einparkvorgang. Das Fahrzeug parkt sich nun selbstständig in die Garage ein. Dabei kann es in dieser wohldefinierten Situation durchaus auf wenige Zentimeter nahe an die Garagenwände heranfahren. Selbstverständlich erfolgt das Ausparken in ähnlicher Weise, so dass der Fahrer wieder außerhalb der Garage und damit mit ausreichend Platz zur Türöffnung einsteigen kann. Der Garagenparker übernimmt also unter diesen definierten Umständen autonom die Führung des Fahrzeugs im Schritt-Tempo. Die Verantwortung des „Fahrers“ bleibt in der Kontrolle und Absicherung der Manöverzone. Zwar werden Hindernisse durch das Fahrzeug erkannt aber zur Gewährleistung der notwendigen Sicherheit bleibt der Fahrer in der Überwachungsfunktion. Bei der Idee des Stauassistenten übernimmt das Fahrzeug im Stop & Go Verkehr bei geringen Geschwindigkeiten sowohl die Längs(„ACC Stop & Go“) als auch die Querführung („Spurwechselassistent“,

268 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

Abb. 6

Garagenparker

„Spurhalteassistent“). In einer Ausbaustufe könnten hierbei auch strategische Fahrspurwechsel (basierend zunächst auf Navigations-Zieleingaben) integriert werden. Die Attraktivität dieser Funktion liegt genau in der Unattraktivität der Fahraufgabe begründet: in langsamem Stop & Go Verkehr wird der Fahrer eher akzeptieren, dass das Fahrzeug ihm diese unangenehme Aufgabe abnimmt und ihm somit zusätzliche Freiheiten schafft. Er hat in dieser Standardsituation die Möglichkeit, in Ruhe ein Telefonat zu führen oder gedanklich den Tag Revue passieren zu lassen, ohne mit voller Konzentration seiner Fahraufgabe nachkommen zu müssen. Die geringe bis nicht vorhandene Relativgeschwindigkeit zwischen den Verkehrsteilnehmern erleichtert die Autonomieaufgabe. Selbst hierbei wird aber die Verantwortung der Gesamtfahrzeugführung noch immer beim Fahrer gesehen. Und genau darin liegt das Problem: aufgrund der einfach erscheinenden und wenig attraktiven Fahraufgabe besteht die Gefahr, dass der Fahrer der monotonen Monitoringaufgabe nicht gerecht wird und in kritischen Situationen, in denen er die Kontrolle übernehmen müsste, dazu nicht in der Lage ist.

Klaus Kompaß 269

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Autonomie in Sondersituationen

VW sorgte 2006 für Schlagzeilen, als die Firma ihren selbstfahrenden Golf GTI Rennpiloten vorstellte. Das Fahrzeug suchte sich in einer, durch Pylone gesteckten Fahrstrecke die Ideallinie und durchfuhr diese dann selbstständig mit hohem Tempo. Mittels eines Laserscanners und einem hochgenauen GPS Positionssystem fand das Fahrzeug selbstständig die Strecke, berechnete die Ideallinie und durchfuhr dann mit hohem Tempo ohne menschliches Dazutun den Kurs. Die Volkswagen AG beschrieb das Aufgabengebiet dieses Fahrzeugs mit der Möglichkeit, reproduzierbare Testbedingungen für Rad-Reifen-Kombinationen, Fahrwerke und Assistenzsysteme zu schaffen.

Abb. 7 VW Rennpilot

Ebenfalls seit 2006 setzt die BMW Group den so genannten Track Trainer in ihren Rennstrecken-Fahrertrainings ein, um den Trainingsteilnehmern Ideallinie, Brems- und Einlenkpunkte nahe zu bringen. Eine vorher exakt vermessene Strecke wird von einem professionellen Rennfahrer befahren.

270 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

Abb. 8

BMW Track Trainer

Dabei werden alle notwendigen Daten aufgezeichnet und in einem Speicher abgelegt. Das Fahrzeug besitzt somit keine eigene „Intelligenz“ sondern bedient sich konservierter Wissensdaten. Das Trainingsfahrzeug verfügt über ein hochgenaues DGPS und eine Intertialplattform mit triaxialen Beschleunigungs- und Winkelmessern. Mit dieser Kombination lässt sich mit ausreichend hohen Abtastraten, geringen Totzeiten und hoher Robustheit die Fahrzeugposition auf wenige Zentimeter genau bestimmen und mit den Sollwerten des Profis vergleichen. Das Fahrzeug übernimmt in der Demonstrationsphase eigenständig Längs- und Querführung bis 0,7 g, ohne dass der Fahrer aktiv ins Geschehen eingreift. Der Fahrer kann die Hände auf das Lenkrad legen und erlernt so intuitiv die richtige Ideallinie und die Position der Anbrems- und Einlenkpunkte. In der darauf folgenden Anlernphase übernimmt der Fahrer die Führung des Fahrzeugs. Er bekommt von Auto Informationen über eine eventuelle Abweichung von der idealen Linie. Unmittelbar nach der Fahrt bekommt der Fahrer ein Ergebnisprotokoll mit Fahrtanalysen im Vergleich zur Profifahrt. Bereits vor ca. 10 Jahren demonstrierte das amerikanische National Automated Highway Systems Consortium die technische Machbarkeit des Vehicle Platooning auf eigens dafür hergerichteten und mit zusätzlicher Infrastruktur wie z. B. magnetischen Nägeln versehenen Fahrspuren. Mehrere Fahrzeuge bilden eine zusammenhängende Kette, die Führung die-

Klaus Kompaß 271

ser Fahrzeuge erfolgte autonom, die Führung dieser Kette wurde durch ein manuell gesteuertes Leit-Fahrzeug übernommen. Alle anderen Autos hingen wie an einer virtuellen Deichsel dahinter. Hauptziele dieses Experiments waren ein größerer Fahrzeug-Durchsatz pro Spur und Zeiteinheit sowie eine vermutet höhere Energieeffizienz durch reduzierten Luftwiderstand aufgrund der geringen Fahrzeugabstände zueinander. Die Fahrzeuge verfügten über ein Abstandsradar zum vorausfahrenden Fahrzeug sowie über eine Kommunikation sowohl zum vorausfahrenden als auch zum Leitfahrzeug, mit der Geschwindigkeits- und Beschleunigungs-/ Verzögerungsinformationen ausgetauscht werden konnten. Auf diese Weise konnte der Abstand zwischen den Fahrzeugen auf 6,5 m fixiert und auch in dynamischen Verkehrssituationen gehalten werden. Ein Sicherheitsgewinn wurde prognostiziert aus der Tatsache, dass die Relativgeschwindigkeit zwischen den einzelnen Fahrzeugen dieses Platoons gegen Null gehen. Wenn es also wirklich zu Kollisionen kommen sollte, so die Projektleiter, dann wären die Folgen minimal. Probleme gab es allerdings bei der Betrachtung einer solchen Kette im Gesamtverkehrs-Kontext: kommt es zu einem Unfall des Leitfahrzeugs mit anderen, nicht an diesem Platoon teilnehmenden Fahrzeugen, dann ist eine Massenkarambolage vorhersehbar, da keines der nachfolgenden Fahrzeuge mehr rechtzeitig verzögern kann. Sobald diese Fahrzeugkette außerdem das Umfeld reinen Längsverkehrs verlässt und z. B. Kreuzungen dazu kommen, bricht die Kette auseinander. Auch hier zeigt sich wieder, dass solche Autonomien zwar

Abb. 9 Vehicle Platooning

272 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

in einem wohldefinierten Umfeld denkbar sind, in einer realen Verkehrssituation mit Mischverkehr allerdings auf große Hindernisse stoßen. Die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) Grand Challenge ist ein Wettbewerb, der vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium organisiert und gesponsort wird. Das amerikanische Militär will in Zukunft ein Drittel seiner Fahrzeuge ohne Fahrer einsetzen. Ziel des Rennens ist, einen 175 Meilen langen Wüstenkurs völlig autonom, ohne manuelle Eingriffe zu bewältigen. Zu Beginn des Rennens werden den Fahrzeugen lediglich die GPS-Koordinaten der Strecke eingegeben, die Fahrspurplanung sowie die Hindernisumfahrung muss von den Systemen selbst berechnet werden. Die Beschaffenheit der Strecke variiert von gut beschaffenen, nicht asphaltierten Wegen bis steinigen Passagen. Die Fahrzeuge bewegen sich auf dem Kurs alleine, ohne zusätzliche Verkehrsteilnehmer. Im Jahr 2005 gelang es zum ersten Mal mehreren Fahrzeugen, das Ziel zu erreichen. Sieger der 2005 DARPA Grand Challenge war ein von der Stanford University in Zusammenarbeit mit VW aufgebauter Touareg („STANLEY“). Die DARPA Urban Challenge ist eine Weiterentwicklung der DARPA Grand Challenge. Bei diesem Rennen müssen die Fahrzeuge nun autonom einen 60 Meilen Stadtkurs in weniger als 6 Stunden bewältigen. Hierbei bewegen sie sich in fließendem Verkehr, müssen Verkehrsregeln beachten, Kreuzungen überqueren und Hindernisse umfahren. Ob die Fahrzeuge die neuen Herausforderungen bewältigen, wird sich am 3. November 2007 zeigen.

Abb. 10

DARPA Grand Challenge

Klaus Kompaß 273

9

Bewertung und Vergleich verschiedenen AutonomieLevel

Die oben genannten Funktionen stellen nur Beispiele für verschiedene Assistenzen dar. Selbstverständlich ließe sich die Liste mehr oder weniger autonomer Fahrerassistenzsysteme noch um weitere Funktionen ergänzen. Anhand der genannten Beispiele und einiger weiterer Funktionen soll nun eine Bewertung vorgenommen werden,die die Ausprägungen der Assistenz nach verschiedenen Gesichtspunkten gruppiert. In einem Portfolio sollen die Funktionen nach den Kriterien „Komplexität der Verkehrssituation“ und „Verantwortungsübernahme durch das Fahrzeug“ geordnet werden. Parameter für die Bewertung der Komplexität sind hierbei u. a.: • • • • • • • • • •

die zu fahrende Geschwindigkeit die Kurvigkeit der Strecke die Zahl der anderen Verkehrsteilnehmer die Vielfältigkeit der anderen Verkehrsteilnehmer (Autos, Zweiräder, Fussgänger etc.) Art und Zahl von Störgrössen (Hindernisse, Strassenrand-Bebauung etc.) Streckenbeschaffenheit (Breite, Erkennbarkeit von Spurgrenzen etc.), Grad der Strukturierung die Unvorhersehbarkeit von Verkehrssituationen die Schadenauswirkung bei Fehlverhalten die Menge der zu beachtenden (Verkehrs-) Regeln die Umweltbedingungen

Bei der Zuordnung sei der Einfachheit halber angenommen, alle Faktoren trügen in ähnlichem Verhältnis zur Komplexität bei. Jedem Parameter wird ein Wert zwischen 0 und 5 zugeordnet. Somit lässt sich ein Komplexitätswert für die verschiedenen Fahrerassistenzsysteme als Mittelwert der Einzelgrößen ermitteln. Als Bewertungsparameter für die Achse der Verantwortungsübernahme durch das Fahrzeug wurde in Anlehnung an Sheridan1 folgende vereinfachte Einteilung gewählt: 1. Fahrer regelt, Fahrzeug unterstützt 2. Fahrzeug regelt, Fahrer bestätigt durch Übernahme von Teilaufgaben seine Aufmerksamkeit. Übernahme durch den Fahrer bei Erreichung von Systemgrenzen 3. Fahrzeug regelt, Fahrer in Monitoring-Rolle. Übernahme durch den Fahrer an Systemgrenzen

1

Sheridan (1992), Massachusetts Institute for Technology: Automation

274 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

4. Fahrzeug erledigt Fahraufgabe vollkommen autonom, Fahrer greift nur in Notsituationen ein. 5. Fahrer nicht vorhanden oder nur als Passagier ohne Aufgabe. 100% Übernahme der Fahraufgabe durch das Fahrzeug

Abb. 11

Portfolio: Komplexität und Übernahmefähigkeit von FAS

Das Portfolio zeigt, dass sowohl in der horizontalen Richtung (100% Übernahme der Fahraufgabe durch das Fahrzeug) als auch in vertikaler Richtung hohe Werte möglich sind. Die bekannten Assistenzsysteme lassen sich in die drei bereits genannten Bereiche„Unterstützung des Fahrers“, Übernahme unangenehmer Aufgaben“ und „Autonomie in Sondersituationen“ einteilen. Der vierte Bereich des „Autonomen Fahrens im freien Straßenverkehr“ bleibt aber von mittelfristig realisierbaren Systemen unbelegt. Der in manchen Diskussionen proklamierte Ansatz eines vollautonomen „Autopilot-Pkw“, der seinen Fahrer ohne dessen Dazutun auch durch dichten Stadtverkehr manövriert, bei dem der Fahrer zum Fahrgast mutiert, liegt auf den Extremwerten beider Achsen. Der Schritt von einem STANLEY, dem Gewinner der DARPA Grand Challenge 2005 zu einem autonom sich im normalen Straßenverkehr bewegenden Pkw ist bereits aus technischer Sicht sehr groß. Neben diesen objektiven Technologieargumenten kommen aber noch Betrachtungen wie rechtliche Rahmenbedingungen, Akzeptanzkriterien und Zuverlässigkeits-Anforderungen sowie die Notwendigkeit der Umstrukturierung des gesamten Verkehrssystems hinzu, die gegen eine Einführung von Autopilot-Fahrzeugen sprechen.

Klaus Kompaß 275

10 Rechtliche Rahmenbedingungen In diesem Kapitel sollen die beiden Aspekte der Zulassungsfähigkeit und der Haftungsfrage verschiedener Fahrerassistenz-Ausprägungen beleuchtet werden. Die Zulassungsfähigkeit autonom agierender Fahrerassistenzsysteme ist selbst unter Juristen noch umstritten. Im Wiener Weltabkommen von 1968 wird u. a. gefordert, dass jeder Fahrzeugführer sein Fahrzeug dauernd bzw. unter allen Umständen beherrschen muss. In Kapitel II, Art. 8 Abs. 5 WVÜ heißt es: „Every driver shall at all times be able to control his vehicle or to guide his animals“. Weiter hinten im Kapitel II, in Art. 13 Abs. 1 findet sich der Satz: „Every driver of a vehicle shall in all circumstances have his vehicle under control so as to be able to exercise due and proper care and to be at all times in a position to perform all manoeuvres required of him.“ Unterschiedliche Interpretationen stehen nun im Raum, was genau mit diesen Forderungen gemeint ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Eine mögliche Ableitung dieses völkerrechtlichen Vertrags, den 63 Staaten ratifiziert haben wäre, dass eine Bauartzulassung intervenierende Assistenzsysteme, die sich selbst initiieren und vom Fahrer nicht übersteuert werden können gegen die Grundsätze der Wiener Konvention verstößt, weil der Fahrer bei solchen Systemen nicht mehr sein Fahrzeug allein beherrscht.2 Auf der anderen Seite gibt es aber eine juristische Sichtweise, die zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. Die Grundlage für diese Interpretation wird u. a. in der Tatsache gesehen, dass in Kapitel II des Weltabkommens ansonsten nur Beherrschungspflichten befinden, die Verhaltensanforderungen an den Fahrzeugführer beinhalten, während sich zulassungsspezifische Verpflichtungen ausschließlich in den Kapiteln III und im Anhang 5 wieder finden lassen. Der im englischen Originaltext benutzte Wortlaut „to control“ (oder im französischen Text mit „contrˆoler“ bezeichnet) lässt sich nicht nur mit „beherrschen“, sondern auch mit „beaufsichtigen“, „überwachen“ oder „überprüfen“ übersetzen. Aus dieser Analyse wird der Schluss gezogen, dass eine Bauartzulassung von Fahrerassistenzsystemen nicht gegen das Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr ver-

2

Albrecht (2005) Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Rechtliche Rahmenbedingungen und offene Haftungsfragen bei der Einführung von Fahrerassistenzsystemen

276 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

stößt, auch dann nicht, wenn es sich um systeminitiierte, nicht übersteuerbare Systeme handelt. 3 Das Ersetzen des Kfz-Individualverkehrs durch ein vollständig fahrerunabhängiges Kfz-Verkehrssystem würde allerdings auch nach dieser Einschätzung mit dem Wiener Übereinkommen nicht mehr übereinstimmen. Neben den Fragen einer gesetzeskonformen oder ungesetzlichen Bauartzulassung eines autonomen Fahrerassistenzsystems muss die Haftungsfrage beachtet werden. Wenn das Fahrzeug „eigene“ Entscheidungen fällt, wer trägt dann in einem durch eine Fehlreaktion verursachten Unfall die Verantwortung? Bei systeminitiierten, nicht übersteuerbaren Systemen kann dem Fahrer nicht vorgeworfen werden, er sei gegen eine nicht übersteuerbare Intervention vorgegangen. Der Fahrer, hier lediglich Passagier, wird keine Haftung übernehmen. Ein eventuell geschädigter Dritter würde sich der heutigen Rechtsprechung gemäß an den Halter des Fahrzeugs wenden, der auf Grund der Gefährdungshaftung verschuldensunabhängig für sein Fahrzeug in vollem Umfang haftet. Der Halter wiederum kann versuchen, sich im Rahmen eines Produkthaftungsprozesses vom Fahrzeughersteller Entschädigung einzuklagen. Hierbei muss er allerdings beweisen, dass der Unfall aufgrund eines Fehlers des Fahrerassistenzsystems verursacht worden ist. Handelt es sich dagegen um ein System, dass dem Fahrer Informationen, Warnungen oder Verhaltenshinweise an die Hand gibt, trägt nach wie vor der Fahrer die alleinigeVerantwortung,selbst dann,wenn sich beispielsweise die Handlungsempfehlung als falsch herausstellen sollte. Wird z. B. bei einem Spurwechselassistenten der Fahrer bei einem beabsichtigten Wechsel der Fahrspur nicht über ein sich im toten Winkel befindliches Fahrzeug gewarnt und kommt es zu einem Unfall, so haftet der Fahrer, weil er seiner Sorgfaltspflicht (Spiegel- und Schulterblick) nicht nachgekommen ist. Die fehlende Warnung dürfte nicht zu einer Entlastung des Fahrers führen, ihn treffen die gleichen Pflichten wie bei einem Fahrzeug ohne dieses System. Auf der anderen Seite kann sich eine erhöhte Verantwortung insbesondere dann ergeben, wenn der Fahrer Warnungen und Informationen bewusst (vorsätzlich) ignoriert. Auch bei übersteuerbaren Interventionssystemen muss der Fahrer das Verkehrsgeschehen beobachten, um einzugreifen, d. h. das System zu übersteuern, wenn dies erforderlich wird. Der Fahrer muss die Funktionsgrenzen kennen und beachten und muss auf einen Eingriff des Systems vorbereitet sein. Er darf sich nicht aus Überraschung fehl verhalten. Eine Haftung ist nur dann ausgeschlossen, wenn auch ein aufmerksamer und sorgfältiger Fahrer den Unfall nicht hätte verhindern können. Diese Frage der Kontrollierbarkeit wird im Rahmen eines PReVENT Projekts unter dem 3

Prof.Dr.iur.Bernhard Kempen: Fahrerassistenzsysteme und das Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr, Universität zu Köln, 15.3.2007

Klaus Kompaß 277

Titel RESPONSE 3 behandelt. Dort entwickeln Experten der Fahrerassistenz einen Code of Practice zum Nachweis der Kontrollierbarkeit an Systemgrenzen oder in Fehlersituationen von Fahrerassistenzsystemen. Folgt ein Hersteller von Fahrerassistenzsystemen den in diesem Code of Practice empfohlenen Mindestabsicherungen, Untersuchungen und Gegenmaßnahmen, so kann davon ausgegangen werden, dass ein aufmerksamer und sorgfältiger Fahrer dieses System beherrschen kann.

11 Ironies of Automation Bereits 1983 konstatierte Bainbridge4 in ihrer Veröffentlichung „Ironies of Automation“ folgende Ironien, die zwar für Produktionsautomationen erdacht wurden, durchaus aber auch für Fahrerassistenzsysteme ihre Gültigkeit haben: • Je weiter ein Kontrollsystem fortschreitet, desto wichtiger wird der menschliche Bediener • Je besser das System arbeitet, desto seltener muss der Mensch eingreifen, desto schlechter wird er dies aber können • Ein Computer tut, was Menschen schlecht können, Menschen sollen aber überwachen, ob er das Richtige tut • Der Mensch muss gerade dann eingreifen, wenn es die Automation nicht mehr schafft.

Systeme auf der Stabilisierungsebene müssen über eine so hohe Zuverlässigkeit verfügen, dass sie nicht auf das Eingreifen des Menschen angewiesen sind. Der Mensch gibt hier Vorgaben an das Fahrzeug (z. B. Richtungswunsch über Lenkbefehl) und das Fahrzeug nutzt alle Möglichkeiten, um dieser Vorgabe nachzukommen, indem es innerhalb von Millisekunden einzelne Räder abbremst und die Bremse an anderen Rädern löst, das Antriebsmoment bei Allradfahrzeugen blitzschnell verlagert,den Lenkwinkel der Vorderräder kurzeitig verändert, ohne dass dazu das Lenkrad verstellt werden muss, das Motorschleppmoment automatisch im sinnvollen Maß vergrößert oder reduziert usw. Zur Erfüllung dieser Zuverlässigkeitsanforderungen nutzen Stabilisierungssysteme im Allgemeinen Daten von Fahrzeug-Inertialsensoren. Beschleunigungen, Drehzahlen, Gierraten oder Geschwindigkeiten lassen sich mit hoher Sicherheit und Zuverlässigkeitim Fahrzeug messen und auswerten. Assistenzsysteme auf der Führungsebene dagegen müssen die Verkehrssituation rund um das Fahrzeug analysieren und auf Basis der Messgrößen (Radar-, Video-, Ultraschallsignale etc.) häufig in Verbindung mit Kontexthypothesen daraus Interpretationen über die aktuell richtige Reaktion 4

Bainbridge (1983): Department of Psychology, University College London: Ironies of Automation

278 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

Abb. 12

Zuverlässigkeitsanforderungen an Unterstützungssysteme

konstruieren. Eine solche Kontexthypothese kann zum Beispiel die Annahme sein, dass der aktuelle Lenkeinschlag als Indikator über die aktuelle Kurvenrichtung und den Kurvenradius sich kurzfristig nicht ändert. Dies stimmt meist auf Autobahnen, kann aber in engkurvigen Landstrassen unter Umständen auch falsch sein. Die Zuverlässigkeit dieser Interpretationen ist somit häufig prinzipbedingt niedriger als die der Inertialsensorik. Hieraus entsteht die Notwendigkeit, in den allermeisten Fällen den Menschen als finalen Beobachter und Entscheider in der Regelkette halten zu müssen. Zurückkommend auf die oben beschriebenen Ironien entsteht hieraus die Forderung, dass der Fahrer möglichst gut über die Systemgrenzen informiert ist und den Umgang mit diesen Grenzen kennt. In der Konsequenz bedeutet dies: die vermeintliche Optimierung von Funktionen kann dazu führen, dass der Fahrer ein Fehlverhalten eines Systems so selten erlebt,dass er dazu neigt,dem Fahrzeug„blind“ zu vertrauen. Im – zwar seltenen aber doch vorkommenden – Fall eines Fehlers kann er dann u.U. nicht mehr rechtzeitig und richtig eingreifen.Auch dieses Pardoxon muss im Rahmen des Nachweises der Kontrollierbarkeit berücksichtigt werden.

