Zeiten des Teufels: Teufelsvorstellungen und Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften (1520-1526). Dissertationsschrift 9783161544491, 9783161544897, 3161544498

Jan Löhdefink beschäftigt sich mit der Veränderung der Teufelsvorstellungen in der frühen Reformationszeit und deren Aus

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German Pages 423 [425] Year 2016

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Flugschriftenpublizistik
1. „Flugschrift“ als Gattungsbegriff
2. Die Produktion von Flugschriften
3. Reformatorischer Medienverbund und neue Öffentlichkeitskultur
4. Die Rezeption von Flugschriften
5. Die Medialität der Reformation
6. Flugschriften und Teufelsvorstellungen
7. Die Auswahl der Quellen
III. Vergangenheitsdeutung
1. Ausgangsbedingungen
1.1 Das altgläubige Traditionsargument als Movens frühreformatorischer Vergangenheitsbetrachtung
1.2 Der Teufel und der „lange Spieß“
1.3 Traditionsargument und Kirchenverständnis
1.4 Antithetik von Schrift- und Traditionsprinzip
1.5 Das Schriftprinzip als hermeneutische Wende
1.6 Die Tradition unter dem Vorbehalt teuflischer Pervertierung
1.7 Reformatorische Vergangenheitsbetrachtung als historische Verifizierung der Traditionskritik
2. Fallbeispiele
2.1 Judas Nazarei
2.2 Andreas Osiander d. Ä
2.3 Pamphilus Gengenbach
2.4 Heinrich von Kettenbach
2.5 Eberlin von Günzburg
3. Innere Kohärenz
3.1 Der historische Legitimationsgestus
3.2 Kirchengeschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels
3.3 Kirchengeschichte als Widerstand gegen den Teufel
3.4 Das Verhältnis von Verfalls- und Kontinuitätsidee
3.5 Die Dignität des Alters
3.6 Vergangenheit als Strafvollzug
3.7 Gehobener Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung
IV. Gegenwartsverständnis
1. Fallbeispiele
1.1 Michael Stifel
1.2 Thomas Müntzer
2. Innere Kohärenz
2.1 Gegenwart als Enttarnung des Teufels
2.1.1 Die Wiederentdeckung der Offenbarung
2.1.2 Die Unterscheidung von Gott und Teufel
2.2 Gegenwart als Provokation des Teufels
2.2.1 Kulmination der Teufelsaktivität
2.2.2 Teufelsaktivität und reformatorisches Sendungsbewusstsein
2.3 Gegenwart als Endzeit
2.3.1 Die Zeichen der Endzeit
2.3.2 Die Antichristvorstellungen
2.3.3 Verheißung und Erfüllung
2.4 Gegenwart als Bekenntniszeit
2.4.1 Die Unvertretbarkeit des Teufelskampfes
2.4.2 Umkehrruf und Persuasionsziel
2.5 Gegenwart als Zwischenzeit
V. Zukunftsperspektive
1. Fallbeispiele
1.1 Martin Luther
1.2 Johannes Copp
1.3 Heinrich Pastoris
2. Innere Kohärenz
2.1 Umstrittene Zukunft – Kampf um die Deutungshoheit
2.1.1 Herausforderung Astrologie
2.1.2 Grundtypen des Verhältnisses von reformatorischer Theologie und Astrologie
a) Astrologieaffine Flugschriften
b) Astrologiekritische Flugschriften
c) Antiastrologische Flugschriften
2.1.3 Astrologie als Betrug des Teufels
2.2 Rasante Zukunft: Die Verzeitlichung der Apokalypse
2.2.1 Rekurrent-präsentische versus singulärfuturische Zeit
2.2.2 Zeitverkürzungserwartung und Beschleunigungserfahrung
VI. Zusammenfassung
VII. Bibliographie
1. Quellen
1.1 Editionen
1.2 Flugschriften (in der Reihenfolge der benutzten Abkürzungen)
1.3 Andere Quellen
1.4 Hilfsmittel
2. Literatur
Register
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Zeiten des Teufels: Teufelsvorstellungen und Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften (1520-1526). Dissertationsschrift
 9783161544491, 9783161544897, 3161544498

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel 182

Jan Löhdefink

Zeiten des Teufels Teufelsvorstellungen und Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften (1520–1526)

Mohr Siebeck

Jan Löhdefink, geboren 1974; 1994–2002 Studium der Ev. Theologie und Geschichtswissen­ schaft; 2010–2015 Studienrat in Hamburg, seit 2015 in Emden.

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. ISBN 978­3­16­154449­1 eISBN 978-3-16-154489-7 ISSN 0340­6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abruf bar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde­Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungsbeständiges Werk­ druckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2015 von der Philosophi­ schen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Disserta­ tion angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet und der Titel geändert. Die Lebensphase, in der die Arbeit entstand, war mit unterschiedlichen Tä­ tigkeiten gefüllt. Spätestens seit meinem Eintritt in den Schuldienst war diese Arbeit zur Nebentätigkeit geworden, welcher fortan hinter beruflichen und fa­ miliären Anforderungen ein randständiges Dasein zu fristen bestimmt war. Zeitverkürzungs- und Beschleunigungsempfinden sind mir daher nicht nur ­abstrakte geschichtswissenschaftliche Theoreme geblieben, sondern praktische Erfahrung geworden. Der Teufel steckte hierbei nicht lediglich im Detail, son­ dern bestimmte die Arbeit ganz umfassend. Anders jedoch als sein landläufiger Ruf es erwarten lässt, hat mir die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Teufel große Freude bereitet. Dies verdanke ich vor allem meinen Betreuern, Frau Prof. Dr. Barbara Stoll­ berg-Rilinger vom Historischen Seminar (Münster) als Erstgutachterin und Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel von der Ev.-Theologischen Fakultät (Münster) als Zweitgutachter. Ihr professioneller Sachverstand und ihre menschliche Zu­ gewandtheit waren mir stets orientierender Rahmen und wichtige Stütze; ne­ ben Rat und Tat gewährten sie mir zugleich größtmögliche Freiräume zur ei­ genständigen Arbeit. Auch die Diskussionen in den jeweiligen Oberseminaren waren stets erhellend und sehr hilfreich. Mein Dank gilt auch der Gerda Henkel-Stiftung, welche mein Vorhaben durch ein Doktorandenstipendium alimentierte und zudem einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährte. Zudem danke ich dem Verlag Mohr Siebeck, namentlich Herrn Dr. Henning Ziebritzki, sowie Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel als Herausgeber für die Auf­ nahme in die altehrwürdige Reihe der „Beiträge zur historischen Theologie“. Mein Dank gilt des Weiteren der Luther-Gesellschaft e.V., insbesondere dem Ersten Präsidenten Herrn Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling und dem Gutachter­ gremium, für die Auszeichnung mit dem Martin-Luther-Preis 2016. Auch allen Freunden und Kollegen, die in unterschiedlicher Weise die Arbeit befördert haben, sei an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt! Vor allem danke ich meinen Eltern, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre und

VIII

Vorwort

auf deren Unterstützung ich mich stets verlassen konnte. Ganz besonderer Dank gilt zudem Melanie Thiesbrummel; sie hat die Arbeit von Beginn an begleitet und mich – „dem Teufel zum Trotz“ – geheiratet. Bald traten auch unsere ge­ liebten Kinder Justus und Sophia in unser Leben, doch konnten sie – wenn­ gleich redlich bemüht – den Abschluss der Arbeit letztlich nicht verhindern. Alle Genannten übten sich in Geduld; die Fertigstellung der Arbeit erfüllt daher sicher nicht nur mich mit großer Freude. Leer, im Sommer 2016

Jan Löhdefink

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Flugschriftenpublizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. „Flugschrift“ als Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Die Produktion von Flugschriften . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Reformatorischer Medienverbund und neue Öffentlichkeitskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4. Die Rezeption von Flugschriften . . . . . . . . . . . . . . . 31 5. Die Medialität der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . 42 6. Flugschriften und Teufelsvorstellungen . . . . . . . . . . . . 50 7. Die Auswahl der Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

III. Vergangenheitsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Ausgangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.1 Das altgläubige Traditionsargument als Movens frühreformatorischer Vergangenheitsbetrachtung . . . . . 57 1.2 Der Teufel und der „lange Spieß“ . . . . . . . . . . . . 61 1.3 Traditionsargument und Kirchenverständnis . . . . . . . 64 1.4 Antithetik von Schrift- und Traditionsprinzip . . . . . . 67 1.5 Das Schriftprinzip als hermeneutische Wende . . . . . . . 71 1.6 Die Tradition unter dem Vorbehalt teuflischer Pervertierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.7 Reformatorische Vergangenheitsbetrachtung als historische Verifizierung der Traditionskritik . . . . . . . 76 2. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.1 Judas Nazarei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

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Inhaltsverzeichnis

2.2 Andreas Osiander d. Ä. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.3 Pamphilus Gengenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.4 Heinrich von Kettenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2.5 Eberlin von Günzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Innere Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.1 Der historische Legitimationsgestus . . . . . . . . . . . . 110 3.2 Kirchengeschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels . . . . 113 3.3 Kirchengeschichte als Widerstand gegen den Teufel . . . . 123 3.4 Das Verhältnis von Verfalls- und Kontinuitätsidee . . . . 129 3.5 Die Dignität des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.6 Vergangenheit als Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . 141 3.7 Gehobener Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung . . 145

IV. Gegenwartsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1.1 Michael Stifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1.2 Thomas Müntzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Innere Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2.1 Gegenwart als Enttarnung des Teufels . . . . . . . . . . 195 2.1.1 Die Wiederentdeckung der Offenbarung . . . . . . 195 2.1.2 Die Unterscheidung von Gott und Teufel . . . . . . 203 2.2 Gegenwart als Provokation des Teufels . . . . . . . . . . 215 2.2.1 Kulmination der Teufelsaktivität . . . . . . . . . . 215 2.2.2 Teufelsaktivität und reformatorisches Sendungsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2.3 Gegenwart als Endzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2.3.1 Die Zeichen der Endzeit . . . . . . . . . . . . . . 234 2.3.2 Die Antichristvorstellungen . . . . . . . . . . . . 235 2.3.3 Verheißung und Erfüllung . . . . . . . . . . . . . 251 2.4 Gegenwart als Bekenntniszeit . . . . . . . . . . . . . . 253 2.4.1 Die Unvertretbarkeit des Teufelskampfes . . . . . . 253 2.4.2 Umkehrruf und Persuasionsziel . . . . . . . . . . 264 2.5 Gegenwart als Zwischenzeit . . . . . . . . . . . . . . . 269

V. Zukunftsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1.1 Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1.2 Johannes Copp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1.3 Heinrich Pastoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Inhaltsverzeichnis

XI

2. Innere Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 2.1 Umstrittene Zukunft – Kampf um die Deutungshoheit . . 300 2.1.1 Herausforderung Astrologie . . . . . . . . . . . . 300 2.1.2 Grundtypen des Verhältnisses von reformatorischer Theologie und Astrologie . . . . . . . . . . . . . 304 a) Astrologieaffine Flugschriften . . . . . . . . . . 304 b) Astrologiekritische Flugschriften . . . . . . . . 311 c) Antiastrologische Flugschriften . . . . . . . . . 318 2.1.3 Astrologie als Betrug des Teufels . . . . . . . . . . 326 2.2 Rasante Zukunft: Die Verzeitlichung der Apokalypse . . . 335 2.2.1 Rekurrent-präsentische versus singulärfuturische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 2.2.2 Zeitverkürzungserwartung und Beschleunigungserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 VII. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1.1 Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1.2 Flugschriften (in der Reihenfolge der benutzten Abkürzungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 1.3 Andere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1.4 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

I. Einleitung „Der Teufel ist in der Neuzeit zu einer historischen Figur geworden. Man kann sich in Muße mit seiner Geschichte beschäftigen. Sie ist mehrfach geschrieben worden.“1 Diese Feststellung Gerhard Ebelings kennzeichnet das gegenwärtige Verhältnis zum Teufel und benennt zugleich den Unterschied zu vorherigen Zeiten. Vordem ein realer und furchterregender Widersacher, gleicht der Teufel in der Neuzeit meist einem zahnlosen Relikt aus dem Kuriositätenkabinett der Geschichte und erscheint geradezu als Gegenfigur zur Moderne – kaum eine andere Reflexionsgestalt gilt als derart ‚unmodern‘ wie der Teufel. Obschon der Teufel in der Zeit der Auf klärung gleichsam ‚abgeschafft‘2 und seither immer wieder der „Abschied vom Teufel“3 ausgerufen wurde, fasziniert seine Geschichte bis heute. In mannigfaltiger Hinsicht wird immer wieder eine „Renaissance des Teufels“ diagnostiziert: Auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern scheint der Teufel noch immer Konjunktur zu haben.4 Dieser auf den ersten Blick irritierende Befund kann jedoch nicht über eine von Ebeling kon­ statierte gegenwärtige „Sprachschwindsucht in geistlicher Hinsicht“, insbeson­ dere hinsichtlich des Phänomens des Bösen, hinwegtäuschen.5 Auch dort, wo der Teufel nicht lediglich von Medien und Unterhaltungsindustrie als anachro­ nistische Gruselgestalt beschworen wird, sondern durchaus ‚ernst gemeint‘ ist, bleibt er ein randständiges Phänomen oder dient meist allein der polemischen Invektive.6 Sieht man von derartigen Erscheinungsweisen ab, scheinen die Teu­ 1 

Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 247. Kittsteiner: Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert; vgl. auch Track: Art. „Teufel VI.“ 134: „Im Kontext der Auf klärung fiel die Rede vom Teufel einer als not­ wendig erachteten Entmythologisierung anheim.“; vgl. auch Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 268 f. 3 Siehe Haag: Abschied vom Teufel. 4  Vgl. z. B. Leimgruber: „Entgegen dem ersten Anschein, die Rede vom Teufel sei irrele­ vant geworden, lassen sich zahlreiche Orte einer ‚Renaissance‘ des Teufels beobachten.“ (Leimgruber: Kein Abschied vom Teufel 31). Leimgruber sieht diese in religiösen Bewegun­ gen, der Philosophie, der Zivilgesellschaft, im Okkultismus und im Satanismus gegeben (vgl. Leimgruber: Kein Abschied vom Teufel 14–25). Vgl. auch Schuller / von Rahden: Zur Renaissance des Bösen. Vorwort VII f. 5 Vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 271. 6  Beispiele für die Instrumentalisierung des Teufel als stilistisches Mittel zur Feindbild­ evokation sind schnell gefunden. Man denke z. B. in weltpolitischem Rahmen an „[…] den fanatischen Kampf eines fundamentalistischen Zweigs des Islam gegen die USA als Verkör­ perung des Satan [und umgekehrt!].“ (Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 248). 2 Vgl.

2

I. Einleitung

felsvorstellungen aus öffentlicher Debatte wie kirchlicher Verkündigung nahe­ zu verschwunden. In der Reformationszeit hingegen gehört der Teufel zum theologischen Grundvokabular und begegnet in den Quellen der Zeit gleichsam allenthalben. Die ubiquitäre Präsenz der Teufelsvorstellungen ist insbesondere in Bezug auf das Werk Luthers augenfällig und in der Literatur vielfach – oftmals jedoch allzu beiläufig – verhandelt. Im Vergleich zur Tradition erfährt die Rede vom Teufel bei Luther eine signifikante quantitative Steigerung, die auch von den Zeitgenossen selbst registriert wurde.7 Dass Luther demnach „mit dem Teufel rechnet“, lässt sich nicht bestreiten – in der Beurteilung dieses Befundes jedoch treten die Auffassungen deutlich auseinander.8 Oftmals werden (vor allem in der älteren Forschung) die Teufelsvorstellun­ gen als spätmittelalterlicher Überhang gedeutet, als irrationale Aspekte abgetan und von den auf klärerischen, rationalen, zukunftsweisenden Dimensionen ge­ trennt.9 Mitunter erscheint der Teufelsglaube Luthers als belächelnswerte Ma­ rotte, welcher – man denke etwa an die Legende vom Tintenfleck auf der Wart­ burg – bestenfalls eine anekdotische Evidenz zukomme.10 Eine derartige Sicht­ weise unterstellt implizit, mittelalterlich-traditionelle Teufelsvorstellungen seien von Luther – eben Kind seiner Zeit – zwar übernommen und weiterge­ führt worden, gleichwohl seien sie vom theologisch Wesentlichen ablösbar und wiesen keinerlei substantielle Verbindung zum Kern der reformatorischen Leh­ re auf: sie bildeten lediglich die traditionelle Folie, auf der sich das Eigentliche, 7 Vgl.

Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 252 f. Zur Fragestellung und Diskussion, ob dem Reden vom Teufel bei Luther eine margina­ le oder zentrale Bedeutung zukommt vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 246 f.; vgl. auch Barth: Teufel 11–13. 9  Vgl. z. B. Roskoff: Geschichte des Teufels, Bd. 2, 365 ff., der den zweiten Teil: „Abnah­ me des Glaubens an den Teufel“ mit einem Abschnitt über Luther beginnen lässt. Roskoff glaubt bei Luther und nachfolgenden Autoren feststellen zu können, „[…] dass bei allem Festhalten der Verfasser an der Existenz des Teufels die sinnliche Farbe seines persönlichen Daseins unter den protestantischen Händen schon zu verblassen beginnt.“ (ebd. 427). „Der rationalisierende Zug, der in der Anschauungsweise Luther’s und seiner Anhänger unver­ kennbar hervortritt […]“, nehme dem Teufel seine Realität und lasse ihn schließlich abstrakt erscheinen: „[…] die protestantische Verständigkeit des 16. Jahrhunderts [hatte] schon den Abstractionsprocess begonnen, aus welchem der Teufel schliesslich als Abstractum hervorge­ hen sollte.“ (ebd. 427). Auch spätere Autoren sehen in Luthers Gebrauch der Teufelsvorstel­ lungen deren letztendliche Überwindung bereits in seiner theologischen Gesamtkonzeption angelegt, vgl. z. B. Steck: Bezüglich seines Teufelsglaubens befinde sich Luther „in einer Übergangsposition; neben den mythologisch-realistischen Aussagen finden sich Ansätze, die auf deren Überwindung hinweisen.“ (Steck: Lehre und Kirche 203). 10  Die Legende, Luther solle den Teufel auf der Wartburg mit einem Tintenfass beworfen und verjagt haben, erfreut sich weithin großer Beliebtheit; der angeblich zurückgebliebene Tintenfleck wurde gar bis ins 19. Jahrhundert hinein stets erneuert (vgl. Burkhardt: Refor­ mationsjahrhundert 46). Ihre Symbolkraft gewinnt die Legende gemeinhin aber nicht auf­ grund der vermeintlich realen Präsenz des Teufels, sondern – im Gegenteil – aufgrund der Überwindung derartiger Vorstellungen durch eine neue Bildungs- und Medienkultur. 8 

I. Einleitung

3

in die Moderne Weisende der Botschaft Luthers entfalte.11 Die wissenschaftsge­ schichtlichen Motive für solcherart betriebene Marginalisierungen der Teufels­ vorstellungen mögen mit den allen voran Luther zugeschriebenen orientie­ rungsstiftenden Potentialen für die eigene Gegenwart zu tun haben – die Rede vom Teufel mutet fremd, gar anstößig an und scheint Luther in weite Ferne rücken zu lassen.12 Gegenläufig zu derartigen Marginalisierungsbemühungen wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts jedoch auch der theologische Gehalt von Luthers Rede vom Teufel zunehmend herausgearbeitet.13 Die quantitative Verdichtung der Rede vom Teufel bei Luther hängt nach Ebeling zwar offenkundig mit der polemi­ schen Aufarbeitung innerweltlicher Krisensituationen zusammen, erschöpfe sich aber nicht darin, sondern weise ins Zentrum seines theologischen Denkens.14 Er regt dabei weitere Untersuchungen zu Luthers Teufelsvorstellungen an, deren theologischer Sachgehalt ihm kaum hinreichend ausgeleuchtet scheint.15 Dies gilt umso mehr für die Breite der reformatorischen Meinungsführer – eine „lutherische Engführung“, die Moeller in Bezug auf die Lutherrezeption der Zeitgenossen erkennt,16 ist wohl vor allem für die wissenschaftliche Be­ schäftigung mit den Teufelsvorstellungen zu konstatieren. Daher sollen in der vorliegenden Arbeit weitere reformatorische Meinungsführer zu Wort kom­ 11 

Vgl. zu derartigen Einschätzungen Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 246. z. B. Ebeling: Je mehr theologisches Gewicht der Teufelsvorstellung bei Luther zugemessen wird, desto problematischer erscheint seine Applikation auf die Gegenwart: „[…] dann muß man sich dem Problem stellen, wie trotzdem in der Situation nach der Auf­ klärung noch ein grundsätzlicher Konsens mit Luther möglich ist.“ (Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 246). 13  Dennoch liegen zu Luthers Teufelsvorstellungen nur zwei Monographien älteren Da­ tums vor: Obendiek: Der Teufel bei Martin Luther (1931); Barth: Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers (1967). Vgl. auch die kurze Studie von Rade: Zum Teufelsglauben Luthers (1931), 1–11; sowie den Titel der biographischen Abhandlung von Oberman: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel (1982). Weiterhin zum theologi­ schen Gehalt instruktiv: Ebeling, der Luthers Reden vom Teufel einen Paragraphen im The­ senkommentar zur Disputatio de homine widmet (siehe Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 246–271). 14  „Die quantitative Steigerung des Redens vom Teufel bei Luther geht sicher nicht allein auf das Konto der Polemik.“ (Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 253). „Das Reden vom Teufel hat also bei Luther – daran gibt es nichts zu deuteln – seinen Ort im Zentrum seiner Theologie.“ (ebd. 260). 15 „Freilich wären genauere Nachforschungen darüber wünschenswert: in welchem Maße sein Reden vom Teufel etwa ab 1518 mit dem Einsetzen des Ablaßstreites und dessen Folgen zunimmt und dann wieder spätestens ab 1525 mit den großen inneren Auseinander­ setzungen innerhalb der reformatorischen Bewegung, insbesondere dem Bauernkrieg, der Fehde mit Erasmus und dem Abendmahlsstreit. Daß hier jeweils Schwellen zu verschärften Kampfsituationen und damit zu härterer Auseinandersetzung überschritten werden, ist klar. Wichtiger aber wäre zu wissen, ob von daher ein Einfluß auf den theologischen Stellenwert des Redens vom Teufel ausgegangen ist.“ (Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 253). 16  Zum Begriff „lutherische Engführung“ siehe Moeller: Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt? (1984), 193. 12  Vgl.

4

I. Einleitung

men und jeweils Gemeinsames und Eigenheiten untersucht werden. Zudem bleibt zu fragen, ob und gegebenenfalls inwiefern sich die reformatorischen Teufelsvorstellungen von den überkommenen unterscheiden: Existiert also in syn- wie diachroner Hinsicht so etwas wie eine spezifisch reformatorische Teu­ felsvorstellung und wie ließe sich diese konturieren? Zu dieser Frage möchte die folgende Untersuchung einen Beitrag leisten, indem sie – in thematischer Fo­ kussierung – eine etwaige reformatorische Spezifik der Teufelsvorstellungen gezielt im Hinblick auf deren Implikationen für das reformatorische Zeitbe­ wusstsein genauer in den Blick nimmt. Dass sich im 16. Jahrhundert signifikante, in die Moderne weisende Verände­ rungen in den Zeitvorstellungen vollzogen, ist weitreichender Konsens in der Literatur. Gleichwohl scheint der Beitrag der Reformation für die Veränderun­ gen des Zeitbewusstseins kaum hinreichend gewürdigt, wenn in diesem Zu­ sammenhang stets auf Humanismus und Renaissance verwiesen, der Reforma­ tion hingegen neuartige Impulse auf dieser Ebene abgesprochen werden.17 In allgemeiner Hinsicht wird immer wieder diskutiert, welche Rolle der Re­ formation für die Hervorbringung der Moderne zukommt bzw. ob der Refor­ mation insgesamt ein epochaler Charakter eignet.18 Diese Diskussionen sind eingebettet in die übergreifende Frage nach der Periodisierung und Abgren­ zung der „Frühen Neuzeit“. Während sich hinsichtlich deren Endes das Kon­ zept der „Sattelzeit“ (ca. 1750–1850) von Reinhart Koselleck in der Forschung weitgehend durchgesetzt hat, ist der Beginn der Frühen Neuzeit noch immer stark umstritten.19 Lange Zeit wurde der Reformation als Befreiung von alten Autoritäten und zukunftsweisender Fortschrittsetappe eine entscheidende Bedeutung auf dem Weg zur Moderne zugemessen. Diese auf klärerisch vereinnahmte Lesart wur­ de von der Wissenschaft zunehmend kritisch überprüft und relativiert, wenn­ gleich sich ihre Popularität beharrlich behaupten sollte.20 Nachdem bis Mitte 17  Auf diesen Umstand hat bereits Schulin hingewiesen: „Aber der eigentliche Akzent in den Historiographiegeschichten, wenn sie von den Veränderungen in dieser Zeit sprechen, liegt nicht hier [in der Reformation], sondern bei Renaissance und Humanismus in Italien, Frankreich, Deutschland und England, bei der philologischen Kritik und der Wiederaufnah­ me antiker Muster politischer und rhetorischer Geschichtsschreibung. Unter diesen Umstän­ den haben wir also genauer nach der Stellung Luthers und der Reformation in der Verände­ rung des Geschichtsbewußtseins zu fragen, nach ihrem Beitrag für sie, der so klar nicht ist.“ (Schulin: Arbeit an der Geschichte 17 f.). 18 Vgl. Ehrenpreis / Lotz-Heumann: Reformation 17 ff. 19 Vgl. Ehrenpreis / Lotz-Heumann: Reformation 11. 20 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 16: „Wer heute Begriffe wie Renaissance oder Reformation hört, denkt an eine Epoche des Auf bruchs in eine neue Zeit. Einen sol­ chen innovatorischen und progressiven Sinn hat aber erst die Auf klärung der Reformations­ zeit nachträglich gegeben. Die Auf klärer und ihre modernen Nachfahren haben ihre eigene vorwärtsgewandte Haltung auf die Reformationszeit zurückprojiziert, deren Selbstverständ­ nis damit aber geradezu auf den Kopf gestellt.“

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des 20. Jahrhunderts meist der moderne Charakter im Sinne eines Epochen­ bruchs betont und die Unterschiedlichkeit zum Mittelalter herausgestellt wur­ de,21 ist das Eigengewicht der Reformation in den letzten Jahrzehnten zuneh­ mend in Zweifel gezogen worden.22 Von verschiedenen Seiten her wurde die Anschauung vom Epochenbruch zur Neuzeit dekonstruiert: Zum einen wurde die Einheit der Reformationsepoche durch mikrohistorische Ansätze zuneh­ mend bestritten, zum anderen wurden aus makrohistorischer Perspektive lang­ fristige Kontinuitäten betont, welche eine epochale Bedeutung der Reforma­ tion nivellierten. Zur „historiographische[n] Abschaffung der Reformation“23 hat vor allem das Konfessionalisierungsparadigma beigetragen, wenn die Reformation hier unter modernisierungstheoretischen Gesichtspunkten nicht als Umbruch, son­ dern als notwendiger Vorlauf zur Konfessionalisierung erscheint: „Nach allem, was die Konfessionalisierungsforschung im letzten Jahrzehnt zutage ge­ fördert hat, wird man sich wohl aber auf Dauer nicht der Erkenntnis entziehen können, daß der von der Konfessionalisierung vorangetriebene gesellschaftliche Wandel tiefgrei­ fender war als der unmittelbar durch die Reformation ausgelöste. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß die Konfessionalisierung ohne Reformation nicht denkbar ist, aber diese wohl auch kaum ohne die vorausgehenden spätmittelalterlichen Refor­ men. Vielleicht läßt es sich in einem Bild sagen: Das späte Mittelalter war die boarding – die Reformation die runway – und die Konfessionalisierung die take-off-Phase der alteuropäischen Modernisierung […].“24

21 Vgl. Mörke: Die Reformation 72; Sandl: Luther 378. Allerdings wurden schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Ansätze entwickelt, welche die epochemachende Modernität der Reformation nicht in ihren Anfängen, sondern erst in ihrer Fortentwicklung erblickten und damit die Umbruchsthese um 1500 grundlegend problematisierten. Z. B. Ernst Tro­ eltsch vertrat die wirkmächtige Unterscheidung von „Alt-“ und „Neuprotestantismus“: Während der Altprotestantismus vor allem aufgrund der untrennbaren Einheit von Religion und Politik wenig moderne Elemente vertreten habe und die Reformation insofern dem Mittelalter zugehöre, enthalte er gleichwohl eine mittelalterliche Strukturen zersetzende Dynamik, die sich allerdings erst im Neuprotestantismus des 18. Jahrhunderts voll ausbilden sollte und mithin erst hier die eigentlich modernen Elemente des Protestantismus liegen (vgl. Ehrenpreis / Lotz-Heumann: Reformation 6 f., 20; Mörke: Die Reformation 76 f. 22  Einen instruktiven Überblick zur Diskussion über die Epochenqualität der Reforma­ tion bietet Mörke: Die Reformation 67 ff.; Ehrenpreis / Lotz-Heumann: Reformation 17 ff. 23  Sandl: Medialität 34. 24  Schilling: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft 35. Die ei­ gentlich epochalen Modernisierungsleistungen habe erst die Konfessionalisierung hervorge­ bracht: „Nicht die Reformation als Umbruch, sondern die Konfessionalisierung in enger zeitlicher und sachlicher Verschränkung mit der frühmodernen Staatsbildung brachte dem­ nach für die europäischen Gesellschaften einen kräftigen Modernisierungsschub, der die Jahrzehnte auf der Wende des 16. Jahrhunderts als eine Art Vor-Sattelzeit der Moderne er­ scheinen lässt.“ (Schilling: Temps des Réformes 19). Zum Konfessionalisierungsprozess siehe auch Reinhard: Gegenreformation als Modernisierung?; ders.: Konfession und Kon­ fessionalisierung in Europa.

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Eingedenk ihrer „Sandwichlage“ zwischen Spätmittelalter und Konfessionali­ sierung bezeichne die Reformation lediglich einen „Gipfelpunkt eines Temps des Réformes“ und füge sich in eine die gesamte „Vor-Sattelzeit“ kennzeich­ nende Kontinuität des Wandels ein.25 Die Feststellung Schillings als eines der profiliertesten Vertreter des Konfessionalisierungsparadigmas: „Uns ist die Re­ formation abhanden gekommen!“,26 gilt dabei vor allem vor europageschichtli­ chem Hintergrund, wenn die Reformation aus dieser Perspektive als „ein deut­ sches und damit begrenztes Ereignis“ erscheint.27 Der ‚Abschaffung‘ der Reformation wurde wiederum aus kirchenhistori­ scher Sicht die „geschichtsverändernde Dynamik“ der Reformation entgegen­ gehalten, welche eine „Diskontinuitätsperspektive“ rechtfertige.28 Im Zusam­ menhang mit seinem neuen Konzept der „Kontextuellen Reformation“ bekräf­ tigt Kaufmann die Bedeutung der Anfangszeit der reformatorischen Bewegung als „historische[r] Zäsur“ und der Reformation als „Umbruch“.29 Gleichwohl betont die Mehrheit der neueren Forschungen eher die Kontinu­ ität zum Spätmittelalter und sieht die Reformation eingebettet in einen umfas­ senden kulturellen Transformationsprozess; der wissenschaftliche Blick richtet sich hier weniger auf aus der Ereignisgeschichte abgeleitete Brüche, sondern auf sich nur langsam wandelnde Sinnformationen und die kulturelle Semantik.30 25 

Schilling: Temps des Réformes 24.29.19. Schilling: Temps des Réformes 13. 27  Schilling: Martin Luther 614: „Aus der europageschichtlichen Perspektive betrachtet, wird man den französischen Historikern zustimmen, denen wie auch den Spaniern oder Italienern die Reformation stets ein deutsches und damit begrenztes Ereignis war und die nicht von der Reformation sprechen, sondern von einer ‚temps des Réformes‘, einer sich vom 14. bis Mitte des 17. Jahrhunderts erstreckenden Epoche kirchlicher und religiöser Reforma­ tionen.“ 28  Kaufmann: Sammelbericht Sp.  1118: „Aus kirchenhistorischer Perspektive ist jedenfalls mit Nachdruck auf dem epochalen Umbruchscharakter der Reformation […] zu beharren.“ Kaufmann benennt in seinem Forschungsüberblick von 1996 verschiedene durch die Refor­ mation bewirkte historische Brüche, aufgrund derer er den Umbruchscharakter verifiziert sieht (vgl. Kaufmann: Sammelbericht Sp.  1118 ff.). 2009 schreibt Kaufmann die „Geschich­ te der Reformation“ aus einer „Diskontinuitätsperspektive“: „[…] – sie allein rechtfertigt es, den historiographischen Begriff der Reformation auch weiterhin zu verwenden und das mit ihr Bezeichnete nicht einer spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Ära der Reform zuzu­ schreiben! […].“ (Kaufmann: Geschichte der Reformation 26). 29  „Die ‚Kontextuelle Reformation‘ stellt insofern keine Provinz im periodisierungskon­ zeptionellen ‚Niemandsland‘ zwischen einer irgendwie substantiell kohärenten und rechtlich gefügten spätmittelalterlichen Kirchlichkeit und der mancherorts allmählich siegreichen re­ formatorischen Alternative dar; sie markiert die historische Zäsur, die unter bestimmten Perspektiven zwischen dem ‚Mittelalter‘ und der ‚Reformation‘ gesetzt werden kann. Sie stellt eine konzeptionelle Verdichtung der reformatorischen Bewegung als einen die Refor­ mation heraufführenden Umbruch dar.“ (Kaufmann: Der Anfang der Reformation 24). Zur Begründung formuliert Kaufmann zehn Gesichtspunkte „in christentumsgeschichtli­ cher Perspektive, die allerdings auch für allgemeinhistorische Epochenkonzeptionen Beach­ tung beansprucht“ (ebd. 24 f.). 30  Siehe vor allem Jussen / Koslofsky (Hgg.): ‚Kulturelle Reformation‘. Sinnformatio­ 26 

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Zwischen Spätmittelalter und Reformation habe mithin nicht etwa ein Um­ bruch stattgefunden, sondern die Reformation sei in vielfältiger Hinsicht kon­ tinuierlich aus mittelalterlichen Entstehungsvoraussetzungen hervortreten; selbst die theologischen Umbildungen der Reformationszeit seien letztlich in mittelalterlichen Entwicklungen bereits angelegt und nur auf dieser Folie inter­ pretierbar.31 Vor diesem Hintergrund scheint die Reformation eher an das Mit­ telalter als an die Neuzeit heranzurücken und lässt eine allzu simple Verknüp­ fung von Reformation und Moderne zunehmend problematisch werden. Medienhistorisch orientierte Ansätze schließlich betonen Rückwärtsge­ wandtheit wie modernen Fortschrittscharakter der Reformation gleicherma­ ßen, wenn die Modernität der Reformation weder in ihrem Selbstverständnis oder ihren Legitimationsstrategien noch in ihren Inhalten, sondern allein auf der „formalen Seite“32 des reformatorischen Mediengebrauchs verortet wird – „Das Medium war das Moderne.“33 In der vorliegenden Untersuchung soll die Frage nach der Modernität der Reformation in einer veränderten Perspektive noch einmal neu gestellt werden. Die gängigen Diskussionen um Epochengehalt und Modernität der Reformati­ on sind im Kern mit einem universalhistorischen Konzept von Zeit unterlegt, mittels dessen der geschichtliche Gegenstand (die Reformation) modernisie­ rungstheoretisch eingeordnet wird. Dagegen werden in jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft zunehmend Ansätze entwickelt, welche die Aufmerk­ samkeit auf die soziale und kulturelle Konstruiertheit der Zeit richten und ihre historische Dimension in den Fokus rückt.34 Aus der Beobachtung heraus, dass – insbesondere in der geschichtswissenschaftlichen Behandlung – „Zeit vielfach nur vorausgesetzt, aber selten problematisiert“ worden ist,35 plädiert z. B. Achim Landwehr für eine „Zeit-Geschichte“, welche die Zeit selbst in eine zeitliche Perspektive rückt.36 Die ausgeprägte Dynamik historischer Zeitverständnisse und die von den Zeitgenossen jeweils vorgenommenen Unterscheidungen in­ nerhalb der Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eröffnen vielfäl­ tige, bislang vernachlässigte Fragehorizonte,37 sodass sich die Untersuchung nen im Umbruch 1400–1600; siehe auch Roper (Hg.): Robert W. Scribner: Religion und Kultur in Deutschland (1400–1800); Krentz: Ritualwandel und Deutungshoheit. 31  Vgl. z. B. Leppin: Als „Transformationsprozess“ verstanden, charakterisiert er die refor­ matorischen Veränderungen als Entfaltungen und schubhafte Verstärkungen mittelalterli­ cher Tendenzen, nicht aber als innovative Sprünge und Brüche (siehe Leppin: Die Witten­ berger Reformation und der Prozess der Transformation kultureller zu institutionellen Pola­ ritäten). Zur Einbettung der Reformation in langfristige Kontinuitäten siehe auch Leppin: Wie reformatorisch war die Reformation? 32  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 17. 33  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 16. 34  Siehe z. B. Sandl: Medialität; Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten. 35  Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 15. 36  Vgl. ebd. 22. 37  „Vergangenheiten und Zukünfte sind immer Unterscheidungen, die eine Gegenwart

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historischer Zeitkulturen als eine Leitlinie künftiger Forschung erweist. Mit Blick auf die Frühe Neuzeit bestehen nach Landwehr „mehr als ein paar Verdachtsmomente, die darauf hindeuten, dass sich in diesem Zeit­ raum Entscheidendes hinsichtlich der Emergenz temporaler Modalisierungen getan hat, und zwar in einer Art und Weise, die bisher noch nicht ausreichend gewürdigt wur­ de.“38

Dies gilt insbesondere für die Zeit der Reformation: Einen neuartigen, quer zu den gängigen wirkungsgeschichtlichen Perspektiven liegenden Ansatz legte letzthin Marcus Sandl vor, der die Bedeutung der Reformation als Zeitenwende neu betont und dabei – anknüpfend an Reinhart Koselleck – dem Maßstab der „geschichtlichen Zeit“39 der Reformation in ihrer Eigenlogik, mithin den exund impliziten Erfahrungen der Zeitgenossen selbst, wieder größeres Gewicht beimisst.40 Nach Koselleck ist die „geschichtliche Zeit“ von der „Naturzeit“ für sich trifft. Nur bleiben diese Unterscheidungen als Beobachtungen niemals gleich, son­ dern müssen immer wieder von Neuem vollzogen werden. Dadurch ergeben sich immer neue Zeitbindungen, immer neue Kombinationsmöglichkeiten von Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft und damit auch immer neue Konstruktionsmöglichkeiten von Welt in temporaler Hinsicht. […] Die Frage, die insbesondere eine Zeit-Geschichte umtreibt, muss dann lauten: Unter welchen Umständen ändert sich das Zeitwissen von Gesellschaften? Mit welchen Konsequenzen geschieht dies? Wer ist daran beteiligt, wer kann dieses Zeitwissen beeinflussen? […] Damit stünde nicht nur die Frage im Mittelpunkt, welche Vorstellungen von und Umgangsweisen mit Zeit zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschten und wie durchaus unterschiedliche Vorstellungen von Zeit parallel zueinander existierten, sondern es gilt auch dem Problem auf den Grund zu gehen, welche Auswirkungen diese Formen des Zeitwissens hatten. Denn wenn es einem Zeitwissen erst einmal gelungen ist, sich diskursiv zu verfestigen, also bestimmte Formen des Wahren und Wirklichen auszubilden, dann muss ihm eine historische Wirkmächtigkeit zugebilligt werden.“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 22 f.) 38  Ebd. 23. 39  Zum Begriff der „geschichtlichen Zeit“ siehe das Vorwort in Koselleck: Vergangene Zukunft 9–14. 40  Sandl kritisiert die gegenwärtige Forschungslage, welche weitgehend einer universal­ historischen Konzeption von Zeit anhinge und damit eine Abkehr von der von Koselleck vertretenen Historisierung von Zeitlichkeit vollzogen habe: „Die ‚geschichtliche Zeit‘ der Reformation, also die den reformatorischen Erkenntnis- und Handlungszusammenhängen selbst eigenen Temporalstrukturen sowie die damit zusammenhängenden Vergangenheitsund Zukunftskonstruktionen, treten als Erklärungsfaktor zurück. Der Selbstreferentialität des historischen Geschehens, die in der Vorstellung der ‚Zeitenwende‘ bedeutsam wird, wird kaum noch Bedeutung zugemessen.“ (Sandl: Medialität 36). Demgegenüber müsse die aus der Wahrnehmungswelt der Zeitgenossen erwachsende Zeitlichkeit in ihrer Eigen­ logik wieder größere Beachtung bei der Erfassung historischer Prozesse finden: „Eine Zeit­ geschichte der Reformation zu schreiben heißt, den Horizont auszuleuchten, in dem die Zeitgenossen dachten und handelten, den sie herstellten und aktualisierten, um ihrer Welt und sich selbst in dieser Welt Sinn zu geben. Sie thematisiert also Welt- und Selbstbeschrei­ bungen, wobei davon ausgegangen wird, dass diese zeitgenössischen Beschreibungen für die Verlaufsformen des historischen Geschehens eine konstitutive Rolle spielten. Eine Zeitge­ schichte thematisiert damit Zeitlichkeit als konstituierende Dimension des Gegenstands.“ (Sandl: Medialität 17).

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unterschieden – während letztere vermeintlich objektiv messbar sei und als sin­ gulär gelte, beschreibt erstere die historischem Wandel unterliegende Zeitlich­ keit auf der Ebene der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen. Die Untersuchung geschichtlicher Zeit zielt daher auf deren je eigene Seman­ tik und fragt danach, „wie in einer jeweiligen Gegenwart die zeitlichen Dimen­ sionen der Vergangenheit und der Zukunft aufeinander bezogen worden sind.“41 Geschichtliche Zeit lässt sich mithin genaugenommen nur im Plural erfassen; geschichtliche Zeiten existieren in sich überlagernder Weise nach- und nebenei­ nander.42 Diesen Sachverhalt der Pluralität und Parallelität geschichtlicher Zeiten beschreibt Landwehr mit dem Konzept der „Pluritemporalität“,43 auf dessen Basis allzu starre geschichtswissenschaftliche Epochenzuweisungen unter einen grund­ sätzlichen Vorbehalt gestellt sind.44 Vor dem Hintergrund der Einsicht: „Die so­ ziale und kulturelle Praxis ist also nicht in der Zeit, sondern macht die Zeit“,45 41 

Koselleck: Vorwort 11. der Singular einer einzigen geschichtlichen Zeit, die sich von der messbaren Naturzeit unterscheiden soll, lässt sich in Zweifel ziehen. Denn geschichtliche Zeit, wenn der Begriff einen eigenen Sinn hat, ist an soziale und politische Handlungseinheiten gebunden, an konkrete handelnde und leidende Menschen, an ihre Institutionen und Organisationen. Alle haben bestimmte, ihnen innewohnende Vollzugsweisen mit je eigenem zeitlichen Rhythmus. […] Deshalb geht der folgende Versuch davon aus, nicht von einer geschichtli­ chen Zeit zu sprechen, sondern von vielen, sich einander überlagernden Zeiten.“ (Koselleck: Vorwort 10). 43  „Was soll das bedeuten: Pluritemporalität? Nun, es ist die sicherlich nicht allzu gewag­ te These, dass soziale Gruppen, Objekte, Ereignisse etc. zumindest potentiell dazu in der Lage sind, eigene Zeitformen auszubilden, die von anderen teils erheblich differieren kön­ nen. Pluritemporalität bezeichnet den methodischen Zweifel an der irreführenden Idee, wir hätten es nur mit einer einzigen Form der Zeit zu tun, die mit der Zeit der Uhren und Ka­ lender zur Deckung zu bringen wäre. Gesellschaften leben nicht im Kokon eines monolithi­ schen Zeitregimes, kennen also nicht nur eine singuläre Form der Gleichzeitigkeit, sondern pflegen zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen, existieren also in einer Welt der Gleichzeitigkeiten. […] Dieses Phänomen der Gleichzeitigkeiten, also der Vielzahl der Zeiten in einer Gegenwart, soll hier unter dem Stichwort der Pluritemporalität gefasst wer­ den.“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 25 f.). 44 Angesichts der Pluritemporalität sei es „weniger möglich, historische Vorgänge auf unilineare Prozesse zurückzuführen oder in epochale Zwangsjacken stecken zu wollen. Un­ ter der Perspektive pluraler Gleichzeitigkeiten findet man zu ein und derselben Zeit histori­ sche Bestandteile, die sich in reversiblen, systemerhaltenden Zeitschleifen befinden, neben solchen, die einen irreversiblen Zeitsprung vollziehen. Der Ansatz der Pluritemporalität ist also in der Lage, das Spannungsverhältnis von Stabilität und Transformation in einer spezifi­ schen historischen Situation in den Blick zu nehmen, ohne diese Parallelität vorschnell weg­ zuerklären oder doch wieder auf einen einfachen Nenner zu bringen, sondern sie im Gegen­ teil in den Vordergrund zu rücken.“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 26). 45  Ebd. 30. Vgl. auch Sandl: Medialität 17: „Geschichte vollzieht sich demnach nicht in der Zeit, sondern produziert Zeiten in Form von Übergängen und Verschiebungen, Wieder­ holungen und Gelegenheiten, Transformationen und Momenten der Beharrung. Eine Zeit­ geschichte beinhaltet mithin die Absage an die Vorstellung eines unveränderlichen Zeitkon­ tinuums, das allen historischen Bewegungen und allen Perspektiven auf den geschichtlichen Prozess vorgängig ist.“ 42  „Schon

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lassen sich die unterschiedlichen historischen Zeitwissen von der Geschichtswis­ senschaft neuartig befragen.46 Anknüpfend an die Entwürfe von Koselleck, Sandl und Landwehr soll die geschichtliche Zeit der Reformation Gegenstand der vorliegenden Untersu­ chung sein. Es wird danach gefragt, wie die reformatorischen Zeitgenossen ihre geschichtliche Selbstverortung vornahmen und wie sich das reformatorische Zeitverständnis zu zeitgenössischen und überkommenen verhielt. Insbesondere das 16. Jahrhundert gibt ein Beispiel für die Simultaneität geschichtlicher Zei­ ten, wenn sich in den frühen 1520er Jahren eine neuartige, spezifisch reforma­ torische geschichtliche Zeit herausbildet, die sich von vorgängigen und zeitge­ nössischen signifikant unterschied. Mehr noch: die reformatorische geschichtli­ che Zeit schien im Verhältnis zum altgläubigen Zeitverständnis nicht mehr integrierbar, sondern trat mit diesem in scharfe Konkurrenz und erhob die von den Zeitgenossen selbst herausgestellte Divergenz zu einem sie konstituierenden Merkmal. Dabei bildet der verwendete Begriff der „Geschichtszeit“ einen Horizont, in dem Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive miteinander verschmelzen.47 Mithin beschränkt sich der Begriff nicht allein auf den Umgang mit Vergangenheit, sondern thematisiert umfassend die Wahrneh­ mung der Zeitlichkeit durch die Zeitgenossen selbst. Gemäß diesem Verständ­ nis gliedert sich die vorliegende Untersuchung in die drei Dimensionen des Zeitbewusstseins (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), wobei der jeweiligen zeitlichen Dimension ein Eigengewicht zugemessen, gleichwohl deren Verwo­ benheit miteinander herausgestellt werden soll. Dabei wird in thematischer Be­ grenzung gezielt nach der Rolle der Teufelsvorstellungen innerhalb des refor­ matorischen Zeitverständnisses gefragt. Die reformatorischen Teufelsvorstel­ lungen sollen auf ihre temporalen Aussagegehalte hin thematisiert und deren

46  Landwehr gibt hierfür vielfältige Anregungen, z. B.: „Die geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit müsste demnach der Frage gelten, welches Zeitwissen sich in einer be­ stimmten Gegenwart eher durch Stabilität, welches sich eher durch Variabilität auszeichnet. Weiterhin wäre nicht nur zu fragen, welche Zeiten parallel zueinander Bestand haben, son­ dern vor allem in welchen Wechselverhältnissen sie stehen, ob sie völlig unabhängig vonein­ ander existieren können, sich gegenseitig affizieren oder in Konkurrenz zueinander agieren […].“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 26) 47  Vgl. zum Zusammenhang der drei Zeitdimensionen auch Luhmann: „Was sich in der Zeit bewegt, sind Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft zusammen, ist, mit anderen Worten, die Gegenwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft.“ (Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte 114, Hervorhebungen im Original). Dabei unterliegt die Modulation dieser Zeithorizonte stetigem historischem und sozialem Wandel: „Vielmehr ist der spezifi­ schen Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl eine historische wie eine soziale Dimension eigen, das heißt sie wird im Verlauf der Zeit selbst generiert, regeneriert und transformiert, und dies geschieht durch jeweils unterschiedliche Gruppen auf jeweils unterschiedliche Weise.“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 21).

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Bedeutung im Kontext der Profilierung einer spezifisch reformatorischen ge­ schichtlichen Zeit untersucht werden. Zunächst soll gefragt werden, inwiefern der zu beschreibende Paradigmen­ wechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen Auswirkungen auf die Vergangenheitsdeutung hatte: Die Frage, wann und wie der Teufel geschichtlich in Erschei­ nung trat, bestimmt entscheidend das reformatorische Verhältnis zu Tradition und Überkommenem und damit die Vorzeichen, unter denen die Vergangen­ heit betrachtet und beurteilt wurde. Im Rahmen des „historischen Legitimati­ onsgestus“ bedurfte es neuartiger Strategien, um einerseits den Traditionsbruch, andererseits den eigenen Anschluss an das rechtmäßige Alte theologisch abzusi­ chern. Dabei gilt es darzustellen, inwiefern die Reflexionsgestalt des Teufels zu einem zentralen Interpretament der Vergangenheitsdeutung avanciert und so­ wohl auf den generellen Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung wie auch auf die Wahrnehmung der zeitlichen Verlaufsformen von Vergangenheit und Zeit entscheidend einwirkte. Anschließend sollen die Konsequenzen für das reformatorische Gegenwartsverständnis thematisiert werden: Die Frage, wie der Teufel identifiziert wurde, welche Charakteristik er aufweist, welcher Strategien er sich bedient, wie der Einzelne ihm begegnet und wie dem Teufel gewehrt werden könne, sprich wie er im Gegenwartsgeschehen theologisch verortet wird, wurde zum zentralen Instrument der reformatorischen Gegenwartsdiagnostik mit Auswirkungen so­ wohl hinsichtlich der Verhaltensoptionen des Einzelnen wie auch der generel­ len zeitlichen Verortung der eigenen Gegenwart innerhalb des biblisch prophe­ zeiten heilsgeschichtlichen Ablaufschemas. Die Teufelsvorstellungen können in diesem Zusammenhang die von den Zeitgenossen wahrgenommene hinter­ gründige Logik des Reformationsgeschehens erschließen helfen, welche dem reformatorischen Zeitverständnis ihr eigenes Gepräge verlieh. Abschließend soll untersucht werden, welche Zukunftsperspektive von den re­ formatorischen Zeitgenossen entworfen wurde: Die Frage, inwiefern die Apo­ kalyptik als reformatorische Erwartungshaltung zum zentralen zeitgenössischen Streitgegenstand avancierte und direkt das Auseinandertreten unterschiedlicher Zeitempfinden beförderte, soll zunächst anhand der Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die Zukunft, insbesondere dem im Untersuchungs­ zeitraum der Arbeit eskalierenden Konflikt mit der astrologischen Prognostik, untersucht werden. Die von den reformatorischen Zeitgenossen vorgenomme­ ne apodiktische Abgrenzung von konkurrierenden Zukunftsentwürfen ermög­ licht Einblicke in das genuin reformatorische Zeitempfinden, wenn hinter der polemischen Kontrastierung die Konstruktionsmechanismen einer neuen, spe­ zifisch reformatorischen Zeitwahrnehmung aufscheinen. Dabei wird zu unter­ suchen sein, inwiefern sich die reformatorische Zukunftsperspektive als Konse­ quenz des Paradigmenwechsels innerhalb der Teufelsvorstellungen entfaltet und die Zeitvorstellungen insgesamt grundlegend veränderte.

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Die fundamentalen Verschiebungen innerhalb der Trias von Vergangenheits­ deutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive haben mithin Aus­ wirkungen nicht allein auf die Zeitdeutung, also die wertende Einordnung und Verhältnisbestimmung der Zeitdimensionen durch die Zeitgenossen selbst, son­ dern betreffen auch die Zeiterfahrung in fundamentaler Weise. In Aufnahme der Anregungen Landwehrs soll untersucht werden,48 inwiefern die spezifisch re­ formatorischen Teufelsvorstellungen zum Konstituens einer neuartigen Wahr­ nehmung von Verlaufsformen der Zeitlichkeit werden, wenn die durch Katego­ rien wie etwa Zeitknappheit resp. Zeitlosigkeit oder Beschleunigung resp. Ver­ zögerung bestimmten Zeitrhythmen eine signifikante Veränderung erfahren. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei der Frage zukommen, inwiefern der re­ formatorische Paradigmenwechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen mit an­ deren zeitgenössischen Neuheitserfahrungen konvergiert und in der Zusam­ menschau eine von vorgängigen und zeitgenössischen Zeiterfahrungen gezielt abgegrenzte, genuin reformatorisch-apokalyptische Beschleunigungserfahrung heraufführt. Die zu beschreibenden Veränderungen in der Zeitdeutung und Zeiterfahrung führen in ihrer Konsequenz zu einer veränderten Zeitkonzeption, wenn die generellen Bewegungen der Zeit, etwa im Rahmen von Fortschritt und Niedergang oder linearen und zyklischen Verläufen, eine neuartige Aus­ richtung erhalten. Dem Vorhaben dieser Untersuchung liegt die These zugrunde, dass insbeson­ dere die Jahre 1520–26 von den Zeitgenossen in umfassender Hinsicht als Um­ bruch erlebt wurden und eben dieses Erleben eine Neukonfiguration des Zeit­ bewusstseins evoziert, welche der geschichtlichen Zeit der Reformation eine ganz eigene Prägung und Signatur verlieh. Diese Umbruchssignatur wurde al­ lererst auf der Folie der Teufelsvorstellungen entfaltet: Der Paradigmenwechsel 48 Landwehr umreißt anhand der Begriffe von „Zeitpraktiken“ und „Zeitwissen“ ge­ schichtswissenschaftliche Forschungspotentiale: „Man kann einsetzen mit den unterschied­ lichen Formen der Zeitwahrnehmungen und Zeiterfahrungen, wenn Zeit als flüchtig, ent­ leert, knapp oder kostbar eingeordnet wird, wenn Empfindungen von Zeitdruck, Zeitlosig­ keit sowie besseren, schlechteren oder unbeständigen Zeiten gemacht werden. Die Thematisierung unterschiedlicher Zeitrhythmen schließt sich unmittelbar daran an: Be­ schleunigung, Verlangsamung oder Stillstand wären hier exemplarisch zu nennen. […] Be­ wegungen, die man im Zusammenhang mit der Zeit wahrnimmt, also Fortschritte und Niedergänge, lineare oder zyklische Verläufe, sind hier ebenso wenig zu vergessen wie das Verständnis der bereits genannten Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder auch Ewigkeit. […] Solche Zeitpraktiken stehen in einem engen Wechselverhältnis mit diskursiv konstituierten Formen des Zeitwissens, soll heißen mit der regulierten, zu einem gewissen Grad institutionalisierten und medial verfügbaren Organisation soziokultureller (Selbst-)Verständnisse der Zeit. Das Stichwort des Zeitwissens soll dabei deutlich machen, dass sich der geschichtswissenschaftliche Blick auf die Zusammenhänge konzentrieren muss, in denen Zeit dingfest gemacht werden kann. An die Stelle der definitorischen und abstrak­ ten Frage nach der Zeit (an und für sich) tritt also die historische Frage nach den Ausformungen von Zeit als einer soziokulturellen Praxis und ihrer diskursiven Verdichtung.“ (Landwehr: Alte Zeiten, Neue Zeiten 30–32).

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innerhalb der Teufelsvorstellungen rief eine gesteigerte Sensibilität für histori­ sche Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit wach, in deren Gefolge sich ein neu­ artiges Epochenbewusstsein und eine mit Überkommenem explizit kontrastier­ te historische Identität und Zeiterfahrung der reformatorischen Zeitgenossen konstituierte. Die zu beschreibenden Veränderungen in der Zeitwahrnehmung lassen sich in einen übergreifenden Zusammenhang einordnen, wenn das refor­ matorische Zeitverständnis im Sinne einer „Verzeitlichung der Geschichte“49 starke in die Moderne weisende Impulse bereitstellt und die Frühreformation als wichtige Gelenkstelle innerhalb der frühneuzeitlichen (Zeitlichkeits-)Trans­ formationsprozesse in Erscheinung tritt. Ziel der Untersuchung ist es, die Ver­ änderungen im Geschichts- und Zeitbewusstsein freizulegen und zu verdeutli­ chen, inwiefern diese mit der reformatorischen Spezifik der Teufelsvorstellun­ gen untrennbar zusammenhängen. Für dieses Vorhaben bedarf es einer Erweiterung der bestehenden Fokussie­ rung der Forschung auf die Person Luthers um weitere reformatorische Mei­ nungsführer, um etwaige binnenreformatorische Unterschiede und Gemein­ samkeiten auszuleuchten. Mit dieser thematischen Zurichtung ist zugleich die mit der Frage nach Kontinuität und Umbruch eng verschränkte Frage nach Einheit und Vielfalt der Reformation tangiert, welche ebenfalls breit und kon­ trovers diskutiert wird.50 In Weiterführung der älteren Diskussion, welche sich zwischen den Polen der „lutherischen Engführung“ (Moeller) resp. dem „Wild­ wuchs“ der Reformation (Lau) aufspannte,51 wird die Einheit der Reformation immer wieder in Zweifel gezogen: Nach Wendebourg sei diese Einheit ledig­ lich aus der Außenperspektive der altgläubigen Gegner gegeben, tatsächlich aber stehe eine spannungsreiche Pluralität ganz unterschiedlicher Reformati­ onsansätze gegen die Rede von der Einheit.52 Diese Pluralität werde aus der 49  Zum Begriff der „Verzeitlichung der Geschichte“ siehe die Aufsatzbände Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten; Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. 50  Zur Frage nach Einheit und Vielfalt der Reformation siehe Hamm / Moeller / Wendebourg: Reformationstheorien: „Was ist das – die Reformation? Kann man von der einen Reformation überhaupt sprechen? Zerfällt sie nicht vielmehr bei genauem Hinsehen in eine Vielzahl von Impulsen, Bewegungen, Konfessionen und Interessen? Oder ist das Verbinden­ de und Gemeinsame so grundlegend, daß man sie als Einheit verstehen muß?“ (Hamm / Moeller / Wendebourg: Vorwort Reformationstheorien 5). Zum Zusammenhang der Frage­ stellungen von Umbruch und Kontinuität sowie Einheit und Vielfalt als zweier ineinander verwobener Dimensionen siehe Hamm: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Refor­ mation 9. 51 Zum „Wildwuchs“-Begriff siehe Lau: Reformationsgeschichte (1969); zum Begriff „lutherische Engführung“ siehe Moeller: Was wurde in der Frühzeit der Reformation in den deutschen Städten gepredigt? (1984), 193. 52  Es sei die Gegnerschaft zur römischen Kirche als äußeres Kriterium, welches diese im Tridentinum veranlasste, pauschal von „der Reformation“ zu sprechen: „Das, was die Refor­ mation zur ‚Reformation‘ macht, war das Urteil der Gegenreformation.“ (Wendebourg: Einheit 34).

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Innenperspektive der reformatorischen Zeitgenossen selbst zum Teil als derart gegensätzlich beurteilt, dass Gemeinschaft im Glauben (oder auch nur Dul­ dung) ausgeschlossen schien.53 Wer also an den Befindlichkeiten der Zeitgenos­ sen nicht völlig vorbei gehen wolle, dürfe den Singular „Reformation“ nur unter Vorbehalten verwenden. Gegen Wendebourg hält Hamm an der Rede von der Einheit der Reforma­ tion ausdrücklich fest und begründet dies mit dem Begriff der „inneren Kohä­ renz“: „Es gibt eine innere Kohärenz der Reformation, d. h. einen aus vielerlei Wurzeln er­ wachsenden inneren (nicht nur von außen zugeschriebenen) Zusammenhang der frü­ hen Reformationsbewegung, aber auch noch der späteren Reformationszweige. Und mit ‚Kohärenz‘ meine ich nicht nur, wie man vielleicht vermuten könnte, daß Einzel­ prozesse, Phasen, Personengruppen, Artikulationsebenen, Institutionen und Bereiche kausal-genetisch miteinander verknüpft sind, im übrigen aber ganz ihrer Eigenlogik folgen […]. Nein, ich meine mehr: eine innere Gemeinsamkeit in dem, wovon man im Leben und Sterben Gewissheit, Sicherheit und Legitimierung erwartet und worin man die Kirche grundlegend verändert haben will.“54

Der Begriff der inneren Kohärenz ziele auf – unter Umständen auch unbewuss­ te und verdeckte – grundlegende Gemeinsamkeiten und umgreife mithin auch etwaige von den Zeitgenossen konstatierte Gegensätzlichkeiten: „Kohärenz als innere Gemeinsamkeit von Ideen, Programmen und Veränderungen ist durchaus vereinbar mit Andersartigkeit, Divergenz und Konflikt, ja sogar mit einer Feindseligkeit, die in Vertretern einer andersartigen Reformation die Agenten Satans und des Antichristen sieht. Daß zwei Menschen oder Richtungen große Gemeinsam­ keiten haben, schließt erfahrungsgemäß nicht aus, daß sie sich erbittert bekämpfen kön­ nen. Es ist oft gerade die gemeinsame Grundlage, die dem Konflikt die ganze Tiefe von Enttäuschung, Verletztheit, Erbitterung und Haß gibt. Und so kann ein partieller Ge­ gensatz das Bewußtsein vom Ausmaß realer Gemeinsamkeit völlig verdrängen.“55

Hamm bietet einen offenen Katalog des „Gemeinsam-Reformatorischen“, vor dessen Hintergrund er die Rede von einer inneren Kohärenz der Reformation gerechtfertigt sieht.56 53 Vgl.

Wendebourg: Einheit 41. Hamm: Einheit und Vielfalt 57. 55  Hamm: Einheit und Vielfalt 58. Sowohl Einheit wie Vielfalt konnten von den Zeitge­ nossen (unbewusst oder gezielt) mitunter überbetont werden: „Es gibt ja in der Reformation nicht nur das Phänomen der nicht bewußten und der heruntergespielten Gemeinsamkeit, sondern auch das Phänomen der nicht bewußten und der heruntergespielten Verschiedenheit – ersteres vor allem in den Jahren ab 1524/25, letzteres vor allem in der Frühzeit und Auf­ bruchsphase der Reformation.“ (Hamm: Einheit und Vielfalt 117). 56 Vgl. Hamm: Einheit und Vielfalt 85 ff. In dem 2008 erschienenen Aufsatz „Die Einheit der Reformation in ihrer Vielfalt“ fokussiert er die Merkmale einer inneren reformatori­ schen Kohärenz auf „das Freiheitspotential der 95 Thesen“ (siehe Hamm: Die Einheit der Reformation). 54 

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In Anwendung des Hammschen Verständnisses auf das Thema der vorliegen­ den Untersuchung sollen im Folgenden gezielt die Merkmale einer inneren Kohärenz der reformatorischen Geschichtszeit konturiert werden, ohne dabei binnenreformatorische Divergenzen auszublenden. Die thematische Fokussie­ rung auf die Rolle der Teufelsvorstellungen für die Ausgestaltung der Ge­ schichtszeit verspricht gerade hinsichtlich der Frage nach einer inneren Kohä­ renz aufschlussreich sein zu können, da die Teufelsvorstellungen das von den Zeitgenossen explizit Abgelehnte und Ausgegrenzte erfassen und von einigen reformatorischen Meinungsführern auch gegeneinander gewendet werden konnten. Dabei bleibt zu fragen, ob hinter der von den Zeitgenossen unter Umständen herausgestellten Gegensätzlichkeit auch Gemeinsamkeiten im Sin­ ne einer inneren Kohärenz aufzufinden sind. Aus diesem Grund wird bewusst ein breiteres Spektrum der reformatorischen Ansätze in den Blick genommen und der Kohärenzbegriff an ausgewählten Beispielen fortlaufend kritisch über­ prüft. Um Quellennähe zu gewährleisten und dem theologischen Gesamtentwurf der Flugschriftenautoren sowie der Kontextualität einzelner Flugschriften ge­ recht zu werden, werden in jedem Kapitel Fallbeispiele vorgestellt. Die Fallbei­ spiele bieten jeweils unterschiedliche Zugänge zu den einzelnen Dimensionen des Zeitbewusstseins, wobei einerseits deren Eigenart dargestellt und gewür­ digt werden, andererseits eben diese Eigenart unter Hinzuziehung weiterer Flugschriftenautoren Eingang in übergreifende Überlegungen zu einer inneren frühreformatorischen Kohärenz finden soll. Die Anzahl der ausgewählten Fall­ beispiele in den jeweiligen Kapiteln über die Zeitdimensionen orientiert sich an der vorfindlichen inhaltlichen Streubreite möglicher Zugänge und kann mithin durchaus variieren. Dabei kann es in Anbetracht der umfassenden Quellenlage allein darum gehen, anhand ausgewählter Flugschriften übergrei­ fende Muster des frühreformatorischen Zeitbewusstseins deutlich zu machen. Es wird durchgehend von „reformatorischen Bewegungen“ gesprochen, um sowohl eine innere Kohärenz als auch die gegebene Vielfalt begrifflich aufzu­ greifen. Als Quellencorpus wurde mit „Flugschriften“ ein Schrifttum gewählt, wel­ ches aufgrund seiner spezifischen Charakteristik und der (insbesondere in der frühen Reformationszeit) in ihm abgebildeten Vielfalt als Grundlage für Über­ legungen zu inneren reformatorischen Kohärenzmerkmalen besonders geeignet scheint. Dabei wird zudem zu untersuchen sein, ob die Quellengattung der Flugschriften in spezifischer Weise auf die Neumodulation des reformatori­ schen Zeitverständnisses einwirkt resp. inwiefern Medialität und Zeitverständ­ nis korrelieren. Auch in diesem Zusammenhang gilt es, die Rolle der Teufels­ vorstellungen herauszuarbeiten, die exemplarisch für die jüngst von Haberer und Hamm zurecht beklagte wissenschaftliche Vernachlässigung des Einflusses

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I. Einleitung

theologischer Sinnformationen auf die Medialität der Reformationszeit stehen können.57

57 Vgl. Haberer / Hamm: Vorwort VI: „Die auf die Medialität einwirkende, impulsge­ bende Dynamik von Theologie, Frömmigkeit und Kirchlichkeit, also die medienverändern­ de Kraft religiöser Inhalte wird unterschätzt.“

II. Flugschriftenpublizistik 1.  „Flugschrift“ als Gattungsbegriff Der Begriff „Flugschrift“ wird in der Literatur seit langem verwendet, obschon er keine präzise Trennschärfe besitzt.1 Ungeachtet der Fülle von Definitionsver­ suchen hat sich keine allgemein verbindliche Fassung herauskristallisiert.2 Die definitorischen Schwierigkeiten resultieren aus dem Umstand, dass der Begriff „Flugschrift“ lediglich ein Sammelbegriff für ein sehr heterogenes publizisti­ sches Phänomen ist und ganz verschiedene literarische Genera unter dieser Be­ zeichnung subsumiert werden (z. B. Traktate, Pamphlete, Predigten, Dialoge, Thesen, Beschwerden, Satiren, Sendschreiben, Bekenntnisse, Prognostiken, Apologien etc.).3 Die Definitionen basieren auf der Erhebung formaler und kommunikativer Merkmale, in deren Zusammenstellung und Hervorhebung jeweils andere Akzentsetzungen vorgenommen werden. Die relative Weite der begrifflichen Bestimmungsmöglichkeiten wurde schon früh angemerkt: „Über­ gänge gibt es in Hülle und Fülle“4, wobei dieser Sachverhalt weniger bekla­ genswert ist denn als Chance begriffen sein sollte, formalistische Verengungen zu vermeiden. Wissenschaftlicher Redlichkeit genügende Definitionsversuche bleiben daher immer eingedenk der Tatsache, lediglich eben solche zu sein. Gleichwohl knüpft sich daran die Verpflichtung, über das eigene Verständnis Auskunft zu geben.5 1 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 22; Moeller / Stackmann: Predigt 223; Stackmann: Pre­ digt 187. 2 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 22; Moeller: Flugschriften 240. 3  Johannes Schwitalla klassifiziert 21 verschiedene Textsorten, die in verschiedenen lite­ rarischen Formen begegnen, vgl. Schwitalla: Deutsche Flugschriften 29–111.367 f. 4  Schottenloher: Flugblatt und Zeitung 17. 5  Aufgrund der Vielschichtigkeit und Kontroversität der Flugschriftenforschung ist nach Todt „[…] in jeder Untersuchung, die sich mit diesem Quellencorpus beschäftigt, zu klären, was eigentlich eine Flugschrift ist.“ (Todt: Kleruskritik 212). Vgl. auch Moeller / Stackmann: Predigt 224: „Angesichts der Tatsache, daß man es bei ‚Flugschrift‘ mit einer Injunk­ tion zu tun hat, wird nach einer pragmatischen Lösung des Definitionsproblems für den je­ weiligen Untersuchungszweck zu suchen sein.“ Vgl. auch Leppin, der den heuristischen Wert des Begriffs der Flugschrift, zugleich aber dessen „idealtypischen Charakter“ betont, welcher der „Subjektivität der jeweils Forschenden breiteren Raum bei der Definition der Quellengrundlage läßt als bei anderen literarischen Gattungen […].“ (Leppin: Jüngster Tag 29 f.).

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II. Flugschriftenpublizistik

Aus der Fülle der unterschiedlichen Definitionen der Gattung „Flugschrift“ hat die Umschreibung von Köhler in der Forschung die breiteste Akzeptanz gefunden.6 Sie basiert auf einem kommunikationswissenschaftlichen Ansatz und bildete die Grundlage für die von Köhler u. a. herausgegebene „Bibliogra­ phie der Flugschriften des 16. Jahrhunderts“: „Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nicht-peri­ odische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d. h. der Beeinflussung des Handelns) und/oder der Propaganda (d. h. der Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet.“7

Auffällig an dieser Definition ist in formaler Hinsicht zunächst das Weglassen des Kriteriums der Kürze einer Flugschrift.8 Wenngleich dies auch kritische Stimmen hervorgerufen hat,9 so hat sich in der Forschung doch tendenziell das Verständnis durchgesetzt, das allzu formale Kriterium der Kürze nicht zu den definitorischen Merkmalen zu zählen und folglich auch ausführlichere Texte als Flugschriften zu verstehen.10 Die Stärke der obigen Definition von Köhler ist, dass sie den Flugschriften­ begriff nicht auf formale Kriterien einengt, sondern Intentionalität und kom­ munikative Funktionalität als konstitutive Elemente setzt. Das Ziel der Agitati­ on und Propaganda wird im Anschluss an Köhler immer wieder deutlich her­ vorgehoben,11 wobei dieser Sprachgebrauch mitunter auch tendenziell abgeschwächt12 oder gar als zu scharf und plakativ zurückgewiesen wurde.13 In jüngeren Publikationen wird daher meist allgemeiner von Informations- und Orientierungsangeboten gesprochen.14 Diese gleichsam neutralere Fassung der Begriffsbestimmung gelte nach Leppin dann beispielsweise auch für astrologi­ 6  Leppin spricht von einer geradezu „kanonische[n] Bedeutung“ (Leppin: Jüngster Tag 22). 7  Köhler: Tübinger Flugschriftenprojekt 4. Vgl. auch Ders.: Präzisierung 50. 8  Dies wird von Köhler selbst ausdrücklich hervorgehoben: „Diese Begriffsbestimmung beschränkt sich nicht auf formale Definitionskriterien und verzichtet ausdrücklich auf den oft hervorgehobenen geringen Umfang als ein für den Flugschriftencharakter konstitutives Merkmal.“ (Köhler: Tübinger Flugschriftenprojekt 4). 9  Vgl. z. B. Leppin: Jüngster Tag 29. 10  Vgl. z. B. Moeller: Flugschriften 240: „Die Einblattdrucke der Zeit lassen sich nur in seltenen Fällen als Flugschriften bezeichnen; hingegen gibt es nicht wenige Schriften von größerem Umfang, die dem literarischen Typ nach als solche anzusprechen sind.“ Vgl. auch Arnold: Handwerker 42, Anm.  14; Moeller / Stackmann: Predigt 224; Schwitalla: Deutsche Flugschriften 23; Stackmann: Predigt 187. 11  Z. B. Hamm: Medienereignis 142: „Eine Flugschrift dient immer dem Zweck der öf­ fentlichen Meinungsbildung. Sie trägt ihren Inhalt mit werbendem Impetus vor, der die potentiellen Leser und Leserinnen zur Entscheidung und häufig auch zum Handeln drängt; insofern ist sie ein Medium der Propaganda bzw. auch der Agitation.“ 12  Z. B. Moeller spricht von „Werbung, ja häufig Agitation und Propaganda“ (Moeller: Flugschriften 240). 13  Z. B. Leppin: Jüngster Tag 28. 14  Vgl. z. B. Todt: Kleruskritik 213; Leppin: Jüngster Tag 28.

1.  „Flugschrift“ als Gattungsbegriff

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sche Weissagungen, die durchaus als Flugschriften anzusehen seien, deren eige­ ner Anspruch jedoch keine Meinungsbildung intendiere.15 Gleichwohl gilt auch z. B. für astrologische Jahrespraktiken, dass sie natürlich aktuelles Orientie­ rungswissen anbieten, aber darüber auch einen im zeitgenössischen Diskurs über rechte Erkenntnisgrundlagen zu profilierenden Deutungsanspruch vertre­ ten und ihren Rezipienten durchaus bestimmte Haltungen oder Einstelllungen und gegebenenfalls Verhaltensänderungen etc. nahelegen.16 Die über Flugschriften evozierte Meinungsbildung wird von vielen Kir­ chenhistorikern als reformatorische Innovation besonders hervorgehoben und sollte mithin auch definitorisch entsprechend gewürdigt werden, da hier erst­ mals in emotionalisierendem Duktus gezielt auf die Einstellungen von Rezi­ pienten einzuwirken versucht wurde.17 Dabei scheint die Betonung (z. B. durch Moeller) resp. Vernachlässigung (z. B. durch Leppin) des Moments der mei­ nungsbildenden Charakteristik von Flugschriften eng mit dem zu betrachten­ den zeitlichen Kontext zusammenzuhängen. Während in der Reformationszeit und hier insbesondere in der frühen Reformationszeit die intendierte Mei­ nungsänderung der Rezipienten besonders deutlich hervortritt,18 scheinen die Flugschriften des konfessionellen Zeitalters eher auf Stabilisierung und Nor­ mierung bereits ausgebildeter Überzeugungen zu zielen,19 sodass sich in Inten­ tionalität und Funktionalität von Flugschriften tendenziell epochengeschichtli­ che Kontexte spiegeln, die jeweils auf die Grundcharakteristik von Flugschrif­ ten zurückwirken. In der vorliegenden Untersuchung wird hinsichtlich der Intentionalität der Flugschriften von einer grundsätzlichen „persuasiven“ Charakteristik gespro­ chen, wobei darunter 15 Vgl.

Leppin: Jüngster Tag 29. Siehe unten 300 ff. 17 Man werde „[…] die Emotionalisierung, die sie bewirkten, hervorzuheben haben. Zum ersten Male seit der Erfindung des Buchdrucks wurde in Büchern nicht Wissen, son­ dern Meinung transportiert, auch kamen zum ersten Male in weitem Maß zeitgenössische Autoren zu Wort. Diese aber traten mit enormer Begeisterung, Leidenschaft und Zuversicht für ihre Sache ein, drängten, wenn sie für die Reformation eintraten, auf die Konversion der Leser und stellten das bestehende Kirchenwesen radikal in Frage, wobei die Gegenwart viel­ fach als Heilszeit ausgerufen wurde. Die Eindruckskraft dieser Verkündigung, die ohnehin groß war, wurde durch das neue Medium verstärkt.“ (Moeller: Flugschriften 242 f.). 18  Dies wird auch von Leppin: Jüngster Tag 35 für die Reformationszeit durchaus zuge­ standen, doch verwahrt sich Leppin gegen eine allein auf die Reformationszeit verengte Vereinnahmung der Flugschriftencharakteristik. 19 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 37: „Konfessionell relevante Schriften hatten mithin nur noch mittelbar den Zweck, den Gegner für die eigene Meinung zu gewinnen. Zunächst mußten sie der Stabilisierung der schon gewonnenen konfessionellen Überzeugung bzw. der territorialen oder städtischen Durchsetzung konfessioneller Geschlossenheit dienen und sind daher auch nicht so sehr unter der für die Reformation beliebten – und richtigen – kämpfe­ rischen Perspektive zu lesen, sondern eher unter der Perspektive einer Normierung von Anschauungen auf der Basis rechtlich-normativer Einheit.“ 16 

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II. Flugschriftenpublizistik

„[…] diejenigen texte verstanden [sind], deren textinterne autor- und rezipientenrollen und textuelle nachrichten starke (subjektive) momente des autoren-engagements ent­ halten und über appell, emotion, assoziation, auch kongition, einfluß auf psyche, be­ wußtsein, verhalten des rezipienten nehmen wollen.“20

Der solchermaßen konturierte Begriff der „Persuasion“21 bietet bei einer An­ wendung auf die Flugschriftenpublizistik gleich mehrere Vorteile: Zum einen können die zu politisierenden Verengungen und anachronistischen Missver­ ständnissen einladenden Begriffe „Agitation“ und „Propaganda“ vermieden werden, ohne deren Semantik verlustig zu gehen. Zum andern umgreift der vorgeschlagene Begriff der Persuasion sowohl die Intention des Einstellungs­ wechsels wie die der -festigung 22 und scheint daher besonders geeignet, verschie­ dene Dimensionen der intentionalen Einwirkung auf die Rezipienten inkludie­ ren und damit auch die angesprochene tendenzielle Verlagerung im Verlauf des 16. Jahrhunderts erfassen zu können. Neben diesem Inklusionspotential dient der Persuasionsbegriff aber auch der Pointierung, indem er eine andere Akzentuierung des Charakters von Flug­ schriften impliziert als der der Information im Sinne der Bereitstellung von Orientierungswissen. Insbesondere bezüglich der frühen Reformationszeit soll­ te die Gattung „Flugschrift“ nicht allzu sehr neutralisiert werden, zumal der Informationsbegriff faktisch eine nochmalige Ausdehnung der ohnehin weitge­ fassten Gattungsbestimmung bedeutet, die damit Gefahr läuft, jegliche Trenn­ schärfe einzubüßen. Gleichwohl müssen nach den stürmisch-erregten Anfangs­ jahren der Reformation auch Akzentverschiebungen im Charakter von Flug­ schriften hin zu einer eher informierenden Intentionalität in ihrer Möglichkeit berücksichtigt werden. Die definitorische Erfassung des Phänomens der Flug­ schriften bedarf daher einer differenzierenden epochengeschichtlichen Kontex­ tualisierung, deren jeweilige Spezifika Eingang in die Begriffsbestimmung er­ halten sollten. Will man also eine allein auf die Reformationszeit verengte Ver­ einnahmung des Flugschriftenbegriffs vermeiden, so tritt die persuasive Qualität der Flugschriften tendenziell zugunsten eines neutraleren Nachrich­ tencharakters in den Hintergrund, für die Fragerichtung der vorliegenden Stu­ die allerdings bleibt sie von grundlegender Bedeutung und hängt – wie zu zei­ gen sein wird – mit dem Untersuchungsgegenstand untrennbar zusammen. 20  Waldmann: Zum zeichensystem 412. Vgl. zur Charakteristik persuasiver Texte auch Fuchs: Sprechen in Gegensätzen 122 ff. 21  Pettegree erhebt den Begriff „Persuasion“ zu Recht zum kommunikationshistorischen Leitbegriff der Reformationszeit; zu den Flugschriften insbesondere siehe Pettegree: Re­ formation and the Culture of Persuasion156–184. Zum Begriff der Persuasion im Allgemei­ nen siehe den Sammelband Hoffmann / Kessler (Hgg.): Beiträge zur Persuasionsforschung. Zur Bedeutung und Funktion des Begriffs in der Rhetorik siehe Knape: Art. „Persuasion“ Sp.  874 ff. 22 Vgl. Fuchs: Sprechen in Gegensätzen 124.

1.  „Flugschrift“ als Gattungsbegriff

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Unabhängig von der Frage, ob Flugschriften primär informierenden oder persuasiven Charakter haben, verweisen beide Intentionen auf eine ganz we­ sentliche Bestimmung des Flugschriftencharakters, die in der obigen Definition von Köhler nicht aufgenommen ist: der Bezug auf aktuelle Themen oder Kon­ texte. Der Aktualitätsbezug gilt gerade im Unterschied zum Bücherdruck und muss unbedingt als gattungskonstitutiv betrachtet werden,23 zumal der Aktua­ litätsbezug von Druckerzeugnissen erst mit dem Aufschwung des Phänomens der Flugschriften auftritt und mithin ebenfalls eine reformatorische Innovation im Mediengebrauch darstellt. Als ein weiteres Definitionsmerkmal gilt Köhler der unspezifische Adressa­ tenbezug der Flugschriften, die sich an die „gesamte Öffentlichkeit“ wenden, worin ihm viele weitere Definitionsversuche gefolgt sind.24 Jedoch wurde kri­ tisch angemerkt, dass eine derartige Gesamtheit in sozialer Hinsicht spezifiziert werden müsse: Angesichts der geringen zeitgenössischen Quote von Lesefähi­ gen von ca. 10 % 25 könne von einer gesamten Öffentlichkeit als Adressat von Druckschriften schwerlich gesprochen werden, zumal selbst das Attribut einer grundlegenden Lesefähigkeit nicht gleichbedeutend mit Partizipationsfähigkeit an Lesekultur und daher im 16. Jahrhundert von vielen Semiliteraten auszuge­ hen sei, mit denen als eigenständige Leser von Flugschriften wohl kaum zu rechnen ist.26 Hinzu komme die finanzielle Aufwendung für den Erwerb von Flugschriften, deren Preise – bei allen Unsicherheiten in der Rekonstruktion – sicher gering waren, aber dennoch ebenfalls als soziale Einschränkung des Ad­ ressatenkreises zu berücksichtigen seien.27 So seien primäre Adressaten von Flugschriften lesefähige und finanziell gesicherte Käufer in eher städtischem Milieu.28 Zudem richteten sich z. B. lateinische Flugschriften gezielt am gebil­ deten Publikum aus,29 sodass es angebrachter scheint, von einem „anonymen Publikum“30 zu sprechen, das aber in einer gewissen sozialen Differenzierung anvisiert sei. Dennoch bleibt zu betonen, dass – zumindest bei volkssprachig verfassten Flugschriften – ein möglichst zahlreiches Publikum erhofft ist, welches in emphatischem Gestus durchaus als umfassende Gesamtheit adressiert wird.31 23 

Vgl. z. B. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 56 f. Moeller: „in der Regel richteten sie [die Flugschriften] sich an die gesamte Öf­ fentlichkeit, nicht an eine bestimmte Leserschaft.“ (Moeller: Flugschriften 240). 25 Vgl. Scribner: Flugblatt 60; Leppin: Jüngster Tag 24, Anm.  41. 26 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 25 f. 27  Zu den Preisen für Flugschriften vgl. Leppin: Jüngster Tag 24 f., Anm.  42 mit Literatur. 28 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 24 f. 29 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 24. 30 So Leppin: Jüngster Tag 27. 31  Der Wert deutschsprachiger, verständlich geschriebener Flugschriften wird z. B. von Eberlin ausdrücklich hervorgehoben, da diese ihre Rezipientenschaft nicht über soziale und ständische Kriterien verengten. Eine derartige Verengung wird als unredlich beurteilt, da die Wahrheit offen ans Licht gebracht und also alle Bevölkerungsteile erreichen müsse. Ver­ 24  Z. B.

22

II. Flugschriftenpublizistik

Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich die Flugschriftenautoren et­ waigen sozialen Differenzierungen in der Ansprache ihrer Leser bezeichnen­ derweise enthielten und ausdrücklich sozial unspezifizierte Formeln verwende­ ten,32 kann das Zielpublikum als „dispers“ beschrieben werden. Damit ist dann nicht eine aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ganz unwahrscheinliche Ge­ samtheit empirischer Rezipienten postuliert, gleichwohl aber die zeitgenössisch als revolutionär erlebte zunehmende soziale Entgrenzung eines erhofften Mas­ senpublikums berücksichtigt.33 Auch die Autorenschaft der Flugschriften rekrutiert sich nicht mehr aus­ schließlich aus bestimmten ständischen Milieus, sondern auch aus laikalen Krei­ sen ganz unterschiedlicher Couleur.34 Was als bezeichnendes Novum für die Produktion gilt, wird man wohl erst recht für die Rezeption von Flugschriften annehmen dürfen: „‚Selbst-schreiben‘ und ‚selbst-lesen‘ wird von einer ständi­ schen zu einer ‚gemeinen‘ Tätigkeit.“35 Die Flugschriften stehen damit beispiel­ haft für einen umfassenden Funktionswandel der Literatur in der Reformati­ onszeit. Dieser betrifft, so lässt sich mit Moeller zusammenfassend sagen, die

ständliches Deutsch zu schreiben avanciert für Eberlin aufgrund der vom sozialen Status der Rezipienten unabhängigen Nachvollziehbarkeit geradezu zum Kriterium der Wahrheit (vgl. Eberlin: Bundesgenossen 80.84 f.86). 32  Formeln wie „an eyn christlich gemayn“, „allen christlichen lesern“ (Osiander: Sendbrief 95,1.3), „o christlicher leser“ (Osiander: Vorrede 91,7.) etc. finden sich in diversen Flugschriften. Dass die Gesamtheit der Rezipientenschaft nicht nur angestrebt, sondern in der Wahrnehmung der Flugschriftenautoren auch erreicht wurde, wird deutlich, wenn die Autoren mit der umfassenden und an alle Bevölkerungsteile ergangenen Wiederentdeckung der Offenbarung argumentieren: Jeder (auch der Nichtlesefähige) könne auf der Basis der in den Flugschriften dargebotenen reformatorischen Lehre der Wahrheit teilhaftig werden, für Unwissenheit gebe es keine Entschuldigungen mehr (vgl. z. B. Rhegius: Ernstliche erbietung A2b.B4b; Spengler: Verantwortung 368,17–20), siehe dazu unten 264 ff. 33  Zu genaueren Überlegungen zum Adressatenkreis von Flugschriften siehe unten 31 ff. 34 Vgl. Hamm: Medienereignis 143: Es ist bezeichnend „[…] für den reformatorischen Schub an popularisierender Öffentlichkeitswirkung von Theologie und Kirchenkritik in den Jahren 1518 bis 1522, daß danach auch Laien – und zwar nicht nur akademisch gebildete Gelehrte, sondern auch eine nicht geringe Zahl von Menschen ohne Universitätsbesuch, Adelige, Handwerker, Künstler und andere Stadtbürger, selten sogar Frauen – Flugschriften verfaßten.“ Vgl. Ders.: Medienereignis 155: „Die an diesem öffentlichen Kommunikations­ geschehen aktiv Beteiligten kommen aus höchst unterschiedlichen Bereichen und Niveaus der Bildung, des sozialen Status, des wirtschaftlichen Vermögens und der politischen Macht […].“ Zur Autorenschaft von Laien vgl. auch Blickle: Reformation 89; Mörke: Die Refor­ mation 131 f. Dies entspricht auch der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen: Z. B. nach Osiander treten in der reformatorischen Gegenwart nicht nur die Gelehrten und Theologen, sondern bezeichnender Weise alle gesellschaftlichen Stände, alle Geschlechter und alle Ge­ nerationen auf die Seite des Evangeliums – für ihn untrügliches Zeichen der Endzeit (vgl. Osiander: Vorrede 91,11–16). Insbesondere die Verkündigungstätigkeit von Frauen wird als besonders aussagekräftig herausgestellt (vgl. Eberlin: Zuschreiben 126 f.). 35  Giesecke: Buchdruck 173.

