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German Pages 260 Year 2006
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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele Band 49
Dag Kemser
Zeitstücke zur deutschen Wiedervereinigung Form - Inhalt - Wirkung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Die Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, w u r d e gefördert durch ein Stipendium der Ludwig-Maximilians-Universität München, w o f ü r ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. D a r ü b e r hinaus gilt mein D a n k Professor Hans-Peter Bayerdörfer f ü r die Betreuung der Arbeit und Isabel Berckenbrink f ü r kritisches Korrekturlesen, vor allem aber meiner Mutter Irmhild Kemser f ü r ihre inhaltliche und mentale Unterstützung.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 978-3-484-66049-6 ISBN-10: 3-484-66049-X
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhalt
ι.
Einleitung: Z u r Erwartung von Theater als politischem Forum in Deutschland
ι
2.
Unterschiedliche Voraussetzungen 2.1 Politik im D D R - T h e a t e r der 8oer Jahre 2.2 Politik im B R D - T h e a t e r der 8oer Jahre
6 6 21
3.
Vergleichende Statistik und quantitativer Überblick: Stücke zur Wiedervereinigung in den Spielplänen 1990/91 bis 1998/99 3.1 Vorbemerkung zum Wert der empirischen Untersuchung 3.2 Interpretation der empirischen Ergebnisse
32 32 33
4.
Fallstudien zu formaler Gestaltung und inhaltlichen Schwerpunkten . . .
40
4.1
40
Formale Gestaltungsweisen 4.1.1 Geschlossene Dramaturgie: »Karate-Billi kehrt zurück« (Klaus Pohl) 4.1.2 Gebrochener Realismus: »Doppeldeutsch« 4.1.3 4.1.4
4.1.5 4.2
42
(Harald Mueller) Szenenfolge: »Schlusschor« (Botho Strauß) Intertextualität als strukturbestimmendes Prinzip: »Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer D u f t von Bibernell« (Rudi Strahl)
4.2.4 4.2.5
78
Nicht-dramatische Form: »Auf verlorenem Posten«
(Herbert Achternbusch) Inhaltliche Schwerpunkte 4.2.1 DDR-Geschichte: »Helden wie wir« (Thomas Brussig) 4.2.2 Gegenseitiges Unverständnis: »Herr Paul« 4.2.3
58 65
(Tankred Dorst) Orientierungslosigkeit: »Lond'n — L.A. — Lübbenau« (Oliver Bukowski) Die Wiedervereinigung als Kolonialisierung Ostdeutschlands: »Wessis in Weimar« (Rolf Hochhuth) Die Wiedervereinigung als positives Ereignis: »Auf verlorenem Posten« (Herbert Achternbusch), »Schlusschor« (Botho Strauß)
87 102 102 110 120 . . .
127
145
V
4-2.6
Zwischenbilanzen - Das wiedervereinigte Deutschland: »Das Gleichgewicht« (Botho Strauß), »Ich bin das Volk« (Franz Xaver Kroetz), »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« (Klaus Pohl)
4.2.7
Die Wiedervereinigung als Nebenmotiv: »Berlin Bertie« (Howard Brenton)
5.
Inszenierungsbeispiele: Z u r Spannweite unterschiedlicher Dramaturgien 5.1 Geschlossene Dramaturgie:
5.2
6.
7.
163 167
»Karate-Billi kehrt zurück« (Klaus Pohl) im Vergleich Bayerisches Staatsschauspiel München (Regie: Roland Schäfer) Deutsches Theater Berlin (Regie: Alexander Lang)
167
Nicht-dramatische Form: »Iphigenie in Freiheit« (Volker Braun) im Vergleich Schauspiel Frankfurt/Main (Regie: Michael Pehlke) Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers)
180
Schlussbetrachtung: Möglichkeiten politischen Theaters in den 90er Jahren Anhang 7.1 Alle statistisch erfassten Stücke zur Wiedervereinigung im Zeitraum 1990/91—1998/99 7.2 Die erfolgreichsten Stücke zur W V in ihrer jeweils besten Spielzeit und Vergleichsgrößen
204 217 218 220
7.3 7.4 7.5
Die erfolgreichsten Stücke zur W V im Zeitraum 1990/91—1998/99 . 222 Bühnenpräsenz aller erfassten Stücke zur W V 225 Bühnenpräsenz aller erfassten Stücke zur W V in Berliner Theatern 228
7.6 7.7
Bühnenpräsenz aller erfassten Stücke zur W V ohne »Herr Paul«. . . 231 Bühnenpräsenz der erfassten Stücke als Gruppe im Zeitraum 1990/91-1998/99 (Zahlenwerte zu 7.4-7.6) 234
7.8
Die Präsenz des Themas Wiedervereinigung in den Leistungsschauen
236
7.9
Die Verteilung der Theater auf Neue und Alte Bundesländer
239
8. Literaturverzeichnis 8.1 Primärtexte 8.1.1 Stücke zur Wiedervereinigung 8.1.2 Sonstige Primär- und Referenztexte 8.2 Sekundärliteratur 8.2.1 Kritiken zu analysierten Stücken und Inszenierungen 8.2.2 Sonstige Sekundärliteratur
VI
146
240 240 240 241 242 242 249
ι.
Einleitung: Zur Erwartung von Theater als politischem Forum in Deutschland
Wenn ich während der Arbeit an diesem Buch anderen mein T h e m a darlegte, war eine der häufigsten Reaktionen ein freundlich-überraschtes »Wusste gar nicht, dass du aus dem Osten bist.« (was im Übrigen nicht zutrifft). Sobald der Bereich der Finanzierung verlassen wird, so mein subjektiver Eindruck, wird das Problemfeld Wiedervereinigung überwiegend als rein ostdeutsches Phänomen wahrgenommen. Gemessen wird dabei offensichtlich anhand der Kriterien Kontinuität vs. Veränderung. In der Tat stellte die Wiedervereinigung für die Bevölkerung der D D R faktisch ja eine Staatsneugründung dar - der alte Staat mit seiner politischen Struktur, seiner Gesetzgebung und seiner außenpolitischen Einbindung wurde komplett durch einen anderen ersetzt. Ein vergleichbarer Einschnitt in das Alltagsleben der Westbürger erfolgte durch die Wiedervereinigung sicherlich nicht. Die Änderung der Grundgesetzpräambel aber, also die Festschreibung einer bislang vorläufigen in eine nunmehr endgültige Verfassung, und vor allem die Verlegung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin, markiert für die Bundesrepublik insgesamt den Ubergang in eine neue Phase, die bestimmte Fragen aufwirft: nach innen die Frage nach einer gemeinsamen Identität zweier in 40 Jahren in verschiedene Richtungen entwickelter Gesellschaften, nach außen die Frage nach der neuen Rolle eines vergrößerten Deutschlands in einem nicht mehr in zwei klar unterscheidbare Blöcke gegliederten Weltgefüge. Im Vertrag zur Deutschen Einheit werden beide Aspekte nicht nur aufgegriffen, sondern auch in engen Zusammenhang mit dem Bereich des Theaters gebracht. In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur — trotz unterschiedlicher Entwicklungen der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem W e g zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschland in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab. 1
Während auf ökonomischem und politischem Gebiet das Konzept des Nationalstaats durch Globalisierung und Einbindung in übernationale Verbände wie E U und N A T O grundsätzlich zur Debatte steht, wird auf kultureller Ebene also die For-
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Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag (31. 8.1990): Artikel 35, Absatz 1. Siehe: Klaus Stern, Bruno Schmidt (Hg.): Einigungsvertrag und Wahlvertrag. (Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2) M ü n c h e n 1990. I
derung nach nationaler Identitätsstiftung deutlich geäußert. Als ginge es darum, die mit der Aufweichung lange Zeit verbindlicher Strukturen einhergehende Verunsicherung zu kompensieren, wird nun von Kunst und Kultur eine gesellschaftliche Integrationskraft erwartet, gewissermaßen eine definitorische Kraft, die sich aus der bewussten Auseinandersetzung mit der politisch-sozialen Verfassung speist. Es kann doch nicht sein, dass sich Deutschland als Nation in Z u k u n f t etwa nur noch über die Fußballnationalmannschaft, über den olympischen Tabellenspiegel und die gesicherte Altersvorsorge definiert. Es muss doch auch andere Projektionsflächen unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses geben. 2
Mal davon abgesehen, dass die gesicherte Altersvorsorge mittlerweile kaum mehr zum gesellschaftlichen Selbstverständnis der B R D gezählt werden darf, wird hier von Michael N a u m a n n , seinerzeit Staatsminister für Kultur, doch deutlich die kontinuierliche Weiterentwicklung eines deutschen Traditionsverhältnisses von Theater und Gesellschaft gefordert. Das Selbstverständnis des Theaters als gesellschaftsrelevante Einrichtung und die Akzeptanz von Theater als Teilhaber am politischen Diskurs sind Merkmale des deutschen Theaterwesens, die sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Das damals ausgerufene Projekt des »Nationaltheaters« beinhaltete die Forderung an das Theater, an der Herausbildung einer deutschen Nation entscheidend mitzuwirken, auf kulturellem Gebiet zu etablieren, was an politischer Einheit und verfassungsrechtlicher Sicherung bislang versagt geblieben war. Es implizierte die Verpflichtung, die politisch-staatliche Verfassung der deutschen Gesellschaft zentral im Programm der vom Theater zu reflektierenden Phänomene zu verankern. M i t beiden Aspekten, der Identitätsstiftung und der politischen Reflexion, ist das deutsche Theater seither eng verknüpft. Dabei kamen die unterschiedlichsten inhaltlichen Positionen zum Ausdruck und das Theater trat als Medium eines Veränderungswillens ebenso auf wie als Bestätigungsinstanz des Bestehenden. V o n der antihöfischen Tendenz eines bürgerlichen Theaters im 18. Jahrhundert bis zur Führerverherrlichung im nazistischen Thing-Spiel umfasste die Stellung des Theaters im Prozess nationaler Selbstdefinition die ganze Spannbreite von emanzipatorischer Gegenöffentlichkeit bis zu chauvinistischem Propagandainstrument. Als einzige Konstante ist festzuhalten, dass einschneidende Ereignisse in der deutschen Geschichte stets auch T h e m a des Theaters waren. Wenn also die zwei deutschen Gesellschaftssysteme D D R und B R D mit der Wende von 1989 und der ihr folgenden Wiedervereinigung eine tiefgreifende Veränderung hin zu einem gemeinsamen Staatsgefüge erfahren haben, so drängt sich damit vor dem skizzierten Hintergrund die Frage auf, wie das Theater auf diesen Prozess reagiert hat. Selbstverständlich ist in der mittlerweile vergangenen Zeit viel zur Wiedervereinigung publiziert worden. Hendrik Berth und Elmar Brähler weisen in ihrer Bibliographie 3 knapp 6.000 Titel nach, die sich dem Phänomen unter verschiedenen
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Michael N a u m a n n in: Die Zeit, 5.1. 2000. Hendrik Bert, Elmar Brähler: Z e h n Jahre Deutsche Einheit. Die Bibliographie. Berlin 2000.
Aspekten nähern, von Auseinandersetzungen mit der politischen und wirtschaftlichen Problematik bis zur literarischen Verarbeitung. Ein Blick auf die, ohnehin mageren, 24 Titel, die unter dem Stichwort »Theater« aufgeführt sind, zeigt jedoch in diesem Bereich eine klare Forschungslücke. Ausnahmslos alle angeführten Publikationen beschäftigen sich nicht mit der Wiedervereinigung selbst, sondern stellen Untersuchungen zum D D R - T h e a t e r dar. Lediglich als Gegenstand der Literatur finden sich einige Untersuchungen zum T h e m a Wiedervereinigung, in denen dann auch dem Teilaspekt »Dramatik« Platz eingeräumt wird. 4 Stücke zur Wiedervereinigung werden dabei allerdings primär unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten behandelt. Z u m T h e m a geschrieben wurde zwar wesentlich mehr, jedoch handelt es sich dabei nicht um Überblicksdarstellungen, sondern um einzelne Aufsätze, Artikel und Essays zu Teilaspekten. Franz Wille 5 etwa unternimmt den Versuch, anhand prägender Theatermacher ein Profil des Theaters der 90er Jahre zu entwerfen, in dem auch einige Inszenierungen zum T h e m a Wiedervereinigung eine zentrale Rolle einnehmen. Thomas Irmer, als weiteres Beispiel, entwirft Überlegungen zum Fortwirken von D D R - T r a d i t i o n e n in ostdeutschen Theatern auch über das Ende des Staates hinaus. 6 Eine umfassende Untersuchung, welche zur Wiedervereinigung geschriebene Zeitstücke in den theatralen Kontext einbindet, steht bislang jedoch aus (wie auch eine systematische Betrachtung entsprechend inszenierter Repertoirestücke). Die Untersuchung bezieht sich im Folgenden auf das Schauspieltheater in seiner institutionalisierten Form des subventionierten Stadt- und Staatstheaters, das seit dem Beginn des bürgerlichen Theaters traditionell als gesellschaftliche Kritikinstanz alimentiert wird. Dass auch andere Theaterformen Möglichkeiten haben und nutzen, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen, soll damit nicht in Zweifel gezogen werden. 7 Doch besitzen diese Theaterformen eigene Strukturen
4
V.a.: Carena Schlewitt: Veränderte Topographie des deutschen Theaters nach 1989. In: Roland Berbig, Birgit Dahlke, Michael Kämper-van den Boogaart, U w e Schoor: Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der D D R nach 1990. (Theater der Zeit, Recherchen 6) Berlin 2 0 0 1 , S. 148-159. Dieser Aufsatz verfolgt einen dezidiert theaterwissenschaftlichen Ansatz und beschäftigt sich mit einer veränderten Rolle der Freien Szene. Volker Wehdeking: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Stuttgart u. a. 1995, darin: Epilog: Theater und Klamauk um die deutsche Einheit, S. 147—166. Sigrid Lange: Perspektiven des Komischen im Drama. In: Volker Wehdeking (Hg.): Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit ( 1 9 9 0 - 2 0 0 0 ) . Berlin 2 0 0 0 , S. 81-95.
5
Franz Wille: D i e Kunst der Krise. Ausblick ins Theater der neunziger Jahre. In: Henning Rischbieter (Hg.): Durch den Eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990. Berlin 1999, S. 269-280. Darin werden an relevanten Inszenierungen besprochen: »Hamlet/Maschine« (Heiner Müller), »Wessis in Weimar« (Einar Schleef), »Murx den Europäer!« (Christoph Marthaler), »Räuber von Schiller« (Frank Castorf). Z u diesen Inszenierungen siehe Kapitel 4.2.4 (»Wessis in Weimar«), ansonsten Kapitel 6.
6
T h o m a s Irmer: Der einst scharfe Cocktail ist fast verdunstet. Spurensuche nach einem D D R - T h e a t e r der neunziger Jahre. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): D D R - L i t e r a t u r der neunziger Jahre. ( T E X T + K R I T I K Sonderband) M ü n c h e n 2000, S. 145—156. Z u m hier behandelten Themenkreis beispielsweise: Volker Ludwig: »Cafe Mitte« (1998,
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und Traditionen, so dass sie nicht en passant mit abzuhandeln sind, sondern eigenständiger Untersuchungen bedürfen. Anknüpfend an die Ausgangsfrage nach der theatralen Reaktion auf die Wiedervereinigung ist also zu präzisieren: Welches Gewicht hatte das Thema der Wiedervereinigung im zeitgenössischen Schauspieltheater, welche formalen Zugangsweisen wurden gefunden und welche inhaltlichen Aspekte standen dabei im Vordergrund? Welche Gesellschaftsbilder oder Zustandsbeschreibungen sind als Ergebnis der theatralen Reflexion greifbar? Hinter den hier aufgeführten Fragen verbergen sich zwei verschiedene, einander aber überlappende Problemfelder: Das Frappierende ist, dass die deutsch-deutsche Vereinigung gerade im Theater auf geringes Interesse stößt. [...] Theater wie Kritik verschanzen sich hinter ästhetischen Kriterien, um sich weiterhin bei thematischen Belanglosigkeiten auf die Schulter zu klopfen. 8 Politisch wird Theater kaum mehr durch die direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise?
Bezogen auf das hier verhandelte Thema zielt die erste Aussage auf die Bereitschaft, sich mit der Wiedervereinigung theatral auseinanderzusetzen, die zweite aber auf die Möglichkeit einer solchen Auseinandersetzung. Frank Raddatz steht mit seiner Meinung, die Wiedervereinigung spiele eine allenfalls marginale Rolle, keineswegs alleine da. Arno Paul etwa sieht »trotz der nationalen Wiedervereinigung [...] das deutsche Schauspiel im Schatten der siebziger und achtziger Jahre« 10 und auch Hans-Thies Lehmann warnt eindringlich vor dem »Fehlurteil [...], die Theaterphänomene der 1990er Jahre wären etwa direkt oder indirekt von der Umwälzung um 1989, der >Wende< hervorgerufen worden.«11 Sollten diese Einschätzungen zutreffend sein, so wäre dies ein Indiz dafür, dass sich die eingangs dargestellte Beziehung von Theater und Gesellschaft in Deutschland in Form einer Entkoppelung grundlegend geändert hätte. Auf dieses Problem zielt die Frage nach dem Gewicht des Themas. Hans-Thies Lehmanns Aussage hingegen, Theater werde politisch »kaum mehr durch die direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise«, kann als eine Erklärung der von Raddatz beklagten Beobachtung gelesen werden und findet ihren Niederschlag in der Frage nach den Zugangsweisen des Theaters.
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Kinder- und Jugendtheater); Johann Kresnik (nach Günter Gaus): »Wendewut« (1993, Tanztheater); Andreas Ammer, F.M. Einheit, Sebastian Hess: »Marx-Engels-Werke« (2000, Performancetheater). Frank Raddatz: Es geht um die Verwaltung von Gefühlen auf Massenbasis. Ein Gespräch mit Jochen Berg. In: Theater der Zeit, 1991, Heft 11, S. 97-102, hier: S.97f. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/Main 1999, S.457. Arno Paul: Vom Krebsgang des Stadttheaters. In: Forum Modernes Theater, Bd. 15/2, Tübingen 2000, S. 99-112, hier: S.99. Lehmann: Postdramatisches Theater, S.33.
U m die sich anschließenden Fragen nach thematisierten Aspekten und daraus abgeleiteten Gesellschaftsbildern weiterhin als beantwortbar und auch relevant ansehen zu können, müssen sich beide angeführten Thesen jedoch falsifizieren lassen. Z u m einen muss nachgewiesen werden, dass ein über kulturpolitische Vorgaben (siehe Anmerkung ι und 2) hinausgehendes Interesse am T h e m a seitens der Theatermacher und des Publikums vorhanden ist, zum anderen muss untersucht werden, wie weit das Potential entsprechender Versuche eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der komplexen Problematik trägt. Dabei vermengen sich also rezeptions- und produktionsästhetische Kriterien, worin weniger eine methodische Unsauberkeit, als vielmehr eine durch den Untersuchungsgegenstand bedingte Unvermeidlichkeit zu sehen ist. W e n n das Hauptaugenmerk auf den Kommunikationsakt zwischen Bühne und Publikum gelegt wird, 1 2 kann weder eine der Seiten außer Acht gelassen, noch können beide immer trennscharf voneinander unterschieden werden. Es reicht nicht aus, zu zeigen, dass ein Stück viel gespielt wurde und anschließend seine Struktur zu erläutern. Es müssen auch begründete Annahmen dargelegt werden, welche Aspekte des Stückes wahrgenommen wurden, und zwar seitens der Theatermacher ebenso wie von Seiten des Publikums. Genauso wie die Kriterien der Spielplanerstellung, verschließt sich auch die Wirkung auf das Publikum einem direkten Zugriff. Der zahlenmäßig zu erfassende Bühnenerfolg bestimmter Stücke bedarf also ebenso einer interpretatorischen Auslegung, um in Aussagen über die Dringlichkeit des Themas für beide beteiligte Seiten überführt werden zu können, wie die Beschäftigung mit der angelegten Tragweite entsprechender Stücke um Mutmaßungen über ihre Rezipierbarkeit nicht herumkommt. Der Notwendigkeit, »zunächst den Objektbereich der eigenen Untersuchung einzugrenzen« 13 und damit verbunden die Fragestellung zu spezifizieren, wird hier also in der Form Rechnung getragen, dass das etablierte Schauspieltheater als soziale Institution betrachtet wird, die ein F o r u m für die gesellschaftliche Selbstreflexion bietet. Diese Selbstreflexion aber wird erst in der konkreten Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern verwirklicht. 1 4
12
Siehe Arno Paul: Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln. In: Aloysius van Kesteren, Herta Schmid (Hg.): Moderne Dramentheorie. Kronberg/Ts. 1975, S. 167-192. »Als konstitutives theatralisches M o m e n t kann [...] die gegenseitige Bedingtheit von wie auch immer auswechselbaren Schauspielern und Zuschauern [...] in einem soziokulturell determinierten Interaktionsfeld« (S.i78f.) betrachtet werden. Dies stellt gewiss nicht die neueste Bestimmung des Gegenstandes dar. Sie bietet dennoch eine brauchbare Grundlage, wenn man Theater, wie im vorliegenden Fall, unter dem Aspekt seiner gesellschaftlichen Funktion, d.h. als gesellschaftlichen Kommunikationsakt untersuchen will.
13
Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen u. a. 1993, S. 4. Fischer-Lichte unterscheidet in ihrer Betrachtung von Theatergeschichten der letzten 30 Jahre zwischen solchen, die Theater entweder als soziale Institution oder aber als Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern auffassen (vgl. ebd., S. 5). U m jedoch die Funktion der sozialen Institution Theater zu erfassen, ist es m . E . unabdingbar, auch die kommunikative Struktur des Einzelphänomens zu berücksichtigen.
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2.
Unterschiedliche Voraussetzungen
U m eine historische Zugangsweise zu ermöglichen, wird es zunächst notwendig sein, den der Wiedervereinigung unmittelbar vorausgehenden Zustand zu beschreiben. Es ist also nach der Rolle der Politik im Theater der 8oer Jahre in Ost- und Westdeutschland zu fragen, u m die Besonderheiten zweier aus der gleichen Tradition erwachsener Theaterkulturen herauszuarbeiten, die sich 1990 eher überrascht w i e d e r in ein gemeinsames System e i n g e b u n d e n sahen. A i s H i n f ü h r u n g z u m eigentlichen T h e m a wird die Darstellung der Differenzen notwendigerweise knapp ausfallen und nur versuchen, Grundtendenzen zu beschreiben.
2.1
Politik im DDR-Theater der 80er Jahre
O b die i m Einigungsvertrag postulierte »fortbestehende Einheit der deutschen Nation« in d e m Sinne a n g e n o m m e n werden darf, dass d e m Theater in beiden Teilen Deutschlands die gleiche gesellschaftliche Funktion zukam, ist fraglich. D i e verbreitete These, dass »die Phase der gesellschaftspolitisch getrennten Aufarbeitung von Kunst und Ästhetik« in beiden deutschen Staaten Mitte der 80er Jahre bereits »selbst ein Stück Geschichte geworden« 1 sei, kann nicht ohne weiteres übernommen werden. Z w a r ist die Behauptung nachvollziehbar, seit Mitte der 70er Jahre sei in der D r a m a t i k der D D R eine »Verschiebung v o m Politischen zum Literarischen« 2 festzustellen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich diese Verschiebung innerhalb eines Diskurses um die Postmoderne vollzieht, der bei der »Auseinandersetzung mit ihr v o n einer Position aus[geht], die sich als Synthese aus Marxismus und künstlerischer Moderne umreißen lässt«.3 W i e die Frage nach der jeweiligen Eigenständigkeit beantwortet wird, scheint nicht zuletzt v o n der entsprechenden Perspektive abzuhängen. Bezeichnend ist in diesem Z u s a m m e n h a n g , wie von den österreichischen Herausgebern des Dokumentationsbandes >... mir ist in den 80er
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Frank Trommler: Auf dem Weg zu einer kleineren Literatur: Ästhetische Perioden und Probleme seit 1945. In: Thomas Koebner (Hg.): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur. 2. neu verf. Aufl. Stuttgart 1984, S.1-106, hier: S. 17. Wolfgang Schivelbusch: Dramatik in der D D R . In: Walter Hinck (Hg.): Handbuch des deutschen Dramas. Düsseldorf 1980, S.482—488, hier: S.482. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der D D R . Erw. Neuausgabe Berlin 2000, S.400.
J a h r e n kein D D R - T h e a t e r b e k a n n t e 4 die im T i t e l zitierte, aus der Innensicht empfundene Unspezifität im Vorwort umgehend relativiert wird. Dort wird begründet, man habe sich entschieden, ein Buch über das Theater in der D D R zu machen, weil es der Kunstbereich war, in dem gegen Ende der 8oer Jahre gerade für Nicht-DDR-Bürger eine große Lebendigkeit zu beobachten war und die Prozesse [...] hier am ehesten ein Profil hatten.5 Drei Punkte sollen beim Versuch, dieses Profil zu beschreiben und die T h e s e einer weitgehenden Gleichsetzbarkeit von D D R - und B R D - T h e a t e r zu widerlegen, ins Feld geführt werden: D i e differente Funktion und W a h r n e h m u n g f o r m a l aus der West-Kunst bekannter Gestaltungsmittel, neue oder neu zugelassene D r a m a t i k und schließlich einige Inszenierungen, an denen der nach wie vor zu beobachtende Bezug auf den marxistischen Diskurs deutlich wird. D i e Stücke von W e r n e r Buhss, Klaus Rohleder, Lothar Trolle, J o Fabian oder der Gruppe Zinnober, welche Harald Müller in seine Anthologie » D D R - T h e a t e r des Umbruchs« 6 a u f g e n o m m e n hat, sind in der T a t als G r u p p e gekennzeichnet durch ihre Erprobung von Schreibformen f ü r das Theater, die (in ganz unterschiedlicher Radikalität) nach Gestaltungsmöglichkeiten jenseits von Figur, Handlung und Dialog suchen. Die Affinität zu Theatertexten aus dem westdeutschen R a u m , wie sie G e r d a Poschmann in »Der nicht mehr dramatische Theatertext« 7 beschreibt, liegt daher auf der H a n d . Teils vollziehen sie den Bruch zur klassischen D r a m e n f o r m dabei vollständig, wie die G r u p p e Z i n n o b e r in ihrem Stück »traumhaft«, teils scheinen sie nur in der D D R nicht zugelassene F o r m e n des absurden Theaters nachzuholen, wie Werner Buhss in seiner Dramatisierung des Romans »Die Festung« v o n D i n o Buzatti. Diese Werke aber stehen nicht repräsentativ f ü r das D D R - T h e a t e r ihrer Zeit, sondern bilden »ein repräsentatives Spektrum dieser >anderen Dramatik< in der D D R « , sind also vielmehr Ausdruck eines Aufbrechens bestehender Strukturen im D D R - T h e a t e r durch eine D r a m a t i k , die »relativ fern [von] den Verlagen und Künstlerverbänden sowie weiteren staatlichen Zugriffen« 8 entstand. D a r ü b e r hinaus - und das ist der wesentlich wichtigere P u n k t - ist fraglich, o b diese T e x t e eine W i r k u n g behalten, die der W i r k u n g der formverwandten, westlichen T e x t e vergleichbar ist, w e n n sie in einem d o c h grundverschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationssystem verwirklicht werden. Z u n ä c h s t einmal vollzieht sich die
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Herbert Arlt, Ulrike Bischof (Hg.): >... mir ist in den 8oer Jahren kein DDR-Theater bekannt ...< Dokumentationsgespräche, Materialien, Anmerkungen. Frankfurt/Main u.a. 1993· Ebd., Einleitung, S.X. Harald Müller (Hg.): DDR-Theater des Umbruchs. Frankfurt/Main 1990. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. (Theatron, Bd. 22) Tübingen 1997. Mit Bezug auf die These der prinzipiellen Gleichsetzbarkeit von BRD- und DDR-Literatur ab den 80er Jahren verzichtet Poschmann dabei, unter Verweis auf Trommler und Schivelbusch, auf eine gesonderte Untersuchung ostdeutscher Texte. Siehe ebd., S.60. Müller: DDR-Theater des Umbruchs, S. 276f. 7
Ö f f n u n g gegenüber Theatertexten dieser Art nicht problemfrei, was sich schon an der geringen Bühnenpräsenz besagter Stücke ablesen lässt. N e b e n den allgemeinen, systemunabhängigen Schwierigkeiten experimenteller K u n s t , breitenwirksam zu werden (die sowohl Teil ihrer Struktur als auch ihres Programms ist), wird die mangelnde Akzeptanz, die besagten Stücken von offizieller Seite zukam, ihre Ursache nicht zuletzt auch darin haben, dass sie sich allesamt der Doktrin des »sozialistischen Realismus« widersetzen. M a g diese auch längst nicht mehr die gleiche Verbindlichkeit gehabt haben wie in den 50er Jahren, als Brecht sich »Formalismus«-Vorwürfen ausgesetzt sah, 9 so ist andererseits die Absage an die kulturpolitischen Vorgaben in den von Müller versammelten Stücken doch auch wesentlich radikaler als etwa in der Dramatik Brechts. Dieser Bruch drückt sich unter anderem darin aus, dass in einigen der Stücke die Darstellbarkeit (und damit eventuell auch die Existenz) eines zwar nicht widerspruchsfreien, in seinen Grundzügen aber erklärbaren und progressiven Weltverlaufs grundsätzlich in Frage gestellt und mit einer absurden Sicht konfrontiert wird (Buhss: »Die Festung«, Rohleder: »Das Fest«) oder aber sozialen Vorgängen überhaupt das Interesse aufgekündigt wird zugunsten tiefenpsychologischer Prozesse (Zinnober: »traumhaft«). In beiden Fällen wird durch die avantgardistische F o r m ein inhaltlicher Zweifel an den ideologischen Grundlagen der Staatsdoktrin artikuliert. Stellte das Formexperiment im D D R - T h e a t e r , als Abweichung von der V o r g a b e des »sozialistischen Realismus«, an sich also schon ein Politikum dar, 1 0 so standen ihm darüber hinaus noch direkt politische Dimensionen offen, die einem Blick entgehen, der einseitig die äußerlichen Ähnlichkeiten zu Phänomenen in der westlichen Theaterkultur in den V o r d e r g r u n d rückt. W e n n etwa behauptet wird, dass »Jo Fabian noch zu D D R - Z e i t e n neben postdramatischen Texten auch eine ganz eigene Bühnenästhetik, die an Wilsons Frühwerk u n d >postmoderne< westliche Theaterästhetik gemahnt« 1 1 entwickelte, so ist dies aus formaler Perspektive betrachtet zweifelsohne richtig. D i e Parallelen driften allerdings auseinander, w e n n m a n die Rezeptionsebene mit in Betracht zieht. Ein rein formales Element, wie das der extremen Verlangsamung von Bewegung, bleibt im Theater Wilsons selbstreferentielles Zeichen, das allenfalls auf mentaler Ebene über den U m w e g einer
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Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der D D R , S. 396fr. »Gewiss existierten damals [= Mitte der 70er] noch (und existieren weiter) vormoderne didaktische Wahrnehmungsweisen, Schreibhaltungen und Wirkungsabsichten, aber die eine homogene DDR-Literatur aus dem Ungeist des sozialistischen Realismus< hörte endgültig auf zu bestehen.« Zu Brecht siehe Petra Stuber: Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater. Berlin 1998, bes. die Ausführungen und Dokumente zur Stanislawski-Konferenz 1953, S. 153-173 u. S. 265-376. Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der D D R , S. 396ff. »Solche Vorschläge einer nunmehr nicht mehr doktrinären, sondern diskutierenden Literaturwissenschaft (Schönstedt) nahm der kulturpolitische Apparat nur widerstrebend an. [...] Noch 1986 widersprach Kurt Hager Schlenstedts Vorschlag eines sozialistischen kritischen Realismus«, weil er befürchtete, das >kritische Element« werde absolut gesetzt und damit die »Literatur- und Kunstentwicklung unseres Landes auf einen Irrweg< geführt.« Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 62.
Thematisierung von Wahrnehmungsmechanismen inhaltlich gedeutet zu werden vermag. Es kann aber in anderem Zusammenhang unmittelbar auf die politischsoziale Realität bezogen werden. In diesem Sinne reflektiert J o Fabian rückblickend über den »Ursprung der Langsamkeit aus dem Osten«: A u c h hier also das Prinzip Langsamkeit. U n d d o c h erwuchs es aus e i n e m anderen geschichtlichen Impuls, aus einer völlig anderen Wirklichkeitserfahrung als heute. [...] D i e von offizieller Seite vorgegebene permanente Entwicklung hin zu einer höheren Gesellschaftsform stand der Alltagserfahrung des Einzelnen vollkommen widersprüchlich gegenüber. E r e m p f a n d Stagnation und sogar Rückwärtsbewegung. M e i n e Arbeiten suggerierten lediglich die Sehnsucht nach Explosion [...]. In der öffentlichen Debatte wurden diese Arbeiten als dekadenter Ästhetizismus verworfen. Meiner M e i n u n g nach bemühte man auf diesem U m w e g immer wieder aufs neue die festgelegte Position des sozialistischen Realismus, als Pendant zur reaktionären M o d e r n e und Postmoderne-Entwicklung des Westens. 1 1
Neben den genannten Beispielen an D D R - D r a m a t i k und -Theater der 8oer Jahre, deren funktionale Spezifität aus den unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen der differenten Gesellschaftssysteme zu erklären ist, gibt es nun auch eine Reihe von Stücken, deren DDR-Eigenheiten wesentlich offensichtlicher sind. Gemeint sind Stücke, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sich ihre Beziehbarkeit auf die DDR-Realität aus der kritisch-problematisierenden Thematisierung des Sozialismus herleitet. Ohne die Schwachstellen einer Theatergeschichtsschreibung, die sich »an einer historischen Chronologie [orientiert] und [...] einen engen, ja kausalen Zusammenhang von Kunst und Politik [unterstellt]«,' 3 grundsätzlich ignorieren zu wollen, muss in diesem Zusammenhang doch die Bedeutung des Machtwechsels betont werden, der sich in der Sowjetunion 1985 mit dem Amtsantritt Gorbatschows vollzog. Der unter den Schlagworten »Perestrojka« (Umgestaltung) und »Glasnost« (Öffentlichkeit) sich vollziehende Wandel zeitigte dabei Folgen auf verschiedenen Ebenen. Die Auswirkungen bezogen sich sowohl darauf, was als spielbar erschien, als sie sich auch in der Motivation zu bestimmten thematischen Auseinandersetzungen und der Wahl bestimmter Formen ausdrückten. M a n muss wohl davon ausgehen, dass die genannten drei Aspekte dabei Hand in Hand gingen und im jeweiligen Einzelfall nicht separiert zu betrachten sind. Ein Beispiel, wie die Veränderungen in der Sowjetunion sich nicht nur indirekt, infolge eines veränderten politischen Klimas, sondern auch ganz konkret auf das D D R - T h e a t e r auswirken konnten, gibt Michail Schatrows Stück »Diktatur des Gewissens«. Die Redaktionssitzung einer sowjetischen Jugendzeitung bildet die Grundsituation, von der aus Schatrow ein Spiel im Spiel entwickelt. Darin beruft sich eine junge Redakteurin auf eine Meldung aus der »Prawda« von 1920, die von
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J o Fabian: Zeit im Theater. Unverö. Referat, Bremen 1996, S . 6 f . Karl-Wilhelm Schmidt: Z u r Dramaturgie in der D D R von 1969 bis 1989. In: H e l m u t Kreuzer, Karl-Wilhelm Schmidt (Hg.): Dramaturgie in der D D R (1945-1990), B d . II ( 1 9 7 0 - 1 9 9 0 ) . (Reihe Siegen: Editionen; Bd. 9: Germanistische Abteilung) Heidelberg 1998, S. 593-626, hier: S. 593.
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einer fiktiven, öffentlich abgehaltenen Gerichtsverhandlung über Lenin berichtet, an deren Ende Lenin von den Vorwürfen der antikommunistischen Kläger freigesprochen wird. Sie fordert, diesen fiktiven Prozess als Anregung für eine öffentliche Diskussionsform aufzugreifen. Daraus entspinnt sich ein Gerichtsspiel, in dem sowohl historische als auch literarische Figuren auftreten und dessen Pointe darin besteht, dass die Anklage (gegen den Kommunismus) gerade solche Zeugen zu Gehör bringt, die sich selbst auf den Kommunismus berufen. So wird beispielsweise die Verbindung von Dostojewskis Figur des jungen Werchowenski aus den »Dämonen« zu Pol Pot und den Roten Brigaden geschlagen. Dieserart wird die Verteidigung darauf festgelegt, sich in ihrer Strategie darauf zu beschränken, die jeweiligen Exzesse (und etliche vom jeweiligen Publikum assoziativ addierte müssen wohl hinzugedacht werden) als Pervertierungen der eigentlichen Idee bloßzustellen. Zwar wird auch in dem neuen Urteil, wie gut 60 Jahre zuvor, Lenin von den Vorwürfen freigesprochen. Bezeichnend für den Wandel ist aber die Schlussreaktion des Vertreters der Fraktion der »Alten«, des Chefredakteurs Bataschow, dem in der Rolle des Richters die Aufgabe obliegt, das Urteil »Iljitsch, wir schmieden alles, was du vorgegeben hast.« zu verkünden. Nein, ich kann das nicht ... Kann es nicht mehr ... Zieht die Robe aus, setzt die
Budjon-
nymütze ab, legt alles sorgsam aufseinen Sessel, kommt auf die Vorderbühne und blickt lange in den Saal. Vielleicht könnt ihr es ... Geht hinab in den Zuschauerraum und tritt ab Der Zusammenhang der als Abweichungen dargestellten Verfehlungen mit der eigenen sozialistischen Geschichte wird damit ebenso deutlich gemacht wie die Forderung nach deren Aufarbeitung und einem (auch personellen) Neuanfang. O b tatsächlich »Michail Gorbatschow höchstselbst nach der Lektüre auf eine Inszenierung gedrängt hat«/ 5 mag dahingestellt bleiben. Die Tatsache allein, dass es zur Aufführung in einem prominenten Theater (Theater des Leninschen Komsomol, Moskau) gelangte, zeigt die veränderten Bedingungen an. Die engen Beziehungen zur Sowjetunion machten ein Totschweigen »eines der aufregendsten Moskauer Theaterereignisse des letzten Jahres«" 5 kaum möglich und stellten das in der Sowjetunion vieldiskutierte Stück auch für das D D R - T h e a t e r zur Debatte, wo es 1987 in Leipzig (Regie: Karl Kayser) und 1988 in Berlin (Deutsches Theater, Regie: Friedo Solter) zur mit Spannung erwarteten Aufführung kam. Bereits als der Vorhang sich öffnete, applaudierte das Publikum (einer ganz normalen Aufführung) demonstrativ einem Stück, von dem es offensichtlich durch Mundpropaganda wusste, dass es gängige Ansichten und Konventionen in Frage stellt. 17
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Michail Schatrow: Diktatur des Gewissens. In: Theater der Zeit, 1987, H e f t 10, S. 4 7 - 6 4 , hier: S. 64. Heinz Klunker: Ausbruch aus der roten Gartenlaube. In: Theater heute, 1988, Heft 3, S. 29-32, hier: S. 30. A n o n y m : Z u unserem Stückabdruck. Theater der Zeit, 1987, H e f t 10, S . 4 6 . Klunker: Ausbruch aus der roten Gartenlaube, S. 30.
Das vom westlichen Kritiker wohl zu Recht unterstellte Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gesellschaft und deren Geschichte lässt sich natürlich nicht nur aufgrund der Übernahme von Schatrows Stück mutmaßen, sondern drückt sich auch in der DDR-eigenen Dramatik aus. Heiner Müllers »Wolokolamsker Chaussee«'8 etwa ist ein prominentes Beispiel dafür. Der thematische Bogen spannt sich dabei vom Zweiten Weltkrieg bis zum Prager Frühling. Die ersten beiden Szenen greifen auf Motive Alexander Beks über die Rote Armee zurück und kreisen um die Fragen von Desertierung und Standrecht (»Wolokolamsker Chaussee I: Russische Eröffnung«) sowie Durchbrechung der militärischen Hierarchie (»Wolokolamsker Chaussee II: Wald bei Moskau«). Sowohl das Beharren auf der Norm als auch ihr situatives Unterlaufen werden als unabdingbar für den Fortbestand der Sowjetordnung dargestellt. Die folgenden Teile wenden sich genuiner DDR-Geschichte zu: dem 17. Juni 1953 (»Wolokolamsker Chaussee III: Das Duell, nach Anna Seghers«) und in Verweisen dem Mauerbau und den Auswirkungen des Prager Frühlings (»Wolokolamsker Chaussee V: Der Findling, nach Kleist«). Ohne konkrete Bezüge zu historischen Ereignissen bleibt lediglich die Karikierung sozialistischer Bürokratisierung in Form eines Beamten, der schrittweise mit seinem Schreibtisch verwächst (»Wolokolamsker Chaussee IV: Kentauren; Ein Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa«). Die übrigen Teile hängen ohne direkte Querverweise eng miteinander zusammen und zeichnen ein Bild, das DDR-Geschichte nicht nur untrennbar in die allgemeine Sozialismusgeschichte eingewoben, sondern diese auch als ausgesprochen widerspruchsvoll zeichnet. Die in den ersten beiden Teilen aufgerissene Spannung zwischen der Legitimität der repressiven Ordnung (I) und der Notwendigkeit ihrer Subversion, im Falle, dass dieser Ordnung nur die Selbsterhaltung als Legitimation dient (II), bleibt dabei erhalten und wird in die D D R transponiert: im »Duell« zwischen Betriebsleiter und Streikführer und im »Findling« zwischen altkommunistischem Vater und republikfluchtbereitem Ziehsohn. Bezogen auf die eigene Gesellschaft wird damit die Frage aufgeworfen, inwieweit der aktuellen politischen Struktur noch die Berufung auf das in Anspruch genommene Wertsystem zugestanden werden kann; nicht in Frage gestellt ist aber das Wertsystem selber. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Müller seine Rückwendung zu einer zugänglicheren, weniger experimentellen Schreibform, die er in die Tradition des Brechtschen Lehrstücks stellt, begründet: »Natürlich sind diese Texte >Wolokolamsker< provoziert durch eine aktuelle Situation [...].« Die Mitte der 70er Jahre getroffene Aussage, das Lehrstück sei eine geschichtliche Unmöglichkeit, ist im M o m e n t für mich wieder vorbei. Denn, etwas zu lernen, das ist immer nur in Situationen möglich, in denen sich historisch etwas bewegt. U n d ich meine, es dreht sich
Heiner Müller: Wolokolamsker Chaussee. Teil I erschienen in: Ders.: Shakespeare Factory 1 ( Η . Μ . Texte 8), B e r l i n / B R D 1985, S. 2 4 1 - 2 5 0 , Teile I I - V erschienen in: Ders.: Shakespeare Factory 2 ( Η . Μ . Texte 9), Berlin 1994, S. 231-259. II
jetzt etwas, es muss sich etwas drehen. Die Situation ist reif für Veränderungen. [...] Da wird auch dieses Spielmodell Lehrstück wieder aktuell.19 Die Einschätzung, Müller habe »vor allem in der Reformpolitik Michail Gorbatschows [...] Impulse für eine demokratische Erneuerung in der D D R und in den anderen sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas« 2 0 gesehen, was sich eben auch an e i n e m W a n d e l der dramaturgischen K o n z e p t i o n e r k e n n e n lasse, gibt f ü r den besprochenen Z u s a m m e n h a n g einen wichtigen H i n w e i s und scheint durch die zitierten Aussagen des Autors gestützt zu werden. Z u einer eingleisigen Betrachtung des Verhältnisses von Politik und Theater soll dies freilich nicht führen - schließlich w u r d e »Wolokolamsker Chaussee I« bereits 1984 geschrieben. A n d e r e bekannt gewordene Stücke aus dieser Zeit, die sich dem widerspruchsvollen Verhältnis von Anspruch und Zustand der D D R - G e s e l l s c h a f t widmen, sind Volker Brauns »Ubergangsgesellschaft« 21 — in der die Figuren aus Tschechows »Drei Schwestern« in die D D R - G e g e n w a r t versetzt werden; in vielen Details umgearbeitet, ausgestattet aber mit der gleichen Sehnsucht nach einem anderen Leben, das zu gestalten sich kein W e g zeigt, obwohl das alte nicht fortbestehen kann - und C h r i s t o p h Heins »Ritter der Tafelrunde«. 2 2 M i t R ü c k g r i f f auf den M y t h o s der Artus-Ritter wird die vergebliche Suche nach dem Gral und die daraus resultierende Skepsis bezüglich seiner Existenz zum Sinnbild f ü r den Zweifel an einer Utopie, der näher zu k o m m e n keine Anzeichen gefunden werden, die aber gleichzeitig die G e g e n w a r t restriktiv beherrscht. Als letztes Beispiel seien noch die Stücke von G e o r g Seidel genannt. 1 3 In »Carm e n Kittel« und »Jochen Schanotta« schildert Seidel zwei Vertreter der jungen 8oer-Jahre-Generation, die sich in extremer W e i s e v o n der D D R - G e s e l l s c h a f t isolieren. N i c h t das M o t i v selbst ist neu (siehe U l r i c h Plenzdorfs »Die N e u e n Leiden des jungen W.«), sondern die Radikalität der Verweigerung, die unverblümt mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen begründet wird: Und ihr habt uns Hoffnung auf Freiheit gemacht. Ihr habt uns betrogen. [...] Ihr toleriert uns aus Angst. [...] Also lasst ihr uns diese Klamotten und diese Musik. Irgendetwas muss
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Heiner Müller: Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten. Gesprächsführung: Gregor Edelmann. Theater der Zeit, 1986, Heft 2, S. 62-64, Zit. in: Kreuzer/Schmidt: Dramaturgie in der D D R , Bd. II, S. 527-535, hier: S. 53if. Andreas Keller: Drama und Dramaturgie Heiner Müllers zwischen 1956 und 1988. (Europäische Hochschulschriften: Reihe r, Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1321) Frankfurt/Main u.a. 1992, S.278. Volker Braun: Die Übergangsgesellschaft. In: Volker Braun: Gesammelte Stücke, Bd. II. Frankfurt/Main 1989, S. 103-132. Christoph Hein: Die Ritter der Tafelrunde. Frankfurt/Main 1989. Georg Seidel: Villa Jugend. Das dramatische Werk in einem Band. Herausgegeben von Andreas Leusink, mit einem Nachwort von Martin Linzer. Berlin u. Frankfurt/Main 1992.
ja sein, an irgendetwas müssen wir uns doch klammern, damit wir nicht ausbrechen, raus aus der N o r m , die ihr selber beschissen findet.24
In »Villa Jugend« sind es dann die Vertreter der älteren Generation, die im Mittelpunkt stehen, allerdings nicht mehr als Vertreter der einzwängenden N o r m , sondern selbst als Gescheiterte, denen ihr hohlgedrehtes Lebensideal keine Orientierung mehr zu geben vermag. Sogar der Versuch des Vaters, im Selbstmord einen heroischen Abgang zu finden, ist misslungen. Stattdessen stirbt die Mutter: »An G r a m soll sie gestorben sein« 25 . Was bleibt, ist das stumpfe H i n n e h m e n eines Auflösungsprozesses, der nicht mehr zu begreifen ist. »Alles kaputt, das Land, die Menschen, heulen müsste man, heulen.«, 26 hatte die Tochter schon vorher resümiert. » J o c h e n SchanottaCarmen Kittel· und >Villa JugendMauserHamletmaschineGermania T o d in Berlin« werden 1988 erstveröffentlicht) und Gegenwartsdramatik jüngerer Autoren. 2 9
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Ders.: Jochen Schanotta. In: Villa Jugend. S. 51-86, hier: S . 6 2 . Ders.: Villa Jugend. In: Villa Jugend. S. 1 1 5 - 2 7 1 , hier: S.259. Ebd., S. 235. Martin Linzer: A n m e r k u n g e n zu G e o r g Seidels W e r k und W i r k e n . In: Seidel: Villa Jugend, S.381—389, hier: S.383. Alle Stücke wurden vom Autor nach ihrer Entstehung noch einmal überarbeitet. »Jochen Schanotta« 1983/1985; »Carmen Kittel« 1986/1988, »Villa Jugend« 1986/1990. Georg Seidel starb, bevor die Überarbeitung von »Villa Jugend« für die Uraufführung am Berliner Ensemble (R: Fritz Marquardt, 1 9 . 0 1 . 1 9 9 1 ) abgeschlossen war. Die Regie führte T h o m a s Langhoff, dessen Inszenierung von Tschechows »Drei Schwestern« am gleichen Haus über zehn Jahre im Repertoire stand und die Anregung für Brauns Bearbeitung gab. Vgl. Dieter Kranz: Gespräch mit Volker Braun, T h o m a s L a n g h o f f und Albert Hetterle über >Die UbergangsgesellschaftSelbstkritikLohndrückerNormentreiber< [...] bittet [...] den Kollegen Karras um Mithilfe; dieser willigt per Handschlag ein. [...] In der Bearbeitung ist diese Szene ersatzlos gestrichen. 36
Das Drama von 1956 wird durch die Inszenierung insgesamt mit literarisch-mythologischen Verweisen aufgeladen, wie sie die Spätphase Müllers kennzeichnen und überführt die Konflikte des Produktionsstücks in die »Problematik des allgemeinen Zivilisationsprozesses«. 37 Umgekehrt wird aber auch die Metaphorik des späten Müller durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Frühwerk gleichsam geerdet und den Zuschauern die Möglichkeit eröffnet, das Gesehene auf die erlebte soziale Realität zu beziehen, dies auch durch die Zwischenspiele. Beide Kommentartexte lassen sich unmittelbar auf die gesellschaftliche Realität der D D R im Jahr 1988 beziehen: Während in >Der Horatier< das Problem der Gewaltanwendung im sozialistischen Staat in parabelhafter Form aufgegriffen wird, ist »Kentauren« eine unkaschierte, radikale Anklage gegen den »bürokratischen Überwachungsstaat DDRArchäologie< des Sozialismus« 39 oder »szenische Mythographie des Aufbaus des Sozialismus« 40 lesen - als Nachspüren einer Geschichte in jedem Falle, in der unaufgehobene Konflikte in machtvoller und gewaltsamer Weise fortwirken. Diese Einschätzung ergibt sich nicht nur aus der Perspektive der West-Wissenschaftler, sondern auch der OstKritik: Heiner Müller ortet sein Stück von 1956 neu für 1988, die offenen Enden der Geschichte zeigend, die unerledigten Fragen (wenn etwa in knappen Zeichen auch der 17. J u n i , der 13. August zitiert werden). 4 '
Es zeigt sich an diesem Beispiel die Notwendigkeit, die Doppelperspektive zu beachten, die sich daraus ergibt, dass Heiner Müller einerseits mit seinem Werk wichtige Beiträge auch zum westdeutschen Diskurs der Postmoderne lieferte und andererseits versuchte, Brechts Lehrstück-Konzept in erneuerter Form produktiv zu machen. Auch die DDR-Arbeiten Frank Castorfs, in denen er den Stücktext als assoziativ veränder- und erweiterbares Material behandelte und teilweise Fabel und Figuren
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Ebd., S. 282. Ebd., S. 283. Ebd., S. 285. Hans-Thies Lehmann: Ästhetik des Textes - Ästhetik des Theaters. Heiner Müllers >Der Lohndrücker« in Ostberlin. In: Paul Gerhard Klussmann, Heinrich M o h r (Hg.): Spiele und Spiegelungen von Schrecken und T o d (Jahrbuch zur Literatur in der D D R , Bd. 7) Bonn 1990, S. 5 1 - 6 2 , hier: S . 6 1 . Schnabel: Szenische Mythographie, S . 1 2 9 . Martin Linzer: Lohndrücker 88. Heiner Müller inszeniert Heiner Müller. In: Theater der Zeit, 1988, H e f t 4, S. 49-51, hier: S . 4 9 .