12 Akzeptanz von Fahrerassistenzsystemen „Fahrerassistenzsysteme nehmen dem Fahrer die Aufgaben ab, die er auch gut selbst erledigen kann und geben dann, wenn es kritisch wird und der

Klaus Kompaß 279

Fahrer Unterstützung bräuchte,wieder an den Fahrer ab.“ Dieses provokante Statement schlägt einem manchmal von Kritikern der Fahrerassistenz entgegen. Die Aufgabe der Entwickler liegt in der Auswahl einer bedarfsgerechten Unterstützung und der sorgfältigen Auslegung der Assistenzsysteme. Hier soll noch einmal auf die zwei Aufgaben der Fahrerassistenz verwiesen werden: der Kompetenzsteigerung des Fahrers und der Abnahme unangenehmer Aufgaben. Nur unter Beachtung dieser Grundregel haben Fahrerassistenzsysteme eine Chance, vom Fahrer akzeptiert und entsprechend auch genutzt zu werden. Fahrerassistenzsysteme müssen sowohl für den Fahrer als auch für den Käufer eines Fahrzeugs attraktiv sein. Noch sind wir weit von einer durchgängigen Serienausstattung mit solchen Systemen entfernt, die Kosten für Sensorik, Aktuatorik und zum Teil aufwendige Mensch-MaschineSchnittstellen sind noch zu hoch,um sie dem Fahrzeug-Basispreis aufschlagen zu können.Die Bereitschaft der Kunden,immer mehr Geld für den Neukauf eines Fahrzeugs aufwenden zu müssen, ist begrenzt. Nur, wenn echter Mehrwert geliefert wird, wird sich ein Neuwagenkäufer diesen Funktionen zuwenden. Ein zusätzliches Sicherheitssystem (im Hintergrund) mit sich zu führen, das den Fahrer in Notsituationen unterstützt, stößt meist auf breite Zustimmung, eine Fahrzeugfunktion an Bord zu haben, die die Kompetenz des Fahrers erweitert, ihm in der Erledigung seiner Fahraufgabe zusätzliche Freude bereitet und ihn objektiv besser fahren lässt, sollte als Ziel angesehen werden. Systeme, die dem Fahrer Aufgaben abnehmen, werden dann Akzeptanz erfahren, wenn der Fahrer diese Aufgaben nicht gern selbst erledigen würde. Ein adaptives Geschwindigkeits-Regelsystem, das z. B. ausgestattet mit einer Pseudointelligenz, die ständig versucht, dem Fahrer ein bestimmtes Fahrverhalten aufzudrängen, wird sicher nicht viele Freunde gewinnen. Nur wenn ein ACC aber viele Freunde gewinnt, können wir den Sicherheitsbenefit der abstandgeregelten Notbremsassistenz nutzen. Das ACC muss deshalb möglichst erwartungskonform und realitätsnah ausgelegt sein.Seine Dynamik sollte der des Fahrers möglichst nahe kommen.Wenn man ein ACC negativ beurteilt, weil es in seinem einstellbaren Mindestabstand der gesetzlich zulässigen Grenze sehr nahe kommt, dann erweist man der Sicherheit eher einen Bärendienst: wenn der Fahrer sich bei diesem Abstand unsicher fühlt, hat er die Möglichkeit, einen größeren Sekundenabstand zu wählen. Bleibt er allerdings bei einem Abstand von einer Sekunde, so ist anzunehmen, dass er auch ohne ACC einen ähnlich kurzen Abstand zum Vordermann wählen würde. Ein Fahrerassistenzsystem, dass hier als Erziehungsinstanz versucht, den Fahrer in seiner gewohnten Handlung zu dominieren und zu bevormunden verliert sehr schnell die Akzeptanz des Nutzers, was wiederum zu Ablehnung oder Nicht-Nutzung führt. Das dem System innewohnende Potenzial des Sicherheitsgewinns bliebe damit ungenutzt.

280 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

Zusammen mit dem Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften WIVW untersuchen Forscher der BMW Group, welche Unterstützungssysteme vom Fahrer (auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsaspekts) akzeptiert werden und welche die Freude am Fahren sogar noch weiter steigern können. Diese Hedonismus-Frage wird als wichtiges Auswahlkriterium für zukünftige Systemauswahl und -gestaltung genutzt. BMW führte in diesem Gesamtkontext eine Expertenumfrage durch, bei der verschiedene Fachleute der Fahrerassistenz im Rahmen einer DelphiStudie rein auf Basis von Funktionsbeschreibungen (keine Simulation, kein Fahrzeug, keine MMI-Umsetzung o. ä.) um ihre Meinung bezüglich des Entlastungs-, Sicherheits-, Fahrspaß- und Nutzens-Potenzials befragt wurden. Zusätzlich wurde um eine Abschätzung der Realisierbarkeit (für das Jahr 2015) gebeten. Am Beispiel von drei Systemen der autonomen Querführung soll die Problematik beschrieben werden: Den drei Systemen „Autonomer Stauassistent“ (Fahrzeug übernimmt Quer- und Längsführung, fährt im Stau autonom bis ca. 40 km/h), „Autonome Querführung“ (Übernahme der Querführung im gesamten Geschwindigkeitsbereich) und „Autonomer Spurwechsel“ (selbstständiges Absichern und Durchführen eines Spurwechsels durch das Fahrzeug) wird ein vergleichbares Sicherheitspotenzial zugestanden. Bei der Frage nach dem Entlastungspotenzial schneidet der Stauassistent allerdings deutlich besser ab als die beiden Funktionen der autonomen Querführung und des Spurwechsels, wobei dem Spurwechsel noch einmal deutlich weniger Entlastungspotenzial zugestanden wird als der Querführung. Die Experten sind sich einig: ein Spurwechsel bedeutet keine große Belastung für den Fahrer. Diese Aufgabe kann er gut (und gern) selbst erledigen. Fahren im Stau dagegen ist eine unangenehme Aufgabe, die man eher an das Fahrzeug delegieren möchte. Entsprechend diesem Ergebnis schneidet der Nutzwert der autonomen Querführung und des autonomen Spurwechsels deutlich schlechter ab. Auch in der Realisierbarkeit bis 2015 herrschte für diese beiden Systeme eher Skepsis vor: während ein Stauassistent als „eventuell machbar“ angesehen wurde, war die Reaktion zu den beiden letztgenannten Funktionen eher verhalten. Ähnliche Akzeptanzuntersuchungen werden künftig noch stärkeren Einzug in die Entscheidungsprozesse finden. Sie sind sinnvollerweise auf die Befragung technischer Laien zu erweitern. Das Problem liegt hierbei in der unzureichenden Abstraktionsfähigkeit von unbedarften Nutzern bezüglich technisch hochkomplexer und nur schwer zu beschreibender Zukunftssysteme. In der Zusammenarbeit zwischen Fahrzeugtechnikern, Psychologen und Statistikern wird nach geeigneten Erhebungsmethoden geforscht.

Klaus Kompaß 281

13 Ausblick: Wie werden Fahrzeuge im Jahr 2023 fahren? Wenigstens eines ist sicher: Autos wird es auch in 15 Jahren noch geben. Vielleicht wird der Antrieb nicht mehr durch einen konventionellen Benzin- oder Diesel-Verbrennungsmotor erfolgen, aber der Individualverkehr wird nach wie vor unsere Mobilität sichern. Der Blick zurück lehrt uns, die Zukunft nicht zu visionär zu betrachten. Ein Quervergleich zur Entwicklung der Passiven Sicherheit zeigt: die Fahrzeuge Anfang der 90er Jahre hatten – zumindest in der Oberklasse - bereits ein umfangreiches Sicherheitssystem an Bord,Airbags für den Frontalaufprall, Gurtstrammer, energieabsorbierende Strukturen und stabile Fahrgastzellen gehörten zum gehobenen Standard. Damals kam immer wieder die Vision ins Gespräch, Sicherheitssysteme zu entwickeln, die das Anlegen des Sicherheitsgurtes überflüssig machen würden. Bis heute sind solche Systeme nicht wirklich gefunden. Der Sicherheitsgurt ist (mit gutem Recht) das Rückhaltesystem Nummer eins. Eine aktive Benutzung durch den Fahrer ist erforderlich, kann aber auch vorausgesetzt werden.Weiterentwickelt haben sich die Systeme der Passiven Sicherheit dort,wo ein hoher Bedarf bestand (z. B.Seitenaufprall) sowie technisch sinnvolle und ökonomisch vertretbare Lösungen verfügbar waren. Ähnliches lässt sich für die Fahrerassistenz prognostizieren: Die Systeme werden sich in den nächsten Jahren sowohl in ihrem Unterstützungsgrad als auch in ihrer Erwartungskonformität weiter steigern. Auch die Fahrer werden sich langsam aber sicher an die elektronischen Helferlein gewöhnen. Die Annäherung erfolgt somit in beiden Richtungen: die Maschine wird sich menschenähnlicher verhalten und der Mensch wird stärker die Möglichkeiten und Grenzen der Maschine und den Umgang damit lernen. Eine vollkommene Autonomie wird es aber auch in 15 Jahren höchstens in vereinzelten Sonder-Anwendungen geben. Die Vision vom „Taxi ohne Taxifahrer“ inmitten des normal fließenden Verkehrs, wie sie in manchem Science Fiction vorgestellt wird, scheitert an der technischen Machbarkeit. Während der Mensch zum Beispiel bewusst eine Regelverletzung begehen kann, um noch größeren Schaden zu verhindern, hält ein technisches System stringent an dem programmierten Algorithmus fest. Lediglich in Grenzbereichen besteht die Möglichkeit für automatisch agierende und eingreifende Systeme. Während im normalen Fahrbetrieb bei mittleren bis höheren Geschwindigkeiten ein autonomer Bremseingriff nur kurz und nicht mit voller Kraft erfolgen kann, weil selbst eine sehr gute und zuverlässige Umfeldsensorik nicht alle Eventualitäten der Fahrsituation berücksichtigen kann, könnte z. B. bei einem Linksabbiege-Assistenten ein Anfahren des Fahrzeugs trotz entgegen kommenden Verkehrs unterbunden werden oder ein langsam in Richtung des Gegenverkehrs fahrendes Fahrzeug auch bis zum Stillstand abgebremst werden. Auch für solche Funktionen bedarf es noch großer Anstrengun-

282 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

gen sowie technologischer Weiterentwicklungen und verhaltenspsychologischer Untersuchungen, die Machbarkeit wird aber unter Fachleuten positiv eingeschätzt. Auch der Sicherheitsgewinn steht außer Frage. Ähnlich dieser Funktion werden sich weitere finden, die den Fahrer dort unterstützen, wo er Hilfe brauchen kann und bereit ist, diese auch anzunehmen. Ein großer Schritt zur Verbesserung der technischen Güte von Assistenzsystemen sowohl im Sinne einer Komfort- als auch einer Sicherheitsoptimierung könnte erreicht werden, wenn Fahrzeuge untereinander und mit Komponenten der sie umgebenden Infrastruktur kommunizieren könnten. Dieser unter dem Schlagwort C2x – also der Car-to-Car/Car-toInfrastruktur-Kommunikation zusammengefasste Themenbereich ist ein wichtiger aber auch enorm komplexer Baustein zukünftiger Fahrzeugentwicklungen. Fahrzeuge, die ihren Fahrer bereits vor einer Kurve über ein dahinter liegendes Hindernis warnen, die ihre Erfahrungen z. B. über eine Glatteis-Stelle an den nachfolgenden Verkehr weitergeben können oder die ihrem Fahrer mitteilen, dass einige Autos vor ihm auf der Autobahn ein Fahrzeug sehr stark bremst, können helfen, die Zahl der Unfälle weiter zu reduzieren.

Abb. 13

C2x – Kommunikation „elektronisches Bremslicht“

Mit steigender Qualität der Aussage über das Fahrzeugumfeld bekommen auch eingreifende Systeme eine größere Berechtigung. Wenn der Fahrer auf eine offensichtlich rote Ampel zufährt, dann kann, entsprechende Kommunikation zwischen Ampel und Fahrzeug vorausgesetzt, der Fahrer zunächst gewarnt werden. Wird diese Warnung ignoriert, dann kann das Fahrzeug auch autonom anbremsen. Selbst hier ist aber eine automatisch aktivierte Vollbremsung nicht akzeptabel. Der Fahrer kann sich aus guten Gründen dafür entschieden haben, eine offensichtlich freie, übersichtliche

Klaus Kompaß 283

Kreuzung trotz roter Ampel zu überfahren, weil er z. B. einen großen Lkw mit hoher Geschwindigkeit von hinten auf sich zufahren sieht oder weil er einem Rettungswagen Platz schaffen will.

Abb. 14

C2x-Kommunikation „Einsatzfahrzeug-Signalisierung“

Auch diese geschilderten Risiken wären zu reduzieren, wenn zunächst alle Fahrzeuge, später sogar alle Verkehrsteilnehmer mit entsprechender Kommunikationstechnologie ausgestattet wären. Wie lange dies allerdings dauert zeigt ein einfaches Zahlenspiel. Zur Nutzung einer Fahrzeug-Fahrzeug Kommunikation für Sicherheitsanwendungen muss eine Mindest-Penetrationsrate von 10% aller Fahrzeuge auf unseren Straßen mit diesen Kommunikationssystemen ausgestattet sein. Ab dieser Ausstattungsrate wird bei den gegebenen Reichweiten einer DSRC-(Dedicated Short Range Communication)Technologie die Wahrscheinlich ausreichend groß, dass in einer kritischen Verkehrssituation Informationen von anderen Fahrzeugen mitgenutzt werden können. Wenn vom heutigen Tag an alle Fahrzeuge der Oberklasse und der oberen Mittelklasse serienmäßig mit solchen Systemen ausgestattet würden, dann würde diese kritische Masse trotzdem nie erreicht werden. Würden 25% der gesamten Neuwagenproduktion (z. B. alle Fahrzeuge, die heute ab Werk mit Navigationssystemen ausgestattet werden) entsprechend ausgerüstet, dann wäre mit Erreichen der besagten 10% nach ca. 6 Jahren zu rechnen. Auch wenn oder gerade weil der Prozess einer solchen Technologieeinführung so lange dauert, muss so bald wie möglich begonnen werden,

284 Fahrerassistenzsysteme der Zukunft

entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Um diesen kritischen Prozentsatz möglichst schnell zu erreichen, werden daher Anstrengungen unternommen, durch Standardisierung und Zusammenarbeit aller Fahrzeughersteller und Zulieferer die technologischen Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Basis C2x-Kommunikations-Applikationen entwickelt werden können. Im Mai 2007 wurde durch Hessens Ministerpräsident Koch, dem VDA Präsidenten Prof. Gottschalk und anderen Vertretern von Politik und Wirtschaft das Projekt SIM TD, Sichere Intelligente Mobilität – Testfeld Deutschland gestartet. In diesem Projekt wird erstmals in einem Großversuch die Vernetzung von Fahrzeugen – und das über die Grenzen einzelner Hersteller hinaus – untersucht und erprobt, um den Nutzen intelligenter Kommunikation für die Verkehrs-Sicherheit und -Effizienz zu erhöhen. Das auf vier Jahre ausgelegte Projekt gliedert sich in drei Phasen. Phase 1 umfasst in einem Zeitraum von 18 Monaten die Planung des Feldversuchs und die Entwicklung der Hard- und Softwarekomponenten. Der Einbau der Hard- und Software in die Testfahrzeuge und die Verkehrsinfrastrukturpunkte findet in Phase 2 statt (12 Monate).Abschließend erfolgt in Phase 3 die Inbetriebnahme der Testflotte im Testgebiet mit begleitender Datenerhebung (18 Monate). Bis zu 500 Fahrzeuge werden, mit Datenboxen ausgestattet, an diesem Großversuch teilnehmen. Ähnliche Versuche laufen zurzeit in den USA, wo speziell das Problem der Kreuzungsunfälle adressiert wird. Auch dank dieser Unternehmungen werden in 15 Jahren unsere Fahrzeuge mit noch besseren und zuverlässigeren Informationen über das sie umgebende Verkehrsgeschehen unterwegs sein. Der Fahrer wird trotzdem nicht zum Passagier. Er kann und darf weiter selber fahren, hat sogar mehr Möglichkeiten, sich staufrei zu bewegen, kennt auch in unbekanntem Gelände die Tücken der nächsten Kurven besser und kann somit sicherer und mit mehr Freude fahren.

14 Zusammenfassung Fahrerassistenzsysteme sind auf dem Vormarsch. Auf den verschiedenen Ebenen der Fahraufgabe unterstützen sie den Fahrer, indem sie ihn informieren, warnen, Handlungsempfehlungen geben oder durch Intervention in mehr oder weniger starkem Maße in Teile der Fahraufgabe eingreifen. Fahrerassistenzsysteme leisten damit sowohl Beiträge zur Komfortsteigerung als auch zur Erhöhung der Verkehrssicherheit. Die Wahrnehmung der letztgenannten Aufgabe geschieht häufig durch eine Kompetenzsteigerung des Fahrers, nicht unbedingt durch ein autonomes Eingreifen des Fahrzeugs oder sogar durch Überstimmung des Fahrerwunsches. Diese Einschränkung stellt keinen Makel der Fahrerassistenzsysteme dar. Der Fahrer bleibt in der Kontrollfunktion und wird ausgestattet mit dem rich-

Klaus Kompaß 285

tigen Maß an wichtigen Informationen, um seiner Aufgaben noch besser gerecht zu werden. Fahrerassistenzsysteme stellen im übertragenen Sinn die Verlängerung der Nervenbahnen des Fahrers dar, sie erlauben dem Fahrer, komplexere Umstände zu berücksichtigen, als dies seine fünf Sinne bisher ermöglichten. Im vorliegenden Beitrag wurde dargestellt, dass ein Wechsel von der Führung durch den Fahrer auf die Führung durch das Fahrzeug technisch weder sinnvoll noch realistisch möglich erscheint. Die Zusammenführung der Fähigkeiten beider Parteien, dem Fahrer und dem technischen System, ermöglicht die Nutzung vieler Synergien sowohl im Sinne der Stressreduzierung als auch zum Komfortgewinn und zur Sicherheitsverbesserung. Autofahren darf und wird auch in Zukunft noch eine Tätigkeit sein, die von Menschen gern wahrgenommen wird. Mit moderner Technik,Ingenieurskunst und vernetztem Denken werden wir die Sicherheit des Straßenverkehrs noch weiter verbessern.Aber das ist nicht alles,denn auch in 15 Jahren wird der Slogan noch gelten:„Autofahren ist weit mehr als nur Unfallvermeidung“.

Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung und Interaktion

Thomas Jürgensohn

1

Einleitung

Jede Zeit reklamiert für sich eine gewisse Herausgehobenheit, den Anfang eines neuen Zeitalters oder den Beginn der Moderne. Wenn also allenthalben in der Kraftfahrzeugentwicklung von einem Umbruch im Zusammenspiel Fahrer/Fahrzeug gesprochen wird, bei der sich durch den Vormarsch der Elektronik die Anforderungen an den Bedienplatz hinter dem Lenkrad qualitativ zu ändern beginnen und sich dies in besonderen Methoden und besonderen Anstrengungen zur Gestaltung dieses Bedienplatzes widerspiegeln, muss man sich vor dem Hintergrund des Eingangssatzes die Frage stellen, ob es sich wirklich um einen Umbruch handelt und woran sich dieser denn festmachen ließe. Mögliche Indizien könnten neben der Zunahme des Stellenwerts der Elektronik die Zahl fester für Psychologen konzipierter Stellen in der Kraftfahrzeugindustrie oder die Zahl von Aufträgen an Universitäten und anderen Beratern zur Untersuchung von Bedienbarkeit sein. Während in der Vergangenheit der entwickelnde Ingenieur weitgehend selbst den Umgang mit dem Fahrzeug bewertete und optimierte, werden heute zunehmend „Profis“ der Mensch-TechnikInteraktion hinzugezogen, die diese Bewertung vor dem Hintergrund einer eigenen Wissenschaftsdisziplin ableiten. Diese ist unter dem Namen Mensch-Maschine-Systemtechnik, Human Factors oder Ergonomie inzwischen auch in Deutschland etabliert und beschäftigt sich mit dem Menschen im technischen Umfeld und der Optimierung des Gesamtsystems. Insbesondere der Einzug von Assistenz- und Hilfesystemen im Fahrzeug – die Problematik wird in diesem Band mehrfach behandelt – haben dazu geführt, dass der Automobilbereich inzwischen die Luftfahrtbranche bezüglich Qualität und Quantität des Einsatzes von Human-FactorsMethoden zur Unterstützung der Produktentwicklung eingeholt und teil-

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weise sogar überholt hat. So sind Navigationssysteme zur Routenfindung im Auto heute schon Stand der Technik – die analoge Rollführung als Unterstützung des Piloten bei der Suche nach dem richtigen Weg auf dem Flughafen wird gerade erst entwickelt. Das Klientel der Autofahrer mit der weiten Streuung von Fähigkeiten und Grenzen im Gegensatz zu der homogeneren Gruppe der ausgebildeten Piloten erfordert besondere Strategien der Gestaltung von Anzeige und Bedienung. Wie lässt sich sicherstellen, das möglichst viele Fahrer ein Hilfesystem bedienen, eine Warnung verstehen oder Informationen richtig interpretieren können? Wie müssen die Systeme gestaltet werden, dass sie nicht durch ungewollte Ablenkung oder Überbeanspruchung mehr schaden als nutzen oder durch Gewöhnungseffekte und damit einhergehenden Verhaltensänderungen auf lange Sicht zur Sicherheitsminderung beitragen? Aber nicht nur die Bedienung von Zusatzgeräten, die als Unterstützung des Fahrers gedacht sind, sondern die Bedienung des Fahrzeugs selbst, also das Lenken und Bremsen/Gasgeben steht mit Einführung erweiterter Möglichkeiten durch elektronische Steuerungen unter besonderer Beobachtung von Seiten der Human-Factors-Forschung.Das optimierte „Zurechtkommen“ mit dem Fahrzeug, das so genannte Handling war schon immer ein Entwicklungsziel der Kraftfahrzeugforschung. In jüngster Vergangenheit sind hierfür sogar individuell zugeschnittene Optimierungen möglich geworden. Im vorliegenden Beitrag werden einige Methoden vorgestellt, durch deren Einsatz ein Teil obiger Fragen beantwortet werden können. Am Anfang steht die Darstellung zur Messung von Beanspruchung im Kraftfahrzeug. Die Frage nach der Höhe der Beanspruchung eines Fahrers ist deshalb besonders wichtig, weil ein überbeanspruchter Fahrer ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellt.Wenn die Überbeanspruchung aus der Interaktion mit einem Assistenzsystem resultiert, könnten im Fall eines durch den Fahrer verursachten Unfalls Regressforderungen aus einem Produkthaftungsanspruch erwachsen. Ein Beispiel für eine Beanspruchungsgefährdung sind Nachtsichtgeräte, die im Dunkeln vor Gefährdungen durch Tiere oder Personen auf der Straße warnen sollen.Da diese Informationen aber nur durch permanente Beobachtung eines Anzeigesystems im Fahrzeug gewonnen werden können, stellt ein Nachtsichtgerät eine Quelle zusätzlicher Beanspruchung dar. In einem weiteren Unterkapitel werden Methoden zur Messung der visuellen Ablenkung vorgestellt. Da jede Abwendung des Blickes von der Straße eine potentielle Gefährdung darstellt, müssen Informationssysteme oder Bediensysteme, die eine visuelle Hinwendung erfordern, dahingehend getestet werden, ob der Bedarf an Ressourcen, sowohl rein visueller als auch kognitiver Art, nicht ein unzulässiges Maß überschreitet. Zum Schluss des Beitrags wird schließlich die Möglichkeit vorgestellt, die oben gestellten Fragen nach optimaler Gestaltung durch die Unterstützung mit

Thomas Jürgensohn 289

Verhaltensmodellen des Menschen, den so genannten Fahrermodellen zu beantworten.

2

Beanspruchung beim Fahren

Aufgaben, wie beispielsweise das Steuern eines Fahrzeuges, stellen besondere Anforderungen an den Fahrer, die er je nach seiner motivationalen Lage, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschiedlich bewältigen kann. Dazu muss der Fahrer Ressourcen aufbringen, die als begrenzt postuliert werden. Je nach zugrunde liegender Theorie wird davon ausgegangen, dass entweder eine unspezifische Ressourcenquelle zur Aufgabenbewältigung zur Verfügung steht (z. B. Welford, 1980 in Matthews et al., 2000), die dazu führt, dass Aufgaben seriell bearbeitet werden müssen und ein Aufgabenwechsel mit Wechselkosten einhergeht, oder dass mehrere Ressourcenquellen zur Verfügung stehen, die parallele Aufgabenbearbeitung ermöglichen, wenn die Aufgaben nicht auf gleiche Ressourcenquellen zugreifen.Wickens (2000) ist ein Verfechter des letzteren Ansatzes mit seinem Modell multipler Ressourcen. Darin nimmt er an, dass für verschiedene Eingabemodalitäten (z. B. auditiv und visuell), verschiedene Stadien der Informationsverarbeitung (Wahrnehmung, Arbeitsgedächtnis und Kognition sowie Reaktion) und verschiedene Ausgabemodi (verbal und manuell) verschiedene Ressourcenquellen zur Verfügung stehen. Das Modell sagt voraus, dass in Abhängigkeit von der Anzahl geteilter Ressourcen in allen drei Dimensionen auch die Höhe der Aufgabeninterferenz variiert. Für die Fahraufgabe würde das Modell vereinfacht vorhersagen, dass ein Assistenzsystem mit visueller Informationsdarbietung mit der Fahraufgabe interferieren kann, da sich die Fahraufgabe vorwiegend aus visuellen, räumlichen und manuellen Anteilen zusammensetzt. Mentaler Aufwand ist ein Konzept, das die Kosten beschreibt, um ein gewisses Maß an Leistung zu erreichen (de Waard & Brookhuis, 1997). Es bezieht sich auf die Reaktion des Ausführenden auf die Anforderung einer Aufgabe und hängt von der Struktur der Aufgabe sowie den Eigenschaften des Ausführenden ab. Das optimale Leistungsniveau bei der Fahraufgabe wäre sicheres und aufmerksames Fahren. Mit den Anforderungen, die eine Aufgabe an einen Bearbeiter stellt, ist eng auch der Term Beanspruchung geknüpft. Kramer beschreibt Beanspruchung als die Kosten, die einem Bearbeiter entstehen, wenn er eine Aufgabe ausführt (Kramer 1991, e.g. in Tattersall 2000). Zu hohe Beanspruchung kann so zu einer Leistungsminderung in der Aufgabenbewältigung führen. In den meisten Fällen können sich Bearbeiter allerdings gut an die Beanspruchung durch die Aufgabe anpassen. So ändern z. B. Fahrer ihr Blickverhalten oder ihre Geschwindigkeit je nach Verkehrssituation.