1.  „Flugschrift“ als Gattungsbegriff

23

Funktion der Buchproduktion 36 , der Bücher 37, der Autoren 38 , der Sprache39 und des Lesens40. Die geschichtswissenschaftlichen Bemühungen, das neu entstehende, sich in beachtlicher Vielfalt in der frühen Reformationszeit erst entwickelnde publizis­ tische Phänomen der Flugschriften auf einen Begriff zu bringen, sollten sich daher retrospektiv eingezogener festgefügter Gattungsgrenzen enthalten, um nicht an der zeitgenössischen Wirklichkeit vorbeizugehen.41 Basierend auf den obigen Überlegungen wird, gezielt zugerichtet auf die Gegebenheiten der vor­ liegenden Studie, folgende Definition zugrunde gelegt: Eine Flugschrift ist eine mehrblättrige, selbstständige, nicht-periodische und ungebundene Druckschrift, die sich in persuasiver Intentionalität und entsprechendem Duktus aktuellen Themen und Kontexten zuwendet und an ein disperses und möglichst zahlreiches Publikum richtet.

36 Vgl. Moeller: Flugschriften 243: „Mit der Reformation, vorrangig mit den reforma­ torischen Flugschriften, nahm die Buchproduktion zum ersten Mal industrielle Formen an. Neben technischen Veränderungen waren solche des Produktionsgeschäfts die wichtigsten Konsequenzen. Zum ersten Mal fielen die Produktion gedruckter Bücher und die Verbrei­ tung neuer Ideen zusammen. Für die Drucker hatte das in vielen Fällen ein verstärktes, ja existenzielles Engagement für die eigene Produktion zur Voraussetzung und ein neuartiges Risiko zur Folge. Doch wurde die Verbreitung von Neuem, der Kampf gegen das Bestehen­ de nun auch zu einer Verdienstquelle, das Buch wurde in seiner Bedeutung als Handelsgut neu definiert.“ 37 Vgl. Moeller: Flugschriften 243: „Denn die Bücher boten ja nun nicht alte, sondern fast durchweg zeitgenössische Texte, ja sie enthielten ‚das Neueste‘, und geistige Grenzüber­ schreitungen und Experimente waren in vielen niedergelegt. In Büchern fielen Lebens- und Heilsentscheidungen und wurden den Lesern aufgenötigt – der Buchdruck produzierte die aktuellste und erregendste Ware, die es gab.“ 38 Vgl. Moeller: Flugschriften 243: „Neuartig war unter den gegebenen Umständen auch die Stellung des Autors. Erstmals wurden Zeitgenossen durch die Abfassung von Bü­ chern öffentlich bekannt und profiliert. Für die Autoren stellte sich in einer kaum je zuvor gegebenen Dringlichkeit die Aufgabe, sich auf Leser einzustellen, sich ihnen anzupassen und verständlich zu machen.“ 39 Vgl. Moeller: Flugschriften 243 f.: „Doch unterlag die deutsche Literatursprache selbst einer bedeutenden Veränderung, ihre soziale Basis erweiterte sich wesentlich: Die gespro­ chene Sprache fand in Büchern Platz, das Alltagsdeutsch wurde literaturfähig […].“ 40 Vgl. Moeller: Flugschriften 244: „In einer alles Frühere in den Schatten stellenden Weise gewann das Lesen nunmehr Existenzbedeutung, und neben der Bibel waren es die Flugschriften, denen dies zugute kam. […] Sie boten ja, was einen unbedingt anging, er­ schlossen einem die Welt und die Wahrheit, man brauchte sie zum Wiederholen und Erin­ nern. So gab es im Zusammenhang mit Flugschriften ‚Leseerlebnisse‘ in einem späteren Zeiten schwer nachvollziehbaren Maß […].“ 41  Bei der Flugschriftendefinition sollte daher nicht von zwingenden, sondern von typi­ schen Merkmalen, die im Einzelfall nicht alle gegeben sein müssen, gesprochen werden.

24

II. Flugschriftenpublizistik

2.  Die Produktion von Flugschriften Köhler geht für das deutsche Sprachgebiet zwischen 1501 und 1530 von einer Flugschriftenpublikation von ca. 10000 Ausgaben aus. Als durchschnittliche Auflagenhöhe nimmt er die in der Forschung gängige Zahl von ca. 1000 Exem­ plaren an.42 Dies entspricht etwa 10 Millionen Flugschriftenexemplaren. Bei einer mutmaßlichen Einwohnerzahl im Reichsgebiet von ca. 12 Millionen ent­ fällt beinahe ein Exemplar auf jeden Einwohner. Stellt man in Rechnung, dass nur etwa 5 bis 10 % der Bevölkerung lesefähig waren, entfallen auf jeden Lese­ fähigen ca. 15–20 Flugschriftenexemplare.43 Innerhalb der von Köhler zusammengestellten und ausgewerteten Zeitspan­ ne (1501–1530) stechen die Jahre 1520–26 signifikant hervor: Auf diese sieben Jahre entfallen fast ¾ der gesamten Flugschriftenproduktion der ersten drei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts, genaugenommen 73,9 % der Gesamtproduk­ tion, über 11000 Drucke mit mehr als 11 Millionen Exemplaren, was eine beinahe Vervierfachung (381 %) des Volumens der Jahre 1518/19 und eine Ver­ fünfundfünfzigfachung der Periode vor 1518 bedeutet. Ab 1525 fällt die Pro­ duktionskurve beträchtlich ab, sodass ein deutlicher „Einbruch der Flug­ schriften­konjunktur am Ende des Bauernkrieges“ zu verzeichnen ist.44 Damit erscheinen diese Jahre als „deutlich abgegrenzter Zeitraum eines ‚Produktions­ booms‘“45 bzw. einer „Flugschriften-Hausse“46 , womit der Untersuchungszeit­ raum der vorliegenden Studie schon in produktionsorientierter Blickrichtung begründbar ist. Zudem bildet das Jahr 1520 nicht allein in quantitativer, son­ dern auch in qualitativer Hinsicht eine Zäsur, da ab hier die deutschsprachigen Flugschriften die lateinischen signifikant überwiegen, was auf eine umfassende Veränderung in Adressatenbezug und kommunikativer Funktion der Flug­ schriften hindeutet.47 Die thematische Agenda der Flugschriften ist im Einzelnen breit gestreut, doch ein Bezug zu den Themen Theologie, Religion und Kirche ist fast immer gegeben: Nicht einmal 5 % der Flugschriften behandeln diese Themenbereiche nicht wenigstens teilweise, womit die zeitübliche Beliebtheit dieser Themen auf

42 

Vgl. z. B. Moeller: Flugschriften 242; Leppin: Jüngster Tag 27, Anm.  59. Köhler: Erste Schritte 248–250. 44 Vgl. Köhler: Erste Schritte 251. 45  Köhler: Erste Schritte 250. 46  Köhler: Erste Schritte 252. 47 Vgl. Köhler: Erste Schritte 251: „Deutlicher noch als die quantitative Ausweitung der Produktion zeigt dieses Faktum die tiefgreifende Wandlung der mit Hilfe der Flugschriften geführten öffentlichen Diskussion. Erst jetzt begann sich das Medium tatsächlich an wirklich jedermann zu wenden. Es wird also entschieden daran festzuhalten sein, daß der Einsatz von Flugschriften in den frühen 20er Jahren des 16. Jahrhunderts eine durchaus neue Qualität gewonnen hat.“ Vgl. zur Zäsur um 1520 auch Hamm: Medienereignis 141. 43 Vgl.

2.  Die Produktion von Flugschriften

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TAFEL 1: Chronologische Übersicht über die FS-Produktion (differenziert nach der Sprache der Flugschriften) Auswahl: Alle bisher als Mikrofiches publizierten Flugschriften-Ausgaben [%] 16 15 14 Gesamtmenge 3016 = 100,00 % Oberdeutsche FS 2373 = 78,68 % Niederdeutsche FS 14 = 0,46 % Lateinische FS 629 = 20,85 %

13 12 11

Nota: Die niederdeutschen FS sind bei dieser Auswahl unter-repräsentiert. Eine bessere Verteilung bietet der Anteil der niederdeutschen FS etwa im Bestand der HAB Wolfenbüttel. Er beträgt dort 3,33 %

10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0

1502 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 Aus: Köhler: Erste Schritte 266, Tafel 1.

dem Buchmarkt bei der Gattung Flugschrift nochmals deutlich gesteigert ist.48 Dabei lässt sich zudem feststellen, dass die Flugschriften in weitüberwiegender Mehrheit im Dienste der reformatorischen Ideen stehen, während altgläubige Autoren von dem neuen Medium kaum Gebrauch machen.49 Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Sonderstellung Luthers als eindeutig erfolgreichs­ tem Flugschriftenautor,50 wenngleich sich vor allem ab 1520 auch andere Auto­ ren durch rege Publikationstätigkeit in den reformatorischen Meinungsbil­ dungsprozess einschalten und diesen wesentlich mitbeeinflussten,51 sodass 48 Vgl. Köhler: Erste Schritte 255; Burkhardt: Reformationsjahrhundert 63: „Ver­ wunderlicher als das Meinungsspektrum der ersten druckgestützten Öffentlichkeit ist die Einheitlichkeit der Agenda, die aus der verpflichtenden Kraft der Bibel rührte, dem Text, der vom letzten Urheber aller Information stammte.“ 49  Den altgläubigen Druckern kam nur ein „sehr geringer Anteil […] an der Gesamtpro­ duktion der Reformationszeit zu.“ (Hamm: Medienereignis 146). „Das neue Flugschriften­ genre ist denn auch inhaltlich fast exklusiv für die Reformation genutzt worden.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 29). Viele altgläubige Autoren hatten gar erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt einen Drucker zu finden (vgl. Burckhardt 44). 50  Zu Luthers Erfolg als Publizist vgl. Kaufmann: Luther und die reformatorische Bewe­ gung 186: 1518–1525 erschienen von Luther 287 Flugschriften in 1737 Drucken (davon 219 bzw. 1465 in deutscher Sprache). Die führenden altgläubigen „Erfolgsautoren“ haben zu­ sammengenommen noch nicht einmal die Hälfte der Publikationstätigkeit Luthers erreicht. Vgl. auch Mörke: Die Reformation 131. 51  Vgl. auch Burkhardt: „Nach der Ein-Mann-Veranstaltung des Anfangs aber setzte in den 1520er Jahren eine breite reformatorische Bewegung ein, hinter der ein umfassender, von

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II. Flugschriftenpublizistik

Luther unbestritten eine „hervorragende Initialbedeutung“52 zukommt, aber die Rede von einer „lutherischen Engführung“53 der Vielfalt des frühreforma­ torischen Kommunikationsprozesses kaum gerecht wird.

3.  Reformatorischer Medienverbund und neue Öffentlichkeitskultur Aufgrund ihrer persuasiven Intentionen wurden Flugschriften insbesondere im Untersuchungszeitraum dieser Studie zum Druck-Mittel für gesellschaftliche Veränderungen und waren an der Herstellung von Öffentlichkeit wesentlich beteiligt. Über die Öffentlichkeitsstruktur der Reformationszeit liegen bereits viele fundierte Untersuchungen vor: Grundsätzlich ist sie durch einen gewan­ delten Mediengebrauch gekennzeichnet, der die traditionalen kirchlichen Kom­munikationsformen tendenziell entmachtete und ersetzte.54 Durch den neuartigen Aktualitätsbezug des reformatorischen Medieneinsatzes erhöhte sich die Veränderungsgeschwindigkeit der Öffentlichkeit 55 und deren Sozialstruk­ tur, was ihr einen ganz eigenen Charakter verlieh: „Die reformatorischen Medien setzen einen Prozeß aktueller Meinungsbildung in Gang, der die Beschränkungen der bisherigen religiösen Kommunikation überwindet und alle Stände und Sozialgruppen erfaßt. Sie bewirken daher, zumindest zeitweilig und im Ansatz, eine neue Art von Öffentlichkeit, die man – im Unterschied zu einer vertikalen, herrschaftsbestimmten, repräsentativen Öffentlichkeit – als eine horizontale, von Herrschaftsverhältnissen gelöste Öffentlichkeit charakterisieren kann. […] Durch die Reformation entsteht so erstmals eine allgemeine Öffentlichkeit der aktuellen und parteiischen Meinungsbildung und Meinungsäußerung.“56

Für diesen neuen Öffentlichkeitscharakter ist bereits von Wohlfeil der Terminus der „reformatorischen Öffentlichkeit“ geprägt worden,57 der freilich durch die Beschreibung von Teilöffentlichkeiten und Subsystemen weiter differenziert werden kann.58 Der spezifische Charakter der reformatorischen Öffentlichkeit hängt mit der Rolle des Buchdrucks essentiell zusammen: Die reformatorische Öffentlichkeit vielen Kräften getragener Meiungsbildungsprozeß stand, der in der Tat wohl zum ersten Mal in der Geschichte ‚Öffentlichkeit‘ herstellte.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 56) 52  Kaufmann: Luther und die reformatorische Bewegung 186. 53  Moeller: Was wurde gepredigt 193. 54 Vgl. Hamm: Medienereignis 163. 55 Vgl. Hamm: Medienereignis 165: „Dagegen ist die reformatorische Meinungsbildung in Predigt, Tagesschrifttum und Gespräch prinzipiell auf das aktuell Neueste, auf neu Gefun­ denes und Freigelegtes bezogen; sie ist daher eine rasch entstehende und sich schnell verän­ dernde Öffentlichkeit.“ 56  Hamm: Medienereignis 165. 57  Zum Begriff der reformatorischen Öffentlichkeit siehe Wohlfeil: „Reformatorische Öffentlichkeit“ 41–52; Ders.: Einführung 123–133. 58 Vgl. Schilling: Bildpublizistik 160–162; Körber: Öffentlichkeiten.

3.  Reformatorischer Medienverbund und neue Öffentlichkeitskultur

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war vor allem eine „ganz neuartige druckgestützte Öffentlichkeit“,59 die wie­ derum in erster Line durch die Flugschriftenpublizistik konstituiert wurde.60 Bereits Moeller wies darauf hin, dass der Durchbruch der Reformation ohne die typographischen Medien nicht erklärbar ist: „Ohne Buchdruck keine Re­ formation.“61 Vor allem als Stimulans für den öffentlichen Meinungsbildungs­ prozess wuchs den Flugschriften entscheidende Bedeutung zu – Meinungen wurden erst zu öffentlichen Meinungen, wenn sie gedruckt wurden.62 Die öf­ fentlichkeitsbildende Funktion der Flugschriften wird denn auch in der Litera­ tur allerorten herausgestellt und steht außer Frage, jedoch darf die Bedeutung der Flugschriften nicht als alleiniges Konstituens dieser Öffentlichkeit missver­ standen werden.63 Überpointierungen wie z. B. die Formel „sola scriptura“ sei am treffendsten mit „allein durchs Buch“ zu übersetzen64 sollten vermieden werden, um die Unterschiedenheit der reformatorischen Öffentlichkeit von der bürgerlichen Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zu verwässern, da erstere in formaler Hinsicht keine literarisch dominierte Öffentlichkeit war.65 So ist stets das Wechselverhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Reformationszeit zu beachten und eine Bedeutungsnivellierung der nichtlitera­r ischen Medien zu vermeiden: 66 „Das Ewangelion (sprich ich) ist zu euch

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Burkhardt: Reformationsjahrhundert 35. Hamm: Medienereignis 141: „Am Anfang der überwältigenden Öffentlichkeits­ wirkung der Reformation stand […] vor allem das Massenmedium der Flugschrift. Millio­ nen von Flugschriften, die das Reich, besonders die Städte, binnen weniger Jahre über­ schwemmten, ließen die Reformation zur ersten Ketzerei der Kirchengeschichte, ja zur ers­ ten epochalen Bewegung der Geschichte überhaupt werden, die ihren Durchbruch der neuen und seit Gutenberg zu hoher Leistungskraft entwickelten Technologie des Buchdrucks und dem damit verbundenen Auf bau eines zügig funktionierenden Vertriebsnetzes verdank­ te.“ Vgl. auch Kaufmann: Luther und die reformatorische Bewegung 186. 61  Moeller: Kommunikationsprozeß 88. 62  Giesecke: Buchdruck 474 sieht die „typographischen Medien als Bedingung der öf­ fentlichen Meinungsbildung. […] Der Meinungsstreit entbrennt in einer Intensität in den typographischen Medien, die sich hernach lange nicht wiederholen sollte. Aber von diesem Zeitpunkt an hat sich der Begriff der ‚öffentlichen Meinung‘ unlösbar an die neuen Medien gebunden.“ 63  So etwa bei Balzer: Reformationspropaganda 13. 64  Kerlen: Protestantismus und Buchverehrung 22. 65 Vgl. Hamm: Medienereignis 153 f.: Die „personalen Medien ‚face to face‘ bestimmten in traditionell eingespielter Weise die konkrete Kommunikationssituation vor Ort; und die­ se vielfältigen lokalen und regionalen Verständigungsvorgänge bildeten in ihrem Zusam­ menspiel das Gesamtgeschehen der Reformation. Es hatte damit in dominierender Weise nicht-literarischen Charakter. Hier liegt der wichtigste Unterschied zwischen dem Mediene­ reignis Reformation und allen Erscheinungsweisen öffentlicher Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert.“ Zudem ist die reformatorische Öffentlichkeit in inhaltlicher Hinsicht kei­ ne auf bürgerliche Emanzipation gerichtete politische Öffentlichkeit, vgl. Burkhardt: Re­ formationsjahrhundert 56. 66  Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Reformation siehe Mörke: Die Reformation 133 f. 60 Vgl.

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II. Flugschriftenpublizistik

kommen durch zungen vnd federn […].“67 Vor allem Scribner gebührt das Verdienst, auf diesen Sachverhalt aus der Perspektive des Sozialhistorikers im­ mer wieder hartnäckig hingewiesen zu haben.68 Im reformatorischen Kommunikationsprozess sind verschiedene Medien in­ volviert und greifen ineinander. Hamm unterscheidet zunächst mündliche und literarische Medien (des gesprochenen und geschriebenen Wortes), visuelle und auditive Medien (z. B. Bilder und Musik) sowie Medien der Aktion (z. B. Demonstrationen und Aufläufe) und ordnet diese zwei grundlegenden Katego­ rien zu: „1. der unmittelbaren (direkten), stets personalen Kommunikation im gleichen Raum zur gleichen Zeit […] oder 2. der medial vermittelten, vor allem durch technische Ver­ vielfältigung hergestellten (indirekten) Kommunikation, die Menschen unterschiedli­ cher Räume und Zeiten miteinander verbinden kann […]“69

Unmittelbare und vermittelte Kommunikationsformen sind dabei im Mediene­ reignis der Reformation aufs Engste verbunden, wenn insbesondere die Flug­ schriften in vielfältiger Weise mit anderen Medien korrelieren. Dies gilt vor allem für die mündliche Kommunikationsform der Predigt, welche mit der Reformation ebenfalls einen wesentlichen Bedeutungsschub er­ hielt.70 Beide Medien befruchteten sich wechselseitig: Die Inhalte der Predigten wurden in Flugschriften aufgegriffen und weiterverarbeitet – wie auch umge­ kehrt.71 Viele Flugschriften empfehlen die Predigt ausdrücklich als weitere In­ formationsquelle,72 wobei sie auch an „Winkelprediger“ verweisen, die vor den Toren der Stadt, in Wirts- oder Privathäusern mitunter besser predigten als die offiziellen Kanzelprediger.73 Das Verfassen einer Flugschrift bot zudem die Möglichkeit, etwaige gegen den Autor ausgesprochene Predigtverbote zu um­ gehen und die subversiven Inhalte zu publizieren.74 Flugschrift und Predigt 67 

Eberlin: tröstliche Vermahnung 143. Siehe z. B. Scribner: For the Sake; Ders.: Flugblatt 65–76. 69  Hamm: Medienereignis 138. 70  Vgl. z. B. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 58; Kaufmann: Luther und die re­ formatorische Bewegung 187. 71  „Indem die Flugschriften die reformatorische Predigt aufnahmen und ihrerseits eine polymorphe Kultur mündlicher Kommunikation freisetzten, hatten sie maßgeblichen Anteil am komplexen Rezeptionsgeschehen der Frühreformation.“ (Hohenberger: Lutherische Rechtfertigungslehre 160). Vgl. auch Hamm: Medienereignis 154: „Erst die vielen Refor­ mationspredigten, die dann auch oft in einer Druckfassung erschienen, schufen jene erregte Situation, in der Flugschriften, Flugblätter und Bibelübersetzungen das Interesse größerer Bevölkerungskreise fanden. Und die Druckerzeugnisse entfalteten ihrerseits ihre Wirkung vor allem über die direkte Mündlichkeit und Aktion.“ Zur Wechselwirkung von Flugschrif­ ten und Predigten vgl. auch Mörke: Die Reformation 133. 72 Vgl. Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 134. 73  Vgl. z. B. Kettenbach: „Darumb mag man auch an sant Michelsberg predigen vf dem feldt. Vnd zu Vlm in den trinckstubenn vnd Burger heüser geschehenn etwan besser predi­ gen dann vff allen Canceln der Statt.“ (Kettenbach: Ulm 107,20–23). 74  Z. B. Kettenbach weist schon im Titel der Flugschrift „Ein Sermon zu der löblichen 68 

3.  Reformatorischer Medienverbund und neue Öffentlichkeitskultur

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stehen daher nicht in einer Konkurrenzsituation, sondern in einem Verbund, welcher einen Multiplikationseffekt ermöglicht, der den reformatorischen Er­ folg beider Medien begründet.75 Vielfältige Kongruenzen bestehen auch zwischen Flugschriften und Flug­ blättern, welche sich häufig einer Text-Bild-Kombination bedienten.76 Wie eng man sich die wechselseitige Bezogenheit von Flugschriften und -blättern vor­ stellen muss, kann man den Flugschriften mitunter selbst entnehmen: Die Flug­ schrift „Ein gesprech auff das kurtzt zwuschen eynem Christen vnd Juden“77 wurde 1524 zusammen mit dem Flugblatt „Euangelischer Prediger“, gleichsam als Medienpaket, veröffentlicht.78 In der Flugschrift wird geschildert, wie sich in einem Wirtshaus ein Gespräch entwickelt, in dem das erwähnte Flugblatt eine zentrale Rolle spielt. Die Bildinhalte des Flugblatts werden in der Flug­ schrift gezielt vertieft, erklärt und diskutiert. Diese in der Flugschrift dargestell­ te multimediale Kommunikationssituation zeigt anschaulich, wie eng mündli­ che, schriftliche und bildliche Medien ineinandergreifen und wechselseitig ver­ schränkt sein konnten. Dies gilt z. B. auch für Dramen79 oder Lieder, für deren Verbreitung die Flug­ schriften die entscheidende Voraussetzung bildeten: „Für viele andere Formen der Vermittlung reformatorischen Gedankenguts waren Druckschriften als Primärquellen unerlässlich. ‚Dramen‘ oder Spielstücke z. B. mussten zur Aufführung und Umsetzung schriftlich fixiert vorliegen. Ähnliches galt für die Nachgestaltung von Dialogen, die Diskussion über Publiziertes, die Darbietung von Liedern und Gedichten oder das schlichte Vorlesen – immer bedurfte es zunächst des gedruckten Materials. Der Einfluß der Flugschriften auf den allgemeinen Meinungsbil­ dungsprozeß ist daher gar nicht hoch genug einzuschätzen, haben diese Publikationen doch über all ihre prägenden Akzentuierungen hinaus in einem hohen Maße die refor­ matorischen Überzeugungen der Bevölkerung selber erst geschaffen.“80

In vielfacher Hinsicht fungierten die Flugschriften als Stimulans für unter­ schiedliche Formen der Anschlusskommunikation, wobei z. B. der Oralität al­ lein schon vor dem Hintergrund der geringen Alphabetisierungsrate entschei­ dende Bedeutung bei der Vermittlung reformatorischer Lehrinhalte bei der fa­ ce-to-face-Kommunikation vor Ort zukam.81 Das oben zitierte Moellersche Stadt Ulm“ darauf hin, dass das Predigtverbot in der vorliegenden Flugschrift umgangen wird: „Hat doch dyse predigung vff der Canceln nit gethan: verhyndert von papisten […].“ (Kettenbach: Ulm 104). Auch Eberlin nutzt über die Publikation von Flugschriften die Möglichkeit der Einflussnahme von auswärts, da er auf Betreiben des Teufels vertrieben worden sei (vgl. Eberlin: Bericht 173). 75 Vgl. Hamm: Medienereignis 148. 76 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 57 f.; Hamm: Medienereignis 145 f. 77  Ein gesprech 375–422. 78  Vgl. dazu Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 149–157. 79 Siehe Aichele: Antichristdrama. 80  Hohenberger: Lutherische Rechtfertigungslehre 159. 81  Hamm: Medienereignis 153 f.

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II. Flugschriftenpublizistik

Diktum: „Ohne Buchdruck keine Reformation!“ bedarf daher der Präzisie­ rung: „Ohne Flugschriften, ohne Predigten und ohne verbale und non-verbale Aktionen in dieser Multiplizierung und Massivität keine Reformation!“82 – erst im Zusammenschluss verschiedener Medienformen zu einem funktionellen Medienverbund ist die reformatorische Kommunikationssituation sachgerecht erfasst. Die herausragende und konstitutive Bedeutung der Flugschriften im Rahmen des reformatorischen Kommunikationsprozesses liegt dabei in ihrer Funktion des primären Referenzmediums begründet, auf die in neuartiger Art und Weise alle anderen medialen Formen rekurrieren; 83 die neue typographi­ sche Persistenz verlangte geradezu die Auseinandersetzung mit dem gedruckten Wort.84 Daher wurden die Flugschriften zum entscheidenden Medium, mittels dessen die engen Grenzen einer ständisch beschränkten informellen Öffentlich­ keit durch überregionale Vernetzung überschritten werden konnten. Als Schar­ nier zwischen Gelehrten- und Volkskultur kam den Flugschriften daher eine „Schlüsselfunktion bei der Vermittlung von Informationen, Meinungen und Wertvorstellungen aus der Welt der Gebildeten in die Alltagswelt der breiten Bevölkerungsmehrheit“85 zu. Auf bauend auf den quantitativen Vervielfältigungs- und Vertriebsmöglich­ keiten entfalteten die Flugschriften eine kohärenzstiftende Wirkung, welche in inhaltlicher Hinsicht eine wesentliche Ursache und Vorbedingung einer gewis­ sen reformatorischen Geschlossenheit war: „Die gedankliche und programmatische, propagandistische und agitatorische, im Agie­ ren und Ordnen zutage tretende Gemeinsamkeit innerhalb der Reformation ist nicht ohne das lokale und raumübergreifende Kommunikationsgeschehen der Flugschriften zu verstehen – wobei sowohl die qualitativen Aspekte der Vermittlung von Inhalten und Impulsen als auch die quantitativen Gesichtspunkte der Ausgaben, Auflagenhöhen und Verbreitung zu bedenken sind.“86

Das Referenzmedium der Flugschriften wird so zur Konstitutionsbedingung einer inneren reformatorischen Kohärenz, indem es eine „weitgehend gleich­ förmig informierte Anhängerschaft“ gewährleistete und in „gruppenstabilisie­ rende[r] Funktion“ „die Herausbildung relativ homogener theologischer Rich­ tungen“ beförderte.87 82 

Hamm: Medienereignis 157. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 59. 84 Viele Reformatoren sehen sich beispielsweise gezwungen, gegen empfundene Ver­ leumdungen schriftlich vorgehen zu müssen, vgl. unten 51. 85  Köhler: Vorwort Bibliographie VII. 86  Hamm: Einheit und Vielfalt 109. Vgl. auch Hamm: Medienereignis 142 f.: „Vor allem hatte sie [die Flugschrift] die Fähigkeit, gleichzeitig und weitgestreut Information und Mei­ nung eines Autors authentisch und nachhaltig zu vermitteln. […] Die schnelle und massen­ hafte Verbreitung von Flugschriften war daher die wichtigste Ursache einer gewissen Ge­ schlossenheit und inhaltlichen Kohärenz der frühen Reformation […].“ 87  Köhler: Flugschriften der Frühen Neuzeit 343. Inwiefern die Rede von einer inneren 83 Vgl.

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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Insgesamt gleicht die reformatorische Kommunikationssituation einer viel­ stimmigen Partitur,88 wobei die einzelnen Medien nicht nur zusammenwirk­ ten, sondern sich in ihrer Strahlkraft wechselseitig potenzierten.89 Der reforma­ torische Medienverbund wurde insbesondere von den Flugschriften zusam­ mengehalten,90 indem sie andere mediale Formen dokumentierten und multiplizierten und zu deren Kohärenzbildung unerlässlich waren. Über die Zentrierung auf das gedruckte Basismaterial im komplex miteinander verwobe­ nen reformatorischen Kommunikationsprozess mit der Verbindung von Litera­ lität, Oralität und Visualität herrscht weitgehend Konsens in der Forschung, wenngleich graduelle Unterschiede in Betonung und Akzentuierung beste­ hen.91 Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise für die Bewertung des Rezipien­ tenkreises von Druckschriften und die Möglichkeiten dessen Konturierung vom Medium der Flugschriften aus.

4.  Die Rezeption von Flugschriften Eine vieldiskutierte und umstrittene Frage der Flugschriftenforschung ist, ob die Flugschriften lediglich über die Einstellungen ihrer Autoren Aufschlüsse zulassen, oder ob auch die der Rezipienten erkennbar werden. Zwei Grundpo­ sitionen lassen sich bis heute unterscheiden: 92 Die eine relativiert die Bedeutung der literarischen Kommunikation in der Reformationszeit im Verhältnis zu an­ deren Vermittlungsarten und enthält implizit den Vorwurf, die Bedeutung der Flugschriften überzubetonen, wenn heutige literarische Kommunikationsver­ hältnisse in unangemessener Weise auf die Reformationszeit übertragen wer­ den. Vor allem mit dem Hinweis auf die geringe Quote der Lesekundigen müs­ se man sich bei der Flugschriftenforschung auf „Kommunikatorenforschung“ beschränken und dürfe die gewonnenen Erkenntnisse über eine gewisse litera­ reformatorischen Kohärenz im Bezug auf das Thema der vorliegenden Untersuchung trag­ fähig ist, wird zu zeigen sein. 88 Vgl. Scribner: Flugblatt 75. 89  Hamm: Medienereignis 156: „All dies verdeutlicht, wie hochgradig divergent die Re­ formation als Kommunikation- und Mediengeschehen war, wie frappierend kohärent aber andererseits das Ineinandergreifen der unterschiedlichsten Mitteilungsformen war. Sie er­ gänzten sich nicht nur, wirkten nicht nur zusammen, sondern sie verstärkten und multipli­ zierten sich. Erst wenn man dieses Zusammenwirken und Aufeinander-Reagieren von Flug­ schriften, Flugblättern, Texten, Bildern, Predigten, Liedern, Gesprächen, turbulenten Akti­ onen der einfachen Leute und obrigkeitlichen Maßnahmen vor Augen hat, wird deutlicher, warum es zu dem kommen konnte, was in der Forschung immer wieder mit den zwar mehr oder weniger zutreffenden, zugleich aber auch vernebelnden Bildern wie Lawine, Flut, Sturm oder Wildwuchs und mit dem Begriff ‚Bewegung‘ oder ‚Bewegungen‘ der Reforma­ tion zum Ausdruck gebracht wird.“ 90 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 59. 91 Vgl. Mörke: Die Reformation 133 f. 92  Vgl. zu den älteren Grundpositionen auch Köhler: Erste Schritte 244 f.

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II. Flugschriftenpublizistik

rische Elite nicht ohne weiteres mit den Einstellungen größerer Gruppen gleichsetzen. Hierfür müssten primär andere, vor allem nicht-schriftliche Quel­ len herangezogen werden.93 Die andere Position glaubt, von den Flugschriften neben den Ansichten und Einstellungen der Kommunikatoren auch auf die der Rezipienten, und zwar der Leser sowie der Nichtlesekundigen, schließen zu können. Durch die starke Nachfrageorientierung der Flugschriften und das Ziel der Meinungsbildung sei die Mentalität von Kommunikator und Rezipient erkennbar.94 Die Diskussion über den Quellenwert der Flugschriften hinsichtlich der Re­ zeptionsebene wird bereits seit längerem in unterschiedlichen Akzentuierungen geführt und kann mittlerweile als klassische Fragestellung der Flugschriftenfor­ schung gelten. Die beiden skizzierten Positionen bilden auch gegenwärtig deren Pole, wobei eine Vermittlung möglich scheint. Weitgehend einig ist sich die Forschung inzwischen in der Annahme eines zweistufigen Kommunikationsaktes, mit dem die mediale Verbundsituation spezifiziert werden kann: Demnach rezipiert zunächst eine Elite von Mei­ nungsführern auf literarischem Wege die entsprechenden Inhalte, um sie in ei­ nem zweiten Schritt auf mündlichen oder anderweitigen populären Wegen in die Breite der Bevölkerung hinein weiterzugeben.95 Dass der Rezipientenkreis von Flugschriften sich nicht auf Lesekundige beschränkte, sondern über münd­ liche Formen der Anschlusskommunikation auch auf Nichtlesekundige er­ streckte,96 ist diversen Flugschriften selbst zu entnehmen: Immer wieder wird 93 Vgl. Scribner: How many 44 f.; Leppin: Jüngster Tag 277, der Flugschriftenforschung aufgrund der Rezeptionsproblematik letztlich auf „Kommunikatorenforschung“ beschränkt sieht: „So geben die Flugschriften zwar wenig Auskunft über ihre Rezipienten, aber doch genug über ihre Autoren, die Kommunikatoren.“ 94 Vgl. Moeller: Stadt und Buch 32: „Mir scheint nämlich, es ist ganz falsch, sich, wie dies bisher weitgehend geschehen ist, beim Studium dieser Literatur darauf zu beschränken, die Mentalität der Autoren aus ihr ablesen zu wollen. Natürlich spiegelt sie auch diese. Doch ist darüber hinaus bei einem derart nachfrageorientierten Quellenmaterial auch ein Schluß auf die Erwartungen der Leserschaft erlaubt, ferner sind bei diesen Texten, die so konzent­ riert Meinungen und Überzeugungen verbreiten, die so konzentriert ‚Indoktrination‘ be­ treiben, gewisse genuine Wirkungen dieser Zwecksetzung in die Rechnung einzubeziehen, und endlich sind diese Annahmen durchaus auch auf solche Personenkreise auszudehnen, die der Leserschaft im eigentlichen Sinne nicht einmal angehörten.“ Vgl. in jüngerer Literatur Todt: Kleruskritik 232 f., die sich von den Flugschriften aus auf Spurensuche nach den Re­ zipienten begibt und von der methodischen Annahme ausgeht, diese aus der „inhaltlichen und formalen Analyse jeder einzelnen Flugschrift“ annäherungsweise ermitteln zu können. 95  Vgl. z. B. Burckhardt 58 f.; zum Zweistufenkommunikationsmodell siehe Köhler: Erste Schritte 245 f.; Ders.: Vorwort Bibliographie VI. 96 Vgl. Hamm: Medienereignis 142: Eine Flugschrift sei ein sehr leistungsfähiges Medi­ um, da sie „schnell zu produzieren und an vielen Orten von vielen Menschen leicht zu er­ werben war, in ihrer Wirkung auch keineswegs auf Lesekundige beschränkt blieb, sondern oft vorgelesen wurde – gelegentlich auch vor einem größeren Hörerkreis, auf Plätzen oder in Wirtshäusern […].“ Vgl. auch Giesecke: Buchdruck 288: „Immer wieder wird in volks­ sprachlichen Drucken, insonderheit natürlich in den Flugschriften der Bauernkriegszeit,

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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das „lesenhören“ als Rezeptionsmöglichkeit in den Flugschriften beworben und dazu aufgefordert, Flugschriften vorzulesen resp. sich vorlesen zu lassen.97 Die Erwartung der auditiven Rezeption schlägt sich bereits in der Textkompo­ sition vieler Flugschriften nieder, wenn die Autoren ihre Texte gezielt auf die Bedürfnisse von Hörern zurichten.98 Das Vorlesen und Hören der Flugschriften war eine auf breiter Ebene praktizierte Anschlussform an den Text, die von den Autoren oft ausdrücklich erwünscht war und der Text daher die Erfordernisse einer mündlichen Performance bewusst berücksichtigte.99 Angesichts der in den Texten selbst angelegten gemeinschaftlichen Rezepti­ onsform des Vorlesens und anschließender Weitertradierung der Inhalte in ora­ len Kommunikationsnetzen muss im Zuge dieses zweistufigen Kommunikati­ onsprozesses die gesamte Öffentlichkeit als Rezipientenschaft von Flugschriften ins Auge gefasst werden, wobei hier freilich gewichtige Einschränkungen zu beachten sind: Bei der Weitertradierung der Flugschrifteninhalte an Nichtlese­ zum Vorlesen und zu anschließender weiterer Tradierung der Informationen in oralen Kom­ munikationsnetzen aufgefordert. Die Einschaltung von Transformatoren, die gedruckte oder auch handgeschriebene Informationen ‚vorlesen‘, gehörte zur Norm.“ 97  Vgl. z. B. Luther: „[…] allen, die diß buechlin leßen odder hoeren […].“ (WA 10,2; 227,3). Vgl. auch z. B. Karlstadt: Glaub und Unglaub C2b; Ders.: Von Engelen vnd Teüffelen C4a-b. In diversen Flugschriften werden explizit die Hörer angesprochen, vgl. z. B. Nazarei 36; Karlstadt: Von abtuhung der Bylder 5,17. Die Rezipienten werden aufgefordert, als Lesekundige Nichtlesekundigen vorzulesen und als Multiplikatoren zu wir­ ken (vgl. z. B. Eberlin: Warnung 258) bzw. sich als Nichtlesekundige an Vorleser zu wen­ den (vgl. z. B. Ain schöner Dialogus 128,1–3: „Lieben christen und lieben brueder, wöllen wir den Antechrist kennen oder wißen, so mueßen wir zu den bruedern gon die lesen kün­ den und sie bitten, daß si uns lesen […].“ Die Aufforderung, sich vorlesen zu lassen, gilt ne­ ben Flugschriften (vgl. z. B. Eberlin: Bundesgenossen 108) natürlich vor allem für die Bibel: „Kanstu nit selbs laesen, bestel ein armen schuler, der lißt dir vmb ein stück brot als vyl du ein tag bedarfft. Hastu kein buch, bist zu arm, baettel ein buch, es ist dir eerlicher ein ewangeli baetlen dann ein stuck brot. Bit andre vmb gotwillen das sie dir im ewangeli lae­ sen.“ (Eberlin: Bundesgenossen 165). Ähnlich auch Eberlin: tröstliche Vermahnung 145; vgl. auch Kettenbach: Pracitca 183,18 f. 98 Zum Hörerbezug vieler Flugschriften siehe Rössing-Hager: Wie stark findet der nicht-lesekundige Rezipient Berücksichtigung 77 ff. „Dem Flugschriftenautor der Reforma­ tionszeit war geläufig, daß er sich mit seinen Schriften an einen zweifachen Rezipientenkreis wenden mußte, an den Leser und an den nicht-lesekundigen Hörer, der auf einen Vorleser angewiesen war. ‚Lies oder laß dir lesen‘ und ähnliche Formulierungen in der zeitgenössi­ schen Literatur verweisen darauf, daß der Autor die zweifache kommunikative Situation bei seiner Textproduktion ernstnahm und beim Schreiben auch auf den potentiellen Hörer unter seinen Rezipienten ausgerichtet war.“ (Rössing-Hager: Wie stark findet der nicht-lesekun­ dige Rezipient Berücksichtigung 77). Rössing-Hager bietet eine detaillierte Untersuchung, inwiefern der Vorleser als Vermittler vom Autoren im Text bereits angelegt war. Der Autor nimmt dabei Rücksicht auf Interesse, Aufnahme- und Merkfähigkeit der Hörer, beispiels­ weise durch intensive Bemühungen um intonationsgerechte Syntax. Vgl. auch Petry: Kom­ munikationsbezogene Syntax bei Johann Eberlin von Günzburg. 99 Vgl. auch Matheson: Rhetoric of Reformation 61: „Pamphlets were very close to oral culture, as their alliteration, rhythmic sequences and repetitions betray. Effective pamphlets reflected the lively discussion of home, tavern, bathhouse and street, and in turn provoked it.”

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II. Flugschriftenpublizistik

kundige ist eine tendenzielle und schwer nachzuvollziehende Verselbstständi­ gung der Rezeption gegenüber dem Autor zu bedenken: „Bildet schon der Leseprozeß als solcher durch die Schritte der Verarbeitung einen Aus­ wahlprozeß, so gilt dies erst recht für die Weitergabe von Information, insofern hier aus der passiven Auswahl eine aktive, aus der Bereitschaft, informiert zu werden, eine eige­ ne Information anderer wird […].“100

Subjektive Akzentsetzungen der Anschlusskommunikatoren können unter Umständen zu bedeutenden Modifikation der Primärbotschaft des Flugschrif­ tenautors führen,101 sodass das Zweistufenkommunikationsmodell nicht dazu verleiten darf, einsinnig vom Flugschriftentext auf dessen tatsächliche Rezep­ tion zu schließen. Vielmehr wird der Rezeptionsprozess durch einen dreifachen Selektionsakt gebrochen: „den Selektionsakt des Kaufens, den Selektionsakt beim Lesen und den Selektionsakt bei der Weitergabe.“102 Flugschriften hatten daher nach Leppin primär an der Lesekultur partizipierende Eliten im Auge, andere Rezipienten seien erst sekundär und in gebrochener Weise mitgemeint.103 Die Unwägbarkeiten der Anschlusskommunikation schmälern nach Leppin da­ her den medialen Stellenwert der Flugschriften innerhalb des Zweistufenmo­ dells: „Der Rekurs auf die Zweistufenkommunikation impliziert ungewollt auch eine Reduktion der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Mediums ‚Flugschrift‘ […].“104 Gegen die Einschätzung von Leppin bleibt festzuhalten, dass mit dem Zweistufenmodell nicht zwangsläufig eine Bedeutungsreduktion des Quellen- und Erkenntniswertes von Flugschriften einhergeht, da es zu­ nächst allein in formaler Hinsicht die enormen Verbreitungszahlen von Flug­ schriften angesichts der geringen Alphabetisierungsrate erklären hilft.105 Zudem ist die bei Leppin vorgenommene Hierarchisierung in der Ansprache der Rezi­ pienten erster (lesekundige Elite) und zweiter Ordnung (Nichtlesekundige, die nur mitgemeint seien) durch die Flugschriftenautoren nicht notwendigerweise als intentionale Abflachung des Kommunikationsaktes beim Übergang zur zweiten Ordnung zu verstehen: Eingedenk der expliziten Anrede von Nichtle­ sefähigen in vielen Flugschriften und der Bemühungen um hörerbezogene in­ 100 

Leppin: Jüngster Tag 26. Vgl. z. B. Leppin: Jüngster Tag 26. 102  Leppin: Jüngster Tag 27. 103 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 27. 104  Leppin: Jüngster Tag 26. 105  Vgl. auch Burkhardt: „Solche Abstufungen und Vernetzungen [die Annahme einer Zweistufenkommunikation] relativieren aber nicht die herausragende Bedeutung des Druck­ mediums, sondern erklären gerade, wie es möglich war, dass gedruckte Texte eine Massen­ wirkung entfalten konnten, obwohl nur fünf bis zehn Prozent der Menschen lesen konnten: durch Vorlesen der Texte, Predigen über Texte, Diskussion der Texte und stützende Bebil­ derung. Das bewegende und einheitgebende Neue aber waren die Texte und die Möglichkeit ihrer schnellen, überregionalen und identischen Vervielfältigung und Verbreitung durch den Druck.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 59) 101 

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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tonationsgerechte Syntax und Verständlichkeit muss auch der Fall angenommen werden, dass Nichtlesefähige unter Umständen gar in erster Linie angesprochen werden sollten, diese aber innerhalb der Kommunikationslandschaft des frühen 16. Jahrhunderts vom jeweiligen Autor in der Breite nicht anders zu erreichen waren als über die lesefähigen Rezipienten erster Ordnung. Das zweistufige Kommunikationsmodell beinhaltet daher zunächst lediglich eine formale und zeitliche Stufung des Kommunikationsaktes, nicht eine Hierarchisierung im Sinne einer Prämierung der erhofften Rezipienten und mithin keine intentio­ nale Stufung der Rezpientenansprache. Bezüglich des Quellen- und Erkenntniswertes der Flugschriften bedarf es indes einiger weiterer Überlegungen, um mögliche Indikatoren für die Rezep­ tionsvorgänge zusammenzutragen. Zunächst ist auf die allgemeine Annahme zu verweisen, dass die von den Autoren intendierte Meinungsbeeinflussung nicht völlig an den Bedürfnissen und Befindlichkeiten ihrer erhofften Rezipienten vorbeigegangen sein wird. Diese Annahme gewinnt zusätzliche Evidenz vor dem Hintergrund der ausge­ prägten marktwirtschaftlichen Orientierung der Flugschriftenpublizistik: Ne­ ben dem Persuasionsziel ist daher auch das ökonomische Interesse der Autoren zu beachten, wobei die ökonomischen Interessen wohl vor allem für die Dru­ cker gelten. Die Beschwerde z. B. Eberlins, dass die „gewinßdrucker“106 alles druckten, was Gewinn versprach, verdeutlicht, dass dem Druck einer Flug­ schrift in aller Regel eine Gewinnkalkulation vorausging, die ein geldwertes Rezipienteninteresse bezüglich des feilgebotenen Inhalts antizipierte.107 Aus persuasiven und ökonomischen Motiven heraus versuchten die Flugschriftenau­ toren daher, die Interessenlagen und Erwartungshaltungen ihrer erhofften Re­ zipienten gezielt anzusprechen,108 z. B. durch die Titelblattgestaltung: „Es [das Titelblatt] diente zum einen der Metakommunikation über die Informationen, die in dem jeweiligen Buch gebündelt wurden, und steuerte insoweit die Selektionsleis­ tung der Leser. Zum anderen betrachtete man die Bücher als Programme, die das Han­ deln und Erleben der Leser regulieren können und entwickelte hieraus Vorstellungen

106  Eberlin: Geld 161. Eberlin beschreibt in seiner Flugschrift „Mich wundert, daß kein Geld im Land ist“ (1524) die marktwirtschaftlichen Aspekte der Flugschriftenpublizistik. Er tadelt Gewinnstreben und Ruhmsucht vieler Autoren und Drucker (vgl. Eberlin: Geld 148), subsumiert Flugschriftenvertrieb, -druck und -autorenschaft unter Kaufmannsschaft und kennzeichnet die Flugschriftenpublizistik damit als ertragreiches Geschäft (vgl. Eberlin: Geld 156.162). 107  Vgl. auch Leppin: Jüngster Tag 266 mit Belegen aus späterer Zeit. Gewinnkalkulieren­ de Überlegungen standen bereits am Anfang des massiven Auf blühens der Flugschriftenpu­ blizistik ab 1520. 108  „Neben den propagandistischen Absichten ist darum bei Flugschriften wie Flugblät­ tern stets auch der Informationszweck in Rechnung zu stellen: man konnte nur absetzen, was viele interessierte und Gegenstand eines breiten Diskurses wurde.“ (Burkhardt: Reforma­ tionsjahrhundert 57).

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II. Flugschriftenpublizistik

über typische Programmanwender. Dieses Benutzerprofil wurde auf den Titelblättern oftmals ebenfalls mitkommuniziert.“109

Durch werbendes Layout und gleichsam persönliche Ansprache des Lesers ver­ suchten die Autoren Kauf und Lektüre ihrer Flugschriften zu empfehlen. Dies konnte das gezielte Herausstellen eines ganz personenbezogenen Nutzens für den einzelnen Rezipienten sein wie auch Einsichten in Heilsbelege, welche über profanen Nutzen weit hinauszugehen versprachen.110 Flugschriften als „Taschenbücher“ tragen daher durchaus kommerzielle Züge, zumal gewinn­ kalkulierende Überlegungen insbesondere beim Medium der Flugschriften vo­ rauszusetzen sind, da für unentgeldliche Vertriebswege wohl eher das Anschla­ gen von Flugblättern in Frage kam.111 Dass die Antizipation der Leseerwartungen und -interessen der Rezipienten­ schaft enorm erfolgreich war, wird durch die Verkaufszahlen von Flugschriften belegt: Die Kaufentscheidung ist ein sicherer Indikator für ein gegebenes Rezi­ pienteninteresse, da es den notwendigen finanziellen Aufwand zu rechtfertigen schien.112 Verbreitungszahlen und Auflagenstärke von Flugschriften liefern demnach erste Hinweise auf die allgemeine Rezeptionsreichweite, wobei ein­ gedenk der hohen Divergenzen im Einzelfall stark differenziert werden muss. Es bleibt jedoch zu beachten, dass das Rezipienteninteresse und die Kaufent­ scheidung noch nichts Genaues über die Einstellung der Rezipienten aussagt, ob bzw. inwieweit sie beispielsweise den Inhalten der erworbenen Flugschrift zu­ stimmen oder sie ablehnen. Die Tatsache der Kaufentscheidung liefert mithin noch keine gesicherten Informationen über die dieser zugrundeliegenden Mo­ tive und die anschließenden tatsächlichen Rezeptionsvorgänge.113 Gleichwohl darf man die Kaufentscheidung wohl zumindest als allgemeinen Hinweis für im Grundsatz zustimmendes Rezipienteninteresse werten, da der frappierende kommerzielle Erfolg der reformatorischen Flugschriftenpublizistik schwerlich erklärbar wird, wenn die angebotenen Inhalte bei den Käufern mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen wären. Ein weiterer Indikator für die Wirkmächtigkeit und Rezeptionstiefe von Flugschriften sind die Zensurbemühungen.114 Die Wirkung der Zensurmaß­ 109 

Giesecke: Buchdruck 645. Die Anpreisung des Nutzens findet sich oft bereits im Titel der Flugschriften, vgl. z. B. Kettenbach: Kirche 79: „ainem yeden / Christenmenschen gut vnd nutzlich zu / wissen.“; „Ein nützliche Predig Zu allen christen […].“ (Kettenbach: Fasten 5); „nützlich zu lesen“ (Osiander: Sendbrief 95,1); „zu nutz des Lesers“ (Eberlin: Erfurt 252). Gleiches gilt für die Heilsbelange: „zuschreyben, Betreffenn die sache des heyls“ (Cronberg: Tzwen Brieff 9); vgl. auch Cronberg: Christliche Schriften 41. 111 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 266, Anm.  10. 112 Vgl. Giesecke: Buchdruck 415; Leppin: Jüngster Tag 266. 113 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 266 f. 114 Vgl. Gilmont: Reformation und das Lesen 320: „Die Furcht der Katholiken war ein weiterer Hinweis auf die Wirkung des protestantischen Buchs. Schon von den ersten Jahren 110 

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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nahmen war jedoch vergleichsweise gering115 bzw. zeitigte mitunter gar gegen­ teilige Effekte.116 Kennzeichnend insbesondere für die Flugschriftenpublizistik der frühen Reformationszeit war zudem der Wegfall von Approbationsinstanzen und das Scheitern von Versuchen zu einer Präventivzensur117 – ein Umstand, der Meinungsstreit und -freiheit in historisch neuartigem Maße ermöglichte.118 Unter diesen Bedingungen konstituierte sich aufgrund der Nachfrageorien­ tierung und dem stark ausgeprägten Persuasionsziel der Flugschriften ein neu­ artiges Verhältnis von Kommunikator und Rezipient, in welchem die Kommu­ nikationspartner wechselseitig Einfluss aufeinander nahmen. Diesem Verhältnis und der Interaktion von Kommunikator und erwartetem Rezipient kann man sich nähern, wenn die in der Kommunikationsforschung übliche Dreiteilung Autor / Text / Leser erweitert wird, indem dem „empirischen Autor“ ein „Mo­ dell-Autor“ und dem „empirischen Leser“ ein „Modell-Leser“ vorangestellt wird.119 In jedem Text ist ein bestimmter Modell-Leser als Zielgruppe einge­ schrieben, der an Sprache, Wortschatz und sprachlicher Strategie erkennbar wird. Obwohl der Autor nicht weiß, wer sein empirischer Leser sein wird, verfolgt er eine Strategie, in der er die vermuteten Fragen, Anliegen und Inte­ der Reformation an wurden die ketzerischen Bücher praktisch überall beschlagnahmt.“ Vgl. auch Heintzel: Propaganda 41 ff. 115  „Bei der Zensur im 16. Jahrhundert schien es sich um einen zum Scheitern verurteil­ ten, hilflosen und über weite Strecken planlosen Kampf gegen Druckschriften gehandelt zu haben.“ (Fitos: Zensur 219) 116  „Dabei lässt sich beobachten, dass nicht selten Zensurmaßnahmen die Berühmtheit der betroffenen Autoren und Werke gesteigert haben. Das Wormser Edikt von 1521, das Luthers Schriften verbot, beschleunigte die Reformation, statt sie zu beenden.“ (Würgler: Medien 125). 117 Vgl. Giesecke: Buchdruck 186: Es gab kaum Kontrolle des in den Handel eingespeis­ ten Wissens – erst wurde gedruckt, dann wurde gestritten: „Genau gegen diese Reihenfolge richtete sich die Kritik der Papstkirche, in diesem Punkt kritisierte Murner Luther am schärfsten, hier lag der Grund für die verschiedenen Versuche einer ‚Präventivzensur‘. Die zentrale Planbewirtschaftung von Informationen, die der altgläubigen Partei vorschwebte, konfligierte mit der freien Marktwirtschaft, die als Medium für die Verbreitung typographi­ scher Information genutzt wurde. Meinungsstreit war die unmittelbare Folge des Fortfalls des Approbationsprinzips und des Versagens einer umfassenden Vorzensur.“ 118 Vgl. Giesecke: Buchdruck 462: „Wenn die Drucker aus eigener Verantwortung ihre Produktionsstätten betreiben, aufgrund vorwiegend wirtschaftlicher Kalkulationen ihre Auswahl aus angebotenen Nachrichten (Manuskripten) vornehmen, die Autoren sich eben­ falls bei ihrer Informationssuche nach den angenommenen Bedürfnissen angenommener Leser richten und schließlich letztere frei sind in der Auswahl ihrer Lektüre, dann herrscht ein Zustand, den wir heute als Meinungsfreiheit bezeichnen. Sie ist nur ein anderer Aus­ druck für die Übertragung der Prinzipien einer freien Marktwirtschaft auf die Produktion, den Vertrieb und die Konsumption ‚technisierter‘ Information. Unter einem ‚freien Mei­ nungsaustausch oder –streit‘ kann entsprechend die Anwendung der Prinzipien ‚freier Kon­ kurrenz‘ auf die Nachrichtenverbreitung verstanden werden.“ 119  Ein derartiges Analysemodell basiert auf den Überlegungen Umberto Ecos (vgl. Eco: Lector in fabula 61–82; Ders.: Wald der Fiktionen 18 f., 25, 27 f., 36) und ist bereits von Sa­ bine Todt auf die Analyse von Flugschriften Karlstadts übertragen worden, vgl. Todt: Bild vom Laien 112 ff.

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II. Flugschriftenpublizistik

ressen seines Lesers einbezieht und ihm Empfehlungsstrukturen für das Verste­ hen des Textes an die Hand gibt. Auch wenn der Kommunikator die lebens­ weltlich basierte Nutzenorientierung seiner erwarteten Rezipienten mitunter nicht absolut treffsicher vorhersagen konnte, war er sich der Notwendigkeit, dieses entscheidende Moment für einen aus seiner Sicht gelungenen Kommuni­ kationsakt einbeziehen zu müssen, vollauf bewusst. Der Autor präsupponiert dabei Verstehenshorizont und Kompetenz des Modell-Lesers und trägt gleich­ zeitig dazu bei, Verstehenskompetenzen z. B. durch Erklärungen und Wieder­ holungen zu erzeugen.120 Auf der anderen Seite entwirft der empirische Leser einen Modell-Autor, den er aus der Textstrategie und eventuellem Hinter­ grundwissen über den Autor deduziert. Der Modell-Leser wird dabei nicht nur in seinen Erwartungs- und Interes­ senhaltungen, sondern auch hinsichtlich seiner Rolle im Kommunikationspro­ zess angesprochen. In bewusster Adaption der gemeinschaftlichen Rezeptions­ formen und der unterschiedlichen Wege der Weitertradierung von Flugschrif­ teninhalten wird der Leser nur als ein Teil der intendierten Rezipientenschaft begriffen. Der empirische Autor wendet sich an zwei unterschiedlich große Rezipientenkreise: Einmal an den Modell-Leser als Leser, gleichzeitig aber auch als Modell-Vermittler bzw. Modell-Anschlusskommunikator. Darüber hi­ naus an den Modell-Hörer, der auf den Modell-Leser als Vermittler angewiesen war. Die Differenzierung von Modell-Rezipienten erster und zweiter Ordnung ist also keine nachträglich eingezogene Analysekategorie, sondern bereits in den Flugschriften von vornherein angelegt. So ist vom Text her eine Annäherung an den Rezipienten möglich, doch weist der Text auf den empirischen Leser nur hin, kann dessen Konturen erfassen, ihn aber nicht detailgetreu abbilden. Der Modell-Leser ist in den Text eingeschrieben, der empirische Leser bleibt ver­ borgen. Doch sind Rezipienteneinflüsse nicht nur indirekt als Modell-Rezipienten auf der Basis der Textgestaltung durch die Autoren erkennbar, sondern manifes­ tieren sich mitunter auch in direkten Rückkopplungsprozessen auf verschiede­ nen Ebenen.121 Zwar hat die Kommunikation über Flugschriften vorrangig eine einseitige Fließrichtung, die von Giesecke mit der Metapher der Wasserlei­ tungskommunikation umschrieben wurde.122 Anders als bei einer Kommuni­ 120  Vgl. auch Giesecke: Buchdruck 530: „Vor allem mußten es die Autoren lernen, sich idealtypische Adressaten zu konstruieren und diese Konstrukte in ihren Werken mitzukom­ munizieren. Sie kamen nicht umhin, Annahmen über das vermutliche Vorwissen ihrer Leser zu machen.“ 121  Anstatt nur eine einzige Einwirkungsrichtung vom Kommunikator zum Rezipienten anzunehmen, muss die aktive Rolle des Rezipienten im Kommunikationsprozess stärker beachtet werden. Diese besteht nach Köhler vor allem darin, dass der Rezipient Rückmel­ dungen gibt über die Aufnahme der Kommunikationsinhalte und so Einfluss auf den Kom­ munikator ausübt (vgl. Köhler: Fragestellungen 5 f.). 122 Vgl. Giesecke: Buchdruck 407.

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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kation unter Anwesenden wie z. B. der Predigt sind bei der Flugschriftenkom­ munikation Reaktionsmöglichkeiten der Rezipienten angesichts der raum- und zeitungebundenen Kommunikationsweise nur eingeschränkt vorhanden.123 Bezieht man jedoch die Kommunikationssituation nicht allein auf den einzel­ nen Flugschriftentext, sondern fasst man sie als einen Prozess, der sich in einer medialen Verbundsituation entfaltet, so tauchen weitere Hinweise auf die Re­ zeption auf.124 Aus anderen Medien (z. B. Briefen), vor allem aber aus vielen Flugschriftentexten selbst können vorangegangene Rezeptionsvorgänge indi­ rekt erschlossen werden, wenn beispielsweise Missverständnisse aufgegriffen, Sachverhalte präzisiert oder Verhaltensweisen der Rezipienten kommentiert werden.125 In diesem Sinne sind durchaus Rückkopplungsprozesse aus der Flug­ schriftenpublizistik zu erschließen, die freilich im Einzelfall genauerer Über­ prüfung bedürfen. Insbesondere die Fälle, in denen es offenbar zu Abweichungen von dem vom Kommunikator intendierten Rezeptionsverhalten kommt, verweisen auf eine vom Kommunikator nicht zu kontrollierende rezeptionelle Eigenständigkeit resp. Renitenz hin. Da ein Text nicht so verstanden wird, wie er vom Autor gemeint ist, sondern sich erst in der Interpretation des Rezipienten vollendet, entsteht unter Umständen eine Kluft zwischen Intention und Rezeption. Der Rezipient darf demnach nicht, wie noch in der älteren Kommunikationsfor­ schung im Rahmen des in behavioristischer Tradition stehenden „Stimulus-Re­ sponse-Modells“, als regungsloser Empfänger, gleichsam als wehrloses Opfer der Mitteilungsintentionen des Kommunikators gelten.126 Als aktiver Partner in einem von wechselseitigen Impulsen konstituierten Kommunikationsprozess entscheidet er nach seinen eigenen Bedürfnissen und Neigungen sowohl über die Auswahl der ihnen dargebotenen Kommunikationsangebote als auch über deren Interpretation: Entsprechend den seine Lebenswelt prägenden mentalen Dispositionen, ideellen Einstellungen, Überzeugungen und sozialen Hand­ lungsspielräumen oder -zwängen kann er die rezipierten Inhalte gegenüber den Wirkungsabsichten der Kommunikatoren zum Teil erheblich uminterpretie­ ren.127 Diese auf der Wahl- und Interpretationsfreiheit der Rezipienten basie­ 123 Vgl.

Leppin: Jüngster Tag 265. sieht auch bei der Wasserleitungskommunikation der typographischen Me­ dien Möglichkeiten der Rückkopplung gegeben: „Historisch haben sich zwei unterschiedli­ che Möglichkeiten der Rückkopplung herausgebildet: einmal verknüpfte man das typogra­ phische Netz mit anderen Medien und zum anderen nutzte man auch die enorme Speiche­ rungskraft des typographischen Mediums.“ (Giesecke: Buchdruck 407). 125  Man denke z. B. an Luthers Stellungnahmen im Umfeld des Bauernkrieges, in denen er sich gezwungen sah, Fehldeutungen seines Freiheitsbegriffs entgegenzutreten. Diese Nachsteuerungen sind hinsichtlich der tatsächlichen Rezeption vorgängiger Lutherschriften durch die Aufständischen ungemein erhellend. 126 Vgl. Köhler: Fragestellungen 5; Ders.: Erste Schritte 246. 127 Vgl. Chartier / Cavallo: Einleitung 11: Ein Text legt seine Lektüre nicht von vorn­ herein fest, „vielmehr ist immer ein Unterschied denkbar zwischen dem Sinn, der ihm (vom 124  Giesecke

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II. Flugschriftenpublizistik

rende potentielle rezeptionelle Renitenz stellt geschichtswissenschaftliche Aus­ sagen über die Rezeptionsvorgänge unter einen grundsätzlichen methodischen Vorbehalt – „was gelesen wurde, liegt letztlich im dunkeln.“128 Hinsichtlich der oben referierten strittigen Frage, inwieweit die Flugschriften Auskunft über ihre Rezipienten geben, werden pauschale und polarisierende Antworten der Sachlage nicht gerecht. Dass die Flugschriften im Sinne einer Zweistufenkommunikation rezipiert wurden und dass die Interessen und Er­ wartungshaltungen der Rezipienten in die Flugschriftentexte Eingang fanden, steht auf bauend auf den obigen Überlegungen außer Zweifel, wie jedoch die Texte in empirischer Hinsicht tatsächlich rezipiert wurden, verschwindet im Nebel des konkreten Rezeptionsgeschehens. Dieser rezeptionelle Nebel wird mit zunehmender Weitervermittlung der ursprünglichen Inhalte immer un­ durchsichtiger: gilt eine geringe Vernebelungstendenz bereits für das Vorlesen von Flugschriften (durch Auswahl, Betonung, Kommentare etc.), so steigert sich die potentielle Vernebelung vor allem auf der Ebene der Erzählungen, Ge­ spräche und ähnlicher Formen der Anschlusskommunikation. Obschon aufgrund der tendenziellen Vernebelung und potentiellen Renitenz der Rezeption generell eine erhöhte methodische Vorsicht geboten ist, gewäh­ ren die Flugschriften auf der Basis des geschilderten Indikatorenbündels gleich­ wohl zumindest allgemeine Annahmen über die Rezeptionsebene; im Sinne einer heuristischen Hypothesenbildung stellen die Flugschriften daher auch in Bezug auf die Rezipienten durchaus eine wertvolle Quellengattung dar – zumal in Ermangelung anderweitiger mentalitätengeschichtlicher Quellen in hinrei­ chender Fülle und Aussagekraft.129 Inwieweit die Flugschriften schließlich ge­ nauere Angaben über die Rezeptionsvorgänge erlauben, müsste gegebenenfalls eine Einzelfallprüfung sorgfältig eruieren: Je nachdem, ob das Indikatorenbün­ del im jeweils zu untersuchenden Fall hinreichend evident ist, sind über allge­ meine Annahmen hinaus auch konkrete Aussagen über Rezeptionsvorgänge statthaft. Flugschriftenforschung ist demnach zunächst primär „Kommunikato­ renforschung“130, doch kann sie unter Umständen zudem auch „Rezipienten­ forschung“ werden. Autor, dem Verleger, dem Kritiker, der Tradition usw.) beigelegt wird, und der Art, wie seine Leser ihn benutzen und interpretieren können.“ Vgl. auch Wohlfeil: Einführung 111. Bezogen auf den Untersuchungszeitraum der Arbeit denke man z. B. an die Umdeutung der von Luther ausgerufenen „Freiheit eines Christenmenschen“ durch die Aufständischen im Bauernkrieg, die der Wirkungsabsicht Luthers diametral entgegenstand. 128  Leppin: Jüngster Tag 268. Vgl. auch Scribner: How Many 44. 129  Bereits Köhler hat in Anschluss an Moeller darauf hingewiesen: „daß, um wenigstens ein ungefähres Bild von den Ansichten, Hoffnungen und Wertvorstellungen der Bevölke­ rung des 16. Jahrhunderts zu gewinnen, auf die Flugschriften als die beste, d. h. die differen­ zierteste und ergiebigste einschlägige Quelle nicht verzichtet werden kann.“ (Köhler: Erste Schritte 247). 130  Leppin: Jüngster Tag 44, 276 f.

4.  Die Rezeption von Flugschriften

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Das Gesagte soll zusammenfassend in einem Kommunikationsmodell für Flugschriften veranschaulicht werden. Das Kommunikationsmodell integriert verschiedene Arten und Formen medialer Vermittlung (schriftlich, mündlich, visuell und Aktion) und nimmt deren potentielle Wechselwirkungen mit auf, wobei von den Flugschriften als Anfangsimpuls ausgegangen wird, der gesamte Kommunikationsprozess prinzipiell aber als Kreislauf ohne bestimmbaren An­ fangs- oder Endpunkt aufgefasst ist. Der Kommunikationsprozess ist zweistufig angelegt: Der Rezipient wird vom Flugschriftenverfasser auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Rezipientenrollen angesprochen. So gerät der Rezipient einmal als Leser in den Blick; gleichzeitig wird er aber auch als Vor­ leser in Dienst genommen und zur Weitervermittlung der Flugschrifteninhalte aufgefordert. Zudem wird eine zweite Rezipientengruppe als Hörer angespro­ chen und ermuntert, an gemeinschaftlichen Rezeptionsformen zu partizipie­ ren. Diese gemeinschaftlichen Rezeptionsformen können auch nicht-literari­ scher Art sein und andere mediale Kanäle aktivieren. Das Kommunikations­ modell rechnet deshalb mit Kommunikatoren, Medien und Rezipienten erster und zweiter Ordnung. Durch das Bindeglied des Mediums miteinander ver­ bunden, machten sich die Kommunikationspartner jeweils eine Vorstellung von ihrem Gegenüber. Diese Vorstellungen werden im Kommunikationsmo­ dell „Modell-Rezi­pient“ bzw. „Modell-Kommunikator“ genannt.131 Es betont mithin die Interaktion von Kommunikator und Rezipient, sowohl in indirek­ ter Hinsicht über die wechselseitigen Vorstellungen vom Kommunikations­ partner als auch in direkter Hinsicht über Möglichkeiten der Rückkopplung. Zudem belässt das Kommunikationsmodell Raum für Missverständnisse, Zerr­ bilder und eine potentielle Renitenz der Rezeption, bei der die Aussageinten­ tion des Kommunikators nicht gleichbedeutend mit der Interpretation der Re­ zipienten sein muss.

131 

In Anlehnung an Eco: Lector in fabula 61–82; ähnlich auch Iser: Akt des Lesens 50 ff.

42

II. Flugschriftenpublizistik

Kommunikationsmodell für reformatorische Flugschriften

konzipiert Modell-Autor

konzipiert Modell-Leser

verfasst

M1 FS

wählt aus, interprtiert

Rückmeldung mögl. Rollenwechsel R1 → K1

K1

R1 / K2

Rückmeldung

konzipiert Modell-Autor

visuell: Aktion:

→ andere Bildformen → Rituale, Feste, Spiele → Demonstration, Auflauf

Rückmeldung mögl. Rollenwechsel R2 → K2

M2

mündlich: → Vorlesen der FS → Predigt → Diskussion → Gesang schriftlich: → z. B. FB



konzipiert Modell-Rezipient

initiiert AnschlussKommunikation

konzipiert Modell-Kommunikator

Einflussfaktoren Außenwelt

konzipiert Modell-Hörer

Eigenschaften: in der Regel kauff ähig, leseund schreibkundig

wählt aus, interpretiert

Legende K1 K2 R1 R1 M1 M2 FS FB

- Kommunikator 1. Ordnung - Kommunikator 2. Ordnung - Rezipient 1. Ordnung - Rezipient 2. Ordnung - Medium 1. Ordnung - Medium 2. Ordnung - Flugschriften - Flugblätter

R2

Eigenschaften: in der Regel kaum oder nicht kauff ähig, leseund schreibkundig Schaubild: Jan Löhdefink

5.  Die Medialität der Reformation

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5.  Die Medialität der Reformation Die Reformation war ein Medienereignis, in dem theologie- und medienge­ schichtlicher Einschnitt zusammenfielen und sich gegenseitig bedingten. Der Buchdruck, besonders in Form von Flugschrift und Flugblatt, verhalf der Re­ formation zum Durchbruch – und umgekehrt: Vor der Reformation befand sich die bereits entwickelte Spitzentechnologie des Buchdrucks in einer Exis­ tenzkrise, der Bedarf an Druckerzeugnissen war gering bzw. um 1500 scheinbar tendenziell gesättigt.132 Erst mit der Reformation fand das neue, einem Sti­ mulans harrende Medium ein Ereignis, in dessen Dienst es seine Funktionalität vollgültig entfalten konnte: „Ohne Reformation kein Medienereignis!“133 Die wechselseitige Verwobenheit von Buchdruck und Reformation betrifft jedoch nicht nur die Ebene gestiegener Verbreitungszahlen reformatorischer Druckschriften, sondern auch die Ebene der inhaltlichen und legitimatorischen Grundlagen. Medien, die Botschaften vermitteln, beeinflussen diese auch in­ haltlich.134 Die geschichtliche Wirklichkeit wird mithin durch Medien nicht nur abgebildet, sondern auch durch diese mitgestaltet. Um diese mediale Kon­ stituierung von Wirklichkeit analytisch zu fassen, ist in der jüngeren Forschung der Begriff der „Medialität der Geschichte“ entworfen worden: „Die nunmehr in den Blick rückende ‚Medialität der Geschichte‘ akzentuiert also nicht nur die Tatsache, dass uns Geschichte ja immer nur in medialer Überlieferung über­ haupt zugänglich ist, sondern stellt sehr viel weitergehender darauf ab, dass Medien selbst elementare Produktivkräfte des Geschichtlichen sind.“135

Indem Medien geschichtliche Ereignisse und Prozesse mitprägen, sind sie selbst Bestandteil des Geschehens.136 Die Einsicht sowohl in die „Medialität der Ge­ schichte“ als auch die „Historizität der Medien“ als chiastischer Figur eröffnet vielversprechende Forschungsperspektiven und Kongruenzen von Geschichtsund Medienwissenschaft.137 Ein derartiges Verständnis der wechselseitigen Durchdringung von Medien und geschichtlicher Wirklichkeit desavouiert ein Medienverständnis, welches Medien lediglich als technische Träger von Ideen 132 Vgl.

Burkhardt: Reformationsjahrhundert 25. Hamm: Medienereignis 157: Die Reformation „[…] setzte nicht nur Gedanken und Gefühle, sondern auch die Mitteilungsbedürfnisse und damit die Medien in Bewegung.“ Vgl. auch Burkhardt: Reformationsjahrhundert 48: „Die Reformation hätte ohne die neue Informationstechnologie nicht stattfinden können, und sie hat ihr umgekehrt zu tun gegeben und sie damit stabilisiert und weiter aufgewertet.“ 134 Vgl. Sandl: Medialität 73. Vgl. Würgler: Medien 68. Wie weitgehend dies gilt, ist jedoch eine umstrittene medien­ theoretische Frage, vgl. ebd. mit Literaturhinweisen). 135  Crivellari u. a.: Medialität der Geschichte 20. 136 Vgl. Würgler: Medien 6. 137  Siehe dazu die beiden Sammelbände Crivellari u. a. (Hgg.): Die Medien der Ge­ schichte sowie Grampp u. a. (Hgg.): Revolutionsmedien – Medienrevolutionen. 133 

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II. Flugschriftenpublizistik

oder Wissen behandelt und ihre historische Bedeutung auf z. B. Verbreitungs­ möglichkeiten reduziert,138 was wiederum Auswirkungen auf die Interpretati­ on der medialen Quellen hat.139 Das „konstitutive Wechselspiel zwischen Historie und Medialität“140 gilt da­ bei in besonders evidenter Weise für das Verhältnis von Buchdruck und Refor­ mation: Die Durchsetzung des Buchdrucks als vordem kaum genutzter Spitzen­ technologie ist ein Beispiel für die Historizität des Mediums des Buchdrucks, dessen Durchsetzungsprozess nicht vom geschichtlichen Kontext der Reforma­ tion abzukoppeln ist. Die Reformation wiederum steht paradigmatisch für die Medialität der Geschichte, wenn die reformatorische Wirklichkeit entscheidend vom Medium des Buchdrucks mitgeprägt und präformiert wird. Die oftmals vorgenommene Isolierung der Medien aus einem komplexen historischen Ge­ samtzusammenhang erweist sich somit von zwei Seiten her als problematisch: Ideengeschichtlich motivierte Reduktionen, welche Medien als bloße techni­ sche Multiplikatoren behandeln, sind ebenso zu vermeiden wie medientheore­ tisch motivierte Reduktionen, welche geschichtlichen Wandel als ausschließlich medientechnologisch induziert abbilden.141 Die wechselseitige Durchdringung von „Medialtät der Geschichte“ und „Historizität der Medien“ wird deutlich, wenn der Blick nicht nur auf die for­ malen und äußerlichen Merkmale des reformatorischen Mediengebrauchs, son­ dern auch auf die dahinterstehende reformatorische Medientheorie und die Wechselwirkungen von medialer Konfiguration und theologischer Bedeu­ tungsebene gerichtet wird. Die Medien, derer sich die reformatorischen Bewe­ 138 Vgl.

Crivellari u. a.: Medialität der Geschichte 30. mediale Dimension der historischen Überlieferung beruht im Wesentlichen auf der Miteinbeziehung der medialen Form in die Interpretation der Quelle. Es gilt, die Form aus dem Inhalt nicht mehr herauszurechnen, sondern die medientheoretische Prämisse schlechthin, nämlich das disziplinäre Axiom, dass der Ort, die technologische und soziale Rahmung sowie die Materialität der Kommunikation entscheidenden, vielleicht sogar deter­ minierenden Einfluss auf das Kommunizierte selbst und die Bedingungen seiner Rezeption haben, entsprechend in die Quellenkritik mit einzubeziehen.“ (Crivellari u. a.: Medialität der Geschichte 19). 140  Kirchmann / Sandl: Einleitung 9. 141  So wenden sich die Korrelationen von Geschichte und Medien herausarbeitende An­ sätze „[…] gegen eine Hypostasierung des Medialen zur monokausalen Kraft historischen Wandels“ (Kirchmann / Sandl: Einleitung 16). Eine angemessene Berücksichtigung der Medialität des Historischen „[…] darf und soll eben nicht zu einer Revitalisierung substanz­ logischen Denkens unter der Ägide medienontologischer Denkfiguren führen; die ‚Hard­ ware‘ der Medientechnologien kann und soll nicht an die Stelle der ‚Software‘ der Ideenge­ schichte treten und deren Letztbegründungsanspruch nur ins technizistische Gewand geklei­ det umstandslos fortschreiben“ (Kirchmann / Sandl: Einleitung 16). Die Aufgabe bestehe darin, die Korrelationen zu betonen: „Es gilt vielmehr, jene strukturelle Verpflechtung zwi­ schen gesellschaftlicher Kommunikation, Sinngenese und Selbstbeschreibung mit den sie jeweils ermöglichenden und strukturierenden medialen Arrangements am historischen Querschnitt zu beobachten und in ihrer wechselseitigen Durchdringung herauszuarbeiten.“ (Kirchmann / Sandl: Einleitung 16). 139  „Die

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gungen bedienten, waren de facto nicht neu, erhielten aber im Zuge des Refor­ mationsgeschehens ein neues Gewicht und eine veränderte Funktion.142 Burk­ hardt konstatiert drei unterschiedliche, freilich eng miteinander verbundene mediale Wirkungsweisen des Buchdrucks: „Die Druckmedien dienten der Re­ formation gleichsam als Berichterstatter, aber auch als Handlungsträger, und wurden schließlich zur Sache selbst, um die es ging.“143 Zunächst, in gleichsam äußerer Hinsicht, wurde der Buchdruck als speicherund konservierungsfähiges Dokumentationsmedium für die Reformationser­ eignisse genutzt. Über, wenngleich noch nicht periodische, so doch an den aktuellen Geschehnissen orientierte Verlautbarungen und Kommentare betrie­ ben allen voran Luther und seine „Wittenberger Medienzentrale“144 eine eigene Pressepolitik und Traditionspflege:145 Das neuartig genutzte Medium hat „fort­ laufend Rapport über die Reformationsereignisse erstattet und so erstmals in der Geschichte druckgestützte Zeitgeschichte selbst verarbeitet und überlie­ fert.“146 Die publizistische Auf bereitung hatte dabei entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Ereignisse in der Öffentlichkeit,147 sodass die Texte gleichsam selbst zu Ereignissen wurden.148 Insofern sei die Reformation nach Burkhardt nicht lediglich ein Medienereignis, sondern gar mediengemacht: „Die Reformation war auch ein Mythos aus der Druckerpresse […].“149 Burk­ hardt sieht daher die Neuheit der Mediennutzung als die eigentliche Neuheit der Reformation: 142 Vgl. Hamm: Medienereignis 138. In der Reformation veränderte sich die mediale Topographie des öffentlichen Raumes; die Zeitgenossen lernten, Medien und Medienver­ bunde neu zu nutzen (vgl. Schlögl: Revolutionsmedien – Medienrevolutionen 24). 143  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 35. 144  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 46. 145  Gilmont: Reformation und das Lesen 317: in Deutschland entwickelte sich zwischen 1520 und 1525 eine umfangreiche „Pressekampagne“ 146  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 35. 147  Man denke beispielsweise an die Leipziger Disputation, für die nach Burkhardt gilt: „Akademisch hat Eck, publizistisch aber Luther die Disputation gewonnen.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 38). 148  Als Beispiel kann die Verbrennung des Kirchenrechts (und wahrscheinlich der päpst­ lichen Bannandrohungsbulle) 1520 durch Luther gelten. Erst die publizistische Auf bereitung verlieh dem Handlungsakt seine eminente Wirkung: „auf solche Handlungsausbrüche folgte sofort wieder die Berichterstattung: Kaum hatte man in Wittenberg des Papstes Bücher ver­ brannt, erstattete Luther über die Druckpresse Rapport ‚warumb des Bapstes und seyner Jünger Bücher von Doct. Martino Luther verbrannt seynd‘. Die mediale Auf bereitung fing die Bedenken ab, die diese Nachricht sonst auszulösen drohte, und machte aus einer regio­ nalen Aktion ein umfassendes Symbol. […] So berichtet und kommentiert eigentlich ein Großteil von Luthers Werken das, was gerade geschehen ist, im Druck für Mit- und Nach­ welt. Selbst die Taten entfalteten ihre Wirkung nicht primär als Taten, sondern durch ihre druckgestützte Auf bereitung.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 40). Vgl. auch Schwitalla: „Ihre große Zeit waren […] vor allem die Jahre von 1518 bis 1525, in welchen Flugschriften nicht nur Geschichte kommentierten, sondern Geschichte machten.” (Schwitalla: Flugschrift 1). 149  Burkhardt: Reformationsjahrhundert 30.