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auflöste, 4 2 weisen deutlich diese Doppelorientierung auf: D i e Arbeitsweisen von Pina Bausch oder Peter Z a d e k werden ebenso wahrgenommen wie westliche Populärkultur u n d in V e r b i n d u n g gebracht mit Theatererlebnissen — vor allem solchen aus der Z e i t zwischen Honeckers Antritt als U l b r i c h t - N a c h f o l g e r 1971 und der Biermann-Ausbürgerung 1976, da schon einmal die Drosselung politischer Reglementierung die Möglichkeit eröffnete zu »Inszenierungen [...], die in den 7 0 e r Jahren erregte Grundsatzdebatten« 4 3 auslösten, wie die »Räuber«-Inszenierung von M a n f r e d Karge und Matthias L a n g h o f f an der Volksbühne 1 9 7 2 . 4 4 D e n konventionelleren W e g einer Klassikeraktualisierung beschritt Christoph Schroth mit seiner Schweriner »Wilhelm Tell«-Inszenierung im Frühjahr 1989, die »als eine der wegbereitenden künstlerischen Ausdrucksformen vor der politischen W e n d e in der D D R « 4 5 gilt. E r arbeitete dabei mit einer Strichfassung, in der die Handlung auf die innerschweizerische Auseinandersetzung konzentriert wird, indem die Verweise auf den Kaiser auf ein M i n i m u m gekürzt sind, die Verbindung G e ß lers zum Haus Habsburg gekappt und Rudenz durch Streichung der Figur Berta aus seiner Fremdbestimmung entlassen ist. D i e Texteinrichtung stellt sich damit in eine Interpretationslinie des Dramas, die den Aspekt der Legitimität des A u f b e gehrens gegen jegliche Art von Gewaltherrschaft betont und die Fremdherkunft des T y r a n n e n , und damit das Geschehen einer nationalen Konstituierung, in den Hintergrund rückt. Stattdessen wird eine von der eigenen Staatsführung drangsalierte Gesellschaft dargestellt und diese durch Mittel der Ausstattung auch näher charakterisiert. Statt des Geßler-Hutes findet sich das Brustbild eines M a n n e s mit Kleinbürger-Hut, wie ihn sowohl Ulbricht als auch Honecker auf offiziellen Fotos, etwa von Paraden zum 1. M a i , tragen. Attinghausen erhält durch das Barett, das er trägt, Z ü g e eines Spanienkämpfers, die Kränze in seiner Totenhalle sind so drapiert, dass die Schleifen die F o r m von Zirkel und Ährenkranz ergeben, und der Schuss auf Geßler erfolgt nicht in einer Hohlen Gasse. Teil befindet sich vielmehr auf dem Balkon eines Architektur-Versatzstückes, das deutlich der in das Staatsratsgebäude der D D R integrierten Achse des Berliner Stadtschlosses nachempfunden ist. D i e
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Zu Castorfs Inszenierungen in der D D R siehe Siegfried Wilzopolski: Theater des Augenblicks. Die Theaterarbeit Frank Castorfs. Berlin 199z, bes. S. 11-176 und Robin Detje: Castorf. Provokation aus Prinzip. Berlin 2002, bes. Teil I: Ost. Schmidt: Zur Dramaturgie in der D D R von 1969 bis 1989, S.623. Zur Bedeutung von Karge/Langhoffs »Räuber«-Inszenierung siehe Peter Ullrich (Notation, Ausw. u. Bearb.): Dialog über >Die Räuber«. In: Theater der Zeit, 1972, Heft 3, S. 5—10. »Ich lebe in der D D R und kenne auch wenig von dem, was anderswo gemacht wird. Aber natürlich hat große Innovationen ausgelöst, was Pina Bausch macht, oder das Ensemblespiel von Stein und Zadek, und natürlich bin ich selbst beeinflusst von Erlebnissen, Karge/Langhoffs >Räubern< etwa.« Frank Castorf in: Nachdenken über Kunst und Leben. Kolloquium über Frank Castorfs Inszenierung von Heiner Müllers >Der Bau< in Karl-Marx-Stadt 1986. In: Theater der Zeit, 1987, Heft 3, S. 26-30, zit. in: Kreuzer/Schmidt: Dramaturgie in der D D R , Bd. II, S. 490-499, hier: S.494. Deutscher Bühnenverein (Hg.), Dieter Hadamczik (Red.): Wer spielte was? Werkstatistik 1990/91, Darmstadt, S. 10.
Bewertung der Tat ist unzweideutig. Im Schlussbild jubeln alle Aufständischen dem zur Musik der Rossini-Ouvertüre mit einem Drachenflieger in die Lüfte entschwindenden Teil nach - das Vorbild entschwindet in die Idealität, die Zurückbleibenden sind zu eigenem Handeln aufgefordert. Art und Zielrichtung dieses Handelns aber sind im Verlauf der Inszenierung näher bestimmt worden: zum einen als Kampf für eine Sozialismusreform, zum anderen als Bündelung aller Reformkräfte unabhängig von ihrer früheren Rolle. Auch der ehedem privilegierte Rudenz wird von den Aufständischen nicht zurückgewiesen, und die Versöhnung findet am Sterbebett von Attinghausen statt, der als Spanienkämpfer den authentischen Sozialisten als Gegenbild zum Funktionär Geßler verkörpert. Vor allem die Gestaltung der Attentatsszene unterstreicht das Beharren auf einer sozialismusinternen Reform. Nicht Geßler als Vertreter der Staatsgewalt ist hier der Staatsarchitektur zugeordnet, sondern Teil tritt in dieser auf, und zwar auf dem historisch bedeutsamen Balkon, von dem aus Karl Liebknecht 1919 die Sozialistische Republik ausrief. Nicht als »Mann von der Straße« schießt Teil also Geßler und mit ihm den Sozialismus ab. Vielmehr erscheint Teil auf dem Balkon als Wiedergänger Liebknechts, in dessen Namen er den illegitimen, selbsternannten Erben erledigt. Die hier aufgeführten Beispiele fügen sich zum Panorama einer Theaterlandschaft zusammen, die sich in den 80er Jahren keineswegs in Stagnation befand. Dass dieser Eindruck auch Ergebnis der selektiven Betrachtung ist, sei unbestritten. Mit Sicherheit sind auch Theaterereignisse biederen und staatsaffirmativen Charakters zahlreich zu finden. Im hier diskutierten Zusammenhang ist aber entscheidend, dass es eine Reihe von Theatermachern vermochte, in formaler und inhaltlicher Hinsicht weitbeachtete Akzente zu setzen für ein politisch relevantes Theater, das sich auf beiden Ebenen zu positionieren versucht. Bezüglich der Abkehr von der Doktrin des »Sozialistischen Realismus« ist dabei das Bewusstsein entscheidend, »dass der Avantgardebegriff ursprünglich einen Anspruch auf ästhetische Innovation und sozialen Fortschritt umschloss«.46 Bemerkenswert ist überdies, dass jene Beispiele nicht nur im Zentrum Berlin zu finden waren, sondern auch in der vermeintlichen Provinz, neben Dresden auch in Schwerin oder Karl-Marx-Stadt. Dass im D D R Theater jener Jahre »eine große Lebendigkeit zu beobachten war«,47 ist wohl ebenso nachvollziehbar wie die Gründe hierfür. Indem die DDR-Staatsführung durch die Reformpolitik der Sowjetunion in Zugzwang geraten war, änderte sich das kulturpolitische Klima in der D D R in einer Weise, die die Realisierung des vorhandenen Potentials in Dramatik und Theaterpraxis ermöglichte. Dabei spielte die Öffnung für internationale Entwicklungen eine ebenso große Rolle wie das Anknüpfen an DDR-eigene Traditionen. Der starke Bezug zur sozialen Realität, ihren historischen Bedingungen und ihrer aktuellen Krise steht bei all den genannten Arbeiten im Vordergrund und
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Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der D D R , S.399. Arlt/Bischof: >... mir ist in den 80er Jahren kein DDR-Theater bekannt ...Vergangenheitsbewältigung< in der alten D D R . Schlammschlacht. In Solidarität mit >Theater der ZeitIch würd' gern wissen, wie man ein Geheimnis spielt.< Berlin 1997, S . 1 4 7 .
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Diese Neuorientierung ging zwangsläufig mit einer großen Vielfalt der erprobten Ansätze einher, was eben dazu führt, dass »die achtziger Jahre [...] ein undeutlicheres Gesicht« als die Vorgängerjahrzehnte haben, wie »Jahre ohne sichtbare Haltpunkte« 67 erscheinen. Grundsätzlich lassen sich wohl vier verschiedene Strömungen innerhalb des veränderten Zusammenhanges ausmachen. Die erste zu beschreibende Tendenz des Theaters ist die nächstliegende und gleichzeitig auch die unbefriedigendste. Sie besteht schlichtweg in einem Ignorieren der Veränderungen im Koordinatensystem, im Festhalten an alten Rezepten, ungeachtet der Tatsache, dass die Beschaffenheit der Zutaten sich grundsätzlich verändert hat. Eines der maßgeblichen Kraftmomente des politischen Theaters war ja die Fähigkeit gewesen, nachhaltig zu verstören - wen aber regte »Furcht und H o f f nung der B R D « (Kroetz, 1984) oder »Der Theatermacher« (Bernhard, 1984) noch in vergleichbarer Weise auf wie einst »Stallerhof« oder »Vor dem Ruhestand«? W a r letzteres Stück noch Bestandteil einer umfassenden Debatte über das Weiterwirken des Faschismus, so konnte auch das Führerbild im Landgasthof nicht verhindern, dass »Der Theatermacher« »als Beleg der These [...], dass sich Bernhards Produktion im inzwischen nur noch virtuosen Leerlauf heißläuft«, 68 herhalten musste. D e r zweite wesentliche Aspekt war das utopische M o m e n t gewesen, der Glaube daran, dass an ein allgemeines Bewusstwerden der Probleme grundsätzlich deren Uberwindung gekoppelt sei. Konnte das Benennen der Problemfelder noch W i r k u n g erzielen, solange es auf ein Umfeld traf, das sich in einer Stimmung befand, die Veränderung möglich erscheinen ließ, so lief es ins Leere angesichts einer Gesellschaft, die von ausgeprägtem Problembewusstsein wie Stagnation in gleichem Maße geprägt war. Die Benennung von Missständen verlor dieserart ihre subversive Kraft, da sie nicht mehr das Fundament weitverbreiteter Gesellschafts- und Lebenskonzepte unterminierte, sondern das Wissen um diese Missstände vielmehr einen integrativen Teil ebendieser Konzepte bildete. Das utopische M o m e n t der Erschütterung durch Bewusstmachung war gewissermaßen ins Leere gelaufen. Wenn das Bewusstsein, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, bis zum Allgemeinplatz verbreitet war, so hinderte dieses Wissen auch nicht mehr daran, im falschen immerhin ein bequemes Leben zu führen. Folglich konnte der scheinbar bewährte Ansatz nurmehr auf Desinteresse stoßen, oder aber zur Selbstberuhigung im Sinne einer Distanzierung von der umfassenden Fehllage beitragen und somit dem Verkommen eines kritischen Bewusstseins zur selbstgerechten Attitüde Vorschub leisten — ein Phänomen, das sich in Teilen weit über die 80er Jahre hinaus gehalten hat. 6 9
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Rühle: Was soll das Theater?, S. 21. Michael Böhm: Deutsches Theater und Drama nach 1945. In: Henning Rischbieter, J a n Berg (Hg.): Welttheater. 3. völlig neubearb. Aufl., Braunschweig 1985, S . 4 3 4 - 4 8 9 , hier: S.477. 1979 mag Peymanns Inszenierung von Bernhards »Vor dem Ruhestand« in Stuttgart noch ihren Beitrag geleistet haben, um einen Ministerpräsidenten mit brauner Vergangenheit zu stürzen, 20 Jahre später am Burgtheater wird sie zum eitlen Selbstzitat.
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Eine andere Reaktion des Theaters bestand in der Revision der eigenen Position durch einer Revitalisierung der einst ad acta gelegten Formen. Symptomatisch dafür ist die Entwicklung von Peter Stein und der Schaubühne. M i t zunehmendem Bewusstsein über das unausgewogene Verhältnis von Gesellschafts- und Textanalyse besann sich das einstige Aushängeschild des Regietheaters nun auf die vordem für längst überholt gehaltene Werktreue. Ich würde gern [...] die Strukturen der Stücke und der Theatertexte genau so lassen, wie sie sind, und jeden E i n g r i f f , jede willkürliche H i n z u f ü g u n g vermeiden. [...] Dieser Widerstand und diese Abscheu gegenüber vorgegebenen Intentionen bezieht sich auch auf den >TassoTasso< [...] habe ich einige grundlegende Behauptungen in den Boden des Stückes gerammt. 7 0
V o r dem Hinterdrund, dass Brechts »Beispiel von Klassikerinszenierungen am Berliner Ensemble [...] auch der Erneuerung im Klassikertheater in der Bundesrepublik die entscheidenden Impulse gegeben« 71 hat, lässt sich in diesen grundsätzlichen Überlegungen Steins auch eine Absage an die Brechtsche Dramaturgie erkennen. D a diese mit ihrer Vorstellung vom »Materialwert« der Klassiker wesentlich darauf beruht, in der materialistischen Dialektik ein Instrument zur Analyse der Gesellschaft gefunden zu haben, zeigt sich auch hier ein Hinweis auf die Bedeutung des weiter oben behaupteten intellektuellen Klimawandels für das Theaterschaffen. Nicht zufällig ging die Abkehr vom einstigen Vorbild Brecht einher mit einer intensiven Beschäftigung mit dem traditionell als dessen Antipode verstandenen Stanislawski, die deutliche Spuren in der Theaterpraxis hinterließ, etwa in Peter Steins »Drei Schwestern« (Tschechow) von 1984. Im Zuge der Wiedereinholung von Positionen, die während der hochpolitisierten Phase als individualistisch und dekadent verworfenen worden waren, hat nun »der romanhafte Realismus (von Jürgen Flimms >Platonov< bis zu Andrea Breths Bochumer Inszenierung >Süden< von Julian Green) [...] seine neue Stunde«. 72 Dies ist nicht nur formal zu begreifen, sondern bedeutet auch inhaltlich, das Private und die Psychologie wieder in ihr Recht zu setzen. Diese Rehabilitierung von Aspekten des Lebens, die zuvor als unwesentlich diskreditiert wurden, da sie sich nicht unmittelbar gesellschaftspolitisch bestimmen ließen, stellte sicherlich eine notwendige Korrektur dar. Insgesamt wirkte dieser Ansatz aber kaum weiterführend, da er es nicht vermochte, das Recht des bislang Ausgeschlossenen innerhalb einer gesellschaftsrelevanten Theaterarbeit zu behaupten - etwa indem die mittelbaren Zusammenhänge beider Sphären untersucht würden. Dem Verlust einer auf theoretischem Vorsprung gegründeten Überlegenheit gegenüber dem zu reflektierenden Phänomen wurde hier eher durch ein Ausweichen begegnet
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Peter Krumme: W o h i n das führen wird, weiß ich noch nicht. Gespräch mit Peter Stein in T h e a t r e en Europedekonstruktive F ü n f T h e i l e und drei Stellen des Dramas< und S. 1 7 0 - 1 8 4 : >Die f ü n f AkteRoten Ochsen< ausgesagt hast, dass ich ausreisen wollte nachm Westen - worunter verbuchen wir das?« (S. 34) Entscheidend ist für den weiteren Handlungsverlauf Urbans Verteidigung, »dass nicht Urban, Waldemar, hinter deim ganzen Unglück hockt. Da hocken andere und haben angestoßen.« (S. 34) Das ist einerseits als Versuch zu verstehen, Billis Aggression umzulenken, andererseits auch als Drohung, deren Adressat zu diesem Zeitpunkt noch unklar ist. Urban ergänzt seine Verteidigungsstrategie durch den Versuch, Billi als gefährlich Geistesverwirrten zu isolieren. Dass dieser Versuch nicht ohne Erfolg bleibt, zeigen die letzten Sätze des ersten Aktes, in denen die Frau des Bürgermeisters über den nicht mehr anwesenden Billi spricht. Rosita: Der ist völlig unkalkulierbar. Kann man nicht leben mit so einem. Da muss man vorbauen, Dankward! Das gibt Mord und Totschlag — na, Dankward! Wenn der Billi gegen uns losgeht wie gegen den Urban ... (S.39)
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Exposition und Steigerung durch »erregende Momente« 1 2 sind somit zum Ende des ersten Aktes abgeschlossen. Der Zuschauer ist nun auf dem gleichen Kenntnisstand wie die Hauptfigur Billi, das heißt er kennt die Vorgeschichte in groben Zügen, weiß aber über die genauen Zusammenhänge der damaligen Vorgänge nicht Bescheid. Z w e i gesellschaftliche Außenseiter wurden eingeführt: der geächtete Stasi-Spitzel und das zurückgekehrte Stasi-Opfer. Aus deren Konfrontation heraus werden Fragen der Vergangenheit neu aufgeworfen und es bleibt offen, ob sich hinter dem geheimen Stasi-Oberst der Bürgermeister verbirgt. Somit sind die Voraussetzungen für einen dramatischen Konflikt der Art geschaffen, dass Billis mögliches Verlangen nach Aufklärung der Vergangenheit dem Wunsch nach Vertuschung zuwider läuft, den damals wie gegenwärtig starke gesellschaftliche Institutionen bzw. die sie verkörpernden Personen hegen. Der zweite Akt in der W o h n u n g von Billis Schwester Greta stellt handlungsmäßig vor allem ein großes retardierendes M o m e n t dar und eröffnet Raum, die Hauptfigur und ihre Beziehung zu ihren nächsten Bezugsfiguren zu vertiefen. Nachdem Greta die Ereignisse des Mauerfalls geschildert hat, äußert Billi den Wunsch, die Stadt auf immer zu verlassen und bestätigt damit, dass der von Urban ausgelegte Köder Wirkung zeigt. Billis Wunsch Fortzugehen veranlasst nun Greta zu einem Geständnis, mit dem ein neues Motiv eingeführt wird: das der inzestuösen, allerdings weder praktizierten noch von Billi erwiderten Liebe. In die angespannte S t i m m u n g zwischen den Geschwistern tritt Sascha, die Bedienung aus dem Gasthaus, von Billi aus unerfindlichen Gründen stets als »Spanierin« tituliert. Sie überreicht ihm ein Geschenk mit den Worten: »Von deiner Spanierin. Z u r Begrüßung.« (S. 51) wie sie auch sonst seinen eigenwilligen Sprachgebrauch - etwa die Bezeichnung der Wunde als Guckloch - übernimmt. A u f diese Weise signalisiert sie Akzeptanz und findet damit Einlass in seinen Kommunikationscode - und zugleich hat Greta ihre Monopolstellung als Bezugsperson Billis verloren. Als Sascha sich schließlich verabschiedet, fordert sie Billi auf, sie später im Gasthaus zu besuchen, spricht aber gleichzeitig eine unbestimmte Warnung aus: »Lauf nicht in die Mausefalle.« (S. 51) Neben dem neuen Motiv der Liebe Gretas zu ihrem Bruder sind im zweiten Akt dramaturgisch vor allem zwei Gesichtspunkte wesentlich. Z u m einen wird eingangs mit dem von Billi geäußerten Wunsch, die Stadt zu verlassen, die zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Möglichkeit der Konfliktausweichung aufgezeigt. Z u m anderen wird zum Ende des Aktes durch die Lösung Billis aus dem hörigen Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Schwester die Voraussetzung für eine Konfliktzuspitzung geschaffen. Denn während Greta stets zu Zurückhaltung und Mäßigung mahnend auf Billi einwirkte, wird seine neue Vertrauensperson Sascha ihn im dritten Akt in seiner konfrontativen Haltung bestärken:
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Siehe Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S . 2 0 8 . 45
Sascha·. Hass, hieß es früher, Hass ist die notwendige Konsequenz aus dem Klassenkampf. [...] Wenn ich du war... Billi: Hassen kann ick ooch. (S.62)
Zusätzlich wird auf einer pragmatischeren Ebene durch Saschas Aufforderung, sie später zu besuchen, der Grund für das erneute Aufeinandertreffen der Kontrahenten gelegt, wohingegen Greta Billis Vorhaben, die Stadt zu verlassen, unter der Bedingung unterstützt, gemeinsam fortzugehen. Im dritten Akt werden die diversen ausgelegten Fäden aufgenommen und miteinander verknüpft. Er beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Bürgermeister-Ehepaar, Pastor Menzel und dem Arzt Ucker, in dem Rosita verkündet, ihr Mann sei suizidgefährdet aufgrund des Gerüchtes, er sei der geheime Stasi-Oberst, während Nickchen selber die Meinung äußert, Billi müsse zur Nachbehandlung gezwungen werden. Nachdem die vier ins Hinterzimmer abgegangen sind, treten Urban und Stahl auf, wobei Urban erneut und schließlich auch erfolgreich das Angebot unterbreitet, Stahl mit vertraulichen Informationen über mögliche Kreditnehmer zu versorgen. Nun tritt Billi hinzu, der sich von der schlafenden Greta davongeschlichen hat. Die Lage spitzt sich zu, als Sascha eine Clownsmaske hervorholt. Billi nötigt Urban, die Maske aufzusetzen, der darin wohl eine Anspielung auf den Verstellungscharakter seiner alten Spitzel-Tätigkeit sieht und sich zu rechtfertigen beginnt. Dabei beruft er sich nicht nur darauf, lediglich die geltenden Gesetze ausgeführt zu haben, sondern bemüht sich erneut, die Verantwortlichkeit für das Geschehene auf Nickchen umzuleiten. Urban: Nickchen drüben wartet nur darauf, dass du zu krakelen anfängst. [...] Du verdankst ihm mehr als du ahnst. [...] Pass auf, dass du ihm nicht noch mehr verdanken musst. Und das verläuft ganz anonym. Da ein Brief geöffnet, dort ein Telephonat abgehört. Billi: Hast du was von einem Brief gesagt? (S. 59)
Mit dem »Brief« ist nun ein Schlüsselwort gefallen, dessen Erwähnung im Handlungsaufbau den Moment der Peripetie vorbereitet, der »unerwartet plötzlichen Wendung im Schicksal des [...] Helden, die ihm die Handlungsfreiheit entzieht«.13 Mit dem Hinweis, wer imstande sei, Aufklärung zu leisten, ist Billis Wunsch nach Aufdeckung nun derart stark, dass sein Vorhaben, sich der alten Umgebung zu entziehen, dadurch verdrängt wird. Als Nickchen in die Schankstube tritt, spuckt Billi ihm ins Bier und nötigt ihn, »auf die heimlichen Briefleser« (S. 63) zu trinken. Dass Nickchen dieser Aufforderung nachkommt, wertet Billi als Schuldeingeständnis, das entsprechendes Handeln seinerseits erzwingt. »Billi: Er trinkt, Sascha, jetzt weiß der Affe Bescheid. Geht. Licht machen im Schlachthof. Er geht schnell ab.« (S. 63) Auch wenn die Enthüllung der Vergangenheit noch aussteht, so hat der eigentliche Umschwung doch in diesem Moment schon stattgefunden und die weitere Handlung folgt einer inneren Zwangslogik. Der im ersten Akt angelegte
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Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S. 672f.
Konflikt ist offen ausgebrochen, Billi will »Licht machen«, also die Z u s a m m e n h ä n g e der vergangenen Geschehnisse aufklären, u n d stellt sich d a m i t seiner U m w e l t entgegen: »Nickchen·. D a s reicht mir. Jetzt muss er weg.« (S. 63) N a c h d e m Billi zurückgekehrt ist und N i c k c h e n mit einem Messer bedroht, enttarnt Rosita, u m ihren M a n n zu schützen, den vermeintlich kleinen Spitzel Urban als den geheimen Oberst. Dieser »wegen der S p a n n u n g überraschende[n], j e d o c h nicht zufällig erscheinende[n] Schürzung des Knotens«' 4 folgt nun die fallende H a n d l u n g dergestalt, dass der enttarnte U r b a n , da er nichts mehr zu verlieren hat, alle anderen Figuren dazu zwingt, ihre Verstrickung in Billis Schicksal zu offenbaren. D u r c h diese Abfolge von Geständnissen erfährt Billi die Zusammenhänge seines Ausschlusses aus dem Nationalkader, seiner V e r h a f t u n g und schließlich der E i n w e i s u n g in die Psychiatrie, an denen, teils bewusst, teils unwissentlich, alle Figuren beteiligt sind. D i e A u f d e c k u n g der verborgen gehaltenen Vorgänge, in deren Folge das v o n der Gesellschaft aufgebaute Selbstbild zusammenbricht, wird vorangetrieben v o n den beiden Außenseitern — Billi, der mit körperlicher G e w a l t , und U r b a n , der m i t seinem Wissen droht. D i e Reaktion der Gesellschaftsmitglieder ist dabei v o n dreierlei Art: Bestürzung, Unterstützung und Ablehnung. D e r ablehnenden H a l t u n g zuzurechnen sind neben Bürgermeister N i c k c h e n und seiner Frau Rosita, die Billis erneute Psychiatrisierung schon v o r der Eskalation propagierten, auch der Pastor und Billis Schwester sowie der außenstehende Westler. »Stahl·. Ich finde, diese ganzen Sachen behindern nur. D a sollte man einen Punkt machen. [...] H e r r Kotte. Sie können nur verlieren, w e n n Sie das aufdröseln wollen.« (S. 80) Das Stück schließt mit einem zweiteiligen Epilog. Zunächst ist die im Gasthaus versammelte Gesellschaft nach O f f e n l e g u n g aller Verstrickungen noch unter sich und mit der Peinlichkeit der eigenen Bloßstellung konfrontiert. W i e d e r u m sind grundsätzlich drei Haltungen zu unterscheiden. Billi empfindet die Situation als befreit und befreiend, sowohl für sich als auch die anderen. Billr. Jetzt haben wir was zu feiern. Ihr müsstet eure Gesichter sehen. Wie umgegraben. Der Kleister ist raus. [...] Jetzt ist es raus. Jetzt bohrt es nicht mehr. [...] Prima gehts mir. Macht nicht mehr >sssssst< da. [...] Würd gern singen. (S.84) D i e anderen hingegen schwanken zwischen Scham, Angst und Aggression — U r b a n schließlich, sowohl M o t o r des an Billi begangenen Unrechts als auch Katalysator von Billis Aufklärungswunsch, scheidet still aus der Gesellschaft aus. A u f g r u n d eines Missverständnisses' 5 hatte Billi i h m w ä h r e n d der A u f d e c k u n g eine S t i c h w u n d e zugefügt, an der er nun stirbt. Während also die Frage, welches M a ß an Reue dem Hauptverantwortlichen zuzutrauen sei, sich von selbst erledigt hat, bekommen die übrigen Schuldiggewordenen mit dem Eintreffen der von U r b a n zuvor herbeigerufenen Pfleger u n d Polizisten
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Ebd., S. 673 »Billi·. Der hat gesagt, ich hab sie nicht alle beisammen! Urban·. Zusammen, habe ich gesagt, du hast die Stiefel noch nicht alle zusammen ...« Pohl: Karate-Billi kehrt zurück, S.81. 47
eine Chance zur Rehabilitation. So unterschiedlich ihr Empfinden bezüglich der aufgeklärten Situation auch war, einte sie, solange die Gruppe unter sich war, insgesamt doch der Umstand, dass sie sich in ihrer Beklommenheit deutlich von Billis positiver Sicht absetzten. Diese Distanz wird nun teilweise aufgehoben und zugunsten des Schutzes von Billi in die Identifikation mit der Täterrolle verkehrt. Billi scheint das Auftreten von Pflegern und Polizei zunächst zu missdeuten und er stellt sich schützend vor die Gruppe. Als jedoch klar geworden ist, dass er selber abgeholt werden soll, übernehmen einige der Übrigen die Verantwortung, indem sie sich selbst beschuldigen. Am deutlichsten grenzt sich aus dieser Gruppe der Reuigen Rosita aus — und von ihr kommen auch die letzten Worte des Stückes: »Rosita: Dankward! Ich nicht! Wir nicht! [...] Wir haben mit der Schweinerei nichts zu tun!« (S. 87) Wie die Figuren schon während der Aufdeckung der vergangenen Geschehnisse gewissermaßen als Funktionsträger dienten, um ein Spektrum gradueller Abstufungen der Verstrickung in das totalitäre System - von Saschas völlig unbewusster Beteiligung durch Kompromittierung ihres Vaters bis zur aktiven Zuarbeit der briefefälschenden Rosita - sowie unterschiedlich starke Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu illustrieren, werden auch in der Schlussszene unterschiedlich ausgeprägte Haltungen von Reue und Verantwortungsbereitschaft vorgeführt. Einige der Figuren weisen dabei eine deutliche positive Wandlungsfähigkeit auf, wie Pastor Menzel und Bürgermeister Nickchen, andere zeichnen sich durch besondere Konstanz ihrer integren (Ucker) oder aber egoistischen (Rosita) Grundhaltung aus. Doch auch im Fall der Figuren, die ihre Haltung deutlich geändert haben, ist diese Schlusswandlung psychologisch nachvollziehbar und weicht die Rollenkonsistenz nicht auf. Menzels Verstrickung basierte auf der Angst, durch die Promiskuität seiner Tochter bloßgestellt zu werden. Nun, da ihr Verhalten publik ist, gibt es für ihn nichts zu Schützendes mehr. Nickchens Haltung kann gedeutet werden als Versuch, eine Zäsur zum alten Leben zu setzen, dessen Lügenhaftigkeit ihm nicht zuletzt durch das Geständnis seiner Frau offenbar wurde, dass sie ihn mit dem Stasi-Oberst Urban betrogen hat und in Billis Konkurrenten verliebt war. Allein mit Hilfe des Dialogs der Figuren wird in »Karate-Billi kehrt zurück« also eine Bühnenrealität aufgebaut, die in ihrer Organisation der konventionellen Wahrnehmung unserer sozialen Wirklichkeit entspricht. Weder ist die Bühnenrealität abweichend von naturgesetzlichen Gegebenheiten organisiert, noch weisen die Figuren selbst oder ihr Handeln Züge auf, die eine Einfühlung seitens des Zuschauers zurückweisen würden. Ihr Sprachgebrauch entspricht weitgehend dem alltäglicher Kommunikation, wo er (wie teilweise im Falle Billis) von dieser abweicht, ist dies durch die Biographie der Figur erklärbar. Ebenso liegen den Handlungen nachvollziehbare Motivationen zugrunde, die sich aus der Konstellation der Figuren erschließen lassen. Daraus entsteht eine »Szenenfolge, in der jede Szene die nächste hervorbringt«.16 Als kennzeichnend für Stücke in der Art von »Karate-Billi kehrt
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Szondi: Theorie des modernen Dramas, S.18.
zurück« erachtet Gerda Poschmann, dass sie »neben der dramatischen Form auch intrafiktionale Theatralität nutzen«: Indem »die referentielle Illusion des Theaters in Rechnung« gestellt werde, beruhe »die Verständigung mit dem Publikum [...] wesentlich auf der traditionellen Theaterkonvention des >als obDa mach ich mir ein historisches Eselsohr.< Tradition und Aktua-
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tet heraus, dass sich anhand der intertextuellen Bezüge die Figuren untereinander kategorisieren lassen hinsichdich ihres mehr oder weniger kompetenten Umgangs mit der Literatur. Das ist nun vor allem deshalb von Belang, weil dabei der souveräne Umgang mit dem überlieferten Wort gekoppelt wird an die Fähigkeit, in der aktuellen Situation angemessen zu handeln. So gewinnt eben Delia dadurch eine dominante Stellung Lorenz gegenüber, dass sie seiner sich auf die biblische Geschichte berufenden Rechtfertigung mit noch genauerer Textkenntnis begegnet. Ähnliches vollzieht sich im dritten Teil, wobei nun anstelle des Mythos' die Historie die Bezugsgröße darstellt, etwa wenn Patrick durch Kenntnis der unterschlagenen Passagen das von Anita aufgebaute Vaterbild in Zweifel zieht. Die Historie wird im dritten Teil durch Anita von Schastorf immer wieder ins Spiel gebracht. Dabei wird sowohl die Frage der Vermittlung als auch die Frage nach der Bedeutung von Geschichte thematisiert. »Aber man muss es doch weitererzählen« (III, S. 90) insistiert Anita. Doch ausgerechnet von Patrick, dem Historiker, wird ihr entgegengehalten: »Aber, mein Gott, wen interessiert das jetzt?« (III, S. 90), bevor er das Lokal verlässt, um sich auf der Straße den Ereignissen der Gegenwart zuzuwenden. Die beiden Pole von Erleben und angelesenem Wissen stoßen an anderer Stelle noch einmal aufeinander, wenn sich Ursula und Anita über Feuerland unterhalten. Anita bezieht ihr Wissen über Feuerland dabei aus den Reiseberichten Darwins, während Ursaula — da sie ja dort war - vorgibt, alles von Anita Erwartete gesehen zu haben, selbst die längst erloschenen Feuer, von denen Magellan berichtet. Beide vorgeführten Modi von Weltrezeption erweisen sich als mangelhaft. Von diesen beiden einseitig versteiften Haltungen abgesetzt ist einzig die Figur des »Lesers«, der das im »Siebenkäs« gerade Gelesene auf die soziale Umwelt zu beziehen vermag: »Und so werden alle A b e n d s t e r n e dieses Lebens einmal als M o r g e n s t e r n e wieder vor uns treten.< Nun gut, sehen wir uns das neueste Blendwerk an da draußen, wenn Venus den Deutschen einen Abend für einen Morgen vormacht! (III, S. 89)
Durch die Vermittlungsleistung der Sprache also wird Erleben erst in Erkenntnis transformiert. Sprachbeherrschung und Welterfahrung des »Lesers« korrespondieren in einer Weise miteinander, die seine Position als eine souveräne beschreibbar werden lässt, weil »er sich Literatur kritisch aneignet, hinter dem Buch die Ohren spitzt und das Gelesene in kreativer Weise mit seiner Erfahrung >da draußen< (S. 89) zu vermitteln sucht.«67 Nur durch die Sprache vermittelt, kann Erleben also in Erkenntnis transformiert werden. Dieses »da draußen« nimmt im Verlauf des Stückes zunehmend mehr Raum ein. Anfänglich lässt sich die Gegenwärtigkeit nur aus einzelnen Satzfetzen der
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lität in Botho Strauß< >SchlusschorDa mach ich mir ein historisches Eselsohrs S.209f.
Stimmencollage des Chores erahnen, in denen die Moden der westdeutschen Gesellschaft karikiert werden. Ansonsten bleiben im recht unbestimmten Eröffnungsteil die Auskünfte der versammelten Gruppe über sich selbst, also auch darüber, wie sie zueinander stehen, spärlich und widersprüchlich: »Wir sind ein kleines Betriebsjubiläum.« »Wir sind ein kleiner Ausflug des historischen Seminars.« »Wir sind ein Klassentreffen.« (I, S. 30) Ebensowenig lassen sich aus ihren Aussagen begründbare Vermutungen über den genauen Zeitpunkt oder den Ort ihres Zusammenkommens treffen. Im zweiten Teil ist dagegen nicht nur das Verhältnis der Personen untereinander näher bestimmt (Architekt und Auftraggeberin) und darüber hinaus Anlass und Ort ihrer Begegnung ersichtlich (Entwurfsbesprechung in der ersten Szene, gesellschaftlicher Empfang in der zweiten; beides findet im Haus Delias statt). Auch der Zeitpunkt ist als um die Wiedervereinigung liegend bestimmbar: »Aus dem Saal [...] die Stimme eines Mannes·. Also mich reißt es jedes Mal vom Sessel, wenn ich höre, was euch dieses neue Deutschland kosten soll!« (II, S. 66) Ganz konkret wird es schließlich im dritten Akt, wenn die Ereignisse außerhalb des Lokals und der Auftritt des Paares aus der D D R den Zeitpunkt der Handlung auf den 9. November 1989 und den Ort auf West-Berlin festlegen. Zeitgeschichte wird im Verlauf des Stückes also zunehmend greifbarer, wobei diese Entwicklung einer allgemein zunehmenden Konkretisierung entspricht, wie sie sich schon im Wandel der Figuren von Nummerierten über Attribuierte zu Namensinhabern verfolgen ließ. Ausgehend von einer Szene, die alle Merkmale des Postdramatischen aufweist, 08 landet das Stück in einem dritten Teil, der nach allen Regeln der dramatischen Kunst soziale Realität auf die Bühne bringt, um dann in einem Schlussmonolog zu enden, der sich in seiner symbolischen Aufladung jedem mimetischen Verständnis entzieht. Die realistische Gestaltung des politischen Geschehens wird also umfangen von disparat gestalteten Teilen, wodurch der Akzent verschoben wird von einer rein abbildungstreuen Gestaltung des Ereignisses zu dessen Deutung durch die anderen Teile — vorausgesetzt, man begreift die einzelnen Szenen gerade nicht als »drei Sketches, die miteinander nichts zu tun haben.« Neben den angesprochenen Merkmalen zieht sich durch alle Teile des Stücks hindurch der Gebrauch von Stilmitteln der modernen Komödie. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass der ständig knipsende Fotograf des ersten Aktes gerade im entscheidenden Augenblick versäumt, den Auslöser zu betätigen. Im zweiten Akt zählen dazu das Öffnen der falschen Tür, die Rolle von Lorenz als liebestrunkener Tollpatsch, das Uberraschen der nackten Auftraggeberin im Bad, die angedeutete Dreiecksgeschichte durch den Auftritt von Lorenz' Ex-Frau Henriette und das Verwechseln des Mantels. Im dritten Akt kommen das Aufeinandertreffen von
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D.h.: Auflösung der Dialogform, nicht-individualisierte Figuren in einer räumlich und zeitlich unkonkreten Situation, in der etwas geschieht ( T o d des Fotografen), das sich weder durch Kausalität noch Wahrscheinlichkeit erklären lässt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ja auch die griechische Tragödie, auf die mit dem C h o r angespielt wird, für Lehmann Beispiel eines nicht-dramatischen Theaters ist.
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ehemaligem Liebhaber und E h e m a n n , Anitas Vorflunkern von de facto nicht vorhandenen Reiseerfahrungen u n d die K o n k u r r e n z zwischen ihr u n d Ursula u m Patrick hinzu. N e b e n den zahlreichen literarischen Bezügen und Mythenverweisen werden damit Merkmale des Boulevardtheaters ausgestreut, welches »das W o h l standsbürgertum aufs Korn« n i m m t , und »von Handlungsverwicklungen, Dreiecksgeschichten, Attacken auf die Standesmoral, die aber schließlich immer siegreich bleibt«, 0 9 lebt. Beide Stilebenen sind dabei mitunter eng verwoben, und eine klare Abgrenzung des komödiantischen von den zuvor herausgearbeiteten Anteilen, also etwa eine Einteilung in die komischen und die ernsthaften Episoden, erscheint dem Bau des Stückes unangemessen. Gerade die Vermengung des Nicht-Zusammengehörigen, das Auseinanderklaffen von Anspruch und Umsetzung ist vielmehr kennzeichnend f ü r »Schlusschor« zu beinahe jedem Zeitpunkt. I m ersten A k t wird dies deutlich, w e n n die Chormitglieder entgegen ihrem Status als anonyme Choreuten sich dagegen verwehren, als »e i η Gesicht [...] ein K o p f - ein M u n d - ein - Blick. Ein Antlitz!«(I, S. 28) wahrgenommen zu werden. O b w o h l diese Einheit gerade das Wesen des Chores ausmacht, beharren sie auf ihrer Individualität und lassen dieses Wort: »In-di-vi-du-al-i-tät« (I, S. 26) auf sieben Stationen verteilt Silbe für Silbe durch ihre Reihen laufen, teilen in ihrem Beharren auf die Unteilbarkeit also eben diese auf. Die V e r m e n g u n g ist im zweiten A k t zunächst kennzeichnend f ü r den Dialog zwischen Lorenz und Delia. Z w e i Gespräche, eines über den Dachausbau, ein anderes über den Vorfall im Badezimmer, laufen durcheinander. D i e vermischten Gespräche unterscheiden sich aber nicht nur in ihren T h e m e n , sondern auch in ihrer Bedeutsamkeit. So stehen pragmatische Alltagsprobleme wie Feuerwehrzufahrten u n d V o r s c h r i f t e n der Bauaufsicht s c h r o f f neben Fragen der verletzten Intimität und dem Umstand, dass »Opfer und Täter offenbar nicht ganz dasselbe« (II, S. 38) empfinden. N a c h d e m das Prinzip der Durchmischung f ü r den Rest der Szene aufgegeben wurde, k o m m t es in der folgenden umso deutlicher wieder zum Einsatz. Symptomatisch dafür ist der Schluss des Aktes. Erst die Verwechslung des Mantels, klassisches Stilmittel der Komödie, spielt Lorenz die Pistole in die H a n d , mit der er sich, gegen jede Konvention der K o m ö d i e , erschießt. Ahnliche Brechungen lassen sich auch im dritten A k t wiederfinden. In höchstem M a ß e ernst lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Anita von Schastorf und ihrer Mutter an, dreht sie sich doch immerhin neben der Frage der ehelichen Treue auch u m den deutschen Widerstand gegen Hitler. Dieser gewichtige Disput wird aber konterkariert und ins Lächerliche verkehrt, wenn der »Leser« darauf hinweist, Anita würde diese Szene »überall, w o eine Handvoll Menschen ahnungslos versammelt ist« eröffnen und »später mit der offenen Mütze« G e l d sammeln »zu Ehren des Papas.« (III, S. 85)
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Manfred Brauneck, Gerard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. 3. vollst. Überarb. u. erw. Neuausgabe, Reinbek b. Hamburg 1986, S.157.