290 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

Das Ausmaß an Beanspruchung, das durch eine Aufgabe beim Fahrer entsteht bzw. die Aufwandsveränderungen, die der Fahrer vornimmt, um ein bestimmtes Leistungsniveau halten zu können, können mit verschiedenen Maßen erfasst werden. De Ward (1996) entwickelte ein Modell zu Aufgabenanforderungen, Beanspruchung und Aufgabenleistung, das sich zur Evaluierung verschiedener Beanspruchungsmaße eignet (siehe Abb. 1).

Abb. 1 Eine angepasste Version von de Waards Beanspruchungs- und Leistungsmodel (1996).

Der Abschnitt D zeigt Deaktivierung, bei dem der Zustand des Ausführenden beeinträchtigt ist. In Abschnitt A2 ist die Leistung optimal und der Operator kann die Aufgabenanforderungen leicht bewältigen. In den Abschnitten A1 und A3 ist die Leistung immer noch nicht eingeschränkt, aber der Ausführende muss zusätzlichen Aufwand aufbringen, um sein Leistungsniveau zu halten. In Abschnitt B nimmt die Leistung ab; der Operator kann nicht länger sein (selbst gesetztes) optimales Leistungsniveau halten. In Abschnitt C ist der Ausführende überbeansprucht und seine Leistung auf einem Minimalniveau. Es ist offensichtlich, dass in den Abschnitten B und C die Leistung in der Fahraufgabe auf ein gefährliches Niveau sinkt: durch Monotonie (B) oder Überbeanspruchung (C). Auch Abschnitt A3 stellt einen Bereich mit Sicherheitsrisiken für den Fahrer dar. Nur für das Aufrechterhalten des Leistungsniveaus müssen zusätzliche Ressourcen aufgewendet werden. Gerade wenn in diesem Bereich unerwartete Situationen auf der Straße entstehen,

Thomas Jürgensohn 291

wie beispielsweise ein bremsendes Fahrzeug oder Hindernisse, kann dies zum Einbruch der Fahrleistung führen. Diese Annahmen unterstreichen die Wichtigkeit, Sicherheitsrisiken zu evaluieren,die durch Zusatzaufgaben während der Fahrt entstehen,da während ihrer Bearbeitung zwar evtl. ein optimales Leistungsniveau beibehalten werden kann, allerdings mit erhöhtem Ressourcenaufwand. Zusatzaufgaben entstehen zum einen aus gewöhnlichen Tätigkeiten, wie dem Suchen nach Objekten im Fahrzeug oder aber der Bedienung neuer Zusatzgeräte im Fahrzeug. 2.1

Messung der Beanspruchung

Mit einer Beanspruchungsmessung wird erfasst, wie viele Ressourcen letztendlich verbraucht werden, um mindestens eine Aufgabe auszuführen. Dafür stehen verschiedenste Techniken zur Verfügung, die in dem oft zitierten Beitrag von O’Donnell and Eggemeier (1986) sehr gut zusammengefasst sind.Wie viele Autoren, unterschieden sie zwischen subjektiven Methoden, leistungsbasierten und physiologischen Maßen. Bei der ersten Kategorie sind die Ausführenden angehalten, ihre eigenen Erfahrungen und Eindrücke bei der Ausführung einer Aufgabe hinsichtlich der Beanspruchung zu berichten. Hierfür gibt es verschiedene standardisierte Instrumente, wie z. B. den NASA TLX, SWAT, etc. Leistungsbasierte Maße erheben Beanspruchung über das Verhalten oder die Aktivität indem sie die Leistung entweder der Hauptaufgabe oder der Nebenaufgabe messen. Physiologische Maße leiten Beanspruchung über bestimmte Reaktionen des Nervensystems ab. Ein kurzer Abriss über diese Methoden: Selbstbeschreibungsmethoden wurden in vielen Studien verwendet und sind einfach anzuwenden. De Waard (1996) argumentiert, dass sie von Abschnitt A2 seines Modells sensitiv für die Erfassung der Beanspruchung sind. Selbstbeschreibungsmethoden können allerdings kaum als kontinuierliche Maße eingesetzt werden und machen die Messung von kurz auftretenden Beanspruchungsspitzen unmöglich. Expertenbeurteilungen sind eine ebenfalls erprobte Methode, die Beanspruchung eines Probanden zu beurteilen.In der Regel wird dabei ein Team von in der Regel mehr als 3 Experten gebildet, die trainiert werden durch Beobachtung direkt oder über Videoregistrierung (siehe Abb.2) Urteile über die Beanspruchung abzugeben (Kolrep et al. 2005). Durch Test der Interbeurteilerreliabilität kann auf die Konsistenz des Instruments geschlossen werden. Die Urteile sind zwar subjektiv, werden aber im Gegensatz zur Selbstbeschreibung nicht durch die Beanspruchung selbst gestört. Theoretisch lassen sich mit dieser Methode kontinuierlich Beanspruchungsmessungen durchführen. In der Praxis sind Intervalle von ca. 10–20 Minuten üblich.

292 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

Abb. 2 Videobeobachtung zur Messung der Beanspruchung eines Lkw-Fahrers in der Nacht

Hauptaufgabenmaße sind Leistungsmaße, bei der die Leistung in der Hauptaufgabe gemessen wird. Steigt die Beanspruchung, z. B. durch eine parallel bearbeitete Hauptaufgabe, ändert sich auch die Leistung in der Hauptaufgabe. Welche Komponenten der Hauptaufgabe gemessen werden, hängt von den Aufgabeneigenschaften ab. Bei der Fahraufgabe können dabei z. B. die Standardabweichung der Längsposition oder die Geschwindigkeitsregulierung gemessen werden. Bei Zweitaufgabenmaßen werden die Hauptaufgabe und die Nebenaufgabe parallel bearbeitet. Zweitaufgabenmaße werden häufig genutzt, um die noch zur Verfügung stehenden Ressourcen zu messen. Nach O’Donnell and Eggemeier (1986) können diese Maße je nachdem, auf welchem der beiden Aufgaben das Hauptaugenmerk liegt, unterschieden werden in das ,loading task’ Paradigma und das ,subsidiary task’ Paradigma. Im ersteren ist der Proband angehalten, die Leistung in der Zweitaufgabe aufrecht zu erhalten auch wenn seine Leistung in der Erstaufgabe nachlässt. Im letzteren soll der Bearbeiter die Leistung in der Erstaufgabe erhalten. Dieses Vorgehen würde die Beanspruchung von Abschnitt A nach Abschnitt B verschieben. Abhängig davon, wie viele Ressourcen die Hauptaufgabe verlangt, verändert sich dann die Leistung in der Nebenaufgabe. Nach Wickens (2000) erfordert die Fahraufgabe visuell-räumliche Ressourcen in der Wahrnehmungs- und Verarbeitungs-, sowie in der Reaktionsphase. Das Modell würde weniger Interferenzen mit der Fahraufgabe vorhersa-

Thomas Jürgensohn 293

gen,wenn die Zweitaufgabe auditive und verbale Ressourcen beanspruchen würde. Bei der Erfassung physiologischer Maße werden Daten vom physiologischen System des Bearbeiters abgeleitet. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass sich Veränderungen in der Beanspruchung in Veränderungen des vegetativen Nervensystems widerspiegeln. Hiermit können Daten online und kontinuierlich gemessen werden. Die Effekte des Nervensystems können aber schnell durch andere Störeinflüsse (z. B. schon durch Bewegungen) überlagert werden. Praktikabel im Umfeld Kraftfahrzeug sind Messungen der Herzrate (Rose et al. 2005), des Hautleitwiderstandes (Jürgensohn et al., 2005) oder der Sakkadenschiefe (Jürgensohn et al., 2004). Gute Messmethoden messen verschiedene Aspekte von Beanspruchung und Ablenkung, die durch Nebenaufgaben entstehen und eigentlich gering gehalten werden sollen. O’Donnell und Eggemeier (1986; siehe auch Tsang & Wilson, 1997; Wickens, 2000) referieren dafür folgende Kriterien: • • • • •

Sensitivität Diagnostizität oder Spezifität Hauptaufgabenbeeinflussung Einfache Implementierung Bearbeiterakzeptanz

Sensitivität bezieht sich auf die Fähigkeit des Kriteriums, Veränderungen im Beanspruchungsniveau anzuzeigen. Beanspruchungsmaße variieren in ihrer Sensitivität. Diagnostizität bezieht sich auf die Messung verschiedener Ressourcen. Ein diagnostisches Maß kann z. B. zwischen visueller und mentaler Beanspruchung unterscheiden. Hauptaufgabenbeeinflussung muss als sicherheitsrelevant berücksichtigt werden. Wenn ein Maß die Hauptaufgabe beeinflusst bzw. deren Bearbeitung stört, so führt das nicht nur zu Mess- und Interpretationsproblemen sondern stellt z. B. bei der Fahraufgabe auch ein Sicherheitsrisiko dar. Einfache Implementierung zielt darauf ab, den Erhebungsaufwand zu minimieren. Bearbeiterakzeptanz bezieht sich darauf, ob die Methode von den Probanden gebilligt wird.

3

Messung der Aufmerksamkeitshinwendung

Mit der Zunahme von Informationssystemen im Fahrzeug wird es immer wichtiger zu untersuchen, ob der Fahrer nicht durch zu viele Informationen zu stark von der Hauptaufgabe, den Verkehr zu beobachten und auf Ereignisse zu reagieren abgelenkt wird. Eine vorzügliche Methode, dies

294 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

zu untersuchen, ist die Messung von Blickbewegungen. Mit Hilfe von am Körper tragbaren (Helmsysteme) oder im Fahrzeug eingebauten (RemoteSysteme) lässt sich der Blickort des Fahrers mit optischen Mitteln in einer zeitlichen Auflösung von 50–120 Hz registrieren. In Abb. 3 ist ein Helmsystem zur Messung der Blickbewegungen dargestellt.

Abb. 3

Helmbasiertes System zur Messung der Blickbewegungen

Die auf optischer Messtechnik basierenden Systeme können im Gegensatz zur Messung der Augenbewegung mit Hilfe eines EOG (Elektrookulografie) den Blickort des Fahrers ermitteln. In Abb. 3 sind neben dem Spiegelsystem des Helmsystems die Elektroden zur Ableitung des EOG zu sehen. Abb. 4 zeigt einen Frame des vom Blickbewegungssystem gelieferten Videostreams. Durch die Stirnkamera ist die Sicht des Fahrers nachgebildet, ein hineinkopiertes Kreuz gibt den momentanen Blickpunkt wieder. Im Beispiel schaut der Fahrer gerade in den Außenspiegel. Mit Hilfe helmbasierter Systeme sind Auflösungen der Blickrichtung von typisch 1–2 Grad möglich. Die Auflösung von Remotesystemen liegt bei ca. 2–5 Grad. Aus der Analyse der Blickorte lässt sich die Höhe der visuellen Ressource, die für eine bestimmte Aufgabe notwendig ist, ableiten. Dies lässt sich beispielsweise dadurch realisieren, dass der Strom von Blickorten zunächst auf Fixationen, d. h. Momente der relativen Augenruhe von über 150 ms, untersucht wird, und dann die Fixationen klassifiziert werden. In Abb. 5 ist ein mögliches Klassifizierungssystem dargestellt. Typische Aussagen, die aus solchen Klassifizierungen abgeleitet werden können, sind die nach Habituationseffekten von Assistenzsystemen.

Thomas Jürgensohn 295

Abb. 4 Fahrersicht beim Blick in den linken Außenspiegel (Kreuz entspricht Blickort)

Für Produkthaftungsfragen im Zusammenhang mit Überholwarnern ist es beispielsweise wichtig zu wissen, ob sich das Blickverhalten des Fahrers bei fortlaufender Gewöhnung an das Warnsystem so ändert, dass nicht mehr in den Außenspiegel geblickt wird. Das Ergebnis solcher Untersuchungen kann beispielsweise als Entscheidungshilfe bei der Auslegung und Gestaltung der visuellen Warnung herangezogen werden. In Abb. 6 ist dargestellt, wie sich die akkumulierten Blickzeiten auf unterschiedliche Klassen von Blickpunkten verteilen. In der Abbildung sind die Anteile beim Einbau zweier ähnlicher, aber in einem Parameter variierender Informationssysteme im Fahrzeug einer Kontrollbedingung gegenüber gestellt. Man erkennt, dass generell in 75–80% der Zeit auf die Straße geschaut wird. Man erkennt aber auch, dass System 2 offensichtlich mehr ablenkt als System 1. Wenn die Ablenkung also ein Kriterium zur Auswahl von ansonsten ähnlich wirksamen Systemen ist, kann die Blickbewegungsmessung als Grundlage für eine Entscheidung zu Gunsten des sichereren Systems sein. Eine andere Möglichkeit, die ermittelten Fixationen weiter zu bearbeiten ist die Berechnung von Übergangshäufigkeiten der Blickorte. Dadurch können Informationen über die Reihenfolge der Blickscans beim Autofahren gewonnen werden. Obwohl deren Bedeutsamkeit nicht so hoch ist wie bei Piloten, die in ihrer Ausbildung die Reihenfolge lernen, wie die Instru-

296 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

Abb. 5 Fahrersicht beim Blick in den linken Außenspiegel (Kreuz entspricht Blickort)

Abb. 6 Veränderung der akkumulierten Blickanteile bei Einbau zweier Informationssysteme im Vergleich zur Kontrollbedingung

Thomas Jürgensohn 297

mente im Cockpit bei einer bestimmten Situation gescannt werden müssen, können doch Rückschlüsse auf die Wirkung von Zusatzsystemen im Fahrzeug abgeleitet werden. In Abb. 7 ist ein Beispiel solch einer Berechnung dargestellt. Die Dicke der Pfeile ist etwa proportional zur Häufigkeit des Übergangs. In dem Beispiel geht mit einem geschätzten Anteil von je 14% der Blick von der Straße zum Straßenrand oder zum Tacho.

Abb. 7

4

Übergangshäufigkeiten des Blickes von einer Kategorie zur anderen.

Fahrermodelle als Hilfsmittel des optimierten Bediendesigns

Seit ca. 40 Jahren werden vornehmlich in Japan, den USA und in Deutschland Modelle des Fahrerverhaltens in Form von mathematischen Gleichungen oder Computersimulationen entwickelt. Ziel dieser Modellbildung ist es, Werkzeuge zur quantitativen Vorhersage des Fahrverhaltens zu schaffen, das heißt motorischer Aktionen des Fahrers, die direkt (z. B. Lenken) oder indirekt (z. B. Oberkörper- oder Augenbewegungen) die Bewegung des Fahrzeuges beeinflussen (Jürgensohn, 2007). Eines der wichtigsten Anwendungsgebiete für Fahrermodelle ist die Entwicklung und Auslegung der Fahrdynamik, insbesondere von Fahrwerkskomponenten. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.Wenn es darum geht, die Wirkung konstruktiver Veränderungen am Fahrzeug auf das Gesamtsystem Fahrer-Fahrzeug vorherzusagen, dann erscheint es auf den ersten Blick selbstverständlich, dass in den beschreibenden Modellen irgendwie der Fahrer enthalten sein muss.Vor allem die Untersuchung der Fahrstabilität scheint ohne ein Modell der dynamischen Eigenschaften des Fahrers unmöglich. Ein Beispiel für ein kommerzielles Fahrermodell, das gegenwärtig für Echtzeitsimulationen in Verbindung mit Fahrzeugmodellen eingesetzt wird,ist der ve-DYNA R Advanced Driver. Dieses Modell führt das Fahrzeug

298 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

entlang einer vorgegebenen Trajektorie, speziell nahe der physikalischen Fahrgrenze bei hohen Geschwindigkeiten. Eine Anwendung ist die Berechnung der Optimallinie bei Rennen, aber auch die Simulation in Softwareund Hardware-in-the-Loop-Tests. Andere Applikationen sind der Einsatz als virtueller Testfahrer oder Komfortuntersuchungen. Die meisten elektronischen Fahrzeugregler sind zur Unterstützung des Fahrers in schwierigen Fahrsituationen gedacht. Um die Funktionalität in einer Simulation zu testen, müssen solche Situationen erzeugt werden. Dafür muss sich das Fahrermodell ebenso „unperfekt“ wie ein echter Fahrer verhalten. Das Fahrermodell besteht aus einem technischen Regler, dem einige menschliche Eigenschaften mitgegeben wurden. Im Gegensatz zu einem einfachen Regler folgt der Mensch nicht einfach einer festen Trajektorie als Vorgabe, sondern gibt sich einen eigenen Kurs innerhalb gewisser durch die Straße gegebenen Grenzen vor. Dies wird durch eine 2-EbenenStruktur des Fahrermodells mit einer Führungsebene (Guidance Level) und einer Stabilisierungsebene (Guidance Level) realisiert (Abb. 8).

Abb. 8

Struktur des Advanced Driver (TESIS GmbH, München)

Auf der Führungsebene wird die Position eines Führungsziels, dessen Geschwindigkeit, Richtung und Wegkrümmung vorgegeben (Abb. 9). Diese dienen als Vorgabe für die Stabilisierungsebene, welche im Wesentlichen aus einem nichtlinearen Positionsregler in Verbindung mit einem Zustandsbeobachter (von Gierwinkelfehler, Schwimmwinkel, etc.) besteht. Der Positionsregler auf der Stabilisierungsebene hält das Fahrzeug so nah wie möglich am Zielpunkt, der sich entlang der vorgegebenen Trajektorie bewegt (Abb. 9). Der Abstand zwischen Zielpunkt und Fahrzeug ist nicht fest, sondern verhält sich so, als gäbe es eine elastische Verbindung zwischen beiden. Je größer die Abweichung ist, desto stärker wird das Fahrzeug wieder zum Kontrollpunkt gezogen.Im Idealfall hält das Fahrermodell das Fahrzeug immer im festen Abstand zum Zielpunkt.

Thomas Jürgensohn 299

Abb. 9

Struktur des Advanced Driver (TESIS GmbH, München)

Individuelles Fahrerverhalten, wie Unterschiede im Risikolevel, der Fahrerfahrung oder typische menschliche Fehler können durch Variation freier Parameter des Modells erzeugt werden. Solche Parameter sind beispielsweise der Abstand Zielpunkt Fahrzeug, die so genannte Vorausschauentfernung oder die Verzögerungszeit der Lenkaktivitäten. (Irmscher & Ehmann, 2004)

Literatur 1. Irmscher, Marita; Ehmann, Martin (2004). Driver Classification using ve-DYNA Advanced Driver, SAE paper 2004-1-0451 2. Jürgensohn, Thomas; Rose, Arnd; Kolrep, Harald (2004).Veränderung von Kennwerten des EKGs und EOGs durch Müdigkeit beim Autofahren. In Thüring, M.; Urbas, L. (Hrsg.), 5. Berliner Werkstatt MenschMaschine-Systeme (VDI-Fortschrittberichte, Reihe MMS, ZMMSSpektrum, Band 14, S. 273–287). Düsseldorf: VDI-Verlag. 3. Jürgensohn, Thomas; Zentsch, Eric; Rose, Arnd; Kolrep, Harald; Oehme, Astrid; (2005). Der Hautleitwiderstand als empfindliches Maß zur Fahrerzustandserkennung. In Urbas, Leon; Steffens, Christiane, 5. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, Zustandserkennung und Systemgestaltung, 13. bis 15. Okt. 2005, Berlin (S. 155–160) (VDI-Fortschrittberichte, Reihe MMS, ZMMS-Spektrum, Band 22). Düsseldorf: VDI-Verlag. 4. Jürgensohn, Thomas (2007). Control Theory Models of Driver Behaviour, In C.P Cacciabue (Ed.) Modelling Driver Behaviour in Automotive Environments, S. 275–291, New York: Springer.

300 Mensch und Kraftfahrzeug: Methoden der Optimierung von Bedienung

5. Kolrep, Harald; Rimini-Döring, Maria; Oehme, Astrid; Jürgensohn, Thomas; Altmüller, Tobias (2005). Wie sieht „müde“ aus? – Entwicklung und Validierung einer Skala zur Müdigkeitsbewertung von Kraftfahrrern. In Urbas, Leon; Steffens, Christiane, 5. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, Zustandserkennung und Systemgestaltung, 13. bis 15. Okt. 2005, Berlin (S. 65–70) (VDI-Fortschrittberichte, Reihe MMS, ZMMS-Spektrum, Band 22). Düsseldorf: VDI-Verlag. 6. Matthews, G., Davies, D. R., Westerman, S. J., & Stammers, R. B. (2000). Human Performance: Cognition, stress and individual differences. Hove: Psychology Press. 7. Mohs, Carsten; Naumann, Anja & Kindsmüller, Martin Christof, (2007). Mensch-Technik-Interaktion: intuitiv, erwartungskonform oder vertraut?, in MMI-Interaktiv, 3-2007 8. O’Donnell, R. D., & Eggemeier, F. T. (1986). Workload assessment methodology. In: K. R. Boff & L. Kaufman & et al. (Eds.), Cognitive processes and performance (Vol. 2, pp. 1–49). Oxford, England: John Wiley & Sons. 9. Rose, Arnd; Oehme, Astrid; Kolrep, Harald; Jürgensohn, Thomas (2005). Unterschiede bei physiologischen Indikatore des Fahrerzustands zwischen Realfahrt und Simulator. In Urbas, Leon; Steffens, Christiane, 5. Berliner Werkstatt Mensch-Maschine-Systeme, Zustandserkennung und Systemgestaltung, 13. bis 15. Okt. 2005, Berlin (S. 161– 166) (VDI-Fortschrittberichte, Reihe MMS, ZMMS-Spektrum, Band 22). Düsseldorf: VDI-Verlag. 10. Sekine, H.; Tamura, K.; Asanuma, N.; Sato, M (1994): A study of electronic cornering speed control system, Proceedings of the International Symposium on Advanced Vehicle Control 1994, SAE-Paper, No. 9438619, 1994, S. 455–460. 11. Tattersall, A. J. (2000). Workload and Task Allocation. In N. Chmiel (Ed.), Introduction to Work and Organizational Psychology (pp. 183– 205). Oxford/Malden: Blackwell Publishers. 12. Tsang, P., & Wilson, G. F. (1997). Mental Workload. In G. Salvendy (Ed.), Handbook of human factors and ergonomics (2nd ed.) (pp. 417–449). New York: John Wiley & Sons, Inc. Waard, D. D. (1996). The Measurement of Drivers’ Mental Workload. University of Groningen, Haren. 13. Waard, D. d., & Brookhuis, K. A. (1997). On the measurement of driver workload. In T. Rothengatter & E. C. Vaya (Eds.), Traffic & Transportation Psychology. Theory and Application (pp. 161–171). Amsterdam: Pergamon. 14. Wickens, C. D. (2000). Attention, Time-Sharing, and Workload (Chapter 11). In C. D. Wickens & J. G. Hollands (Eds.), Engineering Psychology and Human performance (pp. 439–479). Upper Saddle River, NJ: Prentice-Hall.

Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Horst E. Friedrich, Peter Treffinger, Gundolf Kopp, Harald Knäbel

1

Schlüsseltechnologie Werkstoffe und Bauweisen

Werkstoffe und Werkstofftechniken sind eine Schlüsseltechnologie für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Dabei haben schon „frühe Ingenieure“ mit den damals verfügbaren/gewinnbaren Materialien kluge Konstruktionen bzw. Bauweisen realisiert. Beispiele dafür sind im Wachsausschmelzverfahren hergestellte Bronzen oder aus Pergamentblättern gefügte Mumiensärge (siehe Abb. 1).