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II. Flugschriftenpublizistik

„Was Luther sagte, war wichtig, aber wie er es sagte und unter die Leute brachte, war das eigentlich Moderne an der Reformation. Nicht in ihren Inhalten, sondern in den Druckmedien und der Kulturfertigkeit, mit der sie hier erstmals zu Einsatz kommen, gründet der innovatorische Impuls der Zeit.“150

Während sich Inhalte und Selbstverständnis der Reformation auf rückwärtsge­ wandte Legitimationsstrategien bezögen, brachte allein die mediale Form in die Moderne weisende Impulse hervor, wobei die Mediensituation die reformato­ rische Wirklichkeit selbst entscheidend mitkonstituiert habe.151 Derartige Stili­ sierungen suggerieren jedoch eine lineare Medienentwicklung und laufen Ge­ fahr, das Medium des Buchdrucks gleichsam als eigenständigen historischen Akteur zu behandeln, in dessen Gefolge sich dann historische Veränderungs­ prozesse ergaben, die letztlich allein auf dieser Folie zu erklären seien.152 Daher gilt es gleichzeitig zu betonen, dass es die theologischen Bedeutungsebenen waren, welche wiederum den medialen Konfigurationen kulturellen Sinn und ihre zeitgenössische Authentizität und Evidenz verliehen.153 Der Wandel im frühreformatorischen Umgang und Gebrauch der Medien hängt untrennbar mit der Charakteristik der reformatorischen Theologie zu­ sammen. Der Buchdruck als Kommunikationsmittel und Träger von Öffent­ lichkeit korrespondierte mit elementaren theologischen Grundvorstellungen der Reformation. Dies betrifft allererst das reformatorische Schriftprinzip und die damit verschränkten Theologumena vom Priestertum aller Gläubigen und der Klarheit der Schriftoffenbarung. Durch die reformatorische Hervorhebung des Schriftprinzips wechselte das heilsvermittelnde Medium vom geistlichen 150 

Burkhardt: Reformationsjahrhundert 15. aber sollte sich bald zeigen, daß das Medium frühmoderne informationsge­ schichtliche Wirkungen zeitigte, die auf die Sache selbst zurückschlugen und sie mitmoder­ nisierten. Insofern ist an der innovatorischen Interpretation der Reformation doch auch et­ was dran, nur gründet sie weder auf ihrem Selbstverständnis noch auf ihren Inhalten, son­ dern auf dieser formalen Seite.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 17). 152  Zur Kritik an dergestaltigen Medientheorien vgl. Sandl: Medialität 128: „Im Buch­ druck formierte sich also nicht von vorneherein ein eigenständiges Mediensystem. Dies ist gegenüber der aktuellen Forschung, die das Hauptaugenmerk meist auf die Entstehung einer typographischen Medienformation legt und damit die Linearität einer mediengeschichtli­ chen Entwicklung betont, festzuhalten. [..] Geschichtlich wirksam wurde der Buchdruck für die Zeitgenossen […] dadurch, in ihm die bereits seit längerem virulente Frage, welcher der menschlichen Sinne der Sinnkonstitution am adäquatesten sei und auf was sich denn diese Sinnkonstitution denn überhaupt richte, über alle Veränderungen im Einzelnen hinweg als eine offene insistierte. […] Die reformatorische Antwort bestand darin, die durch den Druck beschleunigte Destruktion der mittelalterlichen Synästhetik aufzunehmen, um sie zu trans­ formieren und in dem einen Sinn, dem Sinn der Lektüre, zu zentrieren. Mithin ist die refor­ matorische Antwort nicht als Reaktion auf eine mediengeschichtliche Umbruchssituation zu deuten, sondern im Kontext des Umbruchs als dessen Formierungsprinzip zu interpretie­ ren.“ 153 Dass die mit der Reformation eingeleitete Entwicklung des Mediums Buchdruck nicht notwendige Folge seiner Erfindung war, belegt allein schon die geringe Nutzung des Mediums vor der Reformation. 151  „Dabei

5.  Die Medialität der Reformation

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Stand auf den Buchdruck, da letzterer gewährleistete, die Heilige Schrift als Ausgangs- und Zielpunkt des Glaubens jedem ohne Verfälschung durch „Men­ schenwerk“ zugänglich zu machen154 – nicht mehr das Mensch-, sondern das Druckmedium selbst wird zum Träger des Heiligen.155 Das hermeneutische Prinzip „sola scriptura“ bedingte also eine Art theologischer „Medientheorie“: Der Buchdruck als technische Voraussetzung der Vervielfältigung der Offenba­ rung schuf eine Öffentlichkeit der Heiligen Schrift, die – vorbei am korrum­ pierten Stand der Geistlichen – nunmehr direkt die Menschen erreichen konn­ te und das Priestertum aller Gläubigen erst ermöglichte. Damit ist zugleich eine theologische Aufwertung der Laienkultur verbunden, welche im Buchdruck, insbesondere in der Flugschriftenpublizistik, in mehrfacher Hinsicht genuin verwirklicht wurde, wenn Laien als Autoren ihre theologischen Einsichten pu­ blizierten, Laien als mündige Rezipienten adressiert wurden und das Bild vom Laien in literarischen Figuren wie z. B. dem frommen Bauern „Karsthans“ als positiv konnotierter Gegenpart zum verdorbenen „Pfaffen“ stilisiert wurde.156 Die durch den Buchdruck realisierte, zunehmend ständisch und sozial ent­ grenzte frühreformatorische Öffentlichkeitskultur war daher nicht nur das me­ diale Umfeld der reformatorischen Botschaft, sondern deren theologisch unter­ mauerte Zielvorgabe: „‚Öffentlichkeit‘ in diesem Sinne ist daher nicht nur ein moderner Analysebegriff, sondern eine Forderung der Zeitgenossen selbst.“157 Die theologisch begründete Offenbarungsöffentlichkeit stellt das zentrierende Moment der reformatorischen Öffentlichkeit dar, auf das alle anderen Öffent­ lichkeitsansprüche verpflichtet waren.158 Die Vorstellung der veröffentlichten 154 Vgl. Giesecke: Buchdruck 160: „Gott hat sich der Druckerei bedient, um seine Lehre vorbei an den Geistlichen, die nicht mehr in seinem Namen, sondern gemäß ihrer eigenen ‚Gier‘ handelten, direkt seiner Gemeinde zu verkünden.“ Und weiter 162: „Faktisch ist der geistliche Stand schon seiner angestammten Funktion enthoben, durch Druckerei und Buch­ handel ersetzt.“ 155  „So lief die ganze Reformationsgeschichte theologie- wie kommunikationsgeschicht­ lich immer stärker auf den Text zu, und zwar auf einen einzigen: sola scriptura. Dieses Schriftprinzip aber zeigte an, dass gerade der formale Ansatz am Medium alles andere als äußerlich, sondern mit der religiösen Sprache selbst verknüpft war. Schrift war nicht nur das Transportmittel für die Aussagen der Reformation, sondern wurde zum Träger des Heiligen selbst.“ (Burkhardt: Reformationsjahrhundert 48) 156 Vgl. Moeller: Flugschriften 243: „Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘, die Mündiger­ klärung der Laien in der Kirche, kam in ihnen [den Flugschriften] genuin zur Wirkung, sei es daß Laien als Autoren ihre theologischen und geistlichen Standpunkte darlegten, sei es daß sie als Leser angesprochen und für urteilsfähig erklärt wurden, sei es daß sie sich in literari­ schen Figuren wie etwas dem frommen, einfältig-verständigen Bauern Karsthans, der die Pfaffen belehrte, gespiegelt sahen.“ Vgl. auch Arnold: Handwerker 53: „Die Veröffentli­ chung von Flugschriften über Fragen des christlichen Glaubens und Lebens war eine neue Form der Verkündigung, die bis dahin fast ausschließlich den Geistlichen vorbehalten gewe­ sen war. Man kann hierin eine Entsprechung zu der reformatorischen Lehre vom Priester­ tum aller Gläubigen sehen.“ 157  Hamm: Medienereignis 166. 158 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 62 f.: „In der Öffentlichkeit der Offenba­

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II. Flugschriftenpublizistik

Offenbarung beinhaltete eine neue Unmittelbarkeit des Gläubigen zu Gott, da sich die sakrale Kommunikation nunmehr ohne klerikale Zwischeninstanzen realisieren ließ159 – mediengeschichtlich betrachtet war der Text damit über die Amtsautorität gestellt.160 Damit hängt noch ein zweiter, in diesem Zusammenhang oft vernachlässigter Bestandteil der reformatorischen Medientheorie zusammen. Das Theologume­ non von der Klarheit der Schrift implizierte eine neuartige offenbarungstheolo­ gische Rezipientenautarkie, die nach Giesecke bereits zeitgenössisch mit einer Brunnenmetapher umschrieben wurde.161 Diese durch die drucktechnisch ver­ öffentlichte Offenbarung ermöglichte Rezipientenautarkie brachte nach Sandl eine neue Lektürepraxis hervor, welche auf der „reformatorischen Entdeckung“ basierte, dass der Leser (und Hörer) aufgrund der Klarheit der Schrift und des darin enthaltenen einfachen Sinns zur Heilsgewissheit gelangen könne.162 In­ dem der Rezipient mittels des Mediums Buchdruck in eine unmittelbare Got­ tesbeziehung eintrat, war das Gelingen der Lektüre im Sinne der Herstellung von Heilsgewissheit nunmehr auf die Seite des reformatorischen Subjekts verla­ gert und damit eine neue Form der subjektiven Gottesbeziehung begründet.163 Der offenbarungstheologisch begründeten medialen Neukonfiguration korres­ pondierte daher auch eine veränderte Subjektkonstitution, indem der Rezipient für autark und uneingeschränkt anschlussfähig erklärt wurde im Hinblick auf rung hatte die reformatorische Öffentlichkeit ihre Einheit, denn die Nachrichten Gottes galten für alle. […] Damit ist die Existenz von Teil- und Suböffentlichkeiten in der reforma­ torischen Öffentlichkeit nicht bestritten, aber „für die ersten aufregenden Jahre der gedruck­ ten Gottesnachrichten wurde eben doch alles von der neuen Offenbarungsöffentlichkeit umgriffen, von der sich niemand ganz abkoppeln konnte, der sich mitteilen wollte. Die veröffentlichte Offenbarung marginalisierte erst einmal jeden anderen Öffentlichkeitsan­ spruch.“ 159 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 48. 160 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 47. 161  „Bis zur Ausbreitung des Buchdrucks gab Gott das Wasser (Wissen, Weisheit) tröpf­ chenweise. Durch sein ‚letztes Geschenk‘ erhielten die Menschen einen eigenen Brunnen, wurden von der göttlichen Wasserversorgung unabhängig. Sie können und müssen sich nun selbst versorgen. Dieser Autarkiegedanke wird dann wieder in die theologische Argumenta­ tion eingeführt, auf die Bibel angewendet und führt zum protestantischen Schriftprinzip: Die Schrift (der Brunnen) ist an sich klar, ‚sui ipsius interpres‘. Es gibt keine weitere Instanz, die erforderlich wäre, um Weisheit zu schöpfen. Der Brunnen sprudelt von selbst, man muß nur noch trinken.“ (Giesecke: Buchdruck 162 f.). 162 Vgl. Sandl: Medialität 78: „Das Gelingen der Lektüre, die Erkenntnis des einfachen Sinns der biblischen Botschaft, manifestierte sich ja dadurch, dass sich auf der Seite des Lesers Heilsgewissheit einstellte.“ Sandl erhebt die neue Lektüretheorie in den Rang der grundle­ genden reformatorischen Innovationsleistungen: „[…] der Kern der ‚reformatorischen Ent­ deckung‘ war: Dass sich hinter dem sichtbaren Buchstaben ein einfacher Sinn verbarg, den zu erkennen die höchste Form der Gewissheit versprach.“ (Sandl: Medialität 82). 163  „Der eigentliche Sprengsatz der reformatorischen Lehre bestand jedoch darin, dass der Sinn der biblischen Botschaft als ‚Heilsgewissheit‘ auf der Seite des Subjekts zentriert und damit das reformatorische Subjekt selbst zu einem eigensinnigen und exzentrischen wurde.“ (Sandl: Medialität 81).

5.  Die Medialität der Reformation

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den Offenbarungsempfang. „Medienereignis“ war die Reformation damit nicht nur in dem Sinne der neuartigen drucktechnischen Verbreitung von Informati­ onen und Ideen, sondern auch im Sinne der Konstitution eines neuen Verhält­ nisses zwischen dem Druckmedium und seinen Rezipienten.164 Die durch den reformatorischen „Sinn der Lektüre“ neuartig konzipierte Medialität war be­ reits den Zeitgenossen bewusst165 und gewann in der Antithetik von reformat­ orischer sinnzentrierter Lektüre und überkommener sakraler Anwesenheits­ kommunikation ihre zeitgenössische Evidenz.166 Die reformatorische Medien­ theorie der sinnzentrierten Lektüre richtete sich gegen die „mittelalterliche Epistemologie der Präsenz“, welche durch die Parameter der Anwesenheit, Ge­ genwärtigkeit und Zeitlosigkeit gekennzeichnet war.167 Die sakrale Kommuni­ kation erfuhr damit eine grundlegende Wandlung: „An die Stelle des ästheti­ schen Dispositivs mittelalterlicher sakraler Kommunikation trat eine neue, schriftbezogene Frömmigkeitspraxis.“168 So war nicht allein die reformatorische Nutzung des Mediums neu, sondern vor allem die reflexiv-sakrale Aufladung des Mediums, in der theologische Be­ deutungsebene und mediale Darstellungsformen konvergierten: „Als Medium ermöglichte der Druck die Breitenwirkung der Reformation, reflexiv wurde er jedoch erst dadurch, dass die Reformatoren – allen voran Luther – den Druck nicht nur benutzten, sondern ihn diskursiv auch als sakrales Medium aufluden. Ist die Breitenwirkung der reformatorischen Theologie ohne die drucktechnischen Möglich­ keiten der schnellen, massenhaften Vervielfältigung nicht denkbar, so ist ihre Nachhal­ tigkeit und damit historische Wirkmächtigkeit im Wesentlichen in der Tatsache be­ gründet, dass ihre Grundsätze selbst auf der Faktizität des neuen Mediums basierten.“169

Das Medium des Buchdrucks bildete gewissermaßen die entscheidende Voraus­ setzung der Reformation, welche dem Medium auf der Basis der ihm reforma­ torischerseits zugeschriebenen theologischen Dignität ebenso zum Durchbruch 164 Vgl.

Sandl: Medialität 125 f. ‚reformatorische Entdeckung‘ des Sinns der Lektüre implizierte schon für die Zeitgenossen, den Blick nicht nur auf theologische Einsichten zu richten, sondern ebenso auf die medialen und rituellen Bedingungen, in welchen sie Gestalt gewannen und verhandelt wurden.“ (Sandl: Medialität 85). 166 Zur Antithetik von sinnzentrierter Lektüre und sakraler Kommunikation siehe Sandl: Medialität 83 ff. Diese Antithetik lässt sich am Beispiel der Messe verdeutlichen: „Innerhalb dieses Rahmens profilierte Luther seine sinnzentrierte Lektürepraxis nun da­ durch, dass er ihr die sakralen Handlungen der römischen Messe, die den Prinzipien einer unmittelbaren Begegnung mit dem Heiligen unter Bedingungen körperlicher Anwesenheit folgten, gegenüberstellte. Seine Kritik entfaltete sich also aus der Antithetik von Lektüre und Anwesenheitskommunikation als zwei unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Formen der Frömmigkeitspraxis.“ (Sandl: Medialität 85 f.) 167  Sandl: Medialität 68. 168  Sandl: Medialität 91. Zum Begriff des ästhetischen Dispositivs siehe Sandl: Mediali­ tät 100 ff. 169  Sandl: Medialität 56 f. 165  „Die

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II. Flugschriftenpublizistik

verhalf wie umgekehrt die reformatorische Theologie durch den Buchdruck erst möglich und wirkmächtig wurde.170

6.  Flugschriften und Teufelsvorstellungen Die im Zuge der Reformation neukonfigurierte Medialität im Sinne einer druckgestützten Offenbarungstheologie hatte auch Auswirkungen auf die Au­ thentizität der Schriftlichkeit generell und mithin auch auf die Flugschriftenpu­ blizistik171 – dies allerdings nicht so folgelogisch, wie es im Nachhinein erschei­ nen mag. Insbesondere die Flugschriften bedurften einer speziellen theologi­ schen Legitimation, da der Buchdruck zwar einerseits euphorisch als „nützliche Kunst“172 bzw. als „letztes und größtes Geschenk [Gottes]“173 zur Verbreitung des Evangeliums gepriesen werden konnte,174 andererseits alsbald zunehmend ambivalent beurteilt wurde, da nicht nur altgläubige, sondern auch reformato­ risch gesinnte Zeitgenossen anmahnten, auch der Teufel bediene sich des Medi­ ums (insbesondere des Flugschriftenformats), um Zwietracht und Irrlehren zu säen und Heilsverwirrung zu stiften.175 Die Wertung des Buchdrucks allgemein und im engeren Sinne die Verhältnisbestimmung von Bibelverbreitung und Flugschriftenpublizistik konnte für die Zeitgenossen durchaus problematisch sein und gab Anlass zu einem Mediendiskurs über die grundsätzliche Legitimi­ tät der Flugschriftenpublizistik. Diese leitete sich keineswegs sachlogisch aus 170 Vgl. Sandl: Medialität 64: „So ist die dem Buchdruck eigene ‚typographische Persis­ tenz‘ zweifellos eine Bedingung der Möglichkeit der Reformation, allerdings erst insofern der Buchdruck als Technik sozial angeeignet und diskursiv überformt wurde. Die lutherische Theologie lässt sich als Diskurs rekonstruieren, der den Buchdruck theologisch auflud und ihm gerade dadurch zum Durchbruch verhalf, allerdings in der paradoxen Wendung, dass dieser Diskurs nur durch den Buchdruck möglich und wirkmächtig werden konnte.“ 171 Vgl. Gilmont: Reformation und das Lesen 343: „Das Geschriebene garantiert Au­ thentizität. Was in den ersten Jahrhunderten der Kirche galt, war auch im 16. Jahrhundert noch gültig. Darüber hinaus griff das Prestige, das die Bibel ganz selbstverständlich besaß, auch auf andere Formen religiösen Schrifttums über.“ Vgl. auch Burkhardt: Reformations­ jahrhundert 48: „Die Theologie der Reformationszeit bediente sich eben nicht nur einer technischen Erfindung zu ihrer Verbreitung, sondern legte gerade diese Erfindung in der Sprache der Religion kulturell neu aus. Denn wenn das Heilige nicht in Ritualen und Prak­ tiken, sondern in der Heiligen Schrift zu finden war, war das auch eine Auszeichnung des Schriftlichkeitsprinzips überhaupt.“ 172  Z. B. Eberlin: Bundesgenossen 4. 173 Vgl. Giesecke: Buchdruck 162 in Bezug auf Luther. 174  Z. B. Luther sah in seinen publizistischen Erfolgen einen von Gott heraufgeführten „Siegeslauf des Evangeliums“, welchen er als Zeichen der Endzeit begreift: „Ich acht, das deutsch land noch nie so viel von Gottis wort gehöret habe als itzt. […] Denn das sollt yhr wissen, Gottis wort und gnade ist ein farender platz regen, der nicht wider kompt, wo er eyn mal gewesen ist.“ (WA 15; 32,1 f.6–8). 175 Siehe Giesecke: Buchdruck 168 ff.; vgl. dazu z. B. Eberlin: Letztes Ausschreiben 202; Ders.: Geld.

6.  Flugschriften und Teufelsvorstellungen

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dem reformatorischen Schriftprinzip her, da „sola scriptura“ zunächst einmal allein auf die Bibel fokussierte und anderweitiges Schrifttum unter den Ver­ dacht geraten konnte, eine Konzentration auf die Bibel allein zu konterkarieren. Dieser scheinbare Widerspruch wurde von den Flugschriftenautoren gezielt thematisiert. So geben z. B. Eberlin und Gengenbach zu bedenken, dass das ausufernde Schrifttum der Vergangenheit, selbst das vermeintlich christliche, die Bibel habe vergessen lassen und den Irrtum im Volk verankern geholfen habe.176 Auch die zeitgenössische Konjunktur der Flugschriften wird mithin vom reformatorisch-theologischen Schriftprinzip her problematisiert; mitunter kann es fast den Anschein haben, dass die Flugschriften für ihre Selbstauf he­ bung plädieren.177 Vor diesem Hintergrund sehen sich viele Flugschriftenauto­ ren gezwungen, ihre publizistische Tätigkeit teilweise recht umfangreich zu rechtfertigen. Osiander z. B. erläutert bei der Eröffnung des eigenen schriftstellerischen Oeuvre seine Beweggründe: Er selbst habe sich bislang des Verfassens von Flug­ schriften bewusst enthalten, um den Stellenwert der Bibel nicht durch ander­ weitiges Schrifttum herabzuwürdigen, doch sei für das Schriftverständnis för­ derliche Lektüre legitim178 – allein in diesem Sinne will er das Anpreisen der eigenen Flugschrift als „nützlich zu lesen“179 verstanden wissen. Einzige me­ dientheologische Rechtfertigung für das Flugschriftentum sei mithin die rechte Schriftauslegung: Die Botschaft der Schrift werde „[…] an eynem ort mit klaren und verstentlichen worten, am andern mit verdeckten und verporgenen gehandelt. Welcher nun die klaren und hellen geschrifft recht han­ deln, die tunckeln und verdeckten gründtlich außlegen und mit der hellen vergleichen kann, der mag es wol schrifftlich außgeen lassen, die frummen und aynfeltigen darmit zu troesten, stercken und in die schrifft zu fueren, den lesterern aber, die wider Gotß wort toben und wueten, das maul zu stopfen […].“180

Neben dem theologischen Argument gibt Osiander an, dass er sich den an ihn herangetragenen permanenten Bitten, mit Flugschriften die Öffentlichkeit zu suchen, nicht länger entziehen wolle; zudem könne er – vor dem Hintergrund der neuartigen druckgestützten Öffentlichkeit – allein mit authentischen eige­ 176 Vgl.

Eberlin: Letztes Ausschreiben 204; Gengenbach: Bürger 200,88–90. Z.B Osiander: „Wo man nun Gottes wort predigt, ist recht und wol gethan. Es bedarf aber kayns schreibens, dann es ist vorhyn geschriben […].“ (Osiander: Sendbrief 96,3–5). Vgl. auch Eberlin: Bericht 179. 178  „Dieweil ich aber vleissig bedacht, was grossen schadens auß dem uberflüssigen schrei­ ben, so nun ettlich hundert jar allenthalben beschehen, dadurch wir von dem teuren und bestendigen wort Gottes auff unnütze und baufellige menschenwort gefuert sein, entstan­ den, hab ich denselben ansuchenden soellichs biß hieher abgeschlagen und sy widerumb freüntlich vermanet und ernstlich gewarnet, Gottes wort, die haylige geschrifft, allain zu lesen und aller menschen geschrifft nicht weiter, dann sy die rechten goetlichen geschrifft zu versteen und liebzuhaben furderlich weren, anzunemen.“ (Osiander: Sendbrief 95,11–19). 179  Osiander: Sendbrief 95,1. 180  Osiander: Sendbrief 96,8–14. 177 

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II. Flugschriftenpublizistik

nen Flugschriften der Geschäftemacherei unter seinem Namen und etwaigen Verleumdungen wehren: „Nun aber das bitten meiner gutten freündt, die mir auch in Christo wol gepieten moechten, nit auff hoern will, und uber soelchs auch ander leut etliche buechlein undter meinem namen, die ich doch nit geschriben hab, trucken und verkauffen, will ichs, dieweyl ich denselben schrifftlich woern musz, für ain beruff annemen und Got lassen walten, füro selbs schreiben und in truck geben, was ich ainer christlichen gemayn zu trost und undterweisung vermag.“181

Auch Eberlin rechtfertigt sein schriftstellerisches Engagement mit dem drän­ genden Ersuchen trostbedürftiger Christen, welche er nicht den Angriffen des Teufels preisgeben werde.182 Immer wieder wird im Zusammenhang mit der Selbstauskunft der Flug­ schriftenautoren über ihre schriftstellerische Motivation auf die Teufelsvorstel­ lungen rekurriert. Eberlin erhofft sich von seinen Flugschriften einen Multipli­ kationseffekt hinsichtlich der Warnung vor dem Teufel; da es diesen gegen die Tradition neuartig zu entlarven gelte, tragen Produktion und Rezeption von Flugschriften in der reformatorischen Gegenwart einen besonderen Nutzen: „Ich getrauwe got, ehr werde euch durch dise nach geschribne gschrifft oder durch andere deren gleychen also erleuechten vnd grunden ihn rue, frid, gehorsam, das auch aller liste der alten schlangen euch nit muege blenden noch wenden, vnd das ir selbs andere ziehen werden von vnrwigen fuernemen […]. So habt jhr deutlich vnd nach der lenge (als den ainfaeltigen noetig ist) was mich bewege euch zu schreyben, vnd wie nutze es euch sein werde, vnd wie nott, das jhr dise vermannung annehmpt […].“183

Diverse Flugschriftenautoren sehen in der Veröffentlichung von Flugschriften das probateste Mittel, den Machenschaften des Teufels zu wehren und das rech­ te Glaubensverständnis wiederherzustellen.184 Allein vor diesem Hintergrund 181 

Osiander: Sendbrief 96,23–97,3. deß halb auch der Teüffel nit leyden mag ewer fridlichen haysamen fürgang im weg des herren, vnderstat villeücht durch glück vnd vnglück, durch guten vnd boesen schein, ewern glauben zuschwechen, Darumb ich gebetten worden bin durch brieff, ich soelle vmb gottes willen etwas halsamer lere euch zuschreyben in hoffnung, es werde nit on frucht ergon […].“ (Eberlin: tröstliche Vermahnung 138). 183  Eberlin: Warnung 258. Vgl. auch Eberlin: Falschscheinende Geistliche 49. 184  Vgl. z. B. Sonnentaler: „Und wie wol ich weyß, daz diß myn schryben an disen alten leydhunden [die falschen Geistlichen] nichts schaffet, will ich doch den armen jungen hert­ zen zu dyenst rueffen unnd schryen, ich hoff es werd vilycht eyner zum minsten dem tüffel uß dem rach entzogen.“ (Sonnentaler 404,21–24). Vgl. auch Cronberg: „[…] wolt gott das meine ermanung in etlichen etwas helffen mocht, Szo wolt ich alle menschen ermanen yre kranckheyt mit mir tzubekennen, dem almechtigen Artzt, wellicher willig unnd bereyt ist, unns auß allen banden und stricken des teufels tzu helffen […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 58). Vgl. auch Brunfels: Anstoss 294,12–19. Vgl. auch die Flugschrift „Bot­ schaft aus der Hölle“, in welcher der Verfasser Luther über seine kerygmatische Motivation Auskunft geben lässt: „Ich [Luther] bin schuldig, meinen Nächsten zur Seligkeit zu unter­ weisen und vom Widerchristen und seinem Haufen zu führen.“ (Botschaft aus der Hölle 328). 182  „[…]

6.  Flugschriften und Teufelsvorstellungen

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steht das Medium Flugschrift im Einklang mit dem reformatorischen „sola scriptura“; seine theologische Existenzberechtigung erhält es mithin aufgrund seiner exegetischen Funktionalität, insbesondere hinsichtlich der Offenbarung des Teufels und deren Vermittlung an breite bildungsferne Bevölkerungsteile. Zwar bilde die Bibel allein die Erkenntnisgrundlage für die Offenbarung von Teufel und Antichrist, doch biete die Rezeption von Flugschriften entscheiden­ de Hilfestellung: „Bistu nu der geschrift vnerfaren vnd vngeyebt / so kum her vnd lise in disem buch / da wirdestu finden vnd lernen was die recht wülfich art des sons der verderbnus ist.“185 In diesem Sinne dienten die Teufelsvorstellun­ gen als zentrales legitimationsstiftendes Motiv für die Publikationsform der Flugschriften und das Engagement der Autoren im medial neuartig ausgetrage­ nen frühreformatorischen Meinungsstreit. Diese theologische Legitimations­ grundlage des Mediums Flugschrift hängt dabei mit der im Verlauf der Unter­ suchung darzustellenden spezifisch reformatorischen Charakteristik der Teu­ felsvorstellungen eng zusammen. Die Bedeutung der Teufelsvorstellungen blieb indes nicht allein auf metame­ diale Rechtfertigungsstrategien beschränkt, sondern prägte auch Ausgestaltung und Erscheinungsform des Mediums selbst wesentlich mit. Insbesondere die (im Verlauf der Studie darzustellende) reformatorische Spezifik der Teufelsvorstel­ lungen nahm entscheidenden Einfluss auf den literarischen Duktus und die rhe­ torischen und kommunikativen Strategien der Flugschriften. Nach Hamm liegt der in der Reformationszeit vollzogene mediale Umbruch weder in der quantitativen Steigerung von Druckerzeugnissen186 noch in der druckgestützten Abwendung von der überkommenen Anwesenheitskommuni­ kation,187 sondern vielmehr in einem gewandelten Charakter der medialen Kommunikationsstrategien: „Nein, der Umbruch liegt vielmehr im Phänomen der meinungsbildenden, polarisierenden Propagandaliteratur.“188 Diese unter­ scheide sich von Vorgängigem vor allem „[…] im Charakter der durch die Medien vermittelten Kommunikation. Im Spätmittel­ alter ist sie vorwiegend belehrend und anleitend, ermahnend und tröstend, meist ru­ hig-erbaulich und unpolemisch in der Darstellungsweise, eingebettet in den Kontinui­ tätsstrom von Tradition und Gewohnheit, Kirchen- und Väterautorität; in der Refor­

185 

Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a. Hamm: Medienereignis 161: „Dieser Umbruch liegt, wenn man zunächst die schriftlichen Medien betrachtet, nicht im Phänomen gedruckter Massenliteratur an sich, obwohl die Reformation in neue Dimensionen der Multiplizierung von Druckwerken vor­ stieß.“ 187  Auch im Spätmittelalter existierte bereits „[…] in hohem Maße eine technisch vermit­ telte und vervielfältigte, von der persönlichen Kommunikation gelöste Öffentlichkeit.“ (Hamm: Medienereignis 161). 188  Hamm: Medienereignis 162. 186 Vgl.

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II. Flugschriftenpublizistik

mation dagegen wird sie programmatisch und polemisch, propagandistisch und agitatorisch, meinungsbildend, parteiisch und zur Entscheidung drängend.“189

Diese mediale Darstellungsweise gründet auf dem Charakter der reformatori­ schen Theologie als Unterscheidungslehre: „Bei all ihren Vertretern und in all ihren Medien tritt sie als Theologie der scharfen Alternative auf den Plan.“190 Diese antithetische Grundstruktur der reformatorischen Theologie tritt beson­ ders in den Flugschriften deutlich zu Tage und korreliert mit deren persuasiver Grundcharakteristik. In diesem Zusammenhang wurde den Teufelsvorstellungen von den Flug­ schriftenautoren eine hohe persuasive Funktionalität zugeschrieben, da das Teu­ felsmotiv Abgrenzung ermöglichte, zur parteilichen Entscheidung zwang und durch die implizit kämpferische Konnotation zum Handeln rief. Auf dieser Ba­ sis wurden die Teufelsvorstellungen in den Flugschriften neuartig kommunika­ tionsstrategisch funktionalisiert. Diesem Wandel der kommunikativen Aus­ drucks- und Darstellungsform liegt ein theologiegeschichtlicher Paradigmen­ wechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen zugrunde. Vor dem Hintergrund dieses Paradigmenwechsels ging es den reformatorischen Zeitgenossen nicht (und dies präformiert den Medienumgang) um die Herstellung von Konsens, sondern um Scheidung der Geister, Trennung von Auserwählten und Gottlosen, Unterscheidung von wahrer und falscher Kirche. Die spezifische Charakteristik der Teufelsvorstellungen war dabei mit der reformatorischen Öffentlichkeitsfor­ derung und der theologischen Medientheorie eng verbunden und brachte eine veränderte Zeiterfahrung hervor. Inwiefern die anhand der Teufelsvorstellun­ gen vorgenommene Neuausrichtung des Zeitbewusstseins auf die Medialität der Reformation einwirkte und mit ihr korrelierte, wird zu zeigen sein.

7.  Die Auswahl der Quellen Die vorliegende Arbeit geht von der beschriebenen Mediensituation aus und untersucht sie in thematischer Fokussierung auf die Teufelsvorstellungen und deren Zusammenhang mit dem Zeitverständnis. Die Quellengrundlage der vorliegenden Untersuchung bilden aufgrund der geschilderten Charakteristik die frühreformatorischen Flugschriften, wobei vor allem deren kohärenzstif­ tende Funktionalität sowie ihre allgemeine Rezeptionsreichweite von Bedeu­ tung sind. Zudem verspricht die persuasive Intentionalität und der Aktualitäts­ bezug dieser Quellengattung hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung und Artikulation von Veränderungspotentialen und reformatorischen Innovati­ onsleistungen besonders ergiebig zu sein. 189 

190 

Hamm: Medienereignis 164. Hamm: Medienereignis 164.

7.  Die Auswahl der Quellen

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Aufgrund der generell hervorragenden Quellenlage hinsichtlich der Flug­ schriftenpublizistik wurde die Auswahl der Quellen auf bestimmte Kriterien eingegrenzt: In formaler Hinsicht wurde in der Regel auf Flugschriften zuge­ griffen, die sich in der Microfiche-Sammlung von Köhler finden lassen.191 Der Zeitraum der vorliegenden Untersuchung wurde auf die in mehrfacher Hin­ sicht als „Schlüsselphase“192 zu bezeichnenden Jahre 1520–26 eingegrenzt. Dies begründet sich zum einen mediengeschichtlich, da die Flugschriften ab 1520 zur Massenware avancierten und das Phänomen der Volkssprachigkeit der Flug­ schriften hier signifikant ansteigt.193 Ab 1526 flacht die Konjunkturkurve der Flugschriftenproduktion wieder tendenziell ab,194 sodass insbesondere die erste Hälfte dieser Dekade als mediale Umbruchszeit in Erscheinung tritt. Theologiegeschichtlich begründet sich der veranschlagte Zeitraum, da ab 1520 der Bruch mit der römischen Kirche unhintergehbar vollzogen war. Im Zuge der Anwendung des Antichristbegriffs auf das Papsttum, welche in ihren Grundzügen ab 1520 vollgültig ausgeprägt war,195 entwickelten sich auch die apokalyptischen Vorstellungen zur Grundanschauung der reformatorischen Be­ wegungen.196 Bezüglich der Frage nach einer spezifisch reformatorischen Prä­ gung der Teufelsvorstellungen und der Frage, inwieweit diese mit grundlegen­ den Veränderungen in der Konstitution des reformatorischen Zeitbewusstseins konvergierten, erscheint diese frühe Phase der Reformationszeit daher beson­ ders aufschlussreich sein zu können. Auch hinsichtlich der Frage nach einer diesbezüglichen inneren reformatorischen Kohärenz erscheint der Zeitraum 1520–26 ebenfalls hervorragend geeignet, da die Vielfalt der reformatorischen Bewegungen hier augenfällig ist und in vergleichsweise geringem Maße durch obrigkeitliche Interventionen kanalisiert wurde, was sich ab 1525/26 im Um­ feld des Bauernkrieges tendenziell änderte. Mit der Fragerichtung dieser Unter­ suchung ist zudem die konfessionelle Beschränkung auf Flugschriften, in denen genuin reformatorisches Gedankengut artikuliert wird, verbunden. Das der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Quellencorpus orientiert sich nicht primär an speziellen institutionellen oder sozialhistorischen Kriterien,197 191 Siehe Köhler: Microfiche-Sammlung; Ders.: Bibliographie. In wenigen Fällen wur­ den Flugschriften hinzugezogen, die sich in der Microfiche-Sammlung nicht finden: Müntzer, Thomas: Der Bemen sache betreffende protestation (1521), MSB 495–505; Copp: Practica Teutsch; Gengenbach: Ware Practica. 192 Vgl. Mörke: Die Reformation 138. 193  Vgl. oben 24. 194 Vgl. Köhler: Erste Schritte 251. 195  Ab 1520 bedeutete die Parteinahme für Luther die Abwendung von der römischen Kirche aufgrund des Antichristbegriffs (vgl. Hillerbrand: Von Polemik zur Verflachung 116 f.). 196  Ab 1520 tritt die apokalyptische Zeitdiagnostik massiv hervor und wird „zur Grun­ düberzeugung der Reformatoren“ (Sandl: Medialität 286) 197  Siehe z. B. Arnold, der auf die Handwerker unter den Flugschriftenautoren fokus­ siert.

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II. Flugschriftenpublizistik

ebenso wenig an regionalen Spezifikationen,198 sondern an theologisch-inhalt­ lichen Konzeptionen; dies allerdings nur, insofern sie ein publizistisches Phäno­ men bilden. Daher ist das theologiegeschichtliche Erkenntnisinteresse der Ar­ beit eng verzahnt mit einem kommunikationshistorischen, indem sie gezielt nach der publizistischen Auf bereitung theologischer Sachverhalte und deren Einfluss auf die Ausgestaltung des Zeitbewusstseins fragt. Die anvisierte Einheit der behandelten Quellen und die methodische Grundlage für deren Auswer­ tung ergibt sich also aus dem inhaltlichen Kriterium der Teufels- und Anti­ christvorstellungen und deren Applikation auf die zeitgenössische Gegenwart der Flugschriftenautoren in einer bestimmten publizistischen Form.199 Um da­ bei nicht allein einen Gelehrtendiskus, sondern möglichst breite Rezipienten­ kreise ins Auge fassen zu können, wurden aufgrund der höheren Rezeptions­ wahrscheinlichkeit ausschließlich deutschsprachige Flugschriften analysiert.200

198 

Siehe z. B. Todt: Kleruskritik, die ihren Untersuchungsgegenstand auf eine bestimm­ te Stadt eingrenzt. 199 Mit inhaltlich anderem Erkenntnisinteresse, aber methodisch ähnlich z. B. Leppin: Jüngster Tag. 200  „Will man trotz aller Vorsicht ein möglichst großes Publikum als Adressaten in Be­ tracht ziehen, so beschränkt sich der Untersuchungsgegenstand von selbst auf deutsche Schriften […].“ (Leppin: Jüngster Tag 27)

III. Vergangenheitsdeutung 1. Ausgangsbedingungen Um die Vergangenheitsdeutung in den Flugschriften konturieren zu können, sollen zunächst einige allgemeine Überlegungen zu den Ausgangsbedingungen der frühreformatorischen Vergangenheitsbetrachtung angestellt werden: Wie und unter welchen Vorzeichen betrieben die Flugschriftenautoren am Beginn der Reformation überhaupt Vergangenheitsbetrachtung, wo doch das von ih­ nen gewählte mediale Format als schnell konsumierbare und vergängliche Ge­ brauchsliteratur für zeitübliche Historiographie denkbar ungeeignet schien?

1.1  Das altgläubige Traditionsargument als Movens frühreformatorischer Vergangenheitsbetrachtung Mit dem reformatorischen Auf bruch wurde die Problematik des Geltungsan­ spruchs von Tradition(en) virulent.1 Ohne dass Begriff und Funktion der Tra­ dition in der kirchlichen Lehre bereits näher ausdifferenziert waren, bezeichnen die frühen 1520er Jahre den Auftakt zu einer grundsätzlichen Auseinanderset­ zung um das rechte Verständnis der Tradition.2 Der Angriff auf die Autorität der Papstkirche und deren Selbstverständnis, Wächterin der intakten Heilsge­ meinschaft und Garant der Reinheit von Lehre und Brauchtum zu sein, trug den reformatorischen Bewegungen den Vorwurf ein, durch ihre vermeintlich neue Lehre eine lang andauernde Tradition zu negieren.

1 Literatur zum Problem der Tradition in der Reformationszeit in Auswahl: Ebeling: Sola scriptura 91–143; Liebing: Sola scriptura – Die reformatorische Antwort auf das Prob­ lem der Tradition 81–95; Headley: Understanding of Tradition 5–22; Hauschild: Bewer­ tung der Tradition 195–231; Fuchs: Reformation 71–89; Sandl: Interpretationswelten 27– 46. 2 Das Verständnis der Tradition wurde erst durch die reformatorischen Bewegungen problematisiert, so dass erst ab der Reformationszeit grundsätzlich über das Traditionspro­ blem reflektiert wurde, vgl. Ebeling: Sola scriptura 94: „Indem das reformatorische ‚sola scriptura‘ eine zuvor nicht klar erkannte Problematik angerührt und diese in den Stand einer Entscheidungsfrage gebracht hat, hat es die umfassende Explikation der römisch-katholi­ schen Lehre von der Tradition überhaupt erst ausgelöst.“

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III. Vergangenheitsdeutung

Die Gegner der reformatorischen Bewegungen argumentierten dabei in zweifacher Hinsicht mit der Tradition: 3 Einmal bezogen sie sich in weitem Sin­ ne auf Herkommen, Brauchtum und Gewohnheit, die altbewährt und Aus­ druck der Frömmigkeit vergangener Generationen seien und keiner Verände­ rungen bedürften. Dieses Argument begegnet in den Flugschriften vor allem im konstruierten Topos des Gemeinen Mannes und dessen Skepsis Neuerungen gegenüber. In engerem Sinne war das Traditionsargument bezogen auf die lehramtliche Tradition der Kirche und deren Orientierung an Konzilsentscheidungen, Kir­ chenvätern und -lehrern und dem geistlichen Recht. Für die Lehre der Kirche besaß die Tradition im Mittelalter normativen Charakter und galt neben der Schrift als eigenständige Offenbarungsquelle.4 Formale Grundlage für die in­ haltliche Normativität der lehramtlichen Tradition war die Vorstellung von der apostolischen Sukzession der Bischöfe, durch welche die römische Kirche ihren unmittelbaren Anschluss an die Urkirche hergestellt sah.5 Diese institutiona­ lisierte Geistbegabung begründete die Autorität des kirchlichen Lehramtes und befähigte es, die in der Schrift grundgelegte Offenbarung in der Tradition fort­ zuschreiben. Durch die dogmatische Orientierung an der Tradition als Ergän­ zung der Schriftoffenbarung stellte die römische Kirche in normativer Hinsicht die „Widerspruchsfreiheit der Überlieferung“ her.6 Für das altgläubige Geschichtsverständnis war das Traditionsprinzip von ent­ scheidender Bedeutung, gewährleistete die Traditionsorientierung doch die rechte Schriftauslegung über die geschichtlichen Zeiten hinweg und verhinder­ te damit die grundsätzliche Einflussnahme des Teufels, der zwar Einzelpersonen seinem Willen unterwerfen, nicht aber die Lehre der Kirche insgesamt verder­ ben könne. Die lehramtliche Tradition der Kirche bewahre diese vor Irrwegen und gewährleiste die Reinheit der Lehre, welche zwar beständig durch den 3  Zum Traditionsbegriff und der Unterscheidung von Gewohnheit, Brauchtum etc. und lehramtlicher Tradition siehe Hauschild: Art. „Tradition V“ 708 f. Diese zwei Dimensio­ nen des Traditionsbegriffs begegnen auch in den reformatorischen Flugschriften, ohne je­ doch deutlich voneinander abgegrenzt zu werden. 4 Vgl. Hauschild: Art. „Tradition V“ 709–711. 5  Die Kontinuitätsvorstellung der römischen Kirche basierte auf der Traditions- und der Sukzessionsidee, die zwei miteinander verknüpfte Aspekte betonten, vgl. dazu Höhne: Luthers Anschauungen 93: „Untereinander lassen sich Traditions- und Sukzessionsidee so voneinander abheben, daß die erstere die Kontinuität der Kirche hinsichtlich ihres Inhalts konkretisierte, während die letztere mehr auf das formale Moment eines lückenlosen Fortbe­ standes Bezug nimmt.“ 6  Sandl: Interpretationswelten 29. Die Traditionsorientierung fußte auf dem „Prinzip der Sammlung und Auf bewahrung eines Wissensschatzes unter dem Aspekt der Nichtwider­ sprüchlichkeit“ (Sandl: Interpretationswelten 30). Die Normativität der Tradition verhin­ derte natürlich nicht theologische Meinungsstreitigkeiten, doch das Prinzip der Nichtwider­ sprüchlichkeit garantierte die Einheitlichkeit der Überlieferung, deren Auslegung mitunter strittig sein konnte, die aber nicht grundsätzlich abgelehnt wurde (vgl. Sandl: Interpretati­ onswelten 30, Anm.  11).

1. Ausgangsbedingungen

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Teufel angegriffen und bedroht sei, aber dennoch von der Kirche durch ihre Orientierung an der Tradition erhalten werde. So diente das Traditionsprinzip der Bewahrung der Wahrheit im Verlauf der Geschichte und bildete das Funda­ ment der altgläubigen Geschichtshoheit.7 Das überkommene Verständnis der Tradition wurde durch die reformatori­ schen Bewegungen in grundsätzlicher Weise problematisiert. In Reaktion auf den mit der Frühreformation auf brechenden Kampf um das rechte Traditions­ verständnis wurde von altgläubiger Seite im Tridentinum die normative Funk­ tion des Traditionsprinzips als Wahrheitsquelle noch einmal nachhaltig bekräf­ tigt.8 Durch die reformatorischen Bewegungen schien die Rechtmäßigkeit der Tradition – sowohl in weitem Sinne von Brauchtum und Herkommen als auch in engerem Sinne von lehramtlicher Tradition – radikal infrage gestellt.9 Die Vorbehalte gegen die vermeintlichen Neuerungen der reformatorischen Lehre und die Traditionsorientierung der Altgläubigen werden daher von diversen Flugschriftenautoren aufgegriffen und zum Ausgangspunkt ihrer Überlegun­ gen gemacht. Das altgläubige Traditionsverständnis war in der Wahrnehmung der reformatorisch gesinnten Zeitgenossen das gewichtigste Gegenargument, zu welchem sie sich allererst Stellung zu beziehen genötigt sahen. Neben Luther, Eberlin und Kettenbach, die sich von den Altgläubigen in erster Linie mit dem Traditionsargument angegriffen sahen,10 geht auch Speng­ 7  Vgl. zum Zusammenhang von Traditionsprinzip und altgläubigem Anspruch auf Ge­ schichtshoheit Fuchs: Reformation 71 ff., insbesondere 80. 8 Vgl. zur Gleichstellung von biblischer Offenbarung und kirchlicher Tradition als Wahrheitsquellen: Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen 496 f.: Dekret über die Annahme der heiligen Bücher und der Überlie­ ferungen, 4. Sitzung, 8. April 1546. Im Konzil von Trient formulierte die römische Kirche mit dem Traditionsprinzip „einen ewigen Wahrheitsstrom von Jesus Christus bis in die eige­ ne Zeit“ (Fuchs: Reformation 73) und lieferte eine erste dogmatische Definition des Ver­ hältnisses von Schrift und Tradition (vgl. Ebeling: Sola scriptura 93). Zu den Schwierigkei­ ten des Konzils bei der Bestimmung des Traditionsbegriffs siehe Jedin: Geschichte des Kon­ zils von Trient 42–82. 9  Die reformatorischen Bewegungen vollzogen einen „kirchengeschichtlich beispiello­ sen faktischen Bruch mit einer Fülle von Traditionen“ (Ebeling: Sola scriptura 141) und standen somit grundsätzlich unter dem Vorzeichen der vermeintlichen Abwendung vom Alten und des Traditionsbruchs. 10 Luther: „Noch furen die Papisten das am allerstercksten widder uns: Solten so viel heylige leut und lerer geyrret haben, sagen sie, und Gott die welt so verlassen haben?“ (WA 15; 755,34–36; vgl. auch: Offenbarung des Endtchrists C1b). Auch Eberlin sieht die reformatorische Lehre vorrangig mit dem Traditionsargument diskreditiert: Die Altgläubi­ gen „[…] geben für wider solich war lere, sie sy wider vil hundert jar gewonheit. Es sy wider christenliche kirchen, wider die heiligen lerer, solich prediger syen buben, syen kaetzer etc. Und mit solichen vnd der gelichen widerstand woellen sie abwisen die frommen teütschen von goettlicher warheit.“ (Eberlin: Bundesgenossen 84). Auch Kettenbach gibt die alt­ gläubige Traditionsorientierung als vermeintlich gewichtiges Gegenargument wieder: „Nun sprechen hie die papisten: die hailigen concilia bedeüten vns die gemain hailig Christliche kirchen, das hat man allweg gehalten, ich bleib darbey.“ (Kettenbach: Kirche 91,16–18).

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III. Vergangenheitsdeutung

ler in seiner Verteidigungsschrift gegen Einwände der Altgläubigen11 als erstes auf deren Kardinalargument ein: Er referiert den Vorwurf, aus der reformatori­ schen Lehre folge zwingend, „[…] daz die heiligen väter, die concilia, unsere vorelter und ein solche anzal tausent menschen, die vil ein anders gehalten hetten und darauf gestorben wern, geirrt und darumb einen unchristlichen abschied von hynnen genommen hetten.“12

Der Entkräftung des Arguments der Altgläubigen, die „[…] durch verjarung der zeyt […] einen grund schöpfen“ wollten, widmet er sich durchgehend in der gesamten Flugschrift.13 Judas Nazarei gibt das Traditionsargument vor allem aus der Sicht des Gemei­ nen Mannes wieder: Die reformatorische Lehre schien die gesammelte Weisheit der Heiligen und Kirchenlehrer zu missachten und alle Generationen der ver­ gangenen Jahrhunderte ins Unrecht zu setzen und dem Teufel auszuliefern: „Was ist das für eyn nüw ler? wo kompt der do mit har? ich byn sechzig iar alt, hab nie anders hoeren predigen, sindt vorzyten auch wiß vnd gelert lüt gewesen, soellen sy all nit gewisset han, was recht vnd vnrecht wer; Mein vatter hat mich auch also gelert; wan es also wer, als die nüwen prediger yetz leren, so weren wir all des tüfels, so hetten die alten geirret, wo kommen wir dar zu; Es ist ketzery, irrtum, sy predigen einen nüwen glauben; Nüt nüt, ich wil by mym alten got bliben, ich blib by mym alten glauben, by der alten leer. Das hoeren dann die iungen, gedencken: thud das vnser kirch herr, vnser capplan vnd münch, die geistlichen, auch myn vatter, myn nachbur, ich will auch also thun.“14

Die in den Flugschriften geschilderte Traditionsorientierung des Gemeinen Mannes ließ diesen geneigt sein, am gewohnten Brauchtum festzuhalten – zu­ mal er sich andernfalls abseits der Kirche stellte, außerhalb derer das Heil nicht zu erlangen sei.15 So schien es undenkbar, dass Gott die von ihm eingesetzte

11  Spengler

gliedert seine Flugschrift „Verantwortung“ nach den Gegenargumenten, die der reformatorischen Lehre entgegengebracht werden. Das erste und gewichtigste Gegenar­ gument ist für ihn das Traditionsargument (vgl. Spengler: Verantwortung 359 ff.). 12  Spengler: Verantwortung 360,4–7. 13  Spengler: Verantwortung 370,23–371,3: „Das die kirch vnd alle welt nun etwovil hundert jar ein anders, dann man vns yetzo predigt, leret und schreibt, gehalten hab, das geb ye sovil grunds, das got so lang zeyt und jar die kirchen in diesem irrsal, der vnns durch das evangelium jtzo zu zeigen undterstanden wird, nit gehalten hab. Und wollen also durch verjarung der zeyt wider das ewig wort Gottes einen grund schöpfen.“ 14  Nazarei 64. Vgl. auch Nazarei 36 f. 15 Die verbreitete Besorgnis, der Kirche als Heilsanstalt nicht mehr zugehörig sein zu dürfen, schildert Kettenbach in einem fingierten Zwiegespräch mit einem unbedarften Alt­ mütterlein: „Bruder Hainrich. Sy mit jrem bapst vnd prelaten wellen sein die hailig chryst­ lich kirch, dauon jr im glauben beetten: Jch gelaub ain gemain hailig christlych kirch. damit wellen sy auch binden. Altmueterlein. Nun sprechen sy doch all auff der kantzel, nyemandt werd selig, er sey dann in der hailigen christlichen kirchen, welch ist als die arch Noe: wer darauß was, der ertranck etc.“ (Kettenbach: Altmütterlein 70,27–71,4).

1. Ausgangsbedingungen

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Kirche einen so fatalen Irrweg beschritten haben lassen sollte: „wann Luther recht het, so het so lang die Christlich kirch geyrt, das verhenngt got nit.“16 Das Argument, die Kirche und ihre Tradition könne nicht so lange so fatal geirrt haben, setzte die reformatorischen Bewegungen einem enormen Legiti­ mationsdruck aus – zumal das altgläubige Traditionsargument gekoppelt war mit dem Vorwurf der Aufruhrbereitschaft: Mit der Entwertung der Tradition und dem Einbringen von Neuerungen säe die reformatorische Lehre lediglich Zwietracht und zerstöre die christliche Heilsgemeinschaft.17 Um das altgläubige Traditionsargument entkräften zu können, richteten die reformatorischen Flugschriftenautoren den Blick in die Vergangenheit: Die Vergangenheitsbetrachtung diente dabei sowohl der Delegitimierung des Tra­ ditions- und Gehorsamsanspruchs der Papstkirche als auch dem Erweis der Rechtmäßigkeit des reformatorischen Auf bruchs und stand somit primär im Dienste theologischer Wahrheitsfindung. Zudem leistete sie einen gewichtigen Beitrag zur Selbstvergewisserung der eigenen Anhängerschaft – und deren Er­ weiterung: Die Erschließung weiterer Bevölkerungskreise für die reformatori­ schen Bewegungen hing in entscheidender Weise von der Plausibilität des eige­ nen Traditionsverständnisses ab, welches dem altgläubigen entgegengestellt werden konnte. Damit eignete der reformatorischen Vergangenheitsbetrach­ tung von Beginn an eine ausgeprägte persuasive Intentionalität, die gerade auch in der Gattung der Flugschrift zu Tage tritt. Der enorme Legitimationsdruck von außen und der hohe Identitätsbedarf nach innen hob den Stellen- und Erkenntniswert der Vergangenheitsbetrach­ tung gerade in der Frühzeit der Reformation signifikant an, weshalb die Ge­ schichtsdeutung von Beginn an ein wichtiges Element der reformatorischen Flugschriftenpublizistik bildete. Dabei betrieben die Flugschriften Vergangen­ heitsbetrachtung vorrangig als Akt der Abgrenzung von Papsttum und römi­ scher Kirche und lieferten eine radikale Umdeutung des überkommenen Tradi­ tionsverständnisses.

1.2  Der Teufel und der „lange Spieß“ Ein aufschlussreiches Beispiel für den frühreformatorischen Kampf um das rechte Traditionsverständnis bietet der Flugschriften-Streit zwischen Luther und König Heinrich VIII. von England.18 Luther legt in seiner Gegenschrift 16 

Kettenbach: Ein neu Apologia 173,11 f. „Er [Luther] mach den cristenlichen glauben trueb, welcher lang lauter sey gewesen on alle zwytracht unnd einred, byß auff den yetzkummenden Luther, welcher sich understat, die band der christenlichen zerreyssen und trueb machen und zerbrech die ordnung.“ (Marschalck 563,22–26). Der reformatorische Auf bruch brachte die traditionelle Konstitution der Heilsgemeinschaft und die in Geltung stehenden Ordnungsvorstellungen völlig durchei­ nander – ein Vorgang, der Verunsicherung schuf und unbedingt legitimiert werden musste. 18 Heinrich hatte die Auseinandersetzung eröffnet und sich in seiner Schrift „Assertio 17 

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III. Vergangenheitsdeutung

den Kern der Auseinandersetzung offen, wenn er die Grundlagen des altgläubi­ gen Traditionsarguments angreift: Die Argumentationsbasis für Heinrichs Tra­ ditionsverständnis sei nicht die Schrift, sondern der „lange Spieß“: „Das ist seyn hewbtstueck, nemlich der lange spieß, das er auff die gantze sache durchs gantze buch nicht mehr denn eyn eynigen spruch fueret auß der schrifft […]. Sondernn alle seyne bewerung ligt darynnen: Ich glewbe, es sey alßo recht, Item: ßo lange hatt mans gehallten, Item: ßo viel leutt muegen nit yrren, Item: etlich heylige veter haben diß und diß gesagt.“19

Dagegen hält Luther fest: Die Rechtmäßigkeit einer Lehre sei nicht an deren Alter oder die Zahl ihrer Anhänger gebunden 20 – andernfalls hätten die Juden und Türken das Argument auf ihrer Seite21 und das Heidentum setzte das Christentum ins Unrecht.22 Die Schrift allein müsse den Glauben bestätigen, nicht die Gewohnheit der langen Dauer, die auch für die Sünde gelte.23 Vor allem aber entkräftet Luther Heinrichs Argument des „langen Spießes“ mit dem Hinweis auf den Teufel: Wenn das Alter Recht setzte, so wäre der Teufel der Gerechteste: „Und wenn die iare recht mechten, wer yhe der teuffel billich der aller gerechtist auff erden, der nu uber funff taußent iar allt ist. Drumb muß man ander grund antzeygen denn der tzeytt lenge und menschen synn.“24 Die Argumentationsweise Luthers in der Heinrich-Schrift begegnet noch bei weiteren Autoren.25 In ähnlicher Form findet sich sowohl der Einwand, der christliche Glaube könne gegenüber dem jüdischen nicht mit dem Alter argu­ septem sacramentorum“ (1521; 20 Auflagen im 16. Jahrhundert) zum Anwalt des altgläubi­ gen Traditionsverständnisses gemacht, wofür er vom Papst den Titel „Defensor Fidei“ ver­ liehen bekam (vgl. Delius: Art. „Heinrich VIII. von England“ 10). Luther war aufgefordert, Stellung zu beziehen und tat dies in überaus streitbarem Duktus. Die große Aufmerksamkeit, die seine Gegenschrift erfuhr, bezeugt das öffentliche Interesse, welches der Frage nach dem Traditionsverständnis entgegengebracht wurde (siehe WA 10,2; 227–262; allein 1522 er­ schienen 2 lateinische und 4 deutsche Ausgaben). 19  WA 10,2; 237,27–32. 20  WA 10,2; 238,9 f.: „Ich frage sie nicht, wie lange und wie vil alßo gehallten haben, ßondernn obs recht gehalten sey.“ 21  WA 10,2; 238,13–17: „Wenn das gnueg ist, das unßer glaube recht sey, das er ßo lange und von vilen gehalten ist, Wo mit wollen wir der Juden oder des Tuercken glauben verle­ gen? Sagen wyr: Es haben unsernn glauben so viel leut ßo lange gehalten, So haben beide Juden und Tuercken gewonnen.“ 22 WA 10,2; 238,19–23: „Und warumb sind den wir deutschen Christen worden, so vorhyn unßer vorfarn ynn deutschen landen allesampt abgoeter geeret haben von anfang? Mit der weyse wirt der heidenische glaube recht und der christliche glaube unrecht sein. Denn der heidnisch hat vil lenger gestanden und zehen mal mehr volcks gehabt.“ 23  WA 10,2; 238,33–239,1: „Was ist unß nu die heylige schrifft nuetz oder nott unßernn glawben tzu bestettigen? Last unß nur sagen: Es haben viel ßo lange dafuer gehallten, drumb ists recht. So wirtt der ehebruch, mord, rawb unnd allerley suend auch noch recht werden, denn sie haben von der wellt her geweret.“ 24  WA 10,2; 239,7–10. 25  Siehe z. B. Spengler: Verantwortung 359 ff.

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mentieren,26 als auch der Hinweis auf den Teufel.27 Die bloße Fortdauer der Tradition könne daher deren Rechtmäßigkeit nicht belegen.28 Neben dem Argument des Alters musste auch der Mehrheitsgedanke entkräf­ tet werden, um dem altgläubigen Traditionsverständnis überzeugend begegnen zu können. Gegen das Argument, so viele Generationen von Gläubigen könn­ ten nicht sämtlich geirrt haben,29 wird von den reformatorischen Flugschrif­ tenautoren festgehalten, dass das Kriterium der Mehrheit den Wahrheitsgehalt eines Glaubens nicht bezeugen könne. Die Mehrheitsbildung orientiere sich meist an menschlichen Autoritäten, deren Irrtümer unbesehen tradiert wür­ den.30 Der göttliche Geist, der den wahren Glauben wirkt, binde sich jedoch nicht an die Mehrheit unter den Menschen – im Gegenteil: Die Wenigsten seien für den Geist empfänglich.31 So betont z. B. Spengler, die Schrift selbst bestätige, dass die Mehrheit stets die Wahrheit verachte und verfolge: „Dann offenbar ist es auß aller schrift, das gemeinlich die verfolger unrecht und die verfolgten recht gehabt haben und yedesmals der groeßser hauff bey der lugen und der geringer bey der warheit bestanden ist.“32 So wird das altgläubige Ma­ joritätsargument in ein reformatorisches Minoritätsargument umgewandelt und zur Bestätigung der eigenen Rechtmäßigkeit in Dienst genommen: Der Mehr­ heitsgedanke bestätige nicht die Vollmacht der Papstkirche, sondern sei Indiz für deren Abirrung vom Geist Gottes. Die Mehrheit sei von je her nicht die Machtbasis Gottes, sondern die des Teufels.33 26 Vgl. Grumbach: Ein christenliche Schrift 919,10–13: „Es ist nit gnug, so wir wol­ ten sagen: Ich glaub, was mein elteren glaubt haben, wir muessen in Got, nit in unnser eltern glauben. Wann das alter ein rechten glauben machet, wer der jüdisch der best.“ Vgl. auch Spengler: Verantwortung 371,10–13. 27  „wan heilige staet, lange zit fromm lüt maecht, wer der tüfel vast fromm vnd heilig, wann sin orden hat im hymel angefangen ee eyn mensch beschaffen was.“ (Nazarei 46). 28  „Ja dannocht, wenn sie uns lang zaygent, so ist es mer der weg der hell, wann der weg des himmels.“ (Rychsner: Unterweisung 424,37 f.). 29  Vgl. z. B. Nazarei, nach dem das altgläubige Traditionsargument neben dem vermeint­ lichen Agrument des Alters auch auf dem Mehrheitsgedanken gründet: „Nit nit, ins füer mit dem buben, Meynen ir das vnser altfordern narren sind gewesen? das sy all verdampt soellen sin? Was wil der ketzer nüwes vff richten, ich will by mym alten got (das ist das geistlich recht, zinßbuch, reglen, cerimonien) bliben, ich will by mym alten glauben (von dem glau­ ben woelchs der alt oder nüw ist, würstu baß bald hernach hoeren) bliben, wo myn altfordern hin sind komen, komm ich ouch hin. Der gemein man der eyn soelchen glatten geschwatz hoert gedenckt: so die geistlichen darwider sind, was wiltu mit zuschaffen han, wilt recht ouch bim groessern hauffen bliben.“ (Nazarei 36 f.). 30  „[…] wan es also wer, als die nüwen prediger yetz leren, so weren wir all des tüfels, so hetten die alten geirret, wo kommen wir dar zu […].“ (Nazarei 64). Gegen das Traditions­ argument hält Nazarei fest, dass sich die Irrtümer und die durch sie geblendeten Menschen, sind sie erst in der Mehrheit, gegenseitig bestätigten: „Dann wirt eyn huffen daruß, besteti­ get ein narr den andern […].“ (Nazarei 64). 31  Vgl. z. B. Luther: „[…] der groeste hauff veracht das Euangelion, sind undanckbar, und das kleynste heufflin nympts an und kan es spueren […].“ (WA 17,1; 364,22–24). 32  Spengler: Verantwortung 361,14–17. 33  Vgl. auch Luther: WA 6; 315,7 f.; Offenbarung des Endtchrists C4b.

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III. Vergangenheitsdeutung

1.3  Traditionsargument und Kirchenverständnis Aus altgläubiger Sicht fanden das Alters- und das Majoritätsargument im ge­ schichtlichen Fortbestand der Papstkirche ihre manifeste Bestätigung. Obschon die historische Kontinuität der Papstkirche deren Rechtmäßigkeit und Stand­ haftigkeit gegenüber dem Teufel hinreichend zu belegen schien, sieht z. B. Luther darin lediglich den Glanz äußeren Scheins – wenn jedoch der äußere Schein zähle, müsse das Reich des Teufels für mächtiger erachtet werden als Gottes Reich, zumal eben die Anhängerschaft des Teufels eindeutig die Mehr­ heit ausmache.34 In Auslegung von Mt 16,18 verstehe sich römische Kirche als institutionelles Bollwerk gegen den Teufel, von Christus eingesetzt zur Bewahrung der reinen Lehre. Nach Luther hingegen repräsentierte die Papstkirche nicht den Fels, der den höllischen Pforten nicht erliegen werde, sondern habe sich vom Teufel ver­ einnahmen lassen 35 – trotz, oder gerade wegen des „großen Haufens“ ihrer Anhängerschaft und der langen Dauer ihres Bestehens sei die Papstkirche im­ mer wieder dem Teufel erlegen.36 Wer also glaube, die Mehrheit und die lange Dauer bewahre die Wahrheit und Authentizität der kirchlichen Lehre, unter­ schätze die Macht und Aktivität des Teufels, der permanent gegen die wahre Kirche Gottes arbeite.37 34 

„Ist ein yglich bestahen szo vil, als widder die hellischen pfortten bestahen, szo besteht des teuffels reich mit grosserm hauffenn, dan gottis reich. Das heysset aber bestahn widder die hellischen pforten, nit in euszerlicher gemeyn, gewalt, ubirkeit odder samlung leyplich bleyben, als du plauderst von der Romischen gemein und eynickeit, sondern in einem festen, rechten glauben, auff Christo, dem fels, erbawet, das den selben nit muge untertrucken yr­ gent ein gewalt des teuffels, ob sie wol eynen grossern hauffen hat, und untzehliche streit, list, gewalt dawidder braucht. Nu ist der mehrer teyl der Romischen gemein, und etlich Bepst selbst, mutwillig, on streit vom glauben getretten und leben in gewalt des teuffels, wie das am tag ist, und alszo das Bapstum offt der hellischen pforten unterworffen gewest […].“ (WA 6; 315,6–17). 35 „Und wen kein ander spruch were, der do beweret, das Romische ubirkeit ausz menschlicher und nit gotlicher ordnung sey, szo were eben disser spruch allein genug, da Christus sagt, die pfortenn der helle sollten nit vormugen widder sein gebew auff den fels: Nu haben die pforten der hellen das Bapstum offt ynnen gehabt […].“ (WA 6; 315,22–26). 36  Der bloße Fortbestand des Papsttums sei daher kein Erweis, dass es erfolgreich dem Teufel widerstanden habe – schließlich hätten auch andere Glaubensgemeinschaften, Reiche und Völker bis in die Gegenwart hinein Bestand: „Das aber die ubirkeit [des Papsttums] bleybt, ob wol etlich dawidder fechten, das heyssit nit widder die hellischen pforten bestan­ denn, dan szo ist auch blieben die krichsche kirche, und alle andere Christen in der Welt, bleybenn auch noch, die Moscobiten und Behmen, ja auch das kunigreich vonn Persen landt mehr dan zwey tausent jar, unnd der Turck nu schier tausent jar, ob wol dawider gefochten ist manichfeltiglich […].“ (WA 6; 314,29–34). Die römische Kirche sei seit der Beanspruchung des päpstlichen Primats dauerhaft vom Teufel überwunden worden (vgl. WA 6; 315,17–21). 37  Headley hebt in Bezug auf Luthers Traditionsverständnis hervor: „[…] taking serious­ ly the corrupted nature of God`s creation, Luther insists that since the devil works so splen­ didly in the world, one must show another basis of authority than long time and majority opinion.” (Headley: Understanding of Tradition 11 f.).

1. Ausgangsbedingungen

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Auch der Gedanke, die Papstkirche habe die Einheit der Christenheit ge­ wahrt und den Gläubigen durch ihre Kirchenzugehörigkeit Schutz vor den An­ griffen des Teufels gespendet, während die reformatorischen Bewegungen für Separatismus und die Zerstörung der Heilsgemeinschaft stünden, wird von Luther scharf zurückgewiesen. Die vermeintliche Einheit der Kirche unter der Obrigkeit des Papstes sei ausschließlich ein äußeres Kriterium; gegen den Teufel aber könne der Mensch sich nicht auf seine äußere Kirchenzugehörigkeit, son­ dern nur auf seinen Glauben berufen: Wie die zahlreichen Ungläubigen inner­ halb der römischen Kirche belegten, sichere nicht die äußere Kirchenzugehö­ rigkeit, sondern allein der Glaube an Jesus Christus vor den Anstürmen des Teufels.38 Innere, wahre Einheit sei mithin nicht deckungsgleich mit der äu­ ßerlichen Einheit.39 Daher könne das Kriterium der formalen Kirchenzugehö­ rigkeit allein weder einen Christen noch einen Ketzer ausweisen: „Nu ists klar, das die euszerliche einickeit Romischer vorsamlung macht nit Christenn, szo macht yhr euszerung gewiszlich auch kein ketzer odder abtrunniger.“40 Die Altgläubigen verengten das Verständnis von der Einheit der Kirche auf äußerli­ che Kriterien, wenn sie diese vornehmlich mit der Obrigkeit des Papstes be­ stimmten. Die wahre Kirche aber sei nicht durch Äußerlichkeiten, sondern im Glauben vereint und daher unsichtbar: „[…] niemant siht, wer heylig odder gleubig sey.“41 Die von Äußerlichkeiten bestimmte Papstkirche dürfe keinen Gehorsam beanspruchen,42 da ihre Heilszusagen lediglich Blendwerk des Teu­ fels seien, der unter frommen Schein die Illusion kolportiere, man könne mittels Werkgerechtigkeit und Papst-Gehorsam allzuleicht gen Himmel fahren – „wie eyn kwe ynn eyn mews loch.“43 38  „Nu ists am klaren tag, das niemant dadurch erbawet wirt in der kirchen, noch den pforten der hellen widderstet, das er in der euszerlichen ubirkeit des Bapsts ist, dann das mehrer teil der, die do hart haltenn auff des Bapsts ubirkeit unnd drauff sich bawenn, seinn besessen mit aller gewalt der helle, voller sund unnd boszheit, dartzu etlich Bepste selbst ketzere gewest, ketzerisch gesetz geben, sein doch in der ubirkeit blieben: drumb musz ‚der felsz‘ nit heyssen ubirkeit, wilch nicht mag widder die pfortten der helle bestehen, sondern allein Christum und den glauben, widder wilche keine gewalt etwas vormag.“ (WA 6; 314,20–28). 39  Im Unrecht sei, wer behaupte, „[…] das die euszerliche eynickeit Romischer gewalt sey erfullung gotlicher ordnung, szo alszo vil drynnen sein, die kein gotliche ordnung ach­ tenn noch erfullenn.“ (WA 6; 294,27–29). So werde der Einheitsgedanke veräußerlicht und der innere Grund der Einheit, der Glaube, verworfen: „[…] unnd alszo den glaubenn, der allein Christus reich geistlich und innerlich macht, faren lassen.“ (WA 6; 295,1 f.). 40  WA 6; 294,22 f. 41  WA 6; 301,2. 42  Der Gehorsamsanspruch des Papsttums werde nicht mit der Schrift, sondern mit dem Traditionsargument untermauert und stamme daher nicht aus göttlicher, sondern aus menschlicher Ordnung (vgl. WA 6; 311,10 f.). 43  „Er [der Papst] thut aber hynzu: Wilcher nicht gehorsam ist der Rhoemischen kir­ chen, der ist eyn kind der ewigen verdamnis, wilcher aber gehorsam ist, thut, was yhm die Rhoemische kirche gebeut und auffleget, der wird selig, der fehret von umd auff gen hymel

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III. Vergangenheitsdeutung

Gegen das von den Flugschriften referierte Argument der Altgläubigen, die über die geschichtlichen Zeiten hinweg bewahrte Einheit der Kirche sei Beleg für ihren erfolgreichen Widerstand gegen die Angriffe des Teufels, wird von reformatorischer Seite ein differenzierter Kirchenbegriff vertreten, welcher die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche betont.44 In ähnlicher Weise wie Luther entwickelt auch Kettenbach in Auseinandersetzung mit dem altgläubigen Traditionsargument seinen antipäpstlichen Kirchenbegriff: Von der sichtbaren Organisation Kirche sei die Gemeinschaft der Auserwählten als zumeist unsichtbare Kirche zu unterscheiden, die sich nicht auf die Mehrheit, sondern auf Wenige stütze. Die unsichtbare Kirche, die sich durch christliche Nächstenliebe auszeichne und im Besitz der Schätze und Verdienste Christi und aller Auserwählten sei, stehe auf dem Felsen Christus; 45 die römische Kirche dagegen auf dem Papsttum.46 Hier sei nicht Christus, sondern „[…] der teüfel ist bapst vnd herr vnd das haubt diser kirchen.“47 So existieren zwei Kirchen, die widereinander stehen: Die Kirche Christi und die Kirche des Antichrist. Letz­ tere gebe sich als Kirche Christi aus, doch widerstrebe sie allem, wofür die wahre Kirche stehe. Der Teufel habe unter dem Schein der christlichen Kirche (wie eyn kwe ynn eyn mews loch). Will nicht der Bapst seyn ding hie so starck gehalten haben als das Euangelion?“ (WA 17,1; 365,33–366,14). 44  So betont Luther stets die Kontinuität der unsichtbaren Kirche, die von der sichtbaren Gegenkirche des Teufels zu unterscheiden sei (vgl. Offenbarung des Endtchrists B3b). Die sichtbare Papstkirche sei vom Teufel überwunden worden (vgl. Offenbarung des Endtchrists B4b) und daher falsche Kirche: „Ich glaub das ain haylige Christliche kirch oder gemain in der gantzen wellt ist / Was man aber sicht von aussen scheinbarlich / das darff man nicht glauben / man erkennet es leyblich. Darumb diser spruch Math. [Mt 16,18] Du bist Petrus / etc. Gehoeret weyt weyt hindan / vom Bapstumb / vnd von seiner sichtlichen kir­ chen / ja stosset sy gar zu boden vnd macht ain Synagog des Sathans darauß.“ (Offenbarung des Endtchrists B4b). Zur Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bei Luther siehe Wendebourg: Kirche 408 ff.: Grundsätzlich unterscheidet er zwischen sichtba­ rer und unsichtbarer Kirche, wobei er beide als zwei Dimensionen derselben Sache begreift und insofern aufeinander bezieht. Die sichtbare Kirche trägt in sich eine Reihe von Differen­ zen, die in der unsichtbaren Kirche nicht existieren: Die Differenz von Gläubigen und Un­ gläubigen, von Amtsträgern und übrigen Christen und von wahrer und falscher Kirche. 45 „Jch glaub vnd bekenn, das da sey ain gemaine versamlung aller außerwoelten, die wirt genant gemainschafft der hailigen, die lebt im gaist gotes auß dem glauben vnd wort gotes, die hat ainn got, ainn Christum, ain tauff, ain glauben, ain Euangelium etc. Dise kirch oder versamlung hat allen schatz vnd verdienst Jesu Christi, Marie vnd aller ausserwoelten. […] dise kirch oder versamlung ist der gaistlich leib Christi, vnd aines ist des andern glid in disem leib, hilfft dem andern, Christus ist ir aller haupt. Dise kirch ist gebauwen auff den starcken felsen Christum, das ist, auff das wort vnd glauben Christi.“ (Kettenbach: Kirche 80,6–19). 46  „Wann, als Paulus spricht, Christus ist der felß. auß dem volget, das sant Peter oder Bapst nit mag sein sollicher felß, darauff die kirch Christi gegründt vnd erbawen ist […]. darumb ist es nit allain ain aberglaub, sonder auch ain gotslesterung, vnd (so einer verharret) ain teüfelische ketzerey, Endchristliche schmaichlerey, so man dem Bapst zulegt, das er der felß sey […].“ (Kettenbach: Kirche 80,19–81,14). 47  Kettenbach: Kirche 83,9 f. Vgl. auch Kettenbach: Altmütterlein 71,9 f.

1. Ausgangsbedingungen

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seine Gegenkirche errichtet, habe die Gläubigen damit auf subtile Art und Wei­ se getäuscht und der wahren Kirche entfremdet.48 Die Kirche des Antichrists werde durch die römische Hierarchie verkörpert; 49 diesen antichristlichen Charakter der römischen Kirche aufzudecken sei Aufgabe der Gegenwart.50 Im Gegensatz zur Papstkirche, die einer Gegenkirche des Teufels gleiche, habe die wahre Kirche nicht geirrt.51 Gott habe seine (unsichtbare) Kirche nicht verlas­ sen; sie habe fortbestanden vor allem in jenen Christen, die der Papst verbannt habe und oder die seinem Einflussbereich entzogen waren.52 Die von den Altgläubigen auf der Grundlage des Traditionsarguments be­ hauptete weitgehende Konvergenz von wahrer und sichtbarer Kirche wurde von den reformatorischen Flugschriften mit der Unterscheidung von unsichtba­ rer Kirche Christi und zeitgenössischer sichtbarer Gegenkirche des Teufels zu­ rückgewiesen. Zur notwendigen Unterscheidung der zwei Kirchen bedürfe es einer Neuausrichtung der normativen Grundlagen des Kirchenverständnisses, welche das überkommene Nebeneinander von Schrift und Tradition in eine scharfe Antithetik umformte.

1.4  Antithetik von Schrift- und Traditionsprinzip Das Problem des Traditionsverständnisses wurde in den frühreformatorischen Flugschriften zugespitzt auf einen Antagonismus von Gottes- und Menschen­ wort. Tradition und Überlieferung wurden mit Menschenlehren tendenziell 48  „Christus hat sein kirch, der Endchrist hat auch sein kirchen, vnd des Endchrists kirch wirt yetz offt vnd dick dargeben für Christi kirch, dann die Endchristischen woellen ye sein die kirch Christi, vnd dienen doch dem teüfel vnd dem Endchrist, des wort vnd gesetz sy groesser achten dann gotes gesetz. Vnd ist layder dartzu kommen (ach got in deinem hoechs­ ten thron laß dichs erbarmen!), das vnder dem namen Christi wirt geeret der Endchrist vnd angebetet der teüfel, vnnd vnder dem namen der Christlichen kirchen wirt gesterckt vnd gemert das reich des Endchrists, Vnd muß Christus sein ain schandteckel der subtilen boßha­ it des Endtchrists.“ (Kettenbach: Kirche 83,20–84,1). 49  Der Teufel regiere seine Gegenkirche über kirchliche Hierarchie: „jr prelaten reden etwann, nach dem euch der boeß gaist eingibt […].“ (Kettenbach: Küchenprediger 46,6 f.) 50  „Also yetzund die groesten ketzerischen symoneyschen buben, die hurenwirt (gaist­ lich zu reden von den prelaten) woellen sein die Christenlich kirch, so sy auch überwunden werden, das sy seind des teüfels diener vnd des Endtchrists soeldner; ire wort, werck, leben vnnd sterben geben gezeügnuß.“ (Kettenbach: Kirche 84,1–6). 51  „ob auch die Christlich kirch nit irrt, nemlich so sy bleybt by dem wort gotes, so mag doch irren des babst kirch vnnd Caiphe concilium vnd die hosenschuln vnd haben dick geirt vnnd noch all tag irrn vnd woln nit von irtum lassen.“ (Kettenbach: Ein neu Apologia 173,14–18). 52  „[…] noch wern gut christenn in Indian, in Affrica, in Krichenlad vnd in den lendern, die der Roemisch pfarer verbant hat vnd als sy nit haben wolten sein talmuth vnd gesetz annemen sonder by christi gesetz blyben. das synd dy besten christen. Die rott Hur vonn Babilon schendt all, die nit mit ir bulen woeln […].“ (Kettenbach: Ein neu Apologia 173,20–26).

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III. Vergangenheitsdeutung

gleichgesetzt und in grundsätzlichen Gegensatz zur Schrift gestellt: 53 Alles, was nicht in der Schrift begründet war, galt als Menschenwort und -weisheit. Die reformatorische Forderung nach einer normativen Zentrierung war auf den Ausschluss jedweder menschlicher Zusätze zum Wort Gottes gerichtet.54 Das Widereinander von Gottes- und Menschenwort wird beispielsweise von Osiander ausführlich behandelt. In seiner Flugschrift „Ratschlag an den Nürn­ berger Rat“ findet sich ein ganzer Abschnitt, in dem Osiander beschreibt, „Was menschenwort und -ler sey“.55 Er definiert Menschenlehre durch eine Negati­ vabgrenzung zur Schrift: Alles, was nicht Inhalt der Schrift sei, dennoch aber verbindlich gelten solle und zur Seligkeit zu führen suggeriere, sei Menschen­ wort und -lehre.56 Der Gegensatz von Gottes- und Menschenwort gründe auf den Lügen des Teufels, der die Menschen verführte, auf sich selbst zu bauen und ihrer eigenen Weisheit mehr zu vertrauen als Gottes Weisungen.57 Indem der Teufel seine Lügen anstelle des Gotteswortes gesetzt habe, konnte er die Men­ schen von Gott wegführen und fortan das reine Gotteswort mit Menschenwort 53  Zur Verortung der Traditionsproblematik im Rahmen der Antithetik von Gottes- und Menschenwort in der Reformationszeit vgl. Hauschild: Bewertung der Tradition 195 f.; Ebeling: Sola scriptura 140 f.; Drumm: Art. „Tradition IV“, Sp.  154. Zur reformatorischen Orientierung an den neutestamentlichen Gebrauchsweisen der „Tradition“ (Mk 7,1–13; Gal 1,4; Kol 2,8) im Sinne von traditiones humanae vgl. Ebeling: Sola scriptura 140 f. Zur refor­ matorischen Gleichsetzung von „traditio“ mit Menschenwort und -lehre sowie den mit dem negativ konnotierten Traditionsbegriff verbundenen zeitgenössischen Begriffen siehe Hauschild: Bewertung der Tradition 195 f. Siehe grundsätzlich zur Entgegensetzung von Schrift und Tradition und der Gleichsetzung von Tradition und Menschenwort Luther, WA 10,2; 72–92. 54 Zum Begriff der „normativen Zentrierung“ siehe Hamm, der das Reformationsge­ schehen insgesamt als Prozess einer normativen Zentrierung von Religion und Gesellschaft deutet; Hamm, Berndt: Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesell­ schaft. JBTh 7 (1992), 241–279; Ders.: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Refor­ mation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland. ARG 84 (1993), 7–81; Ders.: Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobach­ tungen zu Religiösität, Theologie und Ikonologie. In: Ders.: Religiosität im späten Mittel­ alter. Spannungspole, Neuauf brüche, Normierungen (SMHR 54). Tübingen 2011, 3–40. 55  Osiander: Ratschlag 348 ff. 56  „Menschenwort, -leer oder -satzung hayssen wir alles, das von Got in seinem ewigen rate und wort nicht verfasset, beschlossen und durch gewiese, wolgegründte potschafft und von ime selbs eroffnet und gepoten ist und doch durch menschen als zu der seligkeit notig gehalten und furgegeben wirt.“ (Osiander: Ratschlag 349,11–14). 57  Osiander stellt fest, „[…] das allweg und ye zweyerlay wort und leer auff erden sey gewest, nemlich zum ersten das heylig wort Gottes, […] welchs rain und volkomen in der heyligen schrifft begriffen und verfasset ist, darnach zum andern das manigfeltig und unbes­ tendig menschenwort und –geduncken, das der teuffel durch sein lugen (da er der Eva im paradiß zusaget, sy wurden weyß und klug wie die gotter [Gen 3,5]) gepflantzt und darnach eines yeden furwitz herfurgepracht hat, welches hin und her in der gantzen welt an allen orten in schrifften und gepreuchen zerstreuet und ausgepraitet ist.“ (Osiander: Ratschlag 321,23–322,3). Menschen- und Gotteswort bilden ein Gegensatzpaar: „Dann so Gottes wort die warheit und das leben ist, muß menschenwort lugen und tod sein.“ (Osiander: Ratschlag 350,4 f.).

1. Ausgangsbedingungen

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vermischen und dadurch verderben. Die einzige Möglichkeit, zu Gott zurück­ zufinden, ist nach Osiander der Rekurs auf die Schrift allein, um alle Men­ schenlehre auszuschließen.58 Die Clausula Petri, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,29),59 wird auf das Widereinander von Schrift und Tradition appliziert: Nicht die menschliche Tradition, allein die Schrift habe normativen An­ spruch.60 In der Schrift sei alles für den Glauben notwendig zu Wissende ent­ halten, alle nachfolgenden Lehren verfälschten diese Heilsbotschaft lediglich61 – was über die Schrift hinausgehe, sei Teufelslehre.62 Gegen die teuflische Ver­

58  Dieses Auf kommen der Menschenlehren als Abkehr von Gott hat der Teufel initiiert, indem er im Paradies die göttliche Erkenntnis versprach, damit aber die Menschen auf ihre eigene Weisheit anstatt auf Gottes Geheiß bauen ließ: Der Teufel führt die Menschen weg vom Vertrauen auf Gottes Wort hin zu Selbst-Vertrauen und eigener Weisheit (Osiander: Ratschlag 348,15–23). Der Teufel führe von der Schrift als der Wahrheit und dem Leben weg und töte durch seine Lügen. Nur die Schrift biete die rechte Erkenntnis des Teufels und ermögliche das Zurückweisen der Menschenlehren: „Dorumb, wer fur Gottes wort helt, das Gotes wort nicht ist, der helt auch fur Got, das Got nicht ist, das dann ein teufflische abgo­ terey ist. Und so wir Gottes wort nit lauter und rain haben, sundern verruckt und falsch, ist dasselbig wort in keinen weg Got selbs; dann Got ist die wahrheit. Dorumb, wer fur Gotes wort predigt, das Gottes wort nicht ist, der beraubet uns Gottes und des lebens, das in Gottes wort ist, und erwurget (so vil an im ist) die seelen durch die falschen lere, wie das Christus anzeigt Johan. am 8. [ Joh 8,44] und spricht: Der teuffel ist ‚ein mörder von anfang und ist nicht bestanden in der warheit; dann die warheit ist nicht in im. Wann er die lugen redet, so redet er von seinem eigen. Dann er ist ein lugner und ein vater derselbigen.‘ Das soll man also verstän: Der teuffel ist nicht bestanden in der warheit, das ist in Gottes wort, sunder hats verlassen. Derhalben hat er im selbs ein ander wort, das ist die lugen, erdichtet. Dorumb ist er ein lugner und ein vater derselbigen. Und dieweil er der Eva sein lugen furgehalten und sie es geglaubt hat, ist er ein mörder worden. Dann durch die lugen hat er sie des lebens be­ raubet, welchs Gottes wort und die warheit ist, und inen dargegen eingepflantzt den tod durch die lugen, welche sie fur warheit gehalten und also den teuffel fur Got angenomen haben. Also ist der tod aus neid des teuffels eingangen in die welt und volgen im nach alle, die seines theyls sein, das ist, sy leren auch lugen, domit sie sich und andere des lebens berau­ ben. Dorumb mussen wir, solches ubel zu vormeyden, gewise zeugknus haben, welchs das war wort Gotes sey und welches die lugen sey; und das gezeugnus ist die heylig schirfft.“ (Osiander: Ratschlag 334,27–335,20). 59 Vgl. Osiander: Grund und Ursach 212,16 f. 60  Die Tradition sei von menschlichen Satzungen bestimmt, also vom Wort Gottes abge­ wichen: Dass die Wahrheit unter den Christen schlimmer verfolgt und unterdrückt wurde als bei den Heiden, ist die Strafe Gottes für das Errichten menschlicher Traditionen: „Sehen wir noch nicht, daß soelches die gerecht straff Gottes ist uber die, so im mit menschengedich­ ten zu dienen understanden und so lange zeit fürgedrungen haben?“ (Osiander: Grund und Ursach 201,13–15). 61  „[…] und man darf keiner neuen leer mer warten, die nicht geschryben were.“ (Osiander: Ratschlag 335,34 f.). 62  „Wer nun etwas predigt, dem die schrifft kein gezeugknus gibt, der predigt gewißlich nicht Gottis wort, sunder lugen aus dem teuffel.“ (Osiander: Ratschlag 336,4–6). Vgl. auch Luther: „Den was nit gepotten ist und sich treybt mehr dan gottis gepot, das ist gewis­ zlich der teuffel selbs.“ (WA 6; 448,5 f.).