Schließlich lässt sich feststellen, dass dieses Verharren der Figuren des dritten Aktes in privaten Problemfeldern insgesamt in grobem Missverhältnis steht zum politischen Umwälzungsprozess, der sich simultan dazu außerhalb des Lokals, und zwar in seiner direkten Umgebung, vollzieht. Entsprechend hilflos reagiert die mit sich selbst beschäftigte Gesellschaft dann auch, als sie mit diesem Außen konfrontiert wird. »Wir freuen uns auch auf die Diskussionen mit Ihnen« (III, S. 87), sagt der Mann aus der D D R . Doch auch diese Freude fällt ins Leere, weil ihr nicht auf gleicher Ebene geantwortet wird. Stattdessen wird in Gestalt des »Rufers« westdeutsche Borniertheit karikiert, und anstelle der Neugier empfängt das Paar aus der D D R nur das Klischee: »Der Rufer: So sehen Menschen aus, die vierzig Jahre nicht glauben konnten, dass es Monte Carlo wirklich gibt!« (III, S. 87) Auf dieser Ebene werden dem Rezipienten weder literarische, noch historische Kenntnisse abverlangt, sondern einzig die Kenntnis des eigenen gesellschaftlichen Alltags bzw. die Bereitschaft zu seiner Wiedererkennung. In diesem Sinne trägt das Stück auch Züge einer Gesellschaftssatire, die ihr Angriffsziel in den materiell abgesicherten Schichten der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft sucht und dort Muster missglückter Kommunikation bloßlegt. Diese Ebene wird umso wirksamer, je konkreter das Bühnengeschehen auf die zeitgenössische außertheatrale Wirklichkeit beziehbar ist. Dann erst wird aus dem allgemein-menschlichen Aneinander-vorbei-Reden gesellschaftstypisches Verhalten bundesdeutscher Selbstbezogenheit, in deren Folge west-ostdeutsche Verständigung zur Unmöglichkeit wird. »Schlusschor« stellt sich demnach als ein Geflecht verschiedener Themen dar, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt, aber dennoch eng miteinander verwoben sind. Diese Themen sollen nun noch einmal zusammengefasst und um ein weiteres ergänzt werden. Gleich zu Beginn wird das Kollektiv des antiken Chores mit dem Wunsch nach Unterscheidbarkeit konfrontiert. Das Themenfeld der Individualisierung in der Moderne ist damit ebenso aufgerissen wie die grundsätzliche Frage nach der Abhängigkeit der menschlichen Existenz von einem wahrnehmenden Gegenüber. Damit verbunden ist unweigerlich die Frage des Selbstbildes (schon durch den Akt des Photographierens wird im ersten Akt darauf verwiesen), vor allem aber die Differenz unterschiedlicher Wahrnehmungen. Sofern die Differenz nicht wie im ersten Akt dadurch aufgelöst wird, dass die abweichende Wahrnehmung von der Masse absorbiert (der Photograph verschluckt) wird, fungiert Sprache dabei, wie im zweiten Akt zwischen Lorenz und Delia, als Medium der Auseinandersetzung. Die miteinander konkurrierenden Gegenwartswahrnehmungen werden dabei jeweils in Bezug gesetzt zur ebenfalls mittels Sprache transportierten Überlieferung. Die Vergangenheit wirkt also über Sprache vermittelt als Legitimationsinstanz auf die Gegenwart ein wie umgekehrt das Problem miteinander konkurrierender Versionen in diesem Prozess auch auf die Vergangenheit übertragen wird. Über die Gegenwart gebietet also, wer die Vergangenheit am überzeugendsten zu interpretieren vermag. Sprache wird damit nicht nur zum Machtinstrument, sondern zum zentralen Instrument der Welterkennung, wenn nicht gar Weltkonstruktion: »Jetzt erst, wo wir davon sprechen, erscheinen Sie mir hüllenlos ...« (II, S.38) 71
Neben diesem erkenntnistheoretischen Strang wird mit dem Vorführen mangelnder Sprachbeherrschung auch eine Gesellschaftssatire entworfen, die auf misslingende Kommunikation abzielt, deren Folge ein ständiges Scheitern verschiedener Vereinigungsmomente ist. Diese sind auf der privaten Ebene zwischen Lorenz und Delia zu beobachten, auf der gesellschaftlichen beim Zusammentreffen west- und ostgeprägter Menschen. Die Unfähigkeit, angemessen zu reagieren, liegt neben den Kommunikationshemmnissen vor allem in der Plötzlichkeit der Ereignisse begründet. Weder Chor noch Photograph waren auf den Moment vorbereitet, da der Ruf »Deutschland!« sie zusammenfahren lassen würde, doch jetzt ist der Augenblick »Vorbei. Verpasst. Umsonst.« (I, S. 16) Die gleiche Überraschung kennzeichnet das Aufeinanderstoßen von Lorenz und Delia im Moment ihrer Nacktheit wie auch die Tatsache, dass Lorenz ganz plötzlich einen Revolver in seiner Hand hält. Ebenso werden die im dritten Akt im Lokal Versammelten von dem Ereignis des Mauerfalls unvorbereitet überrumpelt. Dieses Moment der Plötzlichkeit korrespondiert mit den Anzeichen von Inkohärenz, dem Mangel an Kontinuität und Vorhersehbarkeit der Handlung, die das Stück prägen. In diesem Zusammenhang lässt sich die Plötzlichkeit nun auch noch anders, denn als bloßer Grund für die Handlungsunfähigkeit der jeweiligen Figuren interpretieren. So ist beispielsweise zu fragen, was eigentlich Lorenz im zweiten Akt zu seiner bis zur Selbstzerstörung gehenden Anbetung für Delia treibt. Der kurze Moment, in dem er unvorbereitet Delia nackt im Bad erblickte, strahlt eine Kraft aus, die imstande ist, sein Leben grundlegend zu beeinflussen. Er erträgt die Demütigung, die Bauleitung abgeben zu müssen, bleibt unberührt von Vorhaltungen seiner Ex-Frau, er würde sich gesellschaftlich blamieren, und erschießt sich schließlich sogar, nur weil es diesen einen Augenblick gab, in dem sein Auge die nackte Delia erblickte. Dieser Augenblick erhält also eine Bedeutung, die sich dahingehend deuten lässt, dass Lorenz »im Schreck, in der Überraschung des Versehens pars pro toto einen größeren Zusammenhang zu erfassen« 70 vermochte. Das Moment des Plötzlichen zeichnet sich aber per definitionem neben seiner Unvorhersehbarkeit durch seine Unausdehnbarkeit aus, so dass Lorenz' Versuch, den Augenblick in die Konstanz einer Liebschaft zu überführen, scheitern muss. In dieser Lesart lassen sich in »Schlusschor« Ansichten finden, die Strauß auch in anderen Texten dargelegt hat. Die zentrale Stellung des Unvorhergesehenen drückt seine Interpretation von moderner Naturwissenschaft aus, sein Interesse für das, was diese mit dem Ausdruck >Emergenz< bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das Systemganze^71
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Thomas Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels. Die >Wende< in den Texten von Botho Strauß. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Botho Strauß. (TEXT + KRITIK, Bd. 81: Zweite Auflage: Neufassung) München 1998, S. 76-99, hier: S.80. Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik
Dieses Phänomen bezieht Strauß in der zitierten Passage auf den Zusammenbruch des Ostblocks, also auf jene Ereignisse, die Bestandteil des dritten Aktes von »Schlusschor« sind. Was an Fragen an den zweiten Akt herangetragen wurde (und sich auch auf den ersten beziehen ließe), kann also wieder von der privaten Ebene auf die gesellschaftliche übertragen werden. D e m plötzlich hereinbrechenden Ereignis des Mauerfalls kommt dann ähnliche Bedeutung zu wie Lorenz' Blick auf Delia, und das geschichtliche Ereignis gibt in seiner Plötzlichkeit für einen Augenblick die Sicht frei auf das Übergeschichtliche, wird zur »Berührung mit dem Absoluten«. 72 Die Inkohärenz der Szenenfolge, der Mangel an Kontinuität und Vorhersehbarkeit werden in diesem Zusammenhang struktureller Ausdruck der Auffassung, es sei »wichtig, auf das Versprengte in jeder Sache oder Handlung zu achten, auch wenn sie scheinbar noch so kausal, zusammenhängend, schlüssig sich darbietet.«73 Vor dem Hintergrund des zuletzt entwickelten Interpretationsmusters werden die zuvor entwickelten Bezugsgrößen Zeitgeschichte, Historie, Mythologie, die im Schlussbild »Anita mit dem Adler« verschmelzen - der Adler kann sowohl als Bundesadler als auch als Reichsadler oder als Anspielung auf den Zeus-EuropaMythos 7 4 verstanden werden — um eine religiöse Ebene erweitert. D e n n ein metaphysisches Absolutes muss zuerst einmal angenommen werden, bevor sich seine Schau in einem Moment der Emergenz als möglich denken lässt. Anders als in den meisten anderen Beispielen dieser Form zielt die Struktur der Abfolge unverbundener Szenen in »Schlusschor« demnach nicht darauf, möglichst viele Facetten der gesellschaftlichen Realität einzufangen, sondern ist struktureller Ausdruck weltanschaulicher Grundlagen, aus deren Perspektive die Wiedervereinigung inhaltlich gedeutet wird. Hier schon also zeigt sich die Möglichkeit einer nicht-dramatischen Gestaltungsweise, die sich inhaltlichen Fragestellungen öffnet. Was ebenso gut als »Kontingenz von Geschichte« deutbar ist, stellt »für Botho Strauß ein Zeichen der Erhabenheit des >Ganz anderen«Beginnlosigkeit< — >Schlusschor< — >GleichgewichtSprung< in der deutschen Nachkriegsgeschichte und Botho Strauß' Jakobinische Dramaturgie. In: Weimarer Beiträge. 1994, H e f t 2, S. 245-265, hier: S.255. Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels, S.98. Als Gegenbeispiel zu Strauß führt Oberender an dieser Stelle Richard Rorty an.
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Figur des »Lesers« angedeutet ist, will der Erlebende von ihr nicht aus der Bahn geworfen werden wie Lorenz. Im Gegensatz zu Lorenz' Bemühen, aus der Situation heraus zu klären, sucht der »Leser« der erschütterten Gegenwart zu begegnen, indem er zwischen zu Erlebendem und Gelesenem vermittelt. Damit aber bleibt er erstens Außenseiter und ist zweitens nur eine Nebenfigur. Ungeklärt bleibt, ob seine Kulturkompetenz ihn tatsächlich, über die ironische Kommentierung der allgemeinen Hysterie hinaus, zum »Wiederanschluss an die lange Zeit, die unbewegte« 76 befähigt, wozu die auch von keiner tradierten Erfahrung aufzuweichende Akzeptanz des »Ganz anderen« als solchem gehört. Die Verunsicherung, in welche die Gesellschaft im Berliner Lokal und in den vorangegangenen Akten durch ein so unerwartetes wie unerklärbares Ereignis gestürzt wird, ist wohl Ausdruck Straußscher Überzeugung vom Ungenügen eines säkular-aufgeklärten Weltbildes. Dieses leide an der Hybris der Allerklärbarkeit, die ihm die Wahrnehmung des »Ganz anderen« verunmögliche. Dieserart verhindere die rationale Doktrin das Zulassen einer mystischen Dimension, deren Negierung schließlich destruktiv zurückschlage. Was im Falle von Lorenz auf individueller Ebene ausgearbeitet wird, muss im letzten Akt auf die Erschütterung des rationalen Weltbildes der westdeutschen Gesellschaft durch die Wiedervereinigung umgedacht werden. Die Bereitschaft, die Wiedervereinigung in dieser Dimension wahrzunehmen und damit die von Strauß behauptete Uberforderung anzuerkennen, wird durch die Art, wie diese Gesellschaft vor allem im dritten Akt gezeichnet ist, allerdings in Zweifel gezogen. D e m Stück selbst jedoch blieb die Wahrnehmung keineswegs versagt. Nach der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen durch Dieter Dorn am i. 2.1991 folgte eine zwar nicht breit gestreute, aber dennoch beeindruckende Reihe von Aufführungen. Bei nur sechs Inszenierungen und gut 250 Aufführungen erreichte »Schlusschor« über 120.000 Besucher. (Zum Vergleich: »Karate-Billi kehrt zurück« bringt es bei 22 Inszenierungen und 481 Aufführungen auf gut 116.000 Zuschauer.) Der Erfolg rührt daher, dass Strauß' Stück von großen Häusern und prominenten Regisseuren, wie Dorn in München oder Luc Bondy an der Berliner Schaubühne, inszeniert wurde. Daneben wirken Wiesbaden und Karlsruhe, auch im Vergleich zu den übrigen Bühnen (Thalia Theater Hamburg und Schauspielhaus Düsseldorf), eher als Ausnahmen. (Auch am Wiener Burgtheater wurde »Schlusschor« gespielt; die zugehörigen Werte sind jedoch nicht in der Statistik vorliegender Arbeit berücksichtigt.) Als eine der ersten dramatischen Reaktionen auf die Wiedervereinigung, noch dazu von einem der meistgespielten bundesrepublikanischen Autoren der 80er Jahre, wurde »Schlusschor« in der T a t zu einer Art theatralem Großereignis, dem entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wurde. Sowohl die Münchner Uraufführung als auch Luc Bondys Schaubühnen-Inszenierung wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen (1991 und 1992), Bondys Inszenierung wurde darüber hinaus 1992 in der Kritiker-Umfrage von »Theater heute« zur Inszenierung des Jahres gewählt. Auch bei den Mülheimer Theatertagen war »Schlusschor« 1991 zu sehen und im
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Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel, 8.2.1993.
gleichen J a h r w u r d e es zusammen mit Pohls »Karate-Billi kehrt zurück« hinter »Villa J u g e n d « v o n G e o r g Seidel a u f Platz zwei bei der K r i t i k e r - U m f r a g e v o n »Theater heute« in der Kategorie »Stück des Jahres« gewählt. D e n n o c h lässt sich nicht behaupten, »Schlusschor« sei rundum ein voller Erfolg gewesen. W o r ü b e r die beeindruckende Bilanz nicht hinwegzutäuschen vermag, ist der Umstand, dass keine Bühne der N e u e n Länder sich des Stückes annahm. »Schlusschor« blieb ein reiner West-Erfolg. Das mag teilweise damit zusammenhängen, dass B o t h o Strauß 1991 in den N e u e n Bundesländern schlichtweg nicht die gleiche Prominenz besaß wie in den Alten. Das Interesse ostdeutscher B ü h n e n an seinem Stück »Das Gleichgewicht« (siehe 4.2.6) spricht jedoch dagegen, die einseitige Verteilung ausschließlich auf Bekanntheitsgrad oder Akzeptanz des Autors zurückzuführen. E h e r ist w o h l von der E m p f i n d u n g auszugehen, dass Stück beträfe thematisch nur das westdeutsche P u b l i k u m , aus dessen M i l i e u sich ja auch das Stückpersonal überwiegend herleitet. W e n n auch die Frage, wie die Wiedervereinigung in der alten Bundesrepublik w a h r g e n o m m e n wird, prinzipiell f ü r ein O s t - P u b l i k u m natürlich h o c h interessant ist, scheint doch das im letzten Teil kurz auftretende D D R - P a a r o f f e n sichtlich zu unkonturiert, als dass es zum A n k n ü p f u n g s p u n k t einer Ost-Rezeption hätte werden können. D i e oben aufgestellte B e h a u p t u n g , das S t ü c k bestreite die Bereitschaft der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Wiedervereinigung in epochaler D i m e n sion wahrzunehmen, lässt sich leicht modifiziert auch auf die Rezeption des Stückes selber übertragen. Die Kritiken zu »Schlusschor« lassen sich weniger in Z u s t i m m u n g oder Ablehnung unterteilen, als trefflicher anhand der Frage kategorisieren, ob sie als T h e m a v o n S t r a u ß ' S t ü c k die W i e d e r v e r e i n i g u n g als politisch-historisches Ereignis oder aber eine Gesellschaftssatire auf den westdeutschen gehobenen M i t telstand erachten. M e h r als die H ä l f t e der Kritiker sehen, trotz Deutschland-Rufer und der Handlungszeit des dritten Teils, in »Schlusschor« keine Auseinandersetzung mit der Wiedervereinigung. Politisches Theater? [...] Nein, es ist allenfalls Theater mit politischen Implikationen, Theater, das die seelische Befindlichkeit heutiger deutscher Gesellschaft widerspiegelt^ Das Urteil fällt dabei meist sehr positiv in d e m S i n n e aus, Strauß karikiere in gewohnter sprachlicher Meisterschaft die oberflächlichen M o d e n seiner Zeitgenossen. »Die Vielstimmigkeit, das Splitterhafte« 7 8 vor allem des ersten Teils wird dabei in aller Regel als dramaturgisch gelungene Form goutiert und in diese Vielstimmigkeit fügt sich eben auch das unvermittelte »Deutschland!«, ohne herausragende Bedeutung zu erlangen. Eher wird es als Zeitkolorit verstanden, »wie m a n halt 1989
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Günther Grack: Anrufung des deutschen Adlers. In: Der Tagesspiegel, 3. 2.1991. Peter von Becker: Trilogie des Versehens. In: Theater heute, 1991, Heft 3, S. 14-18, hier: S.18. 75
patriotisch elektrisiert erregt war«, 7 9 aber nicht als durchgängiges Thema. Das Unzusammenhängende der drei als »Akte« bezeichneten Teile wird in nahezu jeder Kritik erwähnt, entweder als weiteres Merkmal einer undurchdringlichen Rätselhaftigkeit aufgeführt oder als formales Ergebnis »satirischer Streiflichter« 80 akzeptiert. Als formaler Ausdruck eines inhaltlichen Zentralpunktes wurde es in keiner Besprechung gewertet. Problematisch für die Lesart von »Schlusschor« als Gesellschaftssatire ist natürlich der Schlussmonolog Anitas im Bild mit dem Adler. Meist wird dabei ein Bruch mit der zeitanalytischen Ebene des Vorangegangenen beklagt, »eine sich ins Peinliche ziehende Tiefgründelei«, 81 deren Ablehnung teils ebenso weitreichend wie vielsagend ist: Das Publikum der Uraufführung war nicht bereit, sich die gute Laune, in die Stück und Aufführung es drei Stunden lang versetzt hatten, im letzten Viertelstündchen verderben zu lassen; [...] künftige Inszenierungen aber sollten der irrigen Tollkühnheit des Autors den Mut zu Streichungen entgegenhalten.82
Kritiken, die in »Schlusschor« durchaus ein politisches Stück sehen, stützen diese Meinung durch zwei Punkte: das Adlerbild und die Möglichkeit, von der Ebene kleiner misslingender Vereinigungsversuche hochzurechnen auf das gesellschaftliche Ereignis. Als typisch deutsch wird die Symbolik des Schlussbildes dabei sowohl, durch den Adler, von ihrem Inhalt her als auch grundsätzlich durch den Gebrauch einer rätselhaften Bildlichkeit gewertet. »Apokalyptisches Gewölk - ohne das geht es nun einmal nicht, wenn deutsche Dichter sich mit Germania, Tod und Berlin befassen.« 83 Auf das Adlerbild wird dabei mehrfach mit dem Vorwurf einer blinden Nationalapologie reagiert. »Dass es aber immer gar so deutsch sein muss [...] Das deutsche Unbewusste will in mystischen Sphären aufgehen, heimfinden«. 8 4 Der Vorwurf fällt dabei mitunter extrem scharf aus: »Hier ist es endlich, das Mysterium. Thingstätte. Unausstehliches Geraune. Weg aller Witz. Das ist das einzig Gute an dieser widerlichen Schlussszene.« 85 Diese mehr oder weniger starken Anschuldigungen übersehen dabei freilich, dass im Schlussbild eine mystische Vereinigung Anitas mit dem Symboltier gerade nicht zustande kommt, vielmehr eine etwas derangierte Dame ihren Wunsch nach Orientierung und Zuordnung auf ein hilfloses Tier projiziert, dass ihr schließlich zum Opfer wird. Nur in wenigen Kritiken wird der Versuch, in »Schlusschor« mehr als eine Gesellschaftssatire zu entdecken, differenziert ausgeführt. In diesen wird
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Joachim Kaiser: Der schräge Blick des Botho Strauß. In: Süddeutsche Zeitung, 4- 2-1991Grack (Der Tagesspiegel): Anrufung des deutschen Adlers. Anja Pasquay: Z u m Bild erstarrt. In: Rheinische Post, 9.2.1991. Grack (Der Tagesspiegel): Anrufung des deutschen Adlers. Dorothee Hammerstein: Und dann schreit einer: >DeutschlandProjekt Aufklärung« gottsucherisch abzufackeln, Strauß würde ihm das Streichholz reichen. 9 ' A u c h wenn es Strauß nicht u m ein Abfackeln des Projektes A u f k l ä r u n g zu tun ist, sondern eher u m eine romantische Flankierung, die er gerade deshalb f ü r notwendig erachtet, weil er das v o n der A u f k l ä r u n g verfolgte Ziel einer freiheitlichen Gesellschaft durch eine ethisch-moralische Beliebigkeit gefährdet sieht, ist Detje zugute zu halten, das er die religiös-politische D i m e n s i o n des Stückes immerhin wahrnimmt. Größtenteils nämlich wurde im Verzicht auf die metaphysische Überhöhung einfach die Rettung des kritischen Komödienautors vor den eigenen überzogenen Ansprüchen gesehen - gewissermaßen eine Reinthronisierung von Botho Strauß als »ersten Reporter der bundesrepublikanischen Gesellschaft« 9 2 durch die Inszenierung von L u c Bondy.
4.1.4 Intertextualität als strukturbestimmendes Prinzip: »Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer D u f t von Bibernell« (Rudi Strahl) D e r Begriff der »Intertextualität« bedarf an dieser Stelle einer kurzen Erläuterung, da er hier in einem ganz spezifischen, eingeschränkten Sinne gebraucht wird. Prinzipiell ist das Phänomen der Intertextualität in Stücken sämtlicher Art denkbar und auch tatsächlich zu beobachten, unabhängig von ihrer dramaturgischen G r u n d a n lage. A u f die Bedeutung der Intertextualität in B o t h o Strauß' Schlusschor wurde ja im vorigen Kapitel gerade eingegangen. A u c h in Klaus Pohls »Karate-Billi kehrt zurück« finden sich intertextuelle Verweise. 9 3 Gänzlich auf dem Prinzip der Intertextualität basiert Volker Brauns »Iphigenie in Freiheit« (siehe Kapitel 5.2), das den entsprechenden Hinweis schon im Titel trägt.
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Robin Detje: Mit Symbolen schläft man nicht. In: Die Zeit, 14.2.1992. Hans-Thies Lehmann: Mythos und Postmoderne — Botho Strauß, Heiner Müller. In: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 10: Vier deutsche Literaturen? Hrsg. v. Karl Pestalozzi, Tübingen 1986, S. 249-255, hier: S. 255. Bei seinem ersten Auftritt im Gartenlokal sagt Billi, er werde doch den »ollen Reichsapfel« wiedererkennen, was allgemeine Verwunderung hervorruft. »Reichsapfel« ist der Name des Lokals, in dem die Handlung von Klaus Pohls »Die schöne Fremde«, einem Stück über den Neofaschismus in einer westdeutschen Kleinstadt, spielt, das nur wenige Tage vor »Karate-Billi kehrt zurück« zur Uraufführung kam. Diese beiden Stücke bilden mit »Das Alte Land« eine von Pohl als solche bezeichnete »Deutschland-Trilogie«. Der zweite Verweis ist das direkte Zitat des Nestroy-Liedes aus »Freiheit in Krähwinkel«.
Im Vergleich mit B o t h o Strauß' oder Volker Brauns k o m p l e x e m Gebrauch der intertextuellen Möglichkeiten, wendet Rudi Strahl (Ost) in: »Ein seltsamer Heiliger« (1995) 9 4 Intertextualität in einem ganz einfachen Sinne an. Das aus einem bereits bestehenden Stück bekannte Personal wird in eine neue gesellschaftliche Situation versetzt, die alte Geschichte mit gleichem Personal, aber neuer Handlungsentwicklung fortgeschrieben. 9 5 »Ein seltsamer Heiliger« verweist schon in seinem Untertitel »Ein irrer D u f t v o n Biberneil« auf seinen Referenztext: Strahls eigenes Stück »Ein irrer D u f t von frischem Heu«
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(1975). eine der erfolgreichsten K o m ö d i e n
der D D R . D e r zwischen beiden Stücken liegende U m b r u c h ist in diesem Fall explizit gegeben, da sich »Ein irrer D u f t von frischem Heu«, anders als etwa »Die Ritter der Tafelrunde«, nicht selber schon einer intertextuellen Verfahrensweise bediente, u m soziale Wirklichkeit gleichnishaft darzustellen, sondern mit einer humoristisch überspitzten, aber realistischen und geschlossenen Dramaturgie D D R Welt unverschlüsselt auf die B ü h n e brachte. Folglich ist das Geschehen in »Ein seltsamer Heiliger« über Schlüsselwörter wie » T r e u h a n d « direkt räumlich u n d zeitlich zu verorten. Strahls Stück von 1975, »Ein irrer D u f t von frischem Heu«, spielte ausschließlich in der Wohnstube der Bauernkate des Parteisekretärs Mattes im mecklenburgischen D o r f Trutzlaff (mit beschränktem Einblick in K ü c h e u n d S c h l a f k a m m e r , sowie Fenstern zur Dorfstraße). Mattes ist uneingeschränkte moralische Autorität v o n Trutzlaff, von allen gesuchter Ratgeber in sachlichen w i e menschlichen Fragen. Diese Idylle wird nun vorübergehend gestört durch zwei Eindringlinge, die aus demselben G r u n d , aber v o n sehr unterschiedlichen Institutionen nach T r u t z l a f f geschickt wurden. Angelika, neue wissenschaftliche Mitarbeiterin des 2. Sekretärs, wurde von der SED-Bezirksleitung geschickt, um zu erkunden, was an den Gerüchten wahr sei, Mattes habe, wie seine Vorfahren, das »zweite Gesicht«, also gewisse hellseherische Fähigkeiten. A u s dem gleichen G r u n d w u r d e M o n s i g n o r e Aventuro v o m Heiligen Stuhl in R o m gesandt. Aventuro n i m m t dabei lediglich die Funktion der komischen Figur ein: V o m Zölibat geplagt und dem Schnaps nicht abgeneigt, ist er nach einer N a c h t im frischen H e u — »Ein irrer D u f t . Benebelt einen
richtig.«
(S. 220) — nicht nur überzeugt, nach R o m zurückkehren zu müssen, u m Mattes zur Heiligsprechung vorzuschlagen, sondern will dabei gleich noch »den Papst zum
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Rudi Strahl: Ein seltsamer Heiliger oder Ein irrer Duft von Biberneil. Lustspiel. Berlin 1995Ähnlich geht Christoph Hein (Ost) in »In Acht und Bann« (1999) vor, einer Fortschreibung der »Ritter der Tafelrunde« in die Zeit nach dem Sturz der Artus-Ritter. Ebenfalls mit bereits literarisch vorgeprägten Figuren arbeitet Gert Heidenreich (West) in dem Stück »Der Wechsler« (1993), in dem er das Personal aus Henrik Ibsens »Bund der Jugend« in eine westdeutsche Kleinstadt nach der Wiedervereinigung umbettet. Christoph Hein: In Acht und Bann. Komödie in einem Akt. In: Ders.: Stücke [Bruch u.a.]. Berlin 1999, S. 85-127. Gert Heidenreich: Der Wechsler. Farce nach Henrik Ibsen. In: Ders.: Magda. Der Wechsler. Zwei Stücke. München 1993. S. 97-204. Rudi Strahl: Ein irrer Duft von frischem Heu. Lustspiel. In: Ders.: Stücke. Berlin/DDR 1976, S. 189-250. 79
Kommunismus bekehren! Den Klerus revolutionieren! D e n Vatikan umgestalten zur Volksrepublik!« (S. 248) Angelika ist im Gegensatz dazu eine Figur, die im Laufe des Stückes einem Wandlungsprozess auf zwei Ebenen unterliegt, die miteinander eng verknüpft sind. Mattes umwirbt sie und er wirbt bei ihr für einen undogmatischeren Umgang mit den gemeinsamen weltanschaulichen Prinzipien. Nicht die Sache selbst steht zur Debatte, sondern die Einhaltung des Dienstweges. So wird Mattes von Angelika vorgehalten, »der Genossenschaft Nutzeffekte und Struktur der Kooperation« erläutert zu haben, bevor das Politbüro den entsprechenden Beschluss »auf wissenschaftlicher Grundlage« gefasst habe. Seine Rechtfertigung läuft darauf hinaus, dass sie »die Leute hier« nicht kenne: »Sie brauchen Zeit, sich für das Neue zu erwärmen.« (S. 214) Die Verwirrung um Mattes' »zweites Gesicht« löst sich zum Ende auf, als sich herausstellt, dass der angeblich wundertätig geheilte »Krumme Paul« von Mattes lediglich als Simulant enttarnt wurde, der dem Militärdienst entgehen wollte. Mattes Weg, die Sache direkt zu klären und dem einsichtigen, reuigen Paul ein Verfahren zu ersparen, wird von Angelika nun akzeptiert, die eingesteht, dass »alles [...] vielleicht nie zu klären sein [wird] - solang der Mensch ein Individuum bleibt und jedes Wesen voller Eigenart« (S. 248). M i t dieser Einsicht fügt sie sich nicht nur in die Auffassung von Mattes, sondern, wie sich herausstellt, auch in die ihres Vorgesetzten. Nachdem Angelika also an der Basis gelernt hat, wie ihre richtige Theorie in der Praxis sinnvoll umzusetzen sei, fällt sie Mattes zum Kuss in die Arme, während der Pastor des Dorfes, mit dem sprechenden N a m e n Himmelsknecht, »aufgeregt-triumphierend« auf das Marx-Bild in Mattes' Stube deutet, welches das ganze Stück über schief an der W a n d hing und nicht ins Lot zu bringen war: »Mattes! Guck! Endlich hängts gerade!« (S. 250) Das 20 Jahre später enstandene Stück, »Ein seltsamer Heiliger«, beginnt nun nicht nur im gleichen Raum wie »Ein irrer D u f t von frischem Heu«, sondern auch noch mit der gleichen Figurenkonstellation. Das Nachfolgestück stellt sich dabei als eigentümliche Mischung aus Umbettung und Fortschreibung heraus. Während sich gesellschaftlich die Wiedervereinigung vollzogen hat, fand auf privater Ebene die Trennung statt, so dass die gleiche Ausgangskonstellation vorliegt wie im Vorgängerstück: D e r ehemalige Kreisvorsitzende Mattes ist zwischenzeitlich zum Bürgermeister gewählt worden, die einstige LPG-Vorsitzende Lydia ist nunmehr Geschäftsführerin der landwirtschaftlichen G m b H und Angelika ist nicht mehr als wissenschaftliche Mitarbeiterin der SED-Bezirksleitung tätig, sondern mittlerweile C D U - M i t g l i e d und Agrarreferentin der Landesregierung. Pastor Himmelsknecht konnte hingegen seiner Funktion und Institution verständlicherweise ebenso treu bleiben wie Monsignore Aventuro, der ebenfalls wieder auftaucht, weil diesmal gemeldet wurde, u m Mattes' H a u p t leuchte ein Heiligenschein. Der Konflikt zwischen Mattes und Angelika besteht diesmal darin, dass die Gemeinde E U - S u b ventionen für stillgelegte Agrarflächen bezieht, auf denen sie aber allerlei Kräuter, unter anderem eben Biberneil, erntet und zur Herstellung ätherischer Öle verkauft. Mattes argumentiert, für eine Ubergangszeit würden noch beide Einnahmequellen 80
gebraucht und so spare sich die Landesregierung immerhin »Arbeitslosengeld fürs ganze Dorf« (S. 79), Angelika beharrt auf der Rechtslage: »Stillgelegt heißt stillgelegt. [...] das muss ich melden, Mattes.« (S. 78f.) Weitere Konflikte ergeben sich aus dem Problemfeld der Eigentumsfragen. In eher skurriler Ausprägung betrifft dies den aus »Ein irrer Duft von frischem Heu« als Simulanten bekannten Paul, der nun Rechtsansprüche auf den Friedhof geltend macht, da das entsprechende Grundstück vor der Bodenreform Acker seines Vaters war und er nun den Plan verfolgt, die letzte Ruhestätte zu privatisieren. Ernster jedoch ist das Gerücht, in der Landeshauptstadt sei ein Graf Trutz vorstellig geworden, der mit seiner Forderung nach Eigentumsrückgabe der Ländereien seiner Familie die Existenzgrundlage des gesamten Dorfes gefährdet. Im Dorf selber ist jedoch eine rätselhafte Figur aufgetaucht, obdach- und mittellos, bescheiden, höflich und nach Jahren in Australien gerade erst zurückgekehrt, die sich ebenfalls als Mitglied der Grafenfamilie, und zwar mit vorrangigem Erbschaftsanspruch, entpuppt. Durch den Umstand, dass dieser Graf frei von jeglichen egoistischen Neigungen, dafür aber Lydia ebenso zugetan ist wie diese ihm, steht nach geklärter Eigentumsfrage einer Finanzierung des »Großprojekts Biberneil« (S. 108) nichts im Wege, und Angelika kann ihren Einfluss nutzbar machen, um bürokratische Blockaden aus dem Weg zu räumen. A m Ende sind Angelika und Mattes wieder ein Paar, ebenso Lydia und Graf Trutz; nur der vermeintliche Krisengewinnler Paul geht leer aus. Wie schon in »Ein irrer Duft von frischem Heu« erwachsen die Probleme aus der Umsetzung des allgemeinen Regelwerks ohne Berücksichtigung der konkreten Situation - denn »Apparat bleibt Apparat« (S. 85) —, können aber mit etwas Pfiffigkeit und menschlicher Einfühlung aus dem Weg geräumt werden. Aus der Handlungsparallelisierung von Vorlage und Folgestück scheint sich also ein Bild zu ergeben, das mit der Auffassung konform geht, die Martin Linzer in einem Interview wiedergibt: »Eijentlich hat sich nüscht jeändert, außer die Jesellschaftsordnung.« 97 Dies entspräche handlungsmäßig einer einfachen Versetzung der Vorlage in ein anderes zeitliches Umfeld und einer Austauschbarkeit der Figurenfunktionen entsprechend dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext ohne dramaturgische Folgen. Ganz so einfach ist der Sachverhalt jedoch nicht, denn die Handlung wird wie gesagt auch fortgeschrieben, was sich in der Einführung einer neuen Figur, des Grafen Trutz, ausdrückt. Interessant ist dabei, welche Funktion diese neue Figur ausübt. Sein Auftauchen verdankt sich einem reinen Zufall, hat aber weitreichende Konsequenzen, da nur durch seine großherzige Intervention das ganze Dorf vor den Ansprüchen seines Cousins bewahrt wird, der alles andere als bescheiden auf-
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»Ein Satz von einem sehr weisen M a n n , einem Berliner Müllkutscher.« Martin Linzer: >Ich war immer Opportunist...< 12 Gespräche mit Nikolaus Merck. (Theater der Zeit. Recherchen 7) Berlin 2001, S.255. Dieses Bonmot hat einen interessanten Status zwischen Fiktionalität und Authentizität, da es nahezu wörtlich, allerdings einem Berliner T a x i fahrer zugeordnet, auch in Klaus Pohls Stück »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« auftaucht, das wiederum auf einer Interview-Serie Pohls basiert (siehe Kapitel 4.2.6). V g l . Klaus Pohl: Wartesaal Deutschland. Stimmenreich. H a m b u r g 1995, S . 1 6 3 . 81
tritt. G r a f T r u t z kann d a m i t als veritabler deus ex m a c h i n a betrachtet werden, dessen Erscheinen den eigentlich vorgezeichneten Lauf der H a n d l u n g überraschend z u m Positiven umwendet. D a m i t aber fällt der neu eingeführten Figur eine Funktion zu, die in der Vorlage nicht existierte, weil sie gar nicht gebraucht wurde; die Geschichte wird also in einer Weise fortgeschrieben, die konstatiert, im veränderten Kontext bedürfe es zur W a h r u n g des gattungsgemäßen glücklichen Ausgangs eines äußeren Eingriffs. D e r war in der Vorlage deshalb nicht v o n n ö t e n , weil die u n b ü rokratische Handlungsweise, die Angelika zu lernen hatte, mit den Grundlagen der Gesellschaftsordnung k o n f o r m ging u n d Abweichungen von gesetzten Regeln nur den Zweck hatten, die von den Regeln verfolgten Ziele erreichbar zu machen. Bei ihrer Einlassung auf Mattes' Sicht der Dinge k o n n t e sich Angelika zugleich auch der Z u s t i m m u n g der Bezirksleitung sicher sein u n d genau d a r u m auch war z u m E n d e des Stückes das Marx-Bild gerade gerückt. In »Ein Seltsamer Heiliger« k o m m t n u n das harmonisierende Ende gerade nicht aufgrund einer prinzipiellen U b e r e i n s t i m m u n g der Protagonisten mit der Gesells c h a f t s o r d n u n g zustande, sondern trotz dieser Gesellschaftsordnung. D e n n der Retter der Situation ist eben nicht Repräsentant des Westens, vielmehr ist er ein d e m System in A b l e h n u n g gegenüberstehender Aussteiger. T r o t z familiären H i n tergrundes im Westen, der erst die Konstruktion der Schlussrettung ermöglicht, wird T r u t z mentalitätsmäßig d e m Osten zugeschlagen. Trutz. Wegen solcher...solcher starken Charaktere wie dich bin ich damals eigentlich abgehauen. [...] Komm ich einfach nicht mit klar: mit all dem Zupackenden, Dynamischen [...] Paul·. Komisch: als wärst du einer von hier! (S.71) V o n den Vertretern der Gesellschaftsordnung ist positives W i r k e n also nicht zu erwarten, es ist ihnen vielmehr abzutrotzen d u r c h Leute wie Mattes oder durch Angelika, die z u m Ende des Stückes die Nachricht erhält, sie sei zur Agrarkommission nach Brüssel versetzt. Müssen sich also die anständigen O s t d e u t s c h e n gegen die Z u m u t u n g e n des Westens zur W e h r setzen? Diese Sicht trifft die im Stück dargestellte W e l t n u r teilweise. W o h l stellt sich die neue Gesellschaftsordnung hauptsächlich als Belastung dar, gleichzeitig aber ist die ehedem homogene Dorfgemeinschaft zerschlagen, wobei sich unter d e m Weizen nicht wenig Spreu fand. Paul, der versucht, aus d e m Rückgabeanspruch auf das Friedhofsgrundstück Kapital zu schlagen, ist nicht die einzige Figur, in deren K o n t u r n u n auch negative Züge auszumachen sind. Der Flickschuster Czybulka, dessen Briefe an den Vatikan in beiden Stücken Aventuros Auftauchen bewirken, ist inzwischen als I M »Hans Sachs« enttarnt u n d Aventuros Entschuldigung, er tue nur seine Pflicht, k o m m e n t i e r t Himmelsknecht, das müsse er schon mal gehört haben, »von H i n z u n d Kunz u n d allen möglichen Schleimscheißern. Bloß von ihm [Mattes] nicht - « (S. 22) Die da v o m n e u e n System drangsaliert werden, stellen sich also in großer Zahl als ehemalige Spitzel wie Czybulka, opportunistische Egoisten wie Paul oder Verleugner einstiger Überzeugungen heraus. »Und f ü r so was ist m a n n u n n e u n u n d 82
achtzig auf die Straße!« (S. 104) klagt folglich Himmelsknecht. Das Personal von »Ein irrer Duft von frischem Heu« war zwar nicht ohne Fehler, aber lernfähig wie Angelika und einsichtig wie Paul. Nun aber existieren echte Negativfiguren; folglich kann Paul nicht mehr wie in »Ein irrer Duft von frischem Heu« wieder in die Gemeinschaft integriert werden. Er »ist ein Monster! Faul und gefräßig!« (S. 68) und wenn sich am Ende die Paare finden, geht er leer aus. Natürlich ist mit solchem Personal eigentlich kein Lustspiel mehr zu bestücken - und dramaturgische Konsequenz daraus ist eben, das die positive Schlusswendung nur durch den guten Grafen ex machina hergestellt werden kann. Damit aber wird durch die offensichtliche Konstruiertheit ein anderes Verhältnis zwischen Bühnenwirklichkeit und sozialer Realität hergestellt als im Vorgängerstück. Die Problementfaltung vollzieht sich in beiden Fällen noch im gleichen Modus. Die Konflikte des Bühnengeschehens lassen sich als humoristische Überspitzungen alltagsweltlicher Referenten auffassen. Die innertheatralen Phänomene tauchen in der Realität zwar nicht in dieser Form auf, sie sind aber als Phänomene an sich existent. Der Modus der Problementfaltung gilt in »Ein irrer Duft von frischem Heu« auch noch ungebrochen für die Problemlösung, nicht aber in »Ein seltsamer Heiliger«. Hier muss für einen positiven Schluss eine Kunstlösung gefunden werden, für die ein alltagsweltlicher Referent nicht mehr glaubhaft ist — und diese Kehre in die Irrealität zeigt das Stück auch selber an. In »Ein irrer Duft von frischem Heu« stellte sich Mattes' »zweites Gesicht« als Folge von entsprechend interpretierten Zufällen heraus. Vergleichbar wurde im Verlauf von »Ein seltsamer Heiliger« Mattes Heiligenschein im Nebentext stets durch eine äußere Lichtquelle begründet. Nicht so jedoch in Mattes' Schlussszene mit Angelika: »Plötzlich leuchtet tatsächlich ein Heiligenschein um seinen Kopf. Sphärische Musik klingt auf.« (S. 111) Zwar ist das Dorf gerettet und das Liebespaar hat sich auch wieder gefunden, dazu aber musste das Lustspiel in einer Schlusspointe zum Zauberspiel umgeformt werden. Anders als in »Ein irrer Duft von frischem Heu« ist in »Ein seltsamer Heiliger« die Lebenswelt mit den Mitteln des Lustspiels nicht mehr ungebrochen einzufangen, da ein zweifaches Harmonieverhältnis nicht mehr vorauszusetzen ist. Dies betrifft die nicht mehr vorhandene grundsätzliche Ubereinstimmung der Figuren mit der Gesellschaftsordnung und darüber hinaus die neue Uneinigkeit untereinander. Durch diese fehlende ideologische Ubereinstimmung ist dem Stück gewissermaßen die Grundlage entzogen, um neben der Problembenennung auch die Lösung zu gestalten. Nicht nur die Figuren selber, auch das Stück als Ganzes ist der weltanschaulichen Sicherheit verlustig gegangen, weshalb es eben Defizite artikulieren, aber nicht im Sinne von Lösbarkeit erklären kann. Interessant ist dabei, dass diese Verunsicherung auf das Ursprungsstück zurückwirkt. Dies betrifft nicht nur den Umstand, dass sich liebenswerte Figuren des ersten Stückes im zweiten als äußerst zweifelhafte Charaktere entpuppen, wie z.B. Paul. Darüber hinaus berichten Angelika und Mattes vom Ubergriff des DDR-Staates auf die Intimsphäre seiner Bürger, womit der in »Ein irrer Duft von frischem Heu« behauptete grundsätzliche Konsens zwischen Basis und Parteiführung in Zweifel gezogen wird.