Abb. 1

Bedeutung der Werkstoffe im zeitlichen Verlauf nach [1]

302 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Demnach dominierten über lange Zeiträume keramische Materialien. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts nahmen dann die metallischen Werkstoffe in ihrer Bedeutung zu: nach Stahl und Eisen im 19. Jhdt. vor allem die Leichtmetalle und Superlegierungen, insbesondere getrieben von den Innovationen in Luftfahrt, Raumfahrt und Automobilbau. Seit ca. 1980 wird dann eine relative Zunahme aller Werkstoffgruppen (auf Kosten der Metalle) fortgeschrieben: Die relative Zunahme der Bedeutung von Kunststoffen, Verbundwerkstoffen, keramischen (und weiterentwickelten metallischen) Werkstoffen bestätigt die größere Vielfalt geeigneter Werkstoffe im Sinne des Multi-Material-Design. Schlüsseltechnologien geben definitionsgemäß auch Antworten auf gesellschaftliche Grundbedürfnisse wie etwa Mobilität, Sicherheit oder Umwelterhaltung. Wichtige übergreifende Systemtechniken sind z. B. solche der Energie- und Stoffumwandlung, die Verkehrstechnik oder die Werkstofftechnik. Schlüsseltechnologiefelder für die Mobilität sind u. a. Werkstoffe und Bauweisen. Sie stellen eine obligatorische Kernkompetenz für die Erfüllung der zahlreichen, teilweise gegensätzlich vernetzten Anforderungen an moderne Automobile dar. 1.1

Ein Blick zurück zeigt:

Die Werkstoffe und Technologien, die in den Automobilen zum Einsatz kommen, spiegeln den jeweils vorhandenen Stand der Technik wider. Die Automobile des 19. Jahrhunderts mussten mit einer aus heutiger Sicht „überschaubaren“ Werkstoffvielfalt auskommen. Die Materialien aus dem Kutschenbau für Fahrwerk und Aufbau sowie die Eisen- und Buntmetalle aus dem Stationär-Motorenbau für das Antriebsaggregat bildeten den Ausgangspunkt einer dann auch durch das Automobil getriebenen WerkstoffNeu- und -Weiterentwicklung. Fahrzeugrahmen bestanden zunächst aus Stahlrohren und wurden in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts durch kombinierte Holz- und Eisenrahmen und dann gepresste Stahlrahmen, die eine erhöhte Tragfähigkeit bei niedrigem Gewicht aufwiesen, ersetzt. Als Material für Karosserien wurde damals vorwiegend Holz verwandt, wobei vereinzelt auch Aluminium, Holz- oder Blechkombinationen vorkamen. Motorhauben zum Beispiel waren schon früh aus Aluminiumblech in einem Stück gefertigt. Holz blieb bis in die 30er Jahre ein wichtiges Material für die Karosserieaufbauten. Es brauchte je nach verwendeter Holzart eine entsprechende aufgespachtelte mehrlagige Grundierung, die dann über Tage austrocknen musste. Darauf wurde dann ebenfalls in mehreren Lagen der Decklack aufgebracht. Die Räder hatten, wie im Kutschenbau, Holzspeichen. Dennoch begannen neue Werkstoffe, früh ihre Treiberrolle für Innovationen zu spielen:

Horst E. Friedrich et al. 303

Abb. 2

Bauweisenentwicklung

Für die Vorderachse seines„Model T“ verwendete Henry Ford 1907 einen teuren mit Vanadium legierten Stahl, der eine höhere Festigkeit als die herkömmlichen Stähle aufwies. Chrysler setzte später „Amola-Steel“ ein, einen höherfesten C-Mo-Stahl. Bereits nach dem ersten Weltkrieg waren die Konstrukteure zunehmend bemüht, das Gewicht der Fahrzeuge niedrig zu halten. Dieses führte unter anderem zu einem verstärkten Einsatz von Aluminium, z. B. für Kurbelgehäuse, Getriebegehäuse und Karosseriekomponenten, teilweise auch mit den noch leichteren Magnesium-Legierungen. Für die Firmen Dodge und Pontiac fand 1913 bzw. 1915 die Ganzstahlkarosserie zum ersten Mal Einzug in den Serienwagenbau. Biege- und Torsionssteifigkeit waren höher als bei der bis dahin verwendeten Mischbauweise. Die Umformung der Bleche war Handarbeit für Spezialisten und entsprechend teuer. Dieses kann auch als Grund dafür angesehen werden, warum sich die Ganzstahlkarosserie erst in den 20er und 30er Jahren immer weiter bei Serienfertigungen durchsetzte.Voraussetzung dafür war die Entwicklung leistungsstärkerer Pressen für Karosseriebleche, um eine Serienfertigung von entsprechenden Blechteilen in größerer Stückzahl zu ermöglichen. Ford zum Beispiel baute ein T-Modell mit Holzgerippe-Karosserie bis zur Produktionsumstellung 1927. Ebenfalls in jenem Jahr präsentierte Krupp ein speziell für Karosserieteile geeignetes Tiefzieh-Feinblech. Weiterhin dominierte die Bauweise eines fahrfähigen Leiterrahmens, auf den anschließend die Karosserie montiert wurde. 1922 präsentierte Lancia das Modell Lambda, welches einen kastenförmig hochgezogenen Rahmen besaß und damit als das erste Fahrzeug mit einer teilweise selbsttragenden Karosserie angesehen werden kann.

304 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 3

Evolution durch Materialien

In den 30er Jahren ersetzte Aluminium als Werkstoff für Kolben das Gusseisen in den meisten Motoren. Zylinderköpfe aus Aluminium dagegen waren zu diesem Zeitpunkt aus Gründen der Haltbarkeit weniger erfolgreich. Ebenfalls in den 30er Jahren stiegen die Anwendungen für Elastomere. Chrysler zum Beispiel verwendete zur Steigerung des Akustik-/ Schwingungskomforts Gummilager für seinen 4-Zylinder-Motor. Weiterhin wurden Elastomere erstmals zur Abdichtung der Karosserie eingesetzt. Das durchschnittliche Automobil verwendete 1955 nur ca. 5 kg an Kunststoffen, mehrheitlich für dekorative Teile. Zwischen 1960 und 1970 stieg der durchschnittliche Anteil von 11 kg auf 45 kg. Der größte Anteil davon entfiel auf nichttragende Interieurbauteile. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gelang bei Audi die Serieneinführung der Vollaluminium-Bauweise, weitere Anwendungen mit Aluminium- und Magnesiumlegierungen folgten inzwischen bei vielen Herstellern. Strukturelle Faserverbundkunststoffe, bis heute noch nicht in größerer Stückzahl im Automobilbau, können in Zukunft einen wertvollen Beitrag zum Leichtbau liefern.Voraussetzung hierfür sind u. a. serientaugliche und kostenattraktive Herstellverfahren. Den Trend zur Mischbauweise in letzter Zeit belegen z. B. der 5er BMW mit seinem Vorderwagen aus Aluminium bei einem Stahlfahrzeug oder der

Horst E. Friedrich et al. 305

Audi TT (zweite Generation) mit einer Aluminium- und Stahl-Bauweise,die Elemente der Schalenbauweise mit Space-Frame Technologie harmonisiert.

2

Evolution und aktuelle Entwicklungen der Fahrzeugstrukturen

Der nach wie vor dominierende Werkstoff in der Karosserie ist Stahl. Aluminiumintensive Karosseriekonzepte waren bisher auf Fahrzeuge der Oberklasse beschränkt, hatten nach dem 3-Liter-Auto jedoch auch in anderen Fahrzeugklassen Einzug. Kunststoffe spielen vor allem im Interieur eine dominierende Rolle. Im Exterieurbereich findet man sie hauptsächlich im nichttragenden Bereich wieder. Der Einsatz von Faserverbundwerkstoffen im tragenden Karosseriebereich – bisher auf Sonderserien und Rennfahrzeuge beschränkt – kann für einen Durchbruch in der Serie erst bei entsprechenden Materialund Herstellungsverbesserungen interessant werden (Abb. 4).

Abb. 4

Evolution der Karosseriebauweise [35]

Auch im Fahrwerk stellen Leichtmetalle, speziell Aluminium als Gussoder Knetlegierung einen immer größeren Werkstoffanteil. Der Anteil an Stahl- und Eisenwerkstoffen nimmt dementsprechend auch im Fahrwerk kontinuierlich ab.

306 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Im Antrieb kommt heute schon eine Vielzahl von Werkstoffen zum Einsatz, sodass hier der Begriff „Multi-Material-Design“ am ehesten gerechtfertigt ist. Kurbelgehäuse aus hochsiliziumhaltigem Aluminium oder Grauguss finden sich ebenso wie Ansaugrohre aus glasfaserverstärktem Kunststoff oder Kurbelwellen aus geschmiedeten Stahlwerkstoffen. Keramikmaterialien in Katalysatoren sind Stand der Technik, ebenso Keramik-Preforms für verschleißarme Zylinderlaufflächen als Einlegeteile in Aluminiumkurbelgehäusen. Magnesium steht hauptsächlich im Wettbewerb zu den faserverstärkten Kunststoffen und Aluminium, wird aber zukünftig auch als Gehäusewerkstoff relevant. 2.1

Aktuelle Entwicklungen

Die Entwicklung der einzelnen Werkstoffe zeigt eine signifikante Veränderung der prozentualen Gewichtsanteile. Mit dem Drei-Liter-Lupo von VW wurden erstmals hochfeste Karosseriewerkstoffe mit den Leichtbauwerkstoffen Aluminium und Magnesium für ein Serienfahrzeug kombiniert. Neue Fertigungsverfahren wie Falzen und Kleben mussten auch zur Vermeidung der Korrosion in Kleinserie eingeführt werden. Mit dem Forschungsprojekt des 1-Liter-Autos wurde 2002 ein Niedrigstverbrauch-Fahrzeugkonzept mit neuen Werkstoffen und Bauweisen dargestellt. Z. B. die Verarbeitung der kohlefaserverstärkten Werkstoffe für die Außenhaut oder die verzerrungsfrei hergestellte Polycarbonat-Kuppel forderten neue Fertigungsverfahren und -methoden. Dies trifft insbesondere auch für die magnesiumintensive Space-Frame-Struktur zu.

Abb. 5

Fahrzeugkonzepte – Materialvergleich [36]

Horst E. Friedrich et al. 307

Der Vergleich der Materialzusammensetzungen eines Serien-Golfs, eines Drei-Liter-Lupo und des VW-1-Liter-Autos – alle aus der gleichen Zeit – demonstriert deutlich, dass mit der Forderung nach bedeutsameren Gewichtsreduzierungen der Anteil an Leichtmetallen und Hochleistungskunststoffen steigen wird, wenn nicht gleich in dem Maß wie bei Konzeptstudien. Eine aktuelle Entwicklung mit Serientechnologie stellt der Audi TT, 2. Generation dar: Aufbauend auf der leichten Aluminium-Space-FrameBauweise werden Komponenten in Stahl- und Schalenbauweise verwendet. Vor allem die Forderungen nach verbrauchsminimierten Fahrzeugen, bei gleichzeitig kontinuierlich steigenden Sicherheits- und Komfortansprüchen, führen verstärkt zu Leichtbaukonzepten. Eine Gewichtsreduzierung von 100 kg vermag bei einem Mittelklassefahrzeug im NEFZ die CO2 Emission pro gefahrenen Kilometer um ca. 10 g zu senken. Ein wesentlicher Beitrag zur aktuellen Grenzwertfestlegung der EU mit fahrzeugseitig 130 g CO2 /km bis 2012. Die Auswahl eines geeigneten Werkstoffes ist insgesamt das Resultat der bestmöglichen Erfüllung von technischen Anforderungen, des Belastungsprofils und der Erfüllung von Umwelt- und Gesetzgebungsbedingungen. 2.2

Anforderungen an Fahrzeuge

Fahrzeuge sind unterschiedlichen Belastungen und Umweltbedingungen ausgesetzt. Es ergeben sich daraus vielfältige, häufig konkurrierende Anforderungen an die Bauweise und die eingesetzten Werkstoffe. Die Erfül-

Abb. 6 Anforderungen an die Baugruppen im Automobilbau [3]

308 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

lung der mechanischen und chemischen Beanspruchungen werden bei den unterschiedlichen Werkstoffeinsätzen vorausgesetzt. Insbesondere Kunststoffe und deren Verarbeitungsprozesse wie z. B. Klebungen sollen für alle Klimazonen der Welt geeignet sein. Die Fahrzeuge müssen in trockenen und feuchten Heißländern ebenso die Anforderungsstandards bestehen, wie in extrem kalten Erdregionen. Dies führt zu bekannten Temperaturspezifikationen von −40◦ C bis +150◦C. Diese Temperaturen können unter ungünstigen Bedingungen im Innenraum auf Armaturentafeln auch bereits in gemäßigten Klimazonen erreicht werden. Die statischen und dynamischen Anforderungen insbesondere die Crash-Bedingungen führten zu einer Weiterentwicklung grundlegender Fahrzeugstrukturen und -bauweisen. 2.3

Übersicht über die wichtigsten Bauweisen von Fahrzeugen

Die erste Bauform des Automobils war von der Pferdekutsche abgeleitet. Als Tragwerk diente ein Rahmen aus Stahl, an dem Motor und Fahrwerk montiert waren. Neben Stahl und Gusseisen waren Kupfer, Holz und Leder die dominierenden Werkstoffe.

Abb. 7

Benz Motorwagen 1886 [37]

2.3.1 Rahmenbauweise / Gitterrohrrahmen Rahmenbauweisen sind vor allem bei Nutzfahrzeugen gebräuchlich, z. B. bei Lastkraftwagen, Omnibussen (Leiterrahmen). Modifizierte Rahmenbauweisen finden sich auch bei amerikanischen Limousinen und z. B. dem Citro¨en CX. Hier ist die schwingungstechnische Entkoppelung ein zusätzliches Komfortmotiv. Die aufbauenden Karosserien sind fast selbsttragend.

Horst E. Friedrich et al. 309

Abb. 8

Rahmenbauweise des Citro¨en CX [4]

Abb. 9

MB 300 SL Gitterrohrrahmen

Ein Gitterrohrrahmen als häufigster Vertreter der Rahmenbauweise ist aus möglichst geraden (Rohr-)Profilen aufgebaut. Die in den Kraftflussrichtungen der Tragstruktur liegenden Rohre sind so ausgelegt, dass sie vor allem auf Zug/Druck und wenig Biegung belastet werden. Der Vorteil eines Gitterrohrrahmens besteht in der Trennung zwischen Außenhaut und Tragstruktur. Die Nachteile sind • die Empfindlichkeit auf (lokale) Biegebelastungen, • der hohe Packagebedarf,

310 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 10

Einsatz von formgehärteten Stählen im VW-Passat [38]

• der hohe Fertigungsaufwand und die damit verbundenen Kosten sowie • die geringe Fähigkeit zur Funktionsintegration

An den Rahmen kann eine Stahlblech-, Aluminium- oder Kunststoff(GFK-) Beplankung – ohne tragende Funktion – montiert werden. Gitterrohrrahmen werden aktuell noch bei kleinen Serien und im Sportwagenbau eingesetzt. Eine Sonderform der Rahmenbauweise ist der Zentralrahmen. Solche Fahrzeuge verwenden einen zentralen Rahmen aus Stahl – an ihm sind Motor und Fahrwerk befestigt – unter einer GFK-Karosserie (z. B. RenaultAlpine). 2.3.2 Space-Frame Basis des Space-Frame-Konzeptes ist die Skelettbauweise, bei der auf einem soliden Gerippe nichttragende sekundäre Karosserieteile gefügt sind. Der AUDI-Space-Frame (ASF) ist in Aluminium ausgeführt und wurde 1994 mit dem A8 erstmals in einem Serienfahrzeug eingeführt und im aktuellen Modell in der 2. Generation umgesetzt (Abb. 11). Er ist gekennzeichnet durch die Verwendung kostengünstiger Halbzeuge (Al-Strangpressprofile), die über Al-Gussknoten verbunden werden.Der Rahmen ist mit Al-Blechen beplankt, eine Rahmenstruktur bei der Flächenteile teilweise tragend integriert sind. Die Al-Strangpressprofile besitzen bereits eine hohe Eigensteifigkeit. In einer Weiterentwicklung werden einige Profile mit der InnenHochdruck-Umformtechnik (IHU) hergestellt. Die Al-Gussknoten erlauben eine beanspruchungsgerechte und funktionsintegrierte Gestaltung. Insgesamt wird so eine hohe Leichtbaugüte bei gleichzeitig attraktiven Fertigungskosten erreicht, z. B. im Gussknoten, der A-Säule mit Schweller

Horst E. Friedrich et al. 311

verbindet. Die A-Säule und der Schweller sind hingegen einfach gestaltete Profile. Die eingesetzten Al-Legierungen lassen sich in aushärtbare (Typ AlMgSi) und nicht aushärtbare (Typ AlMgMn) unterscheiden, letztere finden nur im Blechbereich Verwendung.

Abb. 11 Beispiel für ein Space-Frame-Konzept: AUDI A8 (2. Generation ASF, 2003) [39]

2.3.3 Monocoque Für diese Bauweise kann die Definition aus dem Rennsportbereich hergeleitet werden. Es handelt sich um eine selbsttragende, hochsteife und sichere Schalenbauweise, die in den 30er Jahren entstanden ist, damals als Stahlblechbauweise. Hochleistungs-Faserverbundwerkstoffe werden derzeit aufgrund der hohen Werkstoff- und Fertigungskosten in größerem Umfang nur für Nischenfahrzeuge eingesetzt. Bei neueren Konstruktionen fällt der hohe Integrationsgrad auf, etwa beim Mercedes McLaren SLR oder beim Bugatti Veyron (2005). Zum Beispiel besteht mit Ausnahme des Motorträgers die Rohkarosserie des Mercedes McLaren SLR aus CFK. Das Gewicht der Rohkarosserie, die meist mit Faserverbundwerkstoffen (C-Faser) oder Aluminium ausgeführt ist, konnte dadurch um 40% im Vergleich zu einer herkömmlichen Stahlkonstruktion reduziert werden – bei doppelter Steifigkeit.

312 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 12

CFK-Karosserie des Mercedes McLaren SLR [40]

2.3.4 Schalenbauweise Die am weitesten verbreitete und heute in der Massenproduktion am häufigsten eingesetzte Bauweise ist die Schalenbauweise. Sie ermöglicht eine

Abb. 13 Die Karosserie der Mercedes E-Klasse MJ 2006 als Beispiel für die Schalenbauweise [5]

Horst E. Friedrich et al. 313

selbsttragende Karosserie, wobei aus logistischen Gründen vielfach Plattformumfänge definiert sind, um die Variantenvielfalt auch kostenmäßig zu beherrschen. Dabei werden umgeformte Stahlbleche durch Schweißen, Nieten oder Kleben zu einer selbsttragenden Struktur gefügt. Ein typischer Vertreter für die Schalenbauweise ist die Karosserie der Mercedes E-Klasse (Abb. 13). Eine Schalenbauweise kann auch mit anderen Werkstoffen realisiert werden. Der Jaguar XJ verwendet in einer niet-verklebten Karosserie aushärtbare Al-Legierungen, zur Erzielung besserer Festigkeit mit höherem CuGehalt vom Typ AlMgSi.

2.3.5 Mischbauweise (Multi-Material-Design) Bei einer in Mischbauweise ausgeführten Karosserie werden mehrere Werkstoffe (Al, Mg, St, Kunststoff) und Fertigungsverfahren (Blechumformen, Druckgießen, Strangpressen etc.) eingesetzt. Dem Wortlaut „gemischt“ entsprechend können bzw. müssen demgemäß auch die Konstruktionsprinzipien sein, z. B. Bereiche in Schalenbauweise und solche in Space-Frame-Bauweise. Die Türe des Mercedes CL besteht beispielsweise auf der Außenseite aus Aluminium-Blech, während die Innenseite als Bauteil aus Magnesium-Druckguss gefertigt wird. Ein weiterer Vertreter der Mischbauweise in modularer Ausprägung ist der BMW 5er (Modell 2003). Der Vorderwagen besteht fast ausschließlich aus verschiedenen Aluminium-Legierungen (Blech-Halbzeuge bzw. Gussteile), während für die restliche Karosserie verschiedene Stahlgüten zum Einsatz kamen (Abb. 14). Mischbauweise bzw. Multi-Material-Design realisiert somit Hybride aus Bauweisen und Werkstoffen. Das Multi-Material-Design wird in der Karosserie z. B. in Form von Schaumwerkstoffen oder Hybridwerkstoffen aus Kunststoff und Metall angewendet. Manche Rohbaukonstruktionen verwenden Beplankungen aus glasfaserverstärktem Kunststoff, die an eine Stahlkarosserie geschraubt / genietet sind. Der Beitrag zur Gewichtsreduzierung ist unbedeutend, attraktiver sind Lebensdauer- und Korrosionsschutz-Aspekte. Ein Beispiel eines erfolgreich umgesetzten Multi-Material-Designs auf Bauteilebene ist der vordere Dachquerträger des Audi A6. Eine Kunststoffverrippung sorgt für die Formstabilität der dünnwandigen Stahlblechprofile und ermöglicht dadurch eine hohe Kraftaufnahme. Gegenüber einem offenen, unverstärkten Profil ergibt sich ein wesentlich höherer Torsionswiderstand. Die Mischbauweise wird u. a. vom Institut für Fahrzeugkonzepte des DLR vorgeschlagen, um eine Spant-Space-Frame-Struktur zu gestalten. Vorteile sind neben der Gewichtsreduzierung infolge der Verwendung von

314 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 14

Beispiel für eine Mischbauweise: BMW 5er (2003) [41]

Hochleistungs-Hybridspanten die einfache Skalierbarkeit und Derivatbildung mit den Space-Frame-Profilen (Abb. 15 Spant-Space-Frame). Die Herausforderung der Umsetzung dieser Bauweise in der Karosserie besteht zum einen in der Lösung der Füge-, Recycling- und Korrosions-

Abb. 15

Spant-Space-Frame [42]

Horst E. Friedrich et al. 315

Problematik, und zum anderen in der Realisierung dieser Bauweise unter den Bedingungen der Großserienfertigung und den damit verbundenen Kostenzielen. 2.4

Allgemeine Bauweisen für Systeme und Komponenten

Fokussiert man die Bauweisen-Systematik auf Zusammenbau- und Teile-/ Komponentenebene, können weitere, teilweise konstruktionsmethodische Systeme sinnvoll werden. 2.5

Modulbauweise

Ein Modul ist ein Subsystem einer übergeordneten Systemarchitektur, dessen interne Beziehungen sehr viel stärker ausgeprägt sind als die Beziehungen zu anderen Subsystemen. Auf der Ebene des Gesamtfahrzeugs führt eine Integration und optimale Verkettung der (Teil-)Funktionen zur Modulbauweise. Das Frontend des VW-Polo ist in dieser Bauweise ausgeführt (Abb. 16). Ein Montageträger nimmt dabei die in einen Querträger integrierten Scheinwerfer, den Kühler und den Stossfänger auf. Die Modulbildung kann nach unterschiedlichen Kriterien vorgenommen werden.

Abb. 16

Frontend des VW-Polo in Modulbauweise [43]

316 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Art der Beziehung →funktionsbezogen →prozessbezogen

→strukturbezogen

2.6

Mögliche Ausprägung Funktionsmodul Montagemodul Entwicklungsmodul Fertigungsmodul Strukturmodul

Beispiel Klima-Modul Frontend Antriebsstrang Wasserkasten (Guss) Vorderwagen

Differentialbauweise

Die Differentialbauweise ist eine klassische Konstruktionsweise. Einzelne Bauelemente und Halbzeuge werden additiv miteinander verbunden (Abb. 17).

Abb. 17 Seitentüre des Porsche Cayenne (Montageträgerblech und Aluminiumrahmen) [44]

Vorteile sind der Einsatz verschiedener Werkstoffe, die einfache Trennbarkeit (Recycling, Reparatur) sowie die guten fail-safe-Eigenschaften. Als Nachteile sind zu nennen: die hohe Zahl von Fügestellen, die aufwändige Fertigung und ein vergleichsweise hohes Bauteilgewicht, evtl. auch die Korrosionsgefahr an den Kontaktstellen. 2.7

Integralbauweise

Bei der Integralbauweise wird versucht das Bauteil aus einem Stück herzustellen und möglichst viele Funktionen (Aussteifung, Lagerung, Gelenke etc.) zu integrieren. Abbildung 18 zeigt einen Demonstrator eines Türinnenteils in Mg-Druckguss. Dieses Bauteil integriert die Funktionen von

Horst E. Friedrich et al. 317

sieben Bauteilen und ermöglicht eine Reduzierung der Masse um ca. 50% gegenüber Stahl.

Abb. 18 VW Polo Türinnenteil in Magnesium [6]

Als Vorteile dieser Bauweise sind das minimale Bauteilgewicht sowie der geringe Fügeaufwand zu sehen. Demgegenüber stehen die teilweise aufwändige Fertigung und das schlechte Schädigungsverhalten (Rissausbreitung). Der Übergang von einer Stahl-Differentialbauweise zu einer Al-Integralbauweise wird an einem klassischen Querträger verdeutlicht. Trotz des Entfalls der Fügungen der einzelnen Schalenbauteile steigen bei dem AlStrangpressen die Kosten um ca. 60% [4], allerdings wird ein Gewichtsvorteil berichtet (Abb. 19). Aufgrund einer Topologieoptimierung mit nachfolgender Integrationssystematik entstand für ein Mittelklassefahrzeug das Konzept eines hochintegrierten Vorderwagens mit Magnesium-Großgussteilen. Die Abb. 20 zeigt die Zusammenfassung von Federbeinaufnahme und A-Knoten. Eine zugehörige Simulation ergab im Front-Crash keine größeren Dehnungen als 6% und einen Gesamtgewichtsvorteil von 43% gegenüber einer vergleichbaren Stahl-Lösung [7].

318 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 19 Vergleich Stahl-Schalenbauweise mit Al-Strangpressprofil [4]

Abb. 20 Konzept einer A-Säule mit integrierter Federaufnahme und Domstrebe als Magnesiumgussteile [42]

2.8 Verbundbauweisen Durch einen Verbund verschiedener Werkstoffe oder Materialkonfigurationen (z. B. Al-Schaum zwischen Al-Blechen) wird die Bauteilmasse verringert und gleichzeitig andere Eigenschaften (Wärmedämmung, Steifigkeit

Horst E. Friedrich et al. 319

etc.) verbessert. Eine Variante sind sog. Noppenbleche oder FaltwabenStrukturen [8] (Abb. 21). Bei Letzterem ist sogar in einer Dimension eine Medienführung möglich. Eine weitere Möglichkeit der Verbundbauweise ist der Einsatz von Faserverbundwerkstoffen. Sandwichverbunde bestehen zumeist aus drei Schichten: einer spezifisch leichten Mittelschicht aus Schaum oder Wabenstrukturen und zwei Deckschichten aus Blech oder Faserlaminat. Die Mittelschicht stützt die dünnen Blechhäute und stabilisiert diese gegen Beulen und Knittern. Die Deckschichten sorgen für eine hohe Biegesteifigkeit des Sandwichverbundes.