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III. Vergangenheitsdeutung

mischung von Gottes- und Menschenwort müsse daher die Schrift als alleiniger normativer Referenzhorizont wieder in Geltung gebracht werden.63 Toposartig werden in den reformatorischen Flugschriften generell menschli­ che Tradition und göttliches Wort als Gegensätze inszeniert: Die Tradition sei wandelbar und zeitgebunden, die Schrift dagegen unwandelbar und zeitlos.64 Die Tradition könne daher keine verlässliche Grundlage des Glaubens sein65 – Glaubensgewissheit gegen den Teufel gebe es nur auf der Grundlage der Schrift.66 Wer anstelle der Schrift auf die Tradition vertraue, verfehle zwangs­ läufig den rechten Heilsweg.67 Die Tradition hatte sich im reformatorischen Verständnis von der Grundlage der Schrift entfernt, sich gar gegen die Schrift verselbständigt; daher müsse sie wieder an der Schrift ausgerichtet werden. Die Schrift sei unentbehrliches Korrektiv für die Tradition: Glaubensbelange be­ treffend, dürfe alles, was von der Schrift autorisiert sei, bleiben, alles darüber Hinausgehende müsse weichen.68 Damit wurde die Tradition nicht grundsätz­ 63  „Solche straff sehen wir mit unserm grossen schaden erfullen, derhalben hiemit ge­ waltiglich beweyset wirt, das man wider menschensatzung zu fechten und, sovil ymmer möglich, abzustellen schuldig ist, auff das wir Gottes wort, daryn unser leben steet, rain er­ halten und selig werden mogen.“ (Osiander: Ratschlag 349,29–350,2). 64 „Derselb vertraw und glaub aber ist gegründt auff das unwanckelbar wort Gottes, dieweyl außserhalb desselben goetlichen worts, das nach den worten Petri [1 Petr 1,25] allein in ewigkeyt pleybt, alle ding verrucklich, unbestendig und zergencklich synd.“ (Spengler: Verantwortung 360,13–16). Zur Wandelbarkeit von Tradition und Brauchtum vgl. auch Nazarei 3. 65  Vgl. z. B. Spengler: Verantwortung 364,17–27. 66  „Da kan der teüfel einen gar geringlich uberweltigen und sturtzen. Wider das wort Gottes aber haben auch die porten der hellen kein macht.“ (Spengler: Verantwortung 364,27–365,2). 67 „Wellicher nun nit stracks auff die warheyt goetlichs worts bawet, sonder auff die heyligen vätter, concilia, meng der menschen, seiner verstorben eltern und dergleichen, der steet gewißlich in mercklicher färlicheit, ja in sollicher färlicheit, das er auß der not des rech­ ten wegs und mittel zur seligkeyt felen muß.“ (Spengler: Verantwortung 360,18–22). 68 Z. B. Nazarei will die Tradition nicht unbesehen abwerten, doch dürfe sie keinen normativen Rang beanspruchen – dieser komme allein der Schrift zu: „Vsserhalb der Biblien, wie heylig ymer eyn lerer gewesen ist, als die heyligen, Augustinus, Hieronymus, Ambrosius, Gregorius, Thomas, Bonauentura, Leo, Cyprianus, Chrysostomus, all Paebst, bischoff, alles ir schriben vnd leer soltu mit vernunfft vff nemen, nymer me der Biblien glich setzen in wirden vnd glauben; darumb ists nüt gesagt: Augustinus sagt das; darumb ists eben alweg war? […] Nein. Aber das sagt das heylig Euangelium, darumb ist es war, das soltu warlich glauben.“ (Nazarei 57). Alle Lehre, die nicht auf die Schrift gründet, ist gegen Gott: „All menschen, all engel, all wysen philosophi, all doctores, all bischoeff, all Paebst, all pfaffen, münch vnnd nunnen, wo nit vntersetzt ist die heylig geschrifft, so sind sy all nüw goetter, entchristen vnd vnnütz […].“ (Nazarei 57). Die Schrift bilde das einzige Korrektiv für die Tradition: Was ihr entgegensteht, ist Neuerung und gehört abgetan: „was die prob helt sol man lassenn bliben, was aber den stich der gschrifft nit halten mag, sol man verwerffen, vnd als irrig nüw goetter verachten […].“ (Nazarei 58). Vgl. auch Luther: Die Tradition müsse sich vor der Schrift verantworten und werde nicht allein durch die Mehrheit oder das Her­ kommen legitimiert: „Hie will ich nicht haben / das du dich auff alten brauch auff den gros­ sen hauffen der bey dir steet / beruffen woelltest. Mich dringet nichts / denn allain das wort Christi / dem ist allain zu glauben / vor allen hayligen / Ja auch vor allen Engeln.“ (Offenba-

1. Ausgangsbedingungen

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lich abgewertet, sondern konnte einen relativen Wert behalten, wenn sie als rechte Schriftauslegung verifizierbar sei.69 So herrschte auch in der frühen Re­ formationszeit kein unbesehener Antitraditionalismus, doch wurde der Traditi­ on ihr normativer Eigenwert bestritten. Das Neue des reformatorischen Tradi­ tionsverständnisses bestand jedoch nicht in der Hinwendung zur Bibel an sich,70 sondern in dem Insistieren auf deren Singularität als Normquelle. Diese Exklusivität des Schriftprinzips musste gegen das altgläubige Traditionsver­ ständnis durchgesetzt werden – die Schrift stand in frühreformatorischem Ver­ ständnis nicht neben der, sondern gegen die Tradition.

1.5  Das Schriftprinzip als hermeneutische Wende Um die Schrift als alleinigen normativen Referenzhorizont gegen die Tradition zu etablieren, war die Herausstellung ihrer Suffizienz als Offenbarungsquelle von entscheidender Bedeutung. Immer wieder wird betont, die Schrift enthalte alles, was für den Glauben und die Gestalt der Kirche zu wissen notwendig sei.71 Sie bedürfe zudem kei­ ner Auslegung durch Gelehrte, sondern eröffne ihre Heilsbotschaft in allge­ meinverständlicher Weise. Den Zugang zur Schrift finde jeder Christ durch den Geist; die Behauptung, der Gemeine Mann könne den Sinn der Schrift nicht ohne die Auslegung durch Schriftgelehrte erfassen, wird zurückgewiesen mit dem Hinweis auf die innere Geschlossenheit der Schrift, die in sich selbst ausle­ gender Tätigkeit jedem Geistbegabten verständlich sei. So wird gegen den Ge­ lehrten-Gradualismus und die Intellektualisierung des Glaubens das Postulat der Allgemeinverständlichkeit der Schrift gehalten: „Vnd ist erlogen so man spricht, das Euangelium koen niemant verstan on die doctores; Wann die heylig geschrifft ist der massen durch den heiligen geyst vßgesprochen, das sy rung des Endtchrists C4b). Vgl. auch Eberlin: Solange die althergebrachten Bräuche nicht wider die Schrift stehen, dürften sie bleiben (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 147). 69 Vgl. Hauschild: Art. „Tradition V“ 712. 70  Auch einige mittelalterliche Theologen konnten der Bibel hohe, mitunter Tradition und Lehramt übergeordnete Autorität zusprechen, vgl. Hauschild: Art. „Tradition“ 710 f. Die reformatorische Antithetik bestand genau betrachtet nicht zwischen Schrift und Tradi­ tion, sondern zwischen „sola scriptura“ und „Schrift und Tradition“ (vgl. Ebeling: Sola scriptura 92), doch vergröberte sich in den reformatorischen Flugschriften das Nebeneinan­ der von Schrift und Tradition zum Gegensatz. 71  Vgl. z. B. Eberlin: „[…] eynn Christ wirt geschaffenn durch Gottis wort allein vnd dodurch erhalten. Aber Gottis wort ist allein yn der Biblia clar vnd warhaftig verfasset. Volgt, das allein die Biblia der Christen buch ist, allein auß der Biblia Christliche lere sol furgetra­ gen werden.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 14). Die Ergänzung der Schriftoffenbarung durch Tradition und Kirchenrecht wird scharf zurückgewiesen: „Jetz moegt yr mercken, wo der haaß ligt, woellen ewr prediger euch weisen den weg zu der selickeit, so muessen sie al­ lein der Biblien wort clar, clar, clar, on zusatz, on zusatz, on zusatz, on gloß, on gloß, on gloß dozu gebrauchen.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 16).

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III. Vergangenheitsdeutung

sich in ir selbs, eyn spruch durch den andern erstattet, vnd bezüget ye eyn geschrifft die ander […] sy ist in ir selb rych vnnd volkummen.“72

Gegen den Anspruch der Tradition, dunkle und unklare Stellen der Schrift er­ hellen zu können, wird deren hinreichende Klarheit konstatiert und betont, die Schrift lege sich selbst (mitunter auch gegen die Tradition) aus.73 Das Theologumenon von der Klarheit der Schrift und ihrer Selbstverständ­ lichkeit macht eine Ergänzungsoffenbarung durch die Tradition überflüssig und bestreitet der Tradition ihre hermeneutische Dignität. Das reformatorische Schriftprinzip steht damit nicht nur für eine normative Zentrierung im Sinne der Reduktion der Glaubensquellen auf die Schrift und den Ausschluss anderer Überlieferungsformen, sondern gilt zudem als hermeneutische Weisung.74 Die theologische Grundlage der reformatorisch proklamierten exklusiven Norma­ tivität der Schrift war die Behauptung deren hermeneutischer Selbstgenügsam­ keit gegen den Ergänzungsanspruch der Tradition.75 Erst diese hermeneutische Dimension bezeichnet das spezifisch Reformatorische des „sola scriptura“.76 Vor dem Hintergrund dieser hermeneutischen Neuausrichtung und der An­ tithetik von Schrift- und Traditionsprinzip entfaltete das reformatorische Schriftprinzip traditionssprengende Qualität.77 Die Tradition verlor ihren Ei­ genwert, allein der Wert schriftgemäßer Tradition wurde anerkannt. Mit der Frage nach der Schriftgemäßheit verband sich freilich die Frage nach der rech­ 72 

Nazarei 58. z. B. Luther: „Dartzu wenn sy sagen, die vaeter Augustinus, Ambro. Hiero. etc. Haben die schrifft erleücht, da liegen sy an, dann sy habens nit erleücht, sonder die schrifft mit irem aigen liecht klar gemacht und ainn spruch zum andern gehalten, das ainer den an­ dern fein klar gemacht hat. Also ist die schrifft jr selbs ain aigen liecht. Das ist dann fein, wenn sich die schrifft selbs außlegt, darumb glaubt nit und haltet frey für finster was nit be­ weret wirdt mit klaren sprüchen der Biblien.“ (WA 10,3; 238,6–12). Vgl. zudem Spengler: Verantwortung 373,16–19: „Und ob man woll sagen will, inmassen auch vil thun, die heylig schirft sey an vil orten und sonderlich im alten testament verborgen und tunckel, man mueß sie ercleren, das ist ein grosser irrsal; dann kein klarer wort unter dem hymel ist dann das wort Gottes […]“ Vgl. auch Osiander: Sendbrief 96,8–14. 74 Vgl. Ebeling: Sola scriptura 119: „Das ‚sola scriptura‘ ist im reformatorische Sinn nicht hinreichend verstanden als Reduktion der ‚Quellen‘ allein auf die Heilige Schrift, also als Ausschluß zusätzlicher, ergänzender Überlieferungen neben der Heiligen Schrift. Das gilt selbstverständlich auch, ist aber in seiner Bedeutung erst eigentlich erfaßt, wenn die Particula exclusiva die hermeneutische Funktion der Tradition ausschließt, also die Suffizienz und Selbstverständlichkeit der Heiligen Schrift in hermeneutischer Hinsicht proklamiert. Als Satz formuliert meint dann das ‚sola scriptura‘: Die Heilige Schrift ist die alleinige Quelle ihrer Auslegung.“ 75  Mit dem „sola“ wird eine eigenständige theologische Relevanz der Tradition neben der Schrift ausgeschlossen (vgl. Ebeling: Sola scriptura 92). 76  Dies gilt im Gegenüber zu den altgläubigen Zeitgenossen, aber auch im Vergleich zu den vorreformatorischen Gebrauchsweisen des „sola scriptura“, vgl. Ebeling: Sola scriptura 120. 77  Zur traditionssprengenden Qualität des „sola scriptura“ und zur bibliozentrischen Ab­ wendung von der Tradition vgl. Sandl: Interpretationswelten 31. 73  Vgl.

1. Ausgangsbedingungen

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ten Auslegungsinstanz.78 Die Deutungshoheit des kirchlichen Lehramts (insbe­ sondere des Papsttums) als alleiniger Auslegungsinstanz wurde von den frühre­ formatorischen Bewegungen radikal bestritten: Es sei vor dem Hintergrund der selbstauslegenden Tätigkeit der Schrift in hermeneutischer Hinsicht nicht nur obsolet, sondern berge darüber hinaus die Gefahr der Verfälschung des Evange­ liums durch Menschenlehren in sich – eine Gefahr, die von der Schrift selbst deutlich benannt werde.

1.6  Die Tradition unter dem Vorbehalt teuflischer Pervertierung Das geschichtliche Auseinanderdriften von Schrift und Tradition bis zum Wi­ dereinander in der reformatorischen Gegenwart wurde mit der Aktivität des Teufels erklärt, der alles daran setze, die Glaubensgrundlage der Schrift zu ver­ fälschen. Diese teuflische Aktivität werde bereits in der Schrift angekündigt: Sie spre­ che unmissverständliche Warnungen vor falschen Propheten aus, welche im Auftrag des Teufels die reine Lehre unter frommem Schein verfälschen wer­ den.79 So hält z. B. Luther fest, das Auftreten der falschen Propheten sei von der Schrift angekündigt und müsse jedem Christen feste Gewissheit sein: „Was were es sonst von noeten, das uns Christus so trewlich warnete: Sehet euch fur, nempt ewer war, wenn er gewuest hette, das alles reyn solt blieben seyn? Daruemb so gibt er uns diese warnung, das wir gewiss seyen, wir werden falsche Propheten haben […].“80 78 Vgl.

Drumm: Art. „Tradition IV“, Sp.  154. geist der warheit sagt vnß offenbarlich, das in den letsten zyten werden ettliche von dem glouben abtraetten vnd anhangen den irrigen geysteren vnd leren der tüfel, welche vnder ir glyßnery werden lügen für geben […].“ (Gengenbach: Bürger 198,13–17). Vgl. auch den Himmelsbrief Hermans, in dem er Christus festhalten lässt, die Gläubigen hinrei­ chend vor dem Teufel gewarnt zu haben: „Ich [Christus] besorget aber wol, die zeyt so ich noch bey euch auff erden wandellt, das diese burgk, der glawb, merckliche anstoess von dem teuffel eurem feynde erdulden wuerd. Auch erkante ich zuvor (wie ich denn alle ding zuvor kennen und wissen kan) mit was list, anschlegen und behendickeyt er diss schlos stuermen und buchen wuerd. Der halben bevalh ich euch des ynn acht und vleyssiger hut zu haben. […] Uber diss alles malet ich und kunterfeyet euch klaerlich ewer feynd ab, was es fur gesel­ len seyn wuerden, mit welchen sich der krieg wuerd begeben: Nemlich reyssende wolff, mit schaff beltzen ausswendig bekleydet, das ist geystliche, fromme und werckheylige leuthe, […] welche ob wol meyn lieben getrawen Hieremias und Ezechiel mit den andern propheten yhren mitgesellen zuvor hatten angezeyget, underliss ichs dennoch nicht, stallt sie under ewer augen, prediget von yhn, und weyset gleych mit fingern, auff das yhr sie kennen lernet. Wie denn meyn getrewer kantzler Mattheus ym 7., 15., 23. capiteln [Mt 7,15; 15,1–9; 23,2– 33] euch schrifftlich hynder sich gelassen hat. Der gleychen auch meyn ausserwelts vas Paulus gethan hat an vil oerttern seyner sendbrieff odder episteln, welcher keynen vleys gespart hat, dieselbigen wolffe euch ya anzuzeygen und verraten. Petrus, Joannes und die andern meyne freunde und mittrichter schyr komendes jungsten tags haben sie auch gerueget, von yhrem zukuenfftigen geytz, betrieg, handtierung, gleyssnerey geprediget und geschrieben, und die antichristischen buben abgemalt.“ (Herman: Mandat 277,8–40). 80  WA 17,1; 355,23–27. 79  „Der

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III. Vergangenheitsdeutung

Die von den falschen Propheten gewirkte Entstellung der Heilsbotschaft werde so subtil sein, sich mit falscher Heiligkeit verbrämen und den Schein der Voll­ macht tragen, dass selbst die Auserwählten abirren werden: „Denn es werden falsche Christen und Propheten auffstehen und grosse zeichen und wunder thu­ en, das verfuret werden ynn den yrthum (wo es mueglich were) auch die auss­ erweleten.“81 Diese Vorhersage der Schrift delegitimiert für Luther das altgläubige Traditi­ onsargument: Wenn auch die Tradition das päpstliche Lehramt bestätigte, so sei dies zu verstehen als Erfüllung der Ankündigung Christi in Mt 24,24 über das Auf kommen der falschen Propheten und das Abirren der Auserwählten: „Haben sie denn nicht geyrret, so muss Christus nicht warhafftig sein, als ers vorkuen­ det hat. Wenn nu gleich alle heiligen her tretten und hiessen mich an Bapst glewben, will ichs dennoch nicht thuen, sondern so sagen: Ob yhr schon ausserwelet seyt, hat dennoch Christus gesagt, es sollen so grewliche ferliche zeit sein, das auch yhr yrren musset […].“82

Der angekündigte Abfall und die auf kommende Teufelsmacht werde in der Sendung des Antichrist kulminieren, welcher die Unterscheidung von Gott und Teufel völlig verunklaren83 und mit Hilfe der falschen Propheten die Schrift seinen Gesetzen unterwerfen werde.84 Allein der Rekurs auf die Schrift als ex­ klusivem normativen Referenzhorizont könne den Antichrist und die falschen Propheten entlarven und den Abfall erkennen lehren. Daher müsse jeder Christ die Tradition mit dem Korrektiv der Schrift bewerten und dürfe die Deu­ tungshoheit über den Glauben nicht der lehramtlichen Tradition überlassen: 81 

WA 15; 755,15–17. 15; 756,19–23. Die Altgläubigen bezögen sich auf die Tradition der Heiligen, doch ist vorhergesagt, dass auch sie irren sollten: „O wie ist das so gar ain schwache be­ weysung der Papisten so sy nemen / vnnd für iren tayl herfür ziehen / auß dem leben vnd wercken der hayligen / nach irer vnsynnigen weyße wie sy allweg thun / die weyl doch Da­ niel also weyssaget / Das auch die starcken vnd das volck der hayligen sollten verderbet wer­ den.“ (Offenbarung des Endtchrists X3a). Glaubensgrund könne daher nicht die Heili­ gentradition, sondern allein die Schrift sein (vgl. ebd. X3a). Der vorhergesagte Abfall sei nicht auf die Ketzerbewegungen (vgl. Offenbarung des Endtchrists F4b) oder den Islam (vgl. ebd. G1a-G1b) bezogen, sondern werde innerhalb des Christentums stattfinden, da nicht die Verwerfung der Schrift, sondern deren Verfälschung durch falsche Propheten an­ gekündigt sei, die unter frommem Schein agieren werden (vgl. ebd. G2a-G2b). 83  „Aber der spruch muß also erfült werden, 2. ad Thessa. 2. capitel [3.4]: Es sey dann das zuvor kumme der abfall unnd offenbart werde der mensch der sünden unnd das kündt der verderbung, der da ist ain widerwertiger und sich überhebt über alles, das Got oder gottes­ dienst hayst, also, das er sich setzt in den tempel Gottes als ain got, und gibt sich für, als sey er Got.“ (Rychsner: Unterweisung 429,23–31). Vgl. auch Kettenbach: Der Endchrist „[…] wirt genent der aller heyligst vnnd sein gebot hoeher geacht dann gots gebot, als Paulus meldet ad Tessalo. ij. ca. ij [2 Thess 2,4].“ (Kettenbach: Vergleichung 132,12 f.). 84  „Das seyndt eben die knaben des endtchrists, die da verbietten, durchaechten, fahenn unnd verteyben woellent mit gewalt die hailigenn geschrifft, aber den endenchrist unnd seynn gesatz emporhebenn.“ (Rychsner: Unterweisung 437,27–30) 82 WA

1. Ausgangsbedingungen

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„Christus sagt Mat. 7. [Mt 7,15] zu allen Christen, hueten euch vor falschen propheten, vnd die appostel leeren vns, wir sollenn vrtailen die leren vnd gaist, ob sy biblischer lere gemeß seyen. So mügen vnd sollen alle christen vrtailen lere der concilien, bapsts vnd der vaeter […].“85

Im Zusammenhang mit den Ankündigungen der Schrift bezüglich der auf­ kommenden Teufelsaktivität und des Auftretens falscher Propheten und des Antichrist steht die Tradition unter dem grundsätzlichen Vorbehalt der teufli­ schen Verfälschung. Damit entfaltete das Schriftprinzip insbesondere vor dem Hintergrund der Teufelsvorstellungen eine traditionssprengende Eigendyna­ mik, da die Schrift nicht nur das Korrektiv für den Geltungsanspruch der Tra­ dition darstellt, sondern die teuflische Pervertierung der Tradition selber an­ kündigt. Die Berufung der Altgläubigen auf die Tradition und deren Verbind­ lichkeit anstelle der Schrift entspreche genau dem Szenario, vor dessen Hintergrund die Schrift den Abfall ankündige.86 Die Kritik am Traditionsprin­ zip erscheint daher im frühreformatorischen Verständnis als eine dem Schrift­ prinzip inhärente Weisung – die Schrift erlaubt nicht nur, sie gebietet die Tra­ ditionskritik: „[…] das die macht, lere tzu thadelln, unß allein ynn der schrifft gepotten und eyngesetzt ist, Da Christus spricht, Matt. 7. [Mt 7,15]: ‚Huettet euch fuer den falschen Propheten.‘“87 Tradition und Lehramt seien daher im Gegensatz zum altgläubigen Verständnis nicht Garanten der Reinheit und Au­ thentizität der Lehre, sondern erwiesen sich im Gegenteil als das Einfallstor des

85  Eberlin: Bericht 181. Vor allem das päpstliche Lehramt wird mit den falschen Pro­ pheten identifiziert und als teuflisch ausgewiesen, so z. B. von Hartmuth von Cronberg: Christus habe in der Schrift „[…] clare warnung geben, vor den falschen Aposteln und den falschen hyrten [Mt 7,15], darbey unnd dardurch wir leychtlich versteen unnd sehen mogen, das das Bapstlich Regiment, wie das vil hundert iar gebraucht ist, das aller uncristlichest uff erden ist […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 45). Der teuflische Charakter des Papsttums werde eindeutig durch die Schrift ausgewiesen, vgl. Cronberg: Christliche Schriften 46. 86  „Hie sagen sy aber / Es ist doch nicht boeß was die Vetter gesetzet haben / seind es doch haylige lewt gewesen / als nemlich / Augustinus / Benedictus / Bernhardus / Franciscus / Do­ minicus / vnnd der gleychen vil ander / daruon wirs empfangen haben. Antwort. Eben das ists / das Christus vnd die Apostel / Petrus vnnd Paulus maynen / das die selbigen werck wer­ den scheynen gleych denen / daruon das Euangelion sagt / Denn das hayssen sy neben lee­ re / vnd neben einfuerung / darumb / das sy das eyempel von den Vaetern nemen aber nicht den glauben / darinn sy also gelebt haben / So geschicht jn denn / was die vaeter durch jrrthumb etwa gesetzt haben / nach dem hie verkündiget ist / das auch die ausserwoelten in jrrthumb sollen verfuret werden […].“ (Offenbarung des Endtchrists G4a). Die Traditi­ on verbindlich gemacht zu haben, sei die große Verfehlung des Papsttums: „Vor auß so des Bapsts gewallt von Rom das seyn auch hinzu thut / bestetiget die sach / sterckt sy / das man dareyn vertrawen soll / Feret zu / vnd macht noetige gesetz darauß / das die Vaeter allain auß freywilligkait des gaysts gemacht vnnd gehallten haben nyemandt daran ewigklich binden woellen / oder ob sy es schon gethon hetten, so hetten sy doch damit on zweyffel nach menschlicher art geirret.“ (Offenbarung des Endtchrists G4a). 87  WA 10,2; 241,7–9.

76

III. Vergangenheitsdeutung

Teufels, der die Christenheit mit der Verpflichtung auf Menschenlehren erfolg­ reich von der Schrift weggeführt habe.

1.7  Reformatorische Vergangenheitsbetrachtung als historische Verifizierung der Traditionskritik Die vielfältigen eindringlichen Warnungen, welche die Schrift vor den falschen Propheten und dem Teufel ausspricht, sind im reformatorischen Verständnis in der Vergangenheit unbeachtet geblieben.88 Der Teufel und die von ihm gesand­ ten falschen Propheten haben es verstanden, unter frommem Schein die Men­ schen zu täuschen: „Sollichs thut vnnd wurckt der teufel alßo, durch seine teufelische hirten vnd wolfe in den schafs cleydern, die reyssenden wolfe seind vns durch yhre angenummen cleyder, vnd yhren geystlichen scheyne vnd vnßer blyndheyt halben, gantz vnbekant geweßen […].“89

Wie in der Schrift angekündigt, habe der Teufel sich die Menschen unter gutem Schein gefügig gemacht und sie unmerklich zu seinen Handlangern werden lassen: „Aber sollichs alles hat der tausentkunstiger unßer feindt der teufel sich ßo meysterlich in uns eingeschleicht, in unnd durch unns gewurket nach seynem wolgefallen, dardurch ein solliche gleisende teufels geystliche Annticristus verfuerung under uns all gesehet, yn eynem sollichen geystlichen gleyssenden scheyn, das auch nach den wortten gotis [Mt 24,24], die außerwelten verfueret mochten worden sein, Szo es gott verhengen het wollen […].“90

Diese subtile Verführung habe selbst die Heiligen und Kirchenväter irren las­ sen,91 welche sich vom Teufel und seinen falschen Propheten haben betrügen 88  So z. B. in dem „Himmelsbrief “ Hermans: „Es ist auch fur mich [Christus] kommen, wie durch ewer unachtsamkeyt und nach lassung meyner gepot die sterckste vehst, so ich zu verwarung des gantzen lands mit grosser arbeyt erbawet, euch treulich zu verwaren und ynne zu halden bevolhen hat, vor dem teuffel durch seyn heer des geystlosen hauffens eyn­ genommen und beweldiget sey.“ (Herman: Mandat 277,1–5). Vgl. auch Cronberg: Christliche Schriften 58: „O eyn wunderliche sach ist es dieweyll wir ßo grosse warnung vor unns gehabt, unßers feyndes des teuffels listigkeyten, die wir wissen, er der teufel gegen dem menschlichen geschlecht, in ßo vill weg so uberlistigklich gebraucht gehapt, Auch die claren warnungen durch den almechtigen gutigenn gott auß gesprochen durch die Prophe­ ten, durch Christum selbst und die Aposteln […].“ 89  Cronbberg: Christliche Schriften 46 f. 90  Cronberg: Christliche Schriften 58. 91  Vgl. z. B. Luther in Auslegung Mt 24,24: „Denn die lieben veter Augustinus, Hiero­ nymus hoffe ich auch, Item S. Bernardus, Gergorius, Franciscus, Dominicus und viel mehr, wie wol sie heylig gewesen sind, haben sie dennoch hie alle geyrret, wie ich offt mal anders wo beweiset habe. Denn der yrthum ist zeitlich angangen und sind mit andern auch darein geradten, das sie Christlich wesen bunden an eusserlich ding […].“ (WA 15; 755,21–26). Von der Schein-Heiligkeit seien selbst die Auserwählten geblendet worden: „Solchs hat aber nie­

1. Ausgangsbedingungen

77

und sich zum Betrug Anderer haben instrumentalisieren lassen.92 Die vielfälti­ gen Warnungen der Schrift vor dem Einschleichen des Teufels seien in der Vergangenheit eindeutig bestätigt worden: „Solliche warnungen seynd doch so clare, das keyn mensch dieselbigen vonn den geschehenen dingen clarer schrey­ ben mocht.“93 Die Ankündigungen der Schrift bezüglich der falschen Prophe­ ten und auf kommenden Teufelslehren sind in reformatorischer Deutung bereits geschichtliche Wirklichkeit geworden – das Eintreffen der teuflischen Perver­ tierung der Tradition wird nicht in unbestimmter Zukunft erwartet, sondern bereits in die Vergangenheit verlegt. Gegen das altgläubige Vertrauen in die durch die Traditionsorientierung be­ wahrte Reinheit der Lehre behaupteten die reformatorischen Flugschriften eine stufenweise Pervertierung der Tradition: Der Teufel habe die kirchliche Tradi­ tion unter frommem Schein verdorben und die Heilsbotschaft bis zur Unkennt­ lichkeit entstellt. Dieser konstatierte Depravationsprozess musste in der Vergan­ genheit ermittelt und konkretisiert werden, um das altgläubige Traditionsargu­ ment falsifizieren zu können. Die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung diente daher insbesondere in der Frühzeit fast ausschließlich dem Nachweis, dass der von der Schrift angekündigte Abfall vom Evangelium bereits stattge­ funden habe und die falschen Propheten, vor denen die Schrift so deutlich warnt, längst innerhalb der Christenheit aktiv geworden seien. Mit ihrer Hilfe habe der Teufel bereits vor Jahrhunderten die Herrschaft innerhalb der sichtba­ ren Kirche übernommen und vor allem durch die Indienstnahme des Papsttums bis in die Gegenwart hinein verstetigen können. Die Annahme, der Teufel habe im Verlauf der Kirchengeschichte seine Macht stetig ausgedehnt und sich sogar an die Spitze der klerikalen Hierarchie gesetzt, verlieh der reformatorischen Vergangenheitsbetrachtung ihre spezifische Cha­ rakteristik: Das überkommene Geschichtsbild musste radikal umgeschrieben und uminterpretiert werden als Machtergreifung und Herrschaftsausbau des Teufels. Diese zum altgläubigen Geschichtsbild völlig konträre Entwicklungs­ geschichte des Teufels am konkreten Geschichtsverlauf zu verifizieren, bildete das Proprium reformatorischer Geschichtsschau. Die reformatorische Vergangenheitsdeutung war daher mit der Reflexions­ gestalt des Teufels untrennbar verbunden. Vor dem Hintergrund der Teufels­ vorstellungen betrieben die Flugschriften sowohl die Delegitimierung des alt­ gläubigen Traditionsarguments als auch den gleichzeitigen Auf bau eines genuin mand erkand, auch von den heiligen, so tieff und mit grossem schein ist es eingerissen.“ (WA 15; 757,15 f.). Vgl. auch Luther: Offenbarung des Endtchrists H2b.M1a. Vgl. auch Nazarei 47; Spengler: Verantwortung 365,3–5; Eberlin: Bundesgenossen 90 f.; Herman: Mandat 278,12–14. 92  „Ja freylich vil hailigen, ich fürcht, vil der hailigen seyen lockmaysen des teüfels ge­ seyn, welliche er auffgebutzt hat in hüpsch scheynenden wandel, zu betrug der vnweysen seelen […].“ (Eberlin: Falschscheinende Geistliche 66). 93  Cronberg: Christliche Schriften 58.

78

III. Vergangenheitsdeutung

reformatorischen Traditionsverständnisses durch eine umfassende Umwertung des Verständnisses von Alt und Neu. Der Teufel habe im Verlauf der Geschichte immer wieder Irrtümer und Neu­ erungen in die Lehre eingebracht, die im Laufe der Zeit den Anschein des Al­ ters erlangten und als rechtmäßig galten. So wurden die Irrtümer historisch konserviert und auf der Basis des altgläubigen Traditionsprinzips für nachfol­ gende Generationen verbindlich gemacht. Die Traditionsorientierung altgläu­ biger Provenienz diene daher nicht der Bewahrung der reinen Lehre, sondern der Verfestigung der teuflischen Verfälschung. Ein rechtes Verständnis der Tra­ dition dagegen müsse dort anknüpfen, wo die Lehre noch vergleichsweise rein war und vor die Zeit der teuflischen Pervertierung der Tradition zurückgehen. Die Vergangenheitsbetrachtung sollte die für das eigene Traditionsverständnis entscheidende Frage klären helfen, ab wann der Teufel Tradition und Lehre zunehmend verdorben habe und die zeitgenössische Verkehrung des Verständ­ nisses von Alt und Neu ihren Anfang nahm. Zur Klärung dieser Fragen boten die reformatorischen Flugschriften zum Teil einen detaillierten Durchgang durch die Geschichte und schilderten den schleichenden Prozess der Machter­ greifung des Teufels innerhalb der sichtbaren Kirche.

2. Fallbeispiele Die reformatorische Sicht der Kirchengeschichte wird grundsätzlich von zwei korrespondierenden Gedankenkreisen bestimmt: zum einen von der Kontinui­ täts-, zum anderen von der Verfallsidee. Obschon auch die Kontinuität der gött­ lichen Wahrheit und der wahren Kirche betont wird, dominiert in den Flug­ schriften doch die Abgrenzung vom Kontinuitätsverständnis der römischen Kirche, deren geschichtlichen Verfall hervorzuheben primäres Ziel frührefor­ matorischer Vergangenheitsdeutung war. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem altgläubigen Traditionsargument galt die Geschichte der römischen Kirche in frühreformatorischer Deutung vorrangig als Verfallsgeschichte94 – oder anders gewendet: als Erfolgsgeschichte des Teufels. Ausgehend von dem Sieg Christi über den Teufel und dem Zurückdrängen des teuflischen Einflusses in der Kirche verfolgt die Vergangenheitsbetrachtung der Flugschriften das sukzessive Erstarken des Teufels über die Jahrhunderte hinweg bis zur eigenen Gegenwart. Diese Einflusserweiterung des Teufels wird in den Flugschriften historisch konkretisiert und mit verschiedenen Kriterien verbunden. Mitunter wird dabei auch ein bestimmtes geschichtliches Datum als

94 Siehe

Benrath: Kirchengeschichte 99 ff.; Ders.: Art. „Geschichte/Geschichtsschrei­ bung/Geschichtsphilosophie VII/1“ 630–643.

2. Fallbeispiele

79

Moment der Machtergreifung des Teufels benannt, ab dem er seinen Einfluss innerhalb der Kirche strukturell habe absichern und verstetigen können. Zunächst soll der Prozess der Machtergreifung des Teufels innerhalb der Kir­ che anhand ausgewählter Autoren im Zusammenhang dargestellt werden, um dann in vergleichender Perspektive die Frage nach einer reformatorischen Kohärenz der Vergangenheitsbetrachtung zu stellen. Die von der Forschung bereits breit untersuchte Geschichtsdeutung Luthers soll dabei lediglich als Folie dienen; 95 um die bestehende Engführung auf Luther zu erweitern, soll das Hauptaugenmerk anderen Meinungsführern der Flugschriftenpublizistik gel­ ten, die das frühreformatorische Geschichtsverständnis prägten und dabei Ge­ meinsamkeiten wie Unterschiede erkennen lassen. Die Auswahl der Fallbeispiele begründet sich in inhaltlicher und in publizis­ tischer Hinsicht. Es wurden Meinungsführer ausgewählt, die in ihren deutsch­ sprachigen Flugschriften bis 1526 ein gesteigertes Interesse an der Vergangen­ heitsdeutung erkennen lassen und für das frühreformatorische Geschichtsver­ ständnis prägend waren.96 Die ausgewählten fünf Fallbeispiele sollen dazu dienen, einerseits die insbesondere in der frühen Reformationszeit vorfindliche relative Streubreite in der historischen Konkretisierung der Vergangenheitsdeu­ tung abzubilden und die Vielfalt möglicher Zugänge einzufangen, andererseits Grundmuster nachzuzeichnen, um die Frage nach einer inneren Kohärenz zu prüfen. Neben dem sachlichen Gehalt wurde darauf geachtet, dass die ausführlich behandelten Flugschriften publizistisch erfolgreich waren und mehrere Nach­ drucke erfuhren.97 Mit Kettenbach und Eberlin sind zudem zwei besonders typische Flugschriftenautoren aufgenommen,98 deren Vergangenheitsdeutung wie deren Teufelsvorstellungen von der Forschung bislang nicht eigens thema­ tisiert wurden.

2.1  Judas Nazarei Für das frühreformatorische Geschichtsverständnis im Allgemeinen, insbeson­ dere aber für die Wirkmächtigkeit des Teufels in der Geschichte, ist die Flug­ 95  Literatur in Auswahl: Krumwiede: Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers 1952; Campenhausen: Reformatorisches Selbstbewußtsein 318–342; Schmidt: Luthers Schau 17–69; Headley: Church history; Höhne: Luthers Anschauungen; Maurer: Konti­ nuität 76–102; Schwarz: Wahrheit 159–190; Wriedt: Luther`s Concept of History 31–45; Basse: Luthers Geschichtsverständnis 47–70; Schilling: Die Wiederentdeckung des Evan­ geliums 125–142; Schilling: Geschichtsbild und Selbstverständnis 97–106. 96  Die spiritualistischen Richtungen der frühreformatorischen Bewegungen bleiben da­ mit weitgehend ausgespart, da sie in den Flugschriften bis 1526 an einer elaborierten nachurchristlichen Vergangenheitsdeutung kaum Interesse zeigen, vgl. auch unten 149 f. 97  Zu den Angaben im Einzelnen siehe unten. 98  Vgl. die Klassifizierung bei Zorzin: Karlstadt 48.59.

80

III. Vergangenheitsdeutung

schrift „Vom alten vnd neüwen Gott, glauben, vnd Lere“ von Judas Nazarei von besonderer Bedeutung.99 „Judas Nazarei“ ist ein Pseudonym,100 welches bis heute nicht zweifelsfrei zugewiesen werden kann.101 Nazareis Vergangenheits­ betrachtung verfolgt das Ziel, die Aktivität des Teufels in der Geschichte aufzu­ decken, damit sich die Gläubigen in der reformatorischen Gegenwart zur rech­ ten Lehre bekehren können.102 Nazarei greift zunächst das altgläubige Traditionsargument auf, um dieses dann im Verlauf seiner Ausführungen historisch zu entkräften zu versuchen.103 Er zeichnet eine geschichtliche Entwicklung nach, die durch einen steten Ver­ fall der Frömmigkeit und den machtvollen Aufstieg des Teufels bestimmt sei. Dieser habe fatale Irrtümer in die Christenheit eingetragen, welche über die Zeiten tradiert wurden und sich schließlich dermaßen verfestigt hätten, dass sie den Anschein des Alters erlangten und daher als Wahrheiten galten104 – „eyn 99  Erstdruck 1521. Kück: Nazarei VI–XI verzeichnet insgesamt 11 Ausgaben bis 1527; dazu kommen Übersetzungen ins Lateinische (eine Ausgabe), ins Niederdeutsche (5 Ausga­ ben), in den ostfriesischen Mischdialekt (eine Ausgabe), ins Flämische (2 Ausgaben), ins Englische (eine Ausgabe), ins Dänische (eine Ausgabe). Der publizistische Erfolg und die breite regionale Streuung belegen die herausgehobene Stellung der Flugschrift Nazareis für das reformatorische Geschichtsverständnis. Literatur: Hofacker: Vom alten und nüen Gott 145–177; Scheible: Das reformatorische Schriftverständnis in der Flugschrift „Vom alten und nüen Gott.“ 178–188. 100 Unter dem Pseudonym laufen noch zwei weitere Schriften, der „Wolfsgesang“ (1520/21) und der „Schlüssel David“ (1523), beide in Basel gedruckt (vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 145, Anm.  2 ). Die Bedeutung des Pseudonyms ist nicht eindeutig be­ stimmbar. Hofacker vermutet in dem Teil „Nazarei“ einen Bezug zu den im Alten Testament (Samuel, Genesis, Richter) genannten Nasiräer oder Nasoräer, wodurch „es die Absicht des Verfassers zu sein [scheint], sich als ein von Gott auserwählter und geweihter Kämpfer für den wahren Glauben einzuführen“ (vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 173). Mit dem Namen „Judas“ könnte sich der Verfasser einerseits mit dem Judasbrief des Neuen Testaments identifizieren wollen; andererseits könnte er auch eine Parallelbildung zu „Judas Ischarioth“ im Sinn gehabt haben (vgl. dazu Hofacker: Vom alten und nüen Gott 172 ff.). 101  Kück sah in der hier behandelten Schrift Vadian als Verfasser, doch wurde dies von Schieß zurückgewiesen (vgl. Schieß: Hat Vadian deutsche Flugschriften verfasst? 66 f.). Ho­ facker schlägt Ulrich Hugwald als Verfasser vor und bietet eine Reihe von Indizien für seine These, vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 174–177. Kritisch dazu und zugleich mit einem eigenen Vorschlag Kaufmann: Anfang der Reformation 529 ff., der den Elsässer Kon­ rad Pellikan als Verfasser favorisiert. Da die Verfasserfrage nicht als zweifelsfrei gelöst be­ zeichnet werden kann, wird der Verfasser wegen der gebotenen Vorsicht hier unter seinem Pseudonym geführt. 102  Dieses Persuasionsziel lässt schon die Widmung erkennen: „Allen frommen Christen gnad vnd sterck, denen so verfuert, verirrt sint, widerkerung […].“ (Nazarei 2). 103  Das Traditionsargument begegnet gleich mehrmals und zieht sich als Anfrage an die eigene Position durch die gesamte Flugschrift, vgl. Nazarei 36 f.64. 104  So z. B. in Babylonien: „Do schlich der alt schlang Lucifer dorin, […] do ward eyn gott doruß mit namen Beel, was der Assyrier in Babylonia gott. Als Nenus gestorben was, kam der nuw got Beel in bruch vnd gewonheit, vnnd vß lenge der zyt ward ein recht, vnd ein alter got doruß […].“ (Nazarei 5). Dass der Teufel immer wieder Altes durch Neues ersetze und dem Neuen den Anschein des Alten verleihe, bewährt Nazarei im Folgenden in diversen Beispielen, vgl. Nazarei 5 f.

2. Fallbeispiele

81

irtum gebyrt die ander“.105 Diese vollkommene Verdrehung von Gut und Böse werde über die Generationen weitergegeben und auf die Dauer als alt akzep­ tiert,106 während wahre Glaubenszeugen unter christlichem Schein verfolgt werden mit der Begründung, sie setzten etwas Neues gegen das Alte.107 In der zeitgenössischen Wahrnehmung ist das rechte Verständnis von Alt und Neu geradezu umgekehrt108 und bedürfe dringend der Wiederherstellung.109 Daher will Nazarei historisch aufzeigen, wo der Irrtum begonnen habe, um die subti­ le Verdrehung von Alt und Neu zu entlarven. Zu diesem Zweck bietet er eine Zusammenschau von Heils- und Weltgeschichte: „[…] deßhalb ich geursacht, doch ein klein anzeigen, was der Alt oder New Got sey, vnd des in durchlauf­ fung der heyligen geschrifft, sambt den historien beschehener ding […].“110 Nazarei legt einen breiten Abriss der Heilsgeschichte vor, einsetzend mit dem Fall Luzifers und der Ursünde und über verschiedene geschichtliche Erschei­ nungsformen der Abgötterei bis zur Erhebung des Menschen über Gott durch den Betrug des Teufels in Form des Papsttums. Dabei ist seine Geschichtsbe­ trachtung auch als Entwicklungsgeschichte des Teufels zu lesen, die als Nega­ tivfolie zur Entwicklung des wahren Glaubens verschiedene Konjunkturen auf­ wies: „Wirt also in diesem buechlin angefengt vrsach vnsers elends, blindheit, boßheit, von Adam seines vnglaubens halb in vnß erborn, vß woelcher wurtzel all abgoettery er­ wachsen ist, vnd durch historien anzeigt ire anfeng mancherley abgoetter (so wir nun goetter heissen) als Lucifer […] etc. nach Christus burt die blindheit der Juden, nach denen die Philosophi, Mißverstand der geschrifft durch die ketzer, zu letst ein erhebung der creaturen über got durch betrug des tüfels, mit zueigung goettlichs gewalts (so wir yetz den Babst nennen) viler schmeichler, von woelchem (vß mißbruch sins ampts) ein irtum nach dem andern abstig in die gantz welt, das nahent Christus gantz vßtilckt ist, gantz vnbekant […].“111

Alle geschichtliche Entwicklung ist Nazarei gekennzeichnet durch das Grund­ muster der Entzweiung; sie ist ihm grundlegendes Paradigma und Konstituti­ 105  Sinnfällig werde dies in der Entwicklungsgeschichte des Papsttums, welche mit dem Verfallsprozess der Kirche untrennbar verknüpft sei: „Doch eyn irtum gebyrt die ander, wie vß dem frommen heiligen apostel Petro ein verendrung, vnd nach vnd nach ye mer sich vom rechten brunnen abkert, eyn ander gestalt sich ingerissen hat […] byß vß eim schaff ein zu­ ckender wolff, vß eym verkünder des euangelischen fridens ein gesatz geber aller tyranni, vß eim priester ein kriegßman, vß eym armen Apostel eyn mechtiger keyser vnd herrscher aller welt entsprungen ist.“ (Nazarei 51). 106  „Mit denen vnd derglich alefantzen blenden vnd triegen sy fürsten vnd hern das nie­ mandt daruß kommen kan, was recht oder vnrecht ist. Vnd gant wir also yn blindheyt füran, vnsere kinder haben das von vnß gelernet, ir kinder von inen. Also wechts es für vnd für über menschen gedechtnuß.“ (Nazarei 35). 107 Vgl. Nazarei 35 f. 108  „O Christe wie ist das golt in kupffer verkert.“ (Nazarei 39). 109 Vgl. Nazarei 53. 110  Nazarei 3. 111  Nazarei 3.

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III. Vergangenheitsdeutung

onsmerkmal der Geschöpflichkeit. So wird Luzifers Fall als Folge der Entzwei­ ung der Gemeinschaft der Engel mit der Entzweiung der menschlichen Ge­ meinschaft parallelisiert.112 Der Unglaube als Folge der Erbsünde gehöre seither als Verhängnis zur menschlichen Existenz dazu.113 Das Verhängnis des Unglau­ bens ist der Grund für das permanente Erheben neuer Götter,114 welches Naza­ rei auch der heidnischen Historiographie als Konstante der menschlichen Ent­ wicklung entnimmt.115 Das Erheben neuer Götter präge die gesamte vorchrist­ liche Geschichte und habe in der griechisch-römischen Antike ihren Höhepunkt erreicht. Der Mechanismus der Verdrehung von alten und neuen Göttern werde besonders im Bilderkult sinnfällig: Der Teufel verhülle sich in den Bildern be­ deutender Menschen und lasse sich anbeten. So lasse der Teufel den Menschen sich selbst als Gott verehren und seine Hoffnungen anstatt auf Gott auf sich selbst setzen.116 Im Laufe der Zeit wurden die neuen Götter zu scheinbar alten und in den auf kommenden Macht- und Verdrängungskämpfen schürte der Teufel die Entzweiung der Menschen und ihre Distanz zum wahren alten Gott. So wetteiferten die Gläubigen unzähliger vermeintlicher Götter um die stärkste Position;117 in derlei Machtkämpfen zerstörten die Menschen und ihre Götter sich gegenseitig.118 Den grundsätzlichen Wendepunkt dieser Entwicklung bezeichnet für Naza­ rei die Menschwerdung Christi: Sein Auftreten schwächte die neuen Götter 112 

„UOn anfang der welt, als bald vernunfftige geschoepff erschaffen ward, bald do end­ zweiet sy sich, des anzeigen nymm ich die Englisch natur im himel: Ettlich hiengen got an, die andern wichen ab, machten inen einen nüwen got Lucifer; der glichen der mensch vff dem erdrich, wan von Adam, durch Abel vnd Chaym ein gezweiter weg vßgangen ist, den all ire nachkommen gangen, gan, ouch byß yns end der welt […].“ (Nazarei 4). 113  „Der vngloub vnd fürwitz ist in Adams lenden blieben, doruß wir all kriechen. Die art haben wir all vß den brüsten Eue gesogen, vnd des so starck, das alle menschen (nach gemei­ nem lauff ) in vnglauben erborn werden.“ (Nazarei 4). 114  „Die boeß art des vnglaubens vnd vngehorsami haben all sine kynder von im ererbt (gemeinglich) das wir vnß selbs, der natur nach, in allen dingen suchen, erheben, fürsetzen, vß vnß new goetter machen.“ (Nazarei 5). 115  „So wir für hend nemen die eltisten Historiographos, als Manethon by den Egiptern, Berosium by den Chaldeyern, Mochus vnd Estius in Siria, Hisiodus, Josephus in Judea, Titus Liuius by den Roemern, So finden wir warhafftig anzeigen, das sich die menschen in allen zyten, sonderlich zuuor, in eererbietung gots vast seltzam vnterscheidlichen gehalten, Ein yeglig landt ein nüwen seltzamen got gemacht.“ (Nazarei 4). 116  „In summa was besonders by eim menschen von erstem vff kam, erfunden ward, der enpfieng den namen das er ein got were; Und dann so bald bilder der selben künstrichen menschen, oder gewaltigen künig, vff gericht wurden, so schmucket sich der tüfel dorin, vnd hub etwan ein gerümpel an, etwan spey er füer, etwan so troumbt den lüten (durch des tüfels ingeben) wann sy ire krancken für das bild brachten, vnd ein opffer theten, würden sy ge­ sunt.“ (Nazarei 6). 117  „Also erhub sich ein landt über das ander mitt gottes dienst, mit iren goettern, wolt alweg eyn landt über das ander syn, eins stercker goetter han dann das ander.“ (Nazarei 7). 118  „Und erhuben sich dan groß krieg, das eyn land in das ander zog, vnnd zerbrochen dann die goetter zu stucken, vrsach, eyner was als gut als der ander, waren widerwertig go­ etter, deßhalb zerstoeret eyn gott den andern.“ (Nazarei 7).

2. Fallbeispiele

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und lehrte die Menschen den wahren alten Gott neu erkennen.119 Die Bilder und die gottgleiche Verehrung, die ihnen zuteil wurde, wurden abgeschafft, ebenso der Opferkult; das frühe Christentum wurde von allen Äußerlichkeiten gereinigt – der Teufel war erkannt, seinem Einfluss, den er durch die Hoch­ schätzung von Äußerlichkeiten gewonnen hatte, war Einhalt geboten: „So gedacht der alt schlang (der erst nüw gott Lucifer) die bilder vnd opffer woellen dir abgon, dyn namen wil verspottet werden, alle goetliche eererbietung, der brinnet wy­ roch wirt dir entzogen, du must ein andern fundt suchen, man ist din gewar worden.“120

Obschon die Macht des Teufels durch Christus gebrochen war, blieb die Bedro­ hung durch den Teufel in der Geschichte weiter wirksam. Das fortbestehende Widersachertum des Teufels gegen Gottes Wort wird von Nazarei mit der Me­ tapher vom Teufel als Fischer beschrieben, welcher mit dem Köder des Unglau­ bens die Menschen mit der Angel des Ungehorsams fängt: „Und also kam der alt schalck vnd stackt ein soelchs kerder an den angel (verstand bym angel vnge­ horsamy, bym kerder den vnglouben, wann wer zwifelt, der gloubt nit) […].“121 Die nachfolgende Geschichte ist denn auch von einer fortlaufenden Steigerung der Macht des Teufels gekennzeichnet. Bei dem beständigen Wachstum der Abgötterei unterscheidet Nazarei vier Grade der Steigerung der teuflischen Ak­ tivität in der Zeit des Urchristentums, die jedoch alle von der Christenheit siegreich bestanden wurden. Dauerte der erste Grad der Abgötterei bis zur Inkarnation Christi und hatte nahezu den totalen Machtverlust des Teufels zur Folge,122 begann der zweite Grad der Abgötterei mit dem auf keimenden Widerstand des Teufels: Nachdem er durch das Werk Christi geschwächt war, suchte er sein Reich zu verteidigen, indem er durch seine Handlanger die Christen verfolgen ließ.123 In der Ausein­ andersetzung der Christen mit den Juden, die an ihrem überkommenen Glau­ ben festhielten, ereignete sich für Nazarei bereits damals, was sich in der refor­ matorischen Gegenwart wiederhole: Die Verdrehung von Alt und Neu durch den Betrug des Teufels. Mit dieser Verdrehung musste sich schon Paulus ausei­ nandersetzen, als die Juden den christlichen Glauben als neu zu diskreditieren 119  „Als aber der herr vnnd künig der glory, der sun gottes, […] vnser menscheyt an nam, do ward disen nüwen (doch mitt der zytt in achtung der menschen alt goetter) goettern eyn zaum ingelegt, eyn zill gesteckt, das sy nitt me vff erdtrich so gewaltig herscheten […] lernet Christus Jesus menschlich geschlecht den rechten waren ewigen alten Gott (Danielis .viij. [wohl Dan 8,14]) erkennen, […] deßhalb die tempel an vil orten abgiengen vnd die Chris­ tenheyt zunam.“ (Nazarei 7). 120  Nazarei 8. 121  Nazarei 9. Zum Bild des Teufels als Fischer, den möglichen Traditionsbezügen und deren Umdeutung durch Nazarei siehe Hofacker: Vom alten und nüen Gott 162 f. 122 Vgl. Nazarei 7. 123  „Das mocht noch koendt der alt schlang nit erdulden, das er so gantz veracht ward, vnd redt sinen flaminibus, das ist sinen pfaffen zu, wo die Christen kemen das man sy veriagt vnd zu tod schlueg, wan sy wider den alten glouben der goett predigten.“ (Nazarei 8).

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III. Vergangenheitsdeutung

versuchten und sich auf die Tradition beriefen124 – dieser Vorgang finde mit dem altgläubigen Traditionsargument in der reformatorischen Gegenwart eine direkte Parallele, erfahre gar noch eine Steigerung, was Nazarei verdrossen aus­ rufen lässt: „O Paule werst yetz hie.“125 Doch mit Christi Beistand wehrten die Gläubigen den Angriff des Teufels ab und das Christentum setzte sich durch.126 Mit der Vertreibung der Juden endete diese Bedrohungsphase durch den Teufel für die Christen siegreich.127 Die frühen Christen gründeten ihren Glauben auf die Schrift und blieben im Vertrauen auf Christus wehrhaft gegen den Teufel, trotzten allem Verfolgungsdruck bis zum Martyrium.128 Noch war die Chris­ tenheit zu standhaft und gefestigt, um sich vom Teufel überwinden zu lassen; doch wurde der Teufel zunehmend aktiv. Der dritte Grad der Abgötterei setzt mit einem Strategiewechsel des Teufels ein: Nachdem die ersten Anschläge die Christen nicht beirren konnten, nahm der Teufel die Obrigkeiten in Dienst – doch auch deren Gewalt und Verfol­ gungsdruck sollten die Christen nicht überwältigen, sondern nur bestärken und bestätigen.129 So meisterten die Christen auch dieses Bedrohungsstadium der Verfolgungswellen durch die römischen Kaiser erfolgreich. Beim vierten Grad wechselte der Teufel wieder den Köder: Er versuchte, Zweifel und Verfälschungen in die christliche Lehre einzutragen, und bediente sich dabei der Philosophie der Griechen, um auf der Grundlage der Vernunft die Auferstehung zu bezweifeln.130 Die Verfälschung der reinen Lehre durch 124  „O ein glat kerder der schalck dar gelegt hat. Meynen ir nit das billich die Juden haben moegen sprechen, die Apostel predigen ein nüwen glauben, ketzery, sy woellen bym alten got Israhel bliben, bym alten glauben, by ir alten leer? Was sagt der heilig Paulus darzu? […].“ (Nazarei 10). 125  Nazarei 10. 126  „Als aber die vsserwelten ritter Christi, die frommen Christen Christo vertruwten, do stund er jnen by, vnd würcket wunderbarlich krafft durch sy, das die abgoetter all zerbrachen, ire pfaffen vnd propheten zu schanden wurden, vnd die künig etwan gezwungen wurden zu glauben, vnd zu Christlichem glauben kamen.“ (Nazarei 8). 127 Vgl. Nazarei 10. 128  „[…] alles ir reden sind die gschrift, sy thun nüt darzu noch darvon, lassens blieben wie es gott geredt hatt, so stat jn ir Messias by, das keyn gewalt der Roemischen keyser nüt an jn geschaffen mag: ye mer die Christen durchaecht, gemartert, getoedt werden, ye froeli­ cher, ye stercker sy stritten vnd lerneten.“ (Nazarei 9). 129  „Als der Kerder etwas gemein vnd erkandt was worden, das die lüt sich nymmer so gar an im verderbten, achteten syn nitt mer, hengkt er ein ander kerder eyner andern farb an den angel, das was gewalt der keyser, der künig in aller welt, […] aber ye mer er tyranny in den fürsten erweckt, ye mer der Christen glauben bestetiget ward.“ (Nazarei 10). 130  „Aber das gedacht im der schalck: […] du wilt diner flaminum iünger für hendt ne­ men, das sind die Philosophi (wan sy vil von den pristern der abgoetter gelernet hant) vnd erkückt die kriechen, […] die ryben sich an die Christen. Wan man inen sagt von der vrstend Christi vnd der todten, so lachten sy dran, brachten ir argument vß der Philosophi, vß dem Aristotele, Socrate, Pythagora, den syben weysen etc. erzalten vß künstlicher demonstration, das es vnmüglich were einem toden menschen wider zum leben moegen kommen […].“ (Nazarei 10 f.).

2. Fallbeispiele

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die Philosophie ist Nazarei der gefährlichste Anschlag des Teufels, doch auch diese Bewährungsprobe bestanden die Christen siegreich. Diese vierte Phase der teuflischen Bedrohung endet mit der äußeren Sicherung der Kirche durch deren Anerkennung unter Kaiser Konstantin,131 welche die äußere Konsolidie­ rung der Kirche begünstigte und die Zeit der Verfolgungen abschloss. Nazarei entwirft in seiner Flugschrift für die Zeitspanne bis zur Konstantini­ schen Wende ein vier-Grade-Modell des teuflischen Widerstands gegen den Christenglauben. Die ersten Jahrhunderte in der Entwicklung des Christen­ tums waren insgesamt gekennzeichnet von hoher Aktivität des Teufels, der je­ doch durch Christi Auftreten geschwächt war und erst allmählich und mühsam wieder erstarkte. Doch blieb das frühe Christentum den Grundlagen des Glau­ bens und den Weisungen seines Stifters weitgehend treu, so dass die Versuche des Teufels, seine Machtstellung, die er vor Christi Auftreten innehatte, wie­ derzuerlangen, vergeblich blieben. Diese vorbildliche Wehrhaftigkeit gegen den Teufel charakterisiert diese Epoche für Nazarei als die segenreichste Phase der Kirchengeschichte: Obschon eine Zeit der Anfechtungen und Verfolgun­ gen, zeichnete sich das frühe Christentum durch Beharrungskraft und Beken­ nermut aus132 und wies die Angriffe des Teufels ab. Erst die Anerkennung des Christentums unter Konstantin sollte für Nazarei die Phase einleiten, in der der Teufel seine Macht wieder erweitern konnte – die vermeintliche Konsolidie­ rung der Kirche bezeichnet den Beginn ihrer Pervertierung. Zunächst jedoch schien der Einfluss des Teufels mit der Konstantinischen Wende nachhaltig beschnitten, da seine neuen und falschen Götter nicht mehr verehrt wurden.133 Gegen diesen Machtverlust wehrte sich der Teufel, indem er beständig Zwietracht säte: Nunmehr allerdings weniger durch äußere Bedro­ hungen und Verfolgungen, sondern im Inneren; unter frommem Schein ver­ suchte er, das Christentum mit der Philosophie zu vermischen und die Christen untereinander zu entzweien:134 So köderte er Anfang des 4. Jahrhunderts den Presbyter Arius und ließ ihn die trinitarische Wesensgleichheit bestreiten135 – 131 

Nazarei 11 f. zanck zwischen den Christen vnd Philosophen weret by dryhundert iar nach Christo; die Christen musten das kürtzer (der welt nach zu reden) zihen, wan die durchaech­ tung lieff stets mit, das man sy veriagt, verfolgt, marteret vnnd toedet (vnd die .ccc. iar ist die Christlich kirch am aller hoechsten vnd edelsten gestanden).“ (Nazarei 11). 133  „Der alt schlang uebet sin kunst aber mals flissig, richtet ein künstlich kerder zum angel, also: Er gedacht das ist noch nye geschehen das der Roemisch keiser ouch von dinen goettern abgewichen ist […].“ (Nazarei 12). 134  „Wilt din Philosophos zu hilff nemen, vnd ein mißverstandt vnter inen selbs vfftre­ chen, so werden sy parthiesch: so sy parthiesch sindt, so wirt der Christen glaub anfahen abnemen argwenig geacht, so gan dine goetter wider vff.“ (Nazarei 12). 135 „Vnd also verschluckt das kerder mit dem verborgen angel eyn priester vnder den Christen, hieß Arrius […] vnd sprach, Ein soelche vnterscheid were in der heyligen dryual­ tigkeit, das der vatter der groessest vnd mechtigest wer, darnach der son, aber weniger dan der vatter, vnd nach dem sun der heylig geist der wenigest.“ (Nazarei 12). 132  „Diser

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III. Vergangenheitsdeutung

womit er für Nazarei zum ersten neuen Gott der christlichen Ära avancierte.136 Auch wenn Nazarei auch in dieser Phase des Erstarkens des Teufels immer wie­ der Glaubenszeugen hervorhebt, die dem Teufel ihren Widerstand entgegen­ setzten,137 gelang es dem Teufel doch in den folgenden acht Jahrhunderten, Glaube und Philosophie so miteinander zu vermischen, dass die Schrift miss­ verstanden wurde und die Zwietracht innerhalb der Christenheit stetig zu­ nahm.138 Letztlich begann also für Nazarei mit der äußeren Sicherung und Konsolidie­ rung der christlichen Kirche gleichzeitig ihr innerer Verfall: Anstatt ihren Glauben nach dem Evangelium auszurichten und in Anfechtungen und Verfol­ gungen zu bewähren, sammelte die Kirche nun immer mehr Reichtümer an, ließ Glaubensernst vermissen und wandte sich Äußerlichkeiten zu.139 Mit der äußeren Sicherung der Kirche begann der Wiederaufstieg des Teufels, ohne dass dieser bereits die Macht innerhalb der Kirche übernommen hätte. Trotz zuneh­ mender teuflischer Aktivität und innerchristlicher Zwietracht behauptete sich die Kirche, doch zeigten sich bereits deutliche Verfallserscheinungen. Die entscheidende Stufe beim Prozess des Erstarkens des Teufels aber verlegt Nazarei ins frühe 7. Jahrhundert: Unter Kaiser Phokas (602–610) errang der Teufel durch Bonifaz III. (607) seinen größten und nachhaltigsten Sieg. Der Teufel ließ den römischen Bischof in Gestalt Bonifaz’ III. den Primat beanspru­ chen140 und das geistliche Recht als Herrschaftsinstrument missbrauchen.141 Wieder sei, nunmehr im Papsttum, ein neuer, mächtiger Abgott aufgestanden, die Christen zu verführen.142 Der Primatsanspruch des römischen Bischofs bezeichnet für Nazarei den ent­ scheidenden Moment der Machtergreifung des Teufels innerhalb der Kirche:

136  „Diser Arrius überkam anhenger iünger, die warffen in für ein nüwen got vff […].“ (Nazarei 13). 137  So z. B. Athanasius und das Konzil von Nicäa, vgl. Nazarei 13. 138  „Diser znack vnnd zwitracht der mißverstentnus etlicher sprüch der heyligen gschrifft hat gewert ouch by achthundert iaren.“ (Nazarei 14). 139  „Wiewol von Constantini deß keisers zit die bischoff zu rom von tag zu tag in rychtum zu namen, vnd nymmer allsambt so gar ernstlich dem Euangelio nachlebten, als die vordern vor Constantini ziten, vnd darnach ye mer vom Euangelio zun cerimonien lendenten […].“ (Nazarei 17). Dennoch werden einzelne Päpste auch lobend erwähnt aufgrund ihrer per­ sönlichen Integrität, z. B. Agapet I., vgl. Nazarei 17. 140  „Do strackt der alt schlang dem Roemischen bischoff Bonifacio dem dritten das kerder dar, also: Was wiltu stet in armut vnd verschmahung ligen, Rom ist doch die obrist stat vff ertrich, ist dir eyn schandt, das man dich nit ouch den obristen bischoff vff erdtrich nennen thud […].“ (Nazarei 18). 141  „Moegen sy vß irem priuilegio sagen was sy woellen, was inen wol kompt, schnel in das geistlich recht schriben, wer wil dan wider das geistlich recht reden?“ (Nazarei 18). 142  „Do her kompt der namen der aller heiligest vatter der Pabst. […] O eyn starcker ab­ gott, eyn nüwer gott do entstanden ist […].“ (Nazarei 19).

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„Do der erst nüw got Lucifer sin sach so wyt bracht, das er allen Christen eynen über­ kam, der sich ließ eynen obristen bischoff, obristen herrn über all menschen schelten, gedacht er: das ist recht, nun hast eyn loch durch den zaun gemacht, es muß wyter.“143

Der Einfall des Teufels, der nunmehr „ein Loch in den Zaun gemacht“ habe, markierte einen grundlegenden Wendepunkt: Fortan war der Teufel nicht mehr nur tendenziell außerhalb der Kirche als Schutz spendender Institution gegen den Teufel zu finden, der allenfalls durch Einzelpersonen innerhalb der Kirche wirken konnte, sondern der Teufel war ins Innere der Kirche vorge­ drungen und hatte sich in der kirchlichen Hierarchie, gar an deren Spitze, einen festen Platz erobert. Von hier aus konnte der Teufel nunmehr systematisch sei­ nen Einfluss erweitern und die Christenheit von ihrem vermeintlichen Zent­ rum her verderben. Die Folgezeit war geprägt von steter Machterweiterung des Teufels und der Sicherung seiner Herrschaft.144 Vor allem durch Festigung und Ausbau der Weisungsbefugnisse des Papsttums konnte der Teufel seinen Einfluss sukzessive mehren.145 Die Christenheit entfernte sich immer weiter von ihrer eigentlichen Grundlage, der Schrift, und erlag zunehmend den Versuchungen des Teufels, welcher die Gläubigen von dem urchristlichen Armutsideal und der Bereitschaft zum Martyrium wegführte hin zu Reichtum und weltlichen Ehren: „Do hat der alt schalck die sach gewonnen, do er den rechten kernen Christlicher hey­ ligkeyt wuressig gemacht hatt: die vormals eyn standhafftige sul waren aller Christen in durchaechtung vnd marter, das sich die von der gschrifft abwanten, namen sich an welt­ licher hendel, künig vnd keyser machen, herrschafft an sich ziehen, mitt grossen titelen begruesset, liessen inen die fueß küssen […].“146

Der Teufel musste nun um seine Herrschaft nicht mehr bangen: Nachdem er zur Apostelzeit ein unstetes, randständiges Dasein geführt hatte, hatte er sich binnen weniger Jahrhunderte zu einem Herren aufgeschwungen und sich in­ nerhalb der Christenheit eine hörige Untertanenschaft erworben: „Do hatt er keyn sorg mer, dorfft nymmer vmblauffen wie eyn zuckender Lew, do von Petrus sagt [1 Petr 5,8], wann er wüst woll was im Euangelio stat: Nieman mag zweyen hern dienen [Mt 6,24].“147 So ist Nazarei der Teufel Initiator eines ste­ ten Depravationsprozesses der Kirche: von Frömmigkeit und Bekennermut zu Weltverfallenheit und Herrschsucht.148 Neben der inneren Zersetzung begann 143 

Nazarei 19 f. alt schalckhafftig schlang was gugel das im sin kunst so meisterlich fürgieng […].“ (Nazarei 20). 145 Vgl. Nazarei 20 ff. 146  Nazarei 21. 147  Nazarei 21. 148  „Vnd also wie Christus die rych der welt floch, die apostel die ere der welt verachte­ tent, die alten frommen bischoff der geschrifft oblagen, den tod vmb der warheit willen fürwalten: Also zu disen zyten brachten die roemischen bischoff offenlich in die gnatz welt, 144 „Der

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III. Vergangenheitsdeutung

der Teufel den durch die Tyrannei des Papsttums geschwächten rechten Glau­ ben auch an anderen Fronten zurückzudrängen, z. B. mit dem Auf kommen des Islam.149 Eine nochmals qualitativ neue Stufe in der Erfolgsgeschichte des Teufels be­ zeichnet die Zeit der Auseinandersetzungen von Imperium und Sacerdotium mit dem Höhepunkt im 11. Jahrhundert. Die vollkommene Machtentfaltung des Teufels manifestiert sich in der Umkehrung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt: Hatten zuvor die Kaiser die Päpste bestätigt, setzten nunmehr die Päpste die Kaiser ein und machten sie dadurch zu ihren willfähri­ gen Handlangern: „Vnd ist die oberkeyt glich vmbkert: Constantinus der erst vnnd all sin nachkomen (so Christen waren) die machten vnd bestetigeten all bischoff zu Rom vnd anderswo, yetz bestetigen die paebst all künig, keyser vnd bischoffen.“150 Diese Umkehrung der Machtverhältnisse wird von Nazarei in einer Parabel beschrieben, welche die allmähliche Steigerung des teuflischen Einflusses deut­ lich macht: Wie Efeu einen Baum, so habe das Papsttum das Kaisertum um­ rankt: Nachdem es zunächst klein und unscheinbar war, gedieh es beständig, verwuchs mit seinem Wirt und brachte den einst so majestätischen Baum schließlich in totale Abhängigkeit.151 In dieser Vermischung der Gewalten liege der Ursprung des bis in die Gegenwart reichenden weltlichen Herrschaftsan­ spruchs der Geistlichkeit, welcher ihnen vom Teufel entgegen der Ordnung Gottes eingegeben sei: „Ist dann der tüfel darinn das alle pfaffen vnd münch weltlich fürsten vnd künig woellen syn. Entweders sant Paulus vnd Christus liegen, oder ir besitzen das weltlich schwert wider gott vnd recht.“152 Neben der Subordination der weltlichen Gewalt vollendete sich auch der in­ nerkirchliche Machtausbau des Teufels. Mit der Beanspruchung der letztgülti­ mit suchung aller obristen weltlichen ere, richtum, gewalt. […] Was grosser freüd ist dem alten schlangen worden, do er die sachen erobert hatt.“ (Nazarei 23). 149  „Do stundt recht ein nüwer abgot vff, Machmet Ismahelita, der satzt eynen nüwen glauben vff, den die türcken halten.“ (Nazarei 19). 150  Nazarei 32. Zur Bestätigung seiner Aussagen führt Nazarei wiederum die Ge­ schichtsschreibung an: „Sehe man die historien ob es war sey oder nit.“ (Nazarei 32). 151  „Manen mich an ein byspil wie die oepheu […] im anfang eyn zart gertlin vom erdt­ rich vffgat, ligt vff der erden; dann so legt es sich zu fuß eins hohen mechtigen boumß oder tannen, die tann nympt des schwachen gertlin kein acht; im wynter darff wol riß vnd loub daruff fallen, nitt weniger das gertlin lid sich vnd wechts für sich, biß es sich zwischen den rinden des boums anhengt, da es ye mer ye herter an ligt, biß es anwechts mitt den rinden; dann so mag der wind im kein schaden mer thun, so wechts es für vnnd für vff, macht zu zyten eyn aestlin das wechtz neben vß vmb den boum; wann es dann so hoch gewachsen ist, das es die aest erlangt, so teylt sich die epheu den aesten nach, vmbgibt die aest des boums, verwickelt also den gantzen boum, das der boum not gewind zu wachsen, so gewind aber der epheu so vil aestlin vnd menig der pletter vnnd beer, das der recht boum erstoket vnd daub wirt; also verdirbt die edel hoch thannen, vnd der stinckend übel gschmack epheu nympt den sitz in.“ (Nazarei 26). 152  Nazarei 51.

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gen Schriftauslegungskompetenz wurde Christus zu einem Gefangenen des Papsttums, welches dadurch seinen antichristlichen Charakter offenbarte.153 Das Papsttum habe die Normativität der Schrift zerstört und an dessen Stelle das kanonische Recht gesetzt.154 Die Entwertung der Schrift durch das geistliche Recht ist Nazarei sinnfälliger Ausdruck der totalen Verdrehung von Alt und Neu und der teuflischen Pervertierung der Tradition.155 Am Ende des von Nazarei beschriebenen geschichtlichen Prozesses der suk­ zessiven Einflusserweiterung des Teufels erscheint dieser so machtvoll wie nie zuvor.156 Diese Kulmination teuflischer Macht in der reformatorischen Gegen­ wart bezeichnet für Nazarei jedoch gleichzeitig den Beginn ihres Niedergangs – das Schwert des Evangeliums sei mit dem reformatorischen Auf bruch aus der Scheide gezogen und, wie einst den Aposteln, so nun den zeitgenössischen Glaubensstreitern übergeben, damit den Herrn der Finsternis mitsamt seinem Gefolge zu überwinden: „Dwil das gsant schwert (do von der herr im Euangelio Matthei. x. sagt [Mt 10,34]) zu vnseren zyten sich erneweret hat, vom behalt der scheyden (das ist von menschlicher wißheyt, tradition, cerimonie, angenommener heyligkeit) vrplutzling sich entbloesset, vnd doch vor dem staub vnd gemelb langer verligung etwas verplichen, hat sich der herr Christus Jesus des beduert, abermals (wie erst dem heiligen Paulo vnd andern Apostlen vertruwet, do mit alle fürstenthumb der fynsternuß bestritten vnd überwunden wur­ den) sin schwert sinen verordneten ritteren empfolhen (…).“157

2.2  Andreas Osiander d. Ä. Andreas Osiander (14. oder 19.12.1496 [1498?] – 17.10.1552) ist eine bekannte Figur der Reformationsgeschichte. Bedeutung erlangte er vor allem als Refor­ mator Nürnbergs und als Auslöser des nach ihm benannten Streits über die Rechtfertigungslehre. Vom Humanismus beeinflusst, wandte er sich ab 1520 153  „Nun sagt Christus, Ich byn der weg, das leben vnd die warheyt. Ist Christus die war­ heit, vnnd die geschrifft ist Christus, so folget ouch das Christus der ewig got des pabsts ge­ fangner ist. O schlang Lucifer was bringstu da für ein nüwen gott harfür, einen nüwen glauben. Ich moecht schier gdencken es wer das thier mitt den syben koepffen vnd zehen hoerner [Off b 13,1] […].“ (Nazarei 33). 154  „[…] so sehen wir das er die gschrifft an etlichen orten offenlich verwürfft vnnd vn­ krefftig macht, setzt der gschrifft syne gesatz in glicher wyrden, eeren vnd krafft. […] Was doerffen wir der heiligen geschrifft, der pabst ist doch vnser heilige geschrifft.“ (Nazarei 33). 155  „Von disem stracken nüwen got [dem Papsttum] wer vill zu schriben, doch wer synen nüwen glauben, syn leben, sin regiment wissen woelt, der leß sin geistlich recht, vnnd leg die heyligen geschrifft, denn alten glauben dar gegen, wirt er augenschinlich gryffen das er eyn nüwer gott, eyn nüwer glaub ist.“ (Nazarei 34). 156  Im Laufe der Zeit geriet die Kirche so stark unter den Einfluss des Teufels, dass die antike Götterwelt dagegen wie ein „gugelwerck“ (Nazarei 23) erscheine. 157  Nazarei 2.

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III. Vergangenheitsdeutung

der lutherischen Lehre zu und vertrat diese z. B. während der Nürnberger Reichstage 1522–24.158 In seinem Nürnberger Ratschlag159 bietet Osiander „Ein ratschlag aus der heyligen schrifft, wie und wes man sich in diesen ferlichen zeiten, in denen sich manigerley zwitracht des götlichen worts halben erhaben, halten und trosten soll […].“160 Die Flugschrift gliedert sich in drei Teile: Zunächst bestimmt Osi­ ander „Welchs rechte und cristenliche lere und zur seligkeit zu wissen not sey“,161 folgend „Was menschenwort und -ler sey“162 , abschließend gibt er seine Stellungnahme zu strittigen Glaubensfragen ab.163 Vor allem im mittleren Teil, in dem sich ein eigener Abschnitt „Vom anthicrist [sic]“164 findet, entfaltet Osiander seine Antichristvorstellung und beschreibt, wie der Antichrist über verschiedene geschichtliche Entwicklungsstadien seine Macht stetig zu mehren verstand. So deutet er die gesamte nachurchristliche Geschichte als Machtausbau des Antichrist, der – wie von der Schrift angekün­ digt – die Christen unter schönem Schein immer weiter von Gott weggeführt habe.165 Bevor Osiander seine Antichristvorstellung kriterienhaft entwickelt und his­ torisch verortet, bestimmt er das Verhältnis von Teufel und Antichrist: Der Teufel gilt ihm als Quelle aller falschen Lehre, der Antichrist als der vom Teufel 158 Zu

Osiander siehe Seebass: Art. „Osiander“ 507–515; Müller: Art. „Osiander“ Sp.  719 f. 159  „Der Nürnberger Ratschlag“ wurde 1524 verfasst und erschien 1525 im Erstdruck (vgl. Wünsch / Funk: Ratschlag, Einleitung 308) und erlebte bis Ende 1525 insgesamt vier Ausgaben (eine davon lediglich als Auszug) an vier Druckorten (Wertheim, Augsburg, Nürnberg, Erfurt); die mehrfachen Ausgaben „innerhalb Jahresfrist lassen ein nicht geringes öffentliches Interesse an dieser Schrift vermuten.“ (Wünsch / Funk: Ratschlag, Einleitung 309). Zur maßgeblichen Verfasserschaft Osianders vgl. Wünsch / Funk: Ratschlag, Einlei­ tung 314–316. Der „Ratschlag“ ist die früheste umfassende Darstellung der Theologie Osi­ anders (vgl. Hirsch: Die Theologie des Andreas Osiander 16. 160  Osiander: Ratschlag 319,1–3. 161 Vgl. Osiander: Ratschlag 321 ff. 162 Vgl. Osiander: Ratschlag 348 ff. 163 Vgl. Osiander: Ratschlag 371 ff. Von den ursprünglich drei Teilen erschienen nur die ersten beiden im Druck. 164 Vgl. Osiander: Ratschlag 352 ff. Nach Seifert stellt dieses Kapitel „wohl den frü­ hesten Versuch dar, die neue Antichristlehre an Hand der biblischen Quellen, also des Buchs Daniel, der Apokalypse und des 2. Thessalonicherbriefs, zusammenhängend zu entwickeln und zu begründen.“ (Seifert: Rückzug der biblischen Prophetie 11). Die Opposition von Christus- und Antichristvorstellung rückt in den Mittelpunkt von Osianders theologischem Entwurf: „Der Widerstreit des Reiches Christi und des Antichrists beherrscht nun Osianders Person und Lehre bis in die letzte Faser hinein.“ (Hirsch: Die Theologie des Andreas Osi­ ander 17). Auf die Publikation dieses umstrittenen Teils der Flugschrift legten die Verfasser gesteigerten Wert und wandten sich gegen alle Versuche, ihn zu eliminieren, vgl. Wünsch / Funk: Ratschlag, Einleitung 306.309. 165  Osianders Exegese bezieht sich vor allem auf Dan 7,1–28; 8,23–25; 2 Thess 2,3–12; Off b 13,1–18 (Osiander: Ratschlag 352 ff.).

2. Fallbeispiele

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gesandte Verkündiger und Exekutant dieser falschen Lehren: Osiander will aus der Schrift anzeigen, „[…] wie der teuffel, ein vater aller lugen, derselbigen falschen lere ainiger prun, der anthicrist aber, des zukunft nach der wurckung des satanas ist [dessen Kommen das Werk des Satans ist, 2 Thess 2,9], derselbigen offenlicher lermeister und handhaber sey […].“166

In der Endzeit sende der Teufel den Antichrist, um die Gläubigen noch weiter von Gott wegzuführen und damit das Gericht Gottes hinauszuzögern: „Der anthicrist ist ein solch verfurisch, schedlich und gotteslesterlich ding, das der hey­ lig Geist vom anfang durch alle propheten wider in hat gefochten als wider den grosten und höchsten gottslesterer und verfurer, der in letzten zeiten aus hochstem betrug und grymmigen zorn des teufels, der das letzst gericht förcht und mit verhinderung unser seligkeit gern lenger auffziehen wolt, in die welt eingefurt und auffgericht solt wer­ den.“167

Damit ist Osianders Entwicklungsgeschichte des Antichrist zugleich als diejeni­ ge des Teufels zu verstehen, der mittels des Antichrist seinen verderblichen Wil­ len ins Werk setzt. Osiander entwirft dazu ein geschichtliches Entwicklungs­ modell des Antichrist als des Abgesandten des Teufels und zeichnet dabei den Prozess seines Erstarkens in verschiedenen Etappen nach. Der Beginn der Aktivität des Antichrist sei zu Lebzeiten der Apostel anzuset­ zen: „[…] die apostel all sagen und clagen, der anthicrist hab sich zu iren zeiten schon geregt.“168 So sehe bereits Paulus die Sammlung der Bösen sich vollzie­ hen, die das Wort Gottes missbrauchten und zu deren Haupt sich der Antichrist aufschwang. Doch noch war der Antichrist schwach und wurde von der weltli­ chen Gewalt in Form des Kaisertums in den Schranken gehalten.169 Diese Ein­ dämmung seiner Macht konnte der Antichrist erst durchbrechen, als sich sein Verhältnis zum römischen Kaisertum änderte. Der grundlegende Wandel dieses Verhältnisses, geradezu dessen Umkehrung, vollzieht sich für Osiander in der Regierungszeit Konstantins des Großen (306– 337). Zuvor hatte die unmittelbare Präsenz der römischen Kaiser in der Nähe des Papstes den Antichrist aufgehalten; als Konstantin seine Residenz jedoch 166 

Osiander: Ratschlag 321,13–15. Osiander: Ratschlag 352,9–14. 168  Osiander: Ratschlag 363,10 f. 169  „Das ists, das sant Paulus sagt: ‚Er wurkt schon ytzund das gehaymnus der boßheit‘ [2 Thess 2,7], als wolt er sagen: Er reget sich schon wie ein kynd, das in muterleyb ist leben­ dig worden. Dann es warn schon ir vil, die unter dem deckmantel des wort Gottes nur ge­ walt, er und faule tag suchten. Dieselben fauln, bösen glyder haben sich zusammengethun, sein ein leyb und hauff worden und hernach ein haubt gewonnen nach all irem lust. Dorumb spricht Paulus weiter, er werd zu seiner zeit offenbar werden, allein, der es ytzo auff helt, der muß hinweggethan werden [2 Thess 2,8.7b]. Dieses worts verstand ist auch biß zu uns von denen, die es aus seinem mund gehört haben, schrifftlich kommen, nemlich, er hab vom kayser zu Rom geredet.“ (Osiander: Ratschlag 359,14–23). 167 

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III. Vergangenheitsdeutung

nach Byzanz verlegte, war der Weg für den Antichrist frei – zumal ihm durch die angebliche Konstantinische Schenkung ein eigenes Herrschaftsgebiet zuge­ sprochen war: „Dann weyl der kayser zu Rom hof hielte, konnt sich der babst vor im nicht auffrichten, sunder must warten, biß derselbig hinweggethan wurd. Daß geschach, da der groß kay­ ser Constantinus ein christ wurd, vermaint, das reich ins Kriechenland widerzupringen, verließ Rom, zog gen Byzantz, bauets und nennets das neu Rom und nach seinem na­ men Constantinopel. Aber es felet im, sein anschlag gieng nicht fur sich, sunder da must sant Paulus weyssagung erfullt werden. Da der kayser hinweg sich gethan het, tichtet der babst und gab fur, wie im Constantinus das reich und alle obrigkeit geschenckt und des brief und sigel gegeben het, mischet darmit ein, wie im solche obrigkeit von sant Peters wegen nach gotlichem rechten gepuret, welches briefs copey in alle cristenheit ist aus­ gangen. Furwar ein gantz unmaisterliche lugen!“170

Dieser Vorgang leitete den grundlegenden Wendepunkt in der Entwicklungs­ geschichte des Antichrist ein: Nachdem er zuvor durch das geistliche Schwert des Wortes Gottes (Eph 6,17) geschwächt und verwundet war, wiedererstarkte er aufgrund der Fälschung der Konstantinischen Schenkung: Dem Papsttum als dem siebenten Haupt des Tieres aus dem Meer (Off b 13,3) verheilten die Wun­ den: „Das haupt, das vor mit Gottis wort todlich verwundt war, haylet wider von dieser lugen.“171 So war die Zeitspanne der Ohnmacht des Antichrist rela­ tiv kurz: „Dann mit Constantino ist er [der Antichrist] schon wieder geheilet worden.“172 Die zentrale Bedeutung der Konstantinischen Schenkung für die Machter­ greifung des Antichrist wird nochmals deutlich, wenn Osiander die Zahl des Tieres, 666 [Off b 13,18], auf Sylvester I. (314–335), welcher der vermeintliche Empfänger der Schenkung war, deutet und ihn damit als den Antichrist unter menschlichem Namen ausweist: Erst mit der gefälschten Konstantinischen Schenkung habe der Antichrist im Papsttum seine Macht erhalten: „Wann man nun den babst fraget: ‚Woher kombt dein gewalt und herlichait? Du hast in ye von sant Petro nicht ererbt, so hast du es auch nicht mit kriegsrechten gewunnen‘, so muß er nach seinem erdichten brieff und sigel sagen, es sey dem babst Silvester geschen­ ckt und ubergeben, von dem hab ers ererbt. Also nennet sich das thier mit einem men­ schennamen und bedeckt sich mit demselben.“173

Die Konstantinische Wende erweist ihren Umbruchscharakter für Osiander da­ mit vor allem im Hinblick auf die Machtergreifung des Antichrist: Hier sieht er die historische Bruchstelle, von der aus der Aufstieg von Teufel und Antichrist seinen Lauf nahm. 170 

Osiander: Ratschlag 359,23–360,8. Osiander: Ratschlag 360,9 f. 172  Osiander: Ratschlag 364,3. 173  Osiander: Ratschlag 369,18–23. 171 

2. Fallbeispiele

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Von diesem Einfallstor aus kam es zu einer rasanten Machtausdehnung: Nachdem der Antichrist im Papsttum an die Spitze der kirchlichen Hierarchie gelangt war, zog er in der Folgezeit auch die weltlichen Ehren an sich: „Dann Constantinus solt im erstlich die obrigkeit uber die vier furnemsten stul, nemlich Alexandria, Anthiochia, Constantinopel und Jerusalem gegeben haben, darnach auch uber alle kirchen der gantzen welt, uber alle priester zum fursten gesetzt, das gantz reich und allen zird kayserlicher mayestat ubergeben und geschenckt, zuletzt im auch an die stegraif gegriffen [den Steigbügel gehalten] haben. Und da ist der anthicrist offenbar worden, da der kayser hinweg kam und die ganz welt sich verwundert ab dem thier, des wunden gehaylet ward.“174

Diese Entwicklung war unter schönem Schein verborgen und durch das Blend­ werk des Teufels den Gläubigen unkenntlich gemacht. So schien der Aufstieg des Papsttums eine von Gott begünstigte Entwicklung zu sein – in Wahrheit aber habe der Teufel dem Papsttum seine äußere Herrlichkeit verschafft: „Und hat yederman geglaubt, es sey von Got, er hab sant Peter also mit den schlusseln zum herrn wollen setzen [Mt 16,19], wie es dann geschinen hat. Aber in der warheit ist es Gottes maynung nicht gewest, sunder der trach, der teuffel, hat ime die herligkeit vermittels seiner lugen geben. Dorumb alle, die da glauben, das babstumb aus Got sey, wie es ytzo ist, beten den trachen an fur Got, wie Johannes saget [Off b 13,4].“175

Nach der Phase der Machtergreifung folgte die des Herrschaftsausbaus, indem der Antichrist im Papsttum das Wort Gottes völlig verdreht und die Menschen durch den Glanz seiner Herrschaft betört.176 Diesen Herrschaftsausbau betrieb der Antichrist mit Hilfe des zweiten Tieres (Off b 13,11), welches Osiander auf das Mönchtum deutet. Im Auftrag des ersten Tieres, des Papst-Antichrist, ver­ darben die Mönche unter frommem Schein das Wort Gottes mit dem Teufels­ werk antiker Philosophie und mehrten den Ruhm des Papsttums.177 Zudem 174 

Osiander: Ratschlag 360,10–17. Osiander: Ratschlag 360,18–23. 176  „Und da gets dann daher, das der babst nicht mer Gottes wort predigt und predigen lest – dann es kan Gottes wort und sein reich [sc. des Papstes] nit beyeinander steen -, sunder thut sein mund auf und redet grosse ding wider Got den hern, verpeut, was Got erlaubt hat, und erlaubt, was Got verpoten hat, hayst ketzerey, das Cristus selbs gelert und gethan hat. Und solch sein furnemen get im vonstat. Dann er ist ‚mechtig in geperden‘, blendet die ain­ feltigen leut mit dem grossen pracht seiner ceremonien und concilien und ist ‚verstendig in furschlegen‘, wie Daniel im 8. [Dan 8,23] sagt. Dorumb ist er auch herr uber alle volcker und zungen worden.“ (Osiander: Ratschlag 361,9–17). 177  „Da kombt dann das ander thier, das horner hat wie das lemlein [Off b 13,11], das ist, es ficht eben wie Cristus mit predigen und mit gutem auswendigem schein, aber es redet wie der trach. Das ist ein solcher hauff, das einer ein ayd mocht schweren, es wern rechte, from­ me, cristliche leerer und dem lämlin Cristo gantz gleich. Aber sy reden nicht Gots wort, sunder haydnische weyßheit, aus dem Arißtotele gesogen; das ist dann das recht teuffelswort. Und dieser hauff oder das thier thut ‚alle macht des ersten thiers‘, des babsts, ‚vor im‘ [Off b 13,12]. Der babst sitzt still, hat gute tag, lest sein munich machen und anrichten, was anzu­ richten ist. Die richten dann an, das die leut auff erden den babst anbeten und fur ein irdi­ schen Got halten […].“ (Osiander: Ratschlag 361,18–27). 175 

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III. Vergangenheitsdeutung

ließen sie dem Antichrist das redende Bild machen, welches auf das geistliche Recht und dessen verbreitete Verlesung gedeutet wird.178 Auf der Grundlage des geistlichen Rechts richteten dann vornehmlich die Bettelorden die Ketzer­ verfolgungen an, mit denen sie die Heiligen auszurotten intendierten.179 Mit der gewaltsamen Verfolgung der Auserwählten Gottes erreichte die Machtent­ faltung des Antichrist ihren Höhepunkt. Nach dieser geschichtlichen Darstellung des Aufstiegs des Antichrist stellt Osiander die eindringliche Frage nach dessen Fall: „Wie lang soll es aber wern? Wann wirts ein ende nemen?“180 Zur Beantwortung dieser Frage versucht Osi­ ander im Folgenden, das Weltende und damit die Vernichtung von Teufel und Antichrist genau zu berechnen. In allegorischer Auslegung von Dan 7,25 und Off b 13,5 rechnet Osiander mit einer Gesamtdauer der Entwicklungsgeschich­ te des Antichrist von 1277 Jahren.181 Mit der Feststellung dieser Gesamtdauer wird die Frage nach dem genauen Beginn des antichristlichen Regiments virulent. Wichtiger Parameter für die Bestimmung des Anfangspunktes ist für Osiander zunächst der Residenzwech­ sel Konstantins im Jahr 328.182 Da der Residenzwechsel jedoch bereits den Zeit­ punkt der Heilung und der Machtergreifung des Antichrist bezeichne, müsse zudem die Zeit, in der sich der Antichrist sich „vor Constantino auffgericht hat“, hinzu gerechnet werden, nämlich ca. 20–30 Jahre.183 Zudem addiert Osi­ ander die Zeitspanne zurück bis zum Papst Zephyrinus, die er mit 60 Jahren veranschlagt.184 Wenn man nun noch die Verheißung der Verkürzung der Tage 178  „Weiter richtet das thier an, das man dem babst ein pild soll machen [Off b 13,14]. Das muß man auch nach der art Cristi, unsers herrn, versteen. Christus ist ein ebenpild des got­ lichen wesens und ist das wort des Vaters. Also nennet Johannes hie des anthicrists wort auch ein pild, und das thier heist ein pild machen, das ist, des babsts wort in ein puch verfassen, welches sein geistlich recht ist. Und da gluckts auch, das bild wird redet [redend; Off b 13,15], das sit: man liset es uberal und nymbts an, horet in fleissig zu und lebet darnach.“ (Osiander: Ratschlag 362,4–10). 179  „Und wer das bild nicht anbetet, das ist, alvil von des babst wort helt als von Gottes wort, den erwurgt man […]. Und darzu dienet das thier, die petelmunch und ketzermeister. […]. Da verstet man nun, was sy mainen, da sie sagen: ‚Er wirt wider Gottes heyligen fechten und inen obliegen‘. Dann alle, so diesen greuel nicht anbeten, werden fur ketzer gehalten und erwurgt.“ (Osiander: Ratschlag 362,10–18). 180  Osiander: Ratschlag 363,6. 181 Vgl. Osiander: Ratschlag 363,6–26. 182  Osiander bezieht sich auf den Bau der Stadtmauer in Konstantinopel, von ihm fälsch­ licherweise mit 338 angegeben, doch ist dies offenbar lediglich ein Schreibfehler, da die nachfolgende Rechnung von 328 ausgeht: „So ist kayser Constantinus ongeverlich bey 338 jarn nach Crist geburt von Rom gen Constantinopel gezogen. Sein seidher verloffen 1200 jar viere minder.“ (Osiander: Ratschlag 363,26–364,1). 183  „Darzu thue man die zeit, die er sich vor Constantino auffgericht hat und mit dem schwert des worts geschlagen ist worden. Dann mit Constantino ist er schon wider geheilet worden. Das ist auffs wenigst 20 oder 30 jar.“ (Osiander: Ratschlag 364,1–4). 184  Eigentlich 198.199–217. Vielleicht beruht die Zeitangabe Osianders darauf, dass er in Eusebs Chronik, die er als Quelle vorliegen hatte, die Angabe der 245. Olympiade verse­

2. Fallbeispiele

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um der Seeligkeit der Auserwählten willen berücksichtige (Mt 24,22), sei das Ergebnis der Rechnung völlig eindeutig: Die endzeitliche Vernichtung des An­ tichrist und die Vollendung der gesamten Heilsgeschichte stehe kurz bevor. Dazu stimme das von der Schrift angekündigte Ablaufszenario, in dem die Pre­ digt des Evangeliums sich vor dem Ende erneuere (Mt 24,14), was in der refor­ matorischen Gegenwart unzweifelhaft geschehe: „Wann man nun auch bedenckt, das der Herr sagt: ‚Wann die tag nicht verkurtzt wer­ den, so wurd kein mensch selig‘ [Mt 24,22] – das ist, die warheit und der glaub wurden gar vertilgt, darumb ist die zeit verkurtzt, nicht das sein zeit nicht erfult solt werden, dann sein regiment muß 1277 jar erraichen, es wird aber mit dem verkurtzt, das die warheit wider an tag kombt und die verfurung entdeckt wirt und die leut wider auff den rechten glauben gefurt werden, ee dann der babst gar undergeet –, so kan man leichtlich abnemen, das eben ytzo die recht zeit ist, in der inen ‚der herr Jesus erwurgen wirt mit dem gaist seines munds‘ [2 Thess 2,8], das ist mit der crafft seines worts. Dann es sagt der Herr Math. am 24 [Mt 24,14], es werd das euangelion in aller welt gepredigt zum gezeugnus uber sy und dann werde das ende komen.“185

Hier artikuliert sich eine ganz konkrete Endzeiterwartung: Das Ereignis der Vernichtung des Antichrist wird exakt berechnet und vollziehe sich in der un­ mittelbaren Gegenwart, „eben ytzo“, genau jetzt! Dieser heilsgeschichtliche Charakter der Gegenwart als unmittelbarer Endzeit erweist sich für Osiander nur auf der Basis seiner Vergangenheitsdeutung. Nur wenn man die Anfänge des antichristlichen Regiments datieren und einordnen könne, ergebe sich die Gewissheit, in der letzten Zeit zu leben. An dieser Stelle wird der untrennbare Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsverständnis be­ sonders deutlich. Zusammenfassend erstellt Osiander für die Entwicklungsgeschichte des An­ tichrist ein Vier-Phasen-Modell, die vier „Alter“ des Antichrist, welche die verschiedenen Stadien seiner Machtentfaltung beschreiben. Das erste Alter kennzeichnet die Zeitspanne von den Anfängen des Anti­ christ bis zu seiner Machtergreifung und währt von der Apostelzeit bis zur Re­ gierungszeit Konstantins: „Und das ist das erst alter des anthicrists, daryn er gewachsen und zum herrn worden ist. Hat sich zur apostel zeit angefangen und geweret, biß er den kayser under sich hat pracht.“186 Das zweite Alter bezeichnet die Phase der Herrschaftssicherung und des ex­ pansiven Ausbaus seiner Macht: Um dem Kaiser keine Gelegenheit zu geben, seine Macht über Rom und den Papst-Antichrist zurück zu gewinnen, zettelte der Antichrist fortwährend Kriege an:

hentlich als Jahreszahl las, vgl. Wünsch / Funk als Bearbeiter der Textausgabe, Ratschlag 364, Anm.  319. 185  Osiander: Ratschlag 364,10–20. 186  Osiander: Ratschlag 367,27–29.