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Angelika·. Und der Bezirksleitung hat unser Privates ebenso wenig gepasst wie jetzt meinem Minister. Aber da drin... (blickt zur Schlafkammer) ...hat uns das eigentlich nie gekratzt — oder? Mattes·. Nicht mal die Wanze, die ich mal unterm Bett gefunden habe. (S. 34)
Pastor Himmelsknecht reißt im Gespräch mit seinem katholischen Kollegen das Bild der in »Ein irrer D u f t von frischem Heu« gezeichneten harmonischen Gesellschaft vom Fundament her ein. »Himmelsknecht. Der Papst [...] ist in einer Diktatur aufgewachsen. [...] Wie ich und Mattes und alle hier. Das hat bei jedem Folgen.« (S.26) So wird schließlich im zweiten Stück nachträglich auch noch der glückliche Ausgang des ersten umgeschrieben - »Matter. Damals wars bloß das >zweite Gesichts weshalb ich kurz vor dem Zusammenbruch abgesetzt wurde.« (S.44f.) - und mithin rückblickend die im eigenen, früheren Stück dargestellte Harmonie wie die zur Darstellung gewählte Form des Lustspiels als Idealisierung der Wirklichkeit bloßgestellt. Durch »Ein seltsamer Heiliger« wird also die von »Ein irrer Duft von frischem Heu« vorgegebene Form gleichzeitig aufgegriffen und verdeckt thematisiert. Trotz realistischer Gestaltungsweise wird dabei, wie in »Karate-Billi kehrt zurück«, durch besonders deutliche Konstruiertheit neuralgischer Punkte (im einen Fall der Titel, im anderen der Schluss) das nicht-mimetische der geschlossenen Dramaturgie kenntlich gemacht. Beide Stücke geben damit zu erkennen, dass sie nicht imstande sind, soziale Realität im Sinne objektiver Abbildung wiederzugeben, sondern als Interpretation dieser Realität aufzufassen sind. Da ein Hauptvergnügen von »Ein seltsamer Heiliger« sicherlich darin liegt, den aus »Ein irrer D u f t von frischem Heu« bekannten Figuren wieder zu begegnen, nimmt es nicht wunder, dass das Interesse am neuen Stück auf Strahls altes Erfolgsgebiet beschränkt bleibt. So sind es ausschließlich Bühnen der Neuen Länder, die sich des Stückes annehmen. Die Tatsache, dass die verhandelte Thematik sich auf ostdeutsche Lebensverhältnisse bezieht, kann als alleinige Erklärung der einseitigen Resonanz nicht herhalten, wie der Erfolg von Oliver Bukowskis »Lond'n — L.A. - Lübbenau« auch auf den Bühnen der Alten Bundesländer zeigt (siehe 4.2.3). Im Gegensatz zu »Ein irrer D u f t von frischem Heu«, das am Berliner Maxim-GorkiTheater aufgeführt wurde, taucht »Ein seltsamer Heiliger« eher auf kleineren Bühnen auf. Nach der Cottbuser Uraufführung durch Reinhard Hellmann am 10. 2.1995 wurde das Stück in Schwedt, Schwerin, Rostock und Wittenberg nachgespielt. In den Kritiken zur Uraufführung lassen sich vier Hauptmeinungen in gleichwertiger Gewichtung ausmachen. Die größte Distanz zum Stück wird durch das Urteil aufgebaut, es handele sich dabei um DDR-Nostalgie, welche die untergegangene Gesellschaft verkläre. Aus dieser Einschätzung muss nicht zwangsläufig eine Ablehnung folgen. Interessanterweise ist es gerade ein West-Rezensent, der sich in wohlwollend-selbstgefälliger Toleranz übt und der freundlichen Rückschau schöne Seiten abgewinnt. 84
Je entspannter sich >der Fremde< einlässt auf das Fremde, desto unabweisbarer wird die Gemütlichkeit, desto beharrlicher macht sich das Gefühl breit, in einer Art Zeitblase zu hocken und abgeschnitten zu sein vom dreckig-geschäftstüchtigen Rest Germaniens; desto munterer keimt Sympathie für das Selbstverständnis und die Selbstverständlichkeiten an diesem Ende der bewohnten Welt.' 8
Eben diese Sympathie mag sich nun aber gar nicht einstellen bei einem Kritiker, welcher der vom West-Rezensenten beschriebenen »Fremde« zuzuzählen ist und wohl deshalb auch das Bühnengeschehen nicht mit exotistischem Blick belächelt, sondern als Teil einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung wertet. In diesem Zusammenhang bemängelt er, es werde wie an der Berliner Volksbühne »erfolgreich mit dem schönen Gestern« kokettiert. »Auch Christoph Schroths Cottbuser Staatstheater macht mit DDR-Nostalgie volksverbundene Theaterpolitik.« 99 Obwohl rein textlich der Nostalgie-Vorwurf nicht aufgeht — ob mit Absicht des Autors oder unwillentlich 100 —, so decken sich die Aufführungs-Eindrücke der beiden Rezensenten doch auffällig, werden aber unterschiedlich goutiert. Nur der Ost-Rezensent zieht dabei auch das Vorgänger-Stück mit in Betracht, auf das die Ablehnung ausgedehnt wird. »Volkstheater mit einem gedanklichen Anspruch war diese Cottbuser Posse nicht - dafür ein echter Strahl, wie zu allen Zeiten.« 101 Nicht mit dem Vorwurf der Verklärung, aber dennoch mit gesellschaftlichem Bezug verbunden ist die Kritik, das komische Prinzip des Vorgängerstückes funktioniere im neuen Kontext nicht mehr, da es auf einem spezifischen D D R - K o m munikationscode gründe, der nicht mehr greife. Diese Beobachtung scheint dabei das Ergebnis der hier vorgelegten Analyse umzudrehen. Die im neuen Stück nicht mehr gegebene ideologische Ubereinkunft zwischen Figuren und Gesellschaft wird für das alte Stück konstatiert und dort auf das äußere Kommunikationssystem übertragen. Was seinen früheren Stücken durch die kritische Ubereinkunft mit seinem Publikum an sozialer Genauigkeit und gesellschaftlicher Farbigkeit wie selbstverständlich zuflog, das muss Strahl seinen Figuren nun selbst hinzuschreiben. [...] Strahls Figuren tragen ihr gesellschaftliches Anspielungspotential nicht mehr wie selbstverständlich in sich, sondern sie führen es lauthals im Munde. 1 0 2
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Michael Laages: Trutzlaff & die Folgen. Michael Laages über eine Theaterreise in den deutschen Osten, wo er am tiefsten ist. In: N D R 3, Theater unserer Zeit, 15.2.1995. G.P.: Koketterie mit dem ach so schönen Gestern. In: Märkische Allgemeine, 13.2.1995. Erklärte Absicht von Strahl ist es, zu zeigen, »dass Leute, die vorher etwas getaugt haben, noch immer etwas taugen, und Leute, die vorher nichts getaugt haben, auch unter demokratischen Verhältnissen keinen Deut besser geworden sind.« Klaus Trende: >Mich jammert's um sehr viele leise Leute< [Gespräch mit Rudi Strahl] In: Lausitzer Rundschau, 7.2.1995. Wie anhand der Figuren »Krummer Paul« oder »Flickschuster Czybulka« gezeigt werden konnte, liegt der Sachverhalt jedoch komplizierter und zwar derart, dass »Leute, die nichts getaugt haben« in die Welt von »Ein irrer Duft von frischem Heu« erst nachträglich durch Neubewertung in »Ein seltsamer Heiliger« implantiert werden. G.P. ( Märkische Allgemeine): Koketterie mit dem ach so schönen Gestern. Hartmut Krug: Liebe Leute — gestern wie heute. In: Der Tagesspiegel, 15. 2.1995.
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D i e »kritische Übereinkunft« zwischen A u t o r und Publikum scheint mir allerdings im Sinne von Richard Herzinger als »kritische Loyalität« 1 0 3 gegenüber dem Gesellschaftssystem zu spezifizieren zu sein, was eben die weltanschaulichen Grundlagen u n d Zielvorgaben der Staatsideologie in die »Übereinkunft« prinzipiell miteinschloss. Geneigterer Art sind einige Kritiken, die in »Ein seltsamer Heiliger« ein politisch harmloses, aber handwerklich gut gemachtes Unterhaltungstheater erblicken. Die Leute bleiben was sie waren [...] Diese Botschaft ist so wahr wie platt; aber zum Glück jongliert Strahl nicht nur mit Klischees, sondern platziert auch treffsichere Pointen. Er handelt mit kleiner Münze, aber davon gibt es reichlich. 104 Einige Besprechungen schließlich halten das Stück nicht nur f ü r formal gelungen, sondern s t i m m e n auch d e m zu, was sie als inhaltliche Aussage erkennen. D a s Spektrum reicht dabei v o m Springer-Blatt »BZ« - »Und Strahl griff eine Geschichte auf, die viele Menschen in der >abgewickelten< D D R kennen.« 1 0 5 — bis zum »Neuen Deutschland«, das in »Ein seltsamer Heiliger« neben »Witz [auch] die schrille Dialektik v o n Realität« am W e r k e sieht und »in der bunten Verpackung bitteres W e r m u t s k r a u t « 1 0 6 erkennt. Es muss nicht i m m e r bitteres K r a u t sein, aber ein ernster K e r n in der unterhaltsamen Form wird auch in anderen positiven Kritiken gesehen, woraus eine Art identitätsstiftende W i r k u n g des Stückes abgeleitet wird: »Die ausgelassene Publikumsreaktion in Cottbus beweist, dass auch ihm die Auseinandersetzung gelingt, dass auch er beim N a c h d e n k e n u n d Sichwiederfinden hilft.« 10 · 7 Dabei stellt der Rezensent in einem Vergleich mit Christoph Heins »Randow«, das nur kurz zuvor in Dresden uraufgeführt wurde, fest, dass »im fünften J a h r der Vereinigung [...] die ehemaligen DDR-Schriftsteller ihre Sprache wiedergefunden« 1 0 8 haben. Z u m Sprachrohr allerdings wurden sie nicht mehr, wie der bescheidene Erfolg von Strahls »Ein seltsamer Heiliger« oder auch Christoph Heins »Randow« und Volker Brauns »Iphigenie in Freiheit« (je zwei Inszenierungen) deutlich machen. D a f ü r aber sind mit Thomas Brussig (siehe 4.2.1) und Oliver Bukowski (siehe 4.2.3) jüngere erfolgreiche Autoren in Erscheinung getreten. In der D D R sozialisiert, aber dort noch nicht als Autoren tätig, verarbeiten sie in ihren Stücken die Wiedervereinigung ebenfalls aus östlicher Perspektive aber mit deutlich größerer Distanz zu den Gründerjahren.
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Herzinger: Der Tod ist die Maske der Utopie, S. 53f. Dieter Kranz: Heiligenschein, recycelt. In: Frankfurter Rundschau, 23.2.1995. Bernhard Zettler: >Irrer Duft< in der Theaterscheune. In: BZ, 12.2.1995. Klaus Pfützner: Und über allem der Altvater Marx. In: Neues Deutschland, 27.2.1995. Ch. Kaiser: Die Wende in Trutzlaff. In: Südkurier, 23.2.1995. Ebd.
4-i.5 Nicht-dramatische Form: »Auf verlorenem Posten« (Herbert Achternbusch) Die Kategorisierung nach formalen Kriterien stellt bezüglich Stücken, die unter dem unspezifischen Begriff der »nicht-dramatischen Form« zusammengefasst wurden, eine Vergröberung in besonderem Maße dar. Dies liegt insofern in der Natur der Sache, als diese Stücke eben nicht durch ein gemeinsames Formalkriterium geeint werden, sonder nur ex negativo durch den Verzicht auf bestimmte Gestaltungsmittel als Gruppe bestimmt werden können. Ihre Gemeinsamkeit besteht also in der Abkehr von den weiter oben mit Rekurs auf Szondi, Lehmann und Poschmann als Konstituenten des Dramas herausgearbeiteten Merkmale. Um es kurz zu rekapitulieren, werden als diese erachtet: die durch den Dialog aufgebaute Figuration entscheidungs- und handlungsfähiger Individuen, das narrative Prinzip einer kausallogischen Handlung mit Anfang und Ende und die Absolutheit des Dramas im Sinne einer Beschränkung auf das innere Kommunikationssystem der Bühnenfiktion. Zur dramatischen Form hinzu kommt die Nutzung »intrafiktionaler Theatralität«, also »die referentielle Illusion des Theaters« und die »Verständigung mit dem Publikum« auf Grundlage »der traditionellen Theaterkonvention des >als ob««.109 Wenn im bisherigen Verlauf der Auseinandersetzung mit einzelnen, nach dramatischen Prinzipien organisierten Stücken auch in Zweifel gezogen wurde, dass die aus den formalen Merkmalen abgeleiteten Schlüsse bezüglich des Kommunikationscodes notwendigerweise zutreffend sind, so beschreibt Poschmanns Charakterisierung als Negativform doch recht gut, wovon sich ein Stück wie »Auf verlorenem Posten«110 (1990) von Herbert Achternbuch (West) absetzt. Allerdings ist auch hier zu unterscheiden zwischen Gestaltungs- und diesen als inhärent behaupteten Theatralitätsmerkmalen. Der damit angesprochene Zweifel bezieht sich vor allem auf die Aussagen Lehmanns, politisch werde Theater »kaum mehr durch die direkte Thematisierung des Politischen, sondern durch den impliziten Gehalt seiner Darstellungsweise«m bzw. »sein politischer Einsatz [liege] nicht in den Themen, sondern in den Wahrnehmungsformen«. 112 »Auf verlorenem Posten« hat sich zwar von den genannten Prinzipien der dramatischen Form deutlich gelöst, gleichzeitig lässt sich aber mit Bestimmtheit sagen, dass es die Wende-Ereignisse von 1989 thematisiert. Das Stück ist in drei Teile gegliedert und beginnt mit einem langen Monolog, in dem ein Mann in direkter Ansprache an das Publikum über seine verwirrten Gefühle spricht. Das mentale Chaos mache ihm logisches Denken unmöglich und wirke sich darüber hinaus in Form heftiger Verdauungsstörungen zusätzlich auf seinen Körper aus. Auch bleibt nicht ungesagt, was die Ursache von Verwirrung in Psyche, Verstand und MagenDarm-Trakt ist:
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Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S.66. Vgl. Kapitel 4.1. Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten. In: Spectaculum, Bd. 51. Frankfurt/Main 1991. Lehmann: Postdramatisches Theater, S.457. Ebd., S. 469.
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Ich krümmte mich zulange in der D D R . Ich krümmte mich und selbst mein Körper schwieg. Und nun da mich lauter Unsinn bewegt, knattert auch mein Leib. Als könnte der angefachte Befreiungsdrang vor meinem Körper nicht halt machen. (S.9) Gegenstand seiner Rede ist er selber. M i t biographischen Bruchstücken durchsetzt, n i m m t sich der M o n o l o g wie eine große Selbsterklärung aus, in der sein eigenes Befinden in Bezug zu seiner H e r k u n f t und zum politischen Umbruchprozess gesetzt wird. Seine Rede stellt damit eine in hohem M a ß e individuelle Reflexion über den gesellschaftlichen Vorgang dar — individuell insofern, als seine Sprache im U m g a n g mit der außer ihm liegenden Realität durch ihren assoziativen A u f b a u nach ganz eigener, nicht klassisch-rhetorischer Maßgabe organisiert ist; individuell aber auch im wörtlichen Sinne von »unteilbar«, weil der A k t des Sich-Äußerns untrennbar m i t der Körperlichkeit des Sprechers verbunden zu sein scheint. A u f g r u n d der emotionalen Verwirrung sind seine Gedanken sprunghaft und assoziativ aufgebaut, dringen sturzbachartig aus ihm heraus, in Analogie zur Entleerung seines Körpers, der damit in diesen kathartischen Prozess eingebunden ist. N a c h einem kurzen Intermezzo — ein Trabant fährt auf die Bühne, 16 Personen entsteigen, werden mit Bananen beworfen, essen diese auf und bewerfen den M a n n mit den Schalen — setzt der M a n n seine A u s f ü h r u n g e n fort. N e b e n die Reflexion über die durch die D D R erfahrene Beschädigung seines Selbst tritt nun die splitterhafte Schilderung einer Italienreise, die er zusammen mit seiner Frau und einem Freund nach Erlangung der Reisefreiheit unternommen hat. Dabei vermengen sich in seiner Darstellung mehrere Motive: E i n existentielles G e f ü h l v o n Fremdheit gegenüber einer neuen Umwelt, E n t f r e m d u n g von seiner Frau, Selbstentfremdung, die Brutalität des Massakers von T e m e s v a r , " 3 Sehnsucht nach Liebe und das G e f ü h l v o n Befreiung. Das G e f ü h l von Fremdheit unterscheidet ihn von Frau und Freund, die in seiner W a h r n e h m u n g näher »an die M e n s c h e n [...] heran [kamen]« (S. 10) als er. Frau und Freund muss m a n sich dabei als Liebespaar vorstellen. Das E m p finden der Fremdheit führt bei ihm zu einer Art Selbstentfremdung und als Reaktion darauf zu einem (auch ihm selbst) zweifelhaften Identifikationsvorgang seiner selbst mit einem »Juden aus Lods« (S. 10). Diese unberechtigte Opfer-Identifikation schlägt unvermittelt ins andere Extrem um, als sich eine Italienerin von ihm abwendet, der die Obststeige gebrochen ist. »Oder hielt sie mich gar f ü r einen Soldaten v o n Temesvar [...]?« ( S . n ) Diese V e r m u t u n g stellt allerdings die rückblickende Verquickung zweier Erinnerungen aus unterschiedlichen Zeitstufen dar, denn der M a n n berichtet, auf jenem
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Von der Stadt Temesvar ausgehend entzündete sich in Rumänien die Widerstandsbewegung gegen den Diktator Ceaucescu. In diesem Zusammenhang ging ein angeblich von der rumänischen Geheimpolizei Securitate verantwortetes Massaker in Temesvar im Dezember 1989 durch die Presse. Im Nachhinein stellte sich dieses als inszenierte Greueltat im internen Machtkampf zwischen Armee und Geheimdienst heraus, mit deren Hilfe Emotionen gegen die Staatsgewalt geschürt und auf die Securitate fokussiert wurden. Siehe Paolo Rumiz: Masken für ein Massaker. Der manipulierte Krieg: Spurensuche auf dem Balkan. München 2000, S. 59ff.
Platz in Lucca gewesen zu sein »zu einer Stunde an diesem Tag, da ich von den Ereignissen in Temesvar noch nichts wissen konnte.« (S. 12) In der Reflexion wird das erst später medial Erfahrene mit eigenem Erleben verknüpft: zum einen in besagter Begegnung mit der Italienerin, zum anderen im Gedankensprung von der Niederschlagung der ersten Unruhen in Rumänien zu den Demonstrationen in der D D R . Dabei wird das eigene Erleben von Bedrohung mit der medial vermittelten Gewalt parallelisiert und Temesvar gewissermaßen zur ausgebliebenen, aber historisch durchaus möglichen blutigen Variante der DDR-Wende. Schon zuvor hatte er die Bedeutung der Wende als fundamentalen Gewinn beschworen. »Glauben Sie nicht, dass unsere Revolution uns nur die Freiheit gebracht hätte, nein, auch die Gefühle.« (S. 12) In ähnlicher Weise hatte er sich bereits beim Gedanken an die als verloren empfundene Zeit in der D D R geäußert. »Vieles habe ich hinter mir, dachte ich, aber die Liebe nicht.« (S. 11) Nach Darstellung des eingegangenen Risikos, vor dem Hintergrund des Massakers von Temesvar, zieht er die Fähigkeit oder Bereitschaft des Publikums in Zweifel, die existentielle Freiheitssehnsucht als Motivation der Wende zu begreifen und weitet eine von ihm eingeforderte Schweigeminute damit unausgesprochen zum doppelten Gedenken an Temesvar und Leipzig aus: »Und Sie meinen, wir hätten das für Bananen gemacht? Eine Minute blickt er ins Publikum, schaut von Gesicht zu Gesicht.« (S. 12) Nach Ablauf der Minute tritt zunächst ein Westler auf, der den Mann verhöhnt, »Nu, schenkt dir keiner eine Banane — kleiner Ossi? Ja, die Banane ist ein Universum - für euch. Für mich? Affenfutter.« (S.12), dann ruft ein Bote im Telegrammstil die Nachricht vom Sturz Ceaucescus aus. Im anschließenden Dialog zwischen Bote und Mann analogisiert letzterer religiöse und weltliche Machtinstitution: »Ja diese Kirchen haben die Krätze und müssen unter Quarantäne gestellt werden. Sie müssen wie die Parteizentralen der Kommunisten aufgelassen werden.« (S. 12) Anschließend werden die Bühnensituation und die Anwesenheit des Publikums thematisiert. Bote·. Jetzt aber möchte ich zurück — weißt du, das Rampenlicht. Sitzen da Leute unten [...]? Ich meine, die müssten sich doch freuen über den Untergang eines blutrünstigen Diktators - (S. 13)
Diese direkte Publikumsansprache ist nicht nur Mittel der Illusionsdurchbrechung, sondern auch strukturell bedeutsam, da bei ausbleibender Reaktion eine Publikumsbeschimpfung vorgesehen ist, »Die Menge versitzt ihr Abonnement.« (S. 13) Nachdem der Bote die Bühne verlassen hat, ist die Erinnerung des Mannes nun auf einen Zeitpunkt gerichtet, da er bereits Kenntnis über die Vorgänge in Rumänien, und zwar sowohl über Temesvar als auch über den Sturz Ceaucescus, zu haben schien. Die gedankliche Verbindung zum eigenen Erleben des DDR-Umsturzes wird wiederum hergestellt — allerdings in wesentlich verdeckterer Form und nicht auf parallelisierende Weise. Rumänien ist frei. Es ängstigt mich, dass Menschen Geschwister haben. [...] Da steh ich zum ersten Mal in meinen italienischen Schuhen und weiß nicht, ob ich mich über die 89
Befreiung Rumäniens so richtig freuen kann. W i r waren nämlich in Bozen in einem deutschsprachigen Lokal. (S. 14)
»Geschwister« kann dabei gelesen werden als Anspielung auf die Redewendung von »Brüder und Schwestern«, die durch die deutsch-deutsche Grenze getrennt gewesen seien. Durch diese Betonung der innerdeutschen Beziehung wird gleichzeitig aber auch der Abstand zur revoltierenden Bevölkerung in Rumänien hervorgehoben wobei ihm dieser Gedanke einer angeblich besonderen Verbundenheit der Ost- und Westdeutschen eben gerade im deutschsprachigen Teil Italiens in den Sinn kommt, womit die gemeinsame Sprache als Grund eines exklusiven Verbundenheitsgefühls unterminiert wird. Andererseits ereilt ihn in einem Lokal in Bozen tatsächlich ein besonderes Gefühl von Verbundenheit, allerdings auf privater Ebene und zwar zur »Frau des Hauses«, der er die in Lucca aufgesammelte Orange schenkt. Die Situation trägt dabei alle Züge dessen, was man als »Liebe auf den ersten Blick« bezeichnen kann und er »spürte, dass alle Ordnungen, die Menschen auseinanderzuhalten pflegten, weggeräumt waren.« (S. 14) Damit sind wirklich alle Ordnungen gemeint, was sich daran ersehen lässt, dass im gleichen Abschnitt von der kleinen Ebene direkter Begegnung wieder auf die große Ebene gesellschaftlicher Beziehungen hochgerechnet wird. Dies geschieht über die zuvor nur verdeckt angesprochene Thematik der Sprache. A n der Kasse sprach sie mit deutschsprachigen K u n d e n deutsch und mit italienischen italienisch. M i t mir sprach sie deutsch. Ich kann nur deutsch. Dieses Deutsch. Kann es aber nicht verstehen, dass sich Deutsche nur um Rumäniendeutsche in Rumänien kümmern. (S. 14)
Indem die Frau sein sprachliches Defizit kompensiert und in ihrer Zuwendung zwischen den Sprachen wechselt, wird ihm ex negativo der mit der national begründeten Exklusiv-Verbundenheit einhergehende Ausschluss deutlich. Damit ist der Bogen zurückgeschlagen zur anfänglichen Aussage: »Rumänien ist frei. Es ängstigt mich, dass Menschen Geschwister haben.« Nachdem die Souffleuse ihn unhörbar mit unbestimmten Nachrichten unterbrochen hat, setzt er seine Erinnerung an die »Frau des Hauses«, die nur noch als »das Glück« oder »mein Glück« bezeichnet wird, fort. Zunächst bleibt er nur in der N ä h e des »Glücks«, aus Rücksicht auf seine Frau. M i t ihr und ihrem Freund, von dem berichtet wird, dass er »sich andauernd Notizen« (S. 14) gemacht habe, beendet der M a n n das Essen. Nach Verlassen des Lokals verliert er sein »Glück« aus den Augen. Allein in sein Hotelzimmer zurückgekehrt, überkommen ihn wieder Gedanken an die D D R und er erinnert sich an sich selbst in Uniform, mit Nasenbluten, was er als sublime Individualitätssehnsucht deutet. D a saß man mit der selbstbeschmutzten U n i f o r m und wagte sich mit 2, 3 T r o p f e n eigenen Blutes vors Publikum. Das war eigen und fiel nicht auf. Ein Wunsch, ein Gedanke hätte ja einem ins Gesicht geschrieben stehen können. (S. 15)
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V o n der Erinnerung an seine eigenen Erfahrungen im totalitären Staat schweifen seine Gedanken weiter zu den Ereignissen in Rumänien, als er die Schritte des »Glücks« auf der Straße erkennt. »[...] und über den Platz ging sie!!! Drei Ausrufezeichen. [...] Der Palast der Republik steht in Flammen. Egal. Ich schrie: Hallo!« (S.15) Dieserart schneidet das Private ins Gesellschaftliche, reißt das Besondere des Moments das Allgemeine des historischen Umbruchs auf und schiebt es in den Hintergrund. Dieser Vorgang wird dabei deutlich ausgesprochen, sowohl bezüglich der impulsiven Handlung als auch ihrer Darstellung in der Erzählung: Drei Ausrufezeichen für das Auftauchen des Glückes - das Politische muss in seiner Bedeutung zurücktreten und der Liebe Platz machen. Allerdings sperrt sich das Politische hartnäckig, den Platz zu räumen, wie umgekehrt der M a n n noch nicht bereit ist, die Liebe zu empfangen. Soll ich hochkommen, rief sie. N e i n , sagte ich, heute noch nicht, ich habe Dünnschiss. W i e lange lieben wir uns denn, rief sie. [...] Solange, bis die Diktatur in R u m ä n i e n fällt. Was soll ich sagen. Rumänien ist frei. [...] M e i n K o p f - mein K o p f - wäre der Wirrwarr besser doch wieder nur in meinem Bauch? (S. 15)
Entgegen der gängigeren Frage nach der Legitimität oder Möglichkeit privaten Glücks angesichts gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, werden als Ergebnis seiner intellektuell-emotionaJ-physischen Verwirrung beide Größen in der Form aneinander gekoppelt, dass soziales Unglück zur Bedingung des privaten Glücks erklärt wird. Der sich anschließende zweite Teil ist vom ersten grundsätzlich verschieden. Dieser bestand im Wesentlichen aus dem Erinnerungsmonolog des Mannes, der nur von kurzen gegenwärtigen Einschüben (Trabbi, Westler, Bote) unterbrochen wurde. N u n wendet sich der M a n n nicht mehr über seinen Zustand und die Italienreise mit Frau und Freund monologisierend an das Publikum, vielmehr ist er in Zwiesprache mit Frau und Freund eingebunden. Im Erinnerungsteil hatte er aber sowohl Trennung von Frau und Freund als auch den T o d seiner Frau erwähnt," 4 so dass der zweite Teil als Rückblende in die erinnerte Zeit des ersten Teils erscheint. Dabei kreist der Dialog um die gleichen Themen, die schon im M o n o l o g Gegenstand der Erinnerung und Reflexion waren: Rumänien, Religion, Justiz als Religionsersatz, die Begegnung des Mannes mit dem Glück, die Legitimität privaten Glücks angesichts gesellschaftlicher Katastrophen. Was sich zuvor allerdings wie die Selbstreflexion des Mannes ausnahm, wird ihm nun teilweise v o m Freund vorgehalten: »Du klagst wie der alte J u d e von Lods, der in Auschwitz seine Kinder sucht.« (S. 17) D i e hier zu beobachtende unklare Urheberschaft v o n Aussagen korrespondiert mit einer Reihe weiterer Stellen, aus denen sich auf eine Sonderstellung des Freundes schließen lässt. Größtenteils ist er in Rede und Widerrede
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»Nach dem Auseinandergehen meiner Frau und ihres Freundes rasierte ich mich nicht. Selbst nach dem T o d meiner Frau trage ich einen Bart.« Achternbusch: A u f verlorenem Posten, S. 12.
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eingebunden, mitunter tritt er aber, sowohl durch die gewählte Z e i t f o r m als auch durch den Inhalt seiner Aussage, nicht mehr als Teil, sondern als A u t o r des Dialogs auf: Freund. Das ist nicht mein Land: Ich will nicht mit Teerstraßen leben. Mit Eisenbahnschienen und Flugplätzen. Das sagte er. Mann: Das ist nicht mein Land: Ich will nicht mit Asphaltstraßen leben. Mit Eisenbahnschienen und Flugplätzen. (S. 16) D e r durch dieses episierende Einsprengsel enstehende Eindruck, der Freund sei Urheber des Textes, ist natürlich nicht folgenlos auch f ü r den Status des Mannes, kratzt er doch an der Authentizität von dessen Aussagen. Eben dies wird auch direkt im Anschluss thematisiert, wobei es der Freund ist, der auf der zuvor behaupteten Identität des Mannes beharrt, während dieser selbst sich den Status des Ausführenden, Gelenkten zuschreibt. Z u Beginn seines Monologes hatte er sich dem Publikum zwiespältig vorgestellt, einerseits die Kunsthaftigkeit der Theatersituation betont, andererseits sich als Figur und nicht als Schauspieler eingeführt: »Das ist Theater. D a s Theater der Besserwisserei. W e n n ich sage: Ich bin ein Artillengeneral, dann lachen Sie — vermutlich. U n d w e n n ich sage: Ich k o m m e aus der D D R ? « (S. 9) I m weiteren Verlauf war nun seine H e r k u n f t aus der D D R immer wieder thematisiert worden, wie auch das Bild des Soldaten wieder auftauchte, als er sich seiner selbst mit v o m Nasenbluten befleckter U n i f o r m erinnerte. Dieserart hat sich das Bild von ihm als D D R - S o l d a t also zunehmend verfestigt und daran knüpfen nun auch Frau und Freund an, während der M a n n auf d e m Nicht-Fiktionalen des Eingangs insistiert und Theater- und Soldatenbild vermengt: Frau·. Deine Nase blutet wieder. Du beschmutzt dir die Uniform. Die Uniform der Staatssicherheit. Mann: Die Uniform ist weg. Und es war die Uniform vom Prinzen von Homburg. Freund: [...] Du kennst keinen einzigen Satz aus dem Prinzen von Homburg und möchtest Schauspieler gewesen sein? Mann: Was bin ich jetzt? Ich bin auf der Bühne. Sage meinen Text und warte auf das Stichwort. (S.16) D i e zweite Szene stellt also, trotz rein dialogischen A u f b a u s , keineswegs eine geschlossene fiktionale Welt dar, die auf der Theaterkonvention des »als ob« basierte. Im Gegenteil wird auch hier das äußere Kommunikationssystem deutlich thematisiert, so dass die aktuelle Situation der A u f f ü h r u n g betont wird, was wiederum den ersten Eindruck unterläuft, es handele sich u m eine Art Rückblende. Aber auch auf der neben der Thematisierung des äußeren Kommunikationssystems weiter existierenden innerfiktionalen Ebene erhält der Eindruck der Rückblende durch die beschriebene Sonderstellung des Freundes als Teil und gleichzeitig möglicher A u t o r des Dialogs eine neue Facette. W a r schon in der Erinnerung des M a n n e s im ersten Teil davon die Rede, der Freund mache sich ständig Notizen, so wird nun präzisiert, welcher Art diese Notizen sind. »Frau:
D u musst einen anderen T e x t
schreiben, das steht er nicht durch auf der Bühne.« (S. 17) V o r diesem Hintergrund 92
erscheint der Dialog des zweiten Teils nicht m e h r einfach nur als R ü c k b l e n d e , sondern auch als M o m e n t , in dem der M o n o l o g des ersten Teils erschaffen wird, der damit zur Fiktion zweiten Grades gerät. Dieser E i n d r u c k stellt sich allerdings nur punktuell in den angesprochenen Textstellen ein und lässt sich — dies w i r d an späterer Stelle zu belegen sein - nicht als Bauprinzip f ü r den Gesamttext behaupten. Dass die hier aufscheinende Verständnismöglichkeit einer kausallogisch organisierten narrativen Struktur nicht widerspruchsfrei im G a n z e n aufgehen wird, kann jedoch nicht verwundern, erteilt doch der Freund direkt im Anschluss an die A u f forderung, »einen anderen T e x t [zu] schreiben«, jeder konsistenten Erzählweise eine programmatische Absage. Nachrevolutionär für mich aber ist, den Einfallen möglichst lange eine Geschichte vorzuenthalten, sonst versacken wir in der Diktatur der Geschichte oder des Konsums. (S.i/f.) Die darin anklingende These Lyotards v o m »Ende der großen Erzählungen«" 5 wird dabei von der Frau a u f g e n o m m e n und konkretisiert, auf den historischen Materialismus der marxisitischen W e l t a n s c h a u u n g bezogen u n d v o n diesem a u f die Grundlage des westlichen Gesellschaftssystems übertragen. Die Verelendungstheorie, die sie den anderen weissagten, und wir hatten die Verelendungswirklichkeit. [...] Der Kommunismus ist auf verlorenem Posten, und auf diesen Posten der Verlorenheit muss die Industrie folgen. (S. 18) Dieser Aussicht a u f einen weiteren V e r f a l l ist freilich ebenfalls die Idee einer Geschichte im Sinne einer prognostizierbaren E n t w i c k l u n g i m m a n e n t , was ihr umgehend v o m Freund vorgehalten wird: Sie agitiere »wie in vergangenen, wie in verlorenen Zeiten« (S. 18). O b w o h l gerade noch neben der »Diktatur der Geschichte« auch vor der »Diktatur des Konsums« warnend, schwingt er sich nun zur Verteidigung der bürgerlichen ökonomischen O r d n u n g auf. Die Planwirtschaft war nicht in der Lage, auch einfachste Alltagsbedürfnisse zu erfüllen. Jetzt [...] keimt Hoffnung auf, dass diese für die Menschen unerträglichen Verhältnisse in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören werden. (S.i8f.) Nachdem die Frau den beiden M ä n n e r n eröffnet hat, dass sie schwanger sei, laufen verschiedene Erzählstränge im D i a l o g durcheinander. Drei Bilder der Erlösung werden dabei ineinander verwoben: T o d (die Frau hat eine Pistole und erzählt v o n ihrer Todessehnsucht in der D D R ) , irdische Liebe (die Sehnsucht des Mannes nach seinem Glück) und religiöse Liebe (gelöst von ihrer kirchlichen Institutionalisierung). Allerdings handelt es sich in allen Fällen u m eine Erlösung, die sich nicht einstellt.
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»Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation.« In: Jean-Fran^ois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz u.a. 1986, S.112. 93
Als die Frau schließlich in die Luft schießt, kommt »das Glück [...] in einem Kleid nach Botticellis Bild. Trägt ein Orangenbäumchen mit drei Früchten.« (S. 20) Mit der Inkarnation des allegorischen Glücks scheint in diesem surreal anmutenden Szenenschluss nun tatsächlich eine Erlösung in Form der irdischen Liebe greifbar zu werden. »Das Glück« verteilt die Orangen, selbst bedarf sie keiner, weil sie noch immer die vom Mann geschenkte hat. Die Pistole wird auf dem Tisch zurückgelassen und die vier gehen »alle ab pärchenweise« (S.20). Zuvor fragt »das Glück« den Mann noch, ob seine Krankheit nun vorbei sei. »Mann: Habe sie in der Sehnsucht nach dir vergessen. Brennesseln wachsen über Temesvar.« (S.20) Das Todesbild wird noch einmal aufgeworfen, mit den politischen Ereignissen in Bezug gesetzt, macht ihm nun aber die Bereitschaft zur individuellen Liebe nicht mehr unmöglich. Das Stück scheint an dieser Stelle an einem positiven Höhepunkt angelangt, der Mann erlöst zu sein - doch es folgt der dritte Teil. »Auf der Bühne steht ein leeres Kamel. Nacht.« (S. 20) Auf diese Bühne kommt der Freund, Mann und Frau sind zu hören, aber nicht zu sehen. Der Mann verlangt, dass man ihn verleugne, wenn »das Glück« nach ihm frage, obwohl er an Liebeskummer sterbe. Die Frau will allein sein, sagt, das Kind in ihr sei tot und auch sie liege im Sterben. Danach entbindet sie den Freund aus der gemeinsamen Liebe. Dieser zieht das resignierte Fazit der Situation. »Der Zufall begünstigt zwar den vorbereiteten Geist, aber wir sind zu wenig vorbereitet.« (S. 21) So positiv und hoffnungsvoll die zweite Szene endete, so desolat beginnt die dritte. Von der Erlösung, die zum Ende der zweiten Szene dargestellt schien, ist in der sich diskontinuierlich anschließenden dritten nichts geblieben. Die aufscheinende Liebe hat sich verflüchtigt und erscheint rückblickend als vom Zufall begünstigte Möglichkeit, die zu ergreifen offensichtlich niemand in der Lage war - »wir sind zu wenig vorbereitet.« (S. 21) Isoliert sind die Figuren voneinander und unglücklich jeder einzelne in seiner Isolation. War die Liebe nicht realisierbar, so bleibt als Form der Erlösung noch der Tod, der zum Ende der zweiten Szene bewusst nicht gewählt wurde: »Freund. Und was machen wir mit der Pistole?« Frau·. Die lassen wir auf dem Tisch liegen.« (S.20) Jetzt, in der dritten Szene, ist Sterben die einzige Aussicht, die Erleichterung verschafft: »Endlich Ruhe - « (S. 21) Uberraschend bricht diese Szenerie völliger Hoffnungslosigkeit auf. »An der Brandmauer taucht eine blaue Bergkette auf.« (S. 21) Daraufhin kommt der Mann auf die Bühne und sagt, die Alpen erinnerten ihn immer an das Glück. Diese Assoziation ist wohl dadurch zu verstehen, dass sich hinter dem abstrakten Glück ja ursprünglich die konkrete Gestalt einer Wirtin verbarg, die er in Bozen kennenlernte, also inmitten der Alpen. Dann hört man das Schreien eines Neugeborenen. Die Männer gehen zur Frau und kommen mit ihr und dem Neugeborenen zurück auf die Bühne. »Nun sind wir eine Familie«, sagt der Freund, »und mag die Welt eine Wüste sein, so haben wir ein Wüstenschiff. Sie ziehen ab.« (S. 22) Dabei nehmen sie wohl das Kamel mit. Die Frau lag nicht im Sterben, sie und der Freund sind nicht mehr getrennt. Auslöser für diese Wandlung ist die Geburt des Kindes, das eben doch nicht tot im Leib der Mutter lag und nun zu einem kleinen Erlöser 94
wird. Die Alternative zum T o d ist greifbar: Das neue Leben. »Ob es einmal einen v o m Heiligen A b e n d befreiten 24. Dezember geben wird?«, hatte die Frau in der zweiten Szene gefragt, denn »Das Christkind wartet schon« (S.19). N u n scheint es da zu sein und wie eine Heilige Familie ziehen sie v o n dannen — inklusive K a m e l als Ersatz f ü r O c h s und Esel. Diese Auslegung lässt sich legitimieren, w e n n m a n den zuletzt zitierten Satz der Frau dahingehend versteht, dass die Religiosität v o n ihrer Institutionalisierung befreit werden müsse, u m eigentlich zur G e l t u n g zu k o m m e n . A u f s Textganze bezogen w i r d jedoch nicht allein einer K r i t i k an der Kirche als Machtinstitution Ausdruck verliehen, sondern auch der grundsätzlichen A b l e h n u n g einer A u f f a s s u n g v o n Religion als Heilserzählung. Stattdessen w i r d Religion definiert als »die Gewissheit [...], dass das Wissen immer geringer ist als das Nichtwissen« (S. 16). D a m i t wird jeder metaphysischen Fragestellung ihr Recht zugesprochen, jede metaphysische Antwort aber in Z w e i f e l gezogen. V o r diesem Hintergrund erfolgt die positive Schlusskehre nicht als letzte Folge einer zielgerichteten Erzählstruktur, deren innerer Notwendigkeit sie entspräche, sondern scheint im Gegenteil v o l l k o m m e n willkürlich als Alternative auf. Sie ist der Z u f a l l , der begünstigt - und auf den der Freund doch besser vorbereitet war, als er selber ahnte. Folglich ist das Kind, das da geboren wurde, auch nicht das Christkind. Es ist nicht gekommen, u m die Menschheit zu erlösen, sondern zeigt mit seiner A n k u n f t genau zwei Menschen die Möglichkeit der Liebe auf: Frau und Freund. Schon der Dritte im Bunde ist überzählig. Der M a n n bleibt allein auf der B ü h n e zurück, bis er zu dem Schluss k o m m t : »Mit w e m kann ich leben? N u r mit d e m Glück.« (S. 22) Als dieses aber auftritt, ergießt es über den M a n n zunächst ein langes Lamento über das U n g l ü c k des Glücks, die Klage einer stets Ersehnten u n d doch immer Zurückgewiesenen, angereichert durch eine Folge von Beispielen, welche Phänomene den Blick auf das Glück verstellen: Leid, Vergangenheit, Politik, schnelle G e w i n n e , Nabelschau und Ängste, die Abstraktion des Kunstidols (also verklärte Idealisierung). Als das G l ü c k ihm aber die Abfalleimer entgegenhält, die es mit sich herum trägt — als wolle es die Bereitschaft signalisieren, seinen Seelenmüll zu entsorgen - lehnt der M a n n ab. Manm Nein. Dich will ich und dich bitten, nicht mehr von meiner Seite zu gehen. [...] Er blickt ihr in die Augen und schreibt mit dem Finger auf ihren Rücken. Glück DAS GLÜCK IST NUR IN DIESER HAUT. Vorhang. (S. 22) M i t dem Finger auf ihrem Rücken ist nun auch der M a n n , wie zuvor Frau und Freund, beim ganz Konkreten der Begegnung u n d Berührung mit einem anderen Menschen angelangt und das Stück wieder dort gelandet, w o es seinen U r s p r u n g nahm - beim Körper. N u r ist dies nicht mehr wie im Ausgangsmonolog ein verunreinigter, sich fortwährend entleerender Körper, er ist jetzt Träger der Liebe. Dieser Anschluss an die Ausgangslage ist freilich nur ein thematischer, der assoziativ erschlossen werden muss. Keineswegs ist die Verbindung derart, dass sich nun narrativ ein Kreis geschlossen hätte. W a r der D i a l o g des zweiten Teils w i e dargelegt stellenweise noch als Rückblende aus d e m ersten Teil zu begreifen, so bleibt völlig unklar, in welcher V e r b i n d u n g der dritte T e i l zu den beiden vorange-
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gangenen auf der Ebene der Erzählstruktur steht. D i e drei Teile lassen sich v o m Inhalt her in keine, wie auch immer fragmentarisierte und geschachtelte, zeitliche Abfolge bringen. Im Gegenteil sind sie untereinander sogar widersprüchlich. A m ehesten lässt sich die Struktur wohl so beschreiben, dass nach dem Erinnerungsmonolog des ersten Teils im zweiten Teil in die erinnerte Zeit zurückgesprungen wird und der dritte Teil assoziativ Motive weiterführt, ohne handlungsmäßig an den zweiten anzuknüpfen oder zum ersten zurückzuführen. »Die Einfalle sind das Leben, und ob daraus eine Geschichte wird, mag dahingestellt bleiben.« (S. 18) D e r T e x t reflektiert seine eigene Erzählstrategie also, w i e o b e n schon dargelegt, in deutlicher Weise selber und birgt damit das, was G e r d a Poschmann als »analytische Theatralität« bezeichnet." 6 Was nun die Frage der Figuration angeht, so stellt sich die Lage als ambivalent dar. Zunächst scheinen sich Figuren im herkömmlichen Sinne durchaus zu ergeben. D i e sprachlichen Äußerungen sind sowohl bestimmten Trägern zugeordnet, als auch durch ihren Inhalt dazu in der Lage, aus diesen Textträgern Figuren zu konstituieren. M i t G e f ü h l e n , Körper und Reflexionsfähigkeit, sogar mit einer H e r k u n f t ausgestattet, fehlt dem »Mann« eigentlich nichts, u m als Figur im umfassenden Sinne verstanden zu werden. Indem der »Befreiungsdrang« als Hinweis auf den Wende-Herbst 1989 deutbar ist, wird die Figur noch konkreter. D a m i t nicht genug, wird der Sprechakt nicht nur vage zeitlich, sondern auch noch genau örtlich fixiert — um einer Figuration im dramatischen Sinn schon mit dem ersten Satz des Stückes den Boden zu entziehen: »Das ist Theater.« (S. 9) D i e Künstlichkeit deutlich als solche herausstellen, E i n f ü h l u n g des Zuschauers verhindern (»Aber bitte teilen Sie nicht meine G e f ü h l e mit mir. Bleiben Sie bei Verstand.«, S. 9) - dieser A u f t a k t klingt wie eine treue Befolgung der Regeln des Brechtschen Organons. Eine nähere Bestimmung, u m welche Art Theater es sich handelt, erfolgt aber schon im zweiten Satz: »Das Theater der Besserwisserei.« (S. 9) Bezieht sich dieser Satz nun auf die Figur, die ihn spricht, auf den Schauspieler, der diese Figur darstellt, auf den folgenden A n k l a n g an den Brechtschen Theateransatz oder auf den Autor des Satzes, der in I c h - F o r m über die D D R sprechen lässt, o h n e in ihr gelebt zu haben? O f f e n bleibt, welches Verhältnis durch die Bezeichnung »Besserwisserei« beschrieben wird, angesprochen werden dieser wohl drei: Das Verhältnis zwischen dem Stück und seinem T h e m a , zwischen Bühne und P u b l i k u m sowie zwischen P u b l i k u m u n d T h e m a . D i e folgenden Sätze nämlich lauten: »Wenn ich sage: Ich bin ein Artillengeneral, dann lachen Sie - vermutlich. U n d wenn ich sage: Ich k o m m e aus der D D R ? « (S. 9) Aller im Folgenden entwickelten scheinbaren Figuration zum T r o t z verhindert das Stück also von vornherein eine »Verständigung mit dem Publikum [...] auf [der Basis] der traditionellen Theaterkonvention des >als obAuf verlorenem Posten< ist ein Stück über die große Politik im kleinen.« 1 2 8 Betont wird, dass mit der formalen Anlage von » M o n o l o g und Szenen, [...] Kabarett u n d T h e a t e r auf dem Theater [und] assoziativem Bilderbogen« ein Theater entstehe, »das spontan, sehr schnell, sehr subjektiv auf Wirklichkeit reagiert.« 1 2 9 Entscheidend ist dabei, dass es dem T e x t offensichtlich gelungen ist, mit d e m »Mann«, in dessen Darstellung sich K o m i k als Mittel, nicht aber als Ziel findet, eine Figur zu schaffen, die als Subjekt wahrgenommen, der ein authentisches E m p f i n d e n geglaubt wird. »Alles, was als aktuelle Pointe sofort heraussticht, hat Achternbusch doch auch erkennbar tiefer grundiert. Das ist kein kabarettistisches Potpourri. Sondern eine Existenzrevue.« 1 3 0 Inhaltlich wird in diesem Z u s a m m e n h a n g in allen Kritiken neben d e m positiven Schlussbild der A s p e k t der umfassenden B e f r e i u n g unterstrichen, als welche die W e n d e in der D D R in »Auf verlorenem Posten« gezeigt wird. »>Sie glauben, wir hätten das alles nur für Bananen getan?* Besseres, Menschenwürdigeres als dieser Satz und diese Szene ist über die deutsche Revolution im Herbst 1989 nicht gesagt und geschrieben worden.« D a s Stück werde mit dieser Darstellung »zum D o k u m e n t eines richtigen G e f ü h l s . Es bewahrt es auf.«
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Dies ist vor allem
insofern interessant, als schon mit den nächsten Stücken zum T h e m a , »Karate-Billi kehrt zurück« und »Schlusschor«, die Behandlung der Wiedervereinigung als Problemfall einsetzt. Im Falle von B o t h o Strauß' »Schlusschor« liegt dies zum Teil auch daran, dass im Geflecht außertextlicher philosophischer Bezugsgrößen ein möglicher positiver Aspekt, der in der Erschütterung durch das epochale Ereignis liegt, von den Kritiken nicht wahrgenommen wird. I m Gegensatz dazu n i m m t sich die nicht-dramatische
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? Ebd. Christine Dössel: Wie der Mann aus der D D R in die Wüste geriet. In: Badische Zeitung, 12./13.4.1990. 129 Barbara Schmitz-Burckhardt: Was die Menschen wirklich bewegt. In: Frankfurter Rundschau, 10.4.1990. 130 Peter von Becker: Der wüste Westen. In: Theater heute, 1990, Heft 5, S.9-15, hier: S.u. 131 Gerhard Stadelmaier: Herz auf der Haut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4.1990. Wenn die Gefühlswelt des Mannes nicht als authentisch geglaubt wird, bricht automatisch die dramaturgische Konstruktion des gesamten Stückes zusammen. Helmut Schödel zitiert in »Die Zeit« denselben Satz wie Stadelmaier, bemängelt dabei aber den »Tonfall biederster Betroffenheit« und nimmt folgerichtig auch »bloß eine müde Posse« wahr. Helmut Schödel: Servus Herbert. In: Die Zeit, 13.4.1990. 128
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F o r m von »Auf verlorenem Posten«, die sich aus der Konzentration auf die subjektiv-assoziative Perspektive ergibt, als ausgesprochen zugänglich aus.