Abb. 21

Faltwaben-Sandwich [42]

Die Stärken einer Verbundbauweise liegen im geringen Bauteilgewicht, der hohen erreichbaren Steifigkeit sowie der guten akustischen und thermischen Dämmungseigenschaften.Nachteilig sind die schwierige Krafteinleitung, die schlechten fail-safe-Eigenschaften (Faserverbundwerkstoffe), die hohen Materialkosten und die eingeschränkte Reparaturfähigkeit.Weiterhin sind nur geringe Umformungen darstellbar. 2.9

Hybridbauweise

Bei der Hybridbauweise auf Systemebene (vgl.Multi-Material-Design) werden unterschiedliche Werkstoffe auf Bauteilebene und auch auf Systemebene kombiniert – dies mit dem Ziel, die positiven Eigenschaften der jeweiligen Werkstoffe auszunutzen. Wie bei einer Mischbauweise werden die verschiedenen Werkstoffe in einem Bauteil oder auch Modul kombiniert eingesetzt und optimal aufeinander abgestimmt. Abbildung 22 zeigt einen Forschungsdemonstrator einer VW Polo Leichtbautüre mit einem Innenteil aus Mg und einer Außenhaut aus CFK.

320 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Dadurch konnte eine Gewichtsersparnis von über 50% gegenüber einer herkömmlichen Türe in Stahl nachgewiesen werden.

Abb. 22 VW Polo Leichtbautüre (Demonstrator) [6]

Vorteilhaft an der Hybridbauweise ist neben dem hohen Leichtbaupotenzial auch die Möglichkeit, eine optimale Ausnutzung der Werkstoffeigenschaften erzielen zu können und eine positive Ergänzung dieser Eigenschaften zu erreichen. Als Nachteile sind zu nennen: der hoher Fertigungsaufwand (Fügungen), die erschwerte Schadensbeurteilung, die teilweise eingeschränkte Beurteilung des Bauteilverhaltens und die mögliche Korrosionsgefahr an den Kontaktstellen.

3

Anforderungen und Strategien für den Leichtbau

Die Erderwärmung ist inzwischen Realität und als ein Hauptgrund gilt der von den Menschen verursachte Ausstoß von Klimagasen. Weltweit stammen ca. 23% der CO2 -Emissionen aus dem Verkehr (gesamt), dies waren in 2005 ca. 6 Mrd. Tonnen CO2 [9]. Ohne eine Wertung vorzunehmen, wie die CO2 -Emissionen im Detail Wirkung auf die Erderwärmung haben, kann festgestellt werden, dass der politische Einfluss zunimmt, die CO2 -Emissionen im Verkehr zu reduzieren. Aktuell sind 130 g CO2 pro gefahrenen km für das Jahr 2012 von der EU vorgegeben. Auf diesem Weg wurde von der Fahrzeugindustrie schon viel erreicht. Dennoch bleibt wohl die Verbrauchs- und Emissionseinsparung die größte technologische Herausforderung für die Automobilindustrie [10]. Allein

Horst E. Friedrich et al. 321

durch die weitere kontinuierliche Verbesserung im Antriebsstrang kann die notwendige Verbrauchsreduzierung nicht erreicht werden. Zusätzlich muss das Fahrzeuggewicht reduziert werden. Die Fahrzeugmasse beeinflusst über die massenabhängigen Fahrwiderstände den Energieverbrauch des Fahrzeugs. 100 kg Gewichtsreduktion bewirken je nach Ausgangsmotorisierung Kraftstoffeinsparungen zwischen 0,3 l/100 km und 0,5 l/100 km. Hieraus lässt sich ableiten, dass pro kg Gewichtseinsparung Zusatzkosten bis 5 ¤wirtschaftlich sind. Wesentlich ist der Beitrag zur CO2 -Reduzierung von bis zu 10 g CO2 / km (Mittelklassefahrzeug, NEFZ) [11]. Zudem bewirkt eine geringere Fahrzeugmasse ein agileres und sichereres Fahrverhalten. Daher hat die Gewichtsoptimierung aller Fahrzeugkomponenten zur Reduzierung der Fahrwiderstände eine hohe Bedeutung erlangt. Leichtbau kann heute nicht mehr allein durch die Werkstoffe realisiert werden, sondern es müssen ebenso angepasste Fertigungstechnologien und Konstruktionsprinzipien mit eingeschlossen werden. Die Lösungsansätze durch Multi-Material-Design zeigen einerseits positive Trends zu leichteren Fahrzeugkonzepten, müssen aber stets hinsichtlich der Recyclingforderungen neu hinterfragt werden. Resultierend aus den höchst unterschiedlichen Leistungsmerkmalen ergibt sich jedoch eine Reihe von Zielkonflikten, die gegeneinander abzuwägen und zu gewichten sind. Aufgabe der Entwicklung ist es, die bestmögliche Synthese zu finden. Man erkennt sofort, dass die Forderung nach Leichtbau zusammen mit Wirtschaftlichkeit, Rezyklierbarkeit und prozesssicherer Herstellbarkeit allen Baugruppen gemein ist und damit den aus heutiger Sicht zentralen Kern bei der Materialauswahl bilden. Der Trend zum Multi-Material-Design wird deshalb die Entwicklungsschwerpunkte in der Werkstofftechnik, aber auch in den Fertigungs- und vor allem den Fügetechnologien vorgeben. 3.1

Massebedarfskennzahlen

Allgemeine Zielsetzung des Leichtbaus im Automobilbau ist es, die Anforderungen an eine Fahrzeugkomponente bei minimalem Massebedarf zu erfüllen. Eine erste Orientierung für den konstruktiven Lösungsansatz kann durch Massebedarfskennzahlen und Materialkennwerte erfolgen. Die Masse eines Bauteils kann sowohl durch Änderung des Konstruktionsprinzips (Gestaltänderung mit veränderten Trägheits- und Widerstandsmomenten), den Einsatz eines alternativen Werkstoffs (Dichte; Elastizitäts- und Schubmodul; 0,2%-Dehngrenze und Festigkeit) als auch durch die Kombination beider Maßnahmen verringert werden. Voraussetzungen hierfür sind die Kenntnisse über ein definiertes Anforderungsprofil einer Komponente, mit z. B. Betriebs- und Missbrauchslasten, Steifigkeitsund/oder Festigkeitsanforderungen sowie über den entsprechend zuge-

322 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

standenen Bauraum bzw. Platzbedarf. Des Weiteren ist umfassendes Knowhow über die Eigenschaften der eingesetzten und einzusetzenden Werkstoffe erforderlich.

Abb. 23 Vergleich der Massenbedarfskennzahlen für verschiedene Werkstoffe

3.2

Allgemeine Auslegungsstrategie

Für den Nachweis der Betriebsfestigkeit müssen die verschiedenen Beanspruchungsarten und Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Dabei kann man drei unterschiedliche Ziele anstreben: safe-life-quality (sicheres Erleben): Die Betriebsfestigkeit eines Bauteil ist über den gesamten Lebenszyklus gesichert. Statische Lastfälle und das Ermüdungsspektrum werden ertragen.

Abb. 24

Leichtbauzonen nach Haldenwanger [12]

Horst E. Friedrich et al. 323

fail-safe-quality (beherrschbares Versagen): Man kalkuliert Schädigungen der Struktur ein und verringert die Folgen durch eine hinreichende Resttragfähigkeit. Dies kann z. B. durch redundante Lastpfade konstruktiv erfüllt werden. damage tolerance (ertragbarer Schaden): Zusätzlich zur Auslegung nach dem fail-safe-Prinzip wird angenommen, dass Schädigungen in der Struktur vorhanden sind, ihr Wachstum analysiert und zeitlich verfolgt wird. Die Konstruktion ist damit einem Inspektions- und Wartungskonzept unterworfen (wird vor allem in der Luftfahrt benutzt). Um die Bauteilmasse zu verringern, kann man verschiedene Strategien verfolgen. Meist kombiniert man mehrere Maßnahmen, um ein Optimum zu erreichen. Abbildung 24 zeigt die Einteilung des Fahrzeugs in Leichtbauzonen nach Haldenwanger. 3.3

Leichtbaustrategien

3.3.1 Stoffleichtbau Die auf den ersten Blick einfachste Art das Gewicht eines Bauteils zu verringern ist die Substitution des verwendeten Werkstoffs durch einen Werkstoff geringerer Dichte (Abb. 25). Meist lassen sich Werkstoffe jedoch nicht einfach substituieren, ohne die Formgebung wesentlich anzupassen und die Fügetechniken zu ändern. Dies stellt daher einen erheblichen technologischen Wandel dar. Etwa wenn von einer Stahlblech- zu einer Aluminiumoder CFK-Struktur der Karosserie übergegangen wird. Eine andere Möglichkeit des Stoffleichtbaus besteht darin, einen Werkstoff höherer Festig-

Abb. 25 links: Hinterachsfedern des VW Lupo in Stahl (links, 1040 g) und Titan (rechts, 625 g) [13], rechts: leichtes Energieabsorptions-Element für den Seitencrash eines Bauweisen-Konzeptes, DLR [14]

324 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

keit zu wählen, um im Gegenzug die Materialstärke und damit das Gewicht verringern zu können. 3.3.2 Formleichtbau Beim Formleichtbau werden die Krafteinleitung und der Kraftfluss durch die Optimierung der Bauteilgeometrie so verbessert, dass Material und damit Gewicht eingespart werden kann (Abb. 26). Gestaltoptimierte Bauteile lassen sich z. B. durch Schmiede- oder Gusskonstruktionen sowie der Innen-Hochdruck-Umformung (IHU) verwirklichen. Eine weitere Stoßrichtung des Formleichtbaus ist die Verbesserung der Simulationsgenauigkeit (vor allem der FEM-Analyse).

Abb. 26 Al-Gussteil (Schwenklager der Vierlenker-Vorderachse des Audi A4) [15]

3.3.3 Konzeptleichtbau Einen völlig anderen Ansatz verfolgt man mit dem Konzeptleichtbau. Der Fokus liegt dabei nicht auf der Optimierung eines einzelnen Bauteils sondern des Gesamt- bzw. eines Teilsystems. Durch eine Auswahl geeigneter Komponenten evtl. mit höherer Teile- oder Funktionsintegration und der Optimierung ihres Zusammenspiels im Gesamtfahrzeug (einschließlich Package) wird das Fahrzeuggewicht insgesamt abgesenkt (Abb. 27).

Horst E. Friedrich et al. 325

Abb. 27

Space-Frame-Konzept BMW Z8 [4]

3.3.4 Bedingungsleichtbau Beim Bedingungsleichtbau werden die sich ändernden Anforderungen aus Sicht der Kunden und des Gesetzgebers in eine Verringerung des Fahrzeuggewichts umgesetzt, die (gesetzlichen) Anforderungen, z. B. an die Sicherheit oder den Umweltschutz kritisch hinterfragt und eine günstigere Umgebung für das zu optimierende Bauteil gewählt. Ein Beispiel infolge angepasster (reduzierter) Qualitätsbedingungen wäre die Verwendung von eingefärbten einfachen thermoplastischen Kunststoffen für Fahrzeugbeplankungen mit geringer Qualitäts-/Oberflächen-Anmutung.

4

Option Modularisierung

Durch unterschiedliche Anforderungen an Fahrzeuge, wie z.B. Design, Packaging, usw. ist eine immer größer werdende Derivatbildung innerhalb der Fahrzeugklassen zu erkennen [16], was eine sinkende Einzelstückzahl zur Folge hat. Ein wirtschaftlicher Ansatz dem entgegen zu wirken ist die Modularisierung. Durch eine in geometrischer Hinsicht und leistungsmäßig skalier- und modularisierbaren Fahrzeugstruktur ergeben sich neue Fahrzeugkonzepte und Potenziale. Die Architektur eines Produkts bzw. einer Produktfamilie sollte dabei so integral wie nötig und so modular wie möglich sein. Hierdurch kann die Komplexität reduziert werden, ohne dass die optimale Funktionsstruktur der Produkte zu stark beeinträchtigt wird [17].

326 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 28

Typen von Produktarchitekturen nach [18]

Für Ansätze zur Modularisierung gab es in der Vergangenheit einige Beispiele, wie z. B. das „MoCar“ von DaimlerChrysler [19] oder die Konzeptstudie „MOSAIC“ von Opel (Abb. 29). Dabei werden verschiedene Grade der Modularisierung verfolgt. Es ist zu erkennen, dass selbst konzernintern noch nicht der optimale Umfang einer Modularisierung festgelegt ist. Wie die folgenden Beispiele zeigen, sind bei OEMs verschiedene Konzepte zu finden, die die unterschiedlichsten Ziele verfolgen und unterschiedliche Umfänge besitzen. Die Motivation zur Modularisierung besteht bei Opel darin, dass bei den derzeit verwendeten Montageverfahren die Rohkarosse vollständig geschweißt und montiert wird und anschließend aufwendig lackiert werden muss. Zur Montage der Inneneinrichtung und des Motors müssen aus Gründen der Zugänglichkeit Hauben und Türen wieder demontiert werden. Des Weiteren besteht das Problem der Montage an schwer zugänglichen Stellen und die bauliche Begrenzung, die eine Einschränkung der Modulgröße zur Folge hat. Dies erfordert eine höhere Montagezeit und führt zu ergonomischen Problemen. (vgl. [DE 19606779]). Aus diesem Grund entwickelte Opel ein modular aufgebautes Fahrzeug, das die oben genannten Nachteile verringern bzw. beheben soll. Das

Horst E. Friedrich et al. 327

Abb. 29

Konzeptstudie Opel-MOSAIC [20]

neue Modularisierungskonzept wurde 1996 als Patent angemeldet und entspricht im weitesten Sinne dem 2005 vorgestellten MOSAIC-Fahrzeug. Der Schwerpunkt dieser Modularisierung bestand nicht auf der Ausrichtung, möglichst viele Derivate mit einem Minimum an unterschiedlichen Modulen erstellen zu können, sondern in der Verbesserung der Montageprozesse unter Betrachtung der ergonomischen Arbeitsabläufe. Zu den Verbesserungen der Montageprozesse zählt unter anderem die Verkürzung der Durchlaufzeit, die aufgrund des Wegfalls von Montagevorgängen in schwer zugänglichen Stellen erreicht wird. Die hierarchische Struktur des Opel MOSAICs besteht aus den 6 Hauptmodulen: Unterbodenstruktur, Innenraummodul, Cockpitmodul, Seitenwandmodul, Chassismodul und Exterieurmodul. Nachteilig wirkt sich evtl. die weiche Struktur aus, da die nötige Steifigkeit erst nach der Montage mit dem Seitenwand- und dem Exterieurmodul gegeben ist. Durch das neue Konzept ist es möglich, den Umfang der Module zu erweitern. Das Cockpitmodul des MOSAICs umfasst nun zusätzlich noch die Pedalanlage und den Bremskraftverstärker. Vorteilhaft wirkt sich aus,dass die einzelnen Teile in kleineren flexibleren Lackieranlagen und einer besseren Zugänglichkeit lackiert werden können. Das Handling mit lackierten Bauteilen führt zu neuen Logistik- und Lagerlösungen. Des Weiteren besteht bei der Opel MOSAIC Struktur die Herausforderung zur Einhaltung der Toleranzen, da es bei diesem Konzept keine Rohkarosserie gibt, die in einer Aufspannung geschweißt werden

328 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 30

Darstellung von Derivate im Modulkonzept von Volkswagen [21]

kann. Außerdem entsteht ein gering höheres Gewicht, das durch die Verwendung neuer Fügestellen und zusätzlichen Steckverbindungen entsteht. Die Fertigungsabläufe und die ergonomische Montage benötigen mehr Platz, daher ist eine Realisierung nur „auf einer grünen Wiese“ umsetzbar [20]. Volkswagen stellte im Juli 2006 ein neues Konzept in Zusammenarbeit mit der Universität Braunschweig vor. Im Gegensatz zum oben gezeigten Konzept handelt es sich hierbei um ein komplett modularisiertes Fahrzeug, das aus mehreren Modulen montiert wird (Grund-, Front-, Hecküberhangund Radstandmodul etc.).

Horst E. Friedrich et al. 329

Unterschiedliche Derivate können auf einem Grundmodul entstehen (Abb. 30). Zu beachten ist, dass die Derivate nicht nur in einer Klasse entstehen, sondern klassenübergreifend entwickelt werden. Durch diese Methode sind Modelle aus dem C-, CD- und S-Segment kostengünstig mit Gleichteilen herstellbar. Auf einem Grundmodul bauen 12 unterschiedliche Modelle vom Roadster, Kombi bis hin zum Van auf. Durch dieses Konzept ist es möglich, eine größere Anzahl von unterschiedlichen Derivaten, in unterschiedlichen Segmenten, mit eigenständigem Design herzustellen. Die Gefahr einer optischen und technischen Gleichheit ist durch einen modularen Aufbau der Rohkarosse nicht gegeben. Aufgrund der modularen Bauweise können verschiedene Werkstoffe für unterschiedliche Derivate genutzt werden. Dadurch ist es möglich, für Premium- sowie Volumen-Modelle und Sportwagen den Bedürfnissen gerecht die Werkstoffe auszuwählen. Je nach Stückzahl und Preissegment der Derivate können dadurch leichte Werkstoffe wie Aluminiumlegierungen gewählt werden. Dies ist bei einer strikten Plattformstrategie nicht möglich. Auf der jetzigen PQ35 Plattform von Volkswagen werden sowohl Sportwagen wie der Audi TT als auch leichte Transporter wie der VW Caddy Van aufgebaut. Es ist nur bedingt möglich, einzelne Bauteile für Nischenfahrzeuge, wie dem Audi TT, zu wechseln. Eine modular aufgebaute Grundstruktur bietet weitaus größeren Spielraum bei der Entwicklung von derivatspezifischen Modulen. Abbildung 31 zeigt die Möglichkeit, einzelne Module der Grundstruktur durch Verwendung von verschiedenen Werkstoffen ihren Anforderungen besser anzupassen.Für Fahrzeuge mit schweren Motoren können Frontmodule aus Aluminium gewählt werden, um die Gewichtsverteilung zwischen Vorder- und Hinterachse zu beeinflussen. Die Benutzung der Module, wie sie derzeit bei Volkswagen verwendet werden, wird dadurch nicht beeinflusst, da es weiterhin vordefinierte Schnittstellen geben wird. Mercedes-Benz stellte 2001 ein komplett modularisiertes Fahrzeug unter dem Namen MoCar vor. Dieses Projekt wurde von Mercedes-Benz aufgrund der Nachfrage nach individuellen Wahlmöglichkeiten der Kunden bearbeitet. Im Gegensatz zu Volkswagen und Opel, welche mehrere unterschiedliche Fahrzeugklassen, wie zum Beispiel die A- und B-Klasse bei Volkswagen, mit unterschiedlichen Modellen abzudecken versuchen, um dabei möglichst viele unterschiedliche Derivate mit selbstständigem Design aufbauen zu können, verfolgt Mercedes-Benz mit seinem MoCar Projekt ein anderes Ziel. Mercedes-Benz möchte ermöglichen, ein Fahrzeugmodell nach unterschiedlichen Anforderungen zusammenzustellen. MoCar besteht aus vier Grundmodulen im Rohbau: Fahrzeugvorbau, Fahrgastzelle, Dachmodul und Heckmodul. Bei der Wahl der Fahrgastzelle

330 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 31 Möglichkeiten zur Verwendung unterschiedlicher Werkstoffe im Modulkonzept von Volkswagen [21]

stehen mehrere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung (Cabrio-, Kombi- oder Schrägheck-Modul). Dies bedingt teilweise die Auswahl der zu Verfügung stehenden Dachmodule. Für ein Cabrio steht ein Stoff- oder Stahl-/ Glasdach zur Auswahl. Für Kombi und Schrägheck kann aus mehreren Dachausführungen mit oder ohne Glas bzw. als Kombination gewählt werden. Das Heckmodul kann passend zur Fahrgastzelle in verschiedenen Ausprägungen wie Limousine, Kombi oder Fließheck erfolgen. Abbildung 32 zeigt mögliche Ausführungen der 4 Grundmodule und das C-Klasse-Sportcoup´e, in dem bereits Teile aus dem neuen Modularisierungskonzept übernommen wurden.

Abb. 32

Mercedes-Benz MoCar, in Anlehnung an [22]

Horst E. Friedrich et al. 331

Ein modularisierbares Spant-/Space-Frame-Konzept wurde vom DLR Stuttgart vorgestellt [7]. Dieses Konzept verwendet partiell Faserverbundwerkstoffe als Crash-Elemente im Bereich der Schweller (Abb. 33, Abb. 38). Der Einsatz von Crash-Elementen aus Faserverbund und metallischen Space-Frame-Elementen ermöglicht an das Antriebskonzept anpassbare Eigenschaften und Geometrien. Aus diesem Konzept leitet sich eine skalierbare Modul-Spantbauweise in Multi-Material-Design ab. In diesem Konzept werden Spante, vergleichbar mit Rumpf-Spanten aus dem Flugzeugbau, für die Bildung der Säulen (A-, B- und C-Säule) verwendet (Abb. 34, Abb. 39). Die Spante werden in der vorliegenden Konzeption in faserverbundintensiver Bauweise dargestellt. Eine metallische Bauweise ist nicht ausgeschlossen.Metallische Profilstrukturen, hergestellt z. B. durch Strangpressen oder Rollprofilieren, verbinden die Spante untereinander und stellen die Fahrzeugstruktur im Sinne eines Space-Frames dar. Durch eine geeignete Trennung des mittleren B-Säulen-Spantes oder der Profile zwischen den Spanten (B- und C-Säule) wird eine Modularisierung der Karosserie ermöglicht. Eine Skalierung der Karosserieform wird dann durch unterschiedliche Profillängen ermöglicht. Dieser Lösungsansatz ist auch eine Möglichkeit, der steigenden Derivatbildung bei Karosserieformen entgegen zu kommen. Komplettiert wird die Fahrzeugstruktur durch Schubfelder und die Außenhaut.

Abb. 33 DLR-Leichtbaukonzept eines Fahrzeuges mit einer Sicherheitsstruktur bestehend aus Crash-Elementen aus Faserverbundwerkstoff [42]

332 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 34

Skalier- und modularisierbare DLR-Spantbauweise [42]

Durch die Kombination von metallischen Werkstoffen und Faserverbundwerkstoffen ergibt sich ein weiteres Leichtbaupotential im Vergleich zu reinen metallischen Bauweisen. Für die Spantbauweise in MultiMaterial-Design wird eine Gewichtsreduzierung von bis zu 45% im Vergleich zu metallischen Benchmarkstrukturen angestrebt. An der Validierung des Gesamtkonzeptes wird zurzeit gearbeitet.

Abb. 35

B-Säulenspant mit integriertem Hochleistungs-Crash-Element [42]

Horst E. Friedrich et al. 333

5 5.1

Neue Fahrzeugkonzepte infolge alternativer Energiequellen Architekturen und innovative Energiewandlung

Alternative Antriebe üben auch einen starken Einfluss auf die Fahrzeugarchitektur aus. Im Folgenden werden anhand wichtiger Entwicklungsrichtungen für alternative Antriebe wesentliche Einflüsse auf die Architektur aufgezeigt. Der Begriff alternative Antriebe umfasst dabei sowohl alternative Energiewandler als auch alternative Kraftstoffe. Im Bereich der alternativen Energiewandler sind Hybridantriebe zu berücksichtigen, deren wesentliches Merkmal ist, dass Sie auf dem Verbrennungsmotor, in der Regel einem Hubkolben-Motor als primärem Energiewandler aufbauen. Hybridantriebe können in einer großen Vielfalt ausgeführt werden [23]. Aus aktueller Sicht erscheinen im Bereich der Personenkraftwagen Parallelhybride und leistungsverzweigte Hybride am viel versprechendsten. Gegenüber dem konventionellen Antriebsstrang sind ein elektrischer Energiespeicher und mindestens eine Elektromaschine ergänzt. Im Hinblick auf die Fahrzeugarchitektur ist ein wesentliches Merkmal, dass die mechanische Kopplung des Primärenergiewandlers Verbrennungsmotor mit den angetriebenen Rädern erhalten bleibt. Im Ergebnis bewegt man sich daher im traditionellen Package des verbrennungsmotorischen Antriebsstranges und muss eine geeignete Anordnung der zusätzlichen Hybridkomponenten, insbesondere der elektrischen Maschinen, die auf den mechanischen Antriebsstrang einwirken, finden. DaimlerChrysler nutzt für die aktuelle Flotte von Brennstoffzellen-PKW das Fahrzeugkonzept der A-Klasse mit dem Vorteil des hohen Fahrzeugbodens (A36). Freiheitsgrade ergeben sich prinzipiell in der Anordnung der Leistungselektronik. Allerdings ist man bestrebt, diese nahe der elektrischen Maschine unterzubringen und möglichst mit dieser zu integrieren.Dagegen ist die Anordnung des elektrischen Energiespeichers auch von sicherheitstechnischen Kriterien maßgeblich bestimmt, wobei die Wahl des Bauraums aufgrund der Anbindung mit den elektrischen Leistungskabeln zunächst sehr frei ist. Zur Integration der elektrischen Maschine kann in zwei Tendenzen unterteilt werden. Bei Parallel-Hybriden wird die elektrische Maschine als zusätzlicher Drehmomenterzeuger dem mechanischen Antriebsstrang hinzugefügt, wobei ggf. weitere Kupplungen und Anpassungen am Getriebe notwendig werden.Bei leistungsverzweigten Hybriden erfolgt die Entwicklung eines elektromechanischen Getriebes, in dem Getriebe und elektrische Maschinen integriert sind. Aus den bisherigen Ausführungen wird ersichtlich, dass die Architekturen von Parallel- und leistungsverzweigtem Hybrid sich stark an die Fahrzeuge mitVerbrennungsmotor anlehnen.Dies ist durch die mechanische Kopplung des Primärenergiewandlers mit den angetriebenen Rädern bedingt. Diese ist beim seriellen Hybrid aufgehoben, der allerdings im konventionellen Aufbau mit Hubkolbenmotor und elektrischer Maschi-

334 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

ne als Generator wegen der mehrfachen Energiewandlung vornehmlich im Nutzfahrzeugbereich diskutiert wird. Durch die Entkopplung der Energiebereitstellung vom Radantrieb eröffnen sich allerdings wesentliche Freiheitsgrade in der Fahrzeugarchitektur. Der serielle Hybrid wurde daher beispielsweise für Busse in Verbindung mit Radnabenantrieben dargestellt, was eine nahezu barrierefreie Gestaltung des Fahrgastraums ermöglicht. Einen ähnlichen Freiheitsgrad erreicht man bei Personenkraftwagen mit elektrischem Antrieb. Diese müssen allerdings mit einem geeigneten Primärenergiewandler ausgestattet sein. Aus Effizienzgründen kommen dazu Brennstoffzellensysteme und neuartige Stromerzeuger wie der Freikolbenlineargenerator in Frage [26], die einen hohen Wirkungsgrad versprechen.