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III. Vergangenheitsdeutung

„Dann da er [der Antichrist] nun war mechtig durch sein betrug worden, besorgt er, wann man des gewar wurd, er wurd kein bestand haben, richtet krieg an, wo er mocht, auff das der kayser nicht mussig wurd, Rom wider under sich zu pringen.“187

In Auslegung von Mt 24,6–8 ist Osiander dies die Phase der Kriege und des Kriegsgeschreis, die der Vernichtung des Antichrists vorausgeht, wobei die Kriege des Papsttums keine gewöhnlichen Kriege seien, sondern ausgerufen waren zur gewaltsamen Bekehrung von Heiden und Ketzern.188 Die Phase des gewaltsamen Herrschaftsausbaus kennzeichnet daher das zweite Entwicklungs­ stadium des Antichrist: „Und das ist das ander alter des anthicrists, doryn er mutwillig gewest ist.“189 Das dritte Alter des Antichrist bezeichnet die Kulminationsphase seiner Machtentfaltung und reicht bis in die reformatorische Gegenwart: Kriterium ist die Unterdrückung jedweden Widerspruchs, wobei Osiander vor allem an die meist von den Bettelorden exekutierte Inquisition denkt:190 „Und das ist das dritt alter des anthicrists, darin sein tyranney am allercrefftigsten ist gewest. Dann da hat er alle die erwurgt und verprennt, die nur etwas wider in geredt haben. Und das hat gewert biß hieher.“191 Das vierte Alter bezeichnet die Phase der Schwächung und der letztendlichen Vernichtung des Antichrist, welche in der reformatorischen Gegenwart bereits begonnen habe: „Und das ist unwidersprechlich schon angefangen und ist das letst alter, doryn der anthicrist wider schwach wirt. Dann der herr Cristus wirt in, wie Paulus sagt, mit dem gaist seines munds, das ist durch die predig des heyligen euangelion, wider todten und austillgen [2 Thess 2,8].“192

Das geschichtliche Entwicklungsmodell der vier Alter des Antichrist beschreibt die prozesshafte Verwirklichung der antichristlichen Erfolgsgeschichte, welche die nachapostolische Vergangenheit bestimmt habe. Osianders Vergangenheits­ betrachtung führt damit zunächst den Nachweis, dass der von der Schrift ange­ kündigte Abfall vom Evangelium und die Hinwendung zu Teufel und Anti­ christ längst eingetreten und alle Weissagungen über die Machtergreifung des 187 

Osiander: Ratschlag 368,13–16. sagt hie [Mt 24,6–8] nichts von den kriegen, da ein hayd wider den andern umb zeitlich gut, gewalt und ere und was dergleichenist ein krieg furnymbt; dann dasselb ist nicht besonders noch erschrockenlichs, sunder vor viel tausent jarn im prauch gewest. Aber das ist ein erschrockenlich und unchristlich ding, das ein christ wider den andern fechten soll, und noch vil erschrocklicher und unchristlicher, das man wider die unglaubigen der maynung fechten und das schwert furen soll, als wolt man darmit Gottes wort ausbraiten und sie zum glauben pringen, welches der babst beides angericht und verursacht hat.“ (Osiander: Ratschlag 368,5–13). 189  Osiander: Ratschlag 368,22 f.. 190 Vgl. Osiander: Ratschlag 362,10–18. 191  Osiander: Ratschlag 369,3–5. 192  Osiander: Ratschlag 369,8–11. 188  „Cristus

2. Fallbeispiele

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Teufels und seiner Kreatur, des Antichrist, erfüllt seien. Osiander glaubt, die Gesamtdauer des antichristlichen Regiments berechnen und mit der Datierung des Anfangs auch das Ende genau bestimmen zu können. Seine Berechnung weist in die unmittelbare Gegenwart als der Zeit, in der der Antichrist vernich­ tet werde. Der Antichrist werde nicht erst in unbestimmter Zukunft auftreten, sondern er sei bereits seit Jahrhunderten in der Welt aktiv und habe seine Macht über verschiedene geschichtliche Stationen stetig mehren können. Erst in der reformatorischen Gegenwart habe die Schwächung des Antichrist begonnen und seine letztgültige Vernichtung stehe unmittelbar bevor. Dieser endzeitliche Charakter der Gegenwart als Zeit der Vernichtung des Antichrist erschließt sich jedoch erst auf der Basis der Vergangenheitsdeutung als Zeit unter dem Antichrist. Daher müsse das Wirken des Antichrist in der Geschichte nachgezeichnet und sein Regiment vom Anfang bis Ende verfolgt werden: Nur wer den Antichrist bereits in der Vergangenheit erkennt, kann die Gegenwart als Endzeit qualifizieren – andernfalls verkenne man den heilsge­ schichtlichen Status der Gegenwart, wenn man den Antichrist in unbestimmter Zukunft erwarte und die Endzeit noch weit entfernt glaube: „Und der heylig Gaist, wann er in [den Antichrist] in der schrifft recht will entdecken, muß er allweg vom anfang der welt biß an das ende raichen, domit er zeit, stat und weyse volkomenlich anzeige. Dann man wurd in sonst nicht kennen, sunder allweg mainen, sein zukunft wer noch weyt darvon, wann gleich der jungst tag vor der thur were.“193

2.3  Pamphilus Gengenbach Pamphilus Gengenbach (um 1480–1524/25) war in Basel Drucker, Buchhänd­ ler und Dichter und kann als der erste deutschssprachige Dramatiker des 16. Jahrhunderts gelten.194 Neben politisch-moralischen Schriften verfasste er auch Lieder und Schauspiele und zeigt sich in seiner Kleruskritik als früher Anhänger der Reformation. Seine soziale und religiöse Lozierung ist damit in den Grund­ konturen bekannt; dennoch sind weder seine Teufelsvorstellung noch seine Vergangenheitsdeutung bislang unter eigener Fragestellung untersucht worden. In seiner Flugschrift „Der ewangelisch Burger“195 beschreibt Gengenbach den allmählichen Niedergang von Kirche und Frömmigkeit bis zur eigenen Gegenwart. Auch ihm gilt der Geschichtsverlauf als Verfallsgeschichte der sichtbaren Kirche und Erstarkung des Teufels. In den ersten Jahrhunderten sieht er die christliche Kirche noch intakt und die Frömmigkeit vorbildlich. Danach 193 

Osiander: Ratschlag 352,20–26. Zu Gengenbach siehe Jung: Art. „Gengenbach“ Sp.  673; Raillard: Gengenbach und die Reformation (1936). 195  Erstdruck 1523. Insgesamt erschienen bis 1524 drei Ausgaben in Basel, Augsburg und Zwickau, vgl. Köhler: Bibliographie: Nr.DB 1268–1270. 194 

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III. Vergangenheitsdeutung

jedoch habe der Teufel immer mehr Einfluss gewonnen und Kirche, Lehre und Frömmigkeit immer weiter pervertieren lassen bis zur grundlegenden Ver­ derbtheit in der reformatorischen Gegenwart. Der stete Machtausbau des Teu­ fels und die Kulmination der teuflischen Verblendung unter seinen Zeitgenos­ sen lässt Gengenbach sich in der „letsten zyt“196 wähnen. Diese sei an der eska­ lierenden Aktivität des Teufels zu erkennen, von welchem verheißen sei, dass ihm viele Menschen in der Endzeit zufallen: „Der geist der warheit sagt vnß offenbarlich, das in den letsten zyten werden ettliche von dem glouben abtraet­ ten vnd anhangen den irrigen geysteren vnd leren der tüfel, welche vnder ir glyßnery werden lügen für geben […].“197 Gengenbach betrachtet die Zeitspanne seit Beginn des kirchlichen Zerfalls als Anbruch der Endzeit, innerhalb derer die reformatorische Gegenwart den An­ fang vom Ende derselben darstelle, da der verheißene Siegeszug des Evangeli­ ums begonnen habe. Nachdem der christliche Glaube 600 Jahre in brüderlicher Liebe gewährt hatte,198 habe der Teufel ab dem 7. Jahrhundert unter gutem Schein den Glauben verdorben, indem er den Klerus die Deutungshoheit über den Glauben beanspruchen ließ und suggerierte, das gemeine Volk sei, um den Glauben recht zu fassen, auf die Auslegung des Klerus angewiesen.199 Der Kle­ rus habe sich zwischen die Beziehung von Gott und einfachem Gläubigen ge­ drängt, indem er die Schrift für den Gemeinen Mann als auslegungsbedürftig erklärte, obwohl sie jedem Geistbegabten hinreichend klar sei und solcher Aus­ legungen nicht bedürfe. Diese mit dem Mönchtum etablierte Intellektualisie­ rung des Glaubens wird als eine Erscheinungsform des überkommenen Gradu­ alismus mit dem Topos von der Suffizienz und Selbstverständlichkeit der Schrift verworfen.200 Seit die Gelehrten die Schrift unter ihre Deutungshoheit ge­ zwungen hätten, sei die Gottes- und Nächstenliebe signifikant zurückgegangen – für Gengenbach Beleg für den teuflischen Charakter dieses Vorgangs: „Mich nimpt wunder sind sy nachfolger Christi gewesen, das sy haben doerffen vber die wort Christi Jesu schriben, vnd sine wort glosieren nach irem tüfelschen beduncken, als ob die wort Christi Jesu nit krafft haetten der verstentlicheit eins jeden begerenden

196 

Gengenbach: Bürger 198,6 Gengenbach: Bürger 198,13–17. 198  „Vnd so ich betracht den anfang vnsers gloubens, kan ich nit finden das er gewert hab saechßhundert jar.“ (Gengenbach: Bürger 199,38 f.). 199  „Dann so bald der Tüfel marckt die bruederliche liebe die die Christen zueinander hatten, darzu die goettliche liebe vnd forcht so vff dz mol die Christen zu got dem herren hatten, sucht er ein tüfelsch mittel durch einen guten schein, vnd erwackt maenner, das wa­ ren die tüfelschen münch, welche do Christo sine wort verkarten in semlicher meinung dz dz gemein volck die leer Christi nit koent verston dann durch ir vßlegung.“ (Gengenbach: Bürger 199,40–46). 200  Vgl. zur reformatorischen Ablehnung des Gradualismus siehe Hamm: Reformation als normative Zentrierung 260. 197 

2. Fallbeispiele

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christen. Stond dann sine wort in der vßlegung der gelerten vnd naßwysen diser waelt, wie kumpt es dann das die liebe gots vnd des naechsten so fast abgenummen hat.“201

Christus habe sich vorzugsweise an den Gemeinen Mann gewendet und den Gelehrten seine Botschaft verborgen, was bereits die Berufung der Apostel be­ zeuge.202 Im Gegensatz zu den Aposteln seien Klerus und Konzilien nicht vom heiligen Geist geleitet, sondern betrieben die Verfälschung des Glaubens durch Einbringen von graduellen Unterschieden und Bürden für die einfachen Gläu­ bigen.203 Diese Entwicklung habe die tendenzielle Zurückdrängung der Schrift durch ein inflationäres theologisches Schrifttum zur Folge gehabt. Dem zunehmen­ den Auf kommen theologischer Schriften begegnet Gengenbach mit einem ra­ dikalen bibliozentrischen Reduktionismus: Die immer zahlreicheren Schrif­ tauslegungen und theologischen Lehren schmälerten die Bedeutung der Schrift selbst – doch enthalte letztere alles, was zur Erlangung der Seligkeit zu wissen notwendig sei. So leitet die ausufernde intellektualisierte Auslegungsgeschichte der Schrift den eigentlichen Verfall der Christenheit und die Geringschätzung der Schrift ein: „Darumb sag ich billich das die letsten zyt oder tag angefangen haben, vnd die Christlich kirch abgangen do die gschribenten sind vff gestan­ den […].“204 Gleichzeitig habe sich Eigennutz und -liebe des Klerus stetig ge­ steigert; für Gengenbach ebenfalls ein Kriterium für die Endzeit,205 zumal christliche Tugenden bei Juden, Türken und Heiden häufiger zu finden seien als bei den Geistlichen.206 Als ein weiteres wichtiges Moment des Aufstiegs des Teufels benennt Gen­ genbach den entarteten Heiligenkult. Der Teufel habe erreicht, dass an die Stel­ le Christi die Heiligen als Gandenmittler getreten seien:

201 

Gengenbach: Bürger 200,73–80. „Ich sag dir lob vnd danck vatter vnd herr hymmels vnd der erden, das du solichs den wysen vnd verstendigen verborgen hast, vnd hast es den einfeltigen vnd diemuetigen geof­ fenbart. Das ist erfült worden in den helgen aposteln, dise hand durch den helgen geist vnd die wort Christi den glouben gemert, die anderen hand durch ir waeltweißheit den glouben zerstoert.“ (Gengenbach: Bürger 200,81–87). 203  „Nun saehen wie verglicht sich der heilig gesit der den helgen apostlen gesendt ist, vnd der den Concilia gesandt ist. Der erst lert den glouben, die liebe, hoffnung vnd gedult. Der ander lert die hoffart, nyd vnd gytigkeit, vnd ist dar auß entsprungen, daß bißhar ein jedli­ cher hoffertiger münch hat ein sundern glouben wellen machen vnd besundere bürdin vffle­ gen den einfeltigen […].“ (Gengenbach: Bürger 201,125–131). 204  Gengenbach: Bürger 200,88–90. 205  „Es werden menschen kummen yn den letsten tagen die sich selber werdenn lieb ha­ ben das sehen ir nun wol, waer hat sich selber lieber dann die jetzund wellend deß gesats geruempt werden, als alle ordens leüt. Welche betrachten jetzund me den eygenen nutz dann die vnnützen münch vnd nunnen.“ (Gengenbach: Büerger 201,113–118). 206  „Jo vyl me barmhaertzigkeit ist jetzund in Juden Türcken vnd Heiden gegen irem naechsten, dann vnder den geistlichen.“ (Gengenbach: Bürger 201,120–122). 202 

100

III. Vergangenheitsdeutung

„ZV dem anderen bracht der fiend zu wegen die abgoettery der helgen tempel, auß den so ein grosser mißbrauch entstund, das dz gemein volck gantz vnd gar abweich von der liebe, hoffnung, trost vnd zusagung Jesu Christi, vnd all ir zuuersicht satzten in die, die do durch iren glouben, liebe vnd zuuersicht die sy hatten zu Christo Jesu, erlangten die ewige froeid vnd saeligkeit.“207

So habe der Teufel auch hier die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung unter­ brochen, wenn die Gläubigen auf die erhoffte Fürsprache der Heiligen mehr vertrauten als auf Gottes Barmherzigkeit und Christus als den einzigen Mittler verkennen und durch Menschen ersetzen.208 Der historische Wendepunkt im 7. Jahrhundert manifestiert sich für Gengen­ bach zudem in der zunehmenden Prachtentfaltung der Kirche, die ihren ur­ sprünglichen karitativen Auftrag vernachlässige. Den genauen Zeitpunkt, an dem die Kirche nicht mehr den Bedürftigen diente, sondern für den eigenen Reichtum arbeitete, markiert für Gengenbach das Pontifikat des Sabinianus (604–606). Hier liege auch der Beginn der Zwietracht und der Separierungen innerhalb der Christenheit: „Dyser [Sabinianus] ist der erst gewaesen der die schaetz der kirchen, die zu vßteylung der armen gaeben waren, der kilcken zu aygnet. Do hat angefangen die tuefelsch hoffart, nyd vnd gytigkeit der kirchen vnd besunder der cloesteren. Do stunden vff die cloester vnnd fiengen sich an die christnen menschen teylen, vnd nanpten sich eins theils Augus­ tiner, Benedictiner, die anderen Bernhardiner, Petriner vnd Pauliner vnd deren on zal […].“209

Damit wird das frühe 7. Jahrhundert zur Zeit des Abfalls von Gott210 und zum Beginn der Endzeit, innerhalb derer der Teufel immer mächtiger wurde – ein geschichtlicher Prozess, der nunmehr sein Ende in der Vernichtung des Teufels finden werde. Gengenbachs Vergangenheitsbetrachtung dient der Vergewisse­ rung, dass die Endzeit bereits vor Jahrhunderten begonnen und die von der Schrift vorhergesagte Hinwendung zum Teufel längst stattgefunden habe. Vor dem Hintergrund dieser Geschichtsdeutung wird Gengenbach die Charakteris­ tik der eigenen Zeit als Beendigung der Herrschaft des Teufels zur festen Ge­ wissheit: Angesichts des

207 

Gengenbach: Bürger 202,158–164. das hat gewaert biß vff disen tag dz vnser gloub nüt anders ist gewaesen, dann wir muessen durch die fürbit der helgen erlangen die froeid der ewigen saeligkeit. So doch sanct Paulus schribt in siner ersten Epistel zu Timotheo im anderen capitel [1 Tim 2,5]. Das do Christus allein sy ein mitler zwischen den menschen vnd got sinem himmelschen vatter […]“ (Gengenbach: Bürger 202,164–170). 209  Gengenbach: Bürger 205,290–206,297. 210  Der Niedergang der Christenheit wird in Gegensatzpaaren beschrieben: „Do wurden die helgen geert vnd got endert. Do stunden vff die gschribenten. Do kam haerfür das menschlich gesatz vnnd ging hindersich das goetlich gesatz.“ (Gengenbach: Bürger 206,315–318). 208  „Vnd

2. Fallbeispiele

101

„[…] abgang[s] der ewangelischen leer vnd gebotten, vnd auffgang der menschlichen satzungen wider die leer Christi, so sind nach meim beduncken die zyt oder tag von denen der geyst sagt jetzund gar nach erfült. Vrsach halber, dz das liecht der ewangeli­ schen warheit wider haer für tringt, vnd die finsternüß der irrigen geister vnd tüfelschen lerer wider zu ruck getriben wirt.“211

2.4  Heinrich von Kettenbach Über Heinrich von Kettenbach ist wenig bekannt und die Literatur äußerst spärlich.212 Seine Teufelsvorstellung oder seine Vergangenheitsbetrachtung ist bisher von der Forschung überhaupt noch nicht untersucht worden. Geburt und Tod (wahrscheinlich Ende 1524) liegen weitgehend im Dunkeln; auch seine adelige Abstammung kann nicht aufgeschlüsselt werden. Sicher aber ist, dass er zwischen 1522 und 1525213 als erfolgreicher Flugschriftenautor in Erscheinung tritt. Aus seinen – gemessen an der relativ kurzen Schaffensperiode – erstaunlich zahlreichen Schriften lässt sich erschließen, dass er 1521 in das Franziskanerkloster in Ulm eingetreten ist, von wo er Ende 1522 floh und sich in der Folgezeit der literarischen Unterstützung Franz von Sickingens widmete. Bereits zu Beginn seiner Publikationstätigkeit steht er lutherischen Ideen nahe und preist ihn als entscheidenden Propheten. Heinrich von Kettenbach betrachtet die Kirchengeschichte als Erfolgsge­ schichte des Teufels, der in verschiedenen Stadien seine Macht innerhalb der sichtbaren Kirche beständig erweitert habe bis zur fast völligen Entstellung der zeitgenössischen Kirche als Gegenkirche des Teufels.214 Auch wenn die wahre Kirche sich nie vom Teufel habe überwältigen lassen, so sei die Papstkirche in einem geschichtlichen Prozess zur Heimstätte des Teufels degeneriert.215 Kettenbachs Vergangenheitsbetrachtung ist von der grundsätzlichen Kontras­ tierung der Alten Kirche mit der reformatorischen Gegenwart geprägt. In der Verfolgungssituation der ersten nachchristlichen Jahrhunderte sei die Kirche 211 

Gegenbach: Bürger 198,23–29. Wulfert: Art. „Kettenbach“ Sp.  1425–1427; Rasch: Art. „Kettenbach“ Sp.  942. Kettenbachs Teufelsvorstellung bzw. seine Vergangenheitsbetrachtung ist bisher von der For­ schung überhaupt noch nicht untersucht worden. 213  Womöglich handelt es sich bei der 1525 erschienenen Flugschrift um einen Nachdruck einer älteren Predigt, da aus dem Jahr 1524 keine Flugschrift von Kettenbach bekannt ist und daher vermutet wurde, dass er bereits 1524 verstorben sei (vgl. Wulfert: Art. „Kettenbach“ Sp.  1426). 214  Diese Gegenkirche regiere der Teufel unter christlichem Schein: „noch woellen vns die synagogen satane da mit treyben in die hell vnd in den himel vnd in wellichen winckel sy woellen. Vnd im grund ist es nichts anders dann ir aigen gut geduncken, ir aigen alfantz. Wer jm zuhoeret vnd annympt, der tantzet nach des teüfels saytenspil. Jtem es ist ain grosse hoffart Luciferi, das sy jnen den namen der hailigen Christilichen kirchen zuschreiben […].“ (Kettenbach: Kirche 95,11–17). 215 Vgl. dazu grundsätzlich Kettenbach: Kirche 80 ff.; vgl. auch Kettenbach: Küchenprediger 40,3–13. 212 Vgl.

102

III. Vergangenheitsdeutung

noch von der Wahrheit des Evangeliums bestimmt gewesen, weshalb diese Zeit für Kettenbach die reinste Phase der Kirchengeschichte war – im polemisch stilisierten Gegensatz zu dem Urteil der Altgläubigen, welche die Zeit der Ver­ folgungen als „vngelücklich zeit“ ansähen.216 Auch zu Zeiten Augustinus’ sei der Einfluss des Teufels in der Kirche noch gering gewesen – im Unterschied zur reformatorischen Gegenwart, in der die Kirche durch teuflische Gesetzes­ mentalität mehr verdorben sei als es die Synagoge jemals war.217 Diese Ver­ derbtheit habe sich geschichtlich entwickelt, weshalb Kettenbach die histori­ schen Wurzeln dieser zeitgenössischen Gegenkirche des Teufels anzeigen will. Dabei wendet auch er sich gegen das Traditionsargument der Altgläubigen und die von ihnen vorgenommene Verdrehung von Alt und Neu. Der Vorwurf, Luther bringe einen neuen Glauben hervor, wird umgedreht: Luthers Lehre sei wahrhaft apostolisch, das Papsttum dagegen sei von dieser Lehre abgewichen und habe Neues errichtet.218 Das päpstliche Regiment habe das ursprüngliche Evangelium durch menschliche Zusätze dermaßen verfälscht, dass es den alt­ gläubigen Christen so fremd sei wie den Heiden, die zum ersten Mal davon hören.219 216  „Das wayß ich wol, das vnser erdtrich so vermaledeyet ist, das Euangelisch warhait nicht auffgeet, nit frucht bringt, es wirtt dann besprenngt mit marterer blut, wie in dem anfanng der christlichen kirchen, vnd dann stet es wol. Aber die zarten papisten meinen, das sey gantz ein vngelücklich zeit, sye warten allain auff eer vnd leibs lust.“ (Kettenbach: Küchenprediger 37,26–38,3). 217  „Zu seiner [Augustinus] zeit, da noch nit waren die boeß geistliche recht vnd teüfels gesetz. was wurd er yetzund sagen zu vnser zeit, so die kyrch christi mer beschwert ist mit menschen geßetzen dann die synagoga der juden ye geweßt ist […].“ (Kettenbach: Fasten 16,9–13). 218  Kettenbach nimmt zur der Klage Stellung, „der Lutther breng herfür ein new leer vnnd ein newen glawben. darumb vil einfeltigen sprechen: Ich wil blyben by dem alten gla­ wben vnnd myner vorfarn, so sy doch nit wissen den altenn, auch nit den newen glawben. Sie wissen nit den altten glawben, den Christus vnnd seyne Junger geleeret habenn, sy wis­ senn auch nit den newen glawben, den vnns die Bebst, prelaten, hochschuln, Platner, mit hilff Thome, Schoti vnd narren stultilis erdacht vnnd fürlegt haben, dardurch wir Christi verleugnet, meer Heydnisch dann Christlich syn. […] Darumb merck, O armer ley: Lutther bringt vnns wider herfür die lautter euangelich warheyt, darumb heyßt luter, vnnd prediget vns den rechten alten aposteln vnnd Christlichen glawben, in der Bybel vnnd in dem Euan­ gelio beschriben, aber lang zyt hat man vns ein pfeffischen vnd Bebstlichen glauben gepredi­ get, der eben ist Machumets glauben von den menschen erdacht.“ (Kettenbach: Ein neu Apologia 167,13–168,6.) 219 „Altmueterlein. Ach lieber bruder Hainrich, jr veracht die alten lerer vnd halt die neuwen, das gefelt mir nit. Bruder Hainrich. Das ist nit war, mit vrlaub! […] Die papisten verkeren all ding nach jrer art, sy hayssenn Thomam, Scotum, gaistlich recht etc. Die alten leerer, lugen, als N. die lerer, die hosen schulen vnd boeß gaistlich recht seind fast in vyer­ hundert jarn auff kommen vnd seind new leerer, erdacht fanntasey, aber das Euangelium vnd hailig schrifft ist vorhinne über tausent jar geweßt. dabey bleib ich, das ist die recht alt leer christi vnd seiner apposteln. so halt jr papisten sollichs für new leer, dann jr habt nichtt dauon gehoert, euch ist es new, als yetzund den in kalikut etc.“ (Kettenbach: Altmütterlein 69,5–18).

2. Fallbeispiele

103

Bei der historischen Konkretisierung des Abfalls bleibt Kettenbach recht vage und macht unterschiedliche Angaben über die Zeitspanne. Generell verknüpft auch er den Prozess des Niedergangs der Christenheit eng mit der Geschichte des Papsttums. Dieses habe seit nunmehr über achthundert Jahren die wahren Christen verfolgt und getötet.220 Im Mittelpunkt von Kettenbachs Geschichts­ betrachtungen steht jedoch die Zeit, in der das antichristliche Papsttum sich die weltliche Gewalt und das Kaisertum Untertan gemacht habe. Dieser Vorgang bezeichnete ein neues Stadium in der Entwicklungsgeschichte von Teufel und Antichrist: Erst hier habe der Teufel durch den Antichrist seine Macht voll ent­ faltet und konnte fortan ungehindert seine Herrschaft ausbauen. Kettenbach denkt wohl an den Investiturstreit im 11. Jahrhundert, wenn er betont, das vorher der Kaiser Päpste und Bischöfe eingesetzt habe: „VJl harren vnnd wartten vff den Enchrist, so doch syn reich gestanden ist vil hundert jar vnd krefftlich angefangen bey dem ersten Babst, der vber einem Roemischen keyser wolt syn, vnd doch ein Roemischer keyser langzeit Bebst vnd Bischoffe het auffgesetzt, abgesetzt, confirmiret oder infirmiret, darnach er sich hyeltte. do stunde es noch wol, do waren geleert vnd fromm priester vnd bischoffe, do hett ein Keyser gelt vnd gut, do het der Adel sold vom keyser vnd seinen fürsten. Syder der zyt, das der Babst rych ist worden, synd Keyser, künig, Hern, fürsten vnd beuor der adel verdorben […]. Der Babst vnnd syn buben seind allein rych, haben alles gelt vnnd gutt an sich gerissen, mit gewalt, falscheit vnd lugen, hat dem keyser syn hauptstat Rhom gestoln […].“221

Mit der Entmachtung des Kaisertums sei es zu einer Umkehrung der Herr­ schaftsverhältnisse gekommen; Papsttum und Klerus haben sich unrechtmäßig bereichert und sich Kaisertum und Adel untertan gemacht.222 Mit der Subordi­ nation des Kaisertums sei nicht nur die Kirche, sondern auch das weltliche Herrschertum verdorben. Auch an anderer Stelle bekräftigt Kettenbach seine Auffassung, dass das 11. Jahrhundert die Wendephase bezeichne, in der der Teufel seinen nachhaltigen Sieg errungen habe. Der Antichrist herrsche bereits seit fünf hundert Jahren: „Wir thorechten menschen warten auff den Entchrist, vnd hat seyn reich bey fünff hun­ dert iar in krafft gewert, langst daruor angefangen, aber der letst Enntchrist ist noch nyt kommen, den werden die Juden mit vns annemenn, als ich glaub.“223

220  „Es ist gerechent worden, das vmb der Bepst hoffart vnd mutwillen vber xij hundert­ mal tausent Christenn seyndt ertoedt wordenn in viij hundert jaren.“ (Kettenbach: Vergleichung 143,11–13) 221  Kettenbach: Vergleichung 131,1–14. 222  Der Klerus habe sich auf Kosten des Adels der weltlichen Güter bedient: „Die boes­ geistlichen besitzen all ding, sy solten diener vnd bettler syn, so seynd sy ewer [des Adels] herrn worden.“ (Kettenbach: Vergleichung 146,15 f.). 223  Kettenbach: Küchenprediger 38,14–18.

104

III. Vergangenheitsdeutung

Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen im Hinblick auf Kettenbachs Antichristvorstellung,224 zum anderen im Hinblick auf seine Vorstellungen von der Prozesshaftigkeit des Erstarkens von Teufel und Anti­ christ: Obschon bereits zuvor in der Welt aktiv, habe sich der Antichrist erst in den vergangenen fünf Jahrhunderten sein mächtiges Reich erschaffen. Im Ge­ gensatz zu den Altgläubigen, die für Kettenbach das Fortschreiten der Heilsge­ schichte ignorierten, da sie die Ankunft des Antichrist erst in unbestimmter Zukunft erwarteten, artikuliert sich hier ein neues Zeitbewusstsein, welches aus der Vergangenheitsbetrachtung die Gewissheit schöpfte, die Zeit der antichrist­ lichen Bedrohung sei bereits angebrochen und die Entscheidung im Kampf Gottes mit dem Teufel und dem letzten Antichrist folge in Kürze. Die Machtakkumulation des Teufels in der Vergangenheit habe sich seit der Umkehrung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Gewalt stetig ge­ steigert. Die römische Kirche sei vom Wort Gottes abgefallen und habe sich fortan anstatt auf Wort und Verdienst Christi auf die Menschenlehren des Papsttums gegründet. In der Folge habe der Teufel im 12. Jahrhundert mittels der Etablierung des kanonischen Rechts und dem Auf kommen der Scholastik seine Herrschaft abgesichert und ausgebaut.225 Die Geringschätzung der Schrift ist Kettenbach die Ursache für den Niedergang der Christenheit, welche vom Papsttum organisiert und vorangetrieben wurde.226 Leben und Lehre der Päps­ te konterkarierten das wahre Evangelium,227 welches durch das geistliche Recht völlig entwertet worden sei; so lieferten Papsttum und Klerus die Gläubigen dem Teufel aus.228 Die Kirche diene nur noch als Schanddeckel für den Eigen­ nutz des Klerus, der unchristlicher als der Türke handle, da er das Evangelium 224  Offenbar unterscheidet Kettenbach hier zwischen den Antichristi mystici oder prae­ cursores (den Päpsten und Papisten) und dem Antichristus personalis, verus oder purus (vgl. Clemen als Bearbeiter der Textausgabe, Kettenbach: Küchenprediger 51, Anm.  4 ; siehe zur Unterscheidung der Antichristvorstellungen Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 25 f.). 225  „Die papisten verkeren all ding nach jrer art, sy hayssenn Thomam, Scotum, gaistlich recht etc. Die alten leerer, lugen, als N. die lerer, die hosen schulen vnd boeß gaistlich recht seind fast in vyerhundert jarn auff kommen vnd seind new leerer, erdacht fanntasey, aber das Euangelium vnd hailig schrifft ist vorhinne über tausent jar geweßt.“ (Kettenbach: Altmütterlein 69,12–15). 226  Vgl. Kettenbach: Kirche 94,3–7. 227  „Wenn nun der Bapst nit lebt vnd regiert nach dem Euangelio vnd wie die hayligen Apostel, so hatt er das ampt ains boesen engels, des teüfels.“ (Kettenbach: Kirche 81,28– 82,2). 228  „was er [Christus] haißt, sollen wir thun, was er gebeüt, sol geboten seyn, was er ver­ beüt, sol verboten sein, was er erlaubt, sol auch erlaubt seyn, vnd sols niemant verbieten. es thut es auch niemant dann des teüfels vicari vnd stathalter, der entchrist vnd sein soeldner. die christlich kirch waißt wol, das sy jren gesponß christum sol hoeren. so wolt jr sy dem teüfel vnd entchristen verkuplen.“ (Kettenbach: Fasten 23,16–22.). Der Antichrist habe das Evangelium mit Menschenlehren verfälscht und zunichte gemacht, vgl. Kettenbach: Küchenprediger 33,6–12.

2. Fallbeispiele

105

nicht nur missachte, sondern es bewusst verfälsche.229 Der Klerus, der das Papsttum über Gott erhebe,230 sei eindeutig mit den von der Schrift angekün­ digten Dienern des Antichrist zu identifizieren.231 Unter Indienstnahme des Klerus regiere der Teufel seine Gegenkirche nach seinem verderblichen Willen und treibe die Gläubigen, wohin er wolle.232 Diese enorme Machtentfaltung des Teufels und die Pervertierung der Kirche ist Kettenbach jedoch ein relativ junges geschichtliches Phänomen, wenn er die Dauer der Teufelsherrschaft auf wenige Jahrhunderte verengt. Wie er ausdrück­ lich hervorhebt, sei damit die Zeitspanne des Irrtums der Kirche und der teuf­ lischen Pervertierung der Tradition vergleichsweise kurz – zumal angesichts des länger währenden Irrtums, den Gott über andere Religionsgemeinschaften ver­ hängt habe: „Hat got die welt vorzeiten lassen irren fünfftausnet jar, die Juden fünfftzehenhundert jar, die Sarracener vnd Machometischen achthundert jar, wie were es so ain groß wun­ der, wenn got vnser leerer vnd prelaten auch hett lassen irren vmb vnser vndanckbarkait willen dreü oder vierhundert jar?“233

2.5  Eberlin von Günzburg Johann Eberlin von Günzburg (ca. 1465–1533) war Franziskanerobservant (in Heilbronn, Tübingen, Basel und Ulm), bis er 1521 mit seinem Orden brach und sich für die lutherische Reformation engagierte. 1522 begann er ein Studium in Wittenberg (zeitweise als Hausgenosse Luthers im „Schwarzen Kloster“). Über seine diversen Publikationen nahm er beachtenswerten Einfluss auf die Flug­ schriftenlandschaft der frühen Reformationszeit. Wie bei den vorangegangenen Fallbeispielen ist auch seine Teufelsvorstellung bzw. seine Vergangenheitsdeu­ tung noch nicht eingehender untersucht worden.234 229  „Ja alle ewer drem, lugen vnd dant decken jr mit der christlich kirch namen vnd muß also ewr schandeckel sein […]. Jr stellen eüch den namen, als ob jr die christlich kirch seient. jr pfaffen, münch, bapst, bischof vnd was platen vnd kutten tregt, jr seind mer wider die christlich kirch jm glauben dann der dirg; der laßt das euangelium bleyben, so wolt jr es verdilcken.“ (Kettenbach: Fasten 23,7–14). 230  „jr haissent Christum ein lugner, vnd den Bapst werfft jr auff für ein got, ja über Got, wie Paulus daruon geweyssagt hat ij. Thessa. ij. [2 Thess 2,4]“ (Kettenbach: Küchenprediger 33,6–8). 231  „ist das nit truegerey vnd enchristen werck, so wirt keyn enchrist komen vnnd keyn­ der syn. ist aber eynes enchristenn rych vnnd stannd, wie die schrifft sagt, so muessen ye syne diener vnder der gestalt der geystlicheit ebenn glichformig lüt syn wie yetzund münch vnnd pfaffenn seyndt. so sye nun ebenn allso werdenn seyn, warumb seindt es dann nit die, die jetzundt sich solcher maß haltenn, so jr leben gantz ist, wie Paulus sy verkündt hat j. Thimot. iiij [1 Tim 4,1 ff.]?“ (Kettenbach: Vergleichung 146,19–26). 232 Vgl. Kettenbach: Küchenprediger 46,6 f. 233  Kettenbach: Kirche 92,24–28. 234  Zu Eberlin siehe Peters: Eberlin von Günzburg (mit Forschungsüberblick 9–15 und Druckschriftenverzeichnis 339–374); Ders.: Art. „Eberlin“ Sp.  1041.

106

III. Vergangenheitsdeutung

Eberlin konzentriert seine geschichtlichen Betrachtungen vorrangig auf die Entwicklung der Kirche in den vergangenen vier Jahrhunderten. Zur Apostel­ zeit und viele Jahrhunderte danach war für ihn die christliche Verkündigung rein und fromm, doch dann folgte ein rascher Abfall: „in kurtzen iaren“ haben die von der Schrift angekündigten falschen Propheten unter schönem Schein die Lehre so sehr verdorben, dass selbst viele der Auserwählten abgeirrt seien.235 Eberlin sieht den Wendepunkt in der Geschichte der Kirche und den Einfall des Teufels ab dem 12. Jahrhundert: Nachdem die kirchliche Lehre über Jahr­ hunderte intakt blieb, sei sie in den vergangenen vierhundert Jahren durch neue Einflüsse und fatale Irrtümer verfälscht worden: „Saehen ir, lieben fründ, solich lere hat man . xij. hundert jar gelert in der christenheit vnd ist wol gar inn ge­ standen, aber innerthalb vier hundert iaren sind ingewurtzlet new vngegründet leren […].“236 Dass Eberlin an einer genauen Datierung des Einfalls des Teufels jedoch nicht gelegen ist, wird deutlich, wenn in derselben Flugschrift einen Absatz später statt von vierhundert nur noch von dreihundert Jahren die Rede ist, in denen die Lehre pervertiert sei.237 Auch an anderer Stelle wird der Zeitpunkt des Nieder­ gangs der christlichen Lehre ins 13. Jahrhundert verlegt.238 Das 13. Jahrhundert scheint damit für Eberlin der Wendepunkt zu sein: Mit dem Auf kommen der Bettelorden sieht er die zuvor seit Christi Wirken in Geltung stehenden Lehrstü­ cke und Bräuche abgetan und das Christentum insgesamt verdorben.239 Der vom 235  „Wissent lieben frummen christen all gemein vnd in sunderheit, das wir schuldig sind standthafftiglich zu beliben in christlicher lere, welche vnß christus durch sich selbs vnd durch seine apostel vnd ewangelisten verkündet, darumb so vyl tausent martrer gelitten ha­ ben, in denen so trewlich vyl heilger doctores gstudiert haben, die so vyl hundert jar in trewer grundveste gestanden ist. Deßhalb vnß schimpfflich waer von ettlicher newer erfin­ dung von so altem gefestigtem wesen weichen, do von doch patriarchen vnd propheten ge­ sagt haben vil hundert jar vor christus geburt. Aber in kurtzen iaren sind vff gestanden vn­ gelert lerer, denen das gesatz gots vnbekant ist gesin, falsch propheten, die got nit gesandt hat, vnkrefftige gesatz geber on fürschlag heilsams ende, die an sich gehenckt haben durch glis­ senden schein, vnd vergyffte suessigkeit schier alle waelt. Durch welche so vyl vnd namhaff­ tige personen verfuert sind, das es zu erbarmen ist, vßerwelte menschen schier gefallen sind in abgrund deß zorn gottes.“ (Eberlin: Bundesgenossen 164). 236  Eberlin: Bundesgenossen 169. 237 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 169. 238  Seit 300 Jahren herrsche die völlige Verblendung und die Unterdrückung der wahren Lehre Christi: „[…] in .iij. hundert iaren ist kein lerer für hochgelobter gehalten worden, dann welcher am meisten wider ewangelischen grund gefochten hat vnder gut glissendem schein.“ (Eberlin: Bundesgenossen 169 f.) 239  „Die münch sagen, solich ding sey von den alten an vnß kummen, so muß man in die warheit vnder die nasen stossen vnd in zeigen, das solich ding, als ablaß brieff, butterbreiff des babst gottheit, der groß baettel mit baepstlicher narrheit, (sprich ich fryheit) bestaetigt, auch alle lere genant Scholastica theologia, das alle sy nit alt, sunder new ding, jnnerthalb . iij. hundert jaren von baettel münchen vnd irem anhang erdacht. So doch solichs nit ist vor in eim solichen brauch gesin, vnd ist vor yn die christenheit meer dan tausent jar gestanden.“ (Eberlin: Bundesgenossen 85 f.).

2. Fallbeispiele

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Teufel geschürte Abfall steigerte sich stetig, so dass vor allem die letzten zwei­ hundert Jahre eine von Gott verhängte Periode der Finsternis seien, in der die Wahrheit und der rechte Glaube fast völlig unkenntlich geworden waren.240 Den Depravationsprozess der Kirche und die Machtentfaltung des Teufels macht Eberlin an verschiedenen Kriterien fest. So hält er die Unterordnung der weltlichen Gewalt unter das Papsttum für illegitim und vom Teufel betrie­ ben.241 Dieser habe die deutsche Einfältigkeit mit italienischer und päpstlicher Betrügerei verführt und geschwächt.242 Doch opponierten auch etliche weltli­ che Herrscher gegen den Machtanspruch des Papsttums und dämmten diesen immer wieder ein. Noch waren die weltlichen Gewalten in ausreichendem Maße wehrhaft und ihr Widerstand noch intakt: „Aber es wolt vnser vorfaren beduncken, der baepst fürgeben waer falsch vnd ir anmu­ tung zu vnbillich, deßhalb ettlich teütsche kaiser sich fast widerten, vnderstunden das baepstlich joch ab in werffen. Als die theüren keyser Heinrici, Ottones, Friderich Bar­ barossa vnd der ander Friderich, vnd Ludwicus der Paier. Do solichs sahen die papisten, erdachten sie ein anderen list, oder die teüfel durch sie.“243

Aufgrund dieses spürbaren Widerstands gegen sein Regiment wechselte der Teufel seine Strategie und etablierte die Bettelorden, um den Glauben zu ver­ derben. Anfangs durch das Vorbild ihrer Gründer der Frömmigkeit durchaus zuträg­ lich, ließen sich die Orden alsbald vom Teufel instrumentalisieren, dessen Herr­ schaft sie nunmehr zum Durchbruch verhalfen.244 So macht Eberlin die Macht­ ergreifung des Teufels vor allem an der Entstehung und raschen Pervertierung der Bettelorden fest. Hier liegt für ihn die entscheidende Bruchstelle in der Entwicklung der sichtbaren Kirche zur Kirche des Teufels. Mehrfach gibt er einen Überblick über die Entwicklung der Bettelorden und qualifiziert sie als vom Teufel gestiftet.245 Die Bettelorden haben für Eberlin dem päpstlichen Antichrist seinen Weg bereitet und ihm zur vollen Machtentfaltung verholfen: 240  „Und ob ye ein lauter klare lere von Christo furgetragen were worden vnsern vorfa­ renden vnd altfordern, so ist doch vor yetz zweyhundert yar an die warheyt, wilche Christus ist, also gemartert vnd getoedt […].“ (Eberlin: Andere Vermahnung 4). Vgl. auch Eberlin: Bundesgenossen 22: „Laß dich nit bekümmeren das etlich lerer als Thomas vnd sins gelichen, vyl vff diß vnd andere roemisch oder menschlich ordnung gehalten haben, dann sy gelaebt haben yn der begryfflichen finsternüß die got verhengt hat zwey hundert jar lang vber die christenheit […].“ 241 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 81. 242 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 80. 243  Eberlin: Bundesgenossen 81. 244 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 81 ff. Die Bettelorden wurden zu treuen Handlan­ gern des Papsttums; mit ihrer Hilfe wurde der Einfluss der Bischöfe und Pfarrer zurückge­ drängt (ebd. 82) und die Vertreter des rechten Glaubens als Ketzer verfolgt (ebd. 83). So trat die Christenheit in eine Periode der Finsternis ein (ebd. 83). 245 Siehe z.  B. neben den Bundesgenossen 81 ff. auch Eberlin: Falschscheinende Geist ­l iche 43 ff.

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III. Vergangenheitsdeutung

„Do gegen flyssen sich die baettler, den bapst sein vnd der seinen fürnaemen so hoch heben das es got gleich ist worden, vnd durch die baettler dem Endtchrist ein guter waeg bereit ist worden.“246 Die Missstände im Klosterwesen seien hierfür deutlicher Erweis: 247 Die „Münzmönche“, die ihren pekuniären Inter­ essen mehr folgten als dem Armutsideal, haben ihren Herren im Teufel,248 der mittels des Klerus und speziell der Bettelorden seine schleichende Machtergrei­ fung vorantrieb.249 Das Erkenntnisinteresse des ehemaligen Franziskaners Eberlin fokussiert sich insbesondere auf seinen alten Orden. In seiner Generalabrechung mit dem Franzis­kaner-Orden benennt er den Teufel als eigentlichen Urheber der Or­ densgründung: So habe der Teufel die Kirchenlehrer und Heiligen als Werk­ zeuge benutzt, um unter schönem Schein die Welt zu verführen, wie im Falle des Franziskus: „[…] so ist kein mennsch so groeßlych ergeben worden dem teüfel zu einem werckzeug, die welt zeuerfyeren, als Franciscus […].“250 Gott habe den teuflischen Irrtum über die Christenheit verfügt und habe auch Hei­ lige irren lassen, welche wie Franziskus als „Lockmeisen“ des Teufels wiederum andere verführten: „Woll an, das was seyn stund vnnd der gwalt der vinsternus, der yrrsal mußt gefestyget werden vber die welt, darumb lyeß Got auch groß hailigen fallen, andern zuuerfuerung.“251 So habe der Teufel im Geschichtsver­ lauf mit verschiedenen Päpsten zusammengearbeitet und die Gläubigen mit der Franziskaner-Regel immer weiter in die Irre geführt.252 Durch falsche Lehrbü­ cher und die Verbreitung diverser Schriften habe der Irrtum sich im Volk ver­ festigt und die eigentliche Glaubensgrundlage der Bibel sei in Vergessenheit geraten.253 Vor dem Hintergrund eines heftigen Antiklerikalismus beschreibt Eberlin die Machtentfaltung des Teufels als einen vergleichsweise kurzen Prozess, in dem der Teufel die christliche Wahrheit total entstellt habe. Am Beispiel der Stadt Ulm schildert Eberlin, wie der Teufel unter schönem Schein seine Herr­ schaft innerhalb weniger hundert Jahre ausgebaut habe, indem er den Gottes­ dienst verfälschte und so schleichend seine Macht beständig erweitert habe.254 246 

Eberlin: Bundesgenossen 97. die „vnkeusche keuscheyt“ in den Klöstern sei einer der Gründe, „das Gott so vil hundert yar vns verlassen hat ynn vnzelichem yrsal, das wir widder Gott noch sein werck erkant haben […].“ (Eberlin: Andere Vermahnung 34). 248 Vgl. Eberlin: Andere Vermahnung 11. 249 Vgl. Eberlin: Andere Vermahnung 12. 250  Eberlin: Falschscheinende Geistliche 66 f. 251  Eberlin: Falschscheinende Geistliche 78. 252 Vgl. Eberlin: Falschscheinende Geistliche 76 ff. 253 Vgl. Eberlin: Letztes Ausschreiben 204. 254  „Darzu ist ewer stadt Ulm innerhalb wenig hundert yaren yn eyn wesen kommen, zu welchen zeiten die Antichristliche narheyt vnd buberey fur grosse weißheyt vnnd froemmig­ keyt gehalten ist worden.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 4). Der Teufel habe die Vorfah­ ren betrogen und sein Regiment unter schönem Schein stetig ausgebaut: „Solliche guthert­ 247  Beispielsweise

2. Fallbeispiele

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Kaum ein Christ sei dieser teuflischen Verführung und Verblendung entgan­ gen,255 etwaiger Widerstand der Christen wurde als ketzerisch denunziert und unterdrückt 256 und der Missbrauch unter christlichem Schein sei schlimmer als bei Türken und Juden.257 Auffällig ist, dass Eberlins Vergangenheitsbetrachtung insgesamt besonderen Wert auf die Feststellung legt, dass der Verfallsprozess der sichtbaren Kirche sich „innerhalb wenig hundert yaren“258 vollzogen bzw. des Teufels falsche Prophe­ ten „in kurtzen iaren“259 die Tradition und das Verständnis von Alt und Neu verdreht und die Christenheit verdorben haben. Gegen das altgläubige Traditi­ onsargument betont er, dass die Papstkirche erst in der jüngeren Vergangenheit ihre Bräuche errichtet und damit ihrerseits eine mehr als tausendjährige Tradi­ tion negiert habe.260 Gemessen an dem zuvor in Geltung stehenden Brauchtum habe die Papstkirche sich des Eintragens von Neuerungen schuldig gemacht, während die reformatorische Lehre den Anschluss an diese ältere Tradition wie­ derherstelle – daher dürfe das Recht des Alters nicht von den Altgläubigen be­ ansprucht werden: „Es soll niemandt sagen, solich boese lere hab ein guten schein der langen zeit halb, dann ir wissen das tausent vorige jar lenger sind dann naechste .iij. hundert jar […].“261 Auf der Grundlage dieser Vergangenheitsdeutung weist er den Gehorsamsan­ spruch und die Lehrautorität der zeitgenössischen römischen Kirche zurück, die sie nicht die christliche Kirche, sondern die Synagoge des Teufels [Off b 2,9; 3,9] repräsentiere: „Die gleißner sagen, was der Roemisch hoff ordne, sey ein zigkeyt, auch einfaltigkeyt, auch gutz vertrawen ewer altfordern hat der teuffel leichtlich abgefuert in yrsaelige Gottis dienst vnd yn aberglauben, auch yn allen stucken, domit der Sathan sein regiment vnmergklich bey euch eynsetzte, vnd auß ewer Stadt auch yn andere vmblygende orth sein Tiranney vber die armen selen vbete, vnd das alles yn guttem scheyn des Gottis diensts.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 5). 255  Die Wahrheit sei „[…] gemartert vnd getoedt, ya begraben worden durch den Bapst, Bischoff, Hochschulen vnd kloestern, das auch die auserwelten Gottis yrrig worden seint, vnd niemant odder wenig, on sondere wunderwerck Gottis, hat meer Christum moegen fynden.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 4). Auch an anderer Stelle bezeichnet Eberlin die Verblendung in der Vergangenheit als total. Die Bettelorden haben das Evangelium gewalt­ sam unter christlichen Schein unterdrückt und die rechte Gotteserkenntnis verhindert: „So­ licher ir vnchristlicher gewalt ist allgemach in gerissen, biß es do hin kummen ist, das wir woneten in der finsternüß vnd im schatten des tods.“ (Eberlin: Bundesgenossen 83). Den Niedergang Deutschlands beschreibt er in Gegensatzpaaren, z. B. von Reichtum zu Armut, von Wahrheit zu Falschheit etc. (vgl. Eberlin: Bundesgenossen 84). 256  „[…] dar zu ob schon ettlich fromm lerer das widerspyl geschriben haben in dyser zeit [des Abirrens], so hat man ire buecher vndertruckt vnd ire ler für kaetzerisch gehalten, do mit solich endtchristlich erfindung vnd lere ein fürgang hette […].“ (Eberlin: Bundesgenossen 169). 257 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 90. 258 Vgl. Eberlin: Andere Vermahnung 4. 259 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 164. 260 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 85 f. 261  Eberlin: Bundesgenossen 169.

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III. Vergangenheitsdeutung

gebot der christenlichen kirchen, do gegen muessen ware lerer anzeigen, das der roemisch hoff nit sy die christenlich kirch, meer die synagoga Sathane.“262 Aufgrund des Schadens, den die Vorfahren in die Christenheit haben einrei­ ßen lassen, sei die reformatorische Gegenwart eine gefahrvolle und bedrohte Zeit – aufgerufen, dem Wort Gottes wieder neue Geltung zu verschaffen: „Ich sag eüch für wor, not vnd fast not ists zu vnseren zyten, das wir grosse sorg haben vff das wort gots, dann an im ligt vnser heil, vnd hetten vnser vorfaren sollich verma­ nung angenummen, on zwyfel vnser zyt wer nit so gefaerlich.“263

3.  Innere Kohärenz Um sich der Frage nach einer inneren Kohärenz der reformatorischen Vergan­ genheitsdeutung zu nähern, soll zunächst der Ausgangspunkt des historischen Legitimationsgestus beschrieben werden (3.1), von dem aus die frühreformato­ rischen Flugschriften ihre Verfalls- (3.2) und Kontinuitätsidee (3.3) entwarfen, um dann die Anwendung der Kategorien von Verfall und Kontinuität auf die Flugschriften kritisch zu hinterfragen und die spezifische Charakteristik der frühreformatorischen Verfalls- und Kontinuitätsideen zu konturieren (3.4). Diese spezifische Charakteristik spiegelt sich auch in den reformatorischen Ar­ gumentationsstrategien im Hinblick auf die grundlegende Dignität des Alters (3.5) und bestimmt zudem maßgeblich das allgemeinreformatorische Deu­ tungsmuster der Vergangenheit als auf Gottes Geheiß verhängte Zeit der Strafe (3.6). Abschließend sollen die Veränderungen hinsichtlich des Stellenwertes der Vergangenheitsbetrachtung fokussiert werden (3.7).

3.1  Der historische Legitimationsgestus Das biblisch-augustinische Geschichtsbild, nach dem das Christusereignis zwar nicht die zeitliche, aber die sachliche Mitte und das Ziel der Heilsgeschichte bezeichnet, war von der Reformation unangetastet geblieben.264 Dieses Ge­ schichtsbild impliziert die Ausbildung eines „historischen Legitimationsgestus“, welcher der Christenheit durch den konstitutiven Bezug auf ein innergeschicht­ liches Heilsereignis von Beginn an eingestiftet war.265 Nachdem die Offenba­ rung in der Zeit Christi und der Apostel vollgültig und unüberbietbar verwirk­ licht war, konnte sich christliche Lehre und Praxis nur durch Übereinstimmung 262 

Eberlin: Bundesgenossen 85. Eberlin: Bundesgenossen 166. 264 Vgl. Benrath: Kirchengschichte 97; Ders.: Art. „Geschichte / Geschichtsschrei­ bung / Geschichtsphilosophie VII/1“ 630. 265 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 37–39. 263 

3.  Innere Kohärenz

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mit dieser normativen Frühzeit legitimieren.266 Die historische Kontinuität und Konformität mit dem normativen Referenzhorizont der Urkirche avancierte zum zentralen Wahrheitskriterium innerhalb des Christentums, welches jeder apologetischen Legitimierung oder polemischen Delegitimierung vorfindlicher christlicher Lehre und Praxis zugrunde lag.267 Die Logik des historischen Legi­ timationsgestus implizierte daher die Herausbildung von Kontinuitäts- und Verfallsvorstellungen, die jeweils Übereinstimmung mit bzw. Abweichung von der normativen Frühzeit zum Ausdruck brachten. Die Kategorien der Verfalls- und Traditionsidee sind erstmals von Erich See­ berg in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht worden.268 Seeberg sah in der Verfallsidee ein Moment der strukturellen Verwandtschaft von mittelalter­ lichen Oppositionellen, den reformatorischen Bewegungen und den nachrefor­ matorischen Spiritualisten.269 Ungeachtet ihrer prägenden Bedeutung ist die Verfallsidee von der Forschung bislang vernachlässigt und erst von Wolf-Fried­ rich Schäufele eingehender untersucht worden.270 Schäufele weist darauf hin, dass Verfallsvorstellungen nicht nur (entgegen der gängigen Reduktion) in den außerkirchlichen Oppositionsgruppen, sondern auch in der kirchlichen Orthodoxie als Form der kirchlichen Selbstkritik be­ gegnen.271 Auch wenn die Schärfe der innerkirchlichen Kritik in aller Regel hinter derjenigen der außerkirchlichen zurückbleibt und die Verfallsidee dem­ entsprechend gemäßigter oder radikaler ausgestaltet ist, liegt doch der eigentli­ che Unterschied nicht in der Verfalls-, sondern in der mit ihr jeweils korrespon­ dierenden Kontinuitätsidee, deren Ausgestaltung über die Stellung zur offiziel­ len Kirchlichkeit entscheidet.272 266  Neben

das eigentliche Christusereignis trat alsbald die apostolische Urkiche als nor­ mative Bezugsgröße hinzu (im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus, Schäufele: Defecit Ecclesia 38 f.) 267 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 352. 268 Siehe Seeberg: Arnold. 269 Vgl. Seeberg: Arnold 260. 270 Monographien oder lexikographische Überblicksartikel fehlen, in Spezialuntersu­ chungen begegnet die Verfallsidee meist nur am Rande. Die maßgebliche Literatur be­ schränkte sich bis vor kurzem noch immer auf die Skizze Seebergs (siehe Seeberg: Arnold 257–280). Erst Schäufele unterstrich wieder die Bedeutung der Verfallsidee, wobei er den zeitlichen Rahmen seiner Untersuchung im Wesentlichen auf das Mittelalter beschränkte (Schäufele, Wolf-Friedrich: „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchenge­ schichtsanschauung des Mittelalters (VIEG, Abt. für abendländische Religionsgeschichte 213). Mainz 2006). Dabei kennzeichnete Schäufele die Untersuchung des Verhältnisses der reformatorischen Verfallsidee zu deren mittelalterlichen Ausprägungen als Desiderat (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 2), zu welchem die vorliegende Arbeit einen ersten, freilich knapp gehaltenen Beitrag leisten will. 271  Schäufele berücksichtigt in seiner Studie dementsprechend sowohl außerkirchliche als auch innerkirchliche Verfallsvorstellungen und deren jeweils damit korrespondierenden Kontinuitätsideen (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 4). 272 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 4: Die innerkirchlichen Vertreter der Verfallsidee sahen die kirchliche Institution als Ganze noch in Kontinuität mit der Urkirche, während die

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III. Vergangenheitsdeutung

Grundsätzlich begegnet die Verfallsidee niemals völlig eigenständig oder iso­ liert, sondern korrespondiert immer mit einer Kontinuitätsidee. Der Verfall al­ lein ist im christlichen Verständnis nicht nur keine Notwendigkeit,273 sondern im eigentlichen Sinne noch nicht einmal eine Möglichkeit: Da Gott seiner Kir­ che ewigen Bestand zugesagt hat (Mt 16,18), kann der Abfall der Kirche streng genommen niemals total sein und die Kirche als Ganze betreffen; die wahre Kirche, die in Kontinuität zu ihrem apostolischen Ursprung steht, bleibt – wie sehr verborgen oder angefochten auch immer – auch bei den schärfsten Vertre­ tern der christlichen Verfallsidee stets existent.274 Es liegt damit in der Logik des historischen Legitimationsgestus, dass Verfalls- und Kontinuitätsidee in einem konstitutiven Zusammenhang stehen. Die Geltung des historischen Legitimationsgestus blieb in der Reformations­ zeit unumstritten, allein dessen Ausgestaltung wurde unterschiedlich akzentu­ iert: Schäufele unterscheidet idealtypisch drei Grundformen des historischen Legitimationsgestus, die freilich auch in Kombination auftreten konnten: 275 Als klassische Varianten kennzeichnet er den „imitatio-Typ“ und den „succes­ sio-Typ“,276 in der Reformationszeit sieht er einen dritten, den „Wort-GottesTyp“277 hinzukommen. Diese Typisierung bringt die deutlichen Unterschiede im Kontinuitätsverständnis zum Ausdruck: „Der successio-Typ sah die Übereinstimmung der Kirche mit ihrem normativen Ur­ sprung durch die institutionelle Kontinuität der kirchlichen Hierarchie, insbesondere die apostolische Sukzession der Bischöfe verbürgt. Der imitatio-Typ verlegte die Konti­ nuität statt dessen in das apostolische Leben der Amtsträger. Mit der Reformation kam ein dritter Typ auf, der die Kontinuität im wesentlichen in der Übereinstimmung der kirchlichen Lehre mit dem in der Bibel geoffenbarten Gotteswort erblickte.“278

Während der imitatio- und der successio-Typ die mittelalterlichen Kontinui­ tätskonzeptionen bestimmten,279 konnten sie im reformatorischen Verständnis außerkirchlichen Bewegungen (namentlich der Katharer und Waldenser) diese Kontinuität bestritten und konkurrierende Kontinuitätsideen entwarfen. 273  Hierin sieht Schäufele einen Unterschied der christlichen zur heidnisch-antiken Ver­ fallsidee, da die christliche Verfallsidee nicht auf einer Unentrinnbarkeit oder Naturgesetz­ lichkeit gründet, sondern den Verfall als schuldhafte Verfehlung gegen den Willen Gottes deutet (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 41). 274 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 41. Historisch ausformuliert und wirkmächtig ge­ worden ist dieser Gedanke in der Theorie der Wahrheitszeugen im Catalogus testium veri­ tatis des M. Flacius Illyricus (1556), vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 41. Vgl. auch Höhne: Luthers Anschauungen 19: „Die Kontinuität ist selbst eine Wesensbestimmung der Kirche. Das Wesen der Kirche ist wesensgemäß immer dasselbe.“ 275 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 352. 276 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 54; zum imitatio-Typ 54–58, zum successio-Typ 58 f. 277 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 352. 278  Schäufele: Defecit Ecclesia 352. 279 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 352–355.

3.  Innere Kohärenz

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die Kontinuität der Kirche nicht verbürgen; in den Mittelpunkt rückte nun­ mehr die Kontinuität der Lehre: Der beklagte Verfall der Christenheit bezog sich weniger auf die von der urkirchlichen Norm abweichende Lebensweise oder Sukzessionslinie als vielmehr auf die abweichende Lehre der Kirche, wel­ che das reine Evangelium durch menschliche Traditionen entstellt habe.280 Da­ mit wandten sich die reformatorischen Bewegungen vor allem gegen das römi­ sche Kontinuitätsverständnis, welches in formaler Hinsicht auf dem Sukzessi­ onsgedanken fußte und seine inhaltliche Ausgestaltung in der lehramtlichen Tradition fand.281 Diese leistete im römischen Verständnis eine Ergänzung und Fortschreibung der Schriftoffenbarung; im reformatorischen Verständnis je­ doch galt diese Ergänzung und Fortschreibung als Verfälschung der Schrift und der alten urkirchlichen Tradition. Von diesen veränderten Voraussetzungen her entwarfen die reformatorischen Flugschriften ihre Verfalls- und Kontinuitäts­ idee, indem sie die Geschichte der Kirche auf das zentrale Kontinuitätskriteri­ um der Apostolizität der Lehre hin neu strukturierten. Diese Neumodulation des historischen Legitimationsgestus verhinderte die bloße Fortschreibung des überkommenen Verfalls- und Kontinuitätsverständnisses und verlieh der refor­ matorischen Vergangenheitsdeutung ihre spezifische Prägung.

3.2  Kirchengeschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels Die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung wird von der gemeinsamen Annahme eines fortdauernden Kampfes zwischen Gott und dem Teufel be­ stimmt. Der Teufel als Feind Gottes und des Menschen richtet seine Aktivität dahin, als Diabolos die Heilsordnung zu verwirren und die Gläubigen vom al­ leinigen Vertrauen auf Gott weg zu führen. Sein Widersachertum bezeichnet dabei keine lediglich episodische, sondern eine grundsätzliche Kontrastsituation zum Heilsangebot Gottes. Dieser Sachverhalt bestimmt auch das Wesen der Kirche: Sie ist nach Luther immer duplex ecclesia und konstituiert sich im fortwährenden Widereinander von wahrer und falscher Kirche.282 Vor dem Hintergrund ihrer Duplizität ist die Kirche nie ganz rein oder ganz verdorben; dennoch konstatieren die Flugschrif­ tenautoren deutliche Verschiebungen innerhalb der Parameter von wahrer und falscher Kirche. Diese Verschiebungen werden in vielen Flugschriften ge­ schichtlich beschrieben: Toposartig werden vor allem die Reinheit der Lehre und der Bekennermut der Christen in der frühen Kirche der nachfolgenden, bis ins Unerträgliche sich steigernden Verderbtheit der Kirche und der abnehmen­ den Zahl wahrer Christen gegenübergestellt. Dementsprechend sind im Ge­ 280 Vgl.

Schäufele: Defecit Ecclesia 367. Höhne: Luthers Anschauungen 93. 282  Zu Luthers Kirchenverständnis siehe Wendebourg: Kirche 403 ff. 281 Vgl.

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III. Vergangenheitsdeutung

schichtsverlauf auch verschiedene Konjunkturen der teuflischen Aktivität und Macht erkennbar: War der Teufel durch Christi Erlösertat geschwächt und sein Einfluss durch die Wehrhaftigkeit der frühen Christen zunächst eingedämmt, konnte er in einem geschichtlichen Prozess des Erstarkens eine scheinbar unein­ geschränkte Machtstellung erlangen. Um die geschichtlichen Konjunkturen der teuflischen Macht offen zu legen, verfolgen die Flugschriften zum Teil sehr ausführlich das Handeln des Teufels in der Geschichte zurück und sehen insbesondere die Kirche als dessen vorran­ giges Angriffsziel. Während die wahre Kirche Christi, unsichtbar und vom hei­ ligen Geist geschützt, dem Teufel auf der Grundlage der alleinigen Offenba­ rungsquelle der Schrift beharrlich widerstand, konnte der Teufel seinen Einfluss auf die römische Kirche über verschiedene geschichtliche Entwicklungsstadien hinweg sukzessive ausdehnen bis zur dramatischen Kulmination teuflischer Macht in der reformatorischen Gegenwart. Vor dem Hintergrund der Teufelsvorstellungen wurde die Vergangenheits­ deutung von den Flugschriftenautoren radikal umstrukturiert: Der Prozess zu­ nehmender Entstellung der biblischen Wahrheit und der geschichtliche Nieder­ gang von Glaube und Frömmigkeit ließ die Geschichte der römischen Kirche zu einer Geschichte des Verfalls werden, die ihre komplementäre Entsprechung in der Erfolgsgeschichte des Teufels findet. Den Ausgangspunkt der Vergangenheitsbetrachtung vieler Flugschriften bil­ dete der Idealzustand der Urkirche. Die frühe Christenheit insgesamt zeichne sich durch Glaubenstreue und Bekennermut aus und besitze gerade im Hinblick auf die Abwehr des Teufels Vorbildcharakter, an den es in der Reformationszeit anzuknüpfen gelte. Diese Hochschätzung der Urkirche aufgrund ihrer Wehr­ haftigkeit im Teufelskampf findet sich in diversen Flugschriften und stellte eine weitreichende Gemeinsamkeit reformatorischer Geschichtsdeutung dar. Doch begann für die meisten Flugschriftenautoren bereits kurz nach der Apostelzeit die zunehmende teuflische Vereinnahmung der Kirche. Sei hier die Lehre noch rein gewesen, habe sich bald darauf der Teufel mit seinen falschen Propheten erhoben und die Lehre verdorben: „Also ists auch gangen zur zeyt der Apostel, da ware es noch reyn, Aber da die hynweg kamen, die uber der reynen lere hielten, funden sich die falschen propheten und der boese geyst, der wolts alles anders machen […].“283 Ohne dass der Teufel hier schon das Regi­ ment übernommen hätte, reichen die Vorstufen seiner Machtübernahme doch bereits in die Zeit der Alten Kirche zurück: „Zur zeit der heiligen veter Antonii und andern, zeitlich nach den Aposteln, ist schon der yrthum auffgangen […].“284 283  WA 17,1; 355,33–36. Zur Reinheit der Lehre in der Apostelzeit und dem folgenden Abfall durch die Wirkung der falschen Propheten vgl. auch Eberlin: Bundesgenossen 164. 284  WA 15; 756,34 f.

3.  Innere Kohärenz

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Die Hochschätzung der ersten Generation der Christenheit und die Feststel­ lung, dass kurz nach der Apostelzeit der Verfall einsetzte, wird auch von Mün­ tzer vertreten, wobei er die Verfallsidee nochmals radikalisiert: Nachdem Christus den Boden für eine reine Christenheit bereitet und den Geist ausgesät hatte,285 haben die Kirchenvertreter sein Werk nicht fortgeführt und die Gott­ losen in die Kirche eindringen und diese damit insgesamt verderben lassen.286 So sei die christliche Kirche (wie von den Aposteln angekündigt) bereits kurz nach dem Tod der Apostelschüler von ihrem anfänglichen unschuldigen und jungfräulichen Dasein zur treulosen Ehebrecherin geworden.287 Seit der Apos­ telzeit habe man das „unkraut“ innerhalb der Kirche geduldet, den aufgehen­ den Samen überwuchern 288 und die „bueberey inß hoechste wesen kommen“ lassen.289 Den historischen Beginn dieser Entwicklung sieht Müntzer in der Vernachlässigung des Katechumenenunterrichts und missverstandener Taufe – ab hier habe der Teufel Gelegenheit gehabt, Unkraut und Weizen zu mischen.290 285  „Aber das ist wol war, Christus, der sohn Gotis, und seine aposteln, ja auch vor ym syne heylgen propheten haben wol eine rechte reyne christenheit angefangen, den reinen weitzen in den acker geworffen, das ist das thewre wort Gotis in die hertzen der außerwelten gepflantzet […].“ (MSB 243,6–10). 286  „Aber die faulen, nachlessigen diner derselbigen kirchen haben solchs mit emsigem wachen nit wollen vorfaren und erhalten, sonder sye haben das yre gesucht, nit was Jhesu Christi war, Philip.  2 [Phil 2,21]. Derhalben haben sie den schaden der gotlosen, das ist das unkraut, krefftig lassen einreissen, Psal. 79 [Ps 80,9–14] […].“ (MSB 243,11–15). Auch in der Flugschrift „Entblößung“ sieht Müntzer den Grund für den Niedergang des Christenglau­ bens im Aufnehmen der Geistlosen in die Kirche: „Das macht das man die geystlosen, die keyn forcht Gottes haben, zur christenheyt auffgenumen hat […].“ (MSB 287,11–14). 287  Müntzer hält fest, „[…] das die christliche gemein ein jungfraw bliben sey nit lenger dann auff die zeyt des todes der apostelnschuller. Und balde dornach ist sie ein ebrecherin worden, wie dann zuvorn vorkuendigt war durch die lieben aposteln, 2. Petri 2 [2 Petr 2,14].“ (MSB 243,23–244,4). Vgl. auch MSB 503,32–504,4: „Ich habe gelesen hyn und her der alten vetter geschichte, szo finde ich nach dem tode der aposteln schuler, das dye unbe­ fleckte, jungfraweliche kyrche ist alßo balde von denn vorfurisschen pfaffen zcu einer huren worden. Dan dye pfaffen haben allezceyt wollen obenansitzen, welchs alles bezceugt Egesip­ pus und Eusebius und ander mehr.“ 288  Vgl. MSB 226,3–17 in Anspielung auf Lk 8,4 ff.; Mt 13,38; Mk 4,28. 289  „Sunst ist die christliche kirche vil toller und unsinni/ger dann die wutende thorheit selbern unter allen voelckern auff erden, welche sich zu unsern zeiten vil unsawberer und halßstortziger lest mercken, ja greyffen dann vom anfang, nachdeme alle hinterligtige tuck aller honigsussen bueberey inß hoechste wesen kommen seint und sich nu mit getichtem glawben, nu mit gleissenden wercken bedeckt […].“ (MSB 226,23–28). 290  „Du tochter Sion [die Kirche], erkenne dich doch, wer du vor vielen jaren zu den zeytten der aposteln und yrer schueler gewesen bist, welche mit wachsemdem ernste haben gewartet, das der feindt, aller fromen widdersacher, nicht kuende vormischen den weytzen mit dem unkraut, darumb hat man allein die erwachßnen leute nach langer unterrichtung zu kirchenschulern aufgenommen und heissen sie von der lere wegen catecuminos. […] Hir ist der ursprunck widder alle außerwelte also gantz vorfurisch entsprossen mit allen andern heidnischen ceremonien oder geperden des gantzen grewels in der heiligen stat. Do man unmundige kinder zu christen machte und lies die cathecuminos abgehn, wurden die chris­ ten auch kinder [d. h. zu Kindern des Verderbens, 2 Thess 2,3], wie yn doch Paulus vorbot­ ten hatte, dann do verschwanth aller vorstandt aus der kirchen. […] Das wir keinen andern

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III. Vergangenheitsdeutung

Neben der Vernachlässigung des Katechumenenunterrichts benennt Müntzer zudem die Preisgabe des Rechts der Gemeinde auf die Pfarrerwahl als zweiten Grund für den Verfall der Christenheit.291 Die seit der Apostelzeit drastisch Platz greifende Veräußerlichung des Glau­ bens konkretisiert sich für Müntzer z. B. in der Separation der Kirche aufgrund der Nichtigkeit eines abweichenden Ostertermins.292 Sinnfälliger Ausdruck des radikalen Bruchs in der Kirchengeschichte bei Müntzer ist seine Wertung der Konziliengeschichte: Von Anbeginn seien auf den Konzilien Marginalien statt Wesentliches behandelt worden; dieser Umstand weise sie sämtlich als teuflisch aus.293 Mit der Aufnahme auch der Gottlosen in die Kirche sei der Niedergang der Christenheit besiegelt worden, der sich dann bis zur reformatorischen Ge­ genwart zur totalen Abkehr vom heiligen Geist gesteigert habe.294 Die Chris­ tenheit habe sich vom Auftritt des Teufels als Engel des Lichts blenden lassen und die Verstocktheit sei nunmehr auf einem historischen Höchststand ange­ langt.295 Die Geistbegabung der Apostelzeit und die Verdorbenheit der zeitge­ nössischen Christenheit (sowohl papstkirchlicher wie lutherischer Provenienz) werden als unvereinbare Gegensätze inszeniert, wobei der frühe Zeitpunkt und gewissen, dann von ceremonien, kirchengeperde haben, kompt alles aus unverstandener ­t awffe.“ (MSB 227,25–30.229,17–22.230,8–10). 291  „Darumb das das volk dye wael der prister zcu kyren hinderstellig gelassen hat, ist nicht muglich gewest, das man solthe von anbeginne solchs vorseumens ein recht concilium gehalten habe. Es sey welchs wolle, ist alzo vom teuffel, dan es ist nicht anderst gehandelt in den conciliis oder ratslegen den eytel kynderschwengk […]; vom rechten lebendigen worth Gots ist keyn mal, ist keyn mal das maul auffgethan“. (MSB 504,4–11). 292  „Do kquam die untzuchtige fraw [Off b 17,4; 18,16] mit yrem rothen rock, die blut­ vorgiesserin, die Roemische kirche, und wart uneins mit allen andern kirchen und meinte yre ceremonien, geperde von und aus der heydenschafft zusammen gestuppelt, solten die besten sein und alle andere ein misfallender grewel. […] Gantz Asia [das Gebiet der grie­ chisch-orthodoxen Kirche] wart in ban gethan, dem teuffel gegeben, wie dann die fleischli­ chen leutte pfelgen umb solchs kinderspiels willen, das die veter doselbst die ostern am vier­ zehenden tag aprilis begiengen. Desgleychen haben die Roemer allen leutten mitgefarn und also die gantze werlt alle von der grundsuppen und yres geschnorres wegen also gantz jamer­ lichen verwustet und von unser geselschafft abtroennig gemacht.“ (MSB 229,25–230,5). 293  Vgl. MSB 504,4–11. 294  „Drumb ist der aufgerichte eckstein im anfang der newen christenheit bald verworffen von den bawleuten, das ist von den regenten, Psal. 117 und Luce 20 [Ps 118,22 f.; Lk 20,18]. Also, sag ich, ist die angefangen kirche baufellig worden an allen orthen biß auf die zeyt der zurtrenten welt […].“ (MSB 243,18–21). Die zertrennte Welt bezeichnet das 5. Weltzeitalter, bestehend aus Eisen und Ton (Dan 2,33), und wird von Müntzer mit dem herrschenden Zeitalter gleichgesetzt. Vgl. zur Steigerung der Gottlosigkeit bis zur Gegenwart auch MSB 226,23–30. 295  „Also auch nichtsdesdoweniger ist bey unser veter und unser zeit die arme christenheit nach viel hoecher vorstocket und doch mit eynem unaußsprechlichen scheine goettlichs namens, Luce 21 [Lk 21,5], 2.Thimo. 3 [2 Tim 3,5], do sich der teufel und seyne diner hubsch mit schmucken, 2.Corin. 11 [2 Kor 11,13 ff.], ja also hubsch, das die rechten gottis­ freunde domit verfurt werden und mit dem hoechsten vorgewanten fleyß kaum mercken muegen iren irthumb […].“ (MSB 242,23–29).