4.2 Inhaltliche Schwerpunkte D i e bisherigen Ausführungen zu Zeitstücken setzten sich primär mit ihrer formalen Gestaltungsweise und den jeweiligen sich daraus ergebenden Konsequenzen bezüglich der Verhältnisse B ü h n e — Z u s c h a u e r sowie T h e a t e r — außertheatrale Realität auseinander. Der Frage, welche inhaltlichen Aspekte der Wiedervereinigung in der entsprechenden D r a m a t i k aufgegriffen w u r d e n , soll n u n im Folgenden nachgegangen werden. Dabei wird in der Regel jeweils ein Beispiel herausgegriffen, u m einen T h e m e n k o m p l e x vorzustellen. A u f weitere Vertreter der entsprechenden inhaltlichen Kategorie wird nur in Ausnahmefällen eingegangen werden.
4.2.1 DDR-Geschichte: »Helden wie wir« (Thomas Brussig) D e r erste T h e m e n s c h w e r p u n k t bedarf einer kurzen Erklärung bezüglich seiner Berechtigung innerhalb einer Untersuchung, die sich mit dem Theater zur Wiedervereinigung beschäftigt. W i e die Kapitelüberschrift anzeigt, handelt es sich hier um Stücke, die sich gerade nicht mit der deutschen Gesellschaft nach dem Z u s a m m e n schluss 1990 auseinandersetzen. Vielmehr wird hier jene deutsche Gesellschaft in Augenschein genommen, aus der heraus die Entwicklung ihren Ausgang nahm, die schließlich zur Wiedervereinigung führte. W e n n die Wiedervereinigung also auch nicht den Inhalt von »Helden wie wir« bestimmt, so wird das Stück dennoch als dem Untersuchungsfeld zugehörig erachtet, da es - anders als die aus dem Untersuchungsfeld ausgeschlossene sogenannte »Wende-Dramatik« wie etwa Volker Brauns »Übergangsgesellschaft«, Christoph Heins »Ritter der Tafelrunde« oder Georg Seidels »Villa Jugend« — nicht selbst Bestandteil des Wendeprozesses und aus diesem heraus produziert und aufgeführt wurde. Vielmehr handelt es sich u m eine nachträgliche Reflexion über die untergegangene Gesellschaft. D i e A r t und Weise, wie sich jene Gesellschaft rückblickend darstellt, welche die überwiegende Bevölkerung der Neuen Länder sowohl gebildet hat als sie umgekehrt auch von ihr geprägt wurde, erscheint allerdings als maßgebliches M o m e n t einer heutigen Positionsbestimmung. In den 90er Jahren entstandene theatrale Auseinandersetzungen mit der D D R 1 3 2 können also als Bestimmungsversuche der mentalitätsmäßigen Prägung verstanden werden und sind insofern durchaus Teil einer Reflexion über das wiedervereinigte Deutschland, in dem Ost- und Westbevölkerung auf unterschiedliche Erfahrungen zurückgreifen.
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Neben Zeitstücken wie dem hier behandelten »Helden wie wir« ist dabei auch an entsprechend eingerichtete Klassikerinszenierungen, Neu-Inszenierungen von spezifischer DDR-Dramatik sowie revue- und spektakelartige Formen zu denken. Inwieweit diese zur Bewusstmachung der mentalitätsmäßigen Vorprägung geeignet sind oder der sentimentalen Verklärung dienen, kann nur am Einzelfall überprüft werden.
Grundsätzlich lassen sich zwei Verfahrensweisen unterscheiden, D D R - G e s c h i c h t e auf die Bühne zu bringen. Im einen Fall ist die H a n d l u n g in der N a c h - W e n d e - Z e i t angesiedelt und besteht hauptsächlich darin, dass vergangene V o r g ä n g e aufgerollt werden, wie z.B. in »Autorenschlachten« von Lutz Rathenow. D i e andere M ö g l i c h keit nimmt sich dergestalt aus, dass die eigentliche H a n d l u n g in der D D R angesiedelt ist, dabei aber o f t die Ereignisse des Wende-Herbstes mit umfasst, etwa in Einar Schleefs »Drei Alte tanzen T a n g o (Totentrompeten II)«.' 3 3 Die H a n d l u n g von »Helden wie wir« 1 ' 4 (1996), Peter Dehlers Bühnenfassung nach T h o m a s Brussigs (Ost) gleichnamigem R o m a n , ist ebenfalls in der D D R angesiedelt, wird jedoch retrospektiv erzählt. D i e Erzählperspektive des R o m a n s wird ü b e r n o m m e n , der Ich-Erzähler steht nun auf der B ü h n e u n d berichtet in einem nur von kurzen dialogischen Einsprengseln unterbrochenen M o n o l o g , wie es zum Fall der Berliner M a u e r kam. E r setzt dabei mit der überraschenden Erklärung ein, er persönlich habe die M a u e r zum Einsturz gebracht und bringt damit das E n d e der D D R und seine persönliche Biographie in Einheit, die er noch näher spezifiziert: »Die Geschichte des Mauerfalls ist meine Geschichte und vor allem die Geschichte meines ... Pinsels.« (S.3) N a c h dieser Einleitung stellt sich der Erzähler als Klaus Uhlzscht vor u n d beginnt anschließend, sein Leben v o n der Kindheit bis zum M o m e n t des Mauerfalls in chronologisch geordneten Episoden zu erzählen. Aus dieser »Generalbeichte eines Mitläufers« formt sich schließlich ein Sittenbild der D D R in der »niederen Stillage [des] pikaresken Genre[s]«.' 3 5 Beide Eltern von Uhlzscht sind fest in das D D R - S y s t e m eingebunden, der Vater als Mitarbeiter der Staatssicherheit, die Mutter als Hygieneinspektorin des Ostberliner Bezirks Lichtenberg. V o n der Tätigkeit des Vaters hat das K i n d keine genaue Vorstellung, hält ihn als Mitarbeiter des Ministeriums f ü r Außenhandel vielmehr f ü r »eine Art Straßenhändler« (S.4). Das Wichtigste, was er über ihn zu berichten hat, ist jedoch, »dass er mich für einen Versager hielt« (S.5). D e r W u n s c h , dieses Bild zu korrigieren, also d e m v o m V a t e r verkörperten System möglichst große Anerkennung abzuringen, wird zum durchgängigen M o t i v in vielfältigen hybriden Ausformungen. W ä h r e n d der Vater ihm durch mangelnde A n e r k e n n u n g also zu einer ausgewachsenen Profilneurose verhilft, gibt ihm die M u t t e r ein von G r u n d auf gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper mit auf den W e g , das ihn zum einen zwingt, unverzüglich zu spülen, sobald »es platschte« (S. 6) und ihn zum anderen für »die nächsten Jahre [...] pausenlos damit beschäftigt, meinen Steifen zu eliminieren.« (S. 13) V o m restriktiven Erziehungssystem der Eltern deformiert, entwickelt Uhlzscht sich z u m gehorsamen Untertan und fühlt sich »schon ertappt, w e n n ich
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Einar Schleef: Drei Alte tanzen Tango. Totentrompeten 2. In: Spectaculum, Bd. 69, Frankfurt/Main 1999, S. 71-155. Thomas Brussig: Helden wie wir. Bühnenfassung von Peter Dehler nach dem gleichnamigen Roman. Unverö. Verlagsmanuskript (henschel S C H A U S P I E L Theaterverlag), Berlin o.J. Heide Hollmer: Thomas Brussig. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München, Stand 6/2001, S.4f. 103
ein Verbotsschild nur sehe.« (S. 8) Anhand der Einfärbung von Ländern entsprechend der politischen Ordnung auf historischen Weltkarten, berichtet Uhlzscht von seiner ideologischen Prägung durch die Schule, wobei staatliche Indoktrination und familiär bedingte Persönlichkeitsbildung miteinander verknüpft werden. U n d ich hatte das Glück, auf der erfolgreichen Seite geboren zu sein. [...] Aber ich durfte die Beine nicht baumeln lassen. Es gab nämlich die historische Mission. Mission! Historisch! So was braucht man, wenn man beweisen will, dass man kein Versager ist. (S. 17)
Entsprechend seinem Wunsch, die historische Mission zu vollenden, verpflichtet er sich, wissend aber unausgesprochen, bei der Staatssicherheit. An seinem Selbstwertgefühl ändert das jedoch nichts. Was Uhlzscht von seiner ersten Einsatzstelle zu berichten hat, erscheint derart banal, dass ihm selbst Zweifel kommen, ob er tatsächlich bei der Staatssicherheit gelandet ist oder bei »einem Verein, der sich nur Stasi nannte — damit die echte Stasi, die mich eines Tages rufen wird, umso besser getarnt blieb?« (S. 29) Der Observationsapparat schrumpft in der Darstellung von Uhlzscht zu einer Versammlung biederer, richtigen Sprachgebrauchs unfähiger und ihrer eigenen ideologischen Grundlagen unkundiger Tölpel. Die repressiven Maßnahmen gegen die Bevölkerung formen sich dabei zu einem bizarren Krisenmanagement um: Die Zerstörung eines Spiegels in der Wohnung einer observierten Schriftstellerin wird durch eine falsche Erdbebenmeldung ausgebügelt, dem Problem kritischer Flugblätter wird mit dem Vorschlag begegnet, den freien Verkauf von Papier zu unterbinden. »Also: Auf zu neuen Ufern des Misstrauens! In historischer Mission!« (S. 34) Die durch Staat und Familie bewirkte Deformierung der Persönlichkeit des Erzählers nimmt im Laufe seiner Entwicklung immer abnormere Züge an. In der Darstellung bleibt dabei die Diskrepanz zwischen humoristischer Vermittlung und ernstem Gehalt der beschriebenen Phänomene erhalten. War dies im eher abstrakten Verhältnis zwischen Darstellung der Staatssicherheit als lächerlichem Verein und realer Repression schon der Fall, so kommt dies noch drastischer zum Vorschein, wenn Uhlzscht von einem weiteren Versuch berichtet, seine Sexualität auszuleben. Als Partnerin hat er sich eine betrunkene und ihm in jeder Weise unattraktiv erscheinende Frau auserkoren, die er nach Hause begleitet. Nachdem diese beim Anblick seines kleinen Penis' zu lachen anfängt, gerät er in Wut und vergewaltigt sie. In seiner Schilderung wird auch daraus wieder ein lachhafter Akt: Ich mache das doch nicht zu meinem Privatvergnügen. W e n n ich am Konferenztisch für größere Aufgaben berufen werde, wenn ich die Vorzimmerdamen des N A T O - G e n e r a l sekretärs reihenweise flachlegen muss ... dann will das trainiert sein! Das ist ein Manöver. (S.40)
Die deformierte Persönlichkeit des Erzählers wird im Folgenden noch konkreter an den Lauf der politischen Ereignisse gekoppelt. Während die Fluchtwelle aus der D D R schon in vollem Gange ist, wird Uhlzscht zu einer Blutspende aufgefordert und stellt anschließend fest, dass es sich bei dem Empfänger um Erich Honecker handelt. 104
Als er Wochen später wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrte, war seiner Amtsführung mein Perversenblut anzumerken. Er hat hunderttausende Fackeln an sich vorüberziehen lassen. Er hat Eisenbahnzüge umleiten lassen. Er hat die letzte offene Grenze schließen lassen. Er hat keinem eine Träne nachgeweint. (S. 43)
Als Sicherheitskraft gegen die Demonstranten eingesetzt, erlebt Uhlzscht auch die große Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November mit. Eine Rednerin erregt dabei seine besondere Aufmerksamkeit. »Bei der klatschen sie andauernd! Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor; es ist Sozialismus, und keiner geht weg.« (S. 44) Uhlzscht glaubt, die Rednerin als Katharina Witts Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller identifizieren zu können, wobei es sich de facto allerdings um ein Zitat aus der Rede von Christa Wolf handelt.' 36 Einerseits wird die Sprache der Rednerin dabei durch Uhlzscht selbst dem Spott ausgesetzt - »Träumen wir mit hellwacher Vernunft. Diese angestrengte Eleganz. Diese intellektuellen Pirouetten.« (S.44) —, andererseits wird sie dadurch diskreditiert, dass gerade Uhlzscht sich mit der Rednerin auch identifizieren zu können scheint. »Jutta, ich komme. Ich will mit dir Paarlaufen. Ich kenne auch was mit Sozialismus: Der Sozialismus braucht Perversion, wie die Perversion den Sozialismus braucht.« (S.44)
Auf dem Weg zum Rednerpult stolpert Uhlzscht derart unglücklich über ein Transparent, dass er sich den Besenstiel, an dem es befestigt ist, mehrfach in die Hoden rammt. Im Krankenhaus wieder erwacht, stellt er fest, dass sein Penis infolge der »Operation, bei der Lymphbahnen durchtrennt wurden« (S. 46), einen Wachstumsschub erhalten hat und nun schier unglaubliche Maße aufweist. Als er die Klinik verlässt, hört er vom Grenzübergang Bornholmer Brücke den Ruf »Wir sind das Volk!« (S.47) und erblickt dort Tausende von Demonstranten einem Dutzend Grenzsoldaten gegenüber. Als er »einen besonnenen Rebellen nach einem Verantwortlichen rufen« (S.48) hört, sieht Uhlzscht seine Chance gekommen, seinem Geltungsdrang endlich Genugtuung zu verschaffen. Dann ließ ich mit einem historischen Grinsen meine Unterhosen herunter. Die Grenzer waren wie gelähmt. [...] Und schließlich ... entriegelte einer von ihnen wie hypnotisiert das Tor [...] und der Weg war frei für einen der glücklichsten Augenblicke deutscher Geschichte. (S.48)
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Im Unterschied zur Bühnenfassung wird im Roman dem Erzähler diese Verwechslung nachträglich noch bewusst. Dort ist sie Anlass für eine längere Auseinandersetzung mit Christa Wolf: »Wenn Christa Wolf, die Meisterin des Wortes oder welche Aura auch immer sie umflorte, am 4. November trotz befreiter Sprache darauf verzichtete, zur Maueröffnung anzustacheln, dann wird sie schon gewusst haben, warum. Und ich habe sie trotzdem aufgemacht! Eigenmächtig! [...] Wer glaubt, die Befreiung der Sprache verträgt sich mit der Formulierung, dass aus Forderungen Rechte, also Pflichten werden, verleiht naturgemäß auch einer Verfassungspräambel den Charme einer Heimordnung. [...] Es ergab sich in diesem verrückten deutschen Jahrsber auch, dass ich schon ein paar Wochen später Christa Wolf nach Kräften in Schutz nahm und zwar - Sie ahnen es - im deutschen Literaturstreit.« Thomas Brussig: Helden wie wir. Roman. Frankfurt/Main 1998, S. 304ff. 105
Das Bild, das Brussig durch die »Generalbeichte« seines Protagonisten Uhlzscht von der D D R zeichnet, lässt sich ohne Abstriche als Generalabrechnung bezeichnen. Keine Facette der dargestellten Gesellschaft erscheint auch nur im Kern als menschenfreundlich, also der ideologischen Selbstdarstellung entsprechend und somit erhaltenswert. Vielmehr basiert in jeder Episode das Verhältnis der Autoritäten zur Bevölkerung auf Misstrauen, was ständige Bevormundung und Repression zur Folge hat. Die Ausmaße des ausgeübten Zwangs sind total, da familiäre und staatliche Autorität durch die Linientreue der Eltern in eins gesetzt werden. So entsteht die Beschreibung einer Gesellschaft, in der Konformität und Deformation Hand in Hand gehen. Das ist einseitig und polemisch und darf dies auch sein, da es sich durch den Anschluss an »die niedere Stillage des pikaresken Genrefs]«' 3 7 offen als satirische Überspitzung zu erkennen gibt.' 38 Die komische Brechung der realistischen Form scheint dabei im Vergleich zu Harald Muellers »Doppeldeutsch« insofern souveräner gehandhabt, als die Typisierung in diesem Fall der retrospektiven Analyse einer Gesellschaft dient und nicht der Prognose des weiteren Geschichtsverlaufs (siehe Kapitel 4.1.2). Der mit der Typisierung einhergehende Anspruch einer Allgemeingültigkeit kann daher darauf bauen, dass die überspitzte Darstellung vom Zuschauer auf Erlebtes, Beobachtetes oder Berichtetes bezogen wird. Im Falle von »Doppeldeutsch« kann das Dargestellte durch seinen vorausschauenden Charakter nicht in die Lebenswirklichkeit rückgebunden werden, sondern erhält seine Legitimation erst, wenn bestimmte politisch-geschichtliche Gesetzmäßigkeiten als zutreffend anerkannt werden. Auf diesen ideologischen Überbau, durch den die dargestellte Gesellschaft nicht nur der Kritik ausgesetzt, sondern zusätzlich noch in eine übergreifende historische Erzählung eingebunden wird, verzichtet »Helden wie wir« und bricht seine Erzählung beim Zusammenbruch der D D R ab. Dass sich aus einem derart repressiven System heraus überhaupt Kräfte entfalten konnten, die zu einer fundamentalen Umwälzung führen, erscheint überraschend und wird vom Stück auch deutlich relativiert. Die Wende wird als unkontrollierte und im G r u n d e ziellose Protestbewegung dargestellt, deren Eigendynamik zur Überraschung aller Beteiligter zum Sturz der Mauer führt. »Sie dürfen diese >Das V o l k sprengt die MauerNeue Deutschlands wenn auch die >Zeit< — und wenn dann auch noch der Autor dieser Rezension von ein und demselben Buch entzückt sind, dann macht so etwas stutzig,
schrieb Wolf Biermann im »Spiegel«.' 43 V o r allem aber macht so etwas ein Buch zum Bestseller, zu dem Brussigs R o m a n »Helden wie wir«, in »Die Zeit« zum »heißersehnten Wenderoman« 1 4 4 erklärt, tatsächlich avancierte. Obwohl die Erstausgabe gerade mal ein Jahr alt war, wurde der Roman bereits in der achten Auflage verkauft, als Peter Dehler seine Bühnenfassung in den Kammerspielen des Deutschen
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Jens Bisky: N a c h dem Ende. In: Süddeutsche Zeitung, 6.12.2002. Bisky geht es dabei dezidiert nicht um einen behutsameren U m g a n g mit der D D R . »Schonung ist nicht das beste Rezept für Geschichtsschreibung. Aber den Gegenstand muss sie treffen, zeigen, wie die beiden deutschen Staaten aufeinander angewiesen und wie ähnlich sie in vielem einander waren.« W o l f Biermann: >Wenig Wahrheiten und viel Witz< In: Der Spiegel, 2 9 . 1 . 1 9 9 6 . Christoph Dieckmann: Klaus und wie er die Welt sah. In: Die Zeit, 8.9.1995.
Theaters Berlin am 2 7 . 0 4 . 1 9 9 6 uraufführte. Natürlich bescherte die Prominenz der Romanvorlage auch der Bühnenfassung entsprechende Aufmerksamkeit. A u c h als M o n o l o g konnte die Geschichte des Klaus Uhlzscht die Erwartungen offensichtlich erfüllen u n d die Erfolgsgeschichte des R o m a n s f a n d ihre Fortsetzung a u f der Bühne. 1 4 5 D i e große Resonanz ist z u m Teil sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass »Helden wie wir« als M o n o l o g ein leicht umsetzbares und kostengünstiges Stück darstellt. D e n n o c h zeigt die beeindruckende Z a h l v o n 29 Inszenierungen und über 6 6 0 A u f f ü h r u n g e n im erfassten Untersuchungszeitraum, dass rein praktische G r ü n d e als Erfolgserklärung wohl nicht ausreichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass »Helden wie wir« in der letzten erfassten Spielzeit 1998/99 in nicht weniger als 16 Inszenierungen zu sehen, also noch längst nicht am ausklingen war. Angesichts der hohen Aufführungszahlen liegt die Zahl der Besucher mit gut 68.000 eher gering (zum Vergleich »Herr Paul«: 625 A u f f ü h r u n g e n / 130.833 Besucher), was klar anzeigt, dass »Helden wie wir« — wie die meisten M o n o l o g e — als Stück f ü r die kleinen N e b e n - oder Werkstattbühnen erachtet wurde. D a f ü r jedoch war der Erfolg des Stückes
flächendeckend.
In der speziellen K o m i k f o r m v o n »Helden
wie wir« stößt die Thematisierung des D D R - T o t a l i t a r i s m u s also weder auf westliches Desinteresse noch auf östliche Verdrängung. »Zumindest, wenn's unter die Gürtellinie geht, sind wir >ein VolkNeuen Zeit< an«. 1 6 7 D a f ü r aber weist das Programmheft auf eine entsprechende Lesart hin. N a c h allerlei literarischen Bezugstexten — Nietzsche: »Vom höheren Menschen«, »Gilgamesch«Epos, Gontscharows »Oblomow« — ist auf der letzten Textseite ein Artikel aus der »Berliner Zeitung« vom 2 7 . 3 . 1 9 9 2 abgedruckt, der neben seiner Nicht-Literarizität auch optisch unterschieden ist. Er ist nicht wie die übrigen Texte neu gesetzt, sondern faksimileartig, mit handschriftlichen Anstreichungen, wie eine Kopie des Artikels abgedruckt. Durch die Gestaltung wird also ebenso besondere A u f m e r k samkeit auf den Zeitungsartikel gelenkt, wie auch der Einbruch von außertheatraler Realität dieserart deutlich markiert wird. Zugleich legt die reale Nachricht eine bestimmte Lesart des fiktiven Bühnengeschehens nahe. M i t einem Bulldozer wollte T h o m a s Scheerer aus dem Westteil Berlins in Fredersdorf bei Strausberg seine Ansprüche auf eine Gärtnerei durchsetzen. 1 0 8
Im sich anschließenden Bericht macht der Schwiegersohn des Pächters besagten Scheerer indirekt für den T o d des Pächters durch innere Blutungen verantwortlich, verursacht durch körperliche Arbeit, die der schwerkranke M a n n aus Furcht vor dem Alteigentümer verrichtete, und warnt vor der Beispielhaftigkeit des Vorgangs: »Wenn alle Scheerers zuschlagen, dann sitzen bald zwei Millionen Ostler auf der Straße.« 169 Angesichts des Zeitbezugs und der inhaltlichen Gewichtung der Berliner Inszenierung nimmt es nicht Wunder, dass, entgegen der oben vorgelegten Interpretation, bis auf wenige Ausnahmen allen Kritikern Paul als positive Identifikationsfigur gilt. »Was ist das doch für ein sympathischer Dickschädel und Individualist, dieser Herr Paul! Ein Kerl wie ein Klotz, aber eine Seele von Mensch.« 1 7 0 So euphorisch mögen dass nicht alle Zuschauer wahrgenommen haben, und auch nicht alle Inszenierungen in ostdeutschen Theatern müssen zwangsläufig dem dramaturgischen Ansatz der Berliner Inszenierung gefolgt sein — aber immerhin entfallen fast zwei Drittel der Besuche von »Herr Paul«-Aufführungen in ostdeutschen T h e atern auf die Berliner Inszenierung.
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Petra Kohse: Transzendenz des Klopses. In: die tageszeitung, 28.3.1994. Susanne Lenz: Piratenakt mit Bulldozer. In: Berliner Zeitung, 2 7 . 3 . 1 9 9 2 . Z i t . in: H a m burger: Herr Paul. Ebd. voe: Theatertreffen - Dorsts >Herr Paul< feierte ein herrliches Heimspiel. In: Berliner Morgenpost 17.5.1995. 119
4.2.3 Orientierungslosigkeit: »Lond'n - L.Ä. — Lübbenau« (Oliver Bukowski) W ä h r e n d in »Herr Paul« das Aufeinandertreffen der beiden Pole sich in Form einer großen Konfrontation vollzieht, gibt es eine Reihe v o n Stücken zur Wiedervereinigung, welche als Folge der Verschiedenartigkeit der Systeme nicht primär den Konflikt, sondern die Orientierungslosigkeit ins Blickfeld rücken. Statt eines die Situation beherrschenden Souveräns im Stile Pauls stehen dann ostdeutsche Figuren im Mittelpunkt, die — meist ebenso verzweifelt wie vergeblich - bemüht sind, sich der veränderten Situation anzupassen. 1 7 1 »Lond'n - L . Ä . - L ü b b e n a u « 1 7 2 (1993) v o n Oliver B u k o w s k i (Ost) zeigt die angesprochene Problematik geradezu in Reinform auf. Dies insofern, als der »Hardcoreschwank in Lausitzer M u n d a r t « , so der Untertitel, sich vollständig auf die Darstellung von zwei Personen konzentriert, die Orientierung, Uberblick und Halt verloren haben. Perspektivbrechungen, episierende Einschübe oder was sonst an dramaturgischen T e c h n i k e n denkbar ist, u m der K o m p l e x i t ä t der Wirklichkeit gerecht zu werden, bleiben aus. Statt dessen wird in naturalistischer Manier, bis hin zum Einsatz von Dialektsprache, in acht chronologisch geordneten Stationen der W e g eines verzweifelten Paares in den Selbstmord dargestellt. Protagonisten des Stückes sind zwei Eheleute jenseits der Fünfzig, »Er« und »Sie« genannt, deren kleinbürgerliche Welt auch im kritischen Volksstück der 70er Jahre, etwa bei Kroetz, schon Gegenstand der D r a m a t i k war. M a n ärgert sich über die in der T o m b o l a verpasste Traumreise und träumt v o m großen Geld durch einen L o t t o - G e w i n n . D i e Phantasie, was mit dem G e l d anzufangen wäre, erschöpft sich in der Anschaffung eines neuen Fernsehers und eines Video-Recorders. Der Umgang miteinander zeigt keine Spuren von Einverständnis mehr auf, die Wünsche driften auseinander. E r will Sex und sich durch Pornographie stimulieren, sie wünscht sich Zärtlichkeit: »Könntst mal was Liebes sagen tun. Vielleicht tät mir dann der Appetit hochkomm.« (S. 4) Statt einer Annäherung ist gerade das Gegenteil zu beobachten: Sie droht mit Scheidung, wobei deutlich wird, dass sie auch geschlagen wird. D e n Gedanken, sie werde sich emanzipieren, fasst er als D r o h u n g auf, sie wolle sich ihm sexuell entziehen. N u r kurz flackern immer wieder M o m e n t e eines liebevollen Umgangs miteinander auf, ohne das Muster grundsätzlich zu ändern. D i e zweite Szene baut die Darstellung der gegenseitigen E n t f r e m d u n g noch weiter aus. Jetzt ist er es, der von seiner persönlichen Befreiung träumt, und zwar in seinem Arbeitsumfeld. Aus seiner Ankündigung, eine Lohnerhöhung zu verlangen, entwickelt er unversehens die Phantasie, dem Vorgesetzten endlich unverblümt die M e i n u n g zu sagen. Dabei wird er davon ermutigt, dass er sich von seiner Frau
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Diese Thematik beschränkt sich keineswegs allein auf Stücke ostdeutscher Autoren. Auch westdeutsche Autoren widmen sich, gewissermaßen mit Außensicht, der Problematik, z.B.: Elfriede Müller. Goldener Oktober. In: Dies.: Die Bergarbeiterinnen. Goldener Oktober. Zwei Stücke. Frankfurt/Main 1992, S. 81-160. Oliver Bukowski: Lond'n - L.A. - Lübbenau. Ein Hardcoreschwank in Lausitzer Mundart. Unverö. Verlagsmanuskript (Gustav Kiepenheuer Theaterverlag) o.J.
in seiner Selbsteinschätzung bestätigt wähnt. Dies entpuppt sich als fatales Missverständnis, als deutlich wird, dass sich ihre hoffnungsvollen Äußerungen nicht auf ihn, sondern auf den gemeinsamen Sohn beziehen. Als er sich des Missverständnises bewusst wird, »schlägt [er] zw (S. 9). Sie nimmt die Gewalt mit einer gewissen Routine hin, wie sie auch die Tatsache der Prügel keineswegs als Ausdruck mangelnder Liebe wertet. Obwohl sie anmerkt, dass er auch den Sohn schlägt, behauptet sie, er würde »ihn doch auch lieben tun« (S. 9) und fordert ihn, bevor er zur Arbeit geht, auf: »Küss mir noch mal.« (S. 10) Dann wird nach und nach klar, dass die Forderung nach Lohnerhöhung seine Kündigung zur Folge hatte. Während sie ob der bedrohlichen Unsicherheit bestürzt reagiert, versucht er, ein Gefühl von Euphorie für die neu gewonnene Freiheit zu wecken. Sämtliche Ersparnisse hat er bereits vom Sparbuch abgehoben, um einen Getränke-Shop in der Garage zu eröffnen. Im Folgenden sind die beiden bemüht, sich in die für sie ungewohnten Rollen einzufinden, von denen sie glauben, der neue Status als Selbstständige würde sie ihnen abverlangen. Dass sie sich dabei auf vollkommen fremdes Terrain begeben, ist vor allem an ihrer Sprache merklich. Sie weichen ihren Dialekt auf und versuchen punktuell, sich des Hochdeutschen sowie der ihnen absolut fremden englischen Sprache zu bemächtigen. D i e Hilflosigkeit dieser Bemühungen um eine seriöse Geschäftssprache tritt durch den immer wieder hervorbrechenden Dialekt besonders deutlich zutage. Während sie den Begrüßungsspruch trainiert, erklärt er die umfassende Werbestrategie und gefällt sich dabei in der Rolle des Profis. In unveränderter Lage sieht man das Paar zu Beginn der fünften Szene. Nach dem ersten, kaum erfolgreichen Geschäftstag versucht er auch im Haus noch, sie für den Verkauf zu trainieren. Außerdem hat er als geschäftliche Neuerwerbung einen Computer angeschafft. In völliger Ratlosigkeit steht das Ehepaar der Elektronik wie der sich verändernden Welt insgesamt gegenüber. »Error« steht auf dem Monitor. Er: Eene Art Grußwort wohl. Zum Schluss.
Sie: (winkt dem Gerät mit dem Wischlappen, >grüßt< freundlich zurück:) Error! Error ooch! [...] Vielleicht tut er aber ooch so heeßn? Er: [...] Error? Sie: Dein Enkel tut ooch Keven heeßn. (S. 20)
Weil im Laden die Kundschaft weiter ausbleibt, fangen sie selber an, sich zu betrinken, wobei ordnungsgemäß bezahlt wird. Ihr Geständnis, selbst den wenigen bisherigen Kundenverkehr nur mit eigenem Geld vorgetäuscht zu haben, wirkt zunächst wie der rührende Versuch, sich inmitten des Elends gegenseitig ein wenig Würde zu schenken. Wenig später aber erweist sich der Vorfall gleichzeitig auch als Ausdruck und Resultat des verrohten Umgangs, »Er: [...] aber belogen haste ma trotzdem. [...] Sie: Wenns Dir aber nich gutgehn tut, hauste mir wieder in' Bauch.« (S. 24). Schließlich beginnen sie ein Rollenspiel, in dem er als englischsprachiger Kunde auftritt und sie ihre antrainierten Verkäufer-Qualitäten, das heißt die Totalprostitution, vorführt. Nach dieser kurzen Selbstablenkung verfallen sie wieder in 121
Apathie und in seinen Äußerungen schwingt eine schwere Lebensmüdigkeit mit. »Soll überhaupt keen Tach mehr komm, überhaupt keener.« (S.24) Während ihr Enkel Kevin zu Besuch ist, eskaliert die Situation, als er andeutet, dem Säugling die Weinflasche anzusetzen. Während sie allen Hass, alle Verachtung und allen Selbstekel herausschreit, zertrümmert er die Wohnungseinrichtung. Beinah kommt es zum Amoklauf, doch er hält inne, die abgebrochene Weinflasche an ihrem Hals, als sie ihn auffordert: »Nu los, mit dem Ende!« (S. 27) Die Schlussszene zeigt wieder ein geordnetes Zuhause. Sie hängt Gardinen auf, er beschäftigt sich mit einem Gewalt-Spiel am Computer, aus der Küche kommt der Duft des Entenbratens. Sie versucht ihn zu überreden, aktiv zu werden, sich beim Arbeitsamt zu melden oder den Posten eines Hausmeisters in der Firma des Sohnes anzutreten. Er verweigert sich allen Vorschlägen, spricht sein Generalmisstrauen gegen alle Erfolgreichen und die Politik aus. In Umkehrung des bisherigen Rollenverhältnisses ist er passiv und deprimiert, gibt seinem Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit Ausdruck. »Der Geschichtsunterricht tut uns nich aufnehm, weil wir nur was Vorübergehendes sind.« (S.29) Sie hingegen hat auffallend gute Laune und ist in jeder Hinsicht die Aktive, nicht nur auf der pragmatischen Ebene bezüglich zu ergreifender Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit, sondern auch in sexueller Hinsicht. Er reagiert mit ebenso großer Rührung wie Hilflosigkeit und echte Zuneigung und Zärtlichkeit zwischen beiden scheint auf. Er: (nimmt sie gerührt in den Arm) Wollts mir bissei aufheitern, wie? Sie: Sind ja verheirat: in guten wie in bösen Zeiten - [...] Er: Werds goar nich mehr bringn! Sie: (gähnt) Macht nüscht. [...] Tun wa uns ankuscheln und schlafen glei hier. Wie nacher Nachtschicht, oder als wenn wa frisch beisamm wär'n. (S.31)
Kaum deutet sich aber bei der Ziehung der Lottozahlen das finanzielle Glück an, ist die gerade aufgekeimte Zärtlichkeit auch schon wieder vergessen. »Er: Schnauze mal! Neun. - Ham mir.« (S.31) Zu einem kompletten Rückfall in die alten, rüden Gewohnheiten kann es allerdings nicht mehr kommen: Sie hat den Herd in der Küche angelassen, und zwar bewusst. Während das Gas die beiden einschläfert, hören sie aus dem Fernseher, dass sie sechs Richtige getippt haben. »Sie: Ich konnts doch nich ahnen tun.« (S. 31) Die nachträgliche, aber zu spät kommende Reue, sie »versucht in die Küche zu kriechen und bleibt auf halber Strecke liegen« (S. 32), nimmt der Frau auch noch den letzten Rest Würde, den sie sich durch die selbstständige Entscheidung zum Doppelselbstmord zu erhalten suchte, nachdem ihr Mann jeden Lebensmut aufgegeben hatte. Das ganze Stück über war das Paar bei seinem hilflosen Versuch zu beobachten, sich die Tatherrschaft über das eigene Leben zu erobern. Statt der erhofften Souveränität zeigte sich im Ergebnis ein Desaster. Hoffnungslos überfordert haben sie, statt Wohlstand zu erlangen, ihr Erspartes in den Sand gesetzt. Mit der Wiedervereinigung hat das nur insofern zu tun, als die Naivität, mit der sie das Unternehmen angehen, Folge ihrer kompletten Unkenntnis der Marktwirtschaft ist. Ohne das gesellschaftliche Ereignis auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, ist es in den 122
T e x t doch eingewoben durch die völlig fremden Marketingbegriffe, denen vertraut wird, als hätten sie magische Kräfte. D i e Dialektsprache, v o n der sie sich schillernd abheben, wird somit zu einem inhaltlich bedeutsamen M o m e n t , da in ihr der ganze, ansonsten nicht weiter ausgeführte sozio-kulturelle H i n t e r g r u n d des Paares mitschwingt. D i e A n w e i s u n g , » D i e Sprache trägt sich d u r c h das rollende >R< des Görlitzer Raumes.« ( S . 2 ) , verankert das Geschehen nicht nur regional, sondern transportiert auch, wie sehr zur Entstehungszeit des Stückes in diesem Sprachraum die westdeutsche Geschäfts-Begrifflichkeit ein Fremdkörper war. Gleichzeitig suggeriert die schon pathologische F i x i e r u n g des M a n n e s a u f den W e r b e - J a r g o n , welche Faszination von der damit in V e r b i n d u n g gebrachten W e l t ausgeht, welche Verheißungen damit verbunden werden. Ein noch ungebrochener G l a u b e an die Legenden der Marktwirtschaft drückt sich in der Zuversicht des M a n n e s immer wieder aus. Er: Tu ich die Million eben alleene verballern. Sie: 146,50 ham wa eingenomm. Er: Alle Millionärs ham kleene anjefang. Vom Tellerwäscher zum Millionär. (S.17) H a t die Marktwirtschaft also das Leben der beiden zerstört? E i n e derartige Kausalität wird v o m Stück w o h l k a u m behauptet, dessen Stärke unter anderem darin besteht, seine Protagonisten nicht zu bemitleidenswerten, hilflosen O p f e r n zu stilisieren. Dazu gehört, dass die beiden zu sehr auch mit negativen Eigenschaften versehen werden, als dass sie als positive Identifikationsfiguren wirken könnten (wobei der gewalttätige E h e m a n n deutlich schlechter abschneidet), ohne so unsympathisch zu werden, dass ihr Schicksal kalt ließe. Dass das Ehepaar am Schluss ohne Arbeit und ohne Erspartes dasteht, hängt durchaus mit den durch die neuen M ö g lichkeiten geweckten Erwartungen und der gleichzeitigen Uberforderung zusammen. Es ist dies aber nicht die einzig denkbare Folge der geänderten Verhältnisse, wie das Beispiel des immer wieder erwähnten Sohnes aufzeigt, der sich im neuen System derart gut zurechtfindet, dass er seinem K i n d gleich einen amerikanischen N a m e n gibt. D e r Selbstmord ist darüber hinaus auch nicht unausweichliche K o n sequenz, wie das B e m ü h e n der Frau am Schluss zeigt, ihren M a n n doch noch zum Eingeständnis seiner Hilflosigkeit zu bewegen. Aber das Arbeitsamt trickst er lieber »dreimal u f f zwee Meter aus, bevor se mir rauskriegen tun als een Arbeitslosen. U n d den Lakai v o m Herrn S o h n mach ich ooch nich« (S.28). D e m hat er stattdessen erzählt, »dass's Jeschäft hervorragend loofen tut« (S. 30). D e r gekränkte Stolz des sich über beruflichen E r f o l g definierenden M a n n e s , die U n f ä h i g k e i t der Frau, sich aus der unerträglichen E h e zu lösen, spielen als Ursachen der Katastrophe also eine ebenso große Rolle wie die falschen Versprechungen des neuen politischen Systems. Dauerhaft glücklich kann m a n sich die beiden nirgendwo vorstellen, auf diese spezifische W e i s e unglücklich allerdings n u r i m östlichen N a c h - W e n d e Deutschland. Bukowski wählt in »Lond'n - L . Ä . - Lübbenau« einen W e g , sich mit der W i e dervereinigung auseinanderzusetzen, der das Ereignis selbst, wie schon mehrfach angemerkt, völlig unerwähnt lässt. Statt das politische Geschehen in Augenschein 123
zu nehmen, wird eine private Geschichte erzählt, von welcher sich auf die Politik zurückrechnen lässt. Die Herangehensweise lässt sich auch derart beschreiben, dass ins Blickfeld des Stückes nicht der Ort gerückt ist, an dem Politik gemacht wird, sondern jener, an dem sie (neben anderen Faktoren) wirkt. Daher nicht die Hauptund Staatsaktion, um die Wiedervereinigung zu reflektieren, sondern der Schwank, der die Kleinbürgerwelt ins Zentrum stellt. Dabei verweist der Untertitel »Hardcoreschwank in Lausitzer Mundart« sowohl auf eine sprachliche Überzeichnung als auch eine Handlungsdrastik, die dem eigentlichen Schwank gattungsmäßig versagt ist. Dabei ist ein Hang zum Grotesken insofern festzustellen, als Gewalt und Komik immer wieder gekoppelt werden. Dies gilt für den gesamten Schluss der richtigen Lottozahlen zum falschen Zeitpunkt, aber auch für viele Detailstellen. Er: Man kann in diesem Hause keene Metapher anwendn! (gibt ihr eine schallende
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feige, beginnt dann zu dozieren) Muss ich also weiter ausholn. (Sie duckt sich.) (S. 16)
Abgesehen davon, dass der Schwank durch seinen Verzicht auf Wahrscheinlichkeit in der Handlungsführung (siehe das Ende des Stückes) per se eine nicht-naturalistische Gattung ist,173 muss das eingangs vergebene Naturalismus-Prädikat zusätzlich dahingehend modifiziert werden, dass durch deutliche Stilisierungstechniken das Stück seine Kunsthaftigkeit offenlegt, sich einer echten Abbildungsästhetik also von vornherein entzieht. Dennoch soll das naturalistische Drama als Vergleichsgröße, in deren Tradition »Lond'n — L.A. — Lübbenau« durchaus zu stellen ist, nicht gänzlich aufgegeben werden.' 7 4 Die Ähnlichkeiten bestehen natürlich nur eingeschränkt bezüglich der Gestaltungsmittel (dort z.B. in der Sprachgestaltung, die trotz Kunsthaftigkeit erkennbar Dialekt wie Soziolekt berücksichtigt), finden sich deutlich aber in der Stoffwahl, im Milieu und in der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Umwelt als Einflussgröße auf das individuelle Schicksal. Die Herstellung von Kausalzusammenhängen, wie im historischen Naturalismus, 175 ist freilich stark relativiert. Bei aller Zeittypik darf das Schicksal des Paares aus »Lond'n - L. A. — Lübbenau« sicherlich nicht als zwangsläufige Folge der Wiedervereinigung verstanden werden.
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»Unter Vermeidung jeder Daseinsproblematik, -kritik, Außerachtlassung der inneren und äußeren Wahrscheinlichkeit der locker geknüpften Handlung und der oft nur typenhaft angedeuteten Figuren erstrebt er [...] allein harmlose Unterhaltung für ein anspruchsloses Kleinbürgertum [...]« Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, S.837. Nicht von ungefähr wurde »Lond'n - L.Ä. - Lübbenau« 1994 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet. Als idealtypisches Beispiel kann in diesem Zusammenhang Zolas mehrteiliges Romanwerk »Les Rougon-Macquart« genannt werden, in dem Zola die Darstellung solcher Kausalzusammenhänge verfolgt. »Ohne die Berücksichtigung wissenschaftlicher Gesetze der Vererbung, des Milieueinflusses und der Selektion (Darwin) ist kein Roman, der den Anspruch erhebt, gesellschaftliche Konflikte zu verarbeiten, mehr zu legitimieren. [...] Die Aufgabe des sich generell am Positivismus orientierenden Autors besteht darin, den Ort der sozialen Bewegung darzustellen.« Wilfried Engler: Geschichte des französischen Romans. Stuttgart 198z, S. 379f.