Abb. 36 Antriebskomponenten des F-Cell von DaimlerChrysler [24]

Abb. 37 Chevrolet Volt, ein Konzeptfahrzeug mit Hybridantrieb aus Brennstoffzellen und einem Dreizylindermotor [25]

Horst E. Friedrich et al. 335

5.2

Spant- / Space-Frame-Konzepte für alternative Antriebe

Aufgrund von neuen Antriebskonzepten wie Hybrid- und Brennstoffzellenantrieb kommen weitere Anforderungen an Fahrzeugkonzepte hinzu. Am Institut für Fahrzeugkonzepte des DLR werden Themen bearbeitet, wie z. B. ein Freikolbenlineargenerator (FKLG) zur Stromerzeugung. Dieser FKLG ist kraftstoffflexibel und kann auch mit Erdgas betrieben werden. Hier sind neuartige Konzepte zur Herstellung von packagingeffizienteren Gastankstrukturen in der Bearbeitung. Für Antriebskonzepte auf Basis von Brennstoffzellen ist die Wasserstoffspeicherung mit Metallhydridspeichern eine Alternative zu konventionellen Druckgasspeichern. In Bezug auf die Speicherung des Kraftstoffes sind dabei steigende Anforderungen an die Sicherheit zu berücksichtigen. Der Schutz dieser Kraftstoffspeicher, z.B. beim Seitencrash, kann durch Crash-Elemente aus Faserverbundkunststoff erfolgen (sog. Crash-Konen) [27]. 5.3

Sicherheits-Compartment

Das Spantkonzept beinhaltet ein Sicherheits-Compartment, welches u. a. sicherheitsrelevante alternative Antriebskomponenten vor einer Beschädigung im z. B. Seitencrashfall schützen soll. Eingebaut ist der Spant in eine Space-Frame-Struktur. Diese Space-Frame-Stuktur enthält in der Fahrzeugmitte im Boden das zu schützende Compartment (z. B. Speicher). Im Schwellerbereich sind, wie im Spant selbst, Crash-Konen untergebracht welche zum Crashmanagement beitragen (Abb. 39). Beim Sicherheits-Compartment liegen erste Ergebnisse von verschiedenen integrierten Crash-Elementen aus Kohlenstofffaserverbund vor. Ein typisches Crash-Element für ein Mittelklassefahrzeug, aufgebaut durch 6 Kohlefaserlagen und 2 Glasfaserlagen, wiegt z. B. 1,8 kg. Die Ergebnisse eines statischen Druckversuches (200 mm/min) zur Auslegung der Parameter für einen anschließenden,dynamischen Crashversuch haben gezeigt, dass die Auslegung der Bauteilgeometrie und Werkstoffparameter richtig dimensioniert wurden (Abb. 40). Das Diagramm zeigt im Kraftverlauf eine hohe Anfangskraft bis zur Einleitung des Crushings, wie Abb. 40 zeigt. Ebenfalls ist ein ansteigendes Kraftniveau aufgrund des konischen Verlaufs des Crashelementes zu erkennen. Die aufgewendete Arbeit zeigt einen sehr gleichmäßigen, ansteigenden Verlauf.

336 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 38 DLR-Leichtbaukonzept eines Fahrzeuges mit modularem Containment, eingebunden in eine Sicherheitsstruktur mit Crash-Elementen aus Faserverbundwerkstoff. Links: Freikolbenlineargenerator (FKLG) und Gastank, rechts: Brennstoffzellen und Hydrid-Speicher [42]

Abb. 39 Konzept einer Space-Frame-Struktur mit eingebautem B-Säulen-Spant und detaillierte Darstellung der Spantkonstruktion und der Werkstoffanwendung (rechts) [42]

Horst E. Friedrich et al. 337

Abb. 40

Erprobung eines B-Säulen Crash-Elementes

Weitere Versuchsreihen mit kleineren unterschiedlich geometrisch geformten Crash-Konen aus Kohlenstofffaserverbund haben ähnliche Kraftverläufe gezeigt. Diese kleineren Konen können, wie zuvor beschrieben, in die Spantstruktur eingebaut werden.

Abb. 41 bund

Unterschiedliche Crash-Konen-Geometrien aus Kohlenstofffaserver-

338 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 42 Vorderwagenmodul mit Magnesiumgusskonten an der A-Säule [7]

Durch den partiellen Einsatz von Faserverbundwerkstoffen kombiniert mit einer leichtmetallintensiven Bauweise ergeben sich bei modularisierten Konzepten weitere Möglichkeiten zur Gewichtsreduzierung. Hierzu kann als Beispiel ein hochintegrierter Gussknoten aus Magnesium AZ 91 genannt werden (Abb. 42). Das Gussbauteil vereint als Teil der Karosseriestruktur den Bereich der A-Säule und des Federbeindoms.Die Berechnungen zeigen, dass sowohl bei Betriebs- als auch bei Crashlastfällen die angenommene zulässige Bruchdehnung von 6% nicht überschritten wird. Neben einer möglichen Gewichtsersparnis von ca.11 kg pro Fahrzeug konnte bei diesem Konzept zu wettbewerbsfähigen Kosten die Teileanzahl um 22 Teile pro Fahrzeug reduziert werden.

6

Funktionale Werkstoffe und Systeme

Die Komfortanforderungen an moderne Struktursysteme führen dazu, dass heute zunehmend konventionelle passive Ansätze die Grenzen des technisch und wirtschaftlich Machbaren erreichen. Besonders Leichtbaustrukturen und dynamisch belastete Strukturen neigen zu Schwingungen, die von Lärmabstrahlung bis zur Zerstörung der Struktur reichen können. Hier kann durch den Einsatz aktiver Systeme der Störung entgegengewirkt werden. Aber auch durch passive Systeme und den Einsatz der Nanotechnologie eröffnen neue Möglichkeiten, die Werkstoffeigenschaften zu beeinflussen oder Funktionen zu erzeugen.

Horst E. Friedrich et al. 339

6.1

Funktionale Werkstoffe

Hierunter werden Werkstoffe mit besonderen Eigenschaften bzw. Eigenschaftswirkungen verstanden. Als Beispiel hierfür sind die Nanofüllstoffe zu nennen. So bewirken schon wenige Prozentanteile der nanoskaligen Füllstoffe eine deutliche Verbesserung der mechanischen Eigenschaften.

Abb. 43 Eigenschaftsverbesserungen im Vergleich zu konventionellen Füllstoffen bei Organoclay-Nanokomposit [28]

Als Füllstoffe für Matrices für faserverstärkte Kunststoffe eignen sich Nanopartikel auf Grund der nur geringen Beeinflussung der rheologischen Eigenschaften, die besonders bei der Infiltration und Benetzung der Fasern wichtig sind. Ebenfalls werden sie zur Steigerung der thermischen Beständigkeit von Thermoplasten eingesetzt. Bei einer sehr guten Dispergierung der Partikel kann sogar eine Transparenz der Kunststoffe erhalten bleiben. Hierdurch können z. B. transparente Strukturen mit gesteigerter Festigkeit realisiert werden. 6.2

Aktive Funktionswerkstoffe und Adaptronik

Adaptronik (Kunstwort aus adaptiv und Elektronik) ist die Bezeichnung für ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich mit multifunktionellen technischen Systemen beschäftigt. Das Konzept geht von dem Bionischen Ansatz aus, dass analog zu Nerven, die Sensoren Störgrößen wahrnehmen sollen sowie analog zum Gehirn über eine elektronische Regelung Aktoren angesteuert werden, welche die Funktion von Muskeln einnehmen und der Störgröße entgegen wirken sollen. Daraus folgt die Entwicklung so genannter adaptiver Systeme, die sich über selbstregelnde Mechanismen an unterschiedliche Betriebsbedingungen anpassen können. Im Unterschied zu klassischen Regelkreisen, bestehend aus den separaten Komponenten

340 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Sensorik, Aktorik und Steuerung, werden in der Adaptronik multifunktionale Werkstoffe als integrierte Aktoren und Sensoren eingesetzt. Bedingt durch den Einfluss des adaptronischen Systems wird die Struktur stabiler, durch die Hinzufügung der externen Aktoren und Sensoren aber auch schwerer. Das leichtbaurelevante, d. h. gewichtsspezifische Potenzial der Adaptronik kann nur dann wirklich genutzt werden, wenn es gelingt, die aktorischen und sensorischen Komponenten in Form von sogenannten Funktionsmodulen auf die Struktur zu applizieren oder sie in jene zu integrieren und zwar derart, dass die Werkstoff- bzw. Struktureigenschaften nur geringfügig oder überhaupt nicht negativ beeinträchtigt werden. Dies gilt insbesondere im Einsatzbereich von Verbundwerkstoffen. Hier besteht ein zunehmender Bedarf an dünnen und flexiblen adaptronischen Funktionsmodulen, die in die Faserlagen des Komposites integriert werden können ohne diesen übermäßig zu beeinträchtigen. Ziel der Entwicklung sind „intelligente“ Funktionsmodule mit integrierter Regelungselektronik. Dies kann in Form von autarken einzelnen adaptiven Systemen realisiert werden, als auch in einer Art analog zu neuronalen Netzwerken mit übergeordneten Kontrollsystemen. Die Breite ihres Anwendungspotentials weist die Adaptronik als typische Querschnittstechnologie aus.Aus physikalischer Sicht konzentriert sie sich dennoch auf nur wenige Kernaufgaben, mit den Zielsetzungen Vibrationsund Schallminderung sowie Positionierung und Gestaltänderung. Beispiele für den Fahrzeugbau sind: a) für die Aktorik: • Dämpfung von dünnen, großflächigen Hautfeldern • GFK-Blattfedern: Einsatz von integrierten Funktionsmodulen als Primärdämpfer b) Sensorik: • Schwingungs- / Vibrationserkennung • Strukturüberwachung von Faserverbundbauteilen (Composite Health Monitoring – CHM) 6.2.1 Aktivierbare Werkstoffe Aktivierbare Funktionswerkstoffe, auch Smart Materials genannt, können über einen Stimulus ihre Eigenschaft ändern. Umgekehrt kann neben dieser aktorischen Eigenschaft ein sensorischer Effekt bei vielen Werkstoffen beobachtet werden (Abb. 44). Bekannteste Vertreter sind die piezokeramischen Werkstoffe, welche sowohl die sensorischen als auch aktorische Eigenschaften besitzen. In Form von dünnen Platten oder Fasern lassen sich flexible, folienartige Funktionsmodule herstellen (Abb. 45). Ziel der Integrierbarkeit von Funktionsmodulen in FVK-Strukturen ist die möglichst geringe Beeinflussung (d. h. in der Regel Schwächung) der

Horst E. Friedrich et al. 341

Abb. 44 [29]

Aktorische und sensorische Eigenschaften von Funktionswerkstoffen

Abb. 45 [30]

Aktor-/Sensor-Funktionsmodul auf Basis piezokeramischer Werkstoffe

tragenden Struktur. Hierbei kommt es darauf an, durch möglichst dünne Funktionsmodule den Kraftflussverlauf in den Verstärkungsfasern nicht zu stören und durch eine äquivalente Biegesteifigkeit der Funktionsmodule Steifigkeitssprünge im Verbund zu vermeiden (Abb. 46). Eine weitere Möglichkeit eine Strukturdämpfung zu realisieren, ist die Integration von funktionalen Schichten mittels elektrorheologischer Fluide (ERF) zu nennen. ERF können durch ein elektrisches Feld ihre Viskosität binnen Millisekunden von einer Newtonschen-Flüssigkeit in ein BinghamMedium ändern. Dieser Effekt wurde an einem abstrahierten Versuchsträger in Form eines einseitig eingespannten Biegebalkens aus GFK mit integrierter ERF-Schicht am Institut des DLR untersucht [31] (Abb. 47). Die Ergebnisse zeigen, dass in der durch einen Shaker angeregten Struktur im ersten bzw. zweiten Eigenmode eine Dämpfung der Auslenkung um 90% bzw. 65% erreicht wird (Abb. 47).

342 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Abb. 46

Funktionsmodule integriert in eine FVK-Struktur [29]

Abb. 47 links, rechts oben:Versuchsaufbau zum Nachweis der Strukturdämpfung mittels Elektrorheologischer Fluide; rechts unten: Messung der Dämpfung des Biegebalkens

Erste kommerzielle Anwendungen im Bereich militärischer Anwendungen, im Spezialmaschinenbau aber auch in Sportartikeln und aktiven Stoßdämpfersystemen mit magnetorheologischen Fluiden im Fahrzeugbau zeigen die Möglichkeiten von aktiven Systemen auf. Dem breiten Durchbruch hinderlich sind einerseits die noch hohen Kosten und die schwierig zu handhabenden hohen Aktivierungsspannungen bei vielen Funktionswerkstoffen. Eine verheißungsvolle Alternative zeigen die Kohlenstoffnanoröhrchen (Carbon-Nano-Tubes) auf. Neben der sehr geringen Aktivierungs-

Horst E. Friedrich et al. 343

spannung von wenigen Volt und den hohen Dehnungsraten besitzen die CNT eine extrem hohe Festigkeit und E-Modul welche die CNT’s zu wahren Multifunktionswerkstoffe auszeichnen würden. Allerdings konnten diese Eigenschaften bisher nur in mikroskopischen Maßstäben nachgewiesen werden. Eine Umsetzung in makroskopischen Dimensionen und maschinenbautechnischen Bedingungen ist bisher noch nicht gelungen.

7 Werkstoffsysteme der Zukunft Nichts, das an einem Automobil dargestellt ist, ist nicht auch aus Werkstoffen – oder richtiger: mit Werkstofftechniken – dargestellt. Sie sind eine Königsdisziplin im Automobilbau. Das Fahrzeug der Zukunft wird weiterhin auf den bekannten Standardmaterialien basieren, diese werden allerdings weiterentwickelte oder neue Eigenschaften aufweisen. Beispiele dafür sind die aktuellen manganhaltigen Leichtbaustähle mit höchsten Festigkeiten oder die neuen Magnesiumlegierungen mit verbesserten Kriecheigenschaften. In Abb. 48 wird die Trendentwicklung für die drei Hauptklassen Stähle, Leichtmetalle und Kunststoffe dargestellt. Dabei wird allgemein davon ausgegangen, dass der Anteil von Kunststoffen mittelfristig auf ca. 20 Gew. % zunimmt [32] . Hintergrund dafür ist die auch in der Automobil-Großindustrie zunehmende Verwendung von Karosserie Anbauteilen aus Kunststoff. Hochleistungsfaserverstärkte Kunststoffe im Last tragenden Strukturbereich werden heute vor allem im Premiumsektor eingesetzt. Langfristig können diese zumindest im Bereich der mittleren Serien Platz greifen.

Abb. 48 Anteil der Werkstoffklassen in Gew.% im Automobil nach [32]

344 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

Aluminium und Magnesium unterstützen gezielt den Fahrzeugleichtbau. Die Leichtmetalle werden mittelfristig ebenfalls mit ca. 20 Gew.- % vertreten sein. Hochfeste Stahlgüten und maßgeschneiderte Technologien werden auch weiterhin dem Fahrzeugbau technische und wirtschaftliche Impulse liefern. Bezüglich der Fahrzeugstruktur wird die Mischbauweise (Multi Material Design) eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Darüber hinaus können neue Werkstoffklassen wie Smart Materials und Nanowerkstoffe zusätzliche Eigenschaften oder technische Effekte im Automobil der Zukunft realisieren. Smart Materials besitzen u. a die Eigenschaft, auf Veränderungen der Umgebung bzw. der Betriebsbedingungen zu reagieren. Dies kann mit einem sensorisch und aktorisch konzipierten, externen Regelkreis dargestellt werden (aktive Systeme). Als Beispiele dafür wurden Piezokeramiken und Formgedächtnislegierungen beschrieben. Langfristig wird davon ausgegangen, dass aktive Systeme die sensorischen und aktorischen Fähigkeiten als integrale Bestandteile aufweisen und damit gewissermaßen „selbstentscheidend“ sind (intelligente Systeme). Es wird davon ausgegangen, dass die Verbindung von derartigen intelligenten Systemen mit Effekten der Selbstheilung bzw. -regeneration in Zukunft zu symbiotischen Systemen führen kann (Abb. 49). Denkbar wären etwa Matrixeinlagerungen von Polymeren, die im Falle einer Schädigung (Riss, Kratzer etc.) aushärten und damit den Schaden„reparieren“. Nach ähnlicher Logik könnten gradientengesteuerte Diffusionsstoffströme aus dem Materialinneren dann aktiviert werden, wenn durch eine Maßnahme an der Oberfläche z. B. die Grenzflächenenergie verändert wurde und wieder hergestellt werden soll.

Abb. 49 Werkstoffsysteme der Zukunft:Aktive Materialien

Die Evolution der aktiven Materialien wird deutlich von der Weiterentwicklung nanoskaliger Werkstoffe getrieben. Aber auch klassische Materialeigenschaften wurden bereits durch Nanotechnologien optimiert. Beispiele für Beschichtungen sind antireflektierende und/oder beschlagsfreie Oberflächen, kratzfeste Lacke und Verschleißschutzschichten. Eine andere Zielsetzung versucht durch nanoskalige Partikel die Eigenschaften von Kunststoffen und Metallen zu verbessern. Dies betrifft die mechanischen Eigenschaften (Festigkeit, E-Modul etc.) und die Verarbeitungsei-

Horst E. Friedrich et al. 345

genschaften (Fließfähigkeit, Zykluszeiten im Prozess etc.). Im Rahmen der Forschungs- und Entwicklungsstrategie „Hybrid3“des Instituts für Fahrzeugkonzepte, DLR e. V., wird daran gearbeitet, neben der Synthese der verschiedenen Werkstoffe (1) und angepassten Bauweisen (2), insbesondere die Integration zusätzlicher technischer Effekte (3) in die Konzeption und Konstruktion zu ermöglichen. So wird etwa an strukturintegrierten Gas- / H2 -Speichermaterialien oder an transparenten Strukturen gearbeitet. Grundsätzlich wird die Vielfalt an Werkstoffen weiterhin stark zunehmen. Werkstofftechniken als querschnittliche Fachdisziplin spielen eine vitale und für den Ingenieur obligatorische Rolle im Innovations-Konzert von Bauweisen, Werkstoffeigenschaften und Herstellverfahren für die Zukunft des Automobils. Sie leisten einen konzeptbestimmenden Beitrag, um in Zukunft die Mobilität umweltverträglich, finanzierbar und verzichtfrei zu gestalten.

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346 Werkstoffe und Bauweisen ermöglichen neue Fahrzeugkonzepte

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Horst E. Friedrich et al. 347

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Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge unter den Einflüssen von Globalisierung und Lokalisierung

Bharat Balasubramanian

1

Zusammenfassung

Der Produktentstehungsprozess in der Kraftfahrzeugentwicklung ist durch die wachsende Produktvielfalt sowie einem sehr dynamischen Wettbewerb hohen Herausforderungen unterworfen. Um die Kundenwünsche mit Premium-Produkten der Marke MercedesBenz zu erfüllen, sind hierzu produktorientierte Entwicklungsprozesse erforderlich. Der Einsatz neuer Entwicklungstechniken und -methoden ermöglicht diese spezifischen Prozessanpassungen. Um diese Flexibilität erfolgreich leben zu können, ist die Qualifikation und die Motivation der an der Produktentstehung beteiligten Mitarbeiter von höchster Priorität.

2

Einleitung

Die Produkt- und Prozessqualität sind eng miteinander verknüpft. Die Erfüllung der Produktqualität im Umfeld immer weiter wachsender Produktkomplexität und steigendem Wettbewerb wirkt sich auf die Prozesse in der Kraftfahrtzeugentwicklung zwangsläufig aus (Abb. 1 und 2).

350 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Abb. 1 Veränderung der Produktentstehung (früher/heute)

Abb. 2

Innovationen im Automobilbau durch Mercedes-Benz

Bharat Balasubramanian 351

3

Der Entwicklungsprozess der Mercedes Car Group

In der Entwicklung der Mercedes Car Group wurde vor über zehn Jahren begonnen, das Mercedes-Benz Development System (MDS) zu entwickeln. Vorrangiges Ziel des MDS ist es, mittels einer klar definierten Produktentstehungsmethodik die Kundenanforderungen in ein optimal für den Kunden und den Markt ausgerichtetes Produkt zu überführen (Abb. 3).

Abb. 3 Kundenorientierte Produktentwicklung und Komplexität anhand der neuen S-Klasse

Hierzu wurde mit dem MDS eine konsequente Beschreibung von standardisierten Prozessen sowie der Abfrage des Reifegradstatus mittels sogenannter Quality Gates eingeführt (Abb. 4). Wesentliche Schritte auf dem Weg dorthin waren: • Festlegen der wesentlichen Beteiligten (Kunden/Lieferanten) der Teilprozesse im Gesamtprozess • Definieren von Input-/Outputbeziehungen zwischen den Beteiligten in Form von Messgrößen • Unterteilen des Gesamtzeitraumes der Produktentstehung in überschaubare und wesentliche Etappenziele (Quality Gates/ QGs) • Bewerten der Übereinstimmung zwischen Kundenanforderungen und realisierter Lieferantenleistung (Erfüllungsgrad von Messgrößen)

352 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Abb. 4

3.1

Schematische Darstellung der Prozesse, Meilensteine und Quality Gates

Quality Gates für Transparenz und Konsequenz im Entwicklungsprozess

Quality Gates markieren im MDS Anfang beziehungsweise Ende wesentlicher Prozessabschnitte. Nur wenn zu diesen Zeitpunkten im Prozess die definierten Anforderungen an Produkt- und Prozessreifegrad erfüllt sind, wird das Quality Gate durchschritten. Bei Nichterfüllung eines Quality Gate gilt es Maßnahmen zu beschließen und zu ergreifen, die geeignet sind, das „Zugangstor für Qualität“ im zweiten Anlauf erfolgreich zu durchschreiten. Dies erfolgt gemäß einem eindeutig definierten QG-Prozesses mit klar definierten Regeln (Abb. 5). Um die Verbindlichkeit und die bereichsübergreifende Wirkung der Quality Gates sicherzustellen, sind diese Berichts- und Entscheidungstermine auf Vorstands- beziehungsweise Geschäftsleitungsebene etabliert.

Bharat Balasubramanian 353

Abb. 5

3.2

Kurzinfo zu Quality Gates

Anwendung des Standardproduktentstehungsprozesses im Fahrzeugprojekt

Da in der Produktentstehung nicht jedes Fahrzeugprojekt die gleiche technische Komplexität beziehungsweise Ausprägung aufweist, muss auch der Produktentstehungsprozess entsprechend adaptiert werden. Ein wesentliches Kriterium ist hierbei der Grad der Übernahmeumfänge von bereits bekannten Konzepten und Technologien und der Umfang von Änderungen beziehungsweise Innovationen, welche entwickelt und abgesichert werden müssen. Da dies zu einem weiten Spektrum möglicher Produktausprägungen führt, wurde mit bedarfsorientierten Standardprozessen reagiert, welche von innovativen Neuprojekten bis hin zu Facelift-/Modellpflegeprojekten die Produktentstehung beschreiben. Diese standardisierten, nach festen Prämissen eingeteilten Produktentstehungsprozesse sind nun mit geringen Änderungen projektspezifisch zu adaptieren. Dabei ist die Abweichung vom Standardprozess im geringen Maße innerhalb der Teilprozesse, nicht aber in den signifikanten Inhalten und Zeitpunkten der Quality Gates zulässig. Das Einhalten der Prozesse ist insbesondere hinsichtlich einer langfristigen, strategischen Produktpla-

354 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

nung und transparenten und synchronisierbaren Produktentstehung von großer Bedeutung. Ein dementsprechend neu geplantes Fahrzeugprojekt wird im Verlauf der Produktentstehung mit allen Erfahrungen und festgestellten Ereignissen analysiert und gegebenenfalls rückwirkend im Standardprozess berücksichtigt. Dieser kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) wird für den MDS zentral in der Entwicklungsorganisation unterstützt (Abb. 6).