3.  Innere Kohärenz

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die Totalität des beklagten Abfalls Müntzer als einen der radikalsten Vertreter der Verfallsidee ausweisen.296 Während Müntzer also einen radikalen Bruch in der Kirchengeschichte kurz nach der Apostelzeit annimmt, sehen dagegen die meisten Flugschriftenautoren hier lediglich Vorstufen der teuflischen Machtentfaltung. Auch wenn die An­ fänge der antichristlichen Verführung mitunter schon während der Apostelzeit registriert werden,297 so wird doch das frühe Christentum generell als Zeit der Glaubenstreue und Standhaftigkeit gegenüber dem Teufel charakterisiert. Vor­ herrschend war die Einschätzung, dass die Lehre bis Anfang des 4. Jahrhunderts noch weitgehend rein und der Einfluss des Teufels eingedämmt gewesen sei.298 Doch nach dieser Phase der Wehrhaftigkeit gegen den Teufel im frühen Christentum habe der zuvor geschwächte Teufel die Macht innerhalb der sicht­ baren Kirche ergriffen und die Christenheit verdorben. Bei der zeitlichen Fest­ setzung dieser Machtergreifung des Teufels, die meist mit der Durchsetzung des 296  Vgl. zur Einordnung Müntzers in die Geschichte der Verfallsidee Bräuer: Müntzers Kirchenverständnis 118, der allerdings Müntzers Verfallsidee auf das Kriterium des Versäum­ nisses der Pfarrerwahl durch die Gemeinde verengt und das Kriterium der Vernachlässigung des Katechumenenunterrichts außer Acht lässt. 297 Ähnlich wie Osiander (vgl. oben 91) setzt auch Hartmuth von Cronberg den Be­ ginn der antichristlichen Aktivität schon während der Apostelzeit an. Wie den biblischen Zeugnissen zu entnehmen sei, habe der Antichrist bereits hier seine Wirkungen entfaltet: „Uß welichem [der Missachtung der deutlichen Warnungen der Schrift] auch erwachsen ist die Antchristisch verfuerung, die bey der heyligen Apostelen zeyten angefangen hat, noch ynnhalt irer selbs schrifften.“ (Cronberg: Strassburg 108). Auch Luther kann das Auf­ kommen des Antichrist bereits in die Apostelzeit verlegen, vgl. Offenbarung des Endtchrists N1a-N1b: „Denn also ist auff kommen das Reych des Roemischen Endtchrists / das man bald / ja gleich noch zu zeytten der Aposteln angefangen hatt / durch die werck woellen frumm vnd saelig werden […].“ 298  Vgl. alle oben Behandelten; vgl. auch die Flugschrift „Ain groszer Preis“, ein soge­ nannter Teufelsbrief, in dem Luzifer an seine Handlanger, die Geistlichen, schreibt. Bis An­ fang des 4. Jahrhunderts habe die Frömmigkeit der Kirchenvorsteher den Einfluss des Teufels abgewehrt: „nach dem leiden Christi und seiner himelfart haben sant Peter und XXXII bäpst, stathalter und nachvolger Christi und seiner fußstaffen, die erleucht waren mit tugen­ den und wunderzaichen und wanderten in demuetiger armut ob dreuhundert jarn biß auf den bapst Silvester, durch ir predig und tugentsam werk bei nahent die ganzen welt von unser wuetender herschaft bekert zu irer ler und erbern leben, unserm hellischen reich zu spot und verachtung, auch nit wenig zu abpruch, beschwerden und verletzung unsers ge­ richtszwangs und herschaften, indem sie nit geschonet haben unsern fürstlichen gewalt und irdische herschung zu schmeleren. denn zu den selbigen zeiten haben wir gar wenig einku­ mens, tribut oder nutzung von der welt empfangen, […] und was ain solichs abnemen unsers hofs, daß sich die hell mit seufzen solcher entsetzung schwerlich beklagt, das die grausam ungedultigkait unserer feurigen herzen hat lenger nit gedulden noch vertragen mügen.“ (Ain groszer Preis 85,10–86,14). Doch ab dem 4. Jahrhundert konnte der Teufel mit Hilfe der Geistlichen, die ihm zuvor gewehrt hatten, sein Reich wieder auf bauen: „also wirt unser reich ersetzet durch euch und erhalten, und der unträglich schad, so euer voreltern der ersten kirchen uns zugezogen hetten, wider erstattet.“ (Ain groszer Preis 89,18–21). Seitdem habe der Teufel die Geistlichen immer weiter verdorben: „wir haben das gift lang außgegoßen. iezunt seint ir aufgeblasen und dem selbigen ersten vater [Christus] nit alain ungleich, sonder ganz widerwertig […].“ (Ain groszer Preis 87,5–7).

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III. Vergangenheitsdeutung

antichristlichen Regiments gleichgesetzt wird, fallen in den reformatorischen Flugschriften jedoch deutliche Unterschiede auf, sowohl im Hinblick auf die Exaktheit der Datierung als auch in der Angabe des Zeitpunktes. Viele Autoren wissen den Zeitpunkt der Machtergreifung von Teufel und Antichrist historisch genau zu fixieren: Wie bei Osiander, der ihn mit dem Residenzwechsel unter Kaiser Konstantin und der vermeintlichen Konstantini­ schen Schenkung im 4. Jahrhundert ansetzt,299 erweist die Konstantinische Wende auch in anderen Flugschriften ihren Umbruchscharakter vor allem in Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte des Teufels.300 Auch bei Nazarei konnte der Teufel ab der Konstantinischen Ära zunehmend an Einfluss gewinnen,301 doch der entscheidende Schritt zur Machtergreifung gelang ihm erst im frühen 7. Jahrhundert, indem er Kaiser Phokas Papst Bonifaz III. (607) den Primat zusprechen ließ.302 Auch Gengenbach registriert einen grundlegenden Wandlungsprozess ab dem 7. Jahrhundert und präzisiert den Mo­ ment der Machtergreifung ebenfalls sehr genau, wenn er ihn unter Papst Sabini­ anus festmacht (604–606).303 Ähnlich wie bei Nazarei tritt auch bei Luther der Moment der Beanspruchung des Primats des römischen Papsttums als Beginn des Abfalls in den Mittelpunkt.304 Für viele Flugschriftenautoren bezeichnet da­ mit das 7. Jahrhundert das Zeitfenster der Machtergreifung des Teufels. 299 

Vgl. oben 91. Vgl. z. B. die Flugschrift „Ain neuer Sendbrief “, in deren ersten Teil Papst Leo X. an den Teufel schreibt. Sie bietet einen knappen historischen Rückblick, wie das Papsttum durch den Beistand des Teufels seine Macht bis zur Gegenwart stetig ausbauen konnte. Auch hier setzt die Machtentfaltung des Papsttums, möglich gemacht durch die aktive Unterstüt­ zung des Teufels, in der Konstantinischen Ära ein. Die vermeintliche Konstantinische Schenkung sei der Moment, in dem das Papsttum sich vom Kaisertum emanzipieren konnte: „was wer uns dann geholfen, daß unser vorfarn und herr bapst Silvester durch E. M. [Luzi­ fers] hilf und große behendigkait Constantinum dahin gebracht het, daß er das ganz Italien wider sein aide und pflicht dem römischen kaisertumb enzogen, ime geben, und uns damit zu E. M. dienste mit hoffart und allem laster gefuert hat.“ (Ain neuer Sendbrief 94,12–17). Vgl. zudem die Flugschrift „Ain groszer Preis“, in der die kirchengeschichtliche Wende von Reinheit zur Verderbtheit unter Papst Silvester I. angesetzt wird (Ain groszer Preis 85,10– 86,14). 301 Vgl. Nazarei 17. 302  Vgl. oben 86. 303  Vgl. oben 100. 304 Vgl. Beutel, Albrecht: Art. „Kirchengeschichtsschreibung, 3. Mittelalter und Neu­ zeit“. RGG4 4 (2001), Sp.  1185: Luther habe das Motiv des Abfalls unterschiedlich datiert, „freilich nie auf die Konstantinische Wende, sondern zumeist auf die Etablierung des Pri­ matsanspruchs des röm. Papsttums.“ Einen Überblick über die unterschiedlichen Datierun­ gen des Beginns des antichristlichen Regiments gibt Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 136.157 ff. Dessen Vorstufen waren für Luther bereits während der Apostelzeit spürbar (vgl. Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 136; vgl. bei Luther: Offenbarung des Endtchrists N1a-N1b). Doch sieht Luther den eigentlichen Beginn des antichristlichen Regi­ ments im Zusammenhang mit dem römischen Primatsanspruch im 7. Jahrhundert (vgl. Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 159; ab 1538 benannte Luther diesbezüglich das Pon­ tifikat Bonifaz’ III., um 1520 verlegte er die Durchsetzung des päpstlichen Primats noch in 300 

3.  Innere Kohärenz

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Doch kann der Zeitpunkt des Abfalls auch noch später angesetzt werden: Johann Sonnentaller z. B. sieht die Christenheit erst seit 600 Jahren im Nieder­ gang begriffen, ohne allerdings genauere Angaben zum Zeitpunkt des Abfalls zu machen.305 Ähnlich verhält sich dies bei Kettenbach, der den eigentlichen Beginn der Teufelsherrschaft ins 11. Jahrhundert verlegt, bei der Datierung aber recht vage bleibt.306 Noch später setzt Eberlin die Machtergreifung des Teufels an, wenn er sie mit der Entstehung der Bettelorden, insbesondere des Franzis­ kaner-Ordens im 13. Jahrhundert parallelisiert.307 Manche Flugschriftenautoren wissen also den Zeitpunkt der Machtergrei­ fung des Teufels bis auf wenige Jahreszahlen genau anzugeben, andere verwei­ sen vergleichsweise pauschal auf mehrere Jahrhunderte oder langdauernde Pro­ zesse. Dabei ist die Frage nach dem geschichtlichen Beginn des großen Abfalls und der Machtergreifung des Teufels für die Flugschriftenautoren von unter­ schiedlicher Bedeutung. Während sie für einige Autoren nicht im Mittelpunkt zu stehen scheint,308 belegen z. B. die Ausführungen Nazareis und Osianders ein gesteigertes Interesse an der Datierungsfrage. Bei Osiander wird sie gar zur die Zeit Kaiser Konstantins IV. (668–685), vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 170). Diese Angabe kann mit den späteren Datierungen, die sich bei Luther finden, insofern aus­ geglichen werden, als letztere „gewisse Anfänge neuer Stadien dieser bösen Entwicklung betonen“ (Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 159), also als Stufen des Herrschaftsausbaus des Antichrist gedeutet werden können (vgl. zu den späteren Datierungen Luthers Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 159 ff.). Zu den unterschiedlichen Datierungen und deren Abhängigkeit vom jeweiligen Fragekontext vgl. auch Seebass: Art. „Antichrist IV“ 30. 305  „So oft und dick ich gedenck an die eynfaltigkeit, gotseligkeit, erbaren wandel unnd christlich leben der alten und den selbigen verglich die, so von sexhundert jaren her biß zu unseren letsten tagen uff uns erwachsen, mag ich wol uß truren mines hertzens mit dem propheten sprechen, Psal. 11 [Ps 12,2]: Hilff Gott, wie ist der christen so wenig worden, und die glaeubigen abgenommen under den lüten.“ (Sonnentaller 397,4–9). Die Verderbtheit des Glaubens habe sich in einem historischen Prozess bis zur Gegenwart gesteigert: „Wie wol es aber eyn lange zitt übel gestanden, ist es doch nie faerlicher gewesen dann zu unsern ziten […].“ (Sonnentaller 397,23–25). 306  Vgl. oben 103. 307  Vgl. oben 106. 308  Dies darf z. B. für Kettenbach und Eberlin angenommen werden, die diesbezüglich keine präzisen Aussagen machen. Doch auch bei den Autoren, die keine exakten Angaben zur Datierung machen, behält die Frage insofern ihre Bedeutung, als sie (wenn auch als lang­ wieriger Prozess verstanden) die Trennlinie markiert, ab der die Tradition massiv verdorben sei. In Bezug auf Luther hat Maurer die Wichtigkeit der Datierungsfrage bestritten: „[…] der Beginn seines [des Antichrists] Auftreten und seine diabolische Selbstentfaltung finden kein besonderes Interesse.“ (Maurer: Kontinuität 79). Freilich hat Luther diesen Beginn unter­ schiedlich datiert und diesbezüglich kein einheitliches Konzept vertreten, doch spricht die Tatsache, dass Luther sich mehrfach Gedanken über den Beginn des antichristlichen Regi­ ments gemacht und ihn mitunter genau datiert hat (vgl. Preuss: Vorstellungen vom Anti­ christ 136.157 ff.; Seebass: Art. „Antichrist IV“ 30), nicht eben für ein lediglich untergeord­ netes Interesse an dieser Frage. Das Fehlen eines über die verschiedenen Entwicklungsstadi­ en Luthers und die unterschiedlichen Fragekontexte hinweg durchgehaltenen Datierungskonzepts belegt nicht ein mangelndes Interesse an der Datierungsfrage an sich, sondern lediglich an deren statischer Beantwortung.

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III. Vergangenheitsdeutung

Quintessenz seiner Vergangenheitsbetrachtung, wenn bei ihm die heilsge­ schichtliche Verortung der Gegenwart als unmittelbarem Ende der Endzeit in entscheidender Weise von der Frage der Datierung der geschichtlichen Macht­ ergreifung des Antichrist abhängt.309 Die Zeitfenster, ab wann der Teufel seine Macht erlangen konnte, differieren zum Teil erheblich: sie reichen vom Ende der Apostelzeit über das frühe 4. bis ins 13. Jahrhundert. Je nach Datierung des Beginns des Einfalls des Teufels er­ gibt sich ein längerer oder kürzerer Verfallsprozess der römischen Kirche. Die beträchtlichen Differenzen in der Angabe des Zeitpunktes sind Ausdruck der frühreformatorischen Vielstimmigkeit und Findungsphase, in der sich noch kein Konsens über ein einheitliches Konzept für die Machtergreifung des Teu­ fels herausgebildet hatte. Der Verfallsgedanke taucht in den Flugschriften in unterschiedlicher Deut­ lichkeit auf: Bei Luther tritt der Gedanke einer prozesshaft sich vollziehenden Verfallsgeschichte neben die Vorstellung der ihrem Wesen nach zeitlosen Du­ plizität der Kirche in der Geschichte.310 Dabei artikuliert sich aber in Luthers Verfallsvorstellungen immer wieder die Beschreibung einer geschichtlichen Entwicklung, wenn er den Abfall der Papstkirche als neuer Kirche von der alten apostolischen Kirche beklagt. Die historische Tatsache des Abfalls und die Er­ füllung der diesbezüglichen Ankündigungen der Schrift bildete ein zentrales Moment Lutherscher Geschichtsdeutung. Auch wenn Luther mehrfach auf die Irrtümer der Alten Kirche hinweist, bringt er ihr doch stets große Annerken­ nung entgegen; so geht er insgesamt von einem guten, im Grunde unverdorbe­ nen Zustand der Alten Kirche aus.311 Im Vergleich mit der zeitgenössischen Papstkirche hat sich hier ein deutlicher Verfall ereignet,312 den Luther unter­ schiedlich datieren kann. Vor diesem Hintergrund spricht Luther von einer Blü­ te- und einer Verfallszeit der Kirche und einer Zeit der relativen Reinheit der Tradition im Unterschied zu der Zeit ihrer zunehmenden Verderbtheit.313 Ob­ schon die Kirche ihrem Wesen nach immer schon duplex ecclesia war, hat sich doch mit dem großen Abfall und dem Auftreten des Antichrist eine qualitative 309 

Vgl. oben 94. Maurer bestreitet in Bezug auf Luther den Gedanken einer Prozesshaftigkeit der Kir­ chengeschichte. Er macht dies gerade auch im Hinblick auf den teuflischen Widerstand ge­ gen Gottes Wort fest. Auch wenn der Teufel im Laufe der Zeit seine Strategien wechseln könne (Maurer: Kontinuität 80), bleibe sein Widersachertum doch stets dasselbe. Der An­ tichrist sei nur eines der verschiedenen Werkzeuge, mittels derer der Teufel die Kirche be­ kämpfe (ebd. 81). Die Verfolgungssituation sei ein Dauerzustand der Kirche (ebd. 79 f.). Nicht die Veränderung, sondern das Immergleiche wolle Luther betonen (ebd. 80, Anm.  18). Dies werde auch im Wesen der Kirche als duplex ecclesia deutlich: Da die Kirche nie ganz rein oder ganz verderbt sei, könne bei Luther auch nicht von einem Bruch in der Kirchenge­ schichte gesprochen werden (ebd. 81.95). 311 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 75. 312  Vgl. ebd. 313  Vgl. z. B. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 170. 310 

3.  Innere Kohärenz

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Veränderung ereignet.314 Vor dem Hintergrund seiner Antichristvorstellung können bei Luther auch übergreifend drei Perioden der Kirchengeschichte un­ terscheiden werden: die frühe Kirche, die Zeit der Herrschaft des Antichrist und die unmittelbare Endzeit.315 Zwar war der Teufel mittels des Antichrist in allen drei Perioden aktiv und insofern zieht sich sein Widersachertum als Kon­ stante durch alle geschichtlichen Zeiten, dennoch heben sich die drei Perioden hinsichtlich des Einflussgrades und der teuflischen Verderbtheit voneinander ab. Mit dem Auftreten des Antichrist tritt das Widersachertum des Teufels in ein neues geschichtliches Stadium über. So betont Luther mehrfach, das antichrist­ liche Regiment bedeute eine völlig neue Qualität der Verderbnis, die sich auch geschichtlich beschreiben lässt.316 Dabei wird an Luthers Gedanken über das Auf kommen des antichristlichen Regiments beispielhaft eine Vorstellung von einer geschichtlichen Entwicklung deutlich, wenn er drei Etappen der anti­ christlichen Entwicklung benennt: „Denn also ist auff kommen das Reych des Roemischen Endtchrists / das man bald / ja gleich noch zue zeytten der Aposteln angefangen hatt / durch die werck woellen frumm vnd saelig werden / darnach / das man ettliche weyße vnnd geberden des Gottes dienst / in der Kirchen (wie sy sagen) zu ainer zier vnd wolstand hat angericht / Zu letst hatt die selbige der Roemische Bischoff alle zue hauffen geraffet / vnd die selbigen in harte vnnd strenge gesetz verwandelt / vnnd damitt die Christliche freyhait vnderdruckt […]“.317

Die Annahme einer geschichtlichen Verfallsentwicklung, die sich von dem Ide­ alzustand der Urkirche aus schrittweise vollzogen habe, tritt bei anderen Auto­ ren noch deutlicher hervor. Dies gilt u. a. für Nazarei, dessen Geschichtsver­ ständnis enge Berührungen mit dem Luthers aufweist,318 aber noch stärker auf die Verfallsidee hin konzipiert ist.319 Vor dem Hintergrund der von Nazarei ausführlich dargestellten Wehrhaftigkeit der frühen Christenheit gegenüber den Anschlägen des Teufels wird die Urkirche zum historischen Referenzhorizont, auf deren Vorbild hin er die zeitgenössische Kirche reformiert sehen will.320 314  Zur Kulmination der Häresie durch die Sendung des Antichrist vgl. Barth: Teufel 106 ff. 315 Vgl. Headley: Church history 162 ff. 316 Vgl. Luther: Offenbarung des Endtchrists L3aff.R3a-R3b. 317  Luther: Offenbarung des Endtchrists N1a-N1b. Vgl. auch Schwarz: Wahrheit 175. 318 Vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 170. 319 Nazarei macht die Verfallsidee zur Grundlage seiner Geschichtsbetrachtung (vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 152) 320 Die Urkirche gilt ihm als die geschichtliche Verwirklichung der Weisungen der Schrift, vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 163: „J. N. mißt seine Zeit nicht einfach an den Forderungen des Evangeliums, sondern an der Urkirche, in der er den Willen Gottes am klarsten verwirklicht sieht. Sein Ziel ist somit nicht die ‚revolutio‘ der Kirche, sondern ihre ‚reformatio‘ zu diesem Vorbild hin […].“ Zu humanistischen Einflüssen und Berüh­ rungspunkten in Nazareis Hochschätzung der Urkirche vgl. Hofacker: Vom alten und nüen

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III. Vergangenheitsdeutung

Nazarei hebt einen bestimmten Moment als Wendepunkt der Kirchengeschich­ te hervor, ab dem der Teufel „ein Loch in den Zaun gemacht“ und die Kirche verdorben habe.321 Die gesamte nachfolgende Geschichte wird als Verfallsge­ schichte konzipiert, die von der steten Einflusserweiterung des Teufels gekenn­ zeichnet sei. Das zentrale Kriterium für den Verfall ist Nazarei die Perversion des Evangeliums, welches vom Teufel zunehmend verfälscht wurde.322 Dabei benennt Nazarei verschiedene Konjunkturen der teuflischen Macht, die er his­ torisch verifiziert. So ist seiner Verfallsidee der Gedanke einer fortschreitenden Entwicklung unterlegt, wenn er den Teufel zur Zeit der Urkirche noch durch Christi Auftreten und die Glaubenstreue der frühen Christen geschwächt sieht, dann aber eine schrittweise Steigerung der teuflischen Macht bis zur fast völligen Vereinnahmung der Kirche in der reformatorischen Gegenwart beschreibt. In der geschichtlichen Entwicklung der Machtstellung des Teufels können idealtypisch vier Phasen unterschieden werden, welche die Spanne von der Ur­ kirche bis zur Gegenwart umfassen: Es sind dies die Phasen des geschwächten Teufels, des erstarkenden Teufels, der Machtübernahme und des Herrschafts­ ausbaus des Teufels. Besonders die „Phasenmodelle“ Nazareis323 und Osian­ ders324 stehen paradigmatisch für die mehrstufige teuflische Erfolgsgeschichte Gott 148. Mit der Kontrastierung der Urkirche mit der zeitgenössischen Papstkirche erweist sich Nazarei eindeutig als Vertreter der Verfallsidee, vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 156: „Mit dieser Hochschätzung der Urkirche und ihrer sanctitas vitae reiht sich Judas Nazarei in die Reihe der Vertreter der Verfallsidee ein, welche die arme, verfolgte, aber im Glauben um so reichere Urchristenheit mit der veräußerlichen Kirche ihrer Gegenwart ver­ gleichen.“ 321 Vgl. Nazarei 19, vgl. oben 87. 322  Das Verlassen des Armutsideals wird auch von Nazarei beklagt und schon in der Kon­ stantinischen Ära erkannt (vgl. Nazarei 17), doch bezeichnet für ihn den eigentlichen Wen­ depunkt und den Moment des Abfalls der Primatsanspruch des römischen Bischofs. Ab hier habe der Teufel durch das Papsttum die Weisungen der Schrift systematisch verfälscht, vgl. Nazarei 18 ff. 323 Nazarei (vgl. oben 80  ff.) lässt mit Christi Auftreten die Phase des geschwächten Teufels beginnen, der in der Zeit des Urchristentums darum ringt, seinen vorherigen Einfluss wiederzuerlangen. Daran schließt sich die Phase des allmählichen Erstarkens des Teufels an: Die Verfallserscheinungen innerhalb der Christenheit nehmen zu; dem Teufel gelingt es immer öfter, Einzelpersonen zu verführen. Es folgt die Phase der Machtergreifung, als der Teufel den römischen Bischof den Primat beanspruchen ließ. Dieser Anspruch stellt für Na­ zarei den grundlegenden Wendepunkt in der Entwicklungsgeschichte des Teufels dar, von dem aus er seinen Einfluss auf die Christenheit institutionell abgesichert hatte und verstetigen konnte. Anschließend betrieb der Teufel die Sicherung und den Ausbau seiner Herrschaft bis zur totalen Machtentfaltung, der kaum ein Christ widerstehen konnte und in der selbst die Heiligen irren sollten. Das Ende dieser beispiellosen Erfolgsgeschichte des Teufels kündige sich jedoch bereits an, weshalb die letzte Phase der teuflischen Entwicklungsgeschichte nicht mehr allein zur Vergangenheit gehört, sondern in die reformatorische Gegenwart und die nahe Zukunft weist, in der sich die Vernichtung des Teufels vollzogen haben werde. 324  Osiander (vgl. oben 89 ff.) benennt die vier Phasen explizit, fasst aber im Vergleich zu Nazarei die Phase des geschwächten Teufels, der im Laufe der Zeit langsam erstarkte und schließlich in einem günstigen geschichtlichen Augenblick die Macht ergriff, zu einer Phase,

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und finden sich mehr oder weniger deutlich benannt in diversen Flugschriften. So wird gerade an den reformatorischen Teufelsvorstellungen das erwachende Bewusstsein für die Prozesshaftigkeit der Geschichte deutlich – freilich ganz nach theologischen Kategorien betrachtet, bestimmte nicht die Wiederholung des Immergleichen, sondern die Kulmination der teuflischen Bedrohung die reformatorische Wahrnehmung. Die nachurchristliche Vergangenheit wird da­ mit – in signifikantem Gegensatz zur altgläubigen Vergangenheitsdeutung – zur Erfolgsgeschichte des Teufels, deren Ende heraufzuführen der reformatorischen Gegenwart als Aufgabe gestellt sei.

3.3  Kirchengeschichte als Widerstand gegen den Teufel Gemäß der Logik des historischen Legitimationsgestus korrespondierten mit den reformatorischen Verfallsvorstellungen immer auch Vorstellungen von der Kontinuität der wahren Kirche. Diese war im reformatorischen Verständnis als Gemeinschaft der Glaubenden im Geist Christi vereint und daher zumeist un­ sichtbar; dennoch wird die wahre Kirche und deren Vertreter immer auch als empirische Realität gedacht. So wird in den Flugschriften immer wieder auf Glaubensstreiter verwiesen, welche die wahre Kirche gegen die Angriffe des Teufels verteidigten. Vor allem durch den Rekurs auf die Urkirche, aber auch durch das Aufzeigen der wahren Glaubenszeugen in der nachurchristlichen Geschichte wurde eine Widerstandtradition gegen die Teufelsherrschaft nachgezeichnet, die es fortzu­ schreiben gelte. Mit dieser Widerstandstradition wurde ein positiv besetzter Gegenstrang zur Erfolgsgeschichte des Teufels konturiert, der den Fortbestand der wahren Kirche repräsentierte, welche trotz aller Teufelsmacht beständig von Gott erhalten wurde. Indem die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung auch diese geschichtliche Linie nachzeichnete, wurde der Anschluss an diese geschichtlichen Formen der wahren Kirche und des Widerstands gegen die Teufelsherrschaft eingefordert und die Reformationsereignisse als deren legiti­ me Fortführung gedeutet – die in der Gegenwart betriebene Sammlung der Auserwählten wurde als letzte, den Endsieg heraufführende Mobilmachung ge­ gen den Teufel in historische Kontinuität gestellt zu den Glaubensstreitern der Vergangenheit. Ausgangspunkt für die historische Betrachtung der Glaubensstreiter war das Urchristentum. Als geschichtlicher Erstgestalt der Kirche war hier die Reinheit dem ersten Alter des Antichrist, zusammen. Stattdessen benennt Osiander zwei Phasen der Machtentfaltung des Antichrist: Das zweite Alter, in dem er seine Herrschaft sicherte, und das dritte Alter, in dem der Teufel den Höhepunkt seiner Machtakkumulation und Einfluss­ nahme erreichte. Dieser Kulminationsphase schließt sich die Phase des Niedergangs der teuf­ lischen Macht an, die mit der reformatorischen Gegenwart bereits angebrochen sei und bis zur künftigen Vernichtung des Antichrist währen werde.

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III. Vergangenheitsdeutung

des Glaubens gegen die Angriffe des Teufels noch bewahrt worden. Mit dem Urchristentum als geschichtlichem Referenzhorizont wurde der von den Alt­ gläubigen als neu denunzierte reformatorische Glaube historisch anschlussfähig gemacht durch die Berufung auf die alte und ursprüngliche Tradition, von der die Papstkirche seit langem abgewichen sei. Die Ablehnung der schriftwidrigen Tradition, welche die mittelalterliche Wirklichkeit der Kirche bestimmt habe, korrespondierte mit der Berufung auf eine schriftgemäße Tradition, welche sich in der Apostelzeit und teilweise in der Alten Kirche manifestiert habe. Obschon sie aus Sicht ihrer Gegner grundsätzlich unter dem Vorzeichen des Traditions­ bruchs standen, deuteten sich die reformatorischen Bewegungen in ihrer Selbst­ wahrnehmung als Fortführung der wahren alten Tradition und vertraten inso­ fern keinen reinen Antitraditionalismus.325 Der Rückbezug auf das Urchristen­ tum und das Heilsgeschehen in Christus machte die Reformation zu einer „Erinnerungsrevolution“, die sich gegen die überkommene Tradition als Wie­ deraufnahme alter Wahrheit verstand.326 Während die Urkirche den historischen Referenzhorizont für die relative Reinheit der Tradition darstellte, erhielt dagegen die nachurchristliche Ge­ schichte die Signatur der Teufelsherrschaft. Doch selbst in dieser Zeit der Teu­ felsherrschaft, die bis in die reformatorische Gegenwart hineinrage, gab es im­ mer wieder von Gott berufene Glaubenszeugen, die dem Teufel Widerstand leisteten und die Kontinuität der Wahrheit historisch exemplifizierten – zu allen Zeiten habe Gott die Kirche erhalten und ihr seine Auserwählten gesandt.327 Mit der Hochschätzung dieser Glaubenszeugen formulierten die Flugschriften bereits in der frühen Reformationszeit die Ansätze einer positiv besetzten Ge­ gentradition, die mit der Entwicklungsgeschichte der Papstkirche kontrastiert wurde. So wurde die Kontinuität der wahren Kirche aufgrund ihrer relativen Unab­ hängigkeit vom Papsttum vorrangig in fernen Ländern verortet.328 Doch nicht 325 

Abgelehnt wurde das Traditionsprinzip, nicht die Tradition, vgl. Beintker: Art. „Tra­ dition VI“ 721. Die Berufung auf die altkirchliche Tradition und die Väter spielte dann auch in der Confessio Augustana eine entscheidende Rolle, siehe Hauschild: Bewertung der Tradition 208 ff. 326 Vgl. Fuchs: Reformation 89. 327  Vgl. z. B. Eberlin: „Christus hat zu allen zeiten, in allen landen, vnd standen etlich außerweldte schaefflin, die er außerweldt hat, beruefft vnd selig macht […].“ (Eberlin: Bericht 176). Vgl. auch Stifel: In Auslegung Off b 14,3 habe Gott immer wieder Auserwählte vor dem Irrtum bewahrt: „Wie wol jm gott allweg ettlich hat vßerwelt, die er vorbehalten hat von solicher irrung. als dann solichs bedeütet der text Apocal. xiiij [Off b 14,3] von den fyertzehen hundert mol tausent vnd fyer tausent, die Joannes hatt gesehen ston bey dem lamb vff dem berg Syon.“ (Stifel: Christförmige Lehre 336,26–30). 328  „[…] noch wern gut christenn in Indian, in Affrica, in Krichenlad vnd in den lendern, die der Roemisch pfarer verbant hat vnd als sy nit haben wolten sein talmuth vnd gesetz annemen sonder by christi gesetz blyben. das synd dy besten christen. Die rott Hur vonn Babilon schendt all, die nit mit ir bulen woeln […].“ (Kettenbach: Ein neu Apologia 173,20–26). Kettenbach greift hier einen beliebten Topos mittelalterlicher Oppositioneller

3.  Innere Kohärenz

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nur in fernen Ländern habe die wahre Kirche fortbestanden, auch im Abend­ land habe sie im Verborgenen die Jahrhunderte seit dem Abfall der römischen Kirche überdauert. Seit der Zeit der Alten Kirche bis in die unmittelbare refor­ matorische Gegenwart setzten immer wieder Einzelne der Einflussnahme des Teufels ihren Widerstand entgegen, der jedoch stets vom Teufel und seinen Agenten als ketzerisch denunziert und unterdrückt wurde.329 Als Leitmotiv für die Qualifikation zum Glaubensstreiter tritt in den Flugschriften die Kritik an der offiziellen Kirchlichkeit in den Vordergrund. So wird beispielsweise At­ hanasius (Bischof von Alexandria, ca. 298–373) genannt, der den Arianismus bekämpfte und sich damit gegen die Mehrheit der führenden Kirchenvertreter gestellt habe und dennoch im Recht gewesen sei.330 Vorwiegend werden jedoch Glaubenszeugen der jüngeren Vergangenheit bis zur Gegenwart benannt, die – wie allen voran Eberlin herausstellt – vor allem durch die Mönchsorden be­ kämpft worden seien: „[…] das sy also zusamen halten zu trucken vnd würgen alle geschickte leüt der waelt, wie sie gethon haben Johanni huß, Jheronimo von Prag, Johanni von Mesalia, Johanni reüchlin, Martino luther, Johanni Gerson, Erasmo roterdamo.“331

Teufel und Antichrist ließen schon immer die wahren Glaubensstreiter verfol­ gen und die Erlösungsbotschaft unterdrücken, wie das Schicksal vieler histori­ scher Persönlichkeiten erweise: „Vnnd so yemandt (als kayser friderich vnd etlich christlich leerer als Johannes Ockan, Johannes huß etc., Hieronimus von ferraria, yetzund Luther) euch vnnd eiren herren hat wollen erloeßen, so hat er in gethon wie die Juden jrem Christo, den aposteln vnnd prophetten vnd haben helffen verfolgen all, die euch ye haben wellen erloeßen von des Enndtchristen gesetz vnnd von der Babilonischen gefengknuß.“332

auf; so hatte z. B. John Wyclif vor allem die griechische, aber auch die indische Kirche als vorbildlich hingestellt, da diese als vom Papsttum relativ unbeeinflusst galten, vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 231). 329  „[…] ob schon ettlich fromm lerer das widerspyl geschriben haben in dyser zeit [des Abirrens], so hat man ire buecher vndertruckt vnd ire ler für kaetzerisch gehalten, do mit solich endtchristlich erfindung vnd lere ein fürgang hette […].“ (Eberlin: Bundesgenossen 169). Vgl. auch Luther: Der immer wieder aufflammende Widerstand wurde im Verlauf der Geschichte stets erfolgreich unterdrückt: „Wie offt haben sich aber wider den grewel ge­ setzt / die teutschen Kayser / vnd andere Künige? Wie vil Bischoffe? dar zu wie vil frummer gelerter maenner? Sy seynd aber allzuemal vberwunden / vndertruckt vnd vertilget wor­ den / es hat alweg gewonnen die krafft des irrthumbs.“ (Offenbarung des Endtchrists T3b). 330 Vgl. Nazarei 13. Zudem Kettenbach: Kirche 92,19–23: „Athanasius was wider den kayser vnd all bischoff der Christenhait (wenig ausgenommen), vnd die bischof mit jren platnern wider jn. Athanasius het recht vnd was ain guter Christ, die andern hetten vnrecht vnd waren all ketzer.“ Vgl. auch Kettenbach: Küchenprediger 37,16–22. 331  Eberlin: Bundesgenossen 99. 332  Kettenbach: Altmütterlein 74,26–75,3.

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III. Vergangenheitsdeutung

In diese Front der Widerstandskämpfer gegen die Teufelsherrschaft werden häufig auch weltliche Herrscher eingereiht, wie z. B. die Kaiser Friedrich Bar­ barossa und Sigismund,333 zudem Heinrich [IV. ?], Otto [I. ?], Friedrich II. und Ludwig der Bayer.334 Doch war die Machtposition des Teufels in der Vergan­ genheit so gefestigt, das er bislang jedweden Widerstand mit Gewalt nieder­ schlagen konnte: „Alle, die sich wider den disen endchrist haben auffgeworffen, seind mit gewalt vertylgett worden.“335 Als paradigmatisch für die gewaltsame Unterdrückung der Glaubenszeugen werden in den Flugschriften besonders die Schicksale von Johannes Hus und Hieronymus von Prag hervorgehoben, die sich gegen die Teufelsherrschaft er­ hoben und dafür das Martyrium erleiden mussten.336 Vor allem in Johannes Hus erkannten viele Flugschriftenautoren einen Vorläufer der reformatorischen Be­ wegungen, der den Widerstand gegen die Teufelsherrschaft angefacht habe, welchen nunmehr die reformatorischen Zeitgenossen fortzuführen und zu voll­ enden aufgerufen seien. So hat z. B. für Luther der Antichrist seit ca. 100 Jahren zunehmend Widerstand erfahren. Was mit Hus begann und seinerzeit noch vom Antichrist unterdrückt werden konnte, vollende sich in der reformatori­ 333  Vgl. z. B. den Teufelsbrief „Ain neuer Sendbrief “: „wie wol kaiser Fridrich, Barbaros­ sa genant, ainem haidnischen künig durch ains bapsts verraten (das sich in der beicht begab) übergeben ward, und doch auß sonderlichem mitleiden ließ kaiser Friderich gemelten bapst strafens ledig: noch dann kam es durch euer majestet [des Teufels] hilf darzu daß er dem selben bapst sein fueß hat mueßen küssen, der doch billicher als ain verräter zu strafen wirdig gewest wer. so ist E. M. unsern [der Päpste] vorfarn auch mit trostlicher hilf erschinen zu zeiten als kaiser Sigmund ime fürnam ain reformation unter uns aufzurichten und von wir­ den ainem ieglichem gaistlichs stands ain eerliche compotenz zu machen. und wie wol die selbig genugsam were und mer dann durch Christum Jesum zugelaßen ist worden, noch dann do uns die weltlich öberkait und der gewalt hat sollen enzogen werden und zu besorgen daß mir unser hoffart, geitigkait, unkeuschait, liegen und ander laster (da mit E. M. mit fleiß gedient wirt) verlaßen müesten, also daß wir E. M. so statlich nit mer dienen und das helli­ sche reich wie vor meren möchten: so haben unser vorfarn den selbigen kaiser umb seiner frümbkait willen mit E. M. rat und hilf ertöten laßen.“ (Ain neuer Sendbrief 94,17–37). 334 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 81. 335  Marschalck 565,37 f. Vgl. auch Nazarei: Die von Gott gesandten Glaubenszeugen, die die rechte Unterscheidung des alten und der neuen Götter lehren wollten, sind allesamt den Verschwörungen der neuen Götter zum Opfer gefallen: „Dan so etwan gott der her sich vnser blindheyt erbarmdt, vnd einen frommen gelerten gotfoerchtigen man erkückt, der vnß die ougen vnser verstentnuß vff wil thun, wyl vns vnterscheyt anzeygen, zwischen bly vnd arabischem feinem golt, zwischen den nüwen goettern vnnd alten ewigen gott, zwischen dem nüwen aberglaubenn vnd rechtem Christlichem glauben, zwischen der menschen leer vnd gesatz, vnnd der heiligen goetlichen geschrifft, Was geschicht? als baldt man eins soel­ chen gewar wirdt, so sint die tempelknecht die ersten die sie angeben, ire wort verkeren, vnd baldt den nüwen goettern verkünden wie einer sey, der sie vertriben woell, So kommen die nüwen goetter zesamen, vnd ratschlagen wider yn […].“ (Nazarei 35 f.). 336  Z. B. in dem Teufelsbrief „Absag oder Fehdschrift“: „Daruff wir dann damals zwen verprecher vnd vbertretter soelchs gebots [die Hl. Schrift nicht zu gebrauchen], nemlich Johannem Huß vnd Hieronimum von Prag (die sich auch deiner art nach wider vns zefechten vnderstehen wolten) grausamlich straffen vnd verbrennen liessen.“ (Absag oder Fehdschrift 365,14–17). Vgl. auch Kettenbach: Practica 191,5–7.

3.  Innere Kohärenz

127

schen Gegenwart – die Entmachtung des antichristlichen Regiments in nahrer Zukunft: „Wie wir sehen, das des Bapsts regiment bey hundert jaren her ymer widderstand gehabt hat und abgenomen, on das ynn dem Concilio zu Costnitz, da Johannes Huss verbrand ward, er yderman schrecket, das man yhn fur Got hielt, die warheit aber kam doch bald erfur, bis ytzt her, da es nu gar veracht ist, und nicht lang mehr stehen kan.“337

In ähnlicher Weise stellt Eberlin den reformatorischen Auf bruch in historische Kontinuität insbesondere zur jüngeren bis jüngsten Vergangenheit. Nachdem Gott seit dem 13. Jahrhundert eine Periode der Finsternis und der Teufelsherr­ schaft verhängt habe, rege sich seit mehr als 100 Jahren zunehmend Widerstand. Durch die Fürbitte derer, die zu Lebzeiten geirrt und Falsches gelehrt hatten, erbarme sich Gott und berufe in zunehmendem Maße Widerstandskämpfer ge­ gen die Teufelskirche. Namentlich verweist Eberlin auf Johann Duns Scotus, Wilhelm Ockham, Johannes Gerson und Gabriel Biel, auf deren Betreiben ze­ remonielle Äußerlichkeiten zurückgedrängt worden seien.338 Sie stehen für den sich regenden Widerstand gegen den Teufel, als dessen Fortschreibung Eberlin den reformatorischen Auf bruch deutet.339 337 

WA 15; 753,35–754,14. dich nit bekümmeren das etlich lerer als Thomas vnd sins gelichen, vyl vff diß vnd andere roemisch oder menschlich ordnung gehalten haben, dann sy gelaebt haben yn der begryfflichen finsternüß die got verhengt hat zwey hundert jar lang vber die christenheit, vnd ich gloub das die selbigen lerer, welche vylicht by got im hymmel sind, ein mitliden mit vnß haben das wir durch ir irrsal also irr gond, und got fleissig bitten vmb vnser erleüchtung, vnd got geweret sy an vnß, dann wol hundert iar lang vnd lenger hat ie meer vnd meer zu genomen klein haltung solcher ceremonien, als du lyst im Scoto, Okam, Gerson, vnd ne­ wlich in der epikierung der doctoren so vnder geschriben haben den ratschlag doctoris Gab­ rielis Biel vom fasten.“ (Eberlin: Bundesgenossen 22). 339  Die in den „Bundesgenossen“ artikulierte Einschätzung Eberlins, im letzten Jahrhun­ dert sei eine tendenzielle Besserung der kirchlichen Zustände eingetreten, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu seinen weit häufigeren Aussagen über die stete Zunahme der teuflischen Verderbtheit der Frömmigkeit bis in die reformatorische Gegenwart hinein. Z. B. in der Flugschrift „Andere Vermahnung“ betont Eberlin die Steigerung der Verblen­ dung seit 200 Jahren, die selbst die Auserwählten hat irren lassen. Allerdings wird auch hier festgehalten, es gebe wenige, durch Gott in besonderer Weise berufene Ausnahmen: „Und ob ye ein lauter klare lere von Christo furgetragen were worden vnsern vorfarenden vnd altfordern, so ist doch vor yetz zweyhundert yar an die warheyt, wilche Christus ist, also gemartert vnd getoedt, ya begraben worden durch den Bapst, Bischoff, Hochschulen vnd kloestern, das auch die auserwelten Gottis yrrig worden seint, vnd niemant odder wenig, on sondere wunderwerck Gottis, hat meer Christum moegen fynden.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 4). Diese Belegstelle legt nahe, dass die von Eberlin in den Bundesgenossen ge­ nannten Glaubenszeugen den Ausnahmen entsprechen, von denen in der „anderen Vermah­ nung“ die Rede ist. Auf jeden Fall bringen für Eberlin erst die Ereignisse in der unmittelba­ ren reformatorischen Gegenwart die grundlegende Wende von der Teufels- zur Gottesherrschaft: „Aber merklich erbarmet sich got vber die waelt zu vnseren tagen do ewangelische fryheit lüchtet, vnd menschlich gesatß in irem grad abgestossen wirt.“ (Eberlin: Bundesgenossen 22). 338  „Laß

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III. Vergangenheitsdeutung

Die in den Flugschriften genannten Repräsentanten der wahren Kirche ha­ ben als gemeinsames Merkmal ihre kritische Haltung gegenüber der offiziellen Kirchlichkeit.340 Als Gegenbewegung zur Teufelsherrschaft habe die wahre Kirche vor allem in den Kritikern des Papsttums fortbestanden und sei durch ihre stete Verfolgungssituation gekennzeichnet.341 Doch treten die von den Flugschriften benannten Glaubensstreiter sowohl außerhalb wie innerhalb der römischen Kirche in Erscheinung.342 Daher ist die Geschichte der Kirche keine reine Ketzergeschichte.343 Die Unterscheidung von wahrer und falscher Kirche zieht sich durch die sichtbare Kirche hindurch, innerhalb derer folglich beide zu finden sind.344 Wenn nun nach reformatorischer Deutung die sichtbare Kirche durch das Papsttum dem Teufel anheim gefallen war, so bedeutet dies nicht, dass damit die wahre Kirche innerhalb der sichtbaren Kirche völlig ausgelöscht worden wäre. Auch die wahre Kirche behielt eine geschichtliche Wirklich­ keit,345 an welche die Vergangenheitsbetrachtung der Flugschriften in histori­ scher Hinsicht Anschluss suchte: Sie wies den geschichtlichen Fortbestand der wahren Kirche nach und legte ihre verdeckten historischen Bezüge und Konti­ nuitäten frei, die zuvor von dem Geschichtsanspruch der Papstkirche als Kirche des Teufels überlagert waren. Dabei war es nicht das Anliegen der Flugschriften, eine lückenlose Doku­ mentation der Glaubensstreiter zu bieten. Die Ablehnung des successio-Typs des historischen Legitimationsgestus machte den Nachweis einer ununterbroche­ 340  Die teilweise in einem Atemzug Genannten bildeten keine homogene Gruppe und konnten mitunter völlig gegensätzliche Positionen beziehen. So wird z. B. Johannes Gerson von Eberlin aufgrund dessen Kritik am Vollkommenheitsideal des Klosterlebens sowie als Anführer der Reformpartei auf dem Konzil von Konstanz hoch geschätzt, doch stimmte Gerson auf besagtem Konzil auch für die Hinrichtung von Johannes Hus und Hieronymus von Prag, die Eberlin in die gleiche Aufzählung der Glaubensstreiter einreiht, vgl. Eberlin: Bundesgenossen 99; vgl. auch die Anmerkungen Enders’ zu Gerson, Enders 1, 211. Doch findet die Aufzählung der reformatorischen Flugschriften ihre innere Kohärenz in der kriti­ schen Haltung zum Papsttum, unter Ausblendung aller etwaigen Gegensätzlichkeit. 341  Vgl. z. B. Kettenbach: Ein neu Apologia 173,20–26. 342 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 79 (mit Belegen und Verweisen) in Bezug auf Luther: Einerseits werden Ketzer zu den Repräsentanten der wahren Kirche gezählt (z. B. Hus, Hieronymus von Prag, Wycliff etc.), andererseits werden nicht alle Ketzer als recht­ gläubig hingestellt (vor allem die altkirchlichen Ketzerbewegungen werden auch von Luther verurteilt). Zudem finden sich die Glieder der wahren Kirche auch innerhalb der römischen Kirche, auch noch nach der Zeit des antichristlichen Verfalls (z. B. Konstantin, Cyprian, Augustin, Ambrosius, bzw. Berhard, Bonaventura, Franziskus, Dominikus, Tau­ ler, Staupitz etc.). 343 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 79 in Bezug auf Luther: „Die wahre Kirche Christi läßt sich also nicht einfach auf Grund einer Negation oder durch den Protest zur vorfindlichen, anerkannten Kirche bestimmen.“ 344  Vgl. in Bezug auf Luther: Wendebourg: Kirche 408 f. 345  Vgl. in Bezug auf Luther: Althaus: Theologie Luthers 296: „Die wahre Kirche ist in diesem Sinne also Gegenstand nicht nur des Dennoch-Glaubens, sondern auch der ge­ schichtlichen Erfahrung, in einer offenkundigen Kontinuität, zu der Luther sich immer wie­ der bekannt hat.“

3.  Innere Kohärenz

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nen Kontinuitätslinie der wahren Kirche ohnehin entbehrlich.346 Auf der Grundlage des reformatorischen Kirchenbegriffs, nach der die wahre Kirche sich zumeist im Verborgenen konstituiert, begnügten sich die frühreformatori­ schen Flugschriften mit dem punktuellen Aufweis der Glaubenszeugen, zumal die Aufstellung einer durchgehenden Kontinuitätslinie der Glaubenszeugen auch vor dem Hintergrund des reformatorischen Minoritätsgedankens, nach dem die Bekenner der Wahrheit stets nur Wenige sind, nicht erforderlich zu sein schien. Auch wenn den frühreformatorischen Flugschriften also das Unternehmen des Flacius noch fremd und der Nachweis einer ununterbrochenen Kontinui­ tätslinie der Glaubenszeugen nicht das Ziel war,347 so blieb doch das punktuelle Benennen von Glaubenszeugen, die in der Vergangenheit dem Teufel ihren Widerstand entgegengesetzt hatten, von tragender Bedeutung, um dem altgläu­ bigen Vorwurf der Neuerung begegnen zu können. Mit dem Nachzeichnen dieser Tradition des Widerstands gegen den Teufel und deren gewaltsamer Un­ terdrückung wird in den Flugschriften einerseits die geschichtliche Kontinuität der reformatorischen Botschaft betont, andererseits der Gegenwart eine völlig neue qualitative Stufe im heilsgeschichtlichen Prozess zugewiesen, da erst die reformatorische Gegenwart das Ende der Teufelsherrschaft heraufführen werde. Die Selbstbeschreibung der reformatorischen Bewegungen als Fortführung und Vollendung dieser Widerstandstradition gegen den Teufel schuf die Grundlage sowohl für die legitime Abweichung von der papstkirchlichen Tradition wie für die Ausbildung einer genuin reformatorischen Identität.

3.4  Das Verhältnis von Verfalls- und Kontinuitätsidee In den frühreformatorischen Flugschriften artikulieren sich deutliche Verfalls­ vorstellungen, wenn der Verlauf der nachurchristlichen Geschichte als zuneh­ mende Einflussnahme des Teufels auf die Kirche gedeutet wird. Die eigene Charakteristik der reformatorischen Verfallsidee lässt sich dabei vor allem im Vergleich mit der aus dem Mittelalter überkommenen Verfallsidee erfassen. Obschon viele der mittelalterlichen Vertreter der Verfallsidee von der Reforma­ tion als Wahrheitszeugen in Anspruch genommen wurden,348 ist die mittelal­ terliche Verfallsidee in der Reformationszeit nicht fortgeschrieben, sondern in spezifischer Weise neu gebildet worden. Schäufele benennt in seinem Ausblick drei Faktoren der Diskontinuität zur mittelalterlichen Verfallsidee: Zum einen sieht er die Armutsthematik, welche die Ausgestaltung der mittelalterlichen Verfallsidee prägte, in der Reformati­ 346 Vgl.

Schäufele: Defecit Ecclesia 369. Zu Flacius siehe Olson.: Art. „Flacius Illyricus, Matthias“ 206–214. 348 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 366. 347 

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III. Vergangenheitsdeutung

onszeit an Bedeutung verlieren.349 Dies kann für die frühreformatorischen Flugschriften bestätigt werden: Das Armutsideal spielte zwar im Kontext des reformatorischen Antiklerikalismus weiterhin eine Rolle, wenn der anfängli­ chen Armut der Kirche ihr zunehmender Reichtum im Sinne der Verfallsidee gegenübergestellt wird, doch verlagerte sich der Akzent der reformatorischen Kirchenkritik auf die Perversion der Lehre und die weltliche Machtentfaltung des Klerus. So beklagt z. B. auch Nazarei den zunehmenden Reichtum der Kir­ che und die mehrheitlich vom Ideal der Urkirche abweichende Lebensweise der klerikalen Hierarchie, doch macht er die Geringschätzung des Evangeliums und die Hinwendung zur weltlichen Macht zu den entscheidenden Verfallskriterien. Damit verschiebt er den Wendepunkt in der Geschichte der Kirche von der Konstantinischen Ära auf die nachgregorianische Ära ab Bonifaz III.350 Beson­ ders sinnfällig wird der Bedeutungsverlust der Armutsthematik in der Refor­ mationszeit zudem, wenn die aus dem Geiste der Armutsbewegung hervorge­ gangenen Bettelorden als Herrschaftsinstrumente des Teufels gedeutet werden, mittels derer er die Heilsbedeutung des Evangeliums herabwürdigen wolle.351 Als weiteres Moment der Diskontinuität zur mittelalterlichen Verfallsidee be­ nennt Schäufele den Ausfall der Konstantinischen Schenkung, die als histori­ scher Bezugspunkt für den Verfall in der Reformation keine Rolle mehr spiele, da sie als Fälschung entlarvt worden war.352 Diese These gilt jedoch nur mit Einschränkungen: Einige Flugschriften verlegen den Beginn des Verfalls nach wie vor in die Konstantinische Ära.353 Der Grund hierfür könnte teilweise da­ rin liegen, dass sich die Tatsache der Fälschung, die erst mit Huttens Neuher­ ausgaben der Schrift Vallas zu höherem Bekanntheitsgrad gelangte,354 in der frühen Reformationszeit noch nicht von allen Flugschriftenautoren zur Kennt­ nis genommen worden war.355 Für Osiander jedoch kann dies nicht in Anschlag gebracht werden, da die Tatsache der Fälschung ihm durchaus bewusst war – sie 349 Vgl.

Schäufele: Defecit Ecclesia 366. Nazarei 17: „Diser groß Gregorius ist der letst bischoff zu Rom gewesen, so in gemeinen fuß stapffel als die apostel vnd lieben marterer gelebt haben. Wiewol von Constan­ tini deß keisers zit die bischoff zu rom von tag zu tag in rychtum zu namen, vnd nymmer allsambt so gar ernstlich dem Euangelio nachlebten, als die vordern vor Constantini ziten, vnd darnach ye mer vom Euangelio zun cerimonien lendenten, ein statut nach dem andern vffsatzten: Doch schmuckten sy sich in gutem wandel biß vff den Gregorium, do haben sy das Euangelium buch gar zu thon, vnd die hoeff der fürsten angefangen offenlich zu begru­ essen […].“ 351  Vgl. z. B. Eberlin, oben 106. 352 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 366 f. 353  Dabei geben sie vor dem Hintergrund des geschilderten Bedeutungsverlustes der Ar­ mutsthematik weniger die verloren gegangene Armut als vielmehr den weltlichen Herr­ schaftsanspruch der Kirche als Verfallskriterium an, vgl. z. B. Ain neuer Sendbrief 94,12– 17; Osiander: Ratschlag 360,3–22; Ain groszer Preis 85 ff. 354 Vgl. Fuhrmann: Art. „Constitutum Constantini“ 200. 355  Dies darf bezüglich der Flugschrift „Ain neuer Sendbrief“ angenommen werden, da sie so formuliert ist, als habe die Schenkung tatsächlich stattgefunden. 350 Vgl.

3.  Innere Kohärenz

131

bestätigte ihm die Identifikation des Papsttums mit dem Antichrist, der nach der Schrift durch Lügen zur Macht gelangen würde.356 Dennoch benennt er die Konstantinische Ära als entscheidenden Moment der Machtergreifung des An­ tichrist, da der Residenzwechsel unter Konstantin das weltliche Machtstreben der Kirche begünstigt habe. Zumindest in den frühreformatorischen Flug­ schriften bleibt damit die Konstantinische Ära damit zum Teil ein wichtiger historischer Bezugspunkt für die Verfallsidee, wenn auch die Mehrheit der Flugschriftenautoren die Machtergreifung des Teufels als den eigentlichen Wendepunkt in der Geschichte der Kirche erst später ansetzen. Kennzeichnend für die frühe Reformationszeit ist jedoch nicht mehr die Fo­ kussierung auf die Konstantinische Ära, sondern die breite zeitliche Streuung der historischen Bezugspunkte für die Konkretisierung der Verfallsidee. Die Charakteristik der reformatorischen Verfallsidee lässt sich damit nicht wie die der mittelalterlichen über einen klassischen historischen Bezugspunkt bestim­ men,357 sondern liegt gerade in der relativen Vielfalt der historischen Bezugs­ punkte.358 Ungeachtet der relativ breiten Streuung der historischen Bezugspunkte tritt das der geschichtlichen Konkretisierung zugrunde liegende Kriterium des Ver­ falls der Lehre als deutliches Kohärenzmerkmal der reformatorischen Verfall­ sidee hervor. Mit der Reformationszeit entsteht ein neuer Wort-Gottes-Typ des historischen Legitimationsgestus,359 nach dem sich wahre Kontinuität in inhalt­ licher Konformität der Lehre mit den Weisungen Christi und dem Brauch der Apostel und der Alten Kirche erweise.360 Neben der Schrift galt die Urkirche, teilweise auch die Alte Kirche, als normativer Referenzhorizont, von dem aus Verfall und Kontinuität bemessen wurden. Die Normativität der Urkirche gründete jedoch nicht im humanistischen Sinn auf einer selbständigen Autori­ tät, sondern auf der Konformität mit Christus, dessen Weisungen hier ge­ schichtlich umgesetzt worden seinen.361 Die Schriftgemäßheit bleibt der exklu­ sive Maßstab für die historische Legitimation – allein als historische Verwirkli­ 356 Vgl.

Osiander: Ratschlag 360,3–22; ferner 369,18–23. Schäufele: Defecit Ecclesia 66 ff. 358  Schäufele verweist bezüglich der reformatorischen Verfallsvorstellungen lediglich auf Luther und Calvin (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 368). Die vorgelegte Betrachtung an­ derer Meinungsführer der frühen Reformationszeit hat darüber hinaus die breite Vielfalt der historischen Bezugspunkte für die reformatorischen Verfallsvorstellungen dokumentiert. 359  Von Schäufele als drittes Merkmal der Diskontinuität zur mittelalterlichen Verfallsidee benannt, vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 367. 360 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 18 in Bezug auf Luther. Insofern ist die Kontinu­ itätsvorstellung vor allem durch Konstanz näher bestimmt, vgl. Höhne: Luthers Anschauun­ gen 19: Es gehe Luther „[…] um die kontinuierliche Konformität mit Christus und der Alten Kirche. Indem Luther die inhaltliche Seite des Kontinuitätsbegriffes als entscheidend in den Vordergrund stellt, gibt er zu erkennen, daß es ihm um Kontinuität in qualifizierter Form, d. h. um ‚Konstanz‘ geht.“ 361 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 19, Anm.  6 6 in Bezug auf Luther. 357 Vgl.

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III. Vergangenheitsdeutung

chung der Forderungen des Wortes Gottes wuchs der Urkirche ihre normative Dignität zu. Dieser an der Konformität mit dem Wort Gottes orientierte Typ des histori­ schen Legitimationsgestus wurde vor allem gegen den überkommenen succes­ sio-Typ römischer Provenienz in Stellung gebracht. Die Vorstellung der aposto­ lischen Sukzession der Bischöfe, die im römischen Verständnis die formale Kontinuität mit der Urkirche verbürgte, die in inhaltlicher Hinsicht in der lehr­ amtlichen Tradition fortgeschrieben wurde, traf auf scharfe Ablehnung – die lehramtliche Tradition habe die Reinheit der Lehre nicht bewahrt, sondern mit Menschenrecht verfälscht. Der imitatio-Typ des historischen Legitimationsgestus dagegen fand verein­ zelt, in der frühen Reformationszeit vor allem in Müntzer, weiterhin Vertreter. Für Müntzer legitimiert sich christliches Leben in der Nachfolge Christi im Leiden. Das Insistieren auf der Verbindlichkeit des Vorbildes Christi und die Verknüpfung von Leidens- und Geisttheologie lassen Müntzer unter den früh­ reformatorischen Flugschriftenautoren die stärksten Anleihen an der mittelal­ terlichen Verfallsidee machen. Für die meisten frühreformatorischen Flug­ schriftenautoren ließ jedoch der rechtfertigungstheologische Gedanke der Stell­ vertretung Christi den imitatio-Typ in den Hintergrund treten; 362 nicht in erster Linie die Konformität des Lebens, sondern die der Lehre mit den urkirch­ lichen Anfängen galt als zentrales Kriterium der historischen Legitimation. Für die eigene Charakteristik der reformatorischen Verfallsvorstellungen ist dabei das gegenüber dem Mittelalter veränderte Kirchenverständnis von beson­ derer Bedeutung. Im Unterschied z. B. zu Katharern und Waldensern, die dem römischen Kirchenverständnis insofern verhaftet blieben, als auch sie die Kirche als historisch-empirische Größe über ihre äußere Verfasstheit definierten und von diesem Verständnis her ihre Kontinuitätsideen in Konkurrenz zur römi­ schen entwarfen,363 verlagerten die reformatorischen Bewegungen das Wesen der Kirche stärker in den geistigen Bereich und damit eher auf eine „metahisto­ rische Ebene“, so sehr die wahre Kirche immer auch innergeschichtlich in Er­ scheinung trat.364 Gerade in der Frühzeit der Reformation wurde dieser spiri­ tuelle, von äußerlichen Kriterien weitgehend unabhängige Charakter der Kir­

362 

Vgl. auch Schäufele: Defecit Ecclesia 367. Katharer und Waldenser hatten versucht, auf der Basis des successio-Gedankens gegen die großkirchliche eine eigene, die wahre Kirche repräsentierende, ununterbrochene Kontinuitätslinie nachzuweisen (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 369). Die Katharer knüpf­ ten die successio apostolica nicht mehr an das Weihesakrament, sondern an das als Geisttau­ fe verstandene consolamentum (vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 144). Dieser Gedanke einer mit der römischen Kirche konkurrierenden, lediglich an anderen Kriterien festgemachten apostolischen Sukzession war den reformatorischen Bewegungen fremd und machte eine lückenlose Dokumentation der Glaubenszeugen entbehrlich. 364 Vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 367. 363  Die

3.  Innere Kohärenz

133

che besonders stark betont.365 Die wahre Kirche ist im reformatorischen Verständnis im Glauben an ihr Haupt Christus vereint und ihrem geistigen Wesen nach verborgen; doch konstituiert sie sich auch über äußere Zeichen, an denen sie in der Welt erkennbar ist. Diese notae ecclesiae366 bilden gleichsam das Scharnier zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche367 und sind (vor dem Hintergrund der Zusage Gottes, die Kirche solle ewigen Bestand haben) auch in den dunkelsten Zeiten der Teufelsherrschaft geblieben.368 So werden dona­ tistische Vorstellungen bzw. die grundsätzliche Bestreitung der Heilswirksam­ keit der von der römischen Kirche gespendeten Sakramente zurückgewiesen und dieser insofern ein Rest an heilsvermittelnder Tätigkeit zuerkannt.369 Damit wird die Verfallsidee der mittelalterlichen Oppositionellen gleichsam ekklesiologisch gebrochen: Die wahre Kirche existierte demnach nicht nur im Sinne eines ekklesiologischen Dualismus außerhalb der römischen Kirche wie z. B. bei den Katharern.370 Im reformatorischen Verständnis sind wahre und falsche Kirche in der sichtbaren Kirche vermengt,371 so dass deren Verfall in letzter Konsequenz nicht als total gedacht war. Die vorrangig über geistliche Kriterien bestimmte wahre Kirche existiert auch innerhalb der römischen Kir­ che und hat selbst unter dem antichristlichen Papsttum fortbestanden. Darüber hinaus ist sie mitunter auch außerhalb der römischen Kirche zu finden, da ihr auch vermeintliche Ketzer zugerechnet werden – die von den Flugschriften benannten historischen Glaubensstreiter traten sowohl innerhalb wie außerhalb der römischen Kirche in Erscheinung.372 Damit bot die sichtbare Kirche im 365  Vgl. z. B. Eberlin: Bericht 174–178; Kettenbach: Kirche 80 ff.; zu Nazareis spiri­ tuellem Kirchenbegriff Hofacker: Vom alten und nüen Gott 146–148; in Bezug auf Luther: Schwarz: Luther 94. 366  Lurher benennt 1520 drei wesentliche Zeichen: „Die zeichenn, da bey man euszerlich mercken kan, wo die selb kirch [die unsichtbare Kirche] in der welt ist, sein die tauff, sacra­ ment und das Evangelium […].“ (WA 6; 301,3 f.). Später kann Luther neben Wortverkündi­ gung, Taufe und Abendmahl noch Ämter (Plural!), Gebet, Kreuz, Ehrung der Obrigkeit und Fasten angeben (vgl. Kühn: Art. „Kirche VI/1“ 263). In ähnlicher Weise bestimmt z. B. Eberlin die notae ecclesiae, benennt aber deren vier: „[…] christus hat ingesetzt sondre zei­ chen, dabey erkent mügen werden christen für andre menschen, ain eusserlich zeichen, wa man leret vnd gern hoeret das Euangelion Jo. 8. ca. Das ander zaichen ist der tauf. Math. vlt. Das drit bruederliche fraintschafft. Jo. 13. ca. In dem werden alle menschen erkennen, das jr mein junger seind, so jr liebe haben zusamen. Das viert ist, Nuessen [= Genießen] Sacrament des leibs vnd bluts christi, das hailig brot 1. Cor. 10. v[nd] 11. ca.“ (Eberlin: Bericht 176). 367 Vgl. Wendebourg: Kirche 408. 368 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 17–19.122 in Bezug auf Luther. 369 Vgl. zum Donatismus der Waldenser Schäufele: Defecit Ecclesia 204–206, zur grundsätzlichen Bestreitung der Heilswirksamkeit der von der römischen Kirche gespende­ ten Sakramente bei den Katharern Schäufele: Defecit Ecclesia 171. Vgl. zur Ablehnung des Donatismus in den lutherischen Bekenntnisschriften Kühn: Art. „Kirche VI/1“ 264. 370  Vgl. zum ekklesiologischen Dualismus der Katharer Schäufele: Defecit Ecclesia 159– 171. 371 Vgl. Wendebourg: Kirche 408 f.; Höhne: Luthers Anschauungen 77. 372  Vgl. oben 123 ff.

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III. Vergangenheitsdeutung

reformatorischen Verständnis den Raum sowohl für Verfalls- wie Kontinuitäts­ vorstellungen, worin das frühreformatorische Selbstverständnis als innerkirch­ liche Selbstkritik zum Ausdruck kommt, wenn die Hoffnung auf die Refor­ mierbarkeit der Kirche zunächst erhalten blieb.373 Diese Hoffnung bewahrte die reformatorischen Flugschriften davor, die römische Kirche als Ganze zu verteu­ feln; Teufelskirche war sie vielmehr nur insoweit, als sie über die Schrift Hin­ ausgehendes oder gar Widriges verbindlich mache.374 Der Verfall bezieht sich nicht auf die gesamte sichtbare Kirche, sondern nur auf den teuflischen Herr­ schaftsbezirk, der allerdings nahezu den gesamten Bereich der römischen Kir­ che umfasse.375 Insofern gleiche die zeitgenössische Papstkirche einer Gegenkir­ che des Teufels, da sie die Schrift gemäß deren eigener Ankündigungen mit menschlicher Tradition verfälscht und bis zur Unkenntlichkeit entstellt habe. Dabei trat die ihrem Wesen nach eher unhistorische Vorstellung von der Du­ plizität der Kirche, nach der wahre und falsche Kirche nicht erst geschichtlich auseinandergetreten seien, sondern sich von je her unversöhnlich gegenüber­ standen, hinter der Betonung des geschichtlichen Verfalls der sichtbaren Kirche in Form der Papstkirche zurück. Die Verfallsidee impliziert die Annahme eines Idealzustands, von dem die Kirche im Verlauf der Geschichte abgewichen sei. Diesen Idealzustand sah man in der Urkirche verkörpert, obschon deren Rein­ heit vor dem Hintergrund der Vorstellung von der duplex ecclesia immer nur eine relative Reinheit sein konnte.376 Dennoch sah man im Urchristentum die Weisungen der Schrift geschichtlich unüberbietbar verwirklicht, so dass die Ur­ kirche den normativen Referenzhorizont darstellte, auf den hin die zeitgenös­ sische Kirche zu reformieren sei. Im Verlauf der Geschichte habe sich die sicht­ bare Kirche, insbesondere in Form der Papstkirche, vom Ideal der Urkirche entfernt und sich vom Teufel vereinnahmen lassen; so wird für Papst- und Ur­ kirche eine gemeinsame Frühgeschichte angenommen und die Papstkirche im Sinne der Verfallsidee als Depravationsform der Urkirche gedeutet.377 Die scharfe Kontrastierung der Urkirche mit der zeitgenössischen Papstkirche wird zum bestimmenden Topos der reformatorischen Vergangenheitsdeutung; 373 Vgl. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 163 in Bezug auf Nazarei. Freilich knüpften sich diese Hoffnungen weniger an die erhoffte Einsicht des als antichristlich gedeuteten Papsttums, sondern in erster Linie an die weltlichen Gewalten, welche zu einer grundlegen­ den Reform der Kirche aufgerufen wurden. 374  Vgl. z. B. Luther: „Christliche kirche hat keyn ander lere denn gottis wort. Die aber menschen lere auffricht alß noettig, das ist nicht die kirche, Sondernn die rote hure tzu Ba­ bylonien […]. (WA 10,2; 244,33–35). 375 Vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 76 in Bezug auf Luther. 376  Der Gedanke der lediglich relativen Reinheit der Urkirche kommt auch zum Aus­ druck, wenn einige Flugschriftenautoren bereits in der Apostelzeit die antichristliche Akti­ vität beginnen sehen, vgl. oben 114 ff. 377  Dieser Gedanke lässt z. B. Luther an der Heilswirksamkeit der Sakramente festhalten, die von der Urkirche herkommen und auch unter der Papstkirche geblieben seien (vgl. Höhne: Luthers Anschauungen 122).

3.  Innere Kohärenz

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obschon auch die Kontinuität der wahren Kirche immer wieder betont wird, liegt der Schwerpunkt der Vergangenheitsdeutung in den Flugschriften deut­ lich auf der Verfallstendenz. Unter der antichristlichen Tyrannei des Papsttums sei die wahre Kirche zwar nicht völlig ausgelöscht worden, dennoch habe sie einen gravierenden „Substanzverlust“ erlitten.378 Immer wieder wird betont, dass in der Zeit der Teufelsherrschaft selbst die Heiligen geirrt haben und die Anzahl der wahren Christen dramatisch abgenommen habe.379 Dieser konstatierte Verfall konnte mehr oder weniger deutlich mit einem Entwicklungsgedanken verbunden werden: Während namentlich Luthers Ge­ schichtsanschauung grundsätzlich dialektisch bestimmt ist und er das Wider­ einander von wahrer und falscher Kirche weniger als einlinigen Verfall be­ schreibt, tritt in anderen Flugschriften die Verfallsidee eindeutig als Leitgedan­ ke hervor, der die nachurchristliche Geschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels interpretiert. Die reformatorischen Verfallsvorstellungen machen dabei immer wieder An­ leihen an den Verfallsideen der mittelalterlichen Oppositionellen und weisen Berührungspunkte mit humanistischen Verfallsideen auf; 380 dennoch verleihen die reformatorischen Flugschriften der Verfallsidee ein ganz eigenes Gepräge: Durch die Neuakzentuierung des historischen Legitimationsgestus auf den Wort-Gottes-Typ hin wurden die Kriterien für Verfall und Kontinuität in spe­ zifisch reformatorischer Weise neu gebildet.381 Zudem wurde der Verfallsge­ danke durch die reformatorische Ekklesiologie in charakteristischer Weise be­ grenzt und die Kontinuität vorrangig in der Verborgenheit festgestellt. Doch lassen sich die Verfallsvorstellungen in den Flugschriften nicht auf eine reforma­ torische Verfallsidee verengen, sondern gerade die Vielfalt, die besonders in der relativ breiten Streuung der historischen Bezugspunkte zum Ausdruck kommt, macht die spezifische Charakteristik der frühreformatorischen Verfallsvorstel­ lungen aus. Dabei haben die frühreformatorischen Verfallsvorstellungen ihren Ort vor­ rangig in der Polemik: Zwar ist die Verfallsidee bereits in Ansätzen als ge­ 378 Vgl.

Höhne: Luthers Anschauungen 78 in Bezug auf Luther. Vgl. z. B. Sonnentaller 397,4–25. 380  Im Unterschied zu humanistischen waren die reformatorischen Verfallsvorstellungen auf die Geschichte der Kirche konzentriert; alleiniger Maßstab für den Verfall war die Schriftgemäßheit. So erfährt auch die Urkirche ihre Hochschätzung nicht als eigenständige Größe, sondern als historische Verwirklichung der Weisungen der Schrift. Diese radikale Bibliozentrik der reformatorischen Verfallsvorstellungen bedeutet gegenüber den humanis­ tischen eine deutliche Akzentverschiebung. Zur humanistischen Verfallsidee vgl. auch Schäufele: Defecit Ecclesia 364–366: Schäufele unterscheidet die weiter gefasste und sich auf diverse Bereiche erstreckende kulturelle Verfallsidee des Humanismus von der enger gefassten kirchlichen Verfallsidee, obschon freilich Interferenzen bestanden haben werden, die jedoch noch genauerer Untersuchung harren, vgl. Schäufele: Defecit Ecclesia 365 f. 381  Müntzer als Vertreter des imitatio-Typs bleibt in der frühen Reformationszeit eine Ausnahme. 379 

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III. Vergangenheitsdeutung

schichtstheologisches Interpretament erkennbar, doch begegnet sie wesentlich als Kampfmittel theologischer Polemik gegen das papstkirchliche Traditionsar­ gument. Zum organisierenden Prinzip eines geschlossenen geschichtstheologi­ schen Entwurfs avancierte sie erst mit der Flacius-Gruppe – doch zeichnen sich mit der Zweidimensionalität der Deutung der Vergangenheit als Teufelsherr­ schaft und als Bewahrung der Wahrheit die Grundlinien der späteren protestan­ tischen Historiographie bereits in den frühen 1520er Jahren deutlich ab.382

3.5  Die Dignität des Alters Im Rahmen des historischen Legitimationsgestus beanspruchten sowohl die Altgläubigen wie die reformatorischen Bewegungen, in Kontinuität mit der Urkirche zu stehen und das wahrhaft Alte zu verkörpern, während die jeweils andere Partei als teuflische Neuerung hingestellt wurde. Die Delegitimation des altgläubigen Traditionsarguments rangierte daher auf der reformatorischen Agenda an oberster Stelle und bildete gleichsam den „Sitz im Leben“ der refor­ matorischen Vergangenheitsbetrachtung. So war die reformatorische Deutung der Kirchengeschichte als Erfolgsge­ schichte des Teufels in erster Linie als Gegendarstellung zum altgläubigen Tra­ ditionsargument konzipiert. Dabei fallen neben den weitreichenden Kohärenz­ merkmalen im Einzelnen auch unterschiedliche Argumentationsstrategien auf. Letztere treten vor allem bei den immer wieder begegnenden Stellungnahmen gegen das altgläubige Altersargument als Bestandteil des „langen Spießes“383 in Erscheinung – wobei Häufigkeit wie Divergenzen der reformatorischen Argu­ mentationen Beleg sind sowohl für das Gewicht, welches die Flugschriften dem Altersargument beimaßen, als auch für die Schwierigkeiten, welche dessen Ent­ kräftung mit sich brachte. Die reformatorischen Stellungnahmen zum altgläubigen Altersargument be­ gegnen in den Flugschriften in zwei unterschiedlichen Akzentuierungen: Der erste Aspekt des Altersarguments ist bezogen auf die Relation von Alt und Neu, verbunden mit der Frage, ob das Alte gegenüber dem Neuen prinzipiell im Recht ist. Der zweite Aspekt des Altersarguments ist bezogen auf das Argument 382  Auch wenn die Reformatoren nicht eigentlich historiographisch hervortraten, schufen sie doch entscheidende Voraussetzungen für die protestantische Kirchengeschichtsschrei­ bung (vgl. Beutel: Art. „Kirchengeschichtsschreibung“, Sp.  1185). Dieser Befund gilt bereits für die Flugschriften der frühen 1520er Jahre. Zur Entstehung der protestantischen Historio­ graphie siehe Beutel: Art. „Kirchengeschichtsschreibung“ Sp.  1185 f.; Stöve: „Art. „Kir­ chengeschichtsschreibung“ 541. Die Zweidimensionalität der Vergangenheitsdeutung auf der Basis der Verfalls- und Kontinuitätsidee wurde vor allem von Flacius und seinen Mitar­ beitern historiographisch ausformuliert; dabei erfüllten der „Catalogus Testium Veritatis“ (1556 bzw. 1562) und die von Flacius initiierten „Magdeburger Centurien“ (1559–1574) komplementäre Funktionen, vgl. Beutel: Art. „Kirchengeschichtsschreibung“ Sp.  1185 f. 383  Vgl. oben 62 ff.

3.  Innere Kohärenz

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der „langen Dauer“, des geschichtlichen Bestandes einer Tradition, verbunden mit der Frage, ob die geschichtliche Dauer einer Tradition auf deren Rechtmä­ ßigkeit rückschließen lässt. In Bezug auf die Relation von Alt und Neu wurde dem Argument des Alters als Kriterium der Rechtmäßigkeit eine hohe Dignität zuerkannt, welche (in Umkehrung der altgläubigen Argumentation) für die reformatorischen Bewe­ gungen reklamiert wurde. Das altgläubige Traditionsargument verkehre das rechte Verständnis von Alt und Neu grundsätzlich. Die Tradition der Papstkir­ che sei nicht alt und rechtmäßig, sondern im Vergleich zur Tradition der Urkir­ che neu und illegitim. Das Gewicht des Altersarguments wird bei Nazarei besonders deutlich. Seine Darlegungen sind geprägt von einer ausgesprochen pejorativen Verwendung des „Neuen“: Das Neue ist ihm grundsätzlich teuflisch, weil es gegen das Alte, Göttliche gerichtet ist. Der Teufel bringe im Geschichtsverlauf unablässig Neu­ erungen ein, die mit der Zeit als alte Gewohnheit gelten, sich aber in Wahrheit von der ursprünglichen Heilsordnung immer weiter entfernen. In der eigenen Gegenwart hat nach Nazarei die Verblendung den Höhepunkt erreicht, wenn der von den Altgläubigen verehrte Gott in Wahrheit der Teufel sei – dies gelte es offen zu legen.384 Die Argumentation Nazareis ist im Ganzen angelegt auf eine Gegenüberstellung von Alt und Neu: Das Alte, das wahre Wort Gottes, wird dem Neuen, der durch das Wirken des Teufels erstarkten Abgötterei, ge­ genübergestellt. Gegen das Neue sucht Nazarei den Anschluss an das Alte und qualifiziert den reformatorischen Auf bruch dessen legitime Fortführung. Der gesamte Duktus der Schrift Nazareis ist bestimmt von einem ausgeprägten Glauben an die Gültigkeit, Rechtmäßigkeit und Überlegenheit des Alten. Der Mechanismus der teuflischen Verdrehung des Verständnisses von Alt und Neu wird von vielen Flugschriftenautoren konstatiert und avancierte zu einem allgemeinreformatorischen Deutungsmuster, auf dessen Basis eine umfassende Neukonstitution der Geschichtsdeutung vorgenommen wurde. Die Dignität des Alters als Kategorie der Authentizität und Wahrhaftigkeit wurde von den Flugschriftenautoren eindeutig bestätigt, weshalb sie das altgläubige Altersargu­ ment und dessen Kontinuitätspostulat, demzufolge man selbst alt, der Gegner aber neu sei, umzuwerten und in die eigene Argumentation zu überführen suchten. Den reformatorischen Zeitgenossen ging es bei ihrer Vergangenheits­ deutung in zentraler Weise darum, ihren als neu denunzierten Glauben als den wahrhaft alten auszuweisen – ein Umstand, den der Sprachgebrauch gegenwär­ tiger Forschung zuweilen vergessen lässt.385 384  „Was sindt die abgoetter? Tüfels gsind. Nun woellen wir zamen sitzen, vnd din alten gott, dyn alten glauben, din alten leer hindersich suchen; wie meynst, ob der tüfel zu letst din alter got würd werden […].“ (Nazarei 66). 385  Vgl. die Beispiele bei: Burkhardt: Alt und Neu. So kann z. B. Kurt Aland in seiner Darstellung der Reformatoren durchgehend von der „neuen Lehre“ sprechen (vgl. Burk-

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III. Vergangenheitsdeutung

Der zweite Aspekt des Altersarguments betraf weniger die Relation von Alt und Neu, sondern war bezogen auf die geschichtliche Dauer einer Tradition. Die Altgläubigen beriefen sich auf eine lang währende und bis in die eigene Gegenwart andauernde Tradition, deren geschichtlicher Fortbestand ihre Rechtmäßigkeit hinreichend zu belegen schien.386 In der Zurückweisung dieses Altersarguments im Sinne der langen Dauer fallen in den Flugschriften zwei unterschiedlich akzentuierte Argumentationslinien auf, die mit der Bemessung der Dauer der Teufelsherrschaft eng zusammenhängen. Abhängig davon, wann der Beginn der Teufelsherrschaft angesetzt und wie lang die Zeitspanne der korrumpierten Tradition veranschlagt wird, wird das Argument der langen Dauer als Erweis von Rechtmäßigkeit entweder zurückgewiesen oder reforma­ torisch umgewertet. Die Zurückweisung des Arguments der langen Dauer begegnet dabei in zwei Facetten: Zum einen erfolgte es durch den Verweis auf das lange Beste­ hen nichtchristlicher Gemeinschaften, zum anderen durch den Nachweis des langen Prozesses der teuflischen Pervertierung der papstkirchlichen Tradition. Wie das Christentum insgesamt vor allem gegenüber dem Juden- oder Heiden­ tum nicht mit der langen Dauer argumentieren könne, so könnten auch die Altgläubigen gegenüber den reformatorischen Bewegungen nicht aus der lan­ gen Dauer ihre Rechtmäßigkeit herleiten.387 Die lange Dauer sei lediglich ein äußerliches Kriterium, welches auch auf andere Völker, Reiche, Religionen und vor allem auf den Teufel selbst zuträfe, ohne dass deshalb auf eine besonde­ hardt: Alt und Neu 155), was der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen diametral entge­ gensteht. Bruckhardt bietet einen Erklärungsansatz für diesen verbreiteten Sprachgebrauch, der die katholische Konfession als alt, die evangelischen Konfessionen hingegen als neue Abzweigungen behandelt: Mit dem Wechsel vom Alt- zum Neuprotestantismus sei das res­ titutive Verständnis von Reformation in ein innovatorisches umgeschlagen und habe sich seither auch in der Terminologie manifestiert: „Im Neuprotestantismus konnte also die dem Altprotestantismus suspekte Vorstellung, etwas Neues zu sein, akzeptiert, positiv bewertet, ja von den Protestanten geradezu als eine Auszeichnung betrachtet werden.“ (Burkhardt: Alt und Neu 170.) Wer jedoch an der Selbstwahrnehmung der reformatorischen Zeitgenossen nicht völlig vorbei gehen will, sollte das Attribut des „Neuen“ im Zusammenhang mit den reformatorischen Lehren vermeiden. 386  Vgl. z. B. Spengler, der das altgläubige Argument der langen Dauer referiert: „Das die kirch vnd alle welt nun etwovil hundert jar ein anders, dann man vns yetzo predigt, leret und schreibt, gehalten hab, das geb ye sovil grunds, das got so lang zeyt und jar die kirchen in diesem irrsal, der vnns durch das evangelium jtzo zu zeigen undterstanden wird, nit gehalten hab. Und wollen also durch verjarung der zeyt wider das ewig wort Gottes einen grund schöpfen.“ (Spengler: Verantwortung 370,23–371,3). 387  Vgl. z. B. Spengler: „Wie kan dann eynich verjerung der zeyt wider Got und dasselb sein ewigs wort stat haben? Und wie moechten die unglaubigen wider uns ein stercker uber­ windung haben dann eben dise? Dann soll lenge der jar hierzu etwas thun, so haben Juden und Türcken iren glauben schon gegen uns erhalten. Dann der jüdisch glaub ist lang vor Christus gepurt und der machometisch oder türckisch eher und lenger gestanden, dann teut­ sche landt christen gewest sein.“ (Spengler: Verantwortung 371,8–13). Vgl. auch Grumbach: Ein christenliche Schrift 919,10–13; Luther: WA 10,2; 238,13–23.