Der Anspruch des Exemplarischen aber wurde dem Stück ganz offensichtlich zuerkannt, wie die hohe Zahl an Inszenierungen zeigt. Nach der Uraufführung in Bukowskis Heimatstadt Cottbus durch Frank Lienert (18. 5.1993) wurde das Stück noch an 18 weiteren Theatern inszeniert. Gemessen an der hohen AufRihrungszahl von 440, fällt die Besucherzahl mit gut 24.000 recht gering aus (zum Vergleich »Karate-Billi kehrt zurück«: 480 Aufführungen / 116.000 Zuschauer). »Lond'n - L.Ä. - Lübbenau« war nicht nur ein Stück der kleinen Bühnen, sondern auch der kleinen Häuser. Zwar konnte es Interesse in Ost wie West erwecken, sechs der 19 Inszenierungen fanden auf Bühnen der Alten Bundesländer statt, aber Cottbus bzw. Freiburg sind dann auch die prominentesten Theater, die sich des Stückes annehmen. In Berlin etwa wird es nicht von einem der Staats- bzw. Stadttheater gespielt, sondern in der Freien Szene vom »theater 89«, in Hamburg nicht vom Thalia Theater oder dem Schauspielhaus, sondern vom Altonaer Theater in der Foyerbühne. Die Zurückhaltung der prominenteren Bühnen mag mit dem vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrad Bukowskis zusammenhängen. Zwar war »Lond'n - L.Ä. — Lübbenau« bereits sein sechstes Stück, doch seine schriftstellerischen Anfänge liegen erst in der Wendezeit und zum Zeitpunkt von »Lond'n — L.Ä. — Lübbenau« galt er, weit davon entfernt, etabliert zu sein, als förderungswürdiges Talent. So wurde er 1992 von »Der Wiener« und »Theater der Zeit« als »Bester Nachwuchskünstler« ausgezeichnet. Für »Lond'n - L.Ä. — Lübbenau« wurde er auch in der Kritikerumfrage von »Theater heute« 1993 mehrfach in der Kategorie »Bester Nachwuchsautor« genannt. 1994 wurde das Stück mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis ausgezeichnet und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. Trotz ausbleibender Inszenierungen durch prominente Regisseure oder an großen Häusern, hat sich »Lond'n - L.Ä. - Lübbenau« also sowohl in räumlicher wie auch zeitlicher Erstreckung hohe Aufmerksamkeit erarbeitet. Auch sechs Jahre nach seiner Uraufführung, in der letzten erfassten Spielzeit 1998/99, war das Stück noch in vier Inszenierungen zu sehen — was sicherlich als Indiz dafür gewertet werden darf, wie genau die in »Lond'n — L.Ä. - Lübbenau« dargestellte Problematik eine weit verbreitete Wahrnehmung der Wiedervereinigung trifft. Dennoch wurde die Uraufführung nicht mit ungeteilter Zustimmung aufgenommen. Neben der überwiegend positiven bis begeisterten Resonanz in west- wie ostdeutschen Medien, finden sich auch einige ostdeutsche Zeitungen, die dem Stück vorwerfen, es denunziere seine Figuren. »Die Lust [...] am Pointieren und am genüsslichen Bloßstellen droht, sich zu verselbständigen«. 176 Die überzeichnete Form der Darstellung mache »den >Dummen Ostler< zum lächerlichen Typen«, 1 7 7 so dass insgesamt »der dramatische Schnitt durch die abgeräumte Landschaft aus Tagebaurestlöchern und Vorruheständlern [...] nur >vergagtLond'n - L.Ä. - Lübbenau von Oliver Bukowski. In: Antenne Brandenburg, 19. 5.1993. Matthias Pees: Der Zukunft entgegen. In: Süddeutsche Zeitung, 4. 6.1993. Hartmut Krug: Uraufführung in Cottbus von Oliver Bukowski — >Lond'n — L.Ä. - Lübbenaus In: RIAS Berlin, Kulturzeit, 19.5.1993. Klaus Baschleben: V o m Regen in die Traufe. In: Berliner Zeitung, 13.10.1993 (Zur Inszenierung des »theater 89« Berlin). Peter Claus: Uraufführung Cottbus - >Lond'n - L.Ä. - Lübbenaus In: B2, 19.5.1993. Stefan Kirschner: Tragischer Schwank in Mundart. In: Berliner Morgenpost, 23. 5.1993. Anonym: >Lond'n - L.Ä. - Lübbenau< in Cottbus. In: N D R 3, Theater unserer Zeit, 19. 5.1993. Volkmar Weitze: >Lond'n - L.Ä. — Lübbenau! — Programmheft zur Uraufführung, Staatstheater Cottbus, Spielzeit 1992/93.
die »Imbiss-Oase«, ein Anhänger in menschenleerer, raureifüberzogener Landschaft am Rande eines Feldweges, der parallel zur Landstraße läuft. N a c h d e m der Bezug zwischen Bühnengeschehen u n d sozialer Realität derart deutlich war, setzte die Inszenierung selbst gerade nicht auf eine abbildungsrealistische Formsprache. M i t Brecht-Gardine, sichtbar platzierter Souffleuse, Halbmasken und als solchen erkennbaren Perücken f ü r die Darsteller, deren »Gestus [...] zuweilen [als] der v o n Marionetten«' 8 8 erschien, setzte die U r a u f f ü h r u n g darauf, die im T e x t angelegte Uberhöhung naturalistischer Gestaltungsprinzipien mit betont artifiziellen Mitteln noch zu steigern. Sicherlich hat diese abstrahierende F o r m der theatralen U m s e t z u n g dazu beigetragen, dass in der U r a u f f ü h r u n g nicht ein bedauernswertes Einzelschicksal wahrgenommen wurde, sondern die »unsentimentale A u f a r b e i t u n g der Schwierigkeiten beim Sprung ins eisige West-Wasser«. 1 8 9
4.2.4 Die Wiedervereinigung als Kolonialisierung Ostdeutschlands: »Wessis in Weimar« (Rolf Hochhuth) Dieser »Sprung ins kalte Wasser«, den »Lond'n - L . Ä . - Lübbenau« beschreibt, mag schwierig, f ü r die Protagonisten des Stückes sogar tödlich sein — immerhin aber stellt er noch den Versuch eines eigenständigen Agierens dar. Dementsprechend konzentriert sich das Stück auch auf das Geschehen in der ostdeutschen Provinz und auf ihre Bewohner. D i e Alten Bundesländer brechen in die W e l t von »Lond'n - L . Ä . - Lübbenau« lediglich durch das Ringen der Figuren mit einem mit Anglizismen durchsetzten Hochdeutsch ein. Anders steht es u m die Aktivität der Figuren in Stücken, die die Wiedervereinigung als Ausbeutung der N e u e n Bundesländer beschreiben. Diese Interpretation der Wiedervereinigung taucht in einer ganzen Reihe von Stücken, meist als ein Aspekt unter anderen, a u f . I 9 ° In einigen Fällen jedoch macht die Auslegung der Wiedervereinigung als eine Art Uberfall auf den Osten das H a u p t t h e m a der Stücke aus. Dies trifft f ü r das weiter oben besprochene »Doppeldeutsch« von Harald Mueller zu wie auch f ü r V o l k e r Brauns »Iphigenie in Freiheit« (siehe Kapitel 5.2). Prominentestes Beispiel dieser G r u p p e ist aber zweifellos »Wessis in Weimar« 1 9 1 (1993) v o n R o l f H o c h h u t h (West). Die Menschen in den >fünf neuen Bundesländern werden mit Wissen der Politiker seit der sogenannten Wiedervereinigung systematisch ausgeplündert, gedemütigt und kolo-
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Linzer (Lausitzer Rundschau): Ein hochprozentiges theatralisches Vergnügen. Anonym ( N D R 3): >Lond'n - L.Ä. - Lübbenaui in Cottbus. Von den besprochenen Stücken sind hier zu nennen: Klaus Pohl: »Karate-Billi kehrt zurück« (der Bankier Alexander von Stahl), Rudi Strahl: »Ein seltsamer Heiliger« (der ausgebootete Graf Trutz) und in entsprechender Lesart auch Tankred Dorst: »Herr Paul« (Helm und Schwarzbeck); außerdem: Christoph Hein: »Randow«, Manfred Karge: »MauerStücke« (darin: »Ostfotze«), Elfriede Müller: »Goldener Oktober« und Simone Schneider: »Malaria«. Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land. München 2000. 127
nialisiert. Dies ist die zentrale These Hochhuths, die er mit zahlreichen Dokumenten und Analysen belegt und in neun dramatische Szenen umgesetzt hat. 192
Selten war der Klappentext eines Buches (lässt man einmal das strittige »belegt« außen vor) so zutreffend, vor allem aber so erschöpfend. Trotz eines Umfanges von 260 Seiten in der Buchausgabe, lässt sich das Stück in der Tat derart knapp zusammenfassen, ohne es um wesentliche inhaltliche Aspekte zu verkürzen. Die bisher gebotene detaillierte Textbeschreibung kann für »Wessis in Weimar« naheliegenderweise weder geleistet werden, noch scheint sie notwendig. Statt dessen sollen die Struktur des Stückes in einer Kurzbeschreibung vorgestellt und die Kernthese anhand des Prologs erläutert werden. Eine Erörterung über die Berechtigung von Hochhuths These kann im Anschluss nur ansatzweise erfolgen. Ausführlich soll jedoch dargestellt werden, wie Hochhuths Aussage in der Kritik diskutiert wurde. In der Buchausgabe von »Wessis in Weimar« sind dem mit »Szenenfolge« betitelten Inhaltsverzeichnis noch zwei Zeitungsausschnitte wie ein Motto vorangestellt. Der erste entstammt der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 16.3.1990 und berichtet von der Gründung der Treuhandanstalt in ihrer ersten Form. Darin wird die Begründung des damaligen Ministers Ullmann (Demokratie jetzt) wiedergegeben, die Rechtskonstruktion sei notwendig, »weil es im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der Bundesrepublik den juristischen Begriff des Volkseigentums nicht gebe«. Weiter wird erläutert, dass Volkseigentum »in der D D R bisher nichts anderes als Staatseigentum [bedeutet]. Es zu wirklichem Volkseigentum werden zu lassen, ist eine der Aufgaben der Treuhandanstalt.« (o.S.) Der zweite Vorspruch besteht in einem Ausschnitt aus einem Interview mit Sebastian Haffner, das die Illustrierte »Stern« am 5.4.1990 abdruckte. Der von Hochhuth gewählte Ausschnitt beginnt mit folgender Aussage Haffners: »Und wenn Sie sagen, wir hätten uns geändert — da bin ich skeptisch. Ein Mensch und ein Volk ändern sich nie.« Den Einwand, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs habe das politische Bewusstsein in Deutschland verändert, lässt Haffner lediglich für die Folgejahrzehnte einschließlich der 60er gelten. Die Art, wie sie [die Deutschen] heute die Nachbarn gar nicht, und wie sie dabei den schwächeren Teil, nämlich die D D R , behandeln - ich muss wirklich sagen, die Art, wie Kohl mit Modrow in Berlin umgesprungen ist, hat mich unwillkürlich an die Art erinnert, wie Hitler 1938 mit dem österreichischen Bundeskanzler Schuschnigg umgesprungen ist.
Auf Nachfrage differenziert Haffner, dass ihn nicht Kohl an Hitler erinnere, »aber diese Art, mit dem schwächeren >Partner< umzugehen, als wäre er ein unverschämter Bettler, das hat mich daran erinnert« (o.S.). Die Platzierung der Zeitungsausschnitte ist durchaus programmatisch zu verstehen, da durch die beiden Dokumente zwei zentrale Ansatzpunkte Hochhuths berührt werden: Die Anklage der Treuhand-
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Ebd., o.S.
Praxis als Abweichung von ihrer ursprünglichen Zielsetzung, wenn nicht gar als Verkehrung in deren Gegenteil, und die Integration der B R D in die Geschichte totalitärer deutscher Staaten. Die aus beiden Punkten abgeleitete Folgerung einer zwangsläufig gewaltsamen Gegenwehr wird an dieser Stelle noch nicht aufgeführt, vervollständigt aber den Hochhuthschen Ansatz und wird auch umgehend nachgeliefert. Denn ebenfalls den neun Szenen noch vorgeschaltet ist ein als »Prolog« bezeichneter Dialog mit dem Titel »Der Vollstrecker«, der den ermordeten Treuhand-Chef Rohwedder unmittelbar vor dem Attentat im Gespräch mit einer fiktiven Juristin namens Hildegard zeigt. Die neun Szenen bilden in sich abgeschlossene Einheiten ohne personelle Überschneidungen, gemeinsame Handlungselemente oder einen Zusammenhang im Sinne einer Entwicklung im Ganzen. Ihnen gemeinsam ist der Umstand, dass sie nicht mit Regieanweisung und Figurenrede beginnen, sondern jeweils mit einer gesonderten Einfuhrung. Diese enthält meist dokumentarisches Material, in der Regel Zeitungsmeldungen, zum Teil historische Zitate zu Fragen der Politik, und immer eine kurzessayistische Abhandlung zum folgenden Geschehen. Diese Kurzessays gehen zum Teil nahtlos in die stets sehr ausführlichen Regieanweisungen über. Eine klare Grenze ist oft nicht zu ziehen, da die Regieanweisungen, auch im weiteren Verlauf der Szenen, durchaus kommentierende Autorenmeinung transportieren. »Dies sagt er mit wohlwollendem Verständnis, und er hat ja auch recht mit dem, wie er das begründet«. (S. 57) Teilweise übersteigt dabei der Anteil an inhaltlicher Meinungsäußerung den an szenischer Beschreibung bei weitem, so dass die Regieanweisungen dann, mitunter auch aufgrund ihres Umfangs von über einer Seite, mehr den Charakter von zwischengeschalteten Kommentaren bekommen (z.B. S. i2-)f.). Außerdem werden Materialien nicht nur den Szenen vorangestellt, sondern auch, als solche markiert, in die Szenen eingeschoben. Dies geschieht entweder als Zitat 193 oder indem die Figurenrede gänzlich aus Originaltext des realweltlichen Referenten der Figur besteht.194 Eine Variante des wörtlichen Zitats besteht darin, dass Figuren sich darauf berufen, etwas in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört zu haben.195 Dabei handelt es sich dann um Nachrichten, die im Einführungsteil zur jeweiligen Szene abgedruckt sind. Bezüge zu diesem werden aber nicht nur hinsichtlich der Dokumente aufgebaut. Ebenfalls nachweisbar sind Überschneidungen der Art, dass Figuren sich zur Bekräftigung ihrer Haltung derselben Argumente bedienen, die schon im essayistischen Einführungsteil zur Szene auftauchen und dort nicht anders denn als Autorenmeinung einzustufen sind. Eine kategorische Unterscheidung zwischen einführend-kommentierendem und szenisch-dialogischem Teil innerhalb der Szenen lässt sich also nicht aufrecht erhalten.
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Ebd., S.46: Verlesen einer Zeitungsmeldung. Ebd., S.i26ff.: Brief der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger. »[...] ich weiß das alles nur / durch diesen ausgezeichneten Fritz-Janda-Artikel in der AZ.« Ebd., S.181.
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W e n n die Szenen weiter oben als abgeschlossen bezeichnet wurden, so bezieht sich dies ausschließlich auf ihr Verhältnis untereinander und bezeichnet die jeweilige personelle und narrative Eigenständigkeit. In einem anderen Sinne sind sie jedoch ganz und gar nicht abgeschlossen, und zwar, was ihr Verhältnis zur außertheatralen Realität angeht. Zeugnisse dieser Realität und fiktionale Szenenelemente werden miteinander kombiniert, was beiderseits Folgen f ü r den jeweiligen Status nach sich zieht. So wie die Dokumente durch Einbindung in die Szenen fiktionalisiert werden, stehen umgekehrt die Szenen durch ihre Dokumentenschwere im Z u g z w a n g einer realen Uberprüfbarkeit. Ihr fiktionaler Status ist in erheblichem Maße eingeschränkt, auch wenn die Szenen immer noch auf einer Metaebene zu den in ihnen verhandelten Phänomenen stehen - wie dies aber auch jeder politische K o m m e n t a r oder jede historische Abhandlung tut. U m es an einem Beispiel zu illustrieren: W e n n H o c h huth in einem Interview feststellt, er »habe Rohwedders Besucherin mit Argumenten ausgestattet«, 196 so impliziert dies die gängige Unterscheidung zwischen A u t o r und Figur. Diese wird jedoch verwischt, wenn die Argumente der Besucherin identisch sind mit denen der essayistischen Szeneneinführung sowie denen Hochhuths im Interview. Es ist folglich nur konsequent, wenn Hochhuth im weiteren Verlauf des Interviews die argumentative Parallelführung selber vornimmt: »Sie sagt, und in der Realität gebe ich ihr recht: [...]«. 1 9 7 Dieserart erhalten viele Aussagen, und zwar die anklagenden, den Charakter eines unmittelbaren Autorenkommentars. Diese Unmittelbarkeit bewirkt die oben genannte Einschränkung der Fiktionalität und macht den Unterschied zu anderen Theaterstücken aus. Inhaltlich kreist das Geschehen der neun Szenen um die Enteignungen zwischen 1945 und 1949, Enteignungen fur die Braunkohlenutzung, Enteignungen zugunsten des Mauerbaus — allesamt von der Rückgaberegelung ausgenommen —, um von der T r e u h a n d geförderte Grundstücks-, Immobilien-, Produktionsgüterspekulationen zu Lasten von Arbeitsplätzen und Vermögenserwerb Ostdeutscher. Dabei geht es also nicht u m einzelne schwarze Schafe, die betrügerisch die mangelnde marktwirtschaftliche E r f a h r u n g der Ostdeutschen ausnutzen. Angeprangert werden nicht Glücksritter, welche sich durch die Wiedervereinigung bereichern. Vielmehr steht der Prozess der Wiedervereinigung insgesamt am Pranger. J e d e individuelle F o r m der Missachtung ostdeutscher Interessen stellt sich damit als k o n f o r m zum politischen Prozess dar - denn »Wessis in Weimar« zeigt, so der Untertitel, »Szenen aus einem besetzten Land«. D i e T h e s e H o c h h u t h s soll anhand der A r g u m e n t a t i o n der fiktiven Juristin Hildegard im Prolog »Der Vollstrecker« kurz illustriert werden. 1 9 8 Alle Investoren,
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Michael Gatermann, Peter Saalbach, Wolfgang Nagel: Das Bekenntnis. [Interview mit Rolf Hochhuth] In: manager magazin, 1992, Heft 6. Abgedruckt in: Hochhuth: Wessis in Weimar, 8.163-271, hier: S.263. Ebd., S. 265. Diese Gleichsetzung kann tatsächlich ohne Bedenken vorgenommen werden; alle Argumente Hildegards lassen sich auch in den essayistischen Vortexten sowie in Interviews als Meinung Hochhuths wiederfinden.
so wirft Hildegard dem Treuhand-Präsidenten vor, seien Spekulanten, da sie risikolos agierten. » G r u n d s t ü c k e , G e b ä u d e sichern allemal die Investitionen — ja, verzinsen sie zwanzigfach«. (S.19) D i e Treuhandpraxis des V e r k a u f s ostdeutscher Produktionsgüter an westdeutsche Investoren sei damit insgesamt ein » B o n n e r Einfall, dem D D R - V o l k sein E i g e n t u m zu rauben«. (S. 23) Diese Praxis könne der Treuhand-Präsident nur deshalb f ü r legitim halten, weil er »reflexionslos, ironielos Privateigentum bereits f ü r ein S y n o n y m von V o l k s eigentum« halte, da er »vom G e f ü h l her so dressiert [sei] auf unsere kapitalistische Gesellschaft.« (S. 23) A u ß e r d e m entscheide der Treuhand-Präsident »für ein V o l k , d e m Sie nicht angehören« (S. 24), weshalb die Treuhandpraxis ein »Ausverkauf des dortigen Volksvermögens an uns Landfremde« sei. (S. 25) Die Ostdeutschen würden dieserart »zum zweitenmal beraubt: [...] bei Kriegsende durch deutsche Kommunisten im Solde des Kremls — jetzt durch Ihre Treuhand« (S. 25), die folglich »Besatzungsrecht« (S. 26) exekutiere. D e m Verlangen der Ostdeutschen nach der D - M a r k nachgegeben zu haben, sei keine Entschuldigung, da die Währungsreform hätte »flankiert werden müssen durch das Verbot, Ausländern und Westdeutschen Bauten u n d Boden der Ossis, da die nicht mitbieten können, zu verkaufen.« (S. 26) D i e Praxis der T r e u hand widerspreche insgesamt ihrem Gründungszweck, der darin bestanden habe, »den Begriff >Volksvermögen< zu realisieren — dem V o l k der D D R auszuhändigen, was bisher der Staat i h m gestohlen hatte!« (S. 26) D a s ursprüngliche Vertrauen sei missbraucht worden, als die Westdeutschen »als räuberische O k k u p a n t e n dort einmarschiert sind, u m zu walten, ohne jedes Ossi-Mitspracherecht!« (S. 27) Dies sei »ein totales N o v u m in der Weltgeschichte, eine Variante des Kolonialismus, wie er nirgendwo gegen M e n s c h e n des eigenen Volkes je praktiziert wurde!« (S. 28) 1 9 9 In jeder Hinsicht sei die Entwicklung zum Nachteil der Ostdeutschen, denn »wie marode, unrentabel sie auch war, die DDR-Wirtschaft«, so könne man dennoch nicht »leugnen [...], dass es keine Arbeitslosen gab, wo jetzt ihr Treuhänder jeden dritten dazu macht.« (S. 29) D i e L ö s u n g bestehe darin, »die Grundstücke Einheimischen [zu] geben statt Ausländern, da nur Grundstücke kreditfähig machen«. (S.29) D a s Staatsvermögen könne man verteilen als »Volksaktien wie Havel in Prag.« (S.30) Als positives Beispiel wird die Privatisierung des Volkswagenwerkes in F o r m von Aufteilung an Kleinaktionäre angeführt. D a eine derartige, gerechte Verteilung unterbleibe, stünden die Ostdeutschen chancenlos »im Wettbewerb mit westlichen Wirtschaftshaien. Ein Raubkrieg, Herr Präsident, den Sie nicht überleben werden.« (S. 31)
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Der Begriff »Volk« ist bei Hochhuth ungeklärt; einerseits wird erklärt, der Treuhand-Chef bestimme über ein Volk, dem er nicht angehöre (S. 24), andererseits wird die TreuhandPraxis als besonders verachtenswert gegeißelt, weil sie sich gegen das eigene Volk richte (S. 28), ja gerade dieser Umstand mache den Wessi-Kolonialismus noch schlimmer als Hitlers Einmarsch in Polen (S. 184). Hochhuth schwankt also zwischen einem historischen und einem ontologischen VolksbegrifF, ohne diesen weiter zu diskutieren; ebenso bleibt ungeklärt, warum es schlimmer sei, von Verwandten als von Fremden ausgebeutet zu werden - und zwar unabhängig vom Grad der Ausbeutung, vgl. folgende Anm.: »Schauspieler«. 131
D i e hier ausgebreitete A r g u m e n t a t i o n w i r d in allen T e i l e n des Stückes i m m e r w i e d e r a u f g e g r i f f e n , m i t häufig wiederholten Beispielen bekräftigt und o f t n o c h v e r s c h ä r f t , v o r allem was die V e r g l e i c h b a r k e i t m i t f r ü h e r e n totalitären Staaten a n g e h t . 2 0 0 M e h r m a l s prognostiziert Hildegard im Prolog eine gewalttätige Reaktion auf die westlichen Ü b e r g r i f f e , ein G e d a n k e den H o c h h u t h bereits i m essayistischen V o r s p a n n z u m Prolog ausbreitet. D i e W i r t s c h a f t s m e t h o d e n w ü r d e n den Ostdeutschen zwangsweise auferlegt, ohne jedes Mitspracherecht [...], also durch Gewalt, so furchtbar [...], dass allein Narren vermuten können, sie provoziere nicht Gegengewalt; und die beiden Attentate auf den ersten Treuhandpräsidenten und den Baubeamten Klein seien schon die letzten gewesen.201 (S.13) D e r G e w a l t v o r w u r f basiert also auf d e m U m s t a n d , dass H o c h h u t h die T e i l h a b e der Ostdeutschen a m politischen Prozess bestreitet. Diese A n s i c h t bringt er auch i m Interview z u m Ausdruck. mm: Die frei gewählten Volksvertreter der N o c h - D D R haben den Einigungsvertrag ausgehandelt. Hochhuth: Die repräsentieren doch nicht den Willen des Volkes ... mrm Immerhin verstehen wir so die Demokratie. Hochhuth: Natürlich brauchen wir in so einem Fall die im Grundgesetz nicht vorgesehene Volksabstimmung. Wo es die nicht gibt, kommt es notwendigerweise zu den bei uns üblichen Abstimmungen gegen das Volk. 2 0 2 Kritisiert w i r d d a m i t weniger die U m s e t z u n g im Detail, als vielmehr generell die d e m o k r a t i s c h e Legitimation der W i e d e r v e r e i n i g u n g verneint w i r d . W a s das zur
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Einige Beispiele seien genannt: »Professorin: [...] kein Clan arbeitet so anonym wie der unvergleichlich stärkste Volks-Manipulator Tagesschau ... wie harmlos war der VolksEmpfängen der Nazis, gemessen an diesem Volks-Ε i η fänger Tagesschau!« (S. 89) »Schauspieler: Das private Fernsehen macht für Firmen, das staatliche für Parteien Reklame. / [...] Und wie völlig skrupellos sich Wessi-Fernsehbonzen / als Vormünder über OssiFernsehbonzen einsetzen lassen / und denen ebenso die Jobs klauen / wie Nazi-Gauleiter im besetzten Polen / den Woiwoden: nur viel ruchloser / — denn der Woiwode, den ein bundesdeutscher Fernsehbonze um Arbeit und Brot geprellt hat: / ist immerhin auch ein Deutscher!« (S.184) Beide Positionen bleiben im Stück unwidersprochen, die Willfährigkeit und Parteienabhängigkeit der Medien wird auch in den essayistischen Passagen des Stückes betont.
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Entsprechend wird physische Gewalt auch nur in vier von zehn Szenen (inkl. Prolog) nicht thematisiert. Ansonsten taucht sie in jeder Form auf: als bedrohliches Symbol ohne konkrete Gewaltausübung in »Systemnah«, als Aufruf in »Apfelbäume«, als Gewalt gegen Sachen in »Ossis: Diebe, Wessis: Hehler« (Brandstiftung; durch die ausführlich zitierten Ernst Jünger-Passagen ist die Beschränkung allerdings nur als erste Stufe des Widerstands zu sehen), als Gewalt gegen andere Personen in »Der Vollstrecker« und »Buchsendung«, als Gewalt gegen sich selbst in »Philemon und Baucis«. Gatermann u. a.: Das Bekenntnis, S. 266. Auf die Möglichkeit zur Volksabstimmung als unverzichtbares Element einer wahrhaft demokratischen Verfassung, geht Hochhuth auch in der Vorrede zu »Zu ebener Erde und erster Stock« ein. Siehe Hochhuth: Wessis in Weimar, S. Ulf.
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Folge hat, bringt Hildegard z u m Ausdruck, indem sie J a k o b B u r c k h a r d t zitiert: » M a n wird Richter in eigener Sache bei Abwesenheit aller legalen Rechtsmittel.« (S.24) Angesichts der Radikalität der H o c h h u t h s c h e n T h e s e ist es in d i e s e m Fall natürlich besonders interessant, die Reaktion darauf zu betrachten. D i e Frage ist, welche Berechtigung einer derart fundamentalen Kritik an der Wiedervereinigung seitens der Theaterpublizistik zugestanden wird; die Frage ist freilich auch, welche Berechtigung ihr begriindeterweise zugestanden werden kann. D a h e r sollen vor der Betrachtung der publizistischen Reaktionen zunächst einige eigene B e m e r k u n g e n zu Hochhuths These stehen. D i e ersten Szenen von »Wessis in Weimar« wurden im F r ü h s o m m e r 1 9 9 2 veröffentlicht bzw. öffentlich d i s k u t i e r t . 2 0 ' D a s S t ü c k gründet a u f der impliziten Annahme, die ökonomische Situation in den Neuen Bundesländern sei katastrophal. M i t dieser Ansicht steht H o c h h u t h keineswegs allein da. Ende des Jahres 1991 [...] muss die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern als verheerend bezeichnet werden. [...] Eine weitgehende Erttindustrialisierung der Ost-Wirtschaft zeichnet sich ab. Massenarbeitslosigkeit in offener und vor allem versteckter Form hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet,204 schreiben zwei westdeutsche Wirtschaftswissenschaftler E n d e 1991 und stützen ihre Einschätzung mit entsprechendem Zahlenmaterial. D e n dort vorgelegten Statistiken zufolge war f ü r das Gebiet der N e u e n Bundesländer im Zeitraum v o n 1989 bis 1991 ein Rückgang des Bruttoinlandproduktes u m ein Drittel, der Industrieproduktion gar u m zwei Drittel zu verzeichnen, die Z a h l der Erwerbstätigen sank v o n 9,6 auf gut 6 Millionen. 2 0 5 D e m g e g e n ü b e r profitierte die westdeutsche Wirtschaft in den direkten Folgejahren deutlich v o n der Wiedervereinigung u n d erhielt i m ersten J a h r der Wiedervereinigung einen zusätzlichen Wachstumsimpuls v o n etwa 2 Prozent. 2 0 6 Dieser laienhafte Ausflug in die Volkswirtschaft soll nur verdeutlichen, dass
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Gatermann u.a.: Das Bekenntnis. [Interview mit Bezug auf den »Prolog«], Der Spiegel, 1.6.1992 [Abdruck des »Prologs« nach heftigen Reaktionen auf das Interview im managet magazin], Jan Priewe, Rudolf Hickel: Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung. Frankfurt/Main 1991, S.23. Ebd. S.24, Tab.II. 1; S.34, Tab.II.6; Quellen sind die Wochenberichte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Zur Entwicklung des Sozialproduktes: DIW-Wochenbericht 39-40/1991; zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit: DIW-Wochenbericht 12/1991 und 24/1991. Besonders hinsichtlich der Arbeitslosenzahlen schwanken die Angaben natürlich extrem, je nach dem, in welcher Weise arbeitsmarktpolitische Gegenmaßnahmen in der Statistik berücksichtigt werden. Die offizielle Quote von 11,7 Prozent für September 1991 korrigieren Priewe und Hickel wie folgt: »Rechnet man zu den registrierten Arbeitslosen die Hälfte der Kurzarbeiter, ferner die ABM-Beschäftigten, die Personen in Fortbildung und Umschulung sowie die >Warteschleifler< und Vorruheständler, kommt man im Herbst 1991 auf rund 2,8 Mio. [...] Arbeitslose. Dies entspricht einer Unterbeschäftigungsquote von 31,8 Prozent.« Priewe/Hickel: Preis der Einheit, S. 38. »Der einigungsbedingte Wachstumsimpuls belief sich im ersten Jahr Währungsunion - vom 133
H o c h h u t h keineswegs hysterisch A l a r m schlägt, sondern die Dringlichkeit, mit der er sein T h e m a darstellt, durchaus einen realen Hintergrund hat. Verantwortlich für die Situation macht H o c h h u t h die Praxis der T r e u h a n d . A n mehreren Stellen wird im Stück angedeutet, die T r e u h a n d sei korrupt und arbeite skrupellosen Spekulanten zu. Justifiable Vergehen im Z u s a m m e n h a n g mit der Wiedervereinigung sind in der T a t in einem A u s m a ß zu verzeichnen, dass sich in der Rechtswissenschaft zur Beschreibung dieses P h ä n o m e n s eigens der Begriff »Vereinigungskriminalität« herausgebildet hat. 2 0 7 Dabei ist zu unterscheiden zwischen »Vereinigungskriminalität im weiteren Sinne« (qualitativ bekannte P h ä n o m e n e , die an Quantität z u g e n o m m e n haben w i e G r ü n d u n g s s c h w i n d e l , Bilanzmanipulationen, Subventionsbetrug, Konkursverschleppung) und »Vereinigungskriminalität im engeren Sinne«. Z u letzterer zählen Straftaten im Z u s a m menhang mit der Währungsumstellung, dem Export-Verrechnungssystem (Transferrubel), sowie Vergehen im Z u s a m m e n h a n g mit der T r e u h a n d - und zwar in einem U m f a n g , dass sich hierfür ebenfalls ein feststehender Begriff, nämlich die »Treuhandkriminalität« etabliert hat. 2 0 8 A u c h an diesem Punkt greift Hochhuths Kritik also nicht ins Leere, sondern hat durchaus einen Gegenstand. N i m m t man noch die höchst anfechtbaren politischen Entscheidungen hinzu, Grundstücke, die wegen des Mauerbaus und wegen des Braunkohleabbaus enteignet wurden, aus der Rückgaberegelung auszugliedern, 2 0 9 so ergibt sich Material genug f ü r eine
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Juli 1990 bis Juli 1991 - auf 2,3 Prozentpunkte, die Inflationsrate herausgerechnet. Ohne den Zusammenbruch der D D R hätte im ersten Jahr der D-Mark-Währung der Zuwachs der westdeutschen Güter- und Dienstleistungsproduktion gegenüber 4 Prozent somit lediglich 2 Prozent betragen. Diese Produktionsausweitung schlug auf den Arbeitsmarkt durch. [...] Die Finanztransfers [...] wirken über den Umweg Ostdeutschland wie ein Konjunkturprogramm für Westdeutschland. [...] Die eigentlichen Gewinner des Einigungsjahres sind die Unternehmer.« Priewe/Hickel: Preis der Einheit, S.234ff. Siehe dazu Kai Renken: Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozess. In: Das Parlament. Beilage A u s Politik und Zeitgeschichten Nr.32-33, 3./10. August 2001 und Anonym: Vereinigungskriminalität. In: http://www.white-collar-crime.de/html/vereinigungskriminalität, Stand: 16.01.2003. In diesem Aufsatz wird der entstandene volkswirtschaftliche Schaden im zweistelligen Milliardenbereich angesetzt, gleichzeitig aber darauf hingewiesen: »Eine detaillierte Schadensberechnung wird nicht möglich sein. Jede abgegebene Schätzung wird an der Frage zu messen sein, welche Interessen mit ihr verfolgt werden.«
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Z u nennen sind hier vor allem Untreue im Zusammenhang mit Liquidationen, Bilanzfälschung und Unterwertverkauf im Zusammenhang mit Privatisierungen, die Weitergabe von Insider-Wissen, Ausschreibungsbetrug in Verbindung mit Bestechung, Preisabsprachen im Zusammenhang mit Auftragsvergaben durch die Treuhand, mangelnde Überprüfung der Bonität von Handelspartnern. Siehe Renken: Wirtschaftskriminalität im Einigungsprozess und allgemein Michael Jürgs: Die Treuhänder. München u. a. 1997.
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Die Auskopplung der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 ist hiervon deutlich abzugrenzen. Sie beruht nicht auf einer souveränen Entscheidung der Bundesregierung, sondern wurde in den »2+4 Verhandlungen« von Russland zur Bedingung einer Zustimmung zur Wiedervereinigung gemacht, um sich vor etwaigen Schadensersatzansprüchen zu schützen.
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substantielle Kritik an der Art und Weise, wie die Wiedervereinigung durchgeführt wurde. Dabei allerdings will Hochhuth es ja nicht belassen. Alles aber, was er noch draufpackt, lässt sich nicht als Zuspitzung in polemischer Absicht verstehen. Vielmehr werden die bislang genannten Punkte eingesetzt, um die übergeordnete These zu untermauern: W e n n solch ein Misstand in den Neuen Bundesländern herrscht, kann dies nur Folge der Entrechtung der Ostdeutschen sein. Damit ist Hochhuths Kritik weniger fundamental, als sie vielmehr an den entscheidenden Punkten vorbei zielt. D u r c h die Behauptung der fehlenden demokratischen Legitimation beschränkt sich seine Kritik im Grunde auf das Insistieren auf eine Volksabstimmung zum Einigungsvertrag. Wie er aber zu der Annahme kommt, in einer Volksabstimmung hätte die Mehrheit anders entschieden als in freien, allgemeinen Wahlen zur Volkskammer bzw. zum Bundestag, bleibt sein Geheimnis. Er impliziert wohl, die Mehrheit habe nicht gewusst, was auf sie zukam. Das mag durchaus der Fall gewesen sein, beträfe aber die Entscheidungsfindung in einer Volksabstimmung in gleichem Maße. Darüber hinaus legt das Ergebnis der Wahlen von 1994 nahe (was Hochhuth freilich noch nicht wissen konnte), dass eine Mehrheit der Bundesbürger, auch in den Neuen Bundesländern, mit der Politik der C D U / F D P - K o a l i t i o n grundsätzlich einverstanden war. Man mag mit der Gestaltung der Wiedervereinigung einverstanden sein oder auch nicht, die demokratische Legitimation wird man ihr nicht absprechen können. Eher wäre in diesem Zusammenhang die Frage der politischen Meinungsbildung in der Mediengesellschaft der geeignete Ansatzpunkt; diese Problematik macht Hochhuth aber erstens nicht zum T h e m a und belässt seine Medienkritik beim Pauschalvorwurf der Parteienhörigkeit, zweitens ist sie bezüglich der Entscheidung zwischen parlamentarischem Vollzug oder direkter Volksabstimmung irrelevant. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die von Hochhuth als notwendige Konsequenz der Entrechtung prognostizierte Radikalisierung der Ostdeutschen hin zum Terrorismus ausgeblieben ist. Vielmehr ist dazu anzumerken, dass bereits die als erste Symptome gewerteten Attentate von Hochhuth willkürlich seiner These untergeordnet wurden. Z u m Anschlag auf den TreuhandPräsidenten Detlef Rohwedder bekannte sich die R A F , deren Wurzeln eindeutig in der westdeutschen Gesellschaft liegen.2·10 Wenn Erklärungen dieser Art überhaupt greifen, so scheint sich die Frustration nicht in einer gezielten Aggression gegen exponierte West-Vertreter in der Tradition linksextremistischer Kapitalismuskritik zu entladen, sondern in einer grundsätzlichen Systemablehnung vom anderen Ende des politischen Spektrums her. Z u beobachten ist in einigen Regionen die Radikalisierung hin zum Neo-Nationalsozialismus, wie er sich in der jugendlichen Alltagskultur, aber auch im Erfolg neonazistischer Parteien ausdrückt. Massenarbeits-
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Im Interview auf diesen Umstand angesprochen weicht Hochhuth aus: »Wenn Sie hören, dass die Terroristen der Bundesrepublik weitestgehend von der D D R ausgebildet oder versteckt worden sind, dann gibt es ja für die eine Grenze zwischen West und Ost nicht.« Gatermann u.a.: D a s Bekenntnis, S. 264.
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losigkeit und mangelnde Perspektiven fördern in diesem Zusammenhang mit Sicherheit die Empfänglichkeit für die demokratieablehnende, fremdenfeindliche Ideologie. Das grundsätzliche Einverständnis der DDR-Bevölkerung mit dem Einigungsvertrag vorausgesetzt, ist folglich der Totalitarismusvorwurf ebenso wie der Vergleich mit Kolonialismus und Hitlers Raubfeldzügen hinfällig. Man kann diese unbrauchbaren Etikettierungen natürlich als Kunstmittel der polemischen Ubersteigerung verstehen. Doch abgesehen von der hinlänglich bekannten Tatsache, dass derartige Vergleiche in verharmlosender Weise zurückwirken, sind sie auch als hyperbolische Argumente vollkommen unbrauchbar, weil sie am Wesenskern vorbei gehen. Selbstverständlich hat sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks auch ein riesiger Wirtschaftsraum elementar verändert. Indem ein geschlossenes System zusammenbrach und sich öffnen musste, boten sich dem bisherigen Konkurrenzsystem Möglichkeiten, das Vakuum aufzufüllen und vom Kollaps der Ost-Wirtschaft, zunächst hinsichtlich des neuen Absatzmarktes, dann auch als billiger Produktionsstandort, zu profitieren. Die Wiedervereinigung war aus westlicher Perspektive folglich kein altruistisches Großprojekt, sondern deckte sich mit bzw. folgte auch ökonomischen Interessen. Diese bestehen, sofern sie von der Politik gesteuert werden, allerdings nicht darin, den hinzugewonnenen Wirtschaftsraum kurzfristig auszubeuten, in Brachland zu verwandeln und die Bevölkerung der Verelendung preis zu geben, wie Hochhuth dies (nicht zuletzt durch seine unpassenden Vergleiche) nahe legt. Ob sie darin bestehen, den Wirtschaftsraum langfristig auszubeuten, wäre vielleicht auf Grundlage einer prinzipiellen Kritik der mangelnden Nachhaltigkeit rein marktorientierten Wirtschaftens möglich. Darin besteht aber nun gewiss das Thema Hochhuths nicht, der vor allem den Marktzugang der Ostdeutschen einklagt. Vollkommen außer Acht lässt Hochhuth den Umstand, dass die westdeutsche Profitschöpfung an der Wiedervereinigung absehbar begrenzt war und ihr eine Phase folgen würde, in welcher der verpflichtende Anteil das Hauptgewicht ausmachen würde. 2 1 1 Allein die Summe der Transferleistungen von West nach Ost macht deutlich, dass der Vorwurf der Kolonialisierung nicht greift, und es sich trotz der desaströsen Lage zum Zeitpunkt der Stückentstehung um einen Umwandlungs- und Aufbauprozess handelt. Dieser allerdings wird vor allem als Angleichungsprozess verstanden - und eben hierin scheint eine der Hauptursachen für die wirtschaftliche Lage in den Neuen Ländern zu liegen. So spricht sich interessanterweise die Unternehmensberatung M c Kinsey in einer Studie vom April 1991 unter den gegebenen Rahmenbedingungen gegen das einseitige Vertrauen in die Kräfte des freien Marktes aus, warnt vor der Gefahr der Entindustriealisierung und hält dagegen, dass es sich nicht um einen mit üblichen Krisen vergleichbaren Prozess handele. Mit dieser Einschätzung wird also, ausgerechnet von prinzipiell streng
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Diese Entwicklung war bereits 1991 absehbar. Vgl. Priewe/Hickel: D e r Preis der Einheit,
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wirtschaftsliberaler Seite, der Treuhand-Vorgabe des absoluten Privatisierungsprimats widersprochen u n d ausdrücklich eine aktive wirtschaftliche F ü h r u n g s r o l l e des Staates verlangt. 2 1 2 In ökonomischer Hinsicht bleibt daher neben d e m P h ä n o m e n der Vereinigungskriminalität, die aufgrund ihres U m f a n g s durchaus als ein Wesensmerkmal der Wiedervereinigung aufzufassen ist, vor allem w o h l dieser Aspekt der Gleichsetzung von W a n d e l und Angleichung als Ansatzpunkt einer grundsätzlichen Kritik an der Umsetzung der Wiedervereinigung. Diese Problematik spricht H o c h huth im Prolog kurz an, w e n n Hildegard dem Treuhand-Präsidenten vorwirft, er halte aufgrund seiner kapitalistisch geprägten Mentalität »reflexionslos [...] Privateigentum bereits f ü r ein S y n o n y m von V o l k s eigentum«. (S. 23) Dieser Aspekt wird im weiteren Verlauf des Stückes allerdings nicht genauer konturiert, was vor allem insofern bedauerlich ist, als meines Erachtens mit der Nicht-Übertragbarkeit von scheinbar bewährten Konzepten ein über das Ökonomische weit hinausgehender, zentraler Punkt des Vereinigungsprozesses und vor allem eine Ursache seiner eingeschränkten Akzeptanz angesprochen ist. 2 1 3 Drepper: Ach, unsere Schriftsteller: gibt's e i n e n , der's nicht für unter seiner Würde hielte, unsere Politkriminellen auf die Bühne zu stellen? Eva: Wer's täte, den dürften sie natürlich nie spielen: denn wer Intendant wird, entscheiden ja die Politiker! (S. 69) Entgegen Hochhuths Selbststilisierung zum einsamen und vor allem ausgegrenzten K ä m p f e r wider die Missstände, w u r d e »Wessis in Weimar« durchaus auf die B ü h n e gebracht und fand Beachtung wie kein anderes der hier besprochenen Stücke. Diese Aussage bezieht sich jedoch auf die publizistische Aufmerksamkeit, die »Wessis in Weimar« erregte. A u f der Bühne war es zwar nicht erfolglos, spielte aber keineswegs eine überragende Rolle. Insgesamt wurde es sieben M a l inszeniert, davon dreimal in den Alten und viermal in den N e u e n Bundesländern. Bei gut 250 A u f f ü h r u n g e n erreichte »Wessis in Weimar« mehr als 56.000 registrierte Zuschauer. D i e tatsächliche Zahl ist höher anzusetzen, da die Werkstatistik f ü r 7 7 T o u r n e e - A u f f ü h r u n g e n der Hamburger Inszenierung des Ernst-Deutsch-Theaters (R: Yves Jansen; T o u r n e e Theater Greeve) in der Spielzeit 1993/94 keine Zuschauerzahlen bietet. A u c h bei Berücksichtigung dieses Faktors ist aber nicht davon auszugehen, dass »Wessis in Weimar« Spitzenwerte erreicht, wie etwa »Schlusschor« (257 A u f f ü h r u n g e n / 120.889
2,2
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Mc Kinsey & Company: Überlegungen zur kurzfristigen Stabilisierung und langfristigen Steigerung der Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern. Auf diese Studie wird Bezug genommen in Priewe/Hickel: Der Preis der Einheit, S. 198. In einer Umfrage, die »Der Spiegel« zehn Jahre nach der Wiedervereinigung in Auftrag gab, bewerteten 66 % (Ost: 70 % / West: 65%) der Befragten die Vereinigung positiv. Der Aussage »Beide haben voneinander gelernt und sich entsprechend verändert« stimmten allerdings nur 42% (Ost: 30% / West: 45%) zu, 26% (Ost: 29% / West: 26%) waren der Meinung, dass »die Ostdeutschen [...] sich eher den Westdeutschen angepasst« haben und immerhin 22 % (Ost: 31% / West: 20 %) vertraten die Ansicht: »Ost- und Westdeutsche haben sich seit 1990 eher auseinander entwickelt.« Emnid-Umfrage: Beurteilung der Wiedervereinigung. In: Der Spiegel, 2.10.2000. 137
Zuschauer). Ein genauerer Blick in die Werkstatistik zeigt, dass mehr als zwei Drittel der registrierten Zuschauerzahl sich auf die ersten beiden Inszenierungen am Berliner Ensemble und am Ernst-Deutsch-Theater Hamburg konzentrieren (BE: 17.714, Ernst-Deutsch: 24.338). Im Anschluss an diese zwei Produktionen, die beide nur in der Spielzeit 1992/93 liefen bzw. in der Folgespielzeit tourten, war »Wessis in Weimar« nur noch in zahlenmäßig unbedeutenden Produktionen kleiner Häuser wie Zwickau oder dem Wolfgang Borchert Theater Münster zu sehen. »Schauspieler: Will ich ja glauben, dass der [Tschechow] nicht so viel Ärger macht wie >Wessis in Weimaro aber das deshalb abzusetzen.« (S. 187) Mit dieser eitlen Szene tut sich Hochhuth selbst zuviel der Ehre an. Keineswegs wurde sein Stück irgendwo auf Druck der politischen Parteien abgesetzt. Es wurde nur einfach wenig nachgespielt. Zunächst war das Aufsehen groß, was sich auch in einer Einladung der Uraufführungsinszenierung zum Berliner Theatertreffen 1993 und einem dritten Platz in der Kategorie »Stück des Jahres« in der Kritikerumfrage von »Theater heute« im selben Jahr widerspiegelt. Doch stehen die anfängliche Aufmerksamkeit und die weitere Bühnengeschichte im Falle von »Wessis in Weimar« in einem eklatanten Missverhältnis. Dabei wird deutlich, dass die Beachtung, die dem Text ursprünglich zuteil wurde, sich nicht vollständig aus dem Stück selbst heraus erklären lässt. Vielmehr ist sie verbunden mit einem geschickten Medienmanagement und einem Uraufführungsskandal nebst seiner Vorgeschichte eines öffentlich ausgetragenen Streits zwischen Autor und Regisseur. Schon lange vor der Premiere dieser Inszenierung gab's eine Inszenierung der Inszenierung und deren Dramatik wurde geschickter gesteigert als die des eigentlichen Dramas.* 1 4
Dieses Vorspiel nahm seinen Ausgang im Mai 1992, als Hochhuth erste Auszüge des Stückes interessanterweise dem »manager magazin« zukommen ließ und daraufhin in einem Interview215 der Rechtfertigung des Mordes an Treuhand-Chef Karsten Rohwedder verdächtigt wurde. Als Folge des Interviews wurde Hochhuth öffentlich von Politikern angegriffen. Bundesarbeitsminister Norbert B l ü m sprach gegenüber der Zeitung >Die Welt< (deren Kolumnist Hochhuth ist) von intellektuellem Schmierestehen für M o r d e n . A b s t o ß e n d und geschmackloss urteilte die stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin. In der Bonner Kabinettssitzung [..] griff auch Bundeskanzler Helmut Kohl in die Debatte ein: D i e Äußerungen Hochhuths in besagtem Interview würden sich wie >ein Freibrief für Mörder lesenunerträgliche Verharmlosung< der S E D und ihrer kommunistischen Misswirtschaft^ 2 ' 6
Auszüge aus dem Text selbst wurden erst anschließend zugänglich, als »Der Spiegel« als Reaktion auf die schweren Vorwürfe gegen Hochhuth den Prolog des Stückes
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Heinz Kersten: Die bösen Buben. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19.2.1993. Gatermann u. a.: Das Bekenntnis. Volker Müller: Wirbel um >Wessis in WeimarSo läppisch wie rätselhafte In: Der Spiegel, 1 5 . 2 . 1 9 9 3 . Sigrid Löffler: Mords-Requiem. In: profil, 15. 2.1993. Siehe dpa-Meldung v o m 6 . 2 . 1 9 9 3 in diversen Tageszeitungen. Z . B . : Ernst Schumacher: D i e »bleiche Mutter Deutschland< als Lebenstrauma. In: Berliner Zeitung, 1 0 . 2 . 1 9 9 3 ; Lorenz Tomerius: Für mehr Redlichkeit bei den Theatermachern. In: General-Anzeiger, 1 0 . 2 . 1 9 9 3 .