Abb. 6

4

Anwendung des Standards in Fahrzeugprojekte

Herausforderungen an den Produktentstehungsprozess

Grundsätzlich ist der Produktentstehungsprozess das Bindeglied um die Anforderungen des Marktes – oder in anderen Worten die Kundenwünsche – in ein attraktives Produkt umzusetzen (Abb. 7). Konfrontiert mit expandierenden Märkten und diversifizierten, kundenspezifischen Mobilitätsanforderungen sowie regional ausgeprägten Zertifizierungs- und Ökologieanforderungen ist jeder OEM mit seinem Produktportfolio und somit mit seinem gesamten Produktentstehungsprozess weltweit enormen Herausforderungen ausgesetzt.

Bharat Balasubramanian 355

Abb. 7 rung

4.1

Produktentstehungsprozess als Mittel zur Erreichung der Marktanforde-

Herausforderung der Globalisierung

Gerade im zunehmend intensiveren und globaler werdenden Wettbewerb sind innovative Premium-Produkte der Mercedes Car Group nur durch optimierte und stabile Prozesse mit frühzeitig und konsequent integrierten Partnern zu entwickeln,zu produzieren und zu vermarkten.Um auf globale Anforderungen eingehen zu können und Innovationen marktgerecht zu entwickeln, sind in der Forschung und Entwicklung der MCG zur Zeit weltweit zirka 10 400 Mittarbeiter beschäftigt (Abb. 8). Eine Synchronisation und Konsolidierung der internen als auch der externen Entwicklungsleistungen ist dabei eine der größten Aufgaben für eine erfolgreiche Produktentstehung (Abb. 9). Das Mercedes-Benz Technology Center in Sindelfingen und Untertürkheim als „Herz der Entwicklung“ trägt dabei die entscheidende Rolle (Abb. 10).

356 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Abb. 8

Abb. 9

Forschungs- und Entwicklungsstandorte der Mercedes Car Group

Integration von Entwicklungspartner in die Produktentstehung

Bharat Balasubramanian 357

Abb. 10 heim

Das Mercedes-Benz Technology Center in Sindelfingen und Untertürk-

Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Integration aller beteiligten Partner in den Produktentstehungsprozess ist unter anderem der Einsatz von standardisierten IT–Lösungen wie zum Beispiel der Einsatz von DIALOG/Smaragd als führendes MCG spezifisches Dokumentations- und Engineering Data Management-Tool (Abb. 11 und 12).

Abb. 11 Auswahl einiger standardisierter IT-Tools der Mercedes Car Group

358 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Abb. 12 „Smaragd“ – Führend im Engineering Data Management

Neben den weiteren Herausforderungen der Globalisierung wie beispielsweise der Verwendung unterschiedlicher Sprachen und Begriffe oder kultureller Unterschiede, wirken sich natürlich auch rechtliche und politische Rahmenbedingungen auf die Prozesse aus. So sind gegebenenfalls zertifizierungsrelevante Besonderheiten, wie zum Beispiel die höheren Anforderungen des Fußgängerschutzes in Japan zu berücksichtigen, die sich auf die Fahrzeugkonzeption und die Markteinführung auswirken. 4.2

Integration von Entwicklungsleistungen in ein Gesamtfahrzeug am Beispiel der neuen C-Klasse

Um die differenzierten Entwicklungsleistungen in ein Gesamtfahrzeug zu integrieren und technisch abzusichern, ist es im Rahmen des Produktentstehungsprozesses unverzichtbar, auf die Techniken der virtuellen Absicherung zu setzen. Die Produktentstehung der neuen C-Klasse, in deren Rahmen dies bereits mit der Einführung von sogenannten Digitalen Prototypen (DPT) erfolgreich umgesetzt wurde, soll dies exemplarisch aufgezeigt werden.

Bharat Balasubramanian 359

Mit einer Datenmenge von rund 2.130 Gigabyte generierten die Berechnungsexperten ein vollständiges virtuelles Abbild des Fahrzeuges aus rund 1,9 Millionen einzelnen Elementen. Allerdings wurde der Digitale Prototyp nicht als ganzes Fahrzeug simulationstechnisch untersucht. Das wäre alleine aufgrund der enormen Datenmenge und der dafür notwendigen Rechenleistung und Software nicht möglich. Stattdessen ist das Fahrzeug durch die Fachexperten in die wichtigsten Funktionen, die seine grundlegenden Eigenschaften beschreiben, aufgeteilt worden. Das sind neben der passiven Sicherheit unter anderem auch der Geräusch-, Schwingungsund Abrollkomfort (Abb. 13 und 14), die Betriebsfestigkeit der Karosserie und des Fahrwerks, die Strömung und Aerodynamik, das Energiemanagement, die Klimatisierung und das Fahrverhalten. Erstmals wurden auch Fahrzeugfunktionen betrachtet, die bis dato überhaupt nicht digital abgesichert wurden, wie zum Beispiel die thermische Absicherung des Gesamtfahrzeugs.

Abb. 13

Beispiel einer virtuellen Erprobung anhand des DPT

360 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Abb. 14

4.3

Beispiel einer virtuellen Erprobung anhand des DPT

Bestätigung der Mercedes-Qualität durch eine konsequente Hardwareerprobung

Der hohe Produktreifegrad, der unter anderem durch die Anwendung der Digitalen Prototypen erzielt wurde, wurde im Rahmen der realen Fahrzeugerprobung eindrucksvoll bestätigt. Als die C-Klasse im Frühjahr 2007 auf den Markt kam, hat die Limousine das bislang größte Testprogramm in der Mercedes-Geschichte absolviert. In dreieinhalb Jahren legten Prototypen und Vorserienmodelle bei Tests in allen Teilen der Erde (Abb. 15) insgesamt mehr als 24 Millionen Kilometer zurück. Diese Extremleistung entspricht 600 Umrundungen des Äquators oder rund 62mal der Strecke von der Erde zum Mond! Ebenso umfangreich und intensiv war die Erprobung auf den Prüfständen des Mercedes-Benz Technology Centers in Sindelfingen. Hier bestanden Karosserie und Fahrwerk mehrmals hintereinander härteste Tests, die in wenigen Wochen die Beanspruchung eines ganzen Autolebens simulierten. Jeder Kilometer dieser Betriebsfestigkeits-Prüfungen, die MercedesBenz zusätzlich auch auf sehr anspruchsvollen Versuchsstrecken durchführt, ist rund 150mal strapaziöser als der Auto-Alltag. Solche Tests bestätigen die hohe Langzeitqualität der Mercedes-Personenwagen.

Bharat Balasubramanian 361

Abb. 15

4.4

Hardwareabsicherung zum Nachweis der Produktqualität

Produktqualität durch Premium-Prozesse und hochqualifizierte Mitarbeiter

Prozesse können nur erfolgreich gelebt werden, wenn die gemeinsam an einem Ziel arbeitenden Menschen die Abläufe kennen und in der Lage sind, die Leistungen in der vereinbarten Zeit mit der vereinbarten Qualität zu erbringen. Durch die steigende Vielfalt der Fahrzeugausprägungen und der Flexibilität der digitalen Entwicklung entstehen produktoptimierte Ausprägungen des Entwicklungsprozesses. Diese Variationen von Prozessen erfordern von den Mitarbeitern sehr gute Kenntnisse der Abläufe sowie Flexibilität in den Projekten. Die Erschließung der individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen Mitarbeiters ist die Voraussetzung dafür, schnell auf die Vielfalt der Anforderungen reagieren zu können.

362 Entwicklungsprozesse für Kraftfahrzeuge

Literatur 1. Automobil Produktion März 2007 Sonderausgabe Mercedes-Benz CKlasse 2. DaimlerChrysler TechnologyTimes März 2007 Vorsprung durch Berechnung 3. MTC Intranetpublikation TecDay: Die Erprobung der Neuen C-Klasse 4. Qualität für Markterfolge Der neue Produktentstehungsprozess für Mercedes-Benz PKW

Die Zukunft der Unfallrekonstruktion

Hartmut Rau

1

Rückblick

Die Analyse und Rekonstruktion von Verkehrsunfällen ist ein junges Forschungsgebiet. Sicher hat es vor der Motorisierung des Verkehrs auch Unfälle gegeben. Es sind Kutschen miteinander kollidiert, es sind Fußgänger von Kutschen überrollt worden. Obwohl es dazu wenig Überliefertes gibt, wird man sich auch in jenen Zeiten gefragt haben, wie es dazu kommen konnte und wer die Schuld an dem Unglück trägt. Mit der Verwendung von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr – in dem noch heute gebräuchlichen Wort „Kraftdroschke“ ist diese Zeitenwende lebendig geblieben – hat die Zahl der Unfälle sprunghaft zugenommen. Zwar verfügte in den ersten Jahrzehnten der Motorisierung nur ein kleiner Teil über den individuellen Luxus eines Automobiles. Die schnelle Umsetzung des technischen Fortschrittes mit immer höheren Geschwindigkeiten der Motorfahrzeuge vergrößerte allerdings das Risiko, mit einem solchen Fahrzeug bei einem Unfall großen Schaden anzurichten (Abb. 1). Grundsätzlich ergab sich selbstverständlich schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Notwendigkeit, sich mit jedem einzelnen Unfall zu befassen. Zur Untersuchung der Unfälle und der Unfallursachen gab es bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts jedoch kein technisch-wissenschaftliches Handwerkszeug und es gab auch keine Experten, die sich dieser Sache annahmen. Erst aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen erste Veröffentlichungen, die sich mit der Berechnung von Zusammenstößen von Fahrzeugen beschäftigten. In dem Wort „Zusammenstoß“ steckt bereits der technisch-physikalische Ansatz, mit dem die Kollision von zwei

364 Die Zukunft der Unfallrekonstruktion

Abb. 1 Historisches Unfallfoto, ca. 1920 Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

Fahrzeugen etwa ein halbes Jahrhundert nahezu ausschließlich behandelt wurde. Es handelt sich um die Anwendung der Stoßgesetze, die allerdings aufgrund ihrer engen Definition nicht besonders gut geeignet sind, Kollisionen zwischen zwei Kraftfahrzeugen zu berechnen. Etwas Besseres gab es in den ersten Jahren der systematisch angewendeten Unfallrekonstruktion nicht. Für realitätsnähere Berechnungsmethoden (Stichwort: Kraftrechnung), die mit vielversprechendem Ansatz schon in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA und Deutschland theoretisch entwickelt wurden, standen weder die dazu notwendigen Daten über das Crashverhalten der Fahrzeuge noch entsprechend leistungsfähige Rechner zur Verfügung. Wie in fast allen anderen Wissensgebieten hat der Siegeszug der Computer die Arbeitsweise der Unfallanalytiker verändert und wird es weiter tun, vermutlich mit zunehmender Geschwindigkeit und teilweise die heutige Vorstellungskraft sprengenden Möglichkeiten. Auf einige der im Ansatz erkennbaren neuen Methoden soll nachfolgend eingegangen werden. Für lange Zeit stand bei der Untersuchung von Verkehrsunfällen die juristische Aufarbeitung, d. h. die Klärung der Schuldfrage im strafrechtlichen Sinn und die Frage, wer den entstandenen Schaden zu bezahlen hat, im Vordergrund. Dieser sogenannte forensische Bereich hat lange Zeit die

Hartmut Rau 365

Methoden der Unfallrekonstruktion und auch die Ausbildung und Auswahl der Experten, die sich damit befassten, bestimmt. Erst zwischen 1960 und 1970, als der Begriff der Fahrzeugsicherheit im allgemeinen Bewusstsein der Öffentlichkeit – nicht zuletzt wegen der extrem angewachsenen Zahl von Verkehrstoten pro Jahr – an Bedeutung gewann, entwickelte sich ein weiterer Schwerpunkt bei der Analyse und Rekonstruktion von Verkehrsunfällen. Es galt, Unfälle daraufhin zu untersuchen, woraus sich die Verletzungsgefährdung der Fahrzeuginsassen ergab, und welche äußeren Ursachen zu einem bestimmten Unfallablauf führen. Dieser Aufgabe verpflichtete sich einerseits die Fahrzeugindustrie, in dem sie Forschungsteams etablierte, die schwerpunktmäßig Unfälle mit Beteiligung von Fahrzeugen aus dem eigenen Haus aufnahmen und analysierten. Dieser Aufgabe verpflichtete sich auch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), die von 1972 an Unfallforschung anfangs ausschließlich in Hannover, zeitweise in Berlin und seit einigen Jahren ergänzend in Dresden einrichtete und finanzierte. Neben einer Reihe anderer Institutionen,die weniger im Licht der öffentlichen Beachtung stehen, hat sich seit vielen Jahren der Gesamtverband der Deutschen Autoversicherer (GDV) in großem Unfang der Unfallforschung verschrieben. Er gewinnt seine Erkenntnisse aus dem zwangsläufig anfallenden Material der eigenen Unfallakten.

2

Ausblick

Fragt man sich, wie sich die Unfallrekonstruktion in den nächsten Jahren und in der weiteren Zukunft entwickeln und damit auch verändern wird, sind eine Reihe von Einzelaspekten von Bedeutung. 2.1

Unfallaufnahme, Dokumentation von Schadenbildern

Jede Unfallanalyse beginnt mit der Unfallaufnahme, d. h. der Sammlung der Anknüpfungstatsachen, wie Spuren auf der Fahrbahn, Schäden an den Fahrzeugen, dem Verletzungsbild u.a.m. Eigentlich beginnt die Unfallanalyse schon mit der Meldung eines Unfalls bei der Polizei bzw. den Rettungskräften, sowie der schnellstmöglichen Bergung und Versorgung der Verletzten. Das soll allerdings nicht Gegenstand dieses Beitrages sein, wenngleich auch dabei weitreichende Veränderungen zu erwarten sind, etwa die automatische Meldung eines Unfalls, z. B. nach einer Airbagauslösung mit der gleichzeitigen genauen Ortsbestimmung über die zunehmend verbreiteten Navigationsgeräte. Oblag es über Jahrzehnte der Polizei, teilweise mit der Unterstützung von Sachverständigen, einen Unfallort auf konventionelle Weise mit dem Maßband und dem Roller zu vermessen und zu fotografieren, wird dies zukünftig durch die Dokumentation des Unfallortes mit 3 D-Scannern er-

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setzt werden. Die Vorteile einer ganzheitlichen Unfallaufnahme, d. h. die Präzision und die spätere Nachprüfbarkeit, wurden schon in der Vergangenheit durch rein fotografische Verfahren (Stichwort: Stereofotografie) genutzt. Mit den heute zur Verfügung stehenden 3 D-Scannern kann nicht nur die eigentliche Unfallstelle selbst mit hoher Genauigkeit abgebildet werden, sondern z. B. auch das Umfeld (Abb. 2). So ist es möglich, sich in stärkerem Maß als bisher mit der Phase vor dem Crash, d. h. der Einleitung des Unfalls und den Ursachen zu befassen. In anderen Fachrichtungen, z. B. der Architekturdokumentation oder der Abbildung von Tatorten bei Verbrechen werden 3-D Scanner schon länger verwendet (Abb. 3).

Abb. 2 3 D-Scan einer Unfallörtlichkeit Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

Ergänzt wird diese neue Technik der Unfallorterfassung durch immer präzisere Satellitenaufnahmen etwa von Google Earth oder durch andere Luftbildaufnahmen. Abbildung 4 zeigt ein komplexes Spurenbild aus einem Hubschrauber. In Abb. 5 ist das daraus abgeleitete Rekonstruktionsergebnis dargestellt. Ein Großteil der Erde ist heute schon so präzise von Satelliten erfasst, dass man sich fast über jeden Unfallort auf der Welt zumindest nachträglich ein maßstabsgerechtes und präzises Bild verschaffen kann. Hinzu kommt, dass für die neuen Generationen von Navigationsgeräten und die weitergehende Nutzung von Google Earth die Straßen ganzer Städte durch Abfahren visualisiert werden. Bei aller Euphorie über die Leistungsfähigkeit der neuen Aufnahmetechnik bei der Abbildung von Unfallorten mit 3 D-Scannern muss man sich aber auch klar machen, welcher ernorme Kostenaufwand erforderlich ist, alle Polizeibehörden der Länder z. B. allein in Deutschland mit dieser neuen Technik auszurüsten. Bei der rasanten Weiterentwicklung dieser Technik könnten die Geräte schon wieder veraltet sein, wenn die Polizei sie nach

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Abb. 3 Dienst

Beispiele für 3 D-Scans Quelle: Stadtpolizei Zürich, Wissenschaftlicher

Abb. 4 Hubschrauberfoto einer komplexen Spurenlage nach Räumung der Unfallfahrzeuge Quelle: Unfallanalyse Berlin

einem erfahrungsgemäß langen Beschaffungsverfahren eingeführt hat. Für eine heute überschaubare Zeit wird es immer Unfallorte geben, die nicht in vertretbarer Zeit und mit vertretbarem Aufwand von den mit bester

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Abb. 5 Rekonstruktion des Unfallablaufs auf der Grundlage des Luftbildes der Spurenlage Quelle: Unfallanalyse Berlin

Technik ausgerüsteten Experten erreicht werden können. Es wird auch in Zukunft eine Abwägung erfolgen müssen, wie schwer ein Unfall eigentlich sein muss, um mit aufwendiger Technik aufgenommen zu werden. Bei Kollisionen zwischen zwei und mehr Kraftfahrzeugen im hohen Geschwindigkeitsniveau mit Getöteten und Schwerverletzten ist die Entscheidung unproblematisch. Was geschieht aber z. B. bei Fußgängerunfällen, bei denen häufig fast keine Spuren vorhanden sind, oder sich die Spurenlage nach dem Unfall in kurzer Zeit schnell nachteilig ändert? Was ist mit Alleinunfällen auf abgelegenen Straßenabschnitten, bei denen die Schuldfrage häufig eindeutig ist, oder bei Unfällen mit erheblichen Sachschäden aber ohne Personenschaden? Bei der Unfallaufnahme der Zukunft wird die Zeitersparnis bei hoher Effektivität im Vordergrund stehen. Der Einsatz modernster Aufnahmetechnik wird sich grundsätzlich durchsetzen. Auch bei optimistischer Annahme des zukünftigen Einsatzes neuester Technik wird es parallel dazu noch lange den Polizeibeamten geben, der mit Maßband oder Roller eine Spur oder einen Unfallort vermisst. Es ist abzusehen, dass sich bei der Nachbearbeitung von Unfällen durch Sachverständige, z. B. bei der Aufnahme und Auswertung von Schadenbildern an Fahrzeugen, die 3-D-Scannertechnik schnell durchsetzen wird. Präzise können wichtige Eingangsgrößen für die Rekonstruktion, z. B. die Größe der Deformationsenergie, abgeleitet werden. Die Abb. 6 bis 9 zeigen dazu Beispiele. Ist die Unfallaufnahme abgeschlossen, beginnt die eigentliche Rekonstruktionsarbeit. In Deutschland befassen sich damit, außer in der Unfallforschung, vor allem selbständige Sachverständige. In vielen europäischen

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Abb. 6 3 D-Scan eines beschädigten Pkw Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

Abb. 7 3 D-Scan der Frontbeschädigung eines Pkw mit Auswertung der Verformungstiefe in einer bestimmten Höhenlage Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

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Abb. 8 3 D-Scan der Frontbeschädigung eines Pkw mit Auswertung der Verformungstiefe in einer weiteren Höhenlage Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

Ländern, z. B. in Holland, Frankreich und England werden Unfälle von Sachverständigen der Polizei rekonstruiert. Da jeder Unfall einmalig ist,ist auch die Untersuchung und Klärung eines jeden Unfalls im Grunde ein einmaliger Vorgang. Das schließt nicht aus, dass bei bestimmten Unfallarten Systematiken erkannt werden und sich bei statistisch relevanten Fallzahlen auch Gemeinsamkeiten herausbilden. Jeder Sachverständige, der die Umstände und Ursachen eines Unfalls zu klären versucht, steht im Grunde vor dem Problem, die Widersprüche, die sich fast immer auftun, mit seiner Lösung zu minimieren. So gesehen ist die Unfallrekonstruktion keine sehr exakte Wissenschaft. Nur theoretisch gibt es zu jedem Unfall eine technisch-physikalisch eindeutige Lösung. Diese einzige, eindeutige Lösung, die selbstverständlich auch physiologische und selbst psychologische Gegebenheiten der beteiligten Personen einschließt, wird auch in keiner denkbaren Zukunft irgend ein Experte herausfinden können. So komplex das Unfallgeschehen ist, so vielfältig sind die Wege und Methoden, derer sich Sachverständige zur Klärung eines Unfallablaufs bedienen. Hinzu kommen noch die individuellen Fähigkeiten des Rekonstrukteurs.

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Abb. 9 Vergleich der 3 D-Scans eines beschädigten Pkw mit einem unbeschädigten Pkw Quelle: Stadtpolizei Zürich, Unfalltechnischer Dienst

Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, auf die Vielzahl der Methoden der Unfallrekonstruktion und ihre mögliche zukünftige Entwicklung einzugehen. Herausgegriffen seien zwei „Methoden“ der Unfallrekonstruktion, die teilweise sogar etwas in Konkurrenz zu einander stehen. Tatsächlich könnte man fast von zwei „Schulen“ der Unfallrekonstruktion sprechen. Es handelt sich zum einen um die Untersuchung, Berechnung, letztlich das Nachvollziehen und die Präsentation eines Unfallgeschehens durch Simulation. Zum anderen handelt es sich um die Durchführung von Versuchen. Natürlich besteht zwischen beiden Methoden nicht wirklich Konkurrenz oder gar ein Widerspruch. Dies schon deswegen nicht, weil bis heute und wohl auch in der absehbaren Zukunft die Simulationsverfahren durch Versuche verifiziert werden müssen. 2.2

Simulationsverfahren

In den vergangenen Jahren haben in Deutschland und im größten Teil Europas im Wesentlichen zwei Simulationsprogramme zur Berechnung von Unfällen miteinander konkurriert. Es handelt sich um das Programm Carat der Firma IbB aus Deutschland und das Programm PC-Crash der Firma DSD aus Linz, Österreich. Beide Programme haben als Basis ein mathematisches Fahrzeugmodell zur Berechnung des fahrdynamischen Verhaltens

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der Fahrzeuge unter der Einwirkung äußerer Kräfte und ein mathematisches Fahrzeugmodell zur Berechnung der eigentlichen Kollision zwischen zwei Körpern, z. B. zwei Pkw. Da die mechanisch-physikalischen Grundlagen allgemein gelten, unterschieden sich die Programme anfangs nur geringfügig voneinander. Sie waren in der Anfangsphase nahezu ausschließlich auf die zweidimensionale Berechnung von Kollisionen zwischen zwei Fahrzeugen ausgerichtet. Dabei wurden zunächst die Stoßgesetze in der klassischen Form angewendet. Die Verfeinerung der Programme erfolgte vor allem in Details, wie zum Beispiel der Verwendung möglichst realitätsnaher Reifenmodelle, um das Auslaufverhalten der Fahrzeuge nach der Kollision den realen Bedingungen anzupassen. Weiterer Aufwand wurde betrieben, um die geometrische Nachbildung der Fahrzeugmodelle zu verbessern und von der zweidimensionalen zur dreidimensionale Berechnung überzugehen. Eine unüberwindliche Hürde war lange Zeit die Betrachtung der Kollision zweier Fahrzeuge als Stoß, der theoretisch in einer unendlich kurzen Zeit abläuft. Mit diesem Ansatz gab es keine zeitliche Auflösung der eigentlichen Berührungsphase mit der Berechnung von Kräften und Momenten während der Kollision. Zwar läuft die Kollision zwischen zwei Fahrzeugen während des Kontaktes tatsächlich in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne ab, in der Größenordnung sind es ein bis zwei Zehntelsekunden. Mathematischphysikalisch ist das aber eine sehr lange Zeit und es schien wünschenswert, diese Kontaktphase in ihrem zeitlichen Verlauf betrachten zu können. Die Forscher und Entwickler in der Fahrzeugindustrie befassen sich, was die passive Sicherheit betrifft, fast ausschließlich mit dieser kurzen Zeit des Kontaktes zwischen zwei Fahrzeugen bzw. einem Fahrzeug und einem Objekt, z. B. einer Wand bzw. einem Pfahl. In dieser kurzen Kontaktphase muss die Kollision als solche erkannt werden, es müssen die Gurtstraffer und die Airbags aktiviert werden und diese müssen, ebenso wie die Gurte, schließlich ihre Arbeit zum Schutz des Fahrzeuginsassen verrichten. Bei der Weiterentwicklung der passiven Sicherheit besteht die Zielsetzung z. Zt. darin, einen drohenden Crash schon eine bestimmte Zeit vor dem eigentlichen Kontakt der Fahrzeuge zu erkennen, um die Systeme ohne Zeitverlust während des Crashs im Vorhinein aktivieren zu können. Bei der Fahrzeugentwicklung bediente man sich zur Berechnung der eigentlichen Kollisionsphase der Methode der finiten Elemente.Dahinter verbirgt sich ein mechanisches Modell der Struktur der Fahrzeuge, mit dessen Hilfe Kräfte und Momente bei der Verschiebung einzelner Strukturpunkte berechnet werden. Mit der Methode der finiten Elemente können reale Crashbedingungen inzwischen fast exakt berechnet werden. Insofern wäre es eigentlich ein ideales Werkzeug, um Fahrzeugkollisionen für die Unfallrekonstruktion zu berechnen. Der Nachteil dieser Berechnungsmethode liegt in der sehr langen Rechenzeit bei ohnehin hoher Rechnerkapazität. Es wird daher schnell die Grenze der Möglichkeiten des alltäglichen Ge-