3.  Innere Kohärenz

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re Zuwendung Gottes geschlossen werden könne.388 Die geschichtliche Konti­ nuität der Papstkirche und ihrer korrumpierten Tradition gründe vielmehr auf der Macht des Teufels, dessen lang währende Herrschaft Ausdruck der harten Strafe Gottes über die Christenheit sei.389 Die Schrift selbst habe zudem ange­ kündigt, dass die Teufelsherrschaft nicht lediglich kurzzeitig, sondern von lan­ ger Dauer sein werde: „Das er [der Antichrist] aber auf steen soll / wurdt nicht auff ain person geredt / sonder auff dz gantz reych vnnd auff des selbigen nachkommen / Bedeut auch nicht / das es ain kurtze zeyt weren sollt des reych. Der gleychen sagt auch Christus / der grewel wurde steen / an der hayligen statt / das ist / fest / bestendig / vnd mit grossem anhang gestercket seyn. Auch spricht Sant Paulus nicht / das diser son verderbnus für vber wurd gen / son­ der das der er sitze in dem tempel Gottes.“390

Vor dem Hintergrund der Vorhersagen der Schrift bezüglich der langen Dauer der Teufelsherrschaft kann der geschichtliche Bestand als solcher schwerlich als Erweis von Rechtmäßigkeit dienen.391 Diejenigen Flugschriftenautoren, welche die Phase der relativ reinen und schriftgemäßen Tradition als vergleichsweise kurz bemessen und die Machter­ greifung des Teufels sich schon früh ereignen sehen, weisen das Argument der langen Dauer vor dem Hintergrund ihrer Geschichtsdeutung als nicht aussage­ kräftig zurück. Die Vergangenheitsbetrachtung dient innerhalb dieses Argu­ mentationsstranges dazu nachzuweisen, dass der Teufel bereits in der Zeit der Alten Kirche, mitunter schon während der Apostelzeit, innerhalb der Kirche aktiv geworden sei und deren Tradition bereits vergleichsweise früh verdorben habe. Gerade weil also die teuflische Verfälschung der Lehre schon in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte angesetzt werden müsse und die Traditi­ 388 

Vgl. z. B. Luther: WA 10,2; 239,7–10. Vgl. z. B. Luther: Die Macht des Teufels habe das Papsttum erhalten und ihm die lan­ ge Dauer verschafft; ohne diese fremde Hilfe wäre es bereits zuschanden gegangen: „Hie [Dan 8,24 f.] zayget fürwar der Prophet Daniel den Teuffel an / da er spricht / das der betrug wolgeratten werd in der hand dises Künigs [des Königs der Gebärden, gedeutet auf das Papst­ tum]. […] so wirdt seyn thun gestercket / nicht durch seyne krafft. So wirt auch seyn hand nicht fueren solchen betrug / sonder ain frembder / das ist / der teuffel wirdt jm seyn hand layten / vnd als denn wirdt richtig vonstat geen / vnd wolgeratten der betrug in seyner hand.“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists X3b-X4a). 390  Luther: Offenbarung des Endtchrists H1b. 391  Auch das altgläubige Argument, das Papsttum habe seine Machtstellung fortwährend behauptet, während dessen Gegner stets zu Grunde gegangen seien, wird von Luther umge­ wertet: „Das sy aber sagen […] Es sey nye kainem wol gangen / der wider den Bapst gestan­ den sey / Daran sagen vnnd ruemen sy die warhait / so man annderst das vbel geen hayssen soll / wenn yemand vmbs leben kompt / oder sonst schmach / not vnd armut leyden muß / wie denn auch die lieben maertrer / vnd allermayst Christus / vnsalig vnd vnglückhafftig gewesen seynd. Hie hat aber der Papistisch gayst (oder teuffel) ainen andern wan den lewten ge­ macht / nemlich / das es ain zaychen sey der verdamnus / vnd ain zaychen das gott also vber sy erzürnet sey / da es doch vil mer zaychen seiner genaden gewesen seynd.“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists N2b). 389 

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III. Vergangenheitsdeutung

on über lange Zeit pervertiert sei, sei das Argument der langen Dauer hinfäl­ lig.392 Das altgläubige Traditionsargument der langen Dauer werde durch die reformatorische Deutung der Vergangenheit als langwährende Zeit des Irrtums eindeutig widerlegt: „Gewonheit, gepreuch und lenge der zeyt werden (wie ein yeder versteen kan) wider die schrifft und das wort Gottes […] nicht wircken oder stat haben. Dann was hundert jar unrecht gewest ist, würdet (nach gemeynem sprichwort) nye kein stund recht! Und was würdet yetzo anders gefochten, dann das wir so lang geirrt haben? Und darumb soll der grundt jetziger lere und unterrichtung verworfen und verlegt werden! […] Dann prescription lang verlauffener zeyt, darin man geirrt hat, auch der groß hauf der irren­ den werden keiner yrrung nymermehr helfen koennen.“393

Eine anders akzentuierte Argumentationsweise begegnet bei jenen Flugschrif­ tenautoren, die den Beginn der Teufelsherrschaft vergleichsweise nah an die eigene Gegenwart heranrücken und die vorherige Tradition entsprechend lange als relativ rein geblieben ansehen. Die Vertreter dieses Argumentationsstranges suchten das Argument der langen Dauer in ihrem Sinne umzuwerten, indem sie die teuflische Pervertierung der Tradition vergleichsweise spät ansetzten. Im Vergleich zu der reinen Tradition, die über 1000 Jahre währte, sei die Zeitspanne, innerhalb derer die Tradition verdorben sei, relativ kurz.394 Die Phase der Teufelsherrschaft sei – wie z. B. Eberlin mehrfach ausdrücklich betont – eine Entwicklung erst der jüngeren Vergangenheit und die Traditionen, von denen die Papstkirche behaupte, sie seien altbewährt, sind in Eberlins Verständ­ nis sämtlich Neuerungen der vergangenen drei bis vier Jahrhunderte.395 Die genuin papstkirchliche Tradition, verstanden als Teufelsherrschaft, stehe daher mitnichten so lange in Geltung wie die Altgläubigen suggerierten: Was von ihnen als alt deklariert werde, sei in Wahrheit neu und stelle ein relativ junges geschichtliches Phänomen dar – das Argument der langen Dauer gelte daher nicht für die papstkirchliche Tradition, sondern für die schriftgemäße Tradition in der Zeit vor der Teufelsherrschaft, an welche die Reformation anknüpfe. Eberlin erkennt damit die Evidenz des Arguments der langen Dauer in gewisser Weise an, wertet es jedoch in reformatorischem Sinne um und wendet es gegen 392 

Vgl. z. B. Nazarei 46. Spengler: Verantwortung 371,21–372,9. 394  Vgl. z. B. Kettenbach: Altmütterlein 69,5–18: „Altmueterlein. Ach lieber bruder Hainrich, jr veracht die alten lerer vnd halt die neuwen, das gefelt mir nit. Bruder Hainrich. Das ist nit war, mit vrlaub! […] Die papisten verkeren all ding nach jrer art, sy hayssenn Thomam, Scotum, gaistlich recht etc. Die alten leerer, lugen, als N. die lerer, die hosen schulen vnd boeß gaistlich recht seind fast in vyerhundert jarn auff kommen vnd seind new leerer, erdacht fanntasey, aber das Euangelium vnd hailig schrifft ist vorhinne über tausent jar geweßt. dabey bleib ich, das ist die recht alt leer christi vnd seiner apposteln. so halt jr papis­ ten sollichs für new leer, dann jr habt nichtt dauon gehoert, euch ist es new, als yetzund den in kalikut etc.“ Vgl. auch Eberlin Bundesgenossen 169. 395 Vgl. Eberlin: Bundesgenossen 85 f. 393 

3.  Innere Kohärenz

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die papstkirchliche Tradition: „Es soll niemandt sagen, solich boese lere hab ein guten schein der langen zeit halb, dann ir wissen das tausent vorige jar lenger sind dann naechste .iij. hundert jar […].“396 Während also in der Argumentation gegen das Argument der langen Dauer Differenzen auffallen, die mit der Früh- bzw. Spätdatierung des Verfalls der Kirche eng zusammenhängen, halten die Flugschriften allgemein an der hohen Dignität des Altersarguments in Bezug auf die Relation von Alt und Neu fest. Gegen den papstkirchlichen successio-Typ der historischen Legitimation und dem darauf basierenden Traditionsargument beanspruchten die reformatori­ schen Flugschriften, in Kontinuität vor allem mit der Lehre der Urkirche zu stehen und deuteten die papstkirchliche Tradition als Abweichung von dieser alten und rechtmäßigen Lehre. Mit dieser Umwertung des Verständnisses von Alt und Neu grenzte sich die reformatorische Vergangenheitsdeutung in radi­ kaler Weise von der Papstkirche ab und schuf gleichzeitig die Basis, den refor­ matorischen Auf bruch gegen die teuflisch korrumpierte Tradition ins Recht zu setzen.

3.6  Vergangenheit als Strafvollzug Die reformatorischen Vorstellungen vom Verfall der Kirche finden ihren Aus­ druck auch in der Deutung der Vergangenheit als auf Gottes Geheiß verhängte Zeit der Strafe. Der Einfluss des Teufels und die Verderbtheit des Christentums waren nach allgemeinreformatorischer Auffassung in der eigenen Gegenwart auf einem historischen Höchststand angelangt. Nie zuvor habe der Teufel eine so enorme Machtfülle besessen, nie zuvor habe er die Christen in subtiler Ver­ drehung der Heilsordnung ihrem Gott so weit entfremden können. Wie aber konnte der Teufel so mächtig werden? Die in den Flugschriften konstatierte Machtfülle des Teufels wirft die Frage nach einem Dualismus auf, welche an dieser Stelle jedoch nur im Hinblick auf die Vergangenheitsdeutung aufgegriffen werden soll. In Bezug auf das Geschichtsverständnis bleibt festzu­ halten, dass die Flugschriften den Teufel aktiv in den Geschichtsverlauf eingrei­ fen und die Welt nach seinem verderblichen Willen beeinflussen sehen. Sie er­ heben den Teufel zum „realen Geschichtsfaktor“, dessen Einfluss in der Ge­ schichte zurückverfolgt werden könne: Was bereits Schmidt in Bezug auf Luther feststellte, gilt allgemeinreformatorisch: „Für die Geschichtsanschauung hieß das: Er [Luther] billigte dem Satan einen Wir­ kungsraum im Bereich des irdisch-menschlichen Lebens zu; er erhob ihn zum realen 396  Eberlin: Bundesgenossen 169. Bei Kettenbach ist die Feststellung der vergleichswei­ se kurzen Phase der Teufelsherrschaft zudem mit dem Gedanken verbunden, dass andere Religionsgemeinschaften im Vergleich mit der Christenheit wesentlich länger im Irrtum seien – so erscheint die Strafe, die Gott über die Christenheit verhängt habe, im Vergleich mit anderen Religionsgemeinschaften abgemildert, vgl. Kettenbach: Kirche 92,24–28.

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III. Vergangenheitsdeutung

Geschichtsfaktor. […] Das Eingreifen des Bösen in den Geschichtsablauf war für ihn durchaus wahrnehmbar und nachprüf bar. Es hinterließ seine Spuren, es gestaltete und lenke das Geschehen, indem es auf die Menschen Einfluß übte.“397

Die Frage, wieweit der Einfluss des Teufels sich erstrecke, ist jedoch nach Schmidt von Luther nicht in voller Klarheit beantwortet worden, ihm sei es vorrangig darum gegangen, diesen Einfluss zu identifizieren und ihm konkret zu begegnen.398 Diese seelsorgerliche Intention, das Wirken des Teufels in der Geschichte zu identifizieren und ganz praktische Verhaltensmaximen aufzustellen, wie der ge­ genwärtigen teuflischen Bedrohung zu begegnen und mit ihr umzugehen sei, ist Grundzug vieler Flugschriften. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die in der Gegenwart zu ziehenden Konsequenzen, weniger die Absicht, eine syste­ matische, in sich geschlossene Satanologie zu bieten. Es geht den Flugschriften um den Nachweis der – zum Teil detailliert konkretisierten – Wirkmächtigkeit des Teufels im Ablauf der Geschichte, um dessen Blendwerk in der Gegenwart zu enttarnen und ihm entsagen zu können.399 Die in den Flugschriften dominierende Deutung der Macht des Teufels in der Vergangenheit sieht sie als Vollzug der Strafe Gottes: Aufgrund der menschli­ chen Sündhaftigkeit habe Gott die Teufelsmacht dem Menschen als Strafe ver­ hängt. Dabei trägt der Mensch selbst zugleich immer zur Mehrung der Teufels­ macht bei, indem er sich aufgrund seiner Hofart und mangelnden Schrifttreue verführen und betrügen lässt. Der Teufel versucht die Menschen, weckt und reizt ihre Begehrlichkeiten und macht sie immer wieder zu seinen willfährigen Handlangern. Er arbeitet mit den und durch die Menschen, benutzt Einzelne zur Verführung der anderen und verschafft sich so eine hörige Anhänger­ schaft.400 Auch wenn der Teufel seinen Einfluss vornehmlich über die geistli­ chen Hierarchien in die Welt getragen habe, so treffe doch auch die übrigen Menschen Schuld am Aufstieg von Teufel und Antichrist, da sie dieser Verfüh­ rung nicht hinreichend gewehrt hätten und sich allzu gerne vom Teufel ihre Verdienste anrechnen ließen.401 Der Abfall von Gott und die Hinwendung zum 397  Schmidt: Luthers Schau 35. Vgl. auch Rieske-Braun: Duellum mirabile 83; Basse: Luthers Geschichtsverständnis 49. 398  „Wenn sich die Frage, wieweit es [das Böse] sich erstrecke und über welche Kraft es verfüge, nicht beantworten ließ, so doch die andere, wo es seinen Schwerpunkt habe und wie es vor sich gehe.“ (Schmidt: Luthers Schau 36). 399  Vgl. dazu z. B. Hofacker: Vom alten und nüen Gott 152 in Bezug auf Nazarei, der vornehmlich als Seelsorger schreibe. 400  Vgl. z. B. Eberlin in Bezug auf Franziskus: Falschscheinende Geistliche 66 f. 78. Die Indienstnahme als Werkzeug des Teufels gelte nicht nur in Bezug auf Franziskus, sondern auf viele Heilige: „Ja freylich vil hailigen, ich fürcht, vil der hailigen seyen lockmaysen des teü­ fels geseyn, welliche er auffgebutzt hat in hüpsch scheynenden wandel, zu betrug der vnwey­ sen seelen […].“ (Eberlin: Falschscheinende Geistliche 66). 401  Vgl. z. B. Cronberg: „Wie wol der Bapst als das oberst Antichristus heubt mit seinen Bischoffen, pfaffen und munchen herin vornemlich Antichristus und seine iungern seint, so

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Teufel sind damit Schuld der gesamten Christenheit, der Gott zur Strafe das teuflische Papsttum und dessen Menschenlehren gesandt habe.402 Die Macht des Teufels in der Vergangenheit ist Konsequenz der menschlichen Untreue gegen­ über Gott und die von Gott verhängte Strafe für die große Apostasie.403 Die reformatorischen Verfallsvorstellungen beruhen damit im Unterschied zur heidnisch-antiken Verfallsidee nicht auf einer schicksalhaften Notwendigkeit, sondern Verfall und Teufelsmacht sind eindeutig auf das schuldhafte Verhalten der Gläubigen zurückzuführen.404 Besonders deutlich wird die allgemeinreformatorische Deutung der Teufels­ macht als auf Gottes Geheiß verhängte Strafe für die Sündhaftigkeit des Men­ schen bei Hartmut von Cronberg: „[…] deßhalb got der almechtig wie billich unser aller sunden halb verhenngt, das uns der teuffel durch seynen teufelli­ schen geyst besessen hatt, deßhalben wir all sament als die blynden geyrret ha­ ben […].“405 Mit dieser Feststellung Cronbergs sind zweierlei Sachverhalte aus­ gesagt: Zum einen wird der Mensch aufgrund seiner Ansprechbarkeit auf die Sünde trotz der Teufelsmacht nicht aus seiner Verantwortlichkeit für seine Gottesferne entlassen. Er zeichnet für seine Abkehr von Gottes Wort voll verantwortlich; ohne des Menschen Bereitschaft zur Sünde hätte der Teufel keinen Einfluss.406 mugen wir andern und doch auch nit dauon entschuldigenn, dan wir haben alle schult an dem rechten Antichristischen ursprung, das seint unsere eygne erdachte werck wider gottis gebot.“ (Cronberg: Tzwen Brieff 11). 402  Vgl. z. B. Cronberg: „Szo aber die warheyt ist, das solliche teufelische verfurung ent­ sprungen ist auß aller menschenn sunden […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 34). Die Christen hätten sich anstatt auf Gottes- auf Menschensatzungen verlassen „[…] durch den geyst des teufels, wellicher uns durch die verhengkniß gottes des almechtigen besessen hat, unßerer grausamen sunde der lesterlichen undanckberkeyt wegen, Derhalben und gott billich tzur straffe solliche blinde hirten gebenn hat […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 34). Vgl. auch Kettenbach: Die von Gott verhängte Strafe sei vor allem in Gestalt des Papsttums geschichtlich wirksam geworden: Wie anderen Völkern der Islam zur Strafe ge­ sandt sei, so dem Okzident die Tyrannei des Papsttums. (Kettenbach: Küchenprediger 35,28–36,5). Das Papsttum habe Gottes- durch Menschenwort ersetzt und damit die Gläu­ bigen dem Teufel überantwortet; da sich die Gläubigen haben betrügen lassen und das Papst­ tum derzeit mehr geachtet werde als Gott selber, sei das päpstliche Regiment die gerechte Strafe Gottes für die Undankbarkeit der Menschen: „Die weil jr meer achten menschen wort vnd gepot dann gots, so hat got euch billich solch straff zugeschickt, das jr gekreutzigt seyt mit lugen des teufels aposteln.“ (Kettenbach: Altmütterlein 71,19–21; vgl. auch Kettenbach: Küchenprediger 35,20–25). 403 Vgl. Luther: Offenbarung des Endtchrists F3b.G1a-G1b.M3a-M3b. 404  Vgl. zur heidnisch-antiken Verfallsidee Schäufele: Defecit Ecclesia 9–22. 405  Cronberg: Christliche Schriften 53. 406  Vgl. auch Kettenbach: Wie Gott die Auserwählten durch den Heiligen Geist berufe und die Kirche regiere, so regiere der Teufel seine Gegenkirche, indem er die Menschen verstockt und für den Geist nicht mehr empfänglich sein lässt. Um jedoch der Schlussfolge­ rung vorzubeugen, der teuflische Einfluss entlaste die Menschen von ihrer Verantwortung für ihre Verstocktheit, betont Kettenbach, sie handelten „auß eygenem gesuch“: „Jtem jr sagen rechtt, der hailig gaist sey noch in der christlichen kirchen vnd regier die. ist war, aber

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III. Vergangenheitsdeutung

So scheinen die Erfolge des Teufels von den Handlungen der Menschen abhän­ gig zu sein; die Ansprechbarkeit des Menschen auf die Sünde geht der Einfluss­ nahme des Teufels voraus.407 Vorgelagerte Bedingung der Teufelsmacht ist die sündhafte Konstitution des Menschen, der, auch wenn die Sünde ihm Verhäng­ nis ist, verantwortlich bleibt. Aus diesem schuldhaften Verhalten resultiere ver­ diente, von Gott verfügte Strafe. Zum anderen konstatiert Cornberg die eindeutige Subordination des Teufels unter die Souveränität Gottes. Gott hat dem Teufel Raum gegeben, das Strafamt zu führen. Der Zorn Gottes hat den Teufel entfesselt, dessen Handeln die Men­ schen in der Vergangenheit immer tiefer in die Sünde getrieben und das Wort Gottes hat vergessen lassen.408 Viele Flugschriften betonen zudem, dass die Vor­ hersagen der Schrift über den Abfall vom Evangelium und das Wirken des An­ tichrist erfüllt werden müssten, was in der Vergangenheit unzweifelhaft gesche­ hen sei.409 Die teuflische Verblendung habe sich aus Gottes Ratschluss in der Vergan­ genheit stetig gesteigert bis zur totalen Verkehrung von Gott und Teufel.410 So konnte sich der Teufel zum Herrscher über die Menschen aufschwingen und der teufel ist bey seyner synagoga vnd lugenhafftigen buben, die auß eygenem gesuch so offenlich wider das Euangelium handeln, vnd regiert die, dann er ist jr herr, sy thun sein willen. es mügen eytel buben in eym concilio zusamen kommen wie in Anne, Cayphe Con­ cilio vnd den teufel mitten vnder in sein, wye er dort was, vnd ob etwas geredt wurd auß dem hailygen gaist, so versteen sie es doch flaischlich wie Cayphas. Darumb, die prelaten seind nicht die christliche kirch, sy mügen teufels krieger sein.“ (Kettenbach: Küchenprediger 40,3–13). 407  Vgl. Hofacker in Bezug auf Nazarei: „Aber die Menschen sind nicht willenlose Opfer des Teufels; seine Erfolge sind von ihren Handlungen abhängig. […] Am Anfang solcher Entwicklungen scheinen also sündhafte Verfehlungen der Menschen zu stehen, die sie erst nachträglich dem Teufel unterwerfen: Menschlicher Wille, so das Machtstreben der Päpste, ist also Voraussetzung für das Eingreifen des Teufels.“ (Hofacker: Vom alten und nüen Gott 161). 408  Vgl. auch Eberlin: „Wir sollen auch hoch erwegen den grossen zorn gottes über die welt, das er disen teüfels stryck vnnd hellysche fynnsternus hat über dye welt gesandt zu verfuerung so vyler edlen gut begyrigen seelen, vnd hat souil jar geweret.“ (Eberlin: Falschscheinende Geistliche 48). Die Jahrhunderte andauernde Verborgenheit Gottes ist Ausdruck seines Zorns und sein souveräner Entscheid: „Nu ist Gottes zorn lang vber der welt gewesen vil hundert iar, yn denen sich Gott vor vns verborgen hat (auß seynem heymlichen, erschroecklichem, gerechtem vrteyl) vnd ist seyn wort vergessen gewesen, hat lassen yetli­ chen gehen seynen weg, nach begyrlicheyt seines hertzen.“ (Eberlin: Zuschreiben 131). 409  Gott lasse die teuflische Verdrehung der Wahrheit geschehen, da er sie selbst angekün­ digt habe: „In summa, sy woellent got über Got sein im himel und auff erden, ist es anders sach, das es Got thun will und im auch also gefelt. Aber der spruch muß also erfült werden, 2. ad Thessa. 2. capitel [3.4]: Es sey dann das zuvor kumme der abfall unnd offenbart werde der mensch der sünden unnd das kündt der verderbung, der da ist ain widerwertiger und sich überhebt über alles, das Got oder gottesdienst hayst, also, das er sich setzt in den tempel Got­ tes als ain got, und gibt sich für, als sey er Got.“ (Rychsner: Unterweisung 429,23–31). 410  Vgl. z. B. Eberlin: „[…] da man vyl hundert iar vß sunderer verhaencknüß gots gelert hat, die waelt für got, den Antichrist für Christum, Barrabam für Jesum, kaetzery für war­ hafftige ding […].“ (Eberlin: Bundesgenossen 4).

3.  Innere Kohärenz

145

sich die Gläubigen dienstbar machen.411 Er reizte des Menschen Fürwitz, so dass dieser sich statt auf Gottes Wort auf seine eigene Weisheit verließ und in der Folge der Gegensatz zur göttlichen Weisheit immer weiter aufriss. Aus dieser Verstrickung und teuflischen Verblendung könne sich daher der Mensch auch nicht selber wieder befreien, sondern müsse auf Gottes Eingreifen hoffen und verstärkt wachsam sein gegenüber den Anschlägen des Teufels.412 Dieses Eingreifen Gottes, seine Intervention gegen die Teufelsmacht der Ver­ gangenheit, ereigne sich in der reformatorischen Gegenwart und werde die Teufelsherrschaft beenden. So steht das Theologumenon von der Alleinwirk­ samkeit Gottes der Annahme eines Dualismus entgegen: Die Subordination des Teufels unter Gottes Allmacht und Alleinwirksamkeit ist allen reformatorischen Flugschriften im Letzten nicht zweifelhaft – sie sprach sich insbesondere in der Zuversicht über den Endsieg Gottes über den Teufel aus.413 Allein vor dem Hintergrund dieser Zukunftsgewissheit bezüglich der baldigen Vernichtung des Teufels konnten die reformatorischen Flugschriften die Macht des Teufels so stark betonen – in Kürze werde sich das Ereignis der Entmachtung des Teufels durch das Eingreifen Gottes vollzogen haben. Gilt die Vergangenheit als Zeit unter dem Teufel, der die Gläubigen unmerklich im Gefängnis der Gottesferne hielt, so beginne in der Gegenwart die Zeit des Heils, in der Gott seine Offen­ barung neu ergehen ließe und dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstver­ schuldeten Teufelsknechtschaft ermögliche. Die Vergangenheit erscheint als Strafvollzug, die Gegenwart als Akt der Befreiung.

3.7  Gehobener Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung Flugschriften widmen sich per definitionem aktuellen Anlässen und Themen.414 Dieses Gattungsmerkmal prägt auch die Vergangenheitsbetrachtung der Flug­ schriften. Im Kontext der auf brechenden Meinungsstreitigkeiten um das rechte Glaubensverständnis diente die Vergangenheitsbetrachtung den reformatori­ 411 

Vgl. z. B. Cronberg: Christliche Schriften 58. „Dann durch menschen weyßheyt unnd wege seint wir in die starcken band des teufels komen, Aber durch aller menschen weyßheyt und gewalt mogen wir uns nit herauß helffenn, Dann wo sollichs durch unßer weyßheyt und gewalt understanden wurde, Szo ist gewiß, das der teufel durch sein listigkeyt, durch die hoffart und den geytz uns noch weyter verfueren wurde, dardurch er uns in ein greulicher gefenncknuß und vinsternuß bringen wurde, dann wir gewest seynd; deßhalben uns hoch von noten ist, das wir uns vor dem aller listichsten feynd dem teufel woll fursehen […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 59). 413  Im Unterschied zu beispielsweise den mittelalterlichen Bewegungen der Katharer, in deren Verständnis sich „Gott als Lichtprinzip und der Teufel als Materieprinzip gleichmäch­ tig gegenüber“ standen (Angenendt: Grundformen 25), vertreten alle reformatorischen Be­ wegungen die letztgültige Superiorität Gottes gegenüber dem Teufel und lehnen einen Du­ alismus ab. Zum ontologischen Dualismus der Katharer und der Differenzierung in monobzw. diprinzipialen Dualismus vgl. auch Schäufele: Defecit Ecclesia 92–104. 414  Vgl. oben 23. 412 

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III. Vergangenheitsdeutung

schen Bewegungen als Argument, mit dem die Abkehr vom Glaubensverständ­ nis altgläubiger Provenienz eingefordert wurde. Der Rekurs auf die Geschichte lieferte Argumentationslinien für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen und erlangte regelrechten Beweischarakter für die Überzeugung, dass die zeit­ genössische Papstkirche vom Teufel beherrscht werde und daher keinen Gehor­ sam beanspruchen dürfe. Die Argumentation mit Geschichte, die sich die Alt­ gläubigen auf der Basis des Traditionsarguments zu eigen machten, erforderte einen spezifisch reformatorischen Geschichtsentwurf, der gleichsam als Gegen­ darstellung zur altgläubigen Geschichtsdeutung fungierte. Die reformatori­ schen Flugschriften nahmen eine umfassende Neukonstruktion des Geschichts­ bildes vor, welches mit dem der Altgläubigen in Konkurrenz trat – Geschichte wurde zu einem höchst strittigen Gegenstand und avancierte gerade in der Frühzeit der reformatorischen Bewegungen zu einem entscheidenden Aspekt im Prozess der Meinungsbildung. Durch das Aufzeigen der Aktivität des Teu­ fels in der Geschichte stellten die reformatorischen Flugschriften ein Orientie­ rungswissen bereit, anhand dessen die Rezipienten in der Gegenwart auf ganz praktischer Ebene erkennen lernen sollten, woran sich in den zeitgenössischen Konflikten zu halten sei und woran nicht.415 Die Vergangenheitsdeutung diente der direkten Einflussnahme auf die zeitgenössischen Meinungsstreitigkeiten und war von einer ausgesprochen persuasiven Intentionalität geprägt. Die früh­ reformatorische Persuasionskultur hob daher den Erkenntnis- und Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung deutlich an, da sie zum einen die konsequente Abgrenzung der reformatorischen Bewegungen von den Altgläubigen ermög­ lichte, zum anderen eine innerreformatorische Integration beförderte. 415  So

will z. B. Nazarei den Rezipienten aus der Vergangenheitsbetrachtung das argu­ mentative Rüstzeug bereitstellen, auf dessen Grundlage sie befähigt werden sollen, sich in den gegenwärtigen Meinungsstreitigkeiten positionieren zu können. Aus diesem Grunde ist seine Flugschrift in zwei Hauptteile gegliedert: Einem historischen Teil (Nazarei 4–53), in dem das Wirken des Teufels in der Geschichte als Prozess der sukzessiven Steigerung seines Einflusses dargestellt wird, und einem dogmatischen Teil (Nazarei 53–67), in dem die not­ wendige Neuausrichtung des Glaubens konturiert wird. Die Rezipienten sollen den Teufel in der Geschichte erkennen lernen, um die eigene Gegenwart recht beurteilen zu können als epochalen Kampf gegen den Teufel. Die Geschichtsbetrachtung soll den Rezipienten ermög­ lichen, Missbräuche zurückzuweisen und Tradition und Brauchtum als wandelbar und damit der Schrift eindeutig nachgeordnet zu erkennen: „[…] dar vß eyn yeglicher licht verstendi­ ger bym nechsten syn ruw überkommen mag, des zancks vnd mißuerstands vilerley kirchen dienst sich nit sonders annemen, zu ruck wisen, als wandelbar, nachwendig, lichtgültig, ou­ gen weyd, Der goetlichen geschrifft sich nachfuegen, richten […]“ (Nazarei 3). Nazarei will die zeitgenössischen Irrtümer aus der Betrachtung der Vergangenheit als solche erweisen und deren Tradierung bis in die Gegenwart aufzeigen (vgl. Nazarei 3). Dadurch entlarven seine historischen Ausführungen die grundsätzliche Verkehrung von Alt und Neu und er­ möglichen den Rezipienten, die eigentlich neuen Ansprüche der Papstkirche zurückzuwei­ sen und sich auf das wahrhaft Alte rückzubesinnen. Seine historische Darstellung über die Entwicklungsgeschichte des Teufels mündet in einen in die Gegenwart ergehenden ein­ dringlichen Umkehr-Ruf: „O lieben Christen keren wider, lassen eüch regieren Christum den milten herren, der kan üch helffen ewigklich.“ (Nazarei 34).

3.  Innere Kohärenz

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Die Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der Geschichte fand auf dem Boden des historischen Legitimationsgestus statt. Gegen das altgläubige Sukzessions- und Traditionsprinzip setzten die reformatorischen Bewegungen das Schriftprinzip und machten die Konformität der Lehre zum zentralen Kon­ tinuitätskriterium. Im Rahmen dieser Neuakzentuierung des historischen Le­ gitimationsgestus gerieten reformatorisches Schrift- und altgläubiges Traditi­ onsprinzip in einen Gegensatz, der zwei völlig konträre Geschichtsbilder ent­ stehen ließ und sich auch auf die Art und Weise der Vergangenheitsbetrachtung auswirkte. Die reformatorische Verpflichtung auf das Schriftprinzip bedingte eine grundlegende Historisierung des Traditionsverständnisses, da die lehramtliche Tradition fortan nicht mehr als Fortschreibung der ewigen, zeitlosen Wahrheit unbesehen übernommen, sondern als historisch wandelbar und teuflisch kor­ rumpierbar erfahren wurde.416 Bei der Beurteilung der Tradition kam damit die geschichtliche Entwicklung in den Blick: Gegen die korrumpierte Tradition in der Zeit der Teufelsherrschaft suchte das reformatorische Traditionsverständnis die alte und schriftgemäße Tradition fortzuführen. Den historischen Referenz­ horizont, an den es anzuknüpfen gelte, bildete das Urchristentum und die Alte Kirche. Die Kirchenväter behielten daher eine hohe Autorität, obschon oftmals betont wurde, dass auch sie geirrt haben. So beriefen sich die reformatorischen Bewegungen nicht mehr in dogmatischer, sondern in historischer Hinsicht auf die Väter als Wahrheitszeugen.417 Die Historisierung des Traditionsverständnisses äußerte sich in den frühre­ formatorischen Auseinandersetzungen vornehmlich als Traditionskritik. Diese schien dem Schriftprinzip gleichsam inhärent zu sein, da die Schrift selbst die Tradition unter den Vorbehalt der teuflischen Pervertierung stelle, indem sie den großen Abfall vom Evangelium und das massive Auf kommen teuflischer Aktivität ankündige, die in Sendung und Machtentfaltung des Antichrist kul­ minieren werde. Der reformatorischen Vergangenheitsdeutung kam im Rah­ men der zugespitzten Antithetik von Schrift- und Traditionsprinzip die Funk­ tion zu, das altgläubige Traditionsargument in historischer Hinsicht zu entkräf­ ten, indem sie das weitgehende Erfülltsein der Schriftankündigungen mit der geschichtlichen Entwicklung belegte. Das massive Eindringen der Teufelsleh­ ren sei bereits geschehen und die zeitgenössische Papstkirche gleiche einer Ge­ genkirche des Teufels, die sich mit Verweis auf die Sukzessionstheorie und die 416  Der Begriff der „Historisierung“ wird hier also in einem recht weiten Sinne gebraucht und unterscheidet sich insofern von den Historisierungsprozessen etwa des 19. Jahrhunderts. 417 Vgl. Hauschild: Bewertung der Tradition 230 f. (in Bezug auf die Confessio Au­ gustana): „Nicht als verpflichtende Autorität werden die Väter generell akzeptiert und damit zur Tradition im dogmatischen Sinne gemacht, vielmehr kann man sich nur insofern auf sie berufen, als sie zu der aus der Bibel erhobenen evangelischen Position passen. Tradition sind sie somit – in kritisch-selektivem Verfahren namhaft gemacht – in einem eher historischen Sinne: als Zeugen der Wahrheit.“

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III. Vergangenheitsdeutung

Normativität der Tradition gegen die Rückführung zur Schriftautorität als al­ leiniger Grundlage des Glaubens abschirme. So diene das altgläubige Traditi­ onsargument nicht der Bewahrung der reinen Lehre, sondern dem Herrschafts­ erhalt des Teufels. Die Traditionsorientierung mit ihrem Prinzip der Nichtwi­ dersprüchlichkeit wurde mit der reformatorischen Deutung der Vergangenheit als Erfolgsgeschichte des Teufels zurückgewiesen, indem die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung die Irrtümer der Tradition historisch nachwies und damit die Ankündigungen und Warnungen der Schrift bezüglich des kommen­ den Abfalls und der auf kommenden Teufelslehren als bereits eingetroffen qua­ lifizierten. Damit erfüllte die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung im Hinblick auf das Schriftprinzip eine elementare Bestätigungsfunktion, indem sie die ge­ schichtliche Herleitung der gewonnenen exegetischen Erkenntnisse und damit eine rückwirkende Bestätigung der Schrifterkenntnis leistete.418 Diese Bestäti­ gungsfunktion darf allerdings nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass die biblischen Verheißungen und das aus den biblischen Prophetien erhobene Ablaufschema der Heilsgeschichte erst noch durch die Historie bezeugt werden müssten, um ihren vollen Wahrheitsgehalt zu entfalten. Dass die biblischen Prophetien erfüllt würden, war auch den Altgläubigen nicht zweifelhaft – dass sie jedoch bereits erfüllt seien, gehörte zu den Grundannahmen der spezifisch reformatorischen Zeitdeutung. Die aus diesem exegetischen Befund erwach­ sende Nachweispflicht erforderte eine Vergangenheitsdeutung, welche die Kir­ chengeschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels interpretierte und die histori­ schen Entwicklungsstadien von Teufel und Antichrist nachzuzeichnen in der Lage war. Der reformatorischen Vergangenheitsbetrachtung ging es daher nicht um die Bestätigung des Wahrheitsanspruchs der Schrift, sondern um den Ausweis des eigenen heilsgeschichtlichen Standorts: Während die Heilige Schrift das gott­ gewollte und planvolle Ablaufschema der Heilsgeschichte bereitstellt, lässt der Geschichtsverlauf erkennen, wo innerhalb dieses Ablaufschemas die eigene Ge­ genwart zu verorten ist und inwieweit die Vorhersagen der Schrift bereits erfüllt sind. So diente die reformatorische Vergangenheitsbetrachtung als Orientie­ rungshilfe, auf deren Grundlage die reformatorischen Zeitgenossen ihre Selbst­ verortung innerhalb des heilsgeschichtlichen Prozesses vornahmen. Im Rahmen dieser heilsgeschichtlichen Standortbestimmung kam es zu einer Aufwertung der Historiographie. Die Geschichtsschreibung wird von den Flugschriften häufig als Referenz herangezogen, um ihre Deutung der Vergan­ genheit abzusichern – „Sehe man die historien ob es war sey oder nit.“419 Erst 418 Vgl.

Schwarz: Wahrheit 161 f. Nazarei 32. Nazarei entnimmt der antiken Geschichtsschreibung z. B. das permanen­ te Erheben neuer Götter als Grundkonstante menschlicher Entwicklung: „So wir für hend nemen die eltisten Historiographos, als Manethon by den Egiptern, Berosium by den Chal­ 419 

3.  Innere Kohärenz

149

aus der Zusammenschau von Welt- und Heilsgeschichte ergab sich dann die Gewissheit, in der eigenen Gegenwart am Ende der Zeiten zu leben.420 Die Vergangenheitsbetrachtung fungierte gleichsam als Herleitung und rückwir­ kende Bestätigung der gegenwärtigen Endzeitgewissheit und bildete die Kont­ rastfolie, vor deren Hintergrund der heilsgeschichtliche Status der Gegenwart als Zeit der Vernichtung von Teufel und Antichrist erst sichtbar wurde. Dieser scharfe Kontrast von Vergangenheit und Gegenwart ließ ein spezifisch reforma­ torisches Epochenbewusstsein entstehen, welches auf der Einsicht in die grund­ legende Andersartigkeit geschichtlicher Zeiten gründete. Vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Bestätigungsfunktion diente die Vergangenheitsbetrachtung der Verifizierung und Falsifizierung theologischer Wahrheitsansprüche. In den Flugschriften der frühen Reformationszeit bis 1526 galt dies vornehmlich für die bibliozentrischen Richtungen der reformatori­ schen Bewegungen, innerhalb deren Hermeneutik die Vergangenheitsbetrach­ tung das Schriftprinzip gegen das Traditionsprinzip bestätigen sollte und inso­ fern eine Bedeutungssteigerung erfuhr. Im Hinblick auf die spiritualistischen Richtungen der reformatorischen Be­ wegungen gilt dies jedoch nur bedingt: Diese lehnten, wie an Müntzer darge­ stellt, das altgläubige Vergangenheitsverständnis mindestens ebenso scharf ab und erwiesen sich noch vor den bibliozentrischen Richtungen als traditions­ sprengend, wenn sie den gegenwärtig erfahrbaren Geistoffenbarungen in Träu­ men und Gesichten eine hermeneutische Vorrangstellung zusprechen und der Tradition oder der Schrift als geschichtlichem Zeugnis der Vergangenheit eine eigenständige Normativität aberkennen. Auch der Vergangenheitsdeutung der deyern, Mochus vnd Estius in Siria, Hisiodus, Josephus in Judea, Titus Liuius by den Roe­ mern, So finden wir warhafftig anzeigen, das sich die menschen in allen zyten, sonderlich zuuor, in eererbietung gots vast seltzam vnterscheidlichen gehalten, Ein yeglig landt ein nüwen seltzamen got gemacht.“ (Nazarei 4). Auch Eberlin führt mehrfach die „haydni­ schen geschichtschreyber“ (Eberlin: Schänder 3) an, um seine Argumentation zu stützen, vgl. auch Eberlin: Zuschreiben 141; Bundesgenossen 10.100. Auch Luther beruft sich auf die Geschichtsschreibung: Z. B. bezeugten die Historien, dass das Papsttum seinen Reichtum unrechtmäßig erworben habe (WA 6; 427,23). Generell wird die Geschichtsschreibung von Luther hochgeschätzt: „Mit den fuernemsten aber sollten seyn die Chronicken und Histori­ en, waserley sprachen man haben kuende. Denn die selben wunder nuetz sind, der wellt lauff zu erkennen […].“ (WA 15; 52,11–13). Vgl. zum Wert der Geschichtsschreibung bei Luther auch: Offenbarung des Endtchrists P2a-P2b. Allerdings kann die Geschichtsschreibung von Luther auch ambivalent beurteilt werden, da sie auch zur Verteidigung des Papsttums instrumentalisiert wurde: „Ich rede was wissend ist allen / so die Historien gelesen ha­ ben / darinn dise ding so klerlich gesehen werden / wiewol die welschen Historien schrey­ ber / so mit schendtlichen heuchlen alle ding zu lob vnd eeren des Bapsts verkeren.“ (Offenbarung des Endtchrists T4a). 420  Vgl. z. B. Nazarei, für den sich die Erkenntnis des alten und der neuen Götter nur „in durchlauffung der heyligen geschrifft, sambt den historien beschehener ding […]“ ergibt (Nazarei 3). Die Deutung der Zeit- und Weltgeschichte in Zusammenschau mit den Pro­ phetien der Schrift ist auch für Osiander „eine selbständige Aufgabe, die für sich im Zusam­ menhange gelöst werden will.“ (Hirsch: Die Theologie des Andreas Osiander 18).

150

III. Vergangenheitsdeutung

spiritualistischen Richtungen lag die Verfallsidee zugrunde, welche die nachurchristliche Vergangenheit als teuflisch verblendete Zeit auswies, in der die wahren Offenbarungen Gottes dämonisiert wurden. Der geschichtliche De­ pravationsprozess von Glaube und Frömmigkeit habe seit der Apostelzeit durch das Blendwerk des Teufels stetig zugenommen und nunmehr einen historischen Höchststand erreicht. Während also das Grundmuster der nachurchristlichen Vergangenheitsdeu­ tung als Erfolgsgeschichte des Teufels eine große reformatorische Kohärenz aufwies, so muss bezüglich des Erkenntniswertes der Vergangenheitsbetrach­ tung differenziert werden: Dieser scheint innerhalb der genuin gegenwartsbe­ zogenen Hermeneutik Müntzers nicht so bedeutsam wie in den bibliozentri­ schen Richtungen zu sein – besaß die Betrachtung der Vergangenheit hier eine wichtige Bestätigungs- und Orientierungsfunktion innerhalb des Schriftprin­ zips, so besaß dort die Schrift als solche lediglich eine Bestätigungsfunktion für die Geistoffenbarungen der Gegenwart.421 Doch zeigt sich der Spiritualismus insgesamt als sehr heterogenes Phäno­ men; 422 diese Verschiedenartigkeit kommt denn auch insbesondere hinsichtlich des Stellen- und Erkenntniswertes der Vergangenheitsbetrachtung zum Aus­ druck: Während Müntzer und Karlstadt an einer detaillierten Betrachtung der nachurchristlichen Vergangenheit kaum Interesse zeigen, legt z. B. Sebastian Franck 1531 ein eigenes Geschichtswerk vor, dessen Lehrreichtum er gar über den der Schrift stellt.423 In den Flugschriften der frühen Reformationszeit bis 1525 jedoch treten die Spiritualisten nicht durch ihr Geschichtsinteresse hervor und beschränken sich auf die knappe Feststellung des radikalen Verfalls der sichtbaren Kirche seit der Apostelzeit. Während Müntzers Verfallsidee dem imitatio-Typ des historischen Legitima­ tionsgestus zuzuordnen ist, stellten die meisten frühreformatorischen Flug­ schriftenautoren die Übereinstimmung der Lehre in den Mittelpunkt und ent­ warfen von hier aus ihre Verfallsvorstellungen. Die Kirchengeschichte galt als mehr oder weniger lange Zeit des Verfalls, von der sich die reformatorische 421 

Vgl. unten Müntzer 180 f. Leppin, Volker: Art. „Spiritualismus”. RGG4 7 (2004), Sp.  1585. 423  Vgl. zur „Chronica, Zeitbuch und Geschichtsbibel“ Séguenny: Art. „Franck, Sebas­ tian“.308. Franck teilt die allgemeinreformatorische Anschauung des Niedergangs der Kir­ che, radikalisiert die Verfallstheorie gar, wenn er (ähnlich wie Müntzer, vgl. oben 116 f.) die große Apostasie bereits in der Urzeit der Kirche ansetzt und sie als total qualifiziert. In­ nerhalb der Hermeneutik Francks erhält die Vergangenheitsbetrachtung einen enorm hohen Stellenwert: „Wenn sich der Mensch mit ihrer Hilfe [der inneren Geistoffenbarungen] in die Geschichte selbst einbringt und in ihr wiederfindet, wird ihm die Welt zum offenen Buch, und die Chronik der Weltgeschichte wird ihm zur ‚Geschichtsbibel‘ mit Offenbarungscha­ rakter. Denn was die Heilige Schrift lehrt, stellt die Historie lebendig vor Augen; eine Bibel reicht der anderen die Hand.“ (Benrath: Art. „Geschichte/Geschichtsschreibung/Ge­ schichtsphilosophie VII/1“ 633). Zum übergeordneten Lehrreichtum der Geschichtsbibel vor der Schrift vgl. Séguenny: Art. „Franck, Sebastian“ 310 f. 422 Vgl.

3.  Innere Kohärenz

151

Gegenwart als neue Epoche der Heilsgeschichte grundlegend abhob. Mit die­ sem Epochenbewusstsein war auch ein neues Bewusstsein für die eigene Ge­ schichtlichkeit und den historischen Wandel in der Vermittlung der Wahrheit verbunden. Der Akzent lag nicht mehr auf der durch das Traditionsprinzip zeit­ los verbürgten Wahrheit, der die Gegenwart sich anzuschließen habe, sondern auf dem alleinigen und ausschließlichen Rekurs auf die Schrift, deren Wahrheit unter Umständen auch gegen die Tradition und damit permanent neu unter sich wandelnden historischen Bedingungen und Gegebenheiten aktualisiert und an­ geeignet werden müsse. Da die Tradition selbst stetem Wandel unterliege, kön­ ne die unwandelbare Wahrheit nur im Schriftprinzip erkannt und müsse unter den Bedingungen der eigenen Gegenwart immer wieder neu zur Geltung ge­ bracht werden.424 Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in der Reformati­ onszeit ein Bewusstsein für die Wandelbarkeit des Historischen, welches in der reformatorischen Vergangenheitsdeutung, insbesondere in der Deutung der Kirchengeschichte als Erfolgsgeschichte des Teufels und deren prozesshafter Verwirklichung, sinnfälligen Ausdruck fand. So wurde die Vergangenheit zur „vergangen verfuerlichen zeyt“425, auf deren Irrtümer nicht länger gebaut wer­ den dürfe und von der sich die reformatorische Gegenwart als grundlegend neue Zeit abhob.

424  Vgl. z. B. Spengler: „Derselb vertraw und glaub aber ist gegründt auff das unwanckel­ bar wort Gottes, dieweyl außserhalb desselben goetlichen worts, das nach den worten Petri [1 Petr 1,25] allein in ewigkeyt pleybt, alle ding verrucklich, unbestendig und zergencklich synd.“ (Spengler: Verantwortung 360,13–16). Zur Wandelbarkeit von Tradition und Brauchtum vgl. auch Nazarei 3. 425  Spengler: Verantwortung 368,11.

IV. Gegenwartsverständnis 1. Fallbeispiele Zunächst sollen zwei Fallbeispiele frühreformatorischen Gegenwartsverständ­ nisses in ausführlicher Form vorgestellt werden, um anschließend unter Hinzu­ nahme weiterer Flugschriftenautoren die Merkmale einer inneren reformatori­ schen Kohärenz zu benennen. Mit Stifel und Müntzer wurden bewusst zwei sehr unterschiedliche Denkansätze ausgewählt, um die Frage nach einer inne­ ren Kohärenz in Zusammenschau von bibliozentrischen und spiritualistischen Richtungen der reformatorischen Bewegungen stellen zu können. Stifel ist ein Vertreter der bibliozentrischen Richtungen und kann als Muster­ beispiel für die Lutherrezeption gelten. Obschon Stifel auch eine gewisse Eigen­ ständigkeit erkennen lässt, wirkt er zunächst vor allem als Multiplikator luthe­ rischer Ideen. Müntzer dagegen steht für die spiritualistischen Richtungen und öffnet den Blick auf das weite Spektrum frühreformatorischen Denkens. An Müntzer soll die Rede von einer inneren reformatorischen Kohärenz fortlaufend kritisch überprüft werden.

1.1  Michael Stifel Michael Stifel tritt in den frühen 1520er Jahren als erfolgreicher Flugschriften­ autor in Erscheinung, der in seiner publizistischen Tätigkeit einem neuen Ge­ genwartsverständnis Ausdruck verlieh.1 Er war zunehmend von ganz konkre­ ten apokalyptischen Erwartungen bestimmt, die 1533 in eine exakte mathema­ tische Berechnung des Weltendes mündeten.2 Anfangs bleibt Stifels mathematisches Interesse noch verborgen; wann es er­ wachte, kann nicht genau bestimmt werden. In den hier behandelten Flug­ schriften bis 1525 begegnen keinerlei mathematische Überlegungen. 1532 aller­ 1  Zu Stifel siehe Heinz: Art. „Stifel, Michael“ Sp.  1468–1472; Schröder: Art. „Stifel, Michael“, Sp.  1733 f.; Reich: Zwischen Theologie und Mathematik. 2 Stifel terminierte den Weltuntergang auf den 19.10.1533 um 8 Uhr morgens. Wie Stifel zu diesem Zeitpunkt, den er bis auf die Stunde genau festlegen zu können glaubte, gelangte, ist unklar. Im „Rechenbüchlein vom Endchrist“ (1532) findet sich dieses Datum noch nicht, vgl. Heinz: Art. „Stifel“ Sp.  1470.

1. Fallbeispiele

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dings bildeten sie bereits die Grundlage seines Zugriffs auf die Endzeiterwar­ tung, doch war die Mathematik hier „lediglich Mittel zum Zweck“,3 wohingegen er späterhin auch rein mathematische Werke verfasste.4 Dieser Interessenverlagerung sollte auch die moderne wissenschaftliche Auseinander­ setzung mit Stifel folgen: Wurde er in der älteren Forschung meist als Theologe der Reformation behandelt, so wird er in den wenigen neueren Darstellungen vorrangig als Mathematiker gewürdigt. Auch wenn Stifel sich über sein mathematisches Interesse und die Überzeu­ gung der Berechenbarkeit des Weltendes eigenständig profilierte, gilt sein Inte­ resse zunächst primär der lutherischen Theologie, zu der er sich in seinen frühen Flugschriften entschieden bekannte. Im Mittelpunkt der folgenden Betrach­ tung steht die Flugschrift Christförmige Lehre, deren verschiedene Nachdru­ cke auf eine große Nachfrage schließen lassen.5 Die Flugschrift Christförmige Lehre ist in zwei Fassungen überliefert: Die erste von 1522 liegt als Textaus­ gabe vor,6 die zweite von 1525 ist lediglich in der Microfiche-Sammlung ediert.7 Die Ausgabe von 1525 stellt eine Erweiterung der Erstausgabe dar, in der 18 neue Strophen eingefügt wurden.8 In der zweiten Fassung tritt die Apokalyptik als Grundhaltung Stifels nochmals deutlicher in den Vordergrund, was eine tendenzielle Intensivierung seiner Endzeiterwartung zu erkennen gibt, welche dann 1533 mit der exakten Terminierung des Weltendes kulminieren sollte.9 Ergänzend werden die beiden Flugschriften Euangelium und Wider Murnars Lyed hinzugezogen. In Auslegung des Gleichnisses von den anvertrauten Zentnern (Mt 25,14–30) deutet Stifel die Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte, in deren Entwicklung er drei Phasen unterscheidet,10 welche jeweils auch durch verschiedene Strate­ gien des Teufels gekennzeichnet seien.11 3 

Reich: Zwischen Theologie und Mathematik 159. Heinz: Art. „Stifel“ Sp.  1470 f. 5 Vgl. Lucke: Einleitung zu Stifel 269. 6 Vgl. Lucke (Hg.): Michael Stifel. In: Clemen 3, 282–342. 7  Köhler: Microfiche-Sammlung, Nr.  9 00. 8 Vgl. Lucke: Einleitung zu Stifel 273. 9 Zitiert wurde aus der ersten Fassung von 1522 nach Lucke, lediglich die Erweite­ rungsteile der zweiten Fassung von 1525 werden nach Microfiche-Sammlung zitiert. 10 „Dann was ist dise gleichniß anderst dann ein prophetzey oder weyssagung Christi von dreyen vnderschidlichen staenden der kirchen die sye hatt gehabt yetzund in vergangnen zeyten  /  nach gleichnuß des alters in einem menschen  /  in welichen er zünimpt  /  still steet / vnd abnimpt?“ (Stifel: Euangelium A3a). 11  Die frühe Kirche der Apostel- und Märtyrerzeit habe ihren Glauben in Verfolgung bewähren müssen und gerade deshalb durch ihr Vorbild die Zahl der wahren Christen meh­ ren können. Der Teufel versuchte in dieser Zeit wie ein wütender Löwe die Christen durch leibliche Drangsal zum Abfall zu bewegen, doch war diese Frühzeit für die Christenheit aufgrund ihrer Standhaftigkeit eine Zeit des Wachstums: „Der iugent oder dem alter eines menschen so er zünimpt wurt vergleicht (bey dem ersten knecht) die anfängklich kirch zu der zeyt der apostelen vnd marterer. dann do hatt groeßlich gewachsen die kirch / als ein kind 4 Vgl.

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IV. Gegenwartsverständnis

Im Gegensatz zur dramatischen Verfallstendenz der zurückliegenden Jahr­ hunderte breche mit der Gegenwart eine neue Zeit an, in der das Wort Gottes wieder zu neuer Klarheit gelange. Diese Charakterisierung der eigenen Gegen­ wart als grundlegender Wendezeit fasst Stifel in der Metapher von den zwei Morgen: Der erste Morgen bezeichnet die Apostelzeit, als die Heilsbotschaft Christi verkündet war und der christliche Glaube in voller Blüte stand. Diesem hellen und klaren ersten Morgen folgte der Abend und der Sonnenuntergang, als das Evangelium verdunkelt wurde und der christliche Glaube durch Werk­ gerechtigkeit zur Gesetzesreligion pervertierte. In der reformatorischen Gegen­ wart jedoch habe Gott sich erbarmt und das Evangelium wieder erstrahlten lassen; die reformatorische Gegenwart erscheint als neuer Morgen, an dem die Zeit der Verdunkelung dem erneuten Sonnenaufgang weichen muss: „Gleich als Joannes schreibt von dem neuen Hierusalem Apocal. xxj [Off b 21,10 ff.], also schreibt auch Daniel viij [Dan 8,26] von einem morgen vermischet einem abent. dann Christus, die wor sonn der gerechtigkeit, die do vffgegangen was zu der zeit der anfengklichen christlichen kirchen, in deren man erkennet christliche gnod vnd frey­ heit, ist leyder yetzund gar noh zu gnoden gangen, vnd ist also worden ein abent. Dann die christen seind gefuert worden glich gantz von dem glauben der gnod gottes vff den glauben der werck. also das die Christenheit glich ist worden widerumb ein Jüdischeit. Aber gott sey lob, Jch merck wol, was geleichnuß dißer morg hat, der zu vnser zeit ha­ erdringt mit dem Apostolischen morgen.“12 i seiner iugent. vnd hatt zugenummen zu gleicherweyß als die kinder von Jsrael weliche so vil mer wurdent gemeert / so vil meer sye wurdent vndergetruckt vnd gepeyniget. Do hat gearbeitet der erst knecht wider den teufel vnnd sein reich als wider einen wuetenden lew­ en.“ (Stifel: Euangelium A3a). Dem schloss sich eine Phase der Stagnation an, in welcher der Teufel als tückischer Drache nicht mehr vornehmlich leibliche Verfolgungen, sondern Irrtü­ mer und Häresien initiierte, um die Christenheit zunehmend erfolgreicher vom rechten Glauben wegzuführen: „Dem stillsteenden alter wurt vergleicht die kirch zu der zeyt al die grymmig vnd wueterisch verfolgung der heyden hett abgelassen von der kirchen vnd do hatt gearbeitet der ander knecht wider den teüfel vnd sein reych / als wider einen tuckischen dra­ chen.“ (Stifel: Euangelium A3a-A3b). Die Phase des Niedergangs des rechten Glaubens sieht Stifel mit der weltlichen Prachtentfaltung der Kirche und der Entwertung der Schrift einsetzen: „Aber dem schwachen abnemenden alter wurt vergleicht die kirch zu der zeyt als dz geistlich regiment der seelen in den Bischoeffen ist verwandelt worden in einen weltlichen pracht / vnder welichem das eynig pfund goetlicher gschrifft / noch warer verstentnuß ist hyngenummen worden vnd vergraben.“ (Stifel: Euangelium A3b). Diese Phase rage bis in die Gegenwart hinein, in welcher jedoch der dritte Knecht als Symbol für die zeitgenössische römische Kirche nunmehr zur Rechenschaft gefordert sei (vgl. Stifel: Euangelium F2b; zur Deutung des dritten Knechts auf die herrschenden Bischöfe vgl. Stifel: Euangelium B4a). 12  Stifel: Christförmige Lehre 291,5–16. Die Metapher der zwei Morgen begegnet in mehreren Varianten und bezeichnet ein durchgängiges Motiv bei Stifel. So auch, wenn er die Vergangenheit als Zeit der Verführung der Christenheit, als Abend deutet, an dem die Huren aktiv werden, die unschuldigen Jünglinge zu verführen. Die zuvor unschuldige Kirche habe sich von Huren zum Ehebruch mit dem Bräutigam Christus reizen lassen. In Auslegung Hosea 3,5 wird Reformationszeit dagegen als neuer Morgen gedeutet, an dem die Menschen erwachen, die Huren verlassen und sich erneut Gott zuwenden, wie es in der Schrift dies für die letzte Zeit vorhergesagt sei und in reformatorischen Gegenwart vollzogen werde (vgl.

1. Fallbeispiele

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Stifel sieht die eigene Gegenwart in heilsgeschichtlicher Parallele zur Apostel­ zeit: Wie einstmals die Apostelzeit, so sei auch der neue Morgen der reformat­ orischen Gegenwart eine Zeit der geistlichen Reinigung und der leiblichen Bedrängnis; beides hänge untrennbar zusammen.13 Eine weitere Analogie zur Apostelzeit sei die Geistbegabung der Laien, welche verständiger die Wahrheit aufnähmen als die verstockten geistlichen Gelehrten.14 So charakterisiert Stifel die eigene Gegenwart einerseits als Wiederherstellung des alten frühchristlichen Glaubens durch den Rückbezug zum historischen Referenzhorizont der Apos­ telzeit;15 andererseits bezeichnet die eigene Gegenwart auch eine neue Zeit, eine vorangeschrittene Zeit, die seit der Apostelzeit eine Entwicklung hinter sich gebracht habe. Die Zeit der Verdunkelung und des Abends war die auf den ersten Morgen notwendig folgende Zeit der Teufelsherrschaft, die im Heilsplan Gottes von vornherein angelegt und von den Aposteln vielfach angekündigt war. So habe der Teufel in der Vergangenheit mit dem Traditionsprinzip die Suffizienz der Schrift untergraben und sich seither auf das vermeintlich alte Herkommen be­ rufen, damit die Wiederkunft des Tröstergeistes, der den Inhalt der Schrift ver­ ständlich werden lässt, von den Gläubigen unbemerkt bleibe.16 Der Antichrist Stifel: Christförmige Lehre L3b-L4a). Das Papsttum als die verführerische Hure habe ihre Macht eingebüßt (vgl. Stifel: Christförmige Lehre L4b). 13  „Die Christenlich kirch ist nye basß gestanden, dann zu der | zeit irer durchechtung, da hat sye groß frucht vnd manigfaltige brocht. Do hat sye vil menschen gen himel geschickt, vil kinder geboren irem gesponß zu dem ewigen leben. Glich als die kinder von Jsrael, so vil mer sye beschwaert wurden vnd gepeiniget, so vil mer wurden sye gemeret vnnd gemanig­ faltiget. als wir haben in dem buch des vßgangs am j. capitel [Ex 1,12], das dann gewesen ist ein figur des christlichen standts. Vnd in dem frid ist ir aller bitterste bitterkeit, Jsaie xxxviij. Also ist der recht tag der geistlichen glückseligkeit gewesen in der groesten vnglückseligkeit des leibs. Vnd also sicht mich die sach an, das dieser morg wird bringen widerumb ein soli­ chen seligen tag dem geist […].“ (Stifel: Christförmige Lehre 292,5–17). 14  „Aber was soll ich sagen anderst, dann ich sych den anderen morgen des vffgangs der gnaden, Daniel. viij [Dan 8,26], der soll haben diese vnd andere gleichnuß mit dem ersten morgen, an dem die Apostelen als die buren verstunden, das die praechtigen Doctores nit verston woltent.“ (Stifel: Christförmige Lehre 301,20–24). 15 Zur Parallelisierung der reformatorischen Gegenwart mit der Apostelzeit vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre N4a-N4b. 16  „O mensch, was sagst du mir vil von alten breüchen, man halte es, wie man es gehalten hab vor fünff hundert jaren. Solt gott (sprichst du) die welt so lang haben lassen irren? Ach, du redest geleich, als ob dem Antchrist der weg nit hatt sollen bereitet werden durch das, als Petrus spricht ij. Petri j. [2 Petr 2,1?], das man neben den worten gottes würd jnfueren menschliche gesatz vnd gebott. Sych nun, ob das nit yetzund erfüllt sey, das durch solichs jnfyeren die wort gotts gantz vnd gar seind nidergetruckt worden durch menschlich gesatz, das man nennet gebott der kirchen. Dann also hatt sich der teüfel missgebraucht des nam­ mens der heyligen christlichen kirchen, als er sich auch offt mißbrucht des nammen gottes. O, die heylig christenlich kirch (die nichts anders ist dann gemeinschafft der heyligen auch hye vff dißer erden) die mag nichts vff setzen, das dem wort gottes sey nachteylig oder ver­ achtlich. Was ist doch verachtlichers dem euangelio, dann so man halt, es sey nit vollkum­ men vnd bedoerff zusaetz der Baebst oder Bischoeffen? Es ist wol wor, das die gnad des

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IV. Gegenwartsverständnis

habe es verstanden, den apostolischen Glauben und seinen antichristlichen Un­ glauben über lange Zeit so zu vermischen, dass die Gläubigen hier schließlich nicht mehr zu unterscheiden in der Lage waren.17 Der Umstand, dass sich die Christenheit in der Vergangenheit auf Betreiben des Teufels von der Schrift habe weg- und zu Menschenlehren hinführen lassen,18 weist die Gegenwart als Zeit des Antichrist aus, der den rechten Glauben unter seiner Regentschaft na­ hezu ausgetilgt habe: „Sych, lieber mensch, ob nit der wor endtlich Antchrist yetzt regnier, so yetzundt die gantz Christenheit gewichen ist von dem glau­ ben.“19 Der Anbruch des neuen Morgens ist für Stifel eng mit Person und Werk Luthers verknüpft, dessen Name bereits auf seine Lauterkeit zu verweisen schien 20 und dessen Wirkungsstätte Wittenberg als das neue Jerusalem (vgl. Off b 11,10 ff.) verklärt wird.21 Stifel sieht in Luther den apokalyptischen Engel aus Off b 14,6 f., der den neuen Morgen anbrechen lasse,22 indem er das ewige Evangelium auf Erden und die Nähe des Gerichts verkündet: In Luthers Wir­ ken verwirkliche sich der „[…] spruch Joannis im buch der heymlichen offenbarung am xiiij [Off b 14,6 f.]: Jch hab gesehen einen anderen engel flyegen durch die mitte des himels, vnd der hatt das ewig Euangelium, das solt er leeren, die do sitzen vff dem erdtrich vnd ober allen hey­ den vnd geschlechten vnd zungen vnd volck. Vnd er sprach mit großer stimm: Fürch­ tent den herren vnd gebent jm eer. Dann es kumpt die stund seines gerichts.“23 glaubens ettwas mit verdeckten worten ist offt von Christo fürgehalten worden, also das seine jünger nit verston mochten, als er selbs spricht Jo. xiiij [ Joh 14,25 f.]: Jch hab vil mit eüch zureden, aber ir moegen es yetzunt nit fassen. so aber kummen würt der troester, der heylig geist, der würt eüch alles solichs leeren vnd zuuerston geben. Die erfüllung dieser wort ist offenlich in den epistelen Pauli vnd der anderen apostelen gaentzlichen vollbrocht.“ (Stifel: Christförmige Lehre 335,23–336,17). 17  „Ein lange zeyt ist yetzund gelegen die Babylonisch verworenheit in der finsterniß des Antchristischen obents. also / das man gantz keinen vnderscheid gehaben mocht vnder Apo­ stolischem glauben / vnd Antchristischem vnglauben. vnder Apostolischer leer / vnd Ant­ christischer erdichtung. vnder Apostolischer besserung / vnd Antchristischer boeßerung […].“ (Stifel: Euangelium D3a). 18  Vgl. zum Verdunkelungsprozess der Wahrheit durch das Ersetzen von Gottes- durch Menschenwort auch Stifel: Christförmige Lehre I3b-I4a: „dann es ist ye angezoeigt wor­ den / wie gottes ding alles solt werden abgetriben / vnd der menschen ding yngesetzt wer­ den.“ 19  Stifel: Christförmige Lehre 335,21–23. 20  „Ja auch yetzt will ich nennen disen engel. Er heisßt Martinus Luther, der seiner leer nit minder ist milt, dann gewesen ist sanct Martin seiner kleyder. Vnnd sye ist auch also luter, das ich schetz, das er hab dißen nammen vns zu einem zeychen von gottes ordnung.“ (Stifel: Christförmige Lehre 286,9–13). 21 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre 290,5–26. 22 „Das lyecht des tags kumpt wider, es bricht dohaer mit macht. Der Engel [Luther] schwingt sein gfider, das yrdisch er veracht. Er leert die christen glider / vnd fuert sye von der nacht, er sey hoch oder nider, das selbig er nit acht.“ (Stifel: Christförmige Lehre 291,28– 292,4). 23  Stifel: Christförmige Lehre 283,7–13.

1. Fallbeispiele

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Die zentrale Mission Luthers als des apokalyptischen Engels ist die Ankündi­ gung des Jüngsten Tages. Stifel sieht im apokalyptischen Impetus geradezu die Quintessenz der gesamten Verkündigung Luthers; er selbst wolle dieser Mission zuarbeiten, indem er durch seine Flugschrift zur Achtsamkeit auf die Zeichen der Endzeit mahnt: „Hye würt geweyßsaget wie der Luther soll verkünden den menschen die naehe des jüngsten tags. Vnd vff dises so würt hye mein meynung sein / vmb warnung willen et­ was zuschreiben / von den zeichen vff die wir sollen acht nehmen / als vff die botten die vns vorsagen oder entbieten die naehe des iüngsten tags […].“24

Die biblischen Prophetien haben bei ihren Endzeitvisionen unzweifelhaft die reformatorische Gegenwart im Blick; dieser Umstand werde den reformatori­ schen Zeitgenossen zunehmend bewusst und verleihe der eigenen Gegenwart eine ganz besondere heilsgeschichtliche Qualität, vergleichbar nur mit der Zeit Christi, als viele Juden die Messiasverheißung erfüllt sahen.25 Alle endzeitli­ chen Prophezeiungen der Schrift wiesen auf die gegenwärtigen Geschehnisse: „Dann also finden wir in der geschrifft / das dise ding die yetzund gesche­ hen / sollen erfullt werden in den allerletsten zeyten der welt.“26 Daher die eindringliche Mahnung, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich zum Ge­ richt zu bereiten: „Darumb lieben menschen / verschlaffend nitt dißem morgen. […] Sehend an durch gott euwer zeychen / vfferhebend eüwere heübter / es na­ het sich eüwer erloesung.“27 Als besonders evidentes Zeichen der Endzeit benennt Stifel den aus seiner Sicht desolaten Zustand der zeitgenössischen Kirche.28 Schuld daran sei der Klerus, der aus pekuniären Interessen seinen eigentlichen Auftrag verraten ha­ be.29 In Erneuerung eines biblischen Feindbildes glichen die zeitgenössischen Geistlichen den Pharisäern zur Zeit Christi: Sie nützen nicht nur nicht zum Guten (das wäre noch tragbar, wiewohl es gegen die Weisung Christi wäre), sondern verursachten darüber hinaus großes Unheil, indem sie lügen und die Wahrheit verdrehen.30 Dies betrifft für Stifel vor allem die Suggestion des Papsttums, finanzielle Aufwendungen der Gläubigen für Gnadenzusagen der römischen Kirche könnten vor dem Teufel und der Hölle schützen. Der Scha­ den, der für die Gläubigen daraus entstehe, betreffe nicht eigentlich den Verlust 24 

Stifel: Christförmige Lehre H4b-I1a. wir mercken das eben vnser zyit berueret würt in der heyligen geschrifften. gleych als die juden merckten zu der zeyt Christi / das die zeyt ihres verheyssenen Messie nah was.“ (Stifel: Christförmige Lehre I1a). 26  Stifel: Euangelium F2b-F3a. 27  Stifel: Christförmige Lehre I1b. 28  „Ein gemeyn zeychen / ein zeychen aller zeychen des ends der welt ist der elend stand der kirchen / als wir jn vor augen sehen.“ (Stifel: Christförmige Lehre I3a). 29 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre K3a. Auch der enorme Machtzuwachs der Geist­ lichkeit gilt Stifel als ein Zeichen der Endzeit, vgl. Stifel: Christförmige Lehre M4b-N1a. 30 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre K4a. 25  „Dann

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IV. Gegenwartsverständnis

des Geldes, sondern den der Seligkeit, da der Teufel erreicht habe, dass die Gläubigen ihre Hoffnung anstatt auf Gott auf menschliche Kräfte setzten.31 So werden Gut und Böse in der gegenwärtigen Kirche unter dem Deckmantel der Heiligkeit total verkehrt.32 Die Unlauterkeit, welche nach dem Zeugnis der Schrift dem Ende vorausgehe, habe sich stetig gesteigert und nunmehr einen Kulminationspunkt erreicht – ein eindeutiges Zeichen der Endzeit.33 Entgegen seiner selbstgestellten Maxime, die Zeichen allein aus der Schrift erheben und deuten zu wollen,34 stützt sich Stifel in seiner Endzeiterwartung auch auf legendarisches Überlieferungsgut und volkstümliche Prophezeiungen, die er als erfüllt qualifiziert.35 Ob nun auf Grundlage der Schrift oder volks­ tümlicher Überlieferungen – Stifel glaubt, allerorten vom nahen Ende der Welt kündende Zeichen erkennen zu können. In diesem Zusammenhang greift Stifel auch die in den Jahren um 1524 hochaktuelle Sintflutdebatte auf; 36 ohne sich zu positionieren, ob die astrologischen Prophezeiungen statthaft seien oder nicht, ist Stifel doch die Beunruhigung, welche die Debatte unter seinen Zeit­ genossen hervorrief, hinreichendes Zeichen für das bevorstehende Gericht 37 – zumal es mit weiteren Zeichen zusammenstimme: So sei das für die Endzeit 31  „O ir teüer erkaufften schaefflin durch das kostbarlich blut Jesu Christi / wachend vff. es wer nachzulassen / wann das betriegen allein leib vnd gut schadet. Aber der selen schad ist darunder vermischt. Es ist nitt zuthun vmb das gelt dz du gibest vmb ein dispensation. es ist zu thun vmb das / das du wilt waenen menschlich erlaubnuß helff dich für die hell. Es ist zuthun vmb das / das du dein hoffnung setzest vff brieff vnd sigel eines sundigen men­ schens / so gott allein vnnd lauter on mittel will sein dein hoffnung.“ (Stifel: Christförmige Lehre K4a-K4b). 32 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre L1a. Zur Kritik an der Scheinheiligkeit der Ge­ genwart, in der Heiliges zu einen Deckmantel der Bosheit missbraucht werde, vgl. Stifel: Christförmige Lehre M3b. 33  „Aber also mussz es sein am end der welt / das die gantz erd mit sollicher vnlauterkeit erfüllet wird.[…] Es hat zu dem ersten gemach angefangen / auch nit so übel / als es ist yet­ zund zu vnser zeyt […].“ (Stifel: Christförmige Lehre M4b). 34 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre 285,12–14, wo er die Schrift als völlig hinreichen­ de Erkenntnisgrundlage bezeichnet. 35  „Mit solichem ist es gleich als mitt dem / das man spricht / es soll ein Keyser werden vnnd sein namm Friderich / vnder welchem das heylig grab soll gewunnen werden. Soll dises nit faelen / so ist es schon volbracht. Wer merckt aber das? Es ist ein furst in Sachsen / genant hertzog Friderich. der selbig ist Keiser worden vß woelung der kurfürsten / wiewol er es wieder hat übergeben / yedoch ist er gewesen das darzu er erwelt worden. Vnd vnder disem ist das heylig grab gewunnen worden / durch sein hilff vnd steür. Was ist dises grab an­ derst / dann die heylig gschrifft / in welcher die warheit (die gott ist) lange zeyt ist verborgen vnd begraben gelegen? Aber yetz ist sye vfferstanden / zu einem zeichen bald künfftiger vf­ ferstentnus alles fleischs. vnd das grab ist gewunnen […].“ (Stifel: Christförmige Lehre I3b). Zur Weissagung vom Weltkaiser der Endzeit und dessen Identifikation mit Friedrich dem Weisen in der Reformationszeit siehe Möhring: Weltkaiser 253. Auch Luther die Weis­ sagung vom Endkaiser in Friedrich dem Weisen erfüllt, vgl. WA 8; 561,36–562,18. 36  Zur Sintflutdebatte in den Flugschriften siehe Talkenberger: Sintflut 154–335. Vgl. auch unten 303 ff. 37  „Die sternenseher sagen vns von greülichen dingen / vnd wie des hymmels ordnung bald ston wird als sye gestanden ist zu den tagen Noe / vnd wie so ein groß wasser kummen

1. Fallbeispiele

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angekündigte Kriegsgeschrei angegangen; überall greife die Entzweiung unter den Menschen Platz, von den großen Gegnern des Reiches bis in die Familien­ bande des einzelnen Hauses.38 Durch die Summe der zahlreichen Zeichen schien die reformatorische Ge­ genwart eindeutig als Endzeit qualifiziert. Ein Zeichen jedoch tritt bei Stifel eindeutig in den Vordergrund: Das hervorragendste und evidenteste aller Zei­ chen sei die „eroeffnung“ des Antichrist.39 Die Offenbarung des Antichrist bildet das zentrale Element des Stifelschen Gegenwartsverständnisses, vom dem aus er die heilsgeschichtliche Verortung der Reformationsgeschehnisse vor­ nimmt. Zunächst stellt Stifel fest, dass der Antichrist längst geschichtlich wirksam sei. Der Niedergang des Glaubens habe sich schon zur Apostelzeit abgezeichnet, als der Antichrist sich bereits zu regen begann; seither habe er in langer Dauer sein Reich errichtet.40 Dieser Abfall vom Glauben in der Vergangenheit sei der in 2 Thess 2,3 angekündigte Vorlauf des Jüngsten Tages: Erst müsse der Antichrist mächtig geworden sein, bevor in der Endzeit die durch Scheinheiligkeit den Menschen unkenntlich gemachte Entartung des Glaubens offenbart werden werde.41 soll. Nun / dem sey wie jm woell / so ist doch hye dz wort Christi […]. Jr werdent erschreckt werdenn von dem hymmel.“ (Stifel: Christförmige Lehre N1a). 38 „Jtem / sehen wir nitt auch dises wort Christi. Audituri estis etc. Jr werden hoeren streit vnd krieg / vnd meynung der krieg. Der Türck ist wider die Christen. Vnder den Chris­ ten ist der Frantzoß wider den Keiser. Vnder dem Keiser ist der bundt wider den Hertzog von Würtemberg. Vnder seinem land ist ein hauß wider das ander. Einer will jn / der ander nit. Jn einem hauß, vnder einem tach ist kireg. Der vatter ist Lutherisch / der sun ist anderst. Der Bapst fueret seinen krieg wider den Luther. Der Münch ist wider den pfaffenn. Der ley ist wider sye beyde. Vnd wa einer zu dem andern kumpt, so ist ir red opiniones preliorum.“ (Stifel: Christförmige Lehre N1a). 39 Stifel widmet diesem Sachverhalt in der Flugschrift „Christförmige Lehre“ gar ein eigenes Kapitel, vgl. Stifel: Christförmige Lehre N2aff. 40  „Vnd als Paulus schreibt / so hat dißer angang vast frue angefangen / also das zu seinen zeyten hat angefangen die zukunfftig Antchristisch schalckheit sich zu ertzeygen. O was ist dann geschehen in so langer zeyt hernach.“ (Stifel: Euangelium C1a). 41  „Nun hye in disem teil woellen wir besehen von den zeychen des Antchrists / so doch sein rych sein soll in eroeffnung an den letsten tagen der welt. Dieweyl wir haben gesehen von den zeychen des ends der welt vnd wie wir warlichen gefuert seyen worden von dem rechten glauben der guetigkeit gottes so wyt / als wyt die Juden seind von dem glauben der menschwerdung Jesu Christi vnsers herren. Vnd das ist auch warlich die abweichung / von welcher Paulus sagt. ij. Thessa. ij.” (Stifel: Christförmige Lehre N2a). Der vom Antichrist gewirkte Niedergang des Glaubens müsse dem Ende vorausgehen: „[…] die heylig goettlich geschrifft / die ist vns leider entzogen worden / vnnd für sye yngesetzt menschlich ge­ schrifft / durch das wir auch abgefuert seyen worden von dem rechten glauben. […] Vnd diese abwychung setzt Paulus. ij. Thessal. ij. als ein besunderlich zeichen nach welchem wir warnemen sollen des suns der verderbtnüß vnd des ends der welt.“ (Stifel: Christförnige Lehre M1a). Mit dem Niedergang des Evangeliums unter der Regentschaft des Papst-Anti­ christ sei die biblische Vorhersage Off b 13,5 f. erfüllt, das Tier aus dem Meer werde erfolg­ reich wider Gott reden und sich auflehnen: „Daniel spricht […] das der Antchrist groeßlich

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IV. Gegenwartsverständnis

In der Folge entfaltet Stifel seinen kriterienhaften Antichristbegriff, der mit dem Luthers enge Berührungen aufweist. Den Ankündigungen der Schrift zu­ folge werde der Antichrist mit überirdischer Macht ausgestattet sein,42 so dass er die Gläubigen blenden und Wahrheit und Lüge vollständig verdrehen kön­ nen werde.43 Er werde geistliche und weltliche Gewalt in einer Hand zusam­ menführen und beide heillos vermischen, wie es das Papsttum in der Zwei­ schwerterlehre schon lange Zeit praktiziere.44 Zudem werde sich der Antichrist über Christus erheben – ein Umstand, der mit der Beanspruchung der alleini­ gen Schriftauslegungskompetenz durch das Papsttum ebenfalls bereits ge­ schichtlich verwirklicht sei.45 Vor allem aber werde der Antichrist innerhalb der christlichen Kirche auftreten und diese von ihrer hierarchischen Spitze her verderben.46 So sei auch der Einwand der Altgläubigen, das Papsttum sei schließlich von der heiligen Kirche autorisiert, eingedenk der Ankündigung Christi, der Antichrist werde an heiligem Ort wirken, hinfällig: „Also schryent wir etwan / die heylig kirch / die heylig kirch / die heylig kirch hat es gethon. […] Christus warnet vns auch wol vor dißem / so er sagt von dem Antchrist

reden werd wider den woren gott. Das selbig ist vns auch angezoeigt Apoca. xiij. [Off b 13,5 f.] von dem thier welichem verhengt worden ist zu reden grossze gotts lesterung […]. Dises sehen wir alles erfüllt.“ (Stifel: Christförmige Lehre Q2b). 42  „Heißt das nit erfullt die weyssagung Danielis / so er spricht von dem Antchrist / das er wird groß gemacht bitz zu der stercke des fursten des himels?“ (Stifel: Euangelium A4b). 43  „An welchem end [2 Thess 2,3 ff.] er auch sagt von dem Antchrist / wie er soll eroeff­ net werden / vnd sich erzeygen in dem tempel gottes (.i. in der kirchen gleich als ob er gott sey / in falschen zeychen / zu verderbung vnd verdammung deren / die nit annemen die liebe der warheit / durch welche sye moechten selig werden. Er spricht auch / das den selbigen menschen also wird zugesandt die würckung der jrrung / das sye glauben werdent der lugen.“ (Stifel: Christförmige Lehre N2a). 44 „Jst das nit das zweyhoernig thier Apo. xiij. [Off b 13,11] das seine zwey horn des zwyfaltigen gewalts erzeigt / gleich als ob es weren horn des lemlins / gleich als ob jm Chris­ tus solichen gewalt hett befolhen? Aber wann die menschen nit also weren uberredt worden von dem weltlichen vnd geistlichen schwert des Bapsts / wie solt dann erfullt worden sein diser spruch Danielis vom Antchrist […]. Sein betrug würt glucklich fürtringen vnder sei­ nem gewalt?“ (Stifel: Euangelium A4b). Die Beanspruchung auch der weltlichen Gewalt weist das Papsttum als antichristlich aus (vgl. auch Stifel: Euangelium B2a). 45  „Aber Paulus zeigt an. ij. Thessa. ij. [2 Thess2,4] das er nitt allein Christo gleych an­ gezeigt wird / sunder über jn erhebt. Vnnd wie das sey / findt man auch in dißem geistlichem recht beschrieben. Jn welichem er will / das die vßlegung der geschrifft on irrung allein sein sey. vnd also macht er vß der geschrifft was er will / dann er wendt sye wo hyn er will.“ (Stifel: Euangelium A4b-B1a; vgl. auch ebd. C3b). Vgl. auch: „Die gschrifft mussz jm vol­ gen / mussz jm vnder sein. Er hat sye macht vßzulegen. i. zu verderben / dz er nitt vergebens vnd vmb sunst genennt wird von Paulo ein sun der verderbnüß.“ (Stifel: Christförmige Lehre N3a). 46  „Heißt das nit der verlust den wir sehen sollen stehen (als Christus spricht / so er vns weyßt vff die weyssagung des antchrists von Daniele beschriben / vnd heyßt vns dz wirs versteen sollen) an der heyligen statt der kirchen Christi?“ (Stifel: Euangelium A4b).

1. Fallbeispiele

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Matthei. xxiiij. das er ston wird an dem heiligen ort / das ist / in der kirchen / an der statt eines haubts der kirchen.“47

Als Widersacher Christi wende sich der Antichrist gegen alles, was Gottes ist und mache ihm die Verehrung der Menschen streitig.48 Vor allem seien Teufel und Antichrist bestrebt, die Grundlage des Glaubens, die Schrift, zu zerstö­ ren.49 Der Antichrist habe das Evangelium entwertet und dessen rechtferti­ gungstheologische Heilszusagen vergessen lassen; so konnte er innerhalb der Kirche seine verderbliche (Werk-)Gerechtigkeit etablieren: „Also ist vmbges­ tossen worden die gerechtigkeit des Euangelischen gesatz / die gott gibt dem gelauben / vnnd dar für vffgericht die gerechtigkeit (im tempel gotts) des Anti­ christs.“50 Auf der Grundlage der Schrift und deren Kriterien für die Identifizierung des Antichrist in der Endzeit erweist sich für Stifel das Papsttum als eindeutig anti­ christlich, da es alle Weisungen Christi durch Leben und Lehre konterkariert habe. Im Rahmen des historischen Legitimationsgestus beklagt Stifel die Diver­ genz der Gegenwart zum Ideal der Apostelzeit. Die Geltung des apostolischen Vorbildes sei vom Papsttum unterminiert worden; wie von der Schrift über den Antichrist vorhergesagt, habe das Papsttum sich Unfehlbarkeit angemaßt und sich so über die Autorität der Schrift, der Apostel und Christus selbst erho­ ben.51 Diese gottwidrige Prätention werde der Antichrist durch die subtile Verkehrung von Gut und Böse den Gläubigen unkenntlich zu machen versu­ chen, weshalb Christus so eindringlich zur Wachsamkeit gemahnt habe. Auch Stifel vertritt den reformatorischen Wort-Gottes-Typ des historischen Legiti­ mationsgestus, wenn er die Apostolizität der Lehre als das zentrale Kontinui­ tätskriterium benennt. In der reformatorischen Gegenwart gehe es daher vor­ rangig um die Wiederherstellung der Reinheit der Lehre, welche die Erlangung der Seligkeit der Laien wieder möglich mache. Dabei hegt Stifel wenig Hoff­ nung auf die Bekehrung der höheren Geistlichkeit; nicht deren sündiges Werk 47 

Stifel: Christförmige Lehre I4b. also sehen wir was Paulus woell ij. Thess. ij. so er spricht von dem menschen der sünd von dem sun der verderbnüß dz er den dingen gotts widerstreb / vnd erhebt werd über alles dz geert würt / vnd genennt würt got.“ (Stifel: Christförmige Lehre N2b). 49 „Sych zu dem teüfelischen botten des antchrists / wie er vns die gantz geschrifft zu nicht mach.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed F3b). 50  Stifel: Christförmige Lehre I4b-K1a (Signatur J fehlt). Mehrfach führt Stifel aus, das kanonische Recht sei vom Teufel (vgl. z. B. Stifel: Euangelium A4a-A4b); als „das ­euangelium des Antchrists“ habe es das Evangelium Christi als Normqulle ersetzt, vgl. Stifel: Wider Murnars Lyed D1b. 51  „Aber man hatt yetz gewalt / das man der apostel ding nit achtet. Man darff niemants mer rechenschafft geben / sye künnend nit irren / auch wann sye wider die geschrifft han­ delen. Die gschrifft ist vnder jnen / sye mussz sein noch irem willen / vnd sye bedürffen nit sein noch der geschrifft willen. sye habend weiteren gewalt dann Christus.“ (Stifel: Christförmige Lehre K1a). 48  „Dann

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IV. Gegenwartsverständnis

zu bessern, sondern deren teuflische Lehre verachten zu lernen, müsse das Ziel der reformatorischen Erneuerung sein.52 Neben dem Wort-Gottes-Typ scheint bei Stifel aber immer wieder auch der imitatio-Typ des historischen Legitimationsgestus durch. Im Rahmen seines Antiklerikalismus verweist Stifel häufig auf die dekadente Lebensführung der zeitgenössischen Geistlichkeit. Dies gelte z. B. für Prachtentfaltung und Ruhm­ sucht des Papsttums, die sogar die der weltlichen Herrscher übertreffe – ein zutiefst illegitimer Umstand, wie ein Vergleich mit den Aposteln unschwer er­ kennen lasse.53 Symbol dieser übersteigerten Geltungssucht und der Unterdrü­ ckung der weltlichen Gewalt ist Stifel vor allem die päpstliche Tiara und der Fußkuss, der allen weltlichen Herrschern abverlangt werde.54 Die Dekadenz der zeitgenössischen Geistlichkeit stehe in krassem Kontrast zur Demut der Frühzeit,55 so dass Stifel gegen den päpstlichen Anspruch auf apostolische Suk­ zession die Gegensätzlichkeit des Papsttums zu Leben und Lehre der Apostel 52  „Das ist einig die sach darumb er vns gebot acht zuhaben vff die woelff in den schaff­ kleideren. das wir nit vnder gestalt guts / verwißen würden vff boeßes.Also hat er auch nitt vmb boeßer werck willen / sunder vmb boeßer leer willen von senen iüngeren haben wel­ len / das sye sich vor den menschen behueteten. Vmb dißer sach wegen straffet er auch so vast die fürsten der preister / der doch guetig war allen offnen sünderen. Ey halff es nitt an jnen das sye sich besserten / so halff es doch an anderen die durch das verliesszen ir falsche leer […]. Also mag ich auch hye sagen von dem Luther. Besszert er nit vil die Bischoeff vnd pre­ laten / in dem das er sein verluhen (von gott) pfundt brucht mit straffen / so bessert er aber vns / das wir lernen verachten ir satzung (mitt denen sye gottes satzung haben verachtet als vnuolkummen oder ringer) vnd lernen also widerumb erkennen vnseren gnedigen vnd gue­ tigen seligmacher Jesum Christum […].“ (Stifel: Christförmige Lehre K1a-K1b). 53 „Dann wir sehen vnd wissen / wie der pracht der glory des Babsts (mit welchem er vergeidet der armen schweiß vnd blut) so weit übertrifft allen pracht aller fürsten vff erden. Ist solichs vß ordenung gottes / so ist Christus worlich seinen apostelen vngetrew gewe­ ßen / das er jnen solichs hatt verbotten […].“ (Stifel: Christförmige Lehre Q4b). 54  „darumb laßt sye sich nit benuegen an einer eynfachen coron / sein coron mussz sein dreyfach. […] man mussz für sye niderfallen / vnd ir kussen die fuß / ob einer auch ein künig wer / oder ein keyser.“ (Stifel: Christförmige Lehre R1a). Der Fußkuss wird Stifel auch in weiteren Flugschrfiten zum Sinnbild der teuflischen Verkehrung des Herrschaftsverhält­ nisses von geistlicher und weltlicher Gewalt durch das Papsttum: Es sei „[…] wider alle bil­ lichkeit / das der Bapst Keiserliche maiestat jm also vnderwürfft dz er jm küssen mussz die fueß. Freylich wee armer Christenheit / nach dem es darzu kommen ist das vnderthaene also brachtet vnd herrschafft niderleit. Es ist kommen vff das hoechst. Die niderst vnderkeit nach dem euangelio solt sein in dem Bapst […]. Die selbige vnderkeit hatt sich nun erhebt über die hoechst oberkeit.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed B1a). Vgl. zum Tragen der Tiara als Aus­ druck von Reichtum und Herrschsucht auch Stifel: Wider Murnars Lyed A4a: „Er [Mur­ ner] mussz freylich dem euangelio Joannis drumb feind sein / das es nichts sagt von der erstifftung der Baepst / als sye yetz leben / in üppigkeit vnd ergernüß der gantzen welt. Dann das euangelium Joannis vnnd der anderen Euangelisten leerent nichts / dann glauben / lie­ be / willige armut / demuetigkeit / vnd dienstbarkeit. Vnnd leeret wie die weyder seiner scha­ efflin soellen weder silber noch gold besitzen / noch vil weniger kron tragen.“ 55  „Vnd als vorzeyten die Bischoeff waren die demuetigsten / vnd im exempel aller tu­ genden die fürnemesten / also seind sye hernach worden die aller hochfertigsten / vnd im exempel der laster die aller fürnemesten. Dißes seind die voegt vnnd schultheissen des Ant­ christs.“ (Stifel: Euangelium C3a).