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Z e r a r b e i t u n g der Textvorlage zur Unkenntlichkeit des T h e m a s und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen interessant. Z u m einen wirft H o c h h u t h Schleef vor, sein »Blick auf die Menschen« sei »beleidigend inhuman«, 2 2 2 zum anderen beklagt er, Schleef habe den T e x t durch seine Bühnenästhetik entpolitisiert: Ich habe ein Stück geschrieben, das Täter und Opfer in Deutschland zeigt. [...] Er zeigt Chöre statt Individuen. [...] Die Wahrheit ist aber nicht symbolisch. Sie ist konkret.223 W i e sich hier zeigt, handelt es sich bei der Auseinandersetzung u m »Wessis in Weimar« bei aller Öffentlichkeitswirksamkeit mitnichten allein u m einen P R - G a g , der sich die Verbohrtheit zweier als Sturköpfe bekannter Künstler zunutze macht. V i e l m e h r spiegelt sich im Hochhuth-Schleef-Disput das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher ästhetischer Grundauffassungen, die gleichwohl beide mit politischem Anspruch auftreten, sich aber wechselseitig eben diese W i r k u n g absprechen. Insofern ist die Entscheidung, Schleef für »Wessis in Weimar« zu engagieren, durchaus als programmatische Stellungnahme zu verstehen, unter der neuen Leitung des Berliner Ensembles werde eine Avantgarde-Ästhetik, die über Brechts fabel- und figurengebundenen
Ansatz hinausgeht, mit d e m Anspruch politischen Theaters
verbunden. In neuer Konstellation wurden hier auch alte Schlachten wieder ausgemachten und Schleef sah sich einem Formalismus-Vorwurf ausgesetzt wie einst Brecht, aber auch er selber schon, in der D D R . Dabei wurde der FormalismusV o r w u r f gegen Schleef gerade unter B e r u f u n g auf Brecht erhoben und das nicht v o n H o c h h u t h allein. Die Auseinandersetzung u m Schleefs Inszenierung endete nicht mit der Premiere, sondern wurde durch einen Einspruch der Brecht-Tochter Barbara Brecht-Schall fortgeführt. G u t eine W o c h e nach der Premiere ließ sie gerichtlich verbieten, dass weiterhin das Brecht-Gedicht »Wer aber ist die Partei?« in der Inszenierung verwendet würde. Als Schleef dies d e m P u b l i k u m vor der Vorstellung am 1 9 . 2 . 1 9 9 3 mitteilte, machte er auf den Hintergrund dieser grundsätzlichen Auseinandersetzung selber aufmerksam, indem er einen Brief von Brechts Schwiegersohn Ekkehard Schall von 1975 verlas. In diesem drückte Schall seine Ablehnung der »Fräulein Julie«-Inszenierung von Einar Schleef und B . K . Tragelehn aus und reichte »nach Ansicht dieser asozialen und geschmacklosen Illustration des strindbergschen Textes« Beschwerde bei der damaligen Intendantin Ruth Berghaus ein. Schall schlug vor, »für das Publikum anzuschlagen, dass diese A u f f ü h r u n g ohne jede Rücksichtnahme auf Brecht zustande gekommen« sei. 2 2 4 Fast 20 Jahre später
222
Rolf Hochhuth: Entgegnung. In: Ders.: Wessis in Weimar, S.296f., hier, S.297. ' Ebd. 224 Die »Fräulein Julie«-Inszenierung von Einar Schleef und B.K. Tragelehn (10.4.1975) »bemüht sich, Psychologie als etwas nur scheinbar Subjektives zu entlarven, d.h. politisch und objektiv zu machen.« Der Versuch, Ideologie »mit Sinnlichkeit aufzuladen, verlangt eine Dramaturgie, die mit den bekannten und herkömmlichen Mitteln eines mimetischen Realismus nicht zu verwirklichen ist.« Schmidt: Zur Dramaturgie in der D D R von 1969 bis 1989, S. 615. Zur Auseinandersetzung um »Fräulein Julie« siehe die Zeugnisse in Kreuzer/Schmidt: Dramaturgie in der D D R , Bd. II, S. 299-338. Die Inszenierung erhielt 22
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merkt Schleef 1993 dazu in seiner Publikumsansprache an, dass »die Eheleute Brecht-Schall und viele nicht wahrhaben wollen, [...] dass diese Bühne, das Berliner Ensemble, mein künstlerisches Zuhause in der D D R war und blieb«. 225 Es geht also um nicht weniger als einen Streit um die legitime Brecht-Nachfolge, was wohl verstanden werden darf als eine Chiffre für den Streit um die der Zeit angemessene Form des politischen Theaters. In diesem Sinne bezieht auch Ernst Schumacher Stellung, wenn er befindet, »für das Berliner Ensemble« bedeute die Schleefsche Inszenierung jedenfalls den eigentlichen Neuanfang. In ihrer Rigorosität entspricht sie der vom späten Brecht stammenden Auffassung: >Wirkliche Kunst ist nicht gefällig. Das Natürliche ist schon das Nachgeben·:. 2 2 6
Bevor näher erläutert wird, wie dieser Streit in den Kritiken zur Uraufführung wahrgenommen wurde, soll die Inszenierung von Einar Schleef kurz beschrieben werden. Das Bühnenbild, für das ebenfalls Schleef verantwortlich zeichnete, arbeitete weitgehend mit dem nackten Raum. Nur das Bühnenportal war mit Metall ausgeschlagen, wozu analog an der Rückwand ein kleinerer rechtwinkliger, torartiger Ausschnitt den Blick auf die ziegelrote Brandmauer freigab. Der Text war eine Mischung aus Hochhuths Stück, Fremdtexten und Liedern. Von Hochhuths Text wurden dabei Dialogpassagen ebenso gesprochen wie, in weit größerem Umfang, seine essayistischen Zusatztexte und Regieanweisungen (die z.B. den gewünschten visuellen Eindruck beschreiben, der vom Bühnenbild nicht geliefert wird). Bei den Fremdtexten handelt es sich in erster Linie um Passagen aus Dramen Schillers, in denen Zusammengehörige in Konfrontation zueinander stehen: die vorletzte Szene aus »Kabale und Liebe« (in der Luise die von Ferdinand vergiftete Limonade trinkt), mit der die Inszenierung beginnt; ein Streitgespräch zwischen Elisabeth und Maria aus »Maria Stuart«; Sentenzen von Karl und Franz Moor aus »Die Räuber«. An Liedern stechen heraus der Choral »Oh Haupt voll Blut und Wunden« sowie Schumanns Heine-Vertonung »Die alten, bösen Lieder« mit dessen Vers »Ich legt' auch meine Liebe / und meinen Schmerz hinein« die Inszenierung endet. Als Epilog traten die Schauspieler mit Zipfelmütze auf dem Kopf und Kerze in der Hand an die Rampe der dunklen Bühne und zitierten Texte des Famulus Wagner aus Faust I. Wie für Schleef-Inszenierungen typisch, waren die ursprünglichen Figuren multipliziert und skandierten zumeist, aber nicht immer, die Texte im Chor. Auch
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keine Besprechung in »Theater der Zeit« und wurde nach zehn Vorstellungen abgesetzt. Einar Schleef und B . K . Tragelehn siedelten anschließend in die B R D über, da sie an D D R - B ü h n e n nicht mehr arbeiten konnten. S . W . : D e r Prolog. In: Der Tagesspiegel, 2 2 . 2 . 1 9 9 3 . Hier ist die Ansage Schleefs an das Publikum inklusive des Schall-Briefes im Wortlaut abgedruckt. Im Anschluss an seine Ansage kroch Schleef auf der Bühne, die er ja gerade zu seinem Zuhause erklärte, unter eine Bettdecke und las leise das Gedicht, da Barbara Brecht-Schall ihm in einem Telefonat mitgeteilt habe, es sei »urheberrechtlich unbedenklich [...], wenn ich zu H a u s e abends unter der Bettdecke leise das Gedicht >Wer aber ist die Partei?< spreche«. Ernst Schumacher: Wirkliche Kunst ist nicht gefällig. In: Berliner Zeitung, 1 2 . 2 . 1 9 9 3 .
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die martialischen Stampf-Choreographien kamen zum Einsatz, etwa wenn eine Reihe von Männern mit schweren Äxten in der H a n d mehrmals hintereinander im Laufschritt von der Rückwand an die Rampe stürmte, um dort die Äxte in den Boden zu rammen. Die Bedrohlichkeit wurde zudem dadurch gesteigert, dass alle männlichen Schauspieler eine Kopfhälfte zur Glatze rasiert hatten. Darüber hinaus waren die Schauspieler, mit Ausnahme der Anfangsszene, in der die Luisen schwarzrot-goldene Kleider trugen, mit schweren Stiefeln u n d Militärmänteln bekleidet, unter denen sie, was auch mehrfach gezeigt wurde, nackt waren. Besondere Aufmerksamkeit erregte in diesem Zusammenhang die Präsentation der Hochhuth-Szene »Buchsendung zu ermäßigter Gebühr«. G u t zehn M i n u t e n lang stand Martin W u t t k e onanierend an der Rampe, während er den Text des Briefes an den Daimler-Chef Edzard Reuter von sich gab. Die Zahl der Kritiken, die auf diesen Inszenierungsstil positiv reagierten und die Zahl jener, welche Schleefs Arbeit ablehnten, hält sich fast exakt die Waage. Die Gruppe der ablehnenden Kritiken lässt sich dabei noch weiter unterteilen. Eine sehr kleine Minderheit hat an dem Text Hochhuths nichts grundsätzlich auszusetzen u n d wartet vor einer weitergehenden M e i n u n g s ä u ß e r u n g die H a m b u r g e r Inszenierung ab. Alles, was man befürchten musste, ist eingetroffen: Das Stück [...] ist von Einar Schleef im Berliner Ensemble nicht wirklich inszeniert worden. [...] N u n wartet man gespannt auf die A u f f ü h r u n g am Hamburger Ernst-Deutsch-Theater. 2 2 7
Eine etwas größere Gruppe lehnt die Inszenierung ebenfalls ab, erhebt dabei aber auch gegen das Stück inhaltliche Einwände. Die Inszenierung wird hier als stimmig mit Hochhuths These betrachtet, oft auch als deren Verdeutlichung, nur wird eben diese These abgelehnt. D a sieht er, von Hitler über Adenauer bis zur T r e u h a n d , eine Kontinuität deutscher Geschichte so nachtschwarz, dass ihm darüber sogar die Untaten Stalins und seiner Nachfolger als weniger gewichtig erscheinen. [...] U n d so haben am Ende der buchhalterische, selbstgerechte Autor Hochhuth, der sich als Richter sieht, und der inszenierende Dichter Schleef, der nur noch die Sprache der Gewalt in Bilder fassen kann, doch mehr miteinander zu tun, als ihnen beiden lieb sein kann. 2 2 8
Die größte Gruppe der ablehnenden Kritiken jedoch, hat zwar Einwände gegen das Stück vorzubringen, diese aber sind rein formaler Art und beziehen sich in aller Regel auf die mangelnde Kunstfertigkeit Hochhuths u n d sein Unvermögen, lebendige Figuren zu entwerfen. Das inhaltliche Anliegen wird dagegen akzeptiert und in seiner Dringlichkeit anerkannt. Der Vorwurf gegen die Inszenierung folgt dann in der Tat Hochhuths Einschätzung, sein Stück werde durch Schleef entpolitisiert, indem für die Zuschauer das T h e m a unkenntlich werde.
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Michael Stone: H o c h h u t h s T e x t unter läppischen G a g s begraben. In: Westfälische Rundschau, 1 2 . 2 . 1 9 9 3 . Roland H . Wiegenstein: Das Stück, der Stunk und die Trostlosigkeit. In: Frankfurter Rundschau, 1 2 . 2 . 1 9 9 3 .
Gerade jetzt, wo wir ja auf Gegenwartsstücke brennen, verschenkt Schleef das eigentliche Stück, er spielt nicht Hochhuth, er sagt nichts Greifbares zu den Problemen des Zusammenwachsens, zu Ossis und Wessis. 229 Auch die G r u p p e der zustimmenden Inszenierungen lässt sich weiter differenzieren. Alle Besprechungen, in denen die Inszenierung gelobt, teilweise gefeiert w i r d , kritisieren gleichzeitig das Stück. W i e d e r u m ist aber zu unterscheiden zwischen einer Kritik an Hochhuths Grundthese und einer Kritik an seinen formalen Gestaltungsmöglichkeiten. Besprechungen, die gegen H o c h h u t h s T h e s e angehen, Schleefs A r b e i t aber schätzen, sehen beider Positionen keineswegs als gegenteilig an. V i e l m e h r wird die Inszenierung in der A r t verstanden, dass sie die H o c h h u t h s c h e T h e s e aus ihrer tagespolitischen Verankerung löse und in eine grundsätzliche Reflexion über das deutsche Wesen überführe. In dieser enthistorisierten F o r m wird die These v o m ewigen Bruderzwist, v o m K a m p f zweier Seelen in einer Brust und was an dergleichen Klischees mehr existiert, dann akzeptiert, w ä h r e n d sie a u f der E b e n e des aktuellen gesellschaftlichen Geschehens als unzulässige Vergröberung des Ost-WestVerhältnisses abgelehnt wird. O b w o h l die Inszenierung in dieser W a h r n e h m u n g keineswegs aller inhaltlichen Kategorien beraubt und als rein rhythmisch-sinnliches Ereignis w a h r g e n o m m e n wird, ist eine Entpolitisierung doch nicht v o n der H a n d zu weisen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass mithilfe der M y t h o l o g i s i e r u n g 1 3 0 hier die Inszenierung aus der Sphäre des Politischen in ontologische D i m e n s i o n e n hinüberkomplimentiert wird, u m einer weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung auszuweichen. Schleef wird bescheinigt, er habe den »deutschen Bruderzwist bedrückend, aber imposant zugleich in Szene gesetzt« und leiste damit »Trauerarbeit«, in deren Ergebnis man »aufgewühlt, aber nicht deprimiert aus dieser A u f f ü h r u n g « 2 ' 1 gehe. Trauerarbeit, die a u f w ü h l t , aber nicht deprimiert, k a n n w o h l verstanden werden als notwendige Katharsis und somit als harmonisierendes M o m e n t , d e m H o c h h u t h s anklagender G e s t u s vollständig abgeht. D e r V e r l u s t an politischer Brisanz ist greifbar — u n d auch erklärbar, wenn man weiß, dass der A u t o r dieser
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Peter Hans Göpfert: > Wessis in Weimar« von Rolf Hochhuth. In: SFB 3, Klassik zum Frühstück, 11.2.1993. Der Begriff wird hier in Anlehnung an Roland Barthes verwendet, in dessen Argumentation »der Mythos durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge bestimmt [wird]. Die Dinge verlieren in ihm die Erinnerung an ihre Herstellung [...]: der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage. [...] Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur [...]. Indem er von der Geschichte zur Natur übergeht, bewerkstelligt der Mythos eine Einsparung.« Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1964, S. i3of. Im vorliegenden Fall ist es die Auseinandersetzung mit der Kritik an den konkreten Prozessen der Wiedervereinigung, die eingespart wird. Gemeint ist nicht, dass sich Mythologie und Politik grundsätzlich ausschließen. Die antike Tragödie bietet genügend Gegenbeispiele, vgl. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988. Wolf Schöde: Es geht ihm gar nicht um die Ossis. In: Wochenpost, 25. 2.1993. 143
Kritik seinerzeit Pressesprecher der Treuhandanstalt war. In anderen Fällen erklärt sich die Verschiebung vom Politischen zum Wesenhaften wohl aus der starken formalen Suggestivkraft der Inszenierung, die verhindert, dass die inhaltliche Position schlichtweg abgelehnt wird, wie dies in den gleichen Besprechungen bezüglich Hochhuths Text geschieht. Nicht ein profanes Stück zur Wiedervereinigung ist dann zu sehen, sondern >die Tragödie Deucschland< [...], eine kollektive Misere, die ihre Wurzeln nicht im Versagen eines Kanzlers und einer politischen Klasse hat und deren Wahrheit im Ritual zum Aufscheinen gebracht werden kann, nicht aber im publizistischen Konversationston. 2 3 2
Die große Mehrheit der zustimmenden Kritiken aber hatte an »Wessis in Weimar« inhaltlich gar nichts auszusetzen. Vielmehr erkannten sie die thematische Wichtigkeit des Stückes an und sahen in ihm eine Polemik in die richtige Richtung, deren gestalterische Schwächen von der Inszenierung aufgefangen würden. Die nichtsprachlichen Mittel wurden dabei als extreme und direkt emotional ansprechende Verstärkung des in Hochhuths Text angelegten Furors empfunden. »Greift Schleef damit aber nicht den rebellischen Grundton von Hochhuths Szenenfolge auf? [...] Ο ja — und ob da geschrien und gebrüllt wird, marschiert und exerziert«, doch »atemlos lauschte das Publikum den mal gellend skandierten, dann leise gesprochenen Texten«. 1 3 3 Die Fremdtexte werden in Kritiken dieser Grundrichtung eher als Verlängerung der Hochhuthschen Thesen über ihre Aktualität hinaus zu geistesgeschichtlichen Vergleichsgrößen gedeutet, die sich auf die aktuelle Situation wiederum rückbeziehen lassen und daher keineswegs von entpolitisierender Wirkung sind. Schillers Elisabeth kennt keine Gnade, mag Maria sich auch erniedrigen und zugeben: >Ich habe menschlich, jugendlich gefehlt.< Es hilft nichts, denn was unter den königlichen Schwestern wie unter den Deutschen stattfindet, ist ein Religionskrieg, nichts weniger behauptet Einar Schleef und bietet darum Texte von Goethe, Schiller, Nietzsche und Brecht auf. 2 3 «
Die Wahrnehmung der Schleef-Inszenierung als inhaltlich-politisches oder aber als mythologisch-unpolitisches, wenn nicht gar mythologisch-unverständliches Theater, hält sich insgesamt ebenso die Waage wie Zustimmung oder Ablehnung. Dabei besteht zwischen der Einschätzung des politischen Gehalts und der Beurteilung der Inszenierung keine fixe Korrelation. Auffallend ist aber, dass unabhängig von der Wertschätzung sowohl der Inszenierung als auch der Textgestaltung mehr als zwei Drittel aller Kritiken Hochhuths inhaltliche These nicht in Zweifel ziehen. Dass dessen Generalanklage der Kolonialisierung und Entrechtung sehr wohl angreifbar ist, w u r d e versucht, weiter oben darzustellen. W e n n Hochhuths Kritik an der
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Heinz Klunker: >Wessis< in Berlin. In: Die Deutsche Bühne, 1993, H e f t 4, S. 29. R o l f Michaelis: Oratorium vom Bruderkrieg. In: Die Zeit, 1 9 . 2 . 1 9 9 3 . Cornelia Köster: Religionskrieg ohne Gnade. In: Wochenpost, 18.2.1993.
Wiedervereinigung faktisch auch große Mängel aufweist, so trifft sie offenbar doch ziemlich genau die vorherrschende Zeitstimmung. Dabei ist bemerkenswert, dass die überwiegende Mehrheit der ausgewerteten Kritiken westdeutschen Zeitungen entnommen ist. Es war wie immer bei R o l f Hochhuth: Sein politisches Engagement, diesmal mit sympathischer W u t gegen die Besatzermentalität der Wessis in der ehemaligen D D R gerichtet, bringt sich durch oberlehrerhaftes Thesendeutsch um jede Wirkung. 2 3 5
Der Vorwurf des Binnenkolonialismus hat folglich nicht nur die Theatermacher des Berliner Ensembles als Zustandsbeschreibung der deutschen Wirklichkeit Anfang der 90er Jahre interessiert, sondern beschreibt auch ein westdeutsches Selbstgefühl der schuldhaften Annexion Ostdeutschlands - zumindest soweit sich das westdeutsche Selbstgefühl im Feuilleton artikuliert.
4.2.5 Die Wiedervereinigung als positives Ereignis: »Auf verlorenem Posten« (Herbert Achternbusch), »Schlusschor« (Botho Strauß) In aller Kürze soll an dieser Stelle auf zwei Stücke hingewiesen werden, die im Zusammenhang mit formalen Gestaltungsmöglichkeiten bereits ausführlich besprochen wurden (siehe Kapitel 4.1.3 und 4.1.5). Diese Doppelung ist insofern notwendig, als sich andere Beispiele, die positive Momente des gesellschaftlichen Umbruchprozesses an zentraler Stelle reflektierten, nicht finden lassen. Aber auch bei diesen beiden Ausnahmen ist zu beachten, welcher Art das positive M o m e n t ist. »Auf verlorenem Posten« stellt eine westliche Reflexion des Wende-Prozesses in der D D R dar, der als umfassende Befreiung, nicht nur in pragmatischer, sondern auch in intellektueller und vor allem emotionaler Hinsicht beschrieben wird. Die Revolution des Ostens steht also im Mittelpunkt des Stückes, nicht aber die Wiedervereinigung, in die sie mündet (und die zum Zeitpunkt, da das Stück verfasst wurde, Dezember 1989, auch noch gar nicht absehbar war). Diese Konzentration auf den Aspekt der Wende scheint gleichzeitig die Voraussetzung für die positive Darstellung zu sein. Denn sobald sich Ost- und Westdeutsche begegnen, zeichnen sich kommende Konflikte schon ab — seien es die 16 Personen, die einem Trabant entsteigen und mit Bananen beworfen werden, oder der Westler der dem Erzähler gegenübertritt: »Nu, schenkt dir keiner eine Banane - kleiner Ossi?« (S.12) Das positive M o m e n t in »Schlusschor« verdankt sich, wie weiter oben ausführlich dargelegt, einem übergeordneten Weltbild, das es ermöglicht, den Zusammenbruch des Ostblocks als M o m e n t der Emergenz zu betrachten, der punktuell die Berührung mit dem Absoluten gewährt. Was dem Ereignis abzugewinnen ist, besteht in erster Linie darin, dass die Erschütterung durch die Wiedervereinigung der bundesrepublikanischen Gesellschaft die Unzulänglichkeit ihrer weltanschaulichen
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W . B . : Die »Wessis in Weiman. In: Süddeutsche Zeitung, 27728.2.1993. (Zur Inszenierung des Ernst-Deutsch-Theaters.)
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Grundlagen vorführt und somit zum Ausgangspunkt einer neuen, mystisch grundierten A u f k l ä r u n g werden kann. W o sich West und Ost direkt berühren, schätzt auch Strauß die Situation eher skeptisch ein. Als der M a n n aus der D D R sagt, er freue sich »auch auf die Diskussionen mit Ihnen« (S. 87), folgt diesem A n g e b o t keine Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen. Statt dessen legt D E R R U F E R seine A r m e u m das Paar aus der D D R und präsentiert sie den anderen Westdeutschen als exotische Ausstellungsstücke: »So sehen Menschen aus, die vierzig Jahre nicht glauben konnten, dass es M o n t e C a r l o wirklich gibt!« (S. 87) Eingedenk der besonderen Bedingungen, unter denen allein behauptet werden kann,
»Auf verlorenem Posten« und »Schlusschor« würden positive Aspekte des
gesellschaftlichen Wandels thematisieren, müsste dieses Teilkapitel also noch kürzer aus- und damit eigentlich entfallen. Ein Charakteristikum der deutschen Dramatik der 90er besteht offensichtlich darin, die Wiedervereinigung in distanzierter F o r m als Krisenfall darzustellen. Z u den zentralen Problemfeldern, die der Prozess der Wiedervereinigung der Dramatik zufolge mit sich führte, gehören dabei die Kommunikationsunfähigkeit zwischen Ost und West, die Orientierungslosigkeit der Ostdeutschen im neuen System, die Ausbeutung der N e u e n durch die Alten Bundesländer und der verstärkt auftretende Neo-Nationalismus. 2 3 0
4.2.6 Zwischenbilanzen - Das wiedervereinigte Deutschland: »Das Gleichgewicht« (Botho Strauß), »Ich bin das Volk« (Franz Xaver Kroetz), »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« (Klaus Pohl) I m Unterschied zu den bisherigen Ausführungen ist in diesem Kapitel von Stücken die Rede, in denen nicht die Wiedervereinigung als Ereignis oder andauernder V o r g a n g im Mittelpunkt steht, sondern eher versucht wird, durch eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung ein (zumindest vorläufiges) Ergebnis des Vereinigungsprozesses einzufangen. O h n e dass die Wiedervereinigung explizit angesprochen wird, ist sie in diesen Stücken als eine Voraussetzung der beschriebenen Gesellschaft stets mitzudenken. Weniger eine Erörterung, wie die Wiedervereinigung vonstatten ging, als vielmehr die Frage, wohin sie führte, bildet hier das Z e n t r u m . D a zu einer solchen Zustandsbeschreibung inhaltlich wie formal höchst disparate Ansätze gewählt w u r d e n , ist der jeweils kürzeren Besprechung dreier Stücke der Vorzug vor der ausführlichen Analyse nur eines Stückes gegeben worden.
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Die Problematik des Neo-Nationalismus wurde in den bisher besprochenen Stücken in Harald Muellers »Doppeldeutsch« (4.1.2) thematisiert und stellt das Zentralmotiv in Franz Xaver Kroetz' »Ich bin das Volk« dar, welches Gegenstand des nächsten Kapitels ist. Darüber hinaus ist von den in Kapitel 3 statistisch erfassten Stücken noch die Szene »Schwanendreher« aus Manfred Karges »Mauerstücken« zu nennen und Christoph Heins »In Acht und Bann« . Unabhängig von der Wiedervereinigung sind Neo-Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit wichtige Themen in der Dramatik der 90er Jahre, z.B. Robert Schneider: »Dreck«. In: Spectaculum, Bd. 58, Frankfurt/Main 1994, oder Elfriede Jelinek: »Stecken, Stab und Stangl« In: Spectaculum, Bd. 63, Frankfurt/Main 1997.
»Das Gleichgewicht« 237 (1993) von Botho Strauß (West) ist zwar im wiedervereinigten Berlin angesiedelt, scheint sich aber ausschließlich auf privater Ebene abzuspielen. Erzählt wird die Geschichte des Ehepaares Christoph und Lilly Groth, die ein Jahr der Trennung hinter sich haben. Während er einer Gastprofessur für Ökonomie in Australien nachgekommen ist, hat sie sich eine zweite Existenz als zeitungsverkaufender Punk und Geliebte des Rock-Musikers Jaques Le Coeur zugelegt. Christophs Sohn aus erster Ehe, Markus, der seine Stiefmutter Lilly wohl ebenfalls begehrt, weiß um ihr Doppelleben. Neben diesem Kernpersonal tauchen weitere orientierungslose Figuren auf: »Der Mann vom Grünstreifen«, einst in Führungsposition in der D D R , jetzt philosophierender Stadtstreicher, sowie Marianne und Gregor, Porzellan- bzw. Mineralienhändler, die aufgrund steigender Mietpreise im wiedervereinigten Berlin ihre Läden schließen müssen. Als Christoph beim Zen-Bogenschießen versehentlich Lilly verletzt, ruft sie im Moment des Getroffen-Werdens Jaques' Namen aus. Christof beginnt nachzuforschen und konfrontiert Lilly mit Jaques, der aber behauptet, sie nicht zu kennen. Sie ist gezwungen, ihre zweite Identität für eine unausgelebte Wunschphantasie zu halten. Durch ihren Stiefsohn Markus gelenkt, begegnet Jaques am Ende allerdings noch ein weiteres Mal Lilly und Jaques küsst sie, als wären sie ein vertrautes Paar. Ihr Wunsch nach Aufklärung bleibt unbefriedigt. »Markus Groth: Frag nicht, Lilly. Bekämst doch nur eine unbegreifliche Antwort.« (S. 280) Im Zusammenhang der hier verhandelten Fragen ist bezüglich »Gleichgewicht« vor allem zu klären, ob die im Stück dargestellte Atmosphäre der Stadt, in der die westlichen Ladenbesitzer ihren Platz ebenso verlieren wie der aus der D D R stammende »Mann vom Grünstreifen«, eher als Lokalkolorit dient oder als inhaltlicher Bezugspunkt, der von der privaten Ebene auf den größeren Zusammenhang schließen lässt. Dieser würde sich dann in etwa so ausmachen, dass auch die Balance der Beziehungen und Lebenswelten in der alten Bundesrepublik nach 1989 tendenziell verlorenging. Auch dort verlor man seine Nischen, das Gleichgewicht im Mauerschatten. 238
Die Frage ist also, ob in der Suche nach Gleichgewicht, welche die Figuren kennzeichnet, eine Chiffre für den gesellschaftlichen Zustand der vereinigten Republik gesehen wird, die sich nach dem Zusammenbruch des austarierten Ost-WestGegensatzes neu justieren muss. Zu beachten ist dabei vor allem, wie die Figuren sich dechiffrieren lassen, wie wessen Ungleichgewicht übersetzt wird. Z u Christoph ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass sein liberales Weltbild, Grundlage seines Gleichgewichts, einer zweifachen Verunsicherung ausgesetzt wird, durch seinen Sohn und durch seine Frau. Gegenüber Lilly beschreibt er seine Vorstellung von stabiler Liebe in den Worten ökonomischer Gesetzmäßigkeiten.
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Botho Strauß: Das Gleichgewicht. In: Spectaculum, Bd. 58, Frankfurt/Main 1994, S.233-280. Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels, S. 93.
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Du siehst, wir geben doch ein gutes Beispiel ab, dass Mann und Frau ihr Glück wohl machen können, sofern ein gesunder Zyklus von Nähe und Entfernung ihre Ehe-Wirtschaft reguliert. (S. 257) Dass der Universalanspruch seiner markt-liberalen Denkart keine Gültigkeit hat, erfährt er durch Lillys Doppelleben. I m Gespräch mit seinem Sohn muss er feststellen, dass seine Weltanschauung an Akzeptanz nicht nur eingebüßt hat, sondern z u m Gegenstand der Verachtung mutiert ist. Darüber hinaus beginnt er selber, im Versuch sie zu verteidigen, die Grundlagen seiner Weltanschauung zu verleugnen. Als M a r k u s v o m »geistigen Halunken, liberalen M o l o c h [...], der unser Leben in eine stinkende M ü l l k i p p e verwandelt« (S. 260) spricht, entgegnet Christoph wutentbrannt, ihm gehöre »mit zwanzig Peitschenhieben eingebleut: die W e l t wird liberal zur Gänze sein, oder sie wird überhaupt nicht mehr sein!« (S.261) Bezeichnend f ü r das Verhältnis von C h r i s t o p h u n d Lilly ist, dass indem der eine sein Gleichgewicht findet, der andere es verliert. Für Lilly nämlich war ihr Leben in der Doppelexistenz der Zustand des Gleichgewichts, das nun durch die Entdeckung der Scheinhaftigkeit ihrer verborgenen Liebe aus der R u h e gebracht wird. Nur eins noch, Christoph, musst du wissen. [...] Wenn dieses zweite Leben nie gewesen ist, bricht auch das Leben ein mit dir. [...] Es fehlt die unbeschwerte Mitte und das schöne Gleichgewicht. Zwei Leben, eines war des andern Halt, jetzt stürzen beide. (S. 276) N u n ist bei dieser Konstellation von entscheidender Bedeutung, womit das Gegengewicht zu Christoph, w o m i t Jaques Le C o e u r identifiziert wird. Dies bleibt zwar ungelöstes Rätsel im Stück, eben dies aber kann durchaus als strukturelles M e r k m a l der Figur gedeutet werden, die damit in jeder Hinsicht als Gegenfigur zum rationalen Christoph aufgebaut ist. Diese Gegensätzlichkeit ist allerdings nicht als eine sich abstoßende, sondern eine sich komplementär ergänzende zu verstehen, wie durch die Figur Lilly begreifbar wird. Soll nun von der privaten Ebene hochgerechnet werden, so impliziert dieses erst in Kontakt mit beiden zu erlangende Gleichg e w i c h t , das L i l l y beschreibt, auch a u f politisch-weltanschaulicher E b e n e die N o t w e n d i g k e i t eines Gegengewichts zu Christophs dogmatischem Liberalismus. »Nur mit Christoph als System und ohne Jaques als Herz fehlt Lilly das, was Strauß in den Ideen einer materialistischen W e l t vermisst.« 2 3 9 In dieser Lesart lässt sich Jaques L e C o e u r als Einbruch eines transzendenten Prinzips in die aufgeklärte Welt der G r o t h s deuten. Bezeichnenderweise trägt auch die B a n d , mit der Le C o e u r seine Erfolge feierte, als N a m e n den Titel eines R o m a n s der Romantik: »Vathek T h e Palace of Eblis«. 1 4 0 W i e schon im Z u s a m m e n h a n g mit »Schlusschor« (siehe
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Andreas Englhart: Im Labyrinth des unendlichen Textes. Botho Strauß' Theaterstücke 1972-1996. (Theatron, Bd. 32) Tübingen 2000, S.283. William Beckford: Vathek. Beckford schildert darin »die Geschichte des amoralischen Kalifen Vathek [...], der zur Befriedigung seiner Sinneslust und seines unersättlichen Wissensdranges mit Eblis, dem Herrscher der Hölle einen Pakt schließt.« Biografischer Hintergrund waren »die drei Tage und drei Nächte dauernden Festlichkeiten [...] mit
Kapitel 4.1.3) ausgeführt wurde, fügt sich der Mauerfall als Aufscheinen dieser Transzendenz in Strauß' Konzept einer konservativen Aufklärung. Im Grunde hat Botho Strauß den Fall der Mauer ebenso wie jede andere ernsthafte Erschütterung des liberalen Selbstbewusstseins dazu genutzt, das ideelle Vakuum, das sich in solchen ereignishaften Momenten offenbart, mit einem metaphysisch zentrierten Aufklärungskonzept zu konfrontieren. 241
Aus der Bahn geworfen sind folglich alle Figuren, die sich einer entsprechenden Öffnung verweigern, wie etwa Christoph, der mit seiner aufgeklärt-liberalen Weltsicht als Repräsentant der - in Strauß' Diagnose so selbstgefälligen wie überforderten - Gesellschaft des vereinten Deutschlands gelten kann. Welche Konsequenzen dies hat, bleibt unklar, deutet sich in der Schlussszene aber an, wenn Le Coeur, von Markus gelenkt, wieder auf Lilly wirkt. Dass Markus Jaques souffliert, »weil dieser unter dem Text der ganz andere, der Fremde, das Göttliche ist, das Lilly in Markus sucht und begehrt«,242 ist eine mögliche, aber keineswegs zwingende Lesart. Unter stärkerer Betonung der politischen Implikationen der Konstellation, ist in dieser Schlussszene ebenfalls ein Vorwurf an die von Christoph repräsentierte liberal-aufgeklärte Position zu sehen. Indem Christoph seiner Frau Lilly die Doppelexistenz verweigert, ermöglicht er Markus, den Gegenstand von Lillys Sehnen nach einem metaphysischen Gegengewicht neu aufzuladen - und das heißt auch, die von der exklusiv-aufklärerischen Haltung aus dem Gleichgewicht gestoßene Lilly dem von Markus verkörperten politischen Extremismus zugänglich zu machen. Zu fragen bleibt, in wie weit diese Deutungsschwierigkeiten über die Philologie hinaus überhaupt als Problem erkennbar sind, ob nicht in einer Aufführung die Ebene der privaten Beziehungen und Gemütslagen alle Aufmerksamkeit absorbiert. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann überprüft werden, auf welche Akzeptanz Strauß' Konzept der »konservativen Aufklärung« stößt. Uraufgeführt wurde »Das Gleichgewicht« bei den Salzburger Festspielen (26.7.1993), gewissermaßen in einer ausgelagerten Schaubühnen-Produktion. Peter Stein konnte im zweiten Jahr als Leiter des Schauspiels Luc Bondy für die Regie gewinnen, Jutta Lampe spielte die Hauptrolle der Lilly Groth, das Bühnenbild entwarf Karl-Ernst Herrmann. Es ist daher naheliegend, zusätzlich zur der Deutschen Erstaufführung auch die Salzburger Inszenierung zu berücksichtigen, wovon gleich die Rede sein soll.
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orientalischem Pomp und [...] der Zelebration schwarzer Messen innerhalb eines exklusiven Freundeskreises«. Walter Jens (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 2, München 1989, S. 389f. Ein weiterer Bezug zu Beckford ergibt sich aus dem Umstand, dass Jaques Le Coeur seinen Namen aufgrund schwarzer Messen in der Vergangenheit erhalten hat. Oberender: Die Wiedererrichtung des Himmels, S.94. Englhart: Im Labyrinth des unendlichen Textes, S.290.
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Was den weiteren Bühnenerfolg des Stückes angeht, so ist im Vergleich zum zwei Jahre früher veröffentlichten »Schlusschor« festzustellen, dass »Das Gleichgewicht« zwar häufiger (9 statt 6 mal) inszeniert, aber weniger gespielt wurde und dementsprechend auch weniger Zuschauer erreichte. G u t 150 A u f f ü h r u n g e n sind etwa 1 0 0 weniger als »Schlusschor« hatte und mit etwas über 6 2 . 0 0 0 Besuchern erreichte das Stück knapp über die Hälfte der Zuschauerzahlen v o n »Schlusschor«. Dass sich die Relation zwischen Inszenierungen, A u f f ü h r u n g e n und Zuschauern bei »Gleichgewicht« im Verhältnis zu »Schlusschor« schlechter ausnimmt, ist im G r u n d e auf einen Erfolg des Stückes in anderer Hinsicht zurückzufuhren: Während »Schlusschor« noch ein reines West-Stück blieb, interessierten sich f ü r »Das Gleichgewicht« auch ostdeutsche Theater. D r e i m a l w u r d e das Stück auf B ü h n e n der N e u e n Länder inszeniert. D i e Deutsche Erstaufführung f a n d am Deutschen T h e ater Berlin durch T h o m a s L a n g h o f f ( 1 9 . 2 . 1 9 9 4 ) statt, der das Interesse am Stück deutlich als Ergebnis der Wiedervereinigung beschrieb. Für die D D R waren die Texte von Strauß so exotisch, wie Stücke, die in Alaska oder Neuseeland spielen - so fern war uns diese Welt. Das ist jetzt ruckartig anders geworden. Die Probleme der Stücke von Botho Strauß sind jetzt plötzlich unsere Probleme. Im >Gleichgewicht< sieht man die Lage des untergehenden Mittelstandes, [...] das passiert jetzt in Ost und West. Auch die Frage nach den verloren gegangenen Werten [...] ist übergreifend. 245 W ä h r e n d die Auseinandersetzung mit d e m »Gleichgewicht« in Berlin auch auf Interesse stieß und als mittlerer Erfolg bezeichnet werden kann, 2 4 4 kam das Stück an den beiden anderen ostdeutschen Bühnen in der f ü r Strauß ungewöhnlichen Weise der Studio-Inszenierung auf die Bühne, war schnell abgespielt und erreichte k a u m Zuschauer. 2 4 5 A m O r t der Handlung, in Berlin, w o sich West- und OstPublikum vermischen, kann »Gleichgewicht« auch an der einst führenden D D R B ü h n e reüssieren. Abseits dieses besonderen Ortes aber scheinen Interesse u n d Akzeptanz auch 1993 noch sehr verhalten. In den Alten Bundesländern hingegen wurde »Das Gleichgewicht« von mittelgroßen Bühnen wie Würzburg ebenso gespielt, wie von den überregional beachteten Häusern wie dem Thalia-Theater H a m b u r g oder den M ü n c h n e r Kammerspielen. Z u r publizistischen Reaktion auf die Salzburger U r a u f f ü h r u n g ist anzumerken, dass diese nur knapp ein halbes J a h r nach der Veröffentlichung von Botho Strauß' heftig umstrittenem Essay »Anschwellender Bocksgesang« l a g . 2 4 6 D i e Z e i c h e n standen also denkbar günstig f ü r eine W a h r n e h m u n g und Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen weltanschaulichen Aspekten, die in »Gleichgewicht« neben der
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Peter Laudenbach: Vom Übergang in den Untergang. [Interview mit Thomas Langhoff] In: Berliner Zeitung, 15.2.1994. 1993/94-1995/96, 28 Aufführungen, 11 009 Zuschauer. 1994/95, Brandenburger Theater, Studiobühne, 8 Aufführungen, 372 Zuschauer; Schwedt, Uckermärkische Bühnen, it-Studio, 10 Aufführungen, 312 Zuschauer. Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel, 8.2.1993.
Gesellschaftsbeschreibung und der Ebene der Individualproblematik verhandelt werden. Das Ergebnis muss jedoch als ausgesprochen mager bezeichnet werden. Zwar gibt es vereinzelt entsprechende Auseinandersetzungen, wie die Volker Hages, der im »Spiegel« sehr differenziert für Strauß Partei ergreift und dabei vor allem Stück und Essay in den Kontext des Straußschen Gesamtwerkes setzt. 247 In den meisten anderen Fällen aber schien, wenn die politische Dimension des Stückes überhaupt wahrgenommen wurde, die Aktualität der Debatte eine ernsthafte Beschäftigung mit Strauß' Position zu verhindern. Sowohl Ankläger als auch Verteidiger schließen in diesem Zusammenhang Figurenrede und Autorenmeinung kurz, um ihren jeweiligen Standpunkt zu bekräftigen und argumentieren damit zielsicher an Strauß vorbei. Exemplarisch können dazu die Kritiken von Peter Iden in der »Frankfurter Rundschau« und von C. Bernd Sucher in der »Süddeutschen Zeitung« gelten, die sich beide auf die gleiche Szene beziehen, die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn Groth (siehe oben), um zu gegensätzlichen Ergebnissen zu kommen. »Da, laut Strauß, die Demokratie den Druck der Gefahr braucht, hat er [...] auch einen Exponenten der extremen Rechten untergebracht«, schreibt Sucher über Markus und resümiert die Auseinandersetzung so: Dem Vater missfallen die >militanten TöneDie Welt wird liberal zur Gänze sein oder sie wird überhaupt nicht mehr sein.Die Welt wird religiös sein oder gar nicht mehr sein.«< Dies zeigt einmal mehr, wie unzulässig die Gleichsetzung von Figurenrede und Autorenmeinung im Fall von Strauß ist. Ernst Schumacher: Nicht im Gleichgewicht. In: Berliner Zeitung, 28.7.1993. Barbara Villiger-Heilig: Psychopathologie des Alltags. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.7.1993. Roland Koberg: Sieg des Theaters über den Essay. In: Freitag, 6.8.1993.