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schäfts der Unfallrekonstruktion erreicht. Der „normale“ Sachverständige verfügt nicht über die erforderlichen Rechenkapazitäten. Vielleicht noch entscheidender ist, dass der finanzielle Aufwand für ein durchschnittliches Gutachten nicht mehr vertretbar bzw. mit dem Rechtsinteresse in Strafund Zivilprozessen nicht mehr vereinbar wäre. Um die zeitliche Auflösung der Stoßphase zu erreichen, wurde auch mit der Verwendung von Mehr-Körper-Systemen (MKS-Modell) experimentiert. Dahinter verbirgt sich, dass die miteinander kollidierenden Körper durch Ellipsoide nachgebildet werden, die durch Gelenke miteinander verbunden sind. Den Körpern und Gelenken werden mechanische Eigenschaften zugeordnet. Bei der Nachbildung des menschlichen Körpers hat sich diese Methode bewährt. So wird die Belastung der Fahrzeuginsassen durch Gurte, Airbags und die sonstigen Strukturen des Innenraums nach dieser Methode berechnet. Auch die Berechnung der Belastung eines angestoßenen Fußgängers kann mit diesem Ansatz realitätsnah nachgebildet werden. Für die Berechnung von Fahrzeug-Fahrzeug-Kollisionen hat sich dieser Ansatz nicht bewährt. Als Ausweg aus dem Dilemma, einerseits ein möglichst realitätsnahes Kollisionsmodell zu verwenden und andererseits die Simulation mit vertretbarem Zeit- und Kostenaufwand durchzuführen, wurde das sogenannte steifigkeitsbasierte Stoßmodell entwickelt. Hierunter verbirgt sich der Ansatz, die Außenkontur der starren Körper durch Ellipsoide zu beschreiben. Durchdringen sich die Ellipsoide zweier Körper, können nach einer zuvor festgelegten Steifigkeitsfunktion Kontaktnormalkräfte und daraus abgeleitet auch Reibungskräfte in der Berührungsebene berechnet werden. Der Nachteil dieses Ansatzes ist weiterhin, dass die Stoßkörper sich infolge der Kollisionen nicht verformen und für nachfolgende Stöße stets die gleiche Ausgangssteifigkeit haben. Die Weiterentwicklung dieses Ansatzes ist im Programm PC-Crash das sogenannte Mesh-Kontaktmodell. Hierbei wird das Fahrzeug in einzelne kleine Flächen (Maschen-Gitter) aufgeteilt, die der äußeren Fahrzeugform entsprechen. Abb. 10 und 11 zeigen die Berechnung einer Pkw-PkwKollision mit dem Gitter-Modell. Das Gittermodell ist in der Lage, sich zu verformen und die Änderung der Eigenschaften z. B. der Steifigkeit infolge der Verformung zu speichern. In der grafischen Darstellung kann die Stärke der Verformung anschaulich farblich dargestellt werden, Abb. 12. Ist das so verformte Fahrzeug in eine weitere Kollision verwickelt, werden die veränderte Konturform und die Änderung der Steifigkeit infolge der Verformung bei der neuerlichen Kollisionsberechnung berücksichtigt. Die Berechnung z. B. eines Pfahlanpralls erfolgt mit dem gleichen Modellansatz, wobei der Pfahl ersatzweise die Rolle des zweiten Kollisionspartners übernimmt. In ähnlicher Weise wird bei der Berechnung von Überschlägen verfahren. In diesem Fall ist der Untergrund der zweite Kollisionspartner.

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Abb. 10 Beispiel des Maschengitters im Mesh-Kontaktmodell von PC-Crash Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

Abb. 11 Beispiel für Kollisionsberechnung mit dem Mesh-Kontaktmodell von PC-Crash Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

Wie wird die Entwicklung der Kollisionsmodelle weitergehen? Die Zielsetzung aller Verbesserungen hat zwei Randbedingungen. Selbstverständlich ist eine immer größere Annäherung an die Realität gewünscht, wobei nicht nur standardmäßige Kollisionsbedingungen nachvollzogen werden sollen, sondern auch alle nur denkbaren Sonderfälle. Zumindest im forensischen Bereich ist für die überschaubare Zukunft die Einhaltung von akzeptablen Zeit- und Kostenlimits zu beachten. Es ist unrealistisch, dass ein gerichtlich angefordertes Gutachten zwar wissenschaftlich den höchs-

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Abb. 12 Farbliche Darstellung der Verformungsintensität im MeshKontaktmodell von PC-Crash Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

ten Ansprüchen genügt, aber letztlich unbezahlbar ist. Wobei die Unbezahlbarkeit auch tatsächlich einen Einzelnen als Person treffen kann, etwa wenn er nicht rechtschutzversichert ist. Neben der Weiterentwicklung der Fahrzeugmodelle, übrigens nicht nur der Kollisionsmodelle, sondern auch der fahrdynamischen Modelle, wird die realistische Darstellung des Simulationsergebnisses einen immer breiteren Raum einnehmen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern,dass in der Forensik die Abnehmer eines in Auftrag gegebenen Gutachtens in der Regel Juristen,d. h. technische Laien sind. Dennoch sollen sie ein Gutachten nachvollziehen können. Sie können das am besten, wenn sich das Ergebnis einer Simulation wenig von der Realität unterscheidet. Was bedeutet das? Die Fahrzeuge müssen, selbstverständlich dreidimensional, absolut originalgetreu abgebildet sein, am besten auch farblich und in Zubehördetails. Beispiele zeigen die Abb. 13 und 14. Das Umfeld, in dem sich die Fahrzeuge bewegen, sollte idealerweise genau das Umfeld abbilden,in dem sich der Unfall ereignet hat. Das kann man letztlich nur dadurch erreichen, dass die Unfallörtlichkeit in den relevanten Annäherungsrichtungen bis zum eigentlichen Kollisionspunkt und darüber hinaus visuell, d. h. wie in einem Film vorliegt. Durch die heute bereits verfügbaren Darstellungsmethoden ist die Betrachtung der Szene in jedem beliebigen Blickwinkel möglich, so dass man auch den Blick eines unbeteiligten Zeugen z. B. aus seinem Fahrzeug oder von dem Balkon einer im 5. Stock gelegenen Wohnung nachvollziehen kann. In diese visualisierte Unfallortwirklichkeit ist nur noch das Simulationsergebnis einzubauen. Abbildung 15 zeigt Einzelbilder aus der Simulation

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Abb. 13 Realitätsnahe Darstellung von Pkw-Fahrzeugmodellen in PC-Crash Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

Abb. 14 Realitätsnahe Darstellung eines Lkw-Fahrzeugmodells in einer stilisierten Umgebung in PC-Crash Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

des Überholvorgangs eines Motorrades, hineinprojiziert in ein reales Bild. Beim Abspielen als Film kann auch der Betrachter in seinem Fahrzeug in Bewegung sein.

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Abb. 15 Einbindung des simulierten Überholvorgangs eines Motorrades in ein Realbild Quelle: DSD Dr. Steffan Datentechnik, Linz, Austria

Wie man sich leicht vorstellen kann, hat ein derartig visualisiertes Simulations- bzw. Gutachtenergebnis, auf jeden – im besonderen auf technische Laien – eine extreme Suggestivwirkung. Das gilt jedenfalls dann, wenn in der Darstellung alles zu stimmen scheint. Deshalb ist an dieser Stelle vor einer anderen Art von visueller Darstellung zu warnen, die genau so überzeugend sein kann, wie es zuvor für die Darstellung eines tatsächlichen Rekonstruktionsergebnisses erläutert wurde. Gemeint ist die reine Animation eines Unfallablaufes. Darunter versteht man die Darstellung eines vermuteten bzw. fiktiven Unfallablaufes, den man gegebenenfalls so zurecht biegen kann, dass es der jeweiligen Interessenlage entspricht. Bei einer Animation muss keine Simulationsberechnung vorliegen, müssen keine technisch-physikalischen Randbedingungen des realen Falls beachtet werden, so lange der vorgestellte Ablauf nicht in irgendwelchen Punkten dem Erfahrungsschatz des Betrachters widerspricht.

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Ausgezeichnete Beispiele perfekter Animation kann man mitunter bei der Darstellung von Vorgängen in der Raumfahrt sehen, etwa wenn die Landung eines Roboters auf einem anderen Planeten dargestellt wird. Hier kommt idealerweise der mangelnde Erfahrungsschatz des normalen Betrachters zum Tragen. Er erkennt schlicht nicht, was an der Darstellung falsch sein könnte, weil er darüber keine eigenen Erkenntnisse hat. Die Gefahr,dass Fehler in einer Animation nicht erkannt werden,ist groß, wenn es sich um eine visuell perfekte Darstellung handelt. Fast ebenso groß ist allerdings die Gefahr, dem Eindruck eines tatsächlich durch Simulation, d. h.durch mathematische Berechnung,ermittelten Ergebnisses zu erliegen, welches bewusst oder fahrlässig mit falschen Daten erarbeitet wurde. Abgesehen von der Möglichkeit, dass ein durch Simulation gewonnenes Gutachtenergebnis bewusst manipuliert oder nur fahrlässig falsch sein kann, ist noch einmal eindringlich auf Folgendes hinzuweisen. Es gibt zwar theoretisch nur einen einzigen richtigen Unfallablauf. Diesem realen Unfallablauf kann sich der Sachverständige mit dem Ergebnis seiner Rekonstruktion allenfalls annähern. Wie weit er sich tatsächlich dem richtigen Ergebnis annähert, bleibt auch ihm selbst verborgen. Er kann immer nur eine oder mehrere Lösungen aus unendlich vielen weiteren Lösungen anbieten. An dieser grundsätzlichen Problematik wird sich weder in naher noch in ferner Zukunft etwas ändern.Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es immer schwieriger werden, das Simulationsergebnis des einen Sachverständigen durch einen anderen überprüfen zu lassen, noch dazu mit einigermaßen vertretbarem Aufwand. Dazu ist es nämlich erforderlich, die Lösung des ersten Sachverständigen erst einmal in allen Einzelheiten nachzuvollziehen und erst darauf aufbauend möglicherweise mit anderen Überlegungen, Zahlenwerten oder Rechenansätzen eine andere Lösung zu erarbeiten, die aber letztlich wieder ähnlichen Zweifeln unterliegt. Auf die Problematik, wer mit fortschreitender Komplexität der Simulationsprogramme überhaupt noch in der Lage sein wird mitzuhalten, soll weiter unten noch einmal eingegangen werden. Zunächst wird die zweite grundsätzliche Methode der Unfallrekonstruktion und deren Veränderung in der Zukunft näher betrachtet. 2.3 Versuchstechnik Es gibt eine Reihe von Sachverständigen, die der Simulationstechnik nicht so recht über den Weg trauen und dann am glücklichsten sind, wenn sie durch einen Versuch der Aufklärung eines Unfallgeschehens nahe kommen können. Bei der Durchführung von Versuchen handelt es sich im Grunde auch um eine Art von Simulation, die ebenfalls mit erheblichen Einschränkungen gegenüber der Realität verbunden sein kann. Anschaulich und sofort

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nachvollziehbar ist diese These, wenn z. B. ein Fußgängerunfall versuchstechnisch nachgestellt wird. Die Person des Fußgängers muss durch einen Dummy ersetzt werden, was mit vielen Einschränkungen gegenüber der Realität verbunden ist. Das gleiche gilt, wenn es um die Untersuchung des Bewegungsverhaltens oder die Verletzungen von Fahrzeuginsassen geht. Auch in diesem Fall ist der Einsatz von Dummies unausweichlich, jedenfalls dann, wenn man sich in einem Geschwindigkeitsbereich bewegt, bei dem Verletzungen wahrscheinlich werden. Immerhin kann man bei der Rekonstruktion von Fahrzeug-FahrzeugUnfällen mit Hilfe von Versuchen reale Fahrzeuge verwenden, theoretisch sogar genau solche, die den Unfallfahrzeugen entsprechen. Bei der Durchführung von Versuchen zur Aufklärung eines einzelnen Unfalls gerät man, ähnlich wie bei der Simulation, schnell an die Grenze des zumutbaren Zeitund Kostenaufwandes. Man kann nicht eben mal zwei hochwertige und fast neue Fahrzeuge crashen, ganz davon abgesehen, dass die erforderliche Technik und das Versuchsgelände den meisten Sachverständigen nicht zur Verfügung steht. Letztlich verfügen nur wenige Sachverständige über die erforderliche Erfahrung für die Durchführung solcher Versuche. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu. Selbst wenn es möglich sein sollte, die Unfallsituation in ihrer grundsätzlichen Konstellation, z. B. einen Frontalaufprall zweier Fahrzeuge mit Teilüberdeckung versuchstechnisch nachzubilden, wäre es ein reiner Glücksfall, wenn man die theoretisch einzig mögliche Lösung durch einen einzigenVersuch genau treffen sollte.BeiVersuchen liegt das Risiko, anders als bei der Simulation, vor allem darin, dass man sich vorher quasi auf eine wahrscheinliche Lösung z. B. hinsichtlich der Geschwindigkeiten festlegen muss.Lag man mit seiner Einschätzung zu weit daneben, sind die Autos zerstört, was zwar immer einen allgemeinen Erkenntnisgewinn bringt, der Lösung des einzelnen Unfalls ist man aber keinen Schritt näher. Darin vor allem liegt der Vorteil der Simulation, dass man mit wenig Aufwand und nahezu Null Kosten zahlreiche „Versuche“ machen kann. Ist man gezwungen, einen weiteren Versuch zur besseren Annäherung an die Unfallbedingungen durchzuführen, fängt man wieder fast bei Null an und hat noch einmal den gesamten Zeit- und Kostenaufwand. Wie kann man dieser Kostenfalle bei der Durchführung von Versuchen entgehen, und dennoch die Versuchstechnik für sich in Anspruch nehmen? Das naheliegendste ist, auf bereits durchgeführte Versuche von Kollegen oder Institutionen zurück zu greifen. Tatsächlich liegt inzwischen eine große Zahl von Versuchen der verschiedensten Einrichtungen und Institutionen vor. Dazu gehören vor allem Versuche großer Organisationen, wie in Deutschland z. B. von der DEKRA-Automobil GmbH, der Winterthur Versicherung, dem Allianz-Zentrum für Technik. Verdienstvoll sind auch Versuche anderer Institutionen, z. B. der AGU Zürich (Arbeitsgruppe für Unfallmechanik), sowie an Hochschulen in Form von Forschungsprojek-

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Abb. 16 Aufprall Opel Kadett gegen modifiziertes Heck eines stehenden Lkw mit 87 km/h Quelle: www.crashtest-service.com

ten oder Studien- und Diplomarbeiten. An dieser Stelle ist zweifellos das Institut für Fahrzeugtechnik der TU Berlin hervorzuheben, das in diesen Tagen sein 100-jähriges Bestehen begeht. Versuche der Automobilindustrie und der Zulieferindustrie haben häufig eine andere Zielsetzung, so dass sie nur vereinzelt unmittelbaren Nutzen für die Unfallrekonstruktion haben. Die Automobilindustrie ist aus nachvollziehbaren Gründen zurückhaltend mit der Herausgabe von Versuchsergebnissen. Verdienstvoll ist die Versuchsarbeit kleiner und größerer Büros für Unfallrekonstruktion. Seit einigen Jahren sammelt die Firma cts (crash test service) in Münster alle zur Verfügung stehenden Versuchsergebnisse in einer Datenbank, aus der sich jeder Interessierte für die eigene Arbeit gegen Gebühr bedienen kann. Beispiele von Versuchen an unterschiedlichen Forschungseinrichtungen zeigen die Bilder 16 bis 21. Es handelt sich um einen Pkw-Lkw-Heckanprall mit 87 km/h, einem Pkw-Fahrradaufprall mit 92 km/h und zwei Pkw-Pkw Front-Seitenanprallversuche zwischen 40 und 60 km/h. Wo liegen die Grenzen der bisherigen Versuchstechnik und welche Erwartungen richten sich an die zukünftige Versuchstechnik? Die größte Einschränkung bei den bisherigen Versuchen liegt wohl darin, dass die Fahrzeuge in der Regel bei den Crashs nur eine unveränderli-

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Abb. 17

Beschädigungen des Opel Kadett Quelle: www.crashtest-service.com

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Abb. 18 Kollision eines Opel Kadett mit 92 km/h gegen einen stehenden Radfahrer Quelle: Unfallanalyse Berlin

che Geschwindigkeitskomponente haben, in aller Regel parallel zur Fahrzeuglängsachse. Tatsächlich gehen im realen Unfallgeschehen sehr vielen Kollisionen aber Brems-, Lenk- bzw. Schleudervorgänge voraus, d. h. das Fahrerverhalten vor dem Unfall spielt eine maßgebliche Rolle. Für den einzelnen Unfall ist das tatsächliche Fahrerverhalten vor dem Unfall sehr schwer einzuschätzen und daher kaum für die Rekonstruktion eines Einzelfalls durch einen Versuch umzusetzen.Die versuchstechnische Realisierung komplexer Fahrvorgänge vor der eigentlichen Kollision ist sehr aufwendig und daher eine große Herausforderung. Zudem werden ausreichend große Freiflächen benötigt. Nur wenigen Institutionen wird es daher vorbehalten bleiben, systematische Versuche dieser Art durchzuführen. Anzumerken ist allerdings, dass es immer wieder erstaunlich ist, mit welchem Ideenreichtum auch kleine Büros die Versuchstechnik in der Unfallrekonstruktion vorantreiben, etwa mit ferngelenkten Fahrzeugen.Diese Fahrzeuge haben Stellmotoren für das Gaspedal, das Bremspedal, möglicherweise für die Gangschaltung und auf jeden Fall für die Lenkung.Es ist in fast idealer Weise dieVorstellung fahrdynamischer Besonderheiten vor dem eigentlichen Crash zu verwirklichen. Ein systembedingtes Problem ist allerdings, dass zumindest bei höheren Kollisionsgeschwindigkeiten ein Teil der eingebauten Versuchstechnik fast zwangsläufig Schäden davonträgt oder völlig zerstört wird. Der Ersatz ist kosten- und zeitaufwendig.

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Abb. 19 Berlin

Kollisionsstellung und Schäden am Opel Kadett Quelle: Unfallanalyse

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Abb. 20 Beispiel Pkw-Pkw-Kollision Ford Mondeo (schwarz) ca. 40 km/h Opel Vectra (weiß) ca. 60 km/h Quelle: AREC-Tagung 2005, Wildhaus, Schweiz

Fast alle Institutionen und Forschungsstätten, bei denen außerhalb der Fahrzeugindustrie Versuche zur Unfallrekonstruktion durchgeführt werden, leiden darunter, dass die Versuchsflächen in der Regel zu klein sind und in vielen Fällen nicht permanent zur Verfügung stehen. Es kann unter dieser Voraussetzung keine fest installierte Versuchstechnik eingebaut werden. Obwohl statistisch betrachtet die Zahl der Fahrzeug-Kollisionen im hohen und sehr hohen Geschwindigkeitsbereich ( größer 100 km/h) abnimmt, und daher keine vordringliche Priorität für die Durchführung solcher Versuche besteht, sind sie dennoch wünschenswert und sollten in Zukunft auf dem Programm stehen.

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Abb. 21 Beispiel Pkw-Pkw-Kollision Ford Mondeo (blau) ca. 60 km/h Opel Vectra (rot) ca. 60 km/h Quelle: AREC-Tagung 2005, Wildhaus, Schweiz

Je mehr Standardversuchskollisionen bis in den mittleren Geschwindigkeitsbereich abgearbeitet sind, desto eher werden Versuche mit hohen Geschwindigkeiten einschließlich einer fahrdynamisch komplexen Einlaufphase interessant. Die Ergebnisse solcher Versuche werden nicht zum Nulltarif zur Verfügung stehen, sondern den Nutzern der Ergebnisse einen erheblichen finanziellen Beitrag abverlangen, der gegebenenfalls an die Auftraggeber der Gutachten weiter zu geben ist.

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Ausblick auf weitere zukünftige Entwicklungen

Die Ausführungen zur weiteren Entwicklung der Simulations- und Versuchstechnik lassen erkennen, dass auf absehbare Zeit kleine Sachverständigenbüros mit lediglich einem oder einer geringen Zahl von Sachverständigen nicht mehr in der Lage sein werden, alle Anforderungen der Unfallrekonstruktion zu erfüllen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Bezüglich der Versuchstechnik wurde festgestellt,dass der einzelne Sachverständige oder das einzelne Büro schon heute nicht über die notwendigen „Einrichtungen“ verfügt, aufwendige Versuche durchzuführen.Werden diese Versuche an anderer Stelle durchgeführt, können alle Sachverständigen gegen entsprechende Kostenbeteiligung davon profitieren.Allerdings muss man zugestehen, dass die Institutionen, bei denen die Versuche durchgeführt werden, einen Wissensvorsprung haben, den sie gegebenenfalls auch unter Konkurrenzgesichtspunkten einsetzen können und wollen. Bezüglich der Anwendung der Simulationstechnik ist ein anderer Aspekt zu sehen. Schon heute sind die Programme im Grunde so komplex, dass nur noch ausgesprochene Experten mit den Feinheiten und auch mit den Tücken klarkommen.Nur wer sich ständig auf dem neuesten Stand der Programmentwicklung hält und dazu die Programme häufig genug anwendet, kann mithalten. Es werden sich daher Spezialisten für die Anwendung der Programme etablieren, die ebenfalls nur in größeren Büros oder Institutionen bzw. Organisationen ihre Existenzberechtigung haben. Vermutlich werden die Programme auch zukünftig ohne den Nachweis einer entsprechenden Qualifikation des Anwenders frei verkäuflich sein. Die schon heute erkennbare Fehlentwicklung, dass Nutzer Simulationsprogramme ohne ausreichende Qualifikation benutzen, wird sich noch verstärken. Sie werden eigene Fehler bzw. Fehlanwendungen nur dann erkennen, wenn diese ganz offensichtlich zu unsinnigen Ergebnissen führen. Werden dagegen aufgrund mangelnder Sachkunde falsche Ergebnisse produziert, die nicht offensichtlich als solche zu erkennen sind, gehen sie durch. Bei den Juristen ist der einäugige Sachverständige mit seinen falschen aber scheinbar nachvollziehbaren Ergebnissen immer noch der sehende unter den Blinden. Selbständige Sachverständige oder kleinere Büros können die weiter steigenden Anforderungen wahrscheinlich nur dadurch auffangen, dass sie entgegen dem bisher verbreiteten Konkurrenzdenken, sich zu fiktiven Großbüros zusammen schließen. Etwa indem sie Foren im Internet bilden, wo sich durchaus Spezialisten für einzelne Anwendungsgebiete etablieren könnten. Ansätze solcher Zusammenschlüsse sind schon heute zu erkennen. Zweifellos werden die Möglichkeiten der Information durch schon bestehende und neu hinzukommende Internetlexika und Fachdatenban-

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ken erleichtert. Die Wiki-Methode, bekannt geworden durch Wikipedia, wird auch in der Unfallrekonstruktion bereits angewendet. Zumindest in Deutschland ist eine Änderung des Status des Sachverständigen eventuell durch Änderungen in den Straf- und Zivilprozessordnungen vorstellbar. Es wird schon heute diskutiert, die zivilrechtliche Klagemöglichkeit einzuschränken, was durchaus Folgen für die Sachverständigen der Unfallrekonstruktion haben könnte. Auch die bisher durch Gesetz geregelte Vergütung der gerichtlich tätigen Sachverständigen kann Einfluss auf die Zahl und Qualität der zukünftigen Sachverständigengeneration haben. Schließlich kommt man im Rahmen der EU für die weitere Zukunft nicht daran vorbei,sich über eine Vereinheitlichung des Sachverständigenwesens in Europa Gedanken zu machen. Zur Zeit nimmt Deutschland mit seinen überwiegend freiberuflich tätigen Sachverständigen eine Sonderstellung ein. Ob das angesichts der zunehmenden Anforderungen an die Sachverständigen so bleiben wird, ist eher zu bezweifeln, wenngleich sich bisher keine klärenden Tendenzen abzeichnen. International betrachtet ist selbstverständlich ein zunehmender Austausch zwischen den in der Unfallrekonstruktion tätigen Personen sinnvoll. Schon heute werden in anderen Ländern erarbeitete Versuchsergebnisse durch die Möglichkeiten des Internets viel stärker als in der Vergangenheit genutzt. Durch die Globalisierung wird sich eine immer größere Homogenität der Fahrzeugflotten in den einzelnen Ländern herausbilden, so dass Versuchsergebnisse schon aus diesem Grund unproblematischer als bisher von einem Land auf ein anderes übertragbar sind. Versuchs- und Simulationstechnik werden international einheitlichen Standards folgen.