» N u n ist das Stück in der Stadt, aus der es entstanden, in der es angesiedelt ist u n d die [...] in der T a t nicht im Gleichgewicht ist.« 256 Z w a r wird immer noch die Ebene des individuellen Ungleichgewichts als bestimmend erachtet, aber betont, das dieses Ungleichgewicht »teilweise [...] mit den Umbrüchen zu tun [hat], die den Menschen vertrauten B o d e n entziehen«. 2 5 7 D e r Zeitstückcharakter scheint insgesamt jedoch derart zu dominieren, dass alle weiteren bzw. grundsätzlicheren E b e n e n d a v o n verdeckt werden. A u s der Publizistik ergibt sich ein E i n d r u c k , der an die Reaktion auf Luc Bondys »Schlusschor«-Inszenierung erinnert (siehe Kapitel 4.1.3): Strauß wird als präziser Portraitist wahrgenommen, der die neuen Probleme der verändertvereinigten Gesellschaft kritisch und genau aufzeichnet. Als metaphysisch orientierter Aufklärungsreformator spielt er jedoch keine Rolle. Als viel wichtiger erscheint die Tatsache, dass Strauß in Berlin an einem anderen Theater als der Schaubühne zu sehen ist. Diese Tatsache ist jeder Kritik eine eigene Betrachtung wert und macht schon stückunabhängig aus der D T - I n s z e n i e rung ein Ereignis zur Wiedervereinigung. »Wie sensationell ist die neue Selbstverständlichkeit?« 258 D i e Bewertungen der Inszenierungsleistung fallen dabei unterschiedlich aus. Interessanter als die häufig gestellte Frage, inwieweit D D R - g e p r ä g t e Schauspieler mit Sprache und Jargon von Strauß' West-Figuren zurecht k o m m e n , ist im hier behandelten Z u s a m m e n h a n g jedoch, dass durch Ü b e r n a h m e des B R D typischen Autors in den Spielplan des Deutschen Theaters in mehreren Kritiken auch dessen Profil thematisiert wird. N i c h t ohne W i t z erscheint dabei, dass ausgerechnet die W e s t - Z e i t u n g die Identität des Deutschen Theaters gefährdet sieht, während die O s t - Z e i t u n g vielmehr eine beruhigende Kontinuität ausmacht. M i t Bedauern stellt die »tageszeitung« fest, dass die D r a m a t u r g i e »mit M a c h t daran arbeitet, d e m H a u s ein westdeutsches Profil zu verpassen.« A b e r n o c h sei das »Deutsche Theater nicht verloren. Es muss sich nur an sich selbst erinnern.« 2 5 9 Entgegen der bevormundenden M a h n u n g , einer Ost-Identität treu zu bleiben, sieht der Kritiker der »Berliner Zeitung« gerade durch die deutsche Erstaufführung des vieldiskutierten Stückes der Tradition des Hauses R e c h n u n g getragen: »Das D e u t sche Theater ist jetzt also, was es immer war: das Deutsche Theater. Bundesweit ist es begriffen worden: Hier spielt die Musik.« 2 1 5 0
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Maja E. Gwalter: Abstrakte Stadt. In: Neue Zürcher Zeitung, 22.2.1994. " Ebd. 258 Franz Wille: Ein Ich, zwei Lieben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.1994. 259 Esther Slevogt: Jetzt stürzen beide. In: die tageszeitung, 22.2.1994. Dazu ist anzumerken, dass 6 der 13 in dieser Arbeit als Fallbeispiele besprochenen Stücke am Deutschen Theater Berlin liefen, vier davon in Uraufführung bzw. Deutscher Erstaufführung. Von einem unreflektierten Spielplan, der die westdeutsche Standardmischung imitiere, kann also keine Rede sein. 2Ausländerhass, Neonazitum, Not und Feigheit^ natürlich. 270
Die positiven Kritiken sehen gerade diese Gefahr der saturierten Pseudo-Erregung nicht gegeben. Dagegen werden vor allem zwei Argumente ins Feld geführt: zum einen die Art, in der Kroetz die Täter zeichnet, zum anderen die Verquickung aus artikulierter Gewaltablehnung und faktischer Gleichgültigkeit, wenn nicht insgeheimer Unterstützung. Daraus ergebe sich eine Polemik, deren Gegenstand in erster Linie eben nicht die abwesenden rechtsradikalen Täter sind, sondern die indifferente bürgerliche Gesellschaft, der auch jedes Theaterpublikum prinzipiell zuzurechnen ist. Daher sei der Text gerade nicht dazu angetan, der gegenseitigen Bestätigung des richtigen Bewusstseins zu dienen. Vielmehr verweise er in seiner Übertreibung darauf, wie die Aufweichung der Fundamente einer solidarisch-freiheitlichen Gesellschaft ohne Gegenwehr zugelassen werde. Mit Vorliebe führt Kroetz seine Figuren auf die schlüpfrigen Pfade der Sympathie. [...] Auf du und du mit Neonazis vom unteren sozialen Rand und bestens bekannt mit Mietern, Juristen, Lehrern und anderen netten Nachbarn, nimmt er den rechten Sumpf in drückende Umarmung. 1 7 '
Dass dabei die Qualität der einzelnen Szenen mitunter stark differiere, wird mehrfach erwähnt, aber zurecht nicht grundsätzlich gegen das Stück gewendet, sondern der Dramaturgie eines aufführenden Theaters als Aufgabe überantwortet. Diese aber haben in der Mehrzahl dankend abgelehnt. Ebenso wie Kroetz' »Ich bin das Volk« hat auch »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« 272 (1995) von Klaus Pohl (West) keine durchgehende Handlung und ist in viele autonome Szenen unterteilt. Diese Kleinszenen unterscheiden sich in ihrer Dramaturgie allerdings insofern deutlich von den Kroetzschen, als sie weder Handlungsmomente noch dialogische Struktur haben, wie die meisten Szenen aus »Ich bin das Volk«. Pohls Stück besteht aus einer Abfolge von Monologen, in denen Menschen verschiedener Regionen und unterschiedlicher Milieus »erzählen, wie die Wiedervereinigung und der Untergang der D D R ihr Leben verändert haben«.273 Die Entstehung des Textes hat einen dokumentarischen Hintergrund, der aber —
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Marion Löhndorf: Theater, politisch korrekt. In: Neue Zürcher Zeitung, 29.9.1994. Franz Wille: Rechts vor links? In: Theater heute, 1994, Heft 11, S . 1 1 - 1 3 , hier: S. 12. Klaus Pohl: Wartesaal Deutschland. Stimmenreich. Eine Studie über den Charakter der Deutschen. Hamburg 1995. Ebd., [Zu diesem Buch] o.S.
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anders als die Zeitungsartikel bei H o c h h u t h - im Stück nicht kenntlich gemacht wird. Pohl reiste »im Frühjahr 1994 im A u f t r a g des >Spiegel«< durch Deutschland und führte Interviews mit Schriftstellern, Bürgermeistern, Fußball-Fans, Angestellten, Politikern, Ärzten, Arbeitslosen, Prominenten wie Unbekannten, nachzulesen in einer dreiteiligen Reportage. Aus diesem Material [...] destillierte Pohl [...] >Wartesaal Deutschland^ 274 W a s aber heißt »destillieren« in diesem Fall? In der Theaterfassung werden die Sprecher mit ihrer Berufsbezeichnung statt ihres N a m e n s gekennzeichnet, so dass durch A b l e g u n g der N a m e n die Realpersonen in den Status v o n Kunstfiguren überfuhrt werden. In kurzen Vortexten wird das äußere Erscheinungsbild beschrieben u n d auf sprachliche Besonderheiten, vor allem Dialekte, hingewiesen, dann folgt die Sprecheraussage. A u f jede weitere Erläuterung wie Alter oder H e r k u n f t , aber auch vorgelegte Fragestellungen, wird verzichtet. Informationen dieser Art ergeben sich eventuell implizit aus der Stellungnahme des Sprechers oder sie bleiben aus. S o ergibt sich der Eindruck einer kommentarlosen, hart geschnittenen Abfolge von persönlichen Berichten. O b w o h l des jeweiligen Urhebernamens beraubt, bleiben die Aussagen immer noch so charakteristisch, dass sie nicht unabhängig von einem bestimmten Individuum gedacht werden können. Dies liegt vor allem w o h l an der bewusst subjektiven Perspektive, aus der erzählt wird, und mit der ein starkes autobiographisches M o m e n t in die kurzen Berichte k o m m t . D a d u r c h sind weder T e i l e noch Aussagen als Ganzes von ihren Sprechern zu lösen und untereinander austauschbar. Bei aller Individualität der Sprecher ist d e n n o c h ersichtlich, dass es sich in »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« u m »typische Aussagen, u m exemplarische H a l t u n g e n « 2 7 5 handeln soll. Diesen A n s p r u c h macht schon der Untertitel des Stückes deutlich: »Eine Studie über den Charakter der Deutschen«. Dass im Rahmen dieser Studie Pohl darauf »verzichtet [...], seinen Senf hinzuzugeben« und »die M e n s c h e n unkommentiert zu W o r t kommen« lasse, ist aber nur bedingt richtig. Z w a r beschränkt er »sich auf die Auswahl, Montage, Strukturierung des authentischen Materials«, 2 7 6 aber eben hierin, vor allem in der Auswahl, liegt natürlich eine klare K o m m e n t a r f u n k t i o n nicht die Einzelaussagen, aber die Studie als G a n zes betreffend. Daher erscheint zunächst, auch wenn das Gesamtmaterial, aus dem Pohl seine Auswahl getroffen hat, nicht vorliegt, eine quantitative Auswertung des vorgelegten Materials interessant. Insgesamt sind es 32 Berichte, die präsentiert werden. D a b e i lässt sich den Berichten nur in sechs Fällen nicht entnehmen, woher ihr Verfasser stammt. In 15 Fällen stammen die Verfasser eindeutig aus der D D R und haben die W e n d e auch dort erlebt, in f ü n f Fällen stammen sie aus der D D R , haben diese aber schon vor
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Michael Töteberg: Klaus Pohl. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München, Stand 6/2000, S.9. 27 ' Ebd. 276 Ebd. 158
dem Mauerfall verlassen. Nur in sechs Fällen handelt es sich um Bürger, die in der B R D aufgewachsen sind. Von diesen sechs machen sich vier ausschließlich darüber Gedanken, was sich durch die Wiedervereinigung für die Ostdeutschen geändert hat, ein Kommentar ist ost-west-unspezifisch. Nur in einem von 32 Berichten wird die Wiedervereinigung auch als einschneidendes Ereignis für die B R D beschrieben, und das nicht eben in der differenziertesten Form: » Obdachloser: Wie die Wiedervereinigung net da war hab ich det Gefühl es lief irgends viel besser so, [...] jetzt ist es totales - Konfuzius ist da!« (S. I22f.) Die Studie über den deutschen Nationalcharakter ist also auffallend ostlastig und der einzige auf die Alten Bundesländer bezogene Kommentar zur Wiedervereinigung ist deutlich negativ. Diese pessimistische Einschätzung ist keine Ausnahme. Auch wenn die Lebenssituation in den anderen Fällen nicht so desolat ist wie die des arbeits- und obdachlosen Bonner Dachdeckers, werden die Folgen der Wiedervereinigung in der Mehrzahl der Monologe sehr skeptisch betrachtet. Ohne alle 32 Monologe im Einzelnen wiederzugeben, sollen im Folgenden zumindest die Tendenzen vorgestellt werden, die sich aus dem Textganzen herausfiltern lassen. Um mit der kleinsten Gruppe zu beginnen, sind natürlich auch einige Stimmen zu verzeichnen, die den Vereinigungsprozess positiv bewerten. Darunter befindet sich nur eine aus dem Westen, ein Versicherungskaufmann, der nach der Wende eine Filiale seines Konzerns in Plauen aufgebaut hat. Dass diese nun von Ortsansässigen geleitet wird, ist sein positives Fazit. Davon abgesehen klärt sich durch seinen Vortrag vor allem die Frage auf, woher der Begriff des »Besserwessis« rührt. Eine stank immer nach Schweiß. Öfter duschen — nee! [...] Ich war parfümiert und so weiter. Und darum habe ich den Leuten in Plauen klargemacht: was ich mache, das kann jeder machen. Wenn er sich entsprechend gibt. (S. 35f.)
Die Wiedervereinigung scheint ihm insgesamt erfolgreich verlaufen zu sein, wobei er den Erfolg auch noch näher zu definieren weiß: »Das war am Anfang das! Aber jetzt ist es mittlerweile so wie hier. Jetzt hat sich das alles schon eingeschliffen. Angepasst. Angepasst!« (S. 38) Die von Ostdeutschen geäußerte Zustimmung ist entweder rein emotionaler Natur oder bezieht sich auf den Freiheitsgewinn. Neben der Reisefreiheit wird hier auch der Zugewinn an geistiger Freiheit ins Feld geführt. »Professor: Jetzt kannste Dinge denken die du vorher nicht denken konntest! Wieviele Ideen sind an diesem Institut kaputt gegangen!« (S. 93) Auch wenn damit die erste Euphorie beschrieben ist, der eine große Verunsicherung auch in beruflicher Hinsicht folgte, zieht er ein positives Fazit. »Es hat zumindest gereicht [...] dafiir dass ich also arbeiten kann. Ich kann sagen was ich gemacht habe und ich kann sagen wo ich ängstlich war. Ich kann wieder atmen.« (S. 94) Diese neue gedankliche Freiheit wird unter anderen Vorzeichen sogar im Zusammenhang einer insgesamt kritischen Einschätzung der Wiedervereinigung geäußert. Der jetzige Lokalreporter war einst ranghoher SED-Funktionär. 2 7 7 Bei
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Für den Leser des Stückes ist dabei durchaus zu erahnen, was durch die »Spiegel«-Repor159
partiell kritischer Distanz zur D D R begrüßt er doch, dass »die Idealisierung der Einheit« (S. 102) Risse bekomme. Dessen ungeachtet beschreibt auch er die Konfrontation mit der neuen Gesellschaft als intellektuelle Stimulation. Denn hab ick anjefangen zu lesen [...] was ick mühselig jetzt anfing zu begreifen det haben die also schon vor 30 Jahren [...] formuliert [...] wie sone Erlöserideologie Menschen vergewaltigen kann. (S.108)
Solche gemischten Einschätzungen sind mehrfach anzutreffen, insgesamt jedoch erstaunlich selten, bei weniger als einem Viertel der Interviews. Die gemischte Einschätzung kann sich aus einer Differenzierung zwischen der persönlichen und der allgemeinen Lage ergeben, wobei die persönliche Situation in der Regel besser eingeschätzt wird als die allgemeine. Die durchmischte Beurteilung kann aber auch aus einer durchwachsenen Einschätzung beider Systeme herrühren. »Putzfrau: Es hat nich olles bloß geglänzt bei uns. Nein! [..] Und wies jetzt nicht - glänzt auch nich alles!« Schließlich ist noch die kritische Bewertung nicht der Wiedervereinigung an sich, aber der Verfahrensweise zu verzeichnen. Pressesprecher: Trotzdem muss man fragen ob das wirklich richtig ist, dass wir [...] den Menschen etwas übergestülpt haben ein anderes System. Es ist so als wenn die Japaner jetzt in Westdeutschland einmarschieren und würden sagen [...] Ab morgen japanisch! (S.76)
Bezüglich der negativen Einschätzungen lässt sich eine Grundunterscheidung vornehmen. Neben der großen Gruppe der Enttäuschten finden sich Einzelne, die eine kategorische Ablehnung der Wiedervereinigung vorbringen. Diese ablehnende Haltung lässt sich unabhängig vom biographischen Hintergrund feststellen, natürlich mit jeweils unterschiedlicher Begründung. Neben einem ehemaligem SEDBürgermeister wird die kategorische Ablehnung von einer noch lange vor der Wende aus der D D R Ausgesiedelten sowie einem in der B R D Aufgewachsenen vorgetragen. Die Gruppe der Enttäuschten lässt sich noch weiter untergliedern, entsprechend der verschiedenen Enttäuschungsgründe. Als diese werden genannt das negative Image der Ostdeutschen, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, Rechtsradikalismus und soziale Kälte, negative Erfahrungen mit westlichen Geschäftemachern, aber auch die Enttäuschung darüber, dass ein erhoffter gesellschaftlicher Wandel ausgeblieben sei bzw. ein erwarteter Aufschwung. Allein die weiter oben dargestellte Auswahl der Sprecher, verstärkt noch durch die inhaltliche Ausrichtung der wenigen Westfiguren, macht eine Grundannahme deutlich, die »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« mit der Mehrheit aller Stü-
tage zu verifizieren ist: dass diese Figur auf der Stellungnahme von Günter Schabowski beruht. »Von wegn: Mir ist der Zettel zugesteckt worden an dem Abend: >Günter. Mach die Grenzen uffi< und so weiter alles Unfug [...] Ich bin einer von den dreien jewesen die Honecker abjesetzt haben.« Pohl: Wartesaal Deutschland. Stimmenreich, S.103.
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cke zur Wiedervereinigung teilt. Neben Kroetz' »Ich bin das Volk« und Strauß' »Gleichgewicht«, ist nur noch Harald Muellers »Doppeldeutsch« als Beispiel dafür anzuführen, dass die Wiedervereinigung auch unter dem Aspekt der Veränderungen für die B R D betrachtet wird. Noch ein weiterer Punkt ist auffällig. In etwa einem Drittel der Monologe wird der Hauptteil von Schilderungen des Lebens in der D D R ausgemacht. Wie zur Begründung für die zustimmende oder ablehnende Haltung zur Wiedervereinigung, wird in ausführlichen Berichten die eigene Sozialisation erläutert. Neben der einseitigen Betrachtung der Wiedervereinigung als Ost-Phänomen, spiegelt sich noch eine andere Beobachtung, die bezüglich der untersuchten Stücke insgesamt gemacht wurde, in »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« im Kleinen wider. Als positives Ereignis wurde der gesellschaftliche Umbruch in kaum einem Stück geschildert. Vielmehr stellte sich die Wiedervereinigung in erster Linie als Problemfall dar, geprägt von gegenseitigem Unverständnis, Orientierungslosigkeit, Ausbeutung und Neo-Nationalismus. Somit bleibt zwar weiter offen, ob die von Pohl ausgewählten und arrangierten »monologischen Selbstdarstellungen« von »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« tatsächlich »präzise und subtil deutsche Befindlichkeiten fünf Jahre nach der Vereinigung [dokumentieren]« 278 — auf jeden Fall aber treffen sie die Befindlichkeit deutscher Theatermacher sehr exakt. Dies drückt sich auch in der großen Resonanz aus. Zwar kann »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« an den übergroßen Erfolg von »Karate-Billi kehrt zurück« nicht anknüpfen, findet dafür aber im Gegensatz zum Stasi-Stück Interesse in Alten wie Neuen Bundesländern. Im Gegensatz zu »Karate-Billi kehrt zurück« wurde »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« gerade in den Neuen Bundesländern viel gespielt. Acht der bundesweit 14 Inszenierungen fanden an ostdeutschen Theatern statt. Zusätzlich ist zu beobachten, dass darunter mit dem Deutschen Theater Berlin, Leipzig und Dresden die überregional am meisten beachteten ostdeutschen Bühnen vertreten sind, während in den Alten Ländern aus der vergleichbaren Kategorie einzig das Düsseldorfer Schauspielhaus zu verzeichnen ist. Gemessen an der hohen Inszenierungszahl erscheinen gut 170 Aufführungen und gut 37.000 Zuschauer als eher gering. (Zum Vergleich »Gleichgewicht«: 9 Inszenierungen, 154 Aufführungen, knapp 63.000 Zuschauer.) Dies verweist zum einen darauf, dass »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« eher auf den kleinen Bühnen gespielt wurde. Die Ausnahmen sind hier das Theater Heilbronn und das Ernst-DeutschTheater Hamburg, ansonsten finden sich durchgängig Angaben wie Kleines Haus, Kammerspiele oder Foyer. Damit ist sicherlich in erster Linie der Struktur des Stückes, der Monologabfolge ohne Einbettung in eine Spielsituation, Rechnung getragen. (In Dresden etwa wurde auf eine szenische Einrichtung ganz verzichtet und »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« als Lesung gegeben.) Z u m anderen fällt aber auf, dass diese Inszenierungen auf den kleinen Bühnen auch nicht sehr lange laufen. Insgesamt sind es nur fünf Inszenierungen, die auf mehr als 10 Auf-
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f ü h r u n g e n in einer Spielzeit k o m m e n . D i e Mehrzahl bewegt sich u m 5, 6 A u f f ü h rungen herum, wobei aus der Ü b e r n a h m e in die nächste Spielzeit ersichtlich ist, dass die Inszenierung nicht für ein schnelles Abspielen konzipiert war. M e h r f a c h w u r d e das Stück trotz magerer Zuschauerresonanz im Spielplan gehalten. 2 7 9 Will man nicht allein dispositionspraktische G r ü n d e fur die Ubernahmen verantwortlich machen, so lässt sich vermuten, dass »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« von den Dramaturgen wesentlich mehr geschätzt wurde als v o m Publikum. D i e Kritikermeinungen zur U r a u f f ü h r u n g am Deutschen Theater Berlin, die Pohl selber inszenierte (28.10.1995), schließen sich tendenziell eher der hypothetischen Dramaturgenhaltung an. D i e wenigen durchweg negativen Kritiken lehnen in der Regel die dokumentarische Form ab und vermissen eine künstlerische Uberhöhung. D i e S u m m i e r u n g von Einzelaussagen ergebe kein Ganzes, wird moniert, so dass »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« durch seine F o r m an der selbstgestellten Aufgabe einer »Charakterstudie« des wiedervereinigten Deutschlands scheitere. »Was wir zu hören bekommen sind O - T ö n e , [...] das Problem ist nur, dass Pohl über die V e r d o p p l u n g der Klischees nicht hinauskommt«, so dass insgesamt die Erkenntnisse »so neu wie Zeitungsartikel der letzten f ü n f Jahre« 2 8 0 seien. In diesem Zusammenhang wird mehrfach beschrieben, dass die Enttäuschung der Rezensenten sich erst i m L a u f e der A u f f ü h r u n g , gewissermaßen als E r m ü d u n g s e r s c h e i n u n g entwickelt habe. Anfänglich noch von den einzelnen Aussagen fasziniert, wird die ungebrochene Wiederholung des Prinzips nach einer Weile dem Autor als Ausweichen v o r e i n e m f o r m e n d e n , interpretierenden Z u g r i f f angekreidet u n d als f a d e m p f u n d e n . »Der C h a r m e von Zufallsbekanntschaften liegt im Flüchtigen. Das Theater verlangt mehr.« 2 8 1 Zusätzlich werden in dieser Kritik, was eine Ausnahmen ist, auch inhaltliche Z w e i f e l angemeldet, i n d e m die A u s w a h l der Aussagen als gestalterischer Z u g r i f f des Autors thematisiert wird. »Pohls Panoptikum ist stark ostlastig. S i n d die so kurios? I m Wartesaal? Hätten die Wessis derart wenig mitzuteilen?« 282 W i e in den negativen, so wird auch in den positiven Kritiken die gestalterische E i n f l u s s n a h m e Pohls auf sein Material nicht i m m e r konsequent reflektiert. I m Gegenteil gründet sich die Begeisterung einiger Kritiken gerade auf die vermeintlich ungefilterte Echtheit der Stellungnahmen. »Lange nicht wurde aktuell auf der Bühne des D T V o l k e s S t i m m e so glaubwürdig, weil so authentisch geäußert.« 2 8 3 D i e Mehrzahl der zustimmenden Besprechungen erkennt aber das artifizielle M o m e n t der Auswahl, Anordnung, Kürzung an, das »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« trotz dokumentarischer S t o f f s a m m l u n g prägt. Dabei wird mehrfach als inszenato-
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Zwei Beispiele: Schauspiel Leipzig, Horch und Guck: 1995/96, 5 Auff./i48 Züsch., 1996/97: 5 AufF./8i Züsch.; Vogtland Theater Plauen, Kleine Bühne 1996/97: 4 Auff./i03 Züsch., 1997/98: 2 Auff./98 Züsch. 280 p e t e r Laudenbach: Schlafsaal Deutschland. In: Berliner Zeitung, 30.10.1995. 281 Irene Bazinger: Senfgeber der Einheit. In: Junge Welt, 30.10.1995. 281 Ebd. 283 Gerhard Ebert: Emigriert, ohne auszuwandern. In: Neues Deutschland, 30.10.1995. 162
risch stimmige Unterstreichung der Fiktionalität vermerkt, dass bis auf den Schlussmonolog alle Aussagen, unabhängig vom Geschlecht der Rolle, von Schauspielerinnen dargestellt w e r d e n . S c h o n m i t diesem einfachen V e r f r e m d u n g s e f f e k t w i r d der Unterschied zur Fernsehdokumentation deutlich gemacht. Dementsprechend wird das Stück durchaus als gelungene D r a m a t i k w a h r g e n o m m e n , die präzise und feinfühlige den mentalen Zustand des wiedervereinigten Deutschland beschreibt. T r o t z Kennzeichnung als »bösartige[r] Hassliebesdienst«, der mit seinen Biographien und Anekdoten zur D D R »den Grundstein f ü r eine neue deutsche Legende« lege, w i r d »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« im »Spiegel« von Franz Wille sogar als »das wichtigste Stück über unser Land und seine Leute seit der V e r e i n i g u n g « 1 8 4 gewertet. N u r das Publikum sah das wohl anders.
4.2.7 Die Wiedervereinigung als Nebenmotiv: »Berlin Bertie« (Howard Brenton) N e b e n all den bisher besprochenen, und auch den übrigen in der Statistik erfassten und dann nicht weiter erwähnten Stücken, gibt es noch eine ganze Reihe v o n Theatertexten, in denen die Wiedervereinigung ebenfalls auftaucht, nicht aber das zentrale T h e m a darstellt. 285 A u f g r u n d dieser Einschätzung, dass die Wiedervereinigung hier nur einen Nebenaspekt darstellt, wurden sie in die Statistik in Kapitel 3 nicht aufgenommen. Eine Ausnahme von dieser Regel wurde allerdings im Fall von H o w a r d Brentons »Berlin-Bertie« gemacht. 2 8 6 Eigentlich findet in diesem Stück die Wiedervereinigung eher als Zeitkolorit, denn als inhaltliches M o t i v V e r w e n d u n g . A u f nicht-austauschbare Weise ist S ü d - L o n d o n Handlungsort eines Stückes »zur wirtschaftlichen und psychologischen, mentalen Rezession«, 2 8 7 uraufgeführt a m Royal Court Theatre London. Es ist jedoch davon auszugehen, dass ein Nebenmotiv wie der Mauerfall durchaus zum Hauptaspekt werden kann, wenn das Stück auf deutschen Bühnen inszeniert wird, ja, dass das Interesse deutscher Bühnen am Stück sich insgesamt eher auf den fremden Blick auf die Wiedervereinigung gründet, denn auf eine ausgeprägte Neugier auf die sozialen Probleme Süd-Londons. Der Plot des Stückes besteht darin, dass im Frühjahr 1990 Rosa - Engländerin, streng gläubige Christin, Psychiaterin u n d mit einem ostdeutschen Pastor u n d
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Franz Wille: Vorhang auf für Vorurteile. In: Der Spiegel, 30.10.1995. Als Beispiele seien genannt: Rainald Goetz: Festung. In: Ders.: Festung. Frankfurt/Main 1993, S. 95—243, Botho Strauß: Die Ahnlichen. In: Spectaculum, Bd. 69, Frankfurt/Main, S. 157-223, Kerstin Specht: Mond auf dem Rücken. In: Dies.: Carceri. Mond auf dem Rücken [u.a.] Frankfurt/Main 1996, S. 61—107, Kerstin Specht: Die Froschkönigin. In: Dies.: Königinnendramen. Frankfurt/Main 1998, S.7—8z, Ulrich Zaum: Die müde Jagd. Unverö. Verlagsmanuskript (S. Fischer Verlag) o.J. und Thomas Braschs Ubersetzung: LIEBE M A C H T T O D oder Das Spiel von Romeo und Julia nach William Shakespeare. In: Spectaculum, Bd. 56, Frankfurt/Main 1993, S.7-89. Howard Brenton: Berlin-Bertie. Übersetzung Michael Eberth. In: Theater heute, 1993, Heft 4, S. 52-64. Howard Brenton in: Michael Merschmeier, Franz Wille: Vater Shakespeare, Bruder Brecht. [Gespräch mit Howard Brenton] In: Theater heute, 1993, Heft 4, S. 42-46. 163
Mitglied der Bürgerrechtsbewegung verheiratet — aus Ost-Berlin nach London zurückkehrt. Dort trifft sie ihre Schwester Alice in desolatem Zustand an. Die Sozialarbeiterin ist drogenabhängig und lebt in totaler Verwahrlosung. Bei ihr sind Sandy, ihr zehn Jahre jüngerer Liebhaber, der so verzweifelt wie vergeblich versucht, eine bürgerliche Ordnung im Chaos zu behaupten, und Joanne, eine tripperkranke Ausreißerin, die vom Leben als Pantomime-Straßenkünstlerin mit ihrem holländischen Zufallsfreund träumt. Beide Schwestern, Sozialarbeiterin wie aktive Christin, sind in gleichem Maße frustriert und desillusioniert. Alice ist seit zwei Jahren vom Dienst suspendiert und wird von Gedanken an ein zu Tode misshandeltes Kind einer von ihr betreuten Familie verfolgt, Rosa hat Ost-Berlin verlassen, nachdem sie feststellen musste, dass ihr Ehemann auf einer Liste von Pastoren in StasiDiensten steht. »Rosa: Gibt's etwas Jämmerlicheres als uns beide? Wir haben uns eingebildet, wir könnten die Welt wieder ins Lot bringen. [...] Wir haben total versagt.« (S. 62) Das Stück spielt an den drei Tagen zu Ostern und am Ende steht in der Tat eine Art Auferstehung. Die junge Joanne, eigenwillige Träumerin, reißt die Schwestern aus ihrer Depression und überredet sie zum Ausbruch. Im letzten Bild proben sie zu dritt eine Pantomime-Flugnummer ein. Vor englischem Publikum ergibt sich daraus sicherlich kein Stück über die deutsche Einheit, wie im Text selbstironisch deutlich gemacht wird: »Rosa: gibt Alice das Betonstück. [...] Es ist ein Stück von der Mauer. Sandy: Von was für ner Mauer?« (S. 57) Eine Figur wurde in der Zusammenfassung allerdings auch unterschlagen, der titelgebende Berlin-Bertie. Er ist der Stasi-Mann mit dem Decknamen »Bertolt Brecht«, der die Überwachung von Rosa und ihrem Mann in der D D R geleitet hat. Seine Rolle in der Londoner Handlung ist marginal. Er taucht auf, weil er Rosa überreden will, ihn zu heiraten, sie lehnt ab. Stattdessen spannt Bertie, der mittlerweile in Polen hergestellte Raubkopien von Videospielen vertreibt, Sandy für seine Geschäfte ein. Quasi als Revanche für den von Rosa empfangenen Korb macht Bertie ihr klar, dass der Name ihres Mannes auf der Stasi-Liste sowohl als Beweis für dessen Zuarbeit für die Stasi als auch als gezielte Denunziation seiner Person durch die Stasi deutbar ist. Rosa ist zwar über ihr eigenes Misstrauen gegen den Ehemann bestürzt, an ihrem Verhalten ändert die Mitteilung aber nichts, sie versucht nicht, Kontakt mit ihrem deutschen Mann aufzunehmen, sondern sucht die Befreiung gemeinsam mit den anderen englischen Frauen. Nun wird aber die linear erzählte Geschichte von »Berlin-Bertie« durch zwei epische Stilmittel gebrochen. Zum einen gibt es fünf »Aparts«, in denen jeweils eine Figur aus der Handlung aussteigt und ihre geheimen Sehnsüchte artikuliert. Zum anderen besteht die zweite Hälfte des zweiten Aktes aus einer Rückblende, in der Rosa sich an ihre frühere Begegnung mit Bertie erinnert. Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der D D R , war er in ihre Praxis gekommen, hatte sie über die Bespitzelung und die (eventuell nur vermeintliche) Stasi-Mitarbeit ihres Mannes aufgeklärt. Daneben aber hat er ihr sein Geheimdienstwissen offenbart, dass die oppositionellen Kräfte der DDR-Führung überlegen seien und vor allem verlangt, ihn als Patienten anzunehmen. Zweierlei hat Bertie dabei unterstellt. Erstens, dass sie von der oppositionellen Bürgerrechtsbewegung insgeheim enttäuscht sei - »Sie 164
verdächtigen sie moralisch u n d sie verdächtigen sie intellektuell« (S. 59) — u n d zweitens, dass sie und Bertie im Gegensatz dazu einen gemeinsamen Realitätssinn teilten. »Wir wissen beide [...:] N u r w e r bereit ist, sich f ü r seine schmutzigen Gedanken auch die H ä n d e schmutzig zu machen, wird wirklich etwas in Bewegung setzen.« (S.59) Aus beidem folgert er eine große Täter-Opfer-Affinität zwischen sich und Rosa. »Was wollen sie machen, wenn der große K a m p f gegen den Sozialismus ausgekämpft ist? Sie werden sich allein gelassen und nutzlos fühlen. G e n a u s o wie ich.« (S. 59) Diese Rückblende bietet also einer deutschen A u f f ü h r u n g reichlich A n k n ü p f u n g s punkte zu einer Reflexion über die Frage, inwieweit sich das Bestreben der D D R Bürgerrechtsbewegung in der Wiedervereinigung erfüllt hat. Bertie hat dazu jedenfalls eine klare M e i n u n g : »Eure >Reinen im Herzen< werden im wiedervereinigten Deutschland keine Rolle spielen.« (S. 59) W e n n er im Anschluss auch noch rechtsextreme Kräfte als Bestandteil der Oppositionsbewegung benennt u n d behauptet, das »neue, demokratische Deutschland« werde »verseucht sein, bevor es begonnen hat« (S.59), lässt sich abschließend nur feststellen, dass der f r e m d e Blick auf die Wiedervereinigung keineswegs positiver ausfällt als die Beurteilung durch deutsche Dramatiker. Ein Jahr nach seiner U r a u f f ü h r u n g am Royal C o u r t Theatre in L o n d o n wurde »Berlin-Bertie« in Deutschland am Deutschen Theater Berlin v o n Sewan Latchinian inszeniert (10.3.1993). D a m i t stellt es sich insofern als Bestandteil eines u m f a n g reicheren Austauschprogramms dar, als umgekehrt am Royal C o u r t sowohl »KarateBilli kehrt zurück« als auch »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich« v o n Klaus Pohl liefen. M i t »Karate-Billi kehrt zurück« verbindet »Berlin-Bertie« der Umstand, dass man sich außer am Deutschen Theater Berlin in ostdeutschen Theatern f ü r das Stück nicht interessierte. Allerdings kann Brentons Arbeit auch darüber hinaus bei weitem nicht den gleichen E r f o l g erzielen wie Pohls parallel noch laufendes Stück. N a c h mäßig erfolgreichen Inszenierungen in Kassel, L ü b e c k , D o r t m u n d und H a m b u r g (von denen, wie auch die Berliner, keine in die folgende Spielzeit übernommen wird), verschwindet das Stück schon nach zwei Spielzeiten wieder aus den Spielplänen. Die Erklärung, dem Stück sei a u f g r u n d seiner Machart »Naserümpfen [...] in deutschen Feuilleton- u n d D r a m a t u r g e n b ü r o s gewiss«, 2 8 8 erweist sich aber als vorschnell. D e r Erfolg von »Karate-Billi kehrt zurück« spricht gegen diese Unterstellung ebenso, wie die Berichterstattung zu »Berlin-Bertie«. D i e M e i n u n g , das deutsche Feuilleton begegne a u f g r u n d versnobten K u n s t a n s p r u c h s realistischer Zeitdramatik, die auf Plot und Spannung setzt, prinzipiell mit A b l e h n u n g , stellt sich selbst als Vorurteil heraus. Z w a r sind Kritiken, die »Berlin-Bertie« mit dem V o r w u r f der Effekthascherei ablehnen, durchaus zu finden. »Ohnehin hat w o h l jeder im Parkett gemerkt, dass dieser >Berlin Bertie< reine Kolportage ist und nicht
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Andreas Müry: Ein Stasi-Offizier namens Brecht. In: Die Woche, 11.3.1993. 165
zur A u f a r b e i t u n g taugt.« 2 8 9 Besprechungen dieser A r t sind aber keineswegs die Mehrzahl. Vielmehr wurde für »Berlin-Bertie« mit Stückabdruck, Autoren-Interview u n d positiver Kritik (des Stückes sowie der Lübecker Inszenierung) in »Theater h e u t e « 2 9 0 sogar beneidenswerte publizistische S c h ü t z e n h i l f e geleistet. Positive Besprechungen im Anschluss an die U r a u f f ü h r u n g finden sich auch in anderen angeblich meinungsmachenden Feuilletons, wie dem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Brenton dichtet nicht, er packt zu. Er entwickelt seine Stoffe nicht, er schlachtet sie aus. [...] Wenn er Glück hat, trifft er die Verhältnisse mitten in die Schnauze. Bei >Berlin Bertie< [...] trifft er die Verhältnisse mitten in ihr deutsches Herz. 2 ' 1 Das kolportagehafte wird hier gerade als Qualität des schnellen Z u g r i f f s auf ein aktuelles T h e m a gewürdigt. In diesem Zusammenhang wird etwa ein Dialog gelobt, weil er »zum Besten gehört, was an schlechten deutschen politisch-existentialistischen Dialogen in der letzten Zeit zu hören war« und umgekehrt der Inszenierung angerechnet, dass sie »Kitsch, Kolportage, schamlose finale Szenenbastelei [...] so kühl, so nüchtern zur Seite weg[spielt], so apart, aber mit so viel Interesse an den verlorenen Figuren«. 2 9 2 Folglich scheint die Anerkennung keineswegs in einer Rezeptionshaltung begründet, die einem naiven Abbildungsrealismus verhaftet wäre, sondern eher auf der Wertschätzung einer Trash-Asthetik zu beruhen, durch deren Distanzierungsleistung der U m g a n g mit der T h e m a t i k erst ermöglicht wird. Als reizvoll u n d tragend w u r d e dieses Prinzip aber nicht v o n allen Kritiken e m p f u n d e n . Nachvollziehbare G r ü n d e für den mäßigen E r f o l g von »Berlin-Bertie« geben wohl am ehesten jene Kritiken, die das Stück nicht primär aufgrund seiner formalen Gestaltung ablehnen, sondern kritisieren, der U r a u f f ü h r u n g gelinge es trotz aller B e m ü h e n um eine Akzentverschiebung nicht, Täter-Opfer-Affinität und Stasi-Problematik glaubhaft als thematisches Z e n t r u m zu etablieren. G u t die Hälfte der Kritiken sah diese Adaptionsleistung als u n g e n ü g e n d u n d die Inszenierung damit als thematische Mogelpackung an. Vorsicht also, keine falschen Erwartungen! >Berlin Bertie< ist nicht etwa der Text, der die Wende in der D D R mit auswärtigen Augen beschreibt, auch wenn sich Regisseur Sewan Latchinian [...] um die in Berlin angesiedelte kleine Episode selbstverständlich mit besonderer Sorgfalt kümmert. Im Vordergrund bleibt das versyphte Milieu von South London. 29 '
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Carla Rhode: »Berlin BertieRäubernUngleichzeitigkeiten< zwischen den >alten< und >neuen< Bundesländern skizzieren. So sollte dieser etwas 213
vielmehr schon mit den frühesten Stücken wie Pohls »Karate-Billi kehrt zurück« ein. Ansätze zu einer nationalen Neudefinition scheinen eher Teil eines Diskurses zu sein, der außerhalb des Theaters stattfindet. 35 Auf den Bühnen selbst bleibt es dagegen bei Christian Meiers D i k t u m von der »Nation, die keine sein will«. 36 Meiers Buchtitel ist dabei als Kennzeichnung eines Defizits zu verstehen. Nach seiner Ansicht kann der »Prozess der Integration« nicht gelingen, wenn nicht an zentralen Stellen des allgemeinen Bewusstseins verankert wird, dass es eben die Nation als Solidar- und Verantwortungsgemeinschaft neu zu bilden gilt. M a n muss auch das wollen, damit genügend Antrieb da ist. 37
Die Theater allerdings verweigerten sich einer entsprechenden Funktion als Ankerpunkte. Allenfalls ex negativo schaffen sie Antrieb, indem sie durch den gesellschaftlichen Wandel entstandene Mängel ins Blickfeld rücken. Das muss nicht, kann aber durchaus in eine Integrationsleistung m ü n d e n — nur spielt dabei eben das Konzept der »Nation« keine zentrale Rolle m e h r . ' 8 Was dabei allerdings auch weitgehend ausbleibt, ist die Ausweitung auf eine europäische Perspektive, in der die Wiedervereinigung in Zusammenhang gebracht wird mit dem umfassenden Phänomen des Ende des Kalten Krieges (Volker Brauns »Böhmen am Meer« stellt hier eine Ausnahme dar). Als identitätsstiftende Instanz, wie traditionell gefordert, scheint Theater keine Rolle mehr spielen zu wollen. In der Tat ist es für eine derartige Rolle mittlerweile wohl auch von zu marginaler Bedeutung und in der Breitenwirkung von anderen Medien verdrängt. Seine Rolle als Reflexionsforum aber hat es durchaus nicht aufgegeben. In dieser Funktion untersuchen einige der erfassten Stücke und Inszenierungen mit unterschiedlichen Ansatzpunkten die Gesellschaft, der sie zugehören, auf ihre Defizite. Ein grundsätzliches Alternativkonzept bieten sie in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht an, was sicherlich Ergebnis der mehrfach diskutierten grundsätzlichen Skepsis gegenüber umfassenden Erklärungsmodellen ist. Dieser inhaltliche Verzicht auf ein verbindliches weltanschauliches Modell, sei es auf die »Utopie« — die nur in Form des
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sperrige aber zutreffende Begriff der >Ungleichzeitigkeiten< zunächst auch vor den >Mentalitätswandel< in den Titel unseres Bandes rücken.« Ebd., S.8. Siehe Michael Braun: Günter Grass' Rückkehr zu Herders >Kulturnation< im Kontrast zu Martin Walser und Günter de Bruyn. Essays und Reden zur Einheit. In: Wehdeking: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit, S. 9 7 - 1 1 0 . Christian Meier: Die Nation, die keine sein will. München 1991. Ebd. S. 45. Dabei ist zu beachten, dass Meier mit einem ausgesprochen differenzierten, historischen Begriff der Nation operiert, der entsprechende Wandlungen berücksichtigt. Sein Ansatz zielt auf eine Integrationsleistung nach innen wie nach außen, die er sich von der Nationsbildung erhofft. Er sollte keinesfalls missverstanden werden als Rückfall in eine aggressiv-ausgrenzende Selbstdefinition als Nation. Allenfalls Klaus Pohls »Wartesaal Deutschland. Stimmenreich.« stellt einen entsprechenden Bestimmungsversuch dar. D i e unkommentierte Reihung von Einschätzungen und Selbstbeschreibungen bestätigt aber eher, dass der Dramaturgie nicht ein einigendes Konzept zugrunde liegt, sondern gerade in der Heterogenität der Reiz gesehen wird.
Utopieverlustes wie in Castorfs »Räuber von Schiller« oder in Brauns »Iphigenie in Freiheit« auftaucht —, die »Nation« oder sonstige Bezugspunkte hin orientiert, drückt sich formal im dargestellten Pluralismus, im Erproben verschiedener Theateransätze aus. Insgesamt fügt sich das Interesse an der Wiedervereinigung in eine ab der zweiten Hälfte des Jahrzehntes deutlich zu beobachtende allgemeine Repolitisierung des Theaters, die natürlich einen entsprechenden Vorlauf hat. Innere Phänomene wie verstärkt auftretende Fremdenfeindlichkeit und stetig zunehmende Massenarbeitslosigkeit, aber auch äußere Phänomene wie der permanente Balkankonflikt inklusive der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg und jüngst der von den U S A geführte Irak-Krieg stellen allesamt Probleme dar, die vom Theater thematisiert wurden: »Das Politische kehrt zurück — es weiß nur noch nicht, wie.« 39 Dass der im Theater sich verstärkt entwickelnde politische Diskurs jedoch über sein Nischendasein hinaus auf Resonanz im gesamtgesellschaftlichen Raum trifft und auch Impulse im übergeordneten politischen Diskurs setzt, ist momentan allerdings nicht abzusehen.
Frauke Meyer-Gosau: Das Politische kehrt zurück — es weiß nur noch nicht, wie. Kleiner R u n d f l u g über zeitgenössische dramatische Versuche, gesellschaftliches U n g l ü c k zu beschreiben. In: Theater heute, 2001, H e f t io, S. 4 2 - 5 2 . 215
7· Anhang
Erklärung: W e n n im Folgenden von »allen statistisch erfassten Stücken zur Wiedervereinigung« o.a. die Rede ist, so meint dies alle 32 f ü r vorliegende Arbeit erfassten Stücke, nicht aber alle zum T h e m a geschriebenen und von der Werkstatistik des Bühnenvereins erfassten Stücke. Bei der Unterscheidung zwischen Alten und N e u e n Bundesländern werden die Berliner Theater entsprechend des Mauerverlaufs aufgeteilt (z.B.: Deutsches T h e ater Berlin = N e u e Länder; Schaubühne am Lehniner Platz = Alte Länder) Abkürzungen: Der Begriff »Wiedervereinigung« wird in den folgenden Tabellen und Diagrammen auch mit »WV« abgekürzt. In den Diagrammen 1 a bis ic sind die Stücke mit folgenden Kürzeln bezeichnet: Herbert Achternbusch: Auf verlorenem Posten = Posten Howard Brenton: Berlin Bertie = Bertie Thomas Brussig: Helden wie wir = Helden Oliver Bukowski: Lond'n - L.A. - Lübbenau = Lond'n Tankred Dorst: Herr Paul = Paul Rolf Hochhuth: Wessis in Weimar = Wessis Franz Xaver Kroetz: Ich bin das Volk = Volk Elfriede Müller: Goldener Oktober = Oktober Harald Mueller: Doppeldeutsch = Doppel Klaus Pohl: Karate-Billi kehrt zurück = Karate Klaus Pohl: Wartesaal Deutschland. Stimmenreich = Warte Rudi Strahl: Ein seltsamer Heiliger = Heiliger Botho Strauß: Schlusschor = Schluss Botho Strauß: Das Gleichgewicht = Gleich Quelle: Berechnungsgrundlage für alle Tabellen und Diagramme sind die Werkstatistiken des Deutschen Bühnenvereins: Deutscher Bühnenverein (Hg.) / Dieter Hadamczik (Red.): Wer spielte was? Werkstatistik 1990/91-1995/96. Darmstadt. Deutscher Bühnenverein (Hg.) / Andreas Backöfer (Red.): Wer spielte was? Werkstatistik 1996/97-1998/99. Darmstadt.
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