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feststellt.56 Weiterer Erweis des antichristlichen Charakters des Papsttums ist Stifel dessen Gewaltgebrauch, welcher die Abweichung vom Brauch der Apostel besonders deutlich werden lasse.57 Lehre und Leben bestätigten sich wechselseitig – dieser Sachverhalt gelte so­ wohl für die Blütezeit des frühen Christentums als auch für den verderbten Zustand der gegenwärtigen Kirche.58 In Kombination von Wort-Gottes- und imitatio-Typ des historischen Legitimationsgestus nimmt Stifel immer wieder ausführliche Beweisführungen zur Papst-Antichrist-Identität vor59 und kenn­ zeichnet das Papsttum als empirisch nachweisbar größte Abweichung von der Apostelzeit.60 Doch sei dieser Sachverhalt schwer zu durchschauen, da das Papsttum den teuflischen Charakter seiner Lehren mit betörendem Glanz verbräme: „Aber das trinckgeschürz dieser Babylonischen huren ist güldin. als wir haben Hiere. lj. [ Jer 51,7] vnd Apoc. xviij [Off b 18,3]. Das ist. Es ist scheinbar vor der welt.“61 Wie aus den diversen Warnungen der Schrift zu schließen sei, ist die Scheinhei­ ligkeit das konstitutive Merkmal des Antichrist: „Was bdoerfft es viler war­ 56 Vgl.

Stifel: Euangelium D4a-D4b. preist „[…] die apostel / die do gewesen seind eines heyligen lebens. dann sye haben all ire hoffnung gesetzt allein in gott. darumb haben sye mit den feinden des glaubens gestritten weder mitt schwert / noch mit feür / sunder mit andechtigem gebet / vnd mit de­ muetigem wandel. etc. Soliche waffen haben yetz verlassen die baepst / vnd für das gebett brauchen sye das schwert vnd das feür.“ (Stifel: Christförmige Lehre Q3a-Q3b). 58  Vgl. z. B. die Auslegung von Mt 25,14–30: Wie der Ertrag der drei Knechte stetig ab­ nahm, so auch die Reinheit von Leben und Lehre der Kirche: „Dieweil aber die volkommen­ heit der kirchen ist gewesen klaerer in den Apostelen vnd martyrern dann in den beichtigern hernach / auch die leer der Apostelen gewesen ist mer luter / dann die leer der nachkommen­ den / sye seyen wer sye woellen / so hatt man auch leichtlicher / klaerer vnnd baelder oder zeytlicher ersehen den vnderscheid des ersten knechts gegen dem boesen faulen knecht.“ (Stifel: Euangelium E4a). So offenbart der Vergleich mit der Apostelzeit die Verderbtheit der Gegenwart zu Beginn der Reformation, vgl. Stifels Auseinandersetzung mit Murner: Murner hatte den Beginn des Niedergangs des Glaubens mit dem Beginn der Reformation angesetzt: „Der glauben ist vffgangen / Jn fünffzehundert jar / […] Der yetzt in dritthalb ja­ ren / zu fallen ist gerüst […].“ (Stifel: Wider Murnars Lyed E3a). Dagegen stellt Stifel eine große Kluft zwischen der Apostelzeit und der vorreformatorischen Zeit fest: Murner solle betrachten, „[…] wie vngleich die Christenheit gewesen sey zu der zeyt der martyrer / gegen vnseren zeyten / vor disen dritthalb jaren […]. Sych nit meer an / dann den standt der Prela­ ten / die sich nennen der Aposteln statthalter / vnd betracht darneben den standt der Apos­ teln / ob sye auch also gebranget haben. So man nun sycht diese vngleiche / die sich nit lasszt zesamen rymen / so mussz man ye gedencken / die Aposteln habent jm nit recht gethon / oder vnsere Prelaten thueend jm nitt recht.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed E3a). 59  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre P1bff. 60  „Warlich / wir seind gantz abgefallen von dem standt vnd volkommenheit der Apos­ teln. Auch halten wir vns nit meer nach den worten Christi / besunder des Bapsts / welcher am aller wytsten ist vom leben Christi / das jm ye Christus nit hat befolhen.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed E3b). Vgl. auch Stifel: Euangelium, wo er feststellt, „[…] das vnsere Bi­ schoeff so gantz in allen dingen vngleich seind der leer vnd dem leben der Apostelen / mitt denen sye sich haben so ein lange zeyt beschoenet […].“ (Stifel: Euangelium E4a-E4b). 61  Stifel: Christförmige Lehre M1a. 57 Stifel

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IV. Gegenwartsverständnis

nung / wann des Antchrists mut vnnd übel nit beschoenet solt sein mit so schoe­ nem schein vnd glast falscher heyligkeit.“62 Die Scheinheiligkeit sei in der Ge­ genwart besonders groß und richte hier folglich besonders großen Schaden an.63 Die Bigotterie des Antichrist sei dessen unheilvollste Waffe und stelle eine neue Qualität der teuflischen Bedrohung dar: „Was würt doch groesszers vom Antchrist gehalten / dann das er soll den glauben vßdilcken mit gleisnery. i. mit falschen schein der heylikeit vnd gerechtigkeit?“64 In diesem Zusammenhang referiert auch Stifel das altgläubige Traditionsar­ gument, demzufolge die Kirche nicht so lange so fatal geirrt haben könne, da andernfalls unzählige Gläubige um ihr Seelenheil gebracht worden wären, was Gott unmöglich zugelassen haben würde. Dagegen hält er fest: Die Macht des Antichrist sei ungleich größer, als die Altgläubigen wahrhaben wollten; so habe der Antichrist tatsächlich so lange so viele Seelen verdorben, wie das altgläubige Traditionsargument suggeriere, dass es unmöglich sei: „Der Luther kan nit von gott sein […]. Weren doch alle menschen so ein lange zeyt verloren worden. […] Wir mugen aber wol gedencken / das vmb einer kleinen verderb­ niß willen der Antchrist nitt genennet würt von Christo / der vnlust der verderbniß. vnd von Paulo ein sun der verderniß [2 Thess 2,3]. O wee der vnzalberlichen zal der verderbten seelen.“65

Durch seine Scheinheiligkeit und die Macht der Irrung, die ihm vom Teufel verliehen sei,66 könne der Antichrist im Verborgenen wirken – was den Scha­ den für die Christenheit ungleich größer werden lasse, als es durch die klassi­ schen Glaubensfeinde, Juden, Heiden und Türken, jemals erreicht worden sei oder werden könne.67 Das altgläubige Traditionsargument diene in diesem Zu­ sammenhang lediglich der Verschleierung der antichristlichen Bedrohung; so werde der Gedanke der Treue Gottes, aufgrund derer es undenkbar sei, dass der Geist die Kirche verlassen haben sollte, gegen den Zorn Gottes, der dem Anti­ christ Raum gewährt habe, die Gläubigen zu strafen, ausgespielt. Schließlich sei die enorme Machtentfaltung des Antichrist in der Schrift vielerorts verkündet und insofern Teil seines Heilsplans.68 Der Antichrist als Widersacher Gottes sei allein aus dessen unverfügbarem Ratschluss mächtig und stark – doch nur so lange, bis Gott ihm seine vorüber­ 62 

Stifel: Christförmige Lehre O4b-P1a. das boeß vnder einem guten schein / thut worlichen grosszen schaden zu vnse­ ren zeyten.“ (Stifel: Christförmige Lehre R1b). 64  Stifel: Christförmige Lehre T2b. 65  Stifel: Euangelium B1b. 66 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre N2a. 67  „Vnd also hast du [der Papst-Antichrist] gewuestet in meiner kirchen / das der gleichen alle Türcken / heyden vnd juden hetten thun mügen vff keinen weg.“ (Stifel: Euangelium H3a). Vgl. auch Stifel: Euangelium B1b: „Es ist nit muglich dem Türcken zu thun solichen schaden vnder den christen / als das Bapstthum gethon hat.“ 68 Vgl. Stifel: Christförnige Lehre M1a; N2a. 63  „Aber

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gehend gewährte Duldung zur Strafe der Menschen wieder entziehe: „Er [der Antichrist] würt geleitet biß das der zorn vergat.“69 Dies sei in der reformato­ rischen Gegenwart unzweifelhaft der Fall. Wie einst den Heiden, so werde jetzt den reformatorischen Zeitgenossen der Glaube neu eröffnet; Gottes Zorn ist seiner erneuten Zuwendung zu den Menschen gewichen (fernab aller materiel­ len Verfügbarkeit seitens des Menschen).70 Damit ist die Gegenwart als Zeit der umfassenden neuergehenden Gnade qualifiziert, in welcher die Machtentfal­ tung des Antichrist durch dessen Offenbarung ein Ende gesetzt sei. Den Antichrist angezeigt zu haben, sei das hervorragendste Verdienst Luthers: Er sei von Gott „[…] vfferweckt zu entdecken vnd eroeffnen den heymlichen subtilen betrug des Antichrists vnd seiner botten vnd diener in der jnbrünstig­ keit des geists Helie.“71 So wird Luther als neuer Elia zum direkten Vorläufer Christi stilisiert, der gleich Johannes dem Täufer die letzte Gerichtspredigt vor dem (Wieder-)Erscheinen des Herren halte.72 In Auslegung von Mal 3,23 und Jes 10,15 ff. wird Luther als angekündigter Gerichtsprophet gedeutet, der das Feuer des Himmels, welches den Antichrist verzehren werde, entzündet habe. Die Feuersbrunst sei nicht mehr aufzuhalten, die Vernichtung der Gottlosen sei eingeleitet. Unhintergehbar sei das Gericht beschlossen; hier gebe es keine Hoffnung auf Besserung mehr, sondern allein das Bereitmachen für die endzeit­ liche Trennung der Auserwählten von den Gottlosen.73 69 Stifel:

Christförmige Lehre O4b. nit die christen als wol zu der lieb Christi gezogen werden vff den hütigen tag / wo jnen die gnad des glaubens recht eroeffnet würd / als vor zeyten die heyden? Hilff gott / dein zorn ist ein wenig vergangen / du last dich widerumb sehen als ein genediger ge­ ber der gnad / on kauffen.“ (Stifel: Christförmige Lehre P1b). 71  Stifel: Christförmige Lehre 282,9–12. 72  „Also ist auch der Helias der ersten zukunfft .i. Joannes der täuffer kummen / als ein brennende vnd leüchtende lucern / als Christus spricht Joan. v. Vnd als er gefragt ward Math. xvi. von dem Helia ob er kummen solt / sprach er. Helias ist schon kummen / vnd sye habent jn nit erkennt. Wie meynest du anderst / das es zugon wird mit dem Helia der anderen zu­ kunfft / der alle zerbrochne warheit des euangeliums soll widerbringen […]. Man wartet seiner zukunfft vß dem yrdischen paradeiß / vnd das selbig macht / das man den gesit Helie nit erkennet in der ynbrünstigkeit wider die priester Baal. iij. Regum. xviij [1 Kön 18,38 f.] […]. Wilt du wissen was dises feür sey mitt welchem die glory des Antchrists verbrennet württ / mitt welchem vnser Helias auch seine verspotter verbrennet mitt feür vom hym­ mel / so liß das xxiij. Capitel Hiere.[ Jer 23,29] da stat also geschriben. Meine wort seind gleich als ein feür.“ (Stifel: Christförmige Lehre N4a). 73 „Jr haben also malach. iiij. [Mal 3,23] Nement war / ich würd eüch senden Heliam einen propheten / vor dem grossen vnnd erschrockenlichen tag des herren. Nun haben wir auch Esa. x. [ Jes 10,15–17] einen text / der gantz vnd gar gat vff den Antchrist (als ich haer­ nach melden würd) Nun / vnder andern worten spricht also Esaias von dem Antchrist / wie das got der herr senden wird armut in seinen feyßten / vnd darunder würt brennen sein eer sein glory / angezündt als ein brunst des feürs / vnd das liecht Jsrahel würt sein im feür / vnd sein heylig im flammen / vnnd sein dorn vnd hag würt verzert oder verbrennet vff einen tag. Dises alles haben wir in einer kürtze gesehen vnd erfaren in dein wunderbarlichen werck gotts / das er würckt durch Lutherum. […] Dieser tag sollicher brünst hat eüch [die ‚Papisten‘ und ‚Sophisten‘] angezündet / nach der weissagung Malachie / also das auch kein hoffnung 70  „Sollten

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IV. Gegenwartsverständnis

Ohne Luthers Auftreten wäre die Bigotterie des Antichrist nicht zu durch­ schauen gewesen; 74 doch indem er auf die Schrift verweise und diese als allei­ nige Grundlage für die Identifizierung des Antichrist wieder zur Geltung ge­ bracht habe, könne der scheinheilige Antichrist von Christus unterschieden und als dessen Widersacher erkannt werden: „Es ist ye not / das wir den Antchrist nitt annemen für Christo. Darumb ist es auch not dz wir jn leernen erkennen. Wa muessen wir jn leernen erkennen anderst / dann in der gschrifft […].“75 Der Antichrist sei nicht äußerlich erkennbar, allein die Schrift zeige ihn an: „Lieber meynestu der Antchrist wird den teufel sichtbarlich tragen vff der ach­ sel? oder was zeichen wilt du haben? Ey die geschrifft ist das wor zeichen daruff vns Christus wyßet […].“76 Die Bibel ist Stifel die einzige Quelle, das wahre Wesen des Antichrist zu eröffnen und die Gläubigen seines Blendwerks gewahr werden zu lassen.77 Die erst in der reformatorischen Gegenwart möglich gewordene rechte Er­ kenntnis des Antichrist bezeichnet geradezu den Kernbereich der Stifelschen Theologie: Nur wer den Widersacher erkennt, erkennt Christus in rechter Wei­ se: „Dann als not dir ist dz du Christum erkennest / das du jn moegest annemen. Also not ist es dir das du den Antchrist nit annemest vnnd anbettest an der statt Christi vnsers herren.“78 Das geschichtliche Auftreten des Antichrist liegt nach Stifel bereits in der Vergangenheit, alle diesbezüglichen Ankündigungen der Schrift seien erfüllt – ein Umstand, den die Altgläubigen leugneten, wenn sie den Glauben noch in­ takt und den angekündigten Abfall noch nicht geschichtlich verwirklicht sehen: „Wir moegen achten / das yetz nahe sey dz end der welt / so wissen wir das die welt sol verfuert werden von dem glauben / durch die Antchristisch verfuerung ee er eroeffnet gesein mag das ir wider erquickt moeget werden.“ (Stifel: Christförmige Lehre N3aN3b). 74 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre N4b. 75  Stifel: Christförmige Lehre O4b. Vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre I3aI3b: Der Antichrist sei eröffnet, „[…] vnd doch das niemands kann mercken / dann der sein augen offen hat in der geschrifft.“ 76  Stifel: Christförmige Lehre P1b. 77  „Was ist heyligers dann das wort / durch welches dem teüfel die selen genummen wer­ den vß seinem rachen / vnd die woelff gemeldet werden / vnd eroeffnet den schaefflin Chris­ ti / das sye sich vor jnen hueten vnd bewaren moegen.“ (Stifel: Christförmige Lehre I1b). 78  Stifel: Christförmige Lehre P1b. Wie das geschichtliche Auftreten Christi im Al­ ten Testament, so sei im Neuen das des Antichrist angekündigt; so heilsnotwendig es für die Juden war, Christus anzunehmen, so heilsnotwendig sei es die reformatorischen Zeitgenos­ sen, den Antichrist abzulehnen: „Dann als klar Christus würt angezeygt in den sprüchen der alten propheten / also klar würt auch angezeygt der Antchrist in den sprüchen der Apostelen. […] Vnd als not den juden gewest ist / Christum anzunemen / als not ist vns das wir nit anne­ men den Antchrist.“ Doch wie die Juden den Heilsbringer verkannten und ihn zukünftig erwarten, so verkennen die altgläubigen Zeitgenossen den Verderber und erwarteten ihn zukünftig: „Vnd also wartent vnser phariseer ihres Antchrists / als die juden ihres Messie (bitz das vns all überfallen würt der jungstag.“ (Stifel: Euangelium B3b).

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würt. Nun sprechen wir / dises sey alles geschehen. So sprechen die Papisten / es sey noch nit geschehen / der glaub stand noch vest vnd starck.“79

Wie die Juden die Ankunft des Messias verkannten, so die Altgläubigen die des Antichrist; Juden wie Altgläubige verpassten damit heilsgeschichtlich entschei­ dende Wendezeiten.80 Die Offenbarung des Antichrist bezeichne das Ende der Zeit des Gotteszorns; mit der reformatorischen Gegenwart sei somit eine neue Heilszeit angebrochen, in der Gott die aus Zorn verhängte Zeit der verborgenen Antichristregentschaft beende und sich den Menschen erneut zuwende, indem er den Antichrist ent­ tarnt und die Gläubigen von ihm erlöst: „Dz würt weren so lang bitz der zorn gottes volbracht würt. i. bitz er würt vff hoeren. Das würt sein (vnd ist yetzund) / so dißer mensch solicher sünd vnd verderbnuß [der Antichrist] würt eroeffnet werden / vnnd mitt dem schwert des munds Jesu Christi dar­ nider geschlagen [vgl. 2 Thess 2,8] / das ist / mitt dem wort gottes eroeffnet. […] An dißsem tag würt genummen sein bürde von deiner achsel / vnd sein joch von deinem hals.“81

Die unmittelbare Endzeit habe nunmehr begonnen und ziehe das Gericht in Kürze nach sich; der Ablauf des apokalyptischen Szenarios sei unzweifelhaft in Gang gesetzt: „Jch besorg der welt vndergang bald künfftig. Der antchrist ist eroeffnet mit seinen propheten vnd botten.“82 – alle Zeichen der Endzeit wiesen auf die Gegenwart.83 Doch so gewiss Stifel die Nähe des Jüngsten Tages ist – die Möglichkeit einer genauen Berechnung des Weltendes wird in den frühen 1520er Jahren von ihm noch negiert: „doch weyssz kein mensch von der bes­ tympten zeyt. das ist / Niemants weyßt wie vil tag oder stund noch darzu seyen. wiewol wir wissen das die zeyt nah ist.“84 Die Mehrheit der Zeitgenossen aber warte noch auf den Antichrist wie auf den neuen Elia, der ihn offenbaren soll – doch weise die Schrift eindeutig aus, dass beide bereits in der Welt seien und der große Kampf begonnen habe.85 In 79 

Stifel: Christförmige Lehre N2a-N2b. Stifel: Christförmige Lehre N2b. 81  Stifel: Christförmige Lehre Q2b. 82  Stifel: Wider Murnars Lyed F2b. 83  „Der geist sagt oeffentlich / das in den lesten zeyten etlich weichen werden von dem glauben / vnd ir vffmerckung haben vff die geyst der irrung / vnd vff teüfelisch leer der gleiß­ nery […]. weliche auch verbieten werden die Ee / vnnd die speyß […]. Sag mir / wo faelt doch eins haerlins groß aller dieser wort / dz sye nit erfüllt seid?“ (Stifel: Christförmige Lehre P4b). 84  Stifel: Euangelium F3a. Vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre I1a: „[…] wiewol die bestimpt zeit des iüngsten tags vnser keiner mag gewissen.“ Später sollte sich Stifels Ein­ schätzung ändern, vgl. oben 152. 85  „Kurtzlich / alles das in der Bibel gemeldet würt zu anzoeigung der welt end / das er­ zoeigt sich worlich / ob wir solichs nitt mercken wellen. Wir warten vff den Antchrist […]. Wir warten des Helie vß dem irdischen paradeiß / der do soll predigen wider den Anti­ christ / vnd jn eroffnen. O herr erleücht vnser blinde augen / das wir sehen / wie alles solichs 80 Vgl.

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IV. Gegenwartsverständnis

der Ignoranz, welche die Altgläubigen den Zeichen der Endzeit entgegenbrach­ ten und in der Relativierung der Zeichen als gewöhnliche Phänomene, die keinerlei heilsgeschichtliche Bedeutsamkeit aufwiesen, bestätige sich die An­ kündigung Perti, in der Endzeit würden die meisten den Ernst ihrer Lage nicht erkennen und das Weltende weit von sich weisen.86 Die unverständigen Chris­ ten erkennt Stifel vor allem unter der Geistlichkeit; so bekehrten sich vor allem die Laien. Vorbei am teuflisch korrumpierten Stand des Klerus greife nunmehr der Gemeine Mann nach dem Evangelium – die Wiederentdeckung des Evan­ geliums vollziehe sich als Laienbewegung.87 Doch sollte sich die geradezu euphorische Sichtweise der Laienbewegung zu Beginn der Reformationszeit vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Bau­ ernkriege bald differenzierter gestalten. Diese Differenzierungen machen sich vor allem bemerkbar, wenn Stifel die ursprüngliche Fassung der Flugschrift „Christförmige Lehre“ von 1522 in der Bearbeitung von 1525 um die Parabel vom Bau der Arche erweitert: Die lutherische Bewegung war inzwischen zur Massenbewegung angewachsen; doch sind dies für Stifel nur scheinbare Erfol­ ge, da die Lebensführung in den Gemeinden sich kaum geändert habe und hinzugewonnene geistliche Ernsthaftigkeit kaum erkennbar sei. Zwar schlossen sich immer mehr Zeitgenossen dem reformatorischen Auf bruch an, deuteten ihn jedoch nicht allein als geistliche, sondern auch als leibliche Freiheitsbewe­ gung. Gegen libertinistische und anarchistische Tendenzen betont Stifel den wesenhaft geistlichen Charakter einer recht verstandenen reformatorischen Lehre: Wer von Luthers Lehre in leiblicher und zeitlicher Hinsicht profitieren wolle, erhalte nicht den erstrebten ewigen Lohn für seine Mitarbeit am Refor­ mationswerk. Vielmehr glichen die vornehmlich an weltlicher Freiheit Interes­ sierten den Tagelöhnern, welche den Bau der Arche verwirklichen halfen, aber erfüllt würt / vnd doch das niemands kann mercken / dann der sein augen offen hat in der geschrifft.“ (Stifel: Christförmige Lehre I3a-I3b). In der Gegenwart erfüllten sich die Elia-Wiessagungen, auch wenn die Altgläubigen dies leugneten: „Man wartet des Helie. Gott geb allen menschen zu verston / wie jn got vns geschickt hab / den wir nit woellen ken­ nen. Dann warlich / alle ding in Helia verzeychnet mit figuren / erfüllen sich zu vnsern zey­ ten.“ (Stifel: wider Murnars Lyed F2b). 86  „Aber die schlaffenden die gond also hyn / vnnd verachtend sye / noch laut des spruchs Perti. ij. Perti. iij [2 Petr 3,3 f.]. Es werdent kummen in den letsten tagen / die verspotter in der betrügnuß […]. die selbigen werdent sprechen (so sye der zeychen ermant werden. […]) Wo ist sein verheysszung oder zukunfft? war bey soll ichs mercken? soliche zeychen seind alweg geweßen / die krieg hatt alweg die welt gebraucht. etc. Aber also soll es zugon / das alle zeychen des iüngsten tags / von den vnglaeubigen falschen christen nit sollen verstanden wer­ den / so sye auch vor iren augen sich erfüllen […].“(Stifel: Christförmige Lehre I1a-I1b). Vgl. auch: Stifel: Euangelium F3a. 87  Gegen Murner gerichtet hält Stifel fest: „Aber der ley vacht yetzund an zu verston die warheit / vnd lasszt eüch in eüwer blindheit schryen vnd sagen was ir wollent.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed E4b). Vgl. auch Stifel: Euangelium D3b: „Syh zu / soliches erkennet yetzund der vngelert ackerman hynder dem pflug.“ Vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre 301,20–24.

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letztlich nicht errettet wurden. Sie leisteten zwar einen entscheidenden Beitrag, gleichwohl zählten sie nicht zu den Auserwählten, die in naher Zukunft des ewigen Lohns teilhafftig geworden sein werden: „Das zu gleicher weiß als Noe nit gantz allein mit seinen sünen hatt gebauwen die arch / besunder es ist zeachten / das er hab gehabt mitarbeiter / die vmb ir arbeit genom­ men haben zeytlichen lon / welche doch nit seind behalten worden durch die arch. Also seind auch vil die dem Luther recht geben vnd doch ir leben nichts anzeygt / dann als ob vns gott durch den Luther brieffet zu einer weltlichen freyheit vnd fleischlicher vnrei­ nigkeit / vnd nit zu geistlicher freyheit / vnd erloesung des gefangnen gewissens […].“88

Wie die Tagelöhner im Weinberg (Mt 20,1 ff.) arbeiteten sie um zeitlichen Lohn – doch werde ihnen dies vor Gott nicht angerechnet werden zur Eröffnung der ewigen Erlösung: „Welcher nun sich freüwet des Luthers leer von wegen weltlicher erloesung / vnd jm recht gibt vnd den andern verkündet des Luthers leer der selbig ist ein tagloener vnd ein knecht. Darumb würt er mit seinem lon von gott gewisen / nach der gleichnüß des her­ ren Mathei. xx. [Mt 20,1 ff.] von den arbeitern des weingartens / welch allein arbeiteten vmb ein lon. […] Jr lon war nit das vnendtlich gut […]. Es war ein taeglicher pfenning. i. es war nit der ewig lon. […] Nun / also wurdent sye von dem herren abgewisen […] als dann auch Christus sprechen würt an dem jüngsten tag (so sye fürhalten werdent wie sye gearbeitet haben zu nutz den andern).“89

Da diese Ergänzungen erst 1525 vorgenommen wurden, werden sie wohl als Reflex auf die jüngsten Erfahrungen des Bauernkrieges verstanden werden müssen. Stifel spielt mit dem Missbrauch der lutherischen Lehre zugunsten leib­ lichen Freiheitsstrebens auf die Masse der Aufständischen an, denen er zwar eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Reformationsprozesses zuer­ kennt, dennoch aber den Auserwähltenstatus abspricht. So lehnt Stifel die ent­ standene Unruhe um leiblicher oder zeitlicher Motive willen ab – geistlicher Aufruhr dagegen sei unvermeidbar, wenn sich das Evangelium Bahn bricht. Gegen den Aufruhr-Vorwurf der Altgläubigen, demzufolge man um des Friedens willen Lehrstreitigkeiten nicht öffentlich austragen solle und die einzig erkennbare Frucht der reformatorischen Lehre der Unfriede sei,90 hält Stifel fest: Auch Christus und die Apostel haben durch die Verkündigung des Evan­ geliums Unfrieden in die damalige Gesellschaft getragen; in der reformatori­ schen Gegenwart, in der das Evangelium unterdrückt werde, müsse diese Ver­ 88 

Stifel: Christförmige Lehre M2b. Stifel: Christförmige Lehre M2b-M3a. 90 „Hye ist der teüfel ein mal frumm worden  / vnd hasset vast ubel die vffrur des Luthers / vnd das er dem heyligen Bapst vnd den heyligen Bischoeffen so ubel redt. vnd be­ dunckt jn / man solt ee die menschen vmb frids willen verdampt werden lassen. Also hat er auch seine botten die den friden verkünden / vnd sprechen […]. Der Luther kann nit von gott sein / der so vil vnfrides machet. Man solt von solichen dingen nit offentlich reden / vmb frides willen. Es machet auch vil vnfrides dem gewissen. Weren doch alle menschen so ein lange zeyt verloren worden.“ (Stifel: Euangelium B1a-B1b). 89 

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IV. Gegenwartsverständnis

kündigung erneuert werden, andernfalls arbeite man dem Antichrist zu. Die Öffentlichkeit der Verkündigung sei dabei sogar das Ziel – und ein weit höheres Gut als weltlicher Friede: „O lieber mensch / was ist der frid den diße menschen suchen? […] Wann die apostel nit vffruer hetten woellen machen mit dem wort gottes / ann / oder wo / wie oder was meynstu das sye geprediget hetten? Das wort gottes ist sampt dem waren glauben vmb­ geworffen vnd hyngenommen. Wie mussz man jm anders helfen / dann mit offentli­ chem predigen? Oder sol man es ligen lassen? Sol man die woelff reissen lassen? Sol man Christum ubergeben / oder den Antchrist?“91

Dem Vorwurf der Zerstörung der vermeintlich intakten Heilsgemeinschaft be­ gegnet Stifel gleich an mehreren Stellen mit dem Hinweis auf das gleichartige Auftreten Christi und der Apostel; die Unruhe belege somit nicht den Nieder­ gang, sondern den erneuten Siegeszug des Evangeliums.92 Das Evangelium ma­ che in der Welt notwendig Aufruhr durch das Schwert des Wortes Gottes.93 Das Evangelium ziehe somit zwangsläufig Meinungsstreit nach sich und münde in ein radikales Entweder-Oder: Wo es auf Recht oder Unrecht gehe, seien die Positionen unvereinbar: „Also auch in disem zwitracht woellen recht haben die Papisten / so woellen auch wir recht haben. Welcher würt vns nun vß dem krieg scheyden? Es mussz ye ein teil recht haben / vnd der ander vnrecht in so widerwertigem stuck.“94

Während die Vorfahren zur Zeit der Teufelsherrschaft noch aus Unwissenheit verblendet waren,95 sei in der reformatorischen Gegenwart jeder Zeitgenosse aufgerufen, sich im Meinungsstreit zu positionieren und zur Wahrheit zu be­ kennen. Die Offenbarung des Antichrist dürfe nicht ohne persönliche Konse­ 91 

Stifel: Euangelium B1b. z. B. die Auseinandersetzung mit Murner: Gegen das Argument Murners, die Zwietracht, die als Folge der reformatorischen Botschaft innerhalb des Klerus Platz gegriffen habe, belege den Niedergang des christlichen Glaubens, hält Stifel fest, dass auch zur Zeit Jesu die Geistlichkeit gespalten war – allerdings bekehrte sich damals wie gegenwärtig ledig­ lich eine Minderheit zum wahren Glauben: „Also war es auch zu der zeyt des ersten morgens oder vffgangs Christenlichs glaubens. Dann die priester vnd die Phariseyer wurden auch also gezweyet / das vß jnen etlich annamen die eroffnete warheit des euangeliums. Wiewol (als yetz) der minder teil.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed C1b). Vgl. Zur Rechtfertigung der Unruhe auch Stifel: Wider Murnars Lyed F2a: „Aber du solt wissen das Christus vnd Paulus der gleichen vffrur vil habent gemacht. Als dann von jnen klagten die Juden / gleich als du auch von vns thust.“ 93  „Es ist die art des wort gotts das es die welt erzürnet vnd vffrur machet. Jch bin nit kummen (sprach Christus) frid zumachen / sunder zu senden das schwert.“ (Stifel: Christförmige Lehre S1b). Vgl. auch Stifel: Wider Murnars Lyed C3b: „[…] das euangelisch schwert des wort gotts / welchs Christus hat gesandt vff erd vneinigkeit zemachen.“ 94  Stifel: Christförmige Lehre N2a. Zur Orientierung innerhalb dieses fundamenta­ len Meinungsstreits dürfe es nur eine einzige Bezugsquelle geben: Die Wahrheit könne allein der Schrift entnommen werden, vgl. Stifel: Christförmige Lehre N2b. 95  „Aber warlich vnwissend kommen sye in dißes teüfelisch spiel.“ (Stifel: Euangelium E4b). 92 Vgl.

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quenzen bleiben und fordere jeden Einzelnen zur Umkehr. Auf praktischer Ebene müsse dies bedeuten, der Papstkriche die Gefolgschaft zu verweigern. So wird den Rezipienten von Stifel z. B. die Klosterflucht anempfohlen; das daraus resultierende Versorgungsproblem dürfe dabei nicht schrecken – in Auslegung von Mt 24,15 f. sei die Zeit der von Christus angewiesenen Flucht in die Berge jetzt gekommen.96 Nach der Offenbarung des Antichrist müsse jeder die Ent­ scheidung treffen zwischen dem antichristlichen Papsttum oder dem wahren Christus. Ein Beharren im Alten hieße, wissentlich dem Antichrist zu huldigen: „Will einer behalten den glauben yetzund des Bapsts / der muß verlassen den glauben Christi vnd seiner genad. Der Antchrist würt worlichen angebet­ tet / geert / vnd gefoerchtet / vnder dem namen Christi in dem Bapst.“97 Wolle man nicht als Gottloser vernichtet werden, müsse die von Stifel vermittelte Erkenntnis des Antichrist auch handlungsleitend sein; dem Papsttum sei die Gefolgschaft zu verweigern, ungeachtet etwaiger Kirchenstrafen: „Es ist iren geistlichen gwalt erkennen. Den selbigen nit fürchten. Es ist das thier nit meer anbetten. Apoc. xiij [vgl. Off b 13,11 ff.]. Dann der forchtsamenteil / vnd der an­ bettern / würt sein in der pful des feürs vnd schwebels. Apoca. xiiij [Off b 14,10]. Es ist des banns nit achten / mit dem man vns will von gott vßspannen.“98

Die Gegenwart sei eine gefahrvolle und entbehrungsreiche Zeit, in welcher der Teufel sich gegen das Aufgehen der Wahreit wehre und diese durch seine Agen­ ten zu unterdrücken suche.99 So seien nach der Offenbarung des Antichrist zunächst noch größere Übel zu erwarten: „Wee vns in sollichen sorglichen 96 „Der Antchrist ist mir eroeffnet mit seinem betrug / vnd darumb weich ich ab von dem hurischen Babylon / nach dem geheiß des heyligen geists. […] Auch weissz ich wol / dz mir mein essen / vnd trincken / schlaff / vnd ruw nymmer so geschicklich vnd wol würt be­ reit sein als in dem kloster. Vnd dz ich mich nit würd neren kunden on erbaermd froemer menschen / noch dennocht so würd ichs wagen. Dann ich will lieber hungers sterben / dann wider mein gewissen essen vnd trincken von dem betrug des teüfelischen quests. Die zeyt ist hye / von deren Christus sagt: Die da sein werdent zu der selbigen zeyt in der Jüdischeit / die sollen fliehen zu den bergen [Mt 24,15 f.].“ (Stifel: Wider Murnars Lyed G3b-G4a). 97  Stifel: Christförmige Lehre R4b. 98  Stifel: Christförmige Lehre O2a. Vgl. auch Stifel: Euangelium F4b-G1a: „O lieber mensch / o lieber mensch / thu vff deine augen / vnnd syhe wie du keines Türcken oder Juden warten solt als eines Antchrists. Zweifel nitt zu werden ein martyrer des heyligen geists / durch die verfolgung der synagog des teüfels / die sich nennet die kirchen gottes / ob schon das sybenhaubtig thyer anbetten die künig der erden [vgl. Off b 13,4]. Dann furwar sag ich dir / würstu es anbettn / so würstu trincken von dem kelch des ewigen fluchs. Dann bey gott dem ewigen schoepffer / so ist das Papistischs reich das einig eygentlich reich des eroeff­ neten Antchrists / welichs den gantzen glauben hat vmbgestossen vnder einem grossen schein des glaubens.“ 99  Der Teufel hasse nichts so sehr wie die Wahrheit, weshalb er diese durch falsche Pro­ pheten entstelle: „ICh weyß wol das der teüfel vnd sein anhang vff erd nichts merrers vnd vesters hasset dann die worheit rechter warnung vnd ermanung.“ (Stifel: Christförmige Lehre I1b). Durch die Irrlehrer sei das Seelenheil der Gläubigen nach wie vor in hoher Ge­ fahr: „Wee vns / by sollichen leerern diser letsten zeyt der welt.” (Stifel: Wider Murnars Lyed F3b).

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IV. Gegenwartsverständnis

zeyten des eroffneten Antchrists.“100 Die Gegenwart sei damit auch eine Zeit der Bewährung gegen den enttarnten Antichrist: „Dan ich acht / der tag des jüngsten tags sey vns schon vor der thuer. Gott geb vns verstentnüß vnd kuen­ heit wider den eroeffneten antchrist.“101 Gerade angesichts des enttarnten Anti­ christs seien Stellungnahme und Handeln des Einzelnen unumgänglich; derar­ tiger Bekennermut wird von Stifel eindringlich und unter Ausmalung der ne­ gativen Konsequenzen für den Verweigerungsfall eingefordert: Nicht furchtsam, sondern keck solle man sein und die Verfolgung der Welt nicht scheuen – sie gehöre zum Christenstand wesensmäßig dazu und sichere die Zuwendung Got­ tes.102 Wenngleich der enttarnte Antichrist noch immer Schrecken zu verbrei­ ten in der Lage sei, könnten sich die reformatorischen Zeitgenossen des Bei­ stands Gottes in den Anfechtungen des Teufels gewiss sein: „Wie soll ich anderst gedencken / dz du mir verlyhen werdest die gnad des sigs i besten­ digkeit der warheit wider den eroeffneten antchrist so ich von jm würd angefoch­ ten / wie grausamklich mich yetzund die forcht der pein vnd des tods erschreckt?“103

Mit derartiger Siegesgewissheit müsse nun die endzeitliche Aussonderung der teuflischen Elemente innerhalb der Kirche vorangetrieben werden: „Er [der Papst] wil sein über seinen meister. Daran thut er nitt als Petrus / sonder als Lucifer. Vnd darumb mussz er auch haben das vrteyl des Lucifers. Dann als der teüfel mit seiner geselschafft verstossen ist vß derm himmel / also mussz auch dißer Lucifer verstos­ sen werden vß der kirchen gottes.“104

Gott habe nunmehr beschlossen, der Zeit der Herrschaft des Antichrist ein Ende zu setzen und ihn sein Urteil empfangen zu lassen.105 Die Gegenwart wird 100 

Stifel: Wider Murnars Lyed D1a. Stifel: wider Murnars Lyed G4a. 102 „Auch spricht Christus Matth. v. [Mt 5,11] Selig seind ir / so eüch verbannen oder verfluchenn die menschen. etc. Was woellen wir vil fürchten den bann der lugen / vnd deren die vns von Christo zwingen woellen? Du must frisch vnd keck werden an leib vnd seel zu dieser sorglichen zeit. Du must in die hell. i. Du must auch die hell überwinden / vnnd klein achten vmb des worts willen gottes des herren / sunst württ dein teil sein als eines forchtsa­ men menschenn in dem pful in der gruben der hell. Apocalipsis. xxj [Off b 21,8].“ (Stifel: Christförmige Lehre O2b). Etwaigem Verfolgungsdruck dürfe man nicht weichen, zumal die gegenwärtigen Anfeindungen gegenüber der reformatorischen Lehre in Parallele zu den Anfeindungen gegen die Lehre der Apostel stehen: „So wir nu solichs Paulo nach leeren / so schreien die Papisten über vns als die vnsynnigen juden zu der zeit der anfaengklichen kir­ chen schryen über die iünger Christi.“ (Stifel: Euangelium F4a-F4b). Der alte apostolische Glaube war durch Verfolgungen bewährt, der neue papstkirchliche hingegen scheue das Leiden; so seien die reformatorischen Zeitgenossen angesichts der gegenwärtigen Bedräng­ nisse eindeutig ins Recht gesetzt und die reformatorische Lehre als wahrhaftig und alt bestä­ tigt, vgl. Stifel: Wider Murnars Lyed G2b. 103  Stifel: Christförmige Lehre T5a. 104  Stifel: Euangelium D3a. 105 „Dann diße rechnung ist nichts anders dann das gericht über dißen boeßen faulen knecht [vgl. Mt 25,26–30]. das ist / über das Antchristisch reich / in welchem gericht eroeff­ net werden must was er geschaffet hat in der kirchen gottes. Dann sein boßheit ist vffgestigen 101 

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so zur Zeit des Gerichts über den Anrichrist, welches Gott durch die Wieder­ kunft Christi vollziehen werde – doch nicht etwa mit leiblicher Gewalt, son­ dern allein mit der Macht des Wortes: „Vnd also würt es hyngenommen vnd zerbrochen (als Paulus spricht) mit erleüchtung der zukunfft Christi / vnnd würt ertoedt mitt dem schwert seines munds [2 Thess 2,8] / oder (als Daniel spricht) on hend würt er zerknirscht [Dan 8,25].“106

Die Überwindung von Teufel und Antichrist sei ein rein geistlicher Akt – zu­ mal der Gebrauch von Gewalt Merkmal und Strategie des Antichrist sei.107 Stifel selbst sieht sich berufen, die geistliche Entmachtung des Antichrist mit allen Mitteln zu befördern. Die Offenbarung des Antichrist, die Luther den Zeitgenossen vermittelt habe, weiterzutragen, versteht Stifel als seine gottbe­ fohlene Verpflichtung.108 So dient seine Autorentätigkeit primär dem Ziel, den Zeitgenossen den Antichrist kenntlich zu machen und diesem Widerstand zu leisten – ein Selbstverständnis, welches ihn in die Nachfolge Christi stelle109 und zum Warner vor den Wölfen mache.110 Doch ist sich Stifel bewusst, mit seiner Predigt lediglich eine begrenzte Zahl von Auserwählten erreichen zu können – wie zur Zeit Noahs verachteten auch Stifels Zeitgenossen die zahlreichen Warnungen vor der bevorstehenden Ver­ nichtung.111 Wie einstmals, so habe auch in der reformatorischen Gegenwart die Bosheit überhand genommen und werde die Vernichtung des Lebens nach sich ziehen – die Zeit des Gerichts habe begonnen: „Darumb wolt gott ein end machen allem disem dz ein leben het vff erden. O herr gib vns zuuerston wie bitz zu den wolcken / vnd ist erhaben bitz in den himmel. Sein verwuesten haben nit mer leiden mügen die element. Darumb ist die Babylonisch hur kommen in die gedechtniß vor dem allerhoechsten / vnd hat angefangen ir vrteyl.“ (Stifel: Euangelium D2b). 106  Stifel: Euangelium D2b. 107  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre T3a. 108  „Du hast mir verluhen die verstaentnuß / das ich solichs verstand. dz hastu on zweyfel gethon / nit vmb sunst / sunder darumb hastu dissz gethon / das ich erweckt wird als ein ge­ trewer hund seinem herren ab zulauffen den woelffen deine schaff / vnd sye zu erloeßen von dem ewigen tod. Hye mag ich mich auch nit entschuldigen / auch keinen anderen der die sach verstot. Es ist vns zu werck geschnitten. welicher sein leben hye will behalten / der der würt es ewig verlieren.“ (Stifel: Christförmige Lehre R4b-S1a). 109  „Vnd also hat Christus den tod wol verschuldet / als ich den tod auch verschuldet hab mitt meinem schreiben wider die verderbnuß der Bischoeffen / vnd Christus ist nit vnschul­ digklich gestorben. O antchrist antchrist / wie lastu dich so grob mercken. Aber du must dich grob mercken lassen / dann wir seind auch grob / vnd moechtent dich sunst nitt erkennen.“ (Stifel: Christförmige Lehre S1a-S1b). 110  „Soll man die schaefflin nit warnen vor den woelffen? Christus spricht. Von den wer­ cken werden ir erkennen die woelff. Die mussz man eroeffnen / das man sich wissz zu hue­ ten.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed F1a). 111  „Dann […] es gat verborgenlich zu / darmitt auch dises erfüllet wird in vns / das sye vndergiengen in dem sündfluß des sye sich doch nit hetten versehen / wiewol sye gnug ge­ warnet wurden. Aber alle warnung verachteten sye / als auch wir thund.“ (Stifel: Christförmige Lehre M3a-M3b).

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IV. Gegenwartsverständnis

auch yetz sey solliche zeyt.“112 Aus dem Vergleich mit der Zeit der Sintflut er­ gebe sich unzweifelhaft die heilsgeschichtliche Einordnung der Gegenwart als unmittelbarer Endzeit.113 Vor dem Hintergrund der Wiederentdeckung der Schrift werde in der reformatorischen Gegenwart die geistliche Arche gebaut, welche den Auserwählten Zuflucht gewähre, wenn die Übrigen der Vernich­ tung preisgegeben sein werden. Die Arche sei bereits fertiggestellt – nun sei es Zeit, sie zu besetzen: „Auch sehen wir das zeychen Noe der geistlichen arch yetz bauwen mit gerichten ebnen gehobelten hoeltzern offenlicher sprüch der Bibel […]. der Luther hat sye widerumb gefunden / vnd vns die haerfür gebracht an das liecht. Er hatt schon die thuer gemacht vnden an die arch. […] Nun welcher zu dem gestat der ewigen seligkeit kummen wo­ ell / der drett mit vns in die arch. Das heilig grab ist gewunnen. Lob Gott. Amen.“114

1.2  Thomas Müntzer Thomas Müntzer ist eine der schillernsten Figuren der frühen Reformationszeit und die vorhandene Literatur umfangreich.115 So verwundert es, dass die Teu­ felsvorstellung Müntzers von der Forschung bislang nicht unter eigener Frage­ stellung untersucht bzw. deren theologischer Gehalt recht beiläufig allzu ge­ ringgeschätzt wurde. So hat Carl Hinrichs in seiner Untersuchung zu den Vorstellungen von Ob­ rigkeit und Widerstand bei Luther und Müntzer die Behauptung vertreten, die Teufelsvorstellung spiele in Müntzers Denken keine Rolle. Er konstatiert in Bezug auf Müntzers „Schutzrede“ (1524), wo sich die Rede vom Teufel signi­ fikant steigere, dass Müntzer sich gezwungen sehe, den Vorwurf Luthers, Mün­ tzers Lehre sei teuflischen Ursprungs, zu entkräften. Aufgrund der großen Pu­ blikumswirksamkeit müsse Müntzer hierzu Stellung nehmen und tue dies, in­ dem er den Vorwurf der Teufelslehre gegen Luther wende.116 Doch reagiere Müntzer damit lediglich auf den Teufelsverdacht, die Teufelsvorstellung selber 112 

Stifel: Christförmige Lehre M3b. sprichet Matth. xxiiij [Mt 24,37–39]. Die zukunfftt des suns des menschen würt gleich als es war in den tagen Noe. Die weyl nun Christus hatt vergleicht den stand der welt zu der zeyt der sünflüß gegen dem stand der welt zu der zeyt des letsten gerichts / so wer gutt / das wir acht hetten vff den stand der welt vor dem sündfluß nach jnnhaltung der Bi­ bel / vnnd wie sich der selbig vergleicht dem stand yetziger zeyt.“ (Stifel: Christförmige Lehre M3a). 114  Stifel: Christförmige Lehre N1b. 115  Literatur in Auswahl: Ein Kurzüberblick über den Gang der Müntzerforschung findet sich im Luther Handbuch ( 22010) bei Peters: Luther und Müntzer 139–142. Siehe auch Arndt: Theologie als Weltordnung (mit umfassendem Forschungsüberblick und Literatur); Goertz: Art. „Müntzer“ Sp 1585–1587; Seebass: Art. „Müntzer, Thomas“ 414–436; Kim: Reich Gottes in der Theologie Thomas Müntzers; siehe auch den Sammelband Bräuer / Junghans (Hgg.): Der Theologe Thomas Müntzer. 116 Vgl. Hinrichs: Luther und Müntzer 168. 113  „Christus

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sei ihm eigentlich fremd: „Aber im Grunde hat, anders als bei Luther, die Vor­ stellung des Teufels in Müntzers Theologie keinen wirklichen Platz mehr, sie ist etwas ihm in der Verteidigung Aufgezwungenes.“117 Dass Müntzer sich über das Verteufeln seiner Person und Lehre durch Luther beschwert, sei Erweis ei­ ner „deutlichen Nichtachtung der Teufelsvorstellung“ bei Müntzer.118 Goertz hat in seiner Monographie über Müntzer auf diese Einschätzung Hinrichs Be­ zug genommen und festgehalten, dass die Teufelsvorstellung bei Müntzer be­ reits im „Prager Sendbrief “ (1521) eine Rolle spiele, wo sie vor allem gegen die altgläubigen Geistlichen gewendet werde.119 Da sich die Front, gegen die Mün­ tzer polemisierte, zwischenzeitlich um die Wittenberger Gelehrten erweitet habe, „mußte Müntzer auch Luther in die Teufelsfront einreihen.“120 Damit liege die Anwendung der Teufelsvorstellung auf Luther in der Konsequenz von Müntzers antiklerikaler Polemik.121 Dass die Müntzersche Teufelsvorstellung aber darüber hinaus mit seinem theologischen Denken originär verbunden ist, wird zu zeigen sein. Daher scheint es angebracht, zunächst grundsätzlich den theologischen Ort des Teufels in Müntzers Denken zu skizzieren,122 um an­ schließend die sich von hier aus ergebenden Bezüge zu seinem Gegenwartsver­ ständnis näher zu untersuchen. Die Teufelsvorstellung bildet gleichsam die Ne­ gativfolie, auf der Müntzer seine zentralen Theologumena, seine Leidens- und Geisttheologie, entwickelt und im Lehrstreit profiliert.123 Das Leiden hat für Müntzer einen exorbitant hohen Stellenwert im Gesche­ hen des Glaubensempfangs. Müntzer betont unablässig die Notwendigkeit des Leidens für den Empfang des Geistes; ohne Leiderfahrung könne der Mensch nicht zum wahren Glauben kommen, zunächst müsse er die „anfechtunge des glaubens“ erlitten haben und durch die „forcht Gots“ „geengstet seyn“, müsse „leherwerden“ und „mit seinem leiden Cristo gleichformick werden“ und sich von „honigsussen gedancken“ freimachen, da Gott „alleine in die leidligkeyt 117 

Hinrichs: Luther und Müntzer 169. Hinrichs: Luther und Müntzer 169. 119 Vgl. Goertz: Müntzer 130. 120  Ebd. 130. 121  Vgl. ebd. 130. 122  Der quantitative Befund der Müntzerschen Rede vom Teufel scheint das Gewicht der Teufelsvorstellung bereits zu belegen: Allein das Substantiv „teufel, m.“ taucht bei Müntzer 99 mal auf, „satan, m.“ 8 mal, „hölle, f.“ 23 mal, von den Adjektiven abgesehen. Die Anti­ christvorstellungen treten demgegenüber deutlich in den Hintergrund („endechrist, m.“ 3 mal, „widerchrist, m.“ 1 mal), vgl. Warnke: Wörterbuch, Häufigkeits-Index 402 ff. Doch inwiefern hängt die Rede vom Teufel bei Müntzer mit seiner Theologie substantiell zusam­ men? 123  Um ein stimmigeres Gesamtbild zu erhalten, wurden zusätzlich zu den Flugschriften Müntzers einige wenige Briefstellen (MSB 413,19–21; MSB 454,1–456,1) sowie der Prager Sendbrief hinzugezogen. Der Prager Sendbrief (1521), in der Forschung meist „Prager Ma­ nifest“ genannt, blieb ungedruckt. Dennoch weist er eindeutig die Charakteristika einer Flugschrift auf und war zur Veröffentlichung bestimmt, vgl. Vogler: Anschlag oder Mani­ fest 50–53. 118 

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IV. Gegenwartsverständnis

der creatüren“ rede.124 Das Leiden gilt Müntzer als Reinigungsprozess von kre­ atürlichen Begierden, an dessen Ende die Herrlichkeit Gottes offenbar werde.125 Die Leidens- und Unheilserfahrung erhält somit bei Müntzer einen theologisch nahezu uneingeschränkt positiven Stellenwert. Die menschliche Natur aber scheut das Leiden126 – der Teufel setzt genau hier, am schwächsten Punkt des Menschen an: Der Teufel reizt die Begehrlich­ keit des Menschen, versucht ihn mit Annehmlichkeiten, um ihm seine Leidens­ bereitschaft zu nehmen und dadurch die Ankunft des Glaubens zu hindern.127 Alle Theologie, die die Notwendigkeit des Leidens abschwächt oder leugnet, gilt Müntzer daher als Teufelslehre. Diese Missachtung des Leidens wirft Müntzer sowohl der altgläubigen Theo­ logie in Form des Ablasswesens als auch der lutherischen Theologie vor, durch die der Teufel lediglich in anderer Gestalt seine Strategie zur Abschwächung der Notwendigkeit des Leidens fortführe.128 Im „Prager Sendbrief “129 (1521) richtet sich die Kritik vor allem gegen den Klerus. Die „Pfaffen“ seien zum Leiden nicht bereit, weshalb sie den Geist Got­ tes nicht vernehmen und folglich auch nicht lehren könnten – sie seien nicht von Gott, sondern vom Teufel autorisiert: „Dorumbme syn sie geweihet von der weiher dem teuffel yhrem rechten vater, der mit yhn nicht horen will das rechte lebendige gotsworth, Johannis [ Joh 8,38.41.44]“.130 Ihr Herz sei vom Teufel vereinnahmt, der sie mit kreatürlichen Begierden betört und ihnen den Geist Gottes entfremdet: „vom teuffel ist yhr anfangk, welcher yn yren hertzen grund unde bodem vorterbet hat, wie geschriebn steht am funften psalm [Ps 5,10], dan sie seyn eytel ane besytzer den heiligen geist.“131 Im Gegensatz zu 124 

MSB 499,9–26. „Der mensch nach allen creaturischen luesten muß sich zu Got keren, es kuend anderst seyn natuerlichs wesen nicht bestehen; da bekennet er erst seynen unglauben und schreyt nach dem artzt, welcher es umb seyner holtseligkeyt willen nimmermehr lassen kan, eynem solchen armgeystigen zu helffen. Da ist der ursprung alles guten, das recht reych der hymel; da wirt der mensch den suenden feynd und der gerechtigkeyt geneygt auff das allerhertz­ lichst, da wirt er erst seyner seligkeit versichert und vernimpt clerlich, das in Got durch seyne unwandelbare lieb zum guten vom boesen getriben hat […]“ (MSB 302,8–29). 126  MSB 272,30–33. 127  „Der teufel ist gar ein listiger schalk und leget dem menschen stets die narung und das leben vor augen, dann er weyß, das fleischliche menschen das lyp haben.“ (MSB 413,19–21). 128  MSB 234,20–25: „Die Roemer haben ablaß geben, vortzeigt pein und schult, und wir solten nu gleich auff ein solch fundament bawen? Were nicht anders, dann das ein alt haus wurd gekelckt und wir sagten, es were newe. Also theten wir auch, wenn wir einen honigs­ ussen Cristum wolgefellig der morderischen unser natur predigten. Ja das sie nichts dorffte leiden und wurde er alles umbsunst geben, was wurden wir anrichten?“ 129  In der Forschung hat sich die Bezeichnung „Prager Manifest“ festgesetzt; die Bezeich­ nung „Prager Sendbrief “ erscheint jedoch geeigneter, da sie den Flugschriften-Charakter des zur Veröffentlichung bestimmten Manuskripts angemessener zum Ausdruck bringt, vgl. Vogler: Anschlag oder Manifest 53. 130  MSB 497,23–25. 131  MSB 497,20–23. 125 

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den „judisschen, ketzerisschen pfaffen“,132 die behaupteten, „man kann den zcorn Gots woll flihen ja mit guten wercken, mit kostparlichenn tugenden“,133 wird für Müntzer der Geist erst im Leiden lebendig.134 Dass der Teufel sich aktiv bemühe, die Menschen die Leiderfahrung meiden zu lassen, kennzeichnet auch Müntzers Kritik an der Rechtfertigungslehre lutherischer Provenienz. Sie sei ebenfalls teuflischen Ursprungs, da sie suggerie­ re, man könne leicht zum Glauben kommen, ohne an dessen Eröffnung leiden zu müssen.135 Wer sich aber auf die Verheißungen der Schrift berufe, ohne zum Leiden bereit zu sein, „erdichte“ die Heilszusagen und „stehle“ damit den Glau­ ben aus der Schrift.136 Nicht allein die Schrift, sondern allein das Leid führe den Auserwählten zum wahren Glauben,137 denn „ein ewserlichs getzewgniß kan in ime kein wesen machen […].“138 Das Verleugnen und Ausblenden der Heilsnot­ wendigkeit des Leidens sei die eigentliche Ursache für den Verfall der Christen­ heit: „Das man einem sußen Cristum der fleischlichen werlt predigt, ist die hoechste vorgift […]“139, „Wer den bittern Cristum nicht wil haben, wirt sich am honig todfressen.“140 Mit dem Theologumenon vom stellvertretenden Lei­ den Christi werde lediglich ein „gedichteter“ Glaube kolportiert, der die Schrift zu seinem „schandtdeckel“141 mache und allein die Gottlosen rechtfertige: „Der gotloße nympt die schrifft an gerne uber die maße. Do ein ander vor in leidet, do bewbt er ein stargken glauben.“142 Die Vermeidung des Leidens durch die Hintertür der Stellvertretung Christi sei eine unzulässige Verkürzung des Heils­ handelns Gottes am Menschen: „Man sol nit zum fenster hyneyn steigen, [k] einen andern grund des glawbens dan den gantzen Cristum und nicht den hal­ ben haben.“143 „Dan wer mit Cristo nicht stirbet, kan nicht mit im auffsten.“144 Die Schriftgelehrten, die einen unbeschränkten Lebenswandel wie die „mastsewen“ führten, „nent Cristus falsche propheten […]. Das susse heissen sie bitter, das liecht finsterniß.“145 Diese Verdrehung gründe auf einer falschen Be­ rufung auf die Schrift: Durch den Gedanken der Stellvertretung Christi werde 132  MSB

502,10. MSB 502,11 f. 134  MSB 502,1–4: „Es muß der auserwelthe mit dem vorthümmeten erkrachen und ym seyn kreffte vor ym entsincken mussen. Yr muget anders nicht horen, was Got sey.“ 135  MSB 271,18–22: „Sie wenen oder lassen sich beduencken, der glaub sey also leychtlich zu ueberkumen, wie sie all fast rhumretig darvon schwatzen.“ 136  vgl. MSB 272,4–9. 137  MSB 224,3 f.: Es könne „niemant in Cristum glawben […], er muß yme zuvorn gleich werden.“ 138  MSB 224,7. 139  MSB 222,8 f. 140  MSB 222,22 f. 141  MSB 221,11. 142  MSB 224,18 f. 143  MSB 222,21 f. 144  MSB 222,29–223,1. 145  MSB 239,5–7. 133 

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IV. Gegenwartsverständnis

der leidgeprüfte durch einen gedichteten Glauben ersetzt. Doch erspare bloßes Bibelstudium die Leiderfahrung nicht; das Leiden zur Läuterung des Herzens sei unumgänglich: „Ab du auch schon die biblien gefressen hets, hilfft dich nit, du must den scharffen pflugschar [Ps 129,3] leiden.“146 ; andernfalls regiere der „wuttende teuffel, geschwunden yns liecht“147 das Herz. Das Leiden sei für die „ankunfft“148 des Glaubens notwendiger Durchgang: Wer „durch sein creutzs nicht vorhin entpfinlich wirt“,149 wird „den eynigen engen wegk“150 zum Glauben nicht finden. In seiner Neigung, eigenes Leid zu vermeiden, wolle sich der Mensch „mit getichtem glauben und mit außgedichter barmhertzigkeit Gottis behelffen“151; diese vordergründige Barmherzigkeit verkenne die unent­ behrliche Funktion, die Gott dem Leiden im Heilsprozess zugedacht habe: Das Leiden komme von Gott; was er selbst seinem Sohn nicht erspart habe, gelte ebenso für alle Auserwählten.152 So klagt Müntzer die zeitgenössischen Schrift­ gelehrten an, eigenem Leid aus dem Wege gehen zu wollen und so dem Teufel zu dienen: „Sulche leuth seind, die sich in den engel des lichtes swinden, vor welchem wir uns sollen hutten wie vorm tewffel.“153 Die scheinbare Rechtgläu­ bigkeit dieses von außen und ohne Ernst und Leiden angenommenen Glaubens ist Müntzer ein Angriff des Teufels, der sich als Engel des Lichts verstellt und Böses gut erscheinen lässt.154 Der Teufel kolportiere durch seine Handlanger, die „Pfaffen“ und „Schrift­ gelehrten“, die Illusion der Entbehrlichkeit des Leidens mit dem Effekt, den Menschen unmerklich den Zugang zum wahren Glauben zu verstellen und sie in trügerischer Heilssicherheit zu wähnen. Diese Herstellung vermeintlicher Heilsgewissheit ist Müntzer das hervorragendste Werk des Teufels, der die Gläubigen unter frommem Schein durch die Vermeidung der Leiderfahrung ins Verderben der Gottesferne führt. Gegen diesen teuflischen Widerstand müsse die Erkenntnis der Notwendigkeit des persönlich erfahrenen Leidens im Sinne der imitatio Christi durchgesetzt werden. Der allgemeinreformatorische Ge­ 146 

MSB 234,2–4. MSB 234,1 f. 148  MSB 218,30. 149  MSB 218,10 f. 150  MSB 218,26. 151  MSB 220,20 f. 152  MSB 218,23–28. 153  MSB 218,33–219,2. 154  Die Strategie der Verkehrung von Gut und Böse gipfelt in einer totalen Verdrehung: Das heilsame Leiden erscheint als teuflische Anfechtung – doch ermögliche erst die Leider­ fahrung die wahre Gotteserkenntnis und lehre die rechte Unterscheidung von Gott und Teufel. Dieser Sachverhalt werde auch von der Schrift vielfach bezeugt: So musste z. B. Mo­ ses erst durch Unglauben und Leid gehen, bevor er Gott recht erkannte: „Dan in yme muste der unglaube gantz hoechlich zuvorn erkent werden, solt er anderst ungeticht sich auff Got verlassen, das er sicherlich wueste, das der tewffel yme keinen hund vorn lerben schlueg. Moechte doch Moses Got fur einen teuffel haben gehalten, wen er der creatur hinderlist und Gotis einfeltigkayt nicht erkant hette […]“ (MSB 219,20–25). 147 

1. Fallbeispiele

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danke von der Unvertretbarkeit des Glaubens wird von Müntzer zu einer Un­ vertretbarkeit des Leidens verschärft: Wer die Leiderfahrung nicht sucht oder sich ihr verweigert, lebt nach dem Fleisch und erliegt der Verführermacht des Teufels, der alles tut, um den Menschen in seinen kreatürlichen Begierden ge­ fangen zu halten. Das Leidensmotiv stellt damit die Grundlage für die Müntzersche Geisttheo­ logie155 dar. Worauf es Müntzer ankommt, ist das freie, lebendige Wirken des Geistes – losgelöst von der Institution Kirche und nicht eingeengt durch ein Offenbarungsverständnis „sola scriptura“.156 Die Schriftgelehrten dagegen glaubten mit „großer freude“ an „das tode wort“157, wenn sie Gottes Offenba­ rung in der Schrift beendet sehen und „[…] den slussel von dissem buche, das geslossen ist, stelen, sie slissen dye schrifft zcu unde sagen, Got dorff nicht in eigner person mit dem menschen reden.“158 Da aber „Got nicht mit tinten, sun­ dern mit seinem lebendigen finger schreibt dye rechte heilige schrifft“,159 könne jeder immer wieder neu „dye lebendige rede Gots“160 hören – „Thomas Munt­ zer wil keynen stümmen, sunder eynen redenden Got anbethen“,161 so die Un­ terschrift des Prager Sendbriefs. Die Ansicht der Schriftgelehrten, die Offenba­ rungen Gottes seien ausschließlich der Heiligen Schrift zu entnehmen, weise diese eindeutig und unzweifelhaft als Teufel aus: „[…] den sye vorleugnen dye stimme des brutgams, welchs ist das rechte gewisse zceichen, das sie luter teuffel seyn.“162 Gegen diese teuflische Verkürzung des Offenbarungsverständnisses bekräftigt Müntzer unablässig, der Geist binde sich nicht an den Buchstaben, sondern offenbare sich auch außerhalb der Schrift. In der sogenannten „Fürstenpredigt“ entfaltet Müntzer anhand des Prophe­ ten Daniel das Thema der Traumdeutung. Dieses Thema dient ihm dazu, Of­ fenbarungen Gottes abseits der Schrift, in Träumen und Gesichten, zu legiti­ mieren. Müntzer wendet sich gegen die Schriftgelehrten, welche die Träume und Gesichte leugneten und sie ungeprüft für teuflisch hielten.163 Der Offenba­ 155  Zu Müntzers Geistverständnis mit Forschungsüberblick siehe Goertz: Geistverständ­ nis 84–99. 156  MSB 501,25–30: „Ich becrefftige unde schwere bey dem lebendigen Goth: wer do nicht horeth auß dem münde Gots das rechte lebendige worth Gots, was bibel und Babe, ist nicht anders denn ein todt ding. Aber Gots wort, das durch hertz, hyen, haut, haer, gebein, marck, safft, macht, krafft durchdringet, dorff woll anders herdraben dan unser nerrisschen, hodenseckysschen doctores tallen.“ 157  MSB 499,4 f. 158  MSB 498,21–23. 159  MSB 498,25 f. 160  MSB 498,28. 161  MSB 505,5 f. 162  MSB 498,8–10. 163  Die Träume und Gesichte verstehen sie nicht; was sie nicht zu deuten wissen, „was yrem unerfarnen verstande nit gemeß ist, das muß yn alsbald vom teuffel sein.“ (MSB 249,6 f.).

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IV. Gegenwartsverständnis

rungscharakter von Träumen und Gesichten beschränke sich nicht auf die bib­ lische Zeit, wie die Schriftgelehrten meinten, indem sie behaupteten, „das Gott seynen lieben freunden seyne goettlichen geheimnis nit mehr offenbare durch rechte gesichte oder sein muentlichs wordt etc.“164 – der lebendige Gott aber offenbare sich nach wie vor. Den Wahrsagern von einst, die den Traum Ne­ bukadnezars nicht zu deuten vermochten, entsprächen die zeitgenössischen Schriftgelehrten, „die do offendtlich die offenbarung Gottis leugknen und fal­ len doch dem heyligen geyst in sein handtwerck […].“165 Damit sind sie für Müntzer grundsätzlich als teuflisch charakterisiert. Dies ist vor allem gegen das lutherische Schriftprinzip gerichtet, welches die Schrift zur exklusiven Wirkinstanz für den Geist erkläre; dadurch pervertiert sie in Müntzers Verständnis zum Instrument des Teufels, der mit dem Hinweis auf ihre Ausschließlichkeit die Offenbarungen Gottes außerhalb der Schrift zu leugnen suche. Die Schrift gebe jedoch lediglich Zeugnis vom und sei Korrek­ tiv für den Glauben, nicht jedoch sei sie dessen Quelle.166 Für den Glaubens­ empfang stellt die Schrift keine Voraussetzung dar, da die Auserwählten „von Got alleyn gelert“167 würden. In Zurückweisung eines reinen Schriftglaubens steigert sich Müntzer bis zu der Aussage, den Glauben gäbe es auch ohne und völlig losgelöst von der Schrift.168 Indem der Teufel durch seine Handlanger, die Schriftgelehrten, die Schrift „zuschließt“ und damit die Offenbarungsqualität von Träumen und Gesichten grundsätzlich leugnet, verstellt er den Menschen den Zugang zum Glauben – allein die Geistbegabung aber entscheide über die Zugehörigkeit zum Reich Gottes oder des Teufels: „Wan wer den geyst Christi nyt in ym sporeth, ja der yn nit gwyszlich haet, der ist nit eyn glidt Christi, er ist des teufels […]“169 Doch nicht nur Gott, auch der Teufel könne Träume und Gesichte senden, um die Menschen zu täuschen: Durch falsche Träume habe „der teuffel alle seynen willen ins werck bracht, ja auch viel frumer außerwelten unerstatlich betrogen […].“170 Deshalb müsse zwischen göttlichen und teuflischen Träumen genau unterschieden werden: „dann ich muß wissen, ab diß Got geredt hat und nicht der teuffel, muß ich unterscheiden im grunde der selen das werck aller beyder.“171 164 

MSB 247,16–18. MSB 249,4 f. 166  MSB 276,34- 277,1: „Der sun Gottes hat gesagt: die schrifft gibt gezeuegnuß. Da sa­ gen die schrifftgelerten: sie gibt den glauben. O neyn, allerliebsten […].“ 167  MSB 277,23 f. 168  „Wenn eyner nu seyn leben lang die biblien wider gehoeret noch gesehen het, kuendt er woll fuer sich durch die gerechten lere des geystes eynen unbetrieglichen christenglauben haben, wie alle die gehabt, die one alle buecher die heylige schrifft beschriben haben.“ (MSB 277,25–33). 169  MSB 492,15–17. 170  MSB 249,12–14. 171  MSB 235,19 f. Ähnlich auch MSB 250,10–12: „[…] wir muessen wissen und nit allein in windt gleuben, was uns von Got gegeben sey odder vom teuffel oder natur.“ 165 

1. Fallbeispiele

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Um zu prüfen, ob der Mensch die Träume „vom unbetrieglichen Got ge­ schoepfft und nit vom abgekunterfeyten des teuefels oder eygener natur eynge­ zogen hette“172 , sei das Leiden unbetrügliche Erkenntnisgrundlage: Wer „do wissen wil, wilch gesicht oder trawm von Gott, natur oder teuffel sey, der muß mit seynem gemueth und hertzen, auch mit seynem naturlichen vorstande ab­ geschiden sein von allem zeitlichen trost seines fleisches […]“173 Da der Teufel die von Gott gesandten Träume und Gesichte als Trugbilder erscheinen lassen wolle, müssten die Träume und Gesichte zudem darauf hin geprüft werden, ob sie in der Schrift bezeugt seien.174 Auch wenn Müntzer die Geistoffenbarungen außerhalb der Schrift betont und die Träume und Gesichte als Kommunikationsmedien sowohl Gottes als auch des Teufels herausstellt, wird damit die Schrift in seinem Verständnis nicht entwertet, da sie zum einen diese Geistoffenbarungen selbst bestätige,175 zum anderen die Schrift ein ele­ mentares Korrektiv bilde, die Ambivalenz der Geistoffenbarungen, denen sich eben auch der Teufel bediene, zu durchschauen. Damit bleibt die Schrift Maß­ stab zur Scheidung der göttlichen und teuflischen Geister: „Darauff solte man die schrifft nuetzen, das man […] bewerte da die geyster, welche Gott oder dem teufel zustendig seyn. I. Johan. 4 [1 Joh 4,1 ff.].“176 Diese Scheidung der Geister trägt fundamentale Bedeutung, da der Teufel als Lügner charakterisiert ist, dessen hervorragendste Eigenschaft die Täuschung ist.177 Unter „dem guten schein“178 , dem „scheyn des glaubens und der lieb“179, vermische sich das Böse mit dem Guten.180 Diese Vortäuschung des schönen Scheins ist Müntzer Blendwerk des Teufels, der mit dem Mittel der Lüge seine heimliche Machtergreifung vorantreibe. Die Bestimmung des Teufels als Lügner, der als Engel des Lichts auftritt, lässt Müntzer dem Schönen gegenüber grundsätzlich misstrauisch und ablehnend gegenüberstehen.181 Schönheit ist bei Müntzer keine ästhetische Kategorie, son­ 172 

MSB 278,3–6. 252,10–13. 174  Der Mensch müsse „gar wol zusehn, das solcher figurn gleichnis in den gesichten oder trewmen mit allen yren umbstendigkeiten in der heiligen biblien bezeuget seint, auff das der teufel nit darneben einreysse und vorterbe die salbe des heiligen geistes mit yrer sussickeit […]“ (MSB 253,1–5). 175  Gott habe sich seit jeher in Träumen und Gesichten offenbart – hierfür gebe es in der Schrift diverse Beispiele (MSB 254,13–255,10). Wenn Gott seine Offenbarungstätigkeit auf tote Buchstaben beschränkte, „Wozu dienet dann die biblien von gesichten?“ (MSB 255,22). 176  MSB 278,37–279,7. 177  „Aber wenn der teuffel etwas wircken wil, so verraten yn doch sein faule fratzen und seine lugen gucken doch zuletzt hervor, dann er ist lugner, Joan. 8 [ Joh 8,44].“ (MSB 253,11– 13); „[…] der teüffel stet warlich nit in der warheyt, er kann seyner tück nit lassen […].“ (MSB 340,28 f.). 178  Vgl. MSB 249,26. 179  Vgl. MSB 304,25. 180  Vgl. MSB 249,25–27. 181  Im Unterschied zu seinen liturgischen Schriften ist das Wortfeld des „Schönen“ in den 173  MSB

182

IV. Gegenwartsverständnis

dern eine theologische, genauer gesagt: eine teuflische. Sie ist assoziiert mit ei­ ner illusionären Scheinwelt, die als Vorspielung des Teufels gedeutet wird. Die konstatierte Schein-Heiligkeit rückt für Müntzer den Motivkreis des Teufels als Engel des Lichts (vgl. 2 Kor 11,14) in das Zentrum seiner Teufelsvorstellung: 182 Der Teufel verstellt sich, um Böses gut erscheinen zu lassen, tritt auf in göttli­ chem Gewand und verbirgt seine Bösartigkeit unter dem Deckmantel der Liebe und Barmherzigkeit. Dies tut er auf vielfältige Weise: wenn er Gesetz und Gü­ tigkeit gegeneinander ausspielt, wenn er die Notwendigkeit des persönlich er­ fahrenen Leidens im stellvertretenden Leiden Christi für aufgehoben erklärt, oder wenn er unter Berufung auf die Schrift Offenbarungen außerhalb dersel­ ben leugnet. Mit der dominierenden Bestimmung des Teufels als Engel des Lichts wird das Problem der grundsätzlichen Unterscheidung von Gott und Teufel neuartig vi­ rulent. Die elementare Grundbestimmung, was göttlich und was teuflisch sei, ist nach Müntzer in der zeitgenössischen Wahrnehmung völlig verdreht: Teuf­ lisches umgibt sich mit frommem und göttlichem Schein,183 Göttliches scheint teuflisch.184 Die Verwechselbarkeit der Erscheinungsbilder Gottes und des Teu­ fels ist nur schwer zu durchschauen. Der Teufel als Verwirrer tut alles, um die Unterscheidbarkeit Gottes und des Teufels zu verunklaren, vermischt Böses mit Gutem, um das Ganze zu verderben. Dieses Verwirrspiel des Teufels konkretisiert sich für Müntzer beispielsweise in Luthers Diktum der zu übenden Rücksicht auf die Schwachen im Glauben als Erweis eines christlich gesinnten Geistes.185 Mit der Rücksicht auf die Schwachen, die eine konsequente Reformation unmöglich mache, wird Luther für Müntzer zum Verteidiger der Gottlosen.186 Er diene dem Teufel, der alles, was Gott eindeutig unterschieden haben wolle, ineinander menge und so die Trennung von Auserwählten und Gottlosen verhindere. Die Trennung von Auserwählten und Gottlosen aber sei für die Bewahrung der rechten Lehre und die Sicherstellung der Verehrung Gottes unerlässlich. Das Ausbleiben dieser Trennung gehe auf die Initiative des Teufels zurück und politisch-polemischen Schriften fast durchweg negativ konnotiert, siehe Spillmann: Täu­ schung und Wahrheit 291 f. 182  Das Engel des Lichts-Motiv begegnet in den Flugschriften Müntzers immer wieder: Vgl. MSB 218,33–219,2; MSB 234,1 f.; MSB 242,25–27; MSB 326,4 f.; MSB 330,26–331,1; MSB 339,27 f. 183  Für Müntzer vor allem der Gedanke des stellvertretenden Leidens Christi oder ein Offenbarungsverständnis sola scriptura. 184  Z. B. das heilsame Leiden oder die Geistoffenbarungen außerhalb der Schrift. 185  Vgl. z. B. WA 15; 218,6 f.; WA 10.3; 17,11. 186  MSB 327,23–328,3: „[…] ich wils an die gantze welt lassen, daß er den gotloßen schel­ men heüchelt, […] und will sy kurtzumb verthaedigen. Auß welichem dann klaerlich er­ scheynet, daß der doctor luegner nit wohnet im hauß Gottes, Psalm 14, darumb daß der gotloße durch inen nit verachtet, sonder vil gotforchtiger umb der gotloßen willen teüffel und auffrueirische geyster gescholten werden. Dyß weyß der schwartze kulckrabe woll.“

1. Fallbeispiele

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sei der entscheidende Grund für die Verderbtheit der Kirche.187 Wie man die Kranken von den Gesunden absondern müsse, um Ansteckungen und die Ver­ breitung der Krankheit zu verhindern, so müssten die Gottlosen von den Aus­ erwählten getrennt werden. Da die Gottlosen jedoch „unbekanth“ seien, sei es für die Gesundung der Christenheit zwingend erforderlich, genau zu unter­ scheiden und die Gottlosigkeit anzuzeigen: „Es muß hoechlich undterschaiden werden, nachdem die verfolger die pesten christen sein woellen.“188 Um die unter dem schönen Schein verborgene Gottlosigkeit aufzudecken, müsse das Gesetz Gottes wieder in Geltung gebracht werden. In Müntzers Ver­ ständnis ist das Gesetz durch Christus keineswegs aufgehoben,189 sondern bleibt notwendige Voraussetzung der Identifizierung und Abstrafung der Gottlo­ sen.190 Die Vermischung von Auserwählten und Gottlosen hat für Müntzer da­ her ihren argumentativen Vorlauf in der Missachtung des Gesetzes, welches für die Trennung von Auserwählten und Gottlosen unbetrügliche Unterschei­ dungsgrundlage sei.191 Die Unterscheidungsleistung des Gesetzes aber wolle der Teufel verwischen und spiele geschickt Gesetz und Gütigkeit gegeneinander aus – so lange, bis die Gottlosen gerechtfertigt seien.192 187  „Dyeselbige gifft kummet aus dem abgrunde, das eyn iglicher hurnhengestiger pfaff hat dye allerbetruglichten und allerboshafftigen fursten der teuffel, wie dann dye offenba­ runge Johannis ansagt. In dem machen sie dye schaff Gots alßo seher vorstrauet [Hes 34,5], do kein auff angesichte der kyrchen mehr ist. Denn es ist niemant do, der die gutigen absun­ derte von dem frischen hauffen, der unbekanth ist. Es ist auch keynn erkentnuß des pittali­ schen [pestalischen] unde gesunden, das ist, das niemandt achtunge hat, das die kyrche mit vorthumeten menschen vortirbt zcu boden und grunde.“ (MSB 501,6–15). 188  MSB 330,24 f. 189  Christus sei nicht gekommen, „das gesetz auffzuheben oder den pundt Gottes zerreis­ sen, sonder vil mer zu volfüren, erkleren und erfüllen.“(MSB 324,21 f.). 190  Die Auf hebung des Gesetzes predige nur derjenige, der von ihm nicht getroffen wer­ den will: „Du findest nit annders auff den heütigen tag, wann die gotloßen durchs gesetz beschlossen werden, sagen sy mit grosser leichtfertigkeit: Ha, es ist auffgehaben […]“ (MSB 325,22–24). 191  Die „guettigkeyt des son Gottes“ dürfe nicht gegen den „ernst des gesetzes“ ausge­ spielt werden, welches „von der straff wegen der geystloßen ubertreter (wiewol sye regenten sein [!]) nit auffgehaben, sonder mit dem allerhoechsten ernst volzogen werden soll […]“ (MSB 328,8–13). Die Strafgewalt des Gesetzes richtet sich gegen die Gottlosen, „auff daß der ernst des vatters die gotloßen christen auß dem wege rawme“ (MSB 330,16). 192  „Der teüffel hat gar listige tück wider Christum und die seinen zu streben, 2. Corin. 6 und 11. [2 Kor 6,15; 11,14], yetzt mit schmeichelender guetigkeyt, wie der Luther mit den worten Christi die gotloßen verthaetiget, yetz auch mit grymmigem ernst, fürzuwenden von der zeitlichen gueter wegen sein verderbliche gerechtigkayt; welichem doch der finger Christi, der heylig geyst, 2. Corint. 3. [2 Kor 3,3] nit den frewndtlichen ernst des gesetzs einbildet und den gekreützigten son Gottes durch dye aller ernste guettigkeyt zu eroeffnung goetliches willens entgegen helt mit vergleichung bayder, 1. Corin. 2 [1 Kor 2,6]. Der ver­ achtet das gesetz des vaters und heüchlet durch den allerthewristen schatz der guetigkeyt Christi und machet den vatter mit seinem ernst des gesetzs zu schanden durch die gedult des sones, Johan. 15. und 16. [ Joh 15,10; 16,15], und verachtet also den undterschayd des heyli­ gen geysts und verderbet eines mit dem andern also lange, das schir keyn urteyl auff erden

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IV. Gegenwartsverständnis

Gegen die von den Handlangern des Teufels, den Klerikern und Schriftge­ lehrten, betriebene Verwischung der klaren Unterscheidung von Auserwählten und Gottlosen193 hält Müntzer an deren rigoroser Trennung fest: Sein gesamtes reformatorisches Programm läuft zu auf ein radikales Entweder-Oder: Entwe­ der man zählt zu den Auserwählten – oder nicht; etwaige graduelle Abstufun­ gen existieren für Müntzer nicht, sondern sind Suggestionen des Teufels, der damit die gottgewollte Unterscheidung von Auserwählten und Gottlosen auf­ weichen wolle. Diese scheinheilige Harmonisierung von Unzusammengehöri­ gem ordnet sich ein in das Bestreben des Teufels, seine Unterschiedenheit von Gott zu verschleiern, um sich selbst die gottgebührende Verehrung der Men­ schen zuzueignen. Indem der Teufel sich als Engel des Lichts göttlich gebärde und Gott (vor allem in seinem Zorn) mitunter teuflisch scheine, verkehrten sich Gut und Böse so grundsätzlich, dass zwischen Gott und Teufel, Auserwählten und Gottlosen kaum noch unterschieden werden könne. Mit seiner Nivellierungsstrategie war der Teufel in der Vergangenheit enorm erfolgreich. Es gelang ihm, die Christenheit ohne sie es merken zu lassen nahe­ zu total zu verblenden und ihrem lebendigen Gott zu entfremden.194 Das Blend­ werk des schönen Scheins und die teuflische Verführung der Welt habe sich geschichtlich entwickelt und gesteigert; 195 in der reformatorischen Gegenwart habe sie nunmehr den Kulminationspunkt erreicht: „Also auch nichtsdesdoweniger ist bey unser veter und unser zeit die arme christenheit nach viel hoecher vorstocket und doch mit eynem unaußsprechlichen scheine goettlichs namens, Luce 21 [Lk 21,5], 2.Thimo. 3 [2 Tim 3,5], do sich der teufel und seyne diner hubsch mit schmucken, 2.Corin. 11 [2 Kor 11,13 ff.], ja also hubsch, das die rechten gottisfreunde domit verfurt werden und mit dem hoechsten vorgewanten fleyß kaum

bleibt, Hieremie 5. [ Jer 5,31], und das Christus allayn geduldig sey, auff daß die gotlosen christen ire brueder wol peynigten.“ (MSB 330,26–331,14) 193  „Aber des teuffels pfaffen runtzeln yre nasen, sie [die Gottlosen] balde zcu vorthumen, unde haben doch nicht das gerichte, das sie leukens, das es ein mensche haben kann.“ (MSB 503,13–15). Diese falsche Zögerlichkeit verteidige lediglich die Gottlosen: „Sie sprechen […]: Es kan niemant wissen, wer außerwelt oder verdampt sey. Ach ya, sie haben eyn solchen starcken glauben, der ist also mechtig gewiß, das er gantz und gar keynen verstand hat, denn allein die gottlosen zu vertaidigen.“ (MSB 290,10–18). Über ein derartiges Vorgehen habe Christus das Urteil bereits gesprochen, indem er auf der Grundlage des Gesetzes die Schei­ dung der Geister betrieben und die Schriftgelehrten als Teufel bezeichnet habe: „Der unge­ tadelte gottessone hat die eregeytzigsten schrifftgelerten dem teüffel mit bewerung verglei­ chet und uns durch das evangelion das urteyl zu richten gelassen mit verfassung seines unbe­ flegkten gesetzes, Psalm 18 [Ps 19,8 f.].“ (MSB 322,20–23). 194  Vgl. oben 115 ff. 195  Die allgemeine Verdorbenheit sei größer denn je (vgl. MSB 226,23–29), der Leicht­ glaube habe stetig zugenommen: „Noch wollen wir und konnen nicht sehen. Das macht der goetliche glaube, entsprungen von ungetrewen schrifftgelerten, welcher heutzutage mehr dann vom anbeginne (Got sey es geclagt) hoecher und hoecher unsinniger wirdt.“ (MSB 233,20–23). Vgl. zur Steigerung des Verfalls bis zur Gegenwart auch (MSB 226,23–29).

1. Fallbeispiele

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mercken muegen iren irthumb […] Dis macht alles die getichte heilickeit und das heuchlische entschuldigen der gotlosen feynde Gottis […].“196

Durch das Einebnen gottgesetzter Unterschiede sei der gegenwärtige Christen­ glaube völlig entstellt und dem Teufel genehm: „Ist doch unser glaube meher nach dem angesichte Lucipers und Sathanas […]“.197 Vor dem Hintergrund dieser Zustandsbeschreibung erweist sich die reforma­ torische Gegenwart eindeutig als Endzeit. Diese Gegenwartsdiagnose wird von Müntzer in zahlreichen biblischen Bildern verifiziert. Er erkennt die Vorzei­ chen der Endzeit nach Mt 24,4–31198 und appliziert die Gleichnisse vom Wei­ zen und dem Unkraut (Mt 13,24–30) 199 und der Zeit der Ernte (Mt 9,37) 200 auf die zeitgenössischen Zustände. In der vorfindlichen teuflischen Scheinheiligkeit des gedichteten Glaubens und der gleißenden Werke sieht er die Endzeitpro­ phezeiung aus 2 Tim 3,1 ff. erfüllt, nach welcher sich in den letzten Tagen der Verfall der Frömmigkeit unter der Gestalt des Guten vollziehe.201 Mit dem Hinweis auf 1 Tim 4,1 ff., wo angekündigt wird, dass die Welt in den letzten Zeiten teuflischen Lehren anhängen werde, charakterisiert Müntzer die eigene Gegenwart und fordert das entschiedene Handeln der Auserwählten ein, dieser teuflischen Gottvergessenheit entgegenzuwirken.202 Parallel zum historischen Höchststand der teuflischen Verblendung erkennt Müntzer aber bei den Auserwählten eine zunehmende Sensibilität für die wah­ ren Manifestationen des göttlichen Geistes. Inmitten einer im teuflischen Scheinglauben befangenen Christenheit, in der die Meinung vorherrsche, die Offenbarung sei abgeschlossen und Gott rede nicht mehr,203 verschaffe sich die lebendige Stimme Gottes zunehmend Gehör. So wird die Gegenwart zur Zeit der Wiederentdeckung der fortlaufenden Offenbarungstätigkeit Gottes: Wie für die Endzeit in Joel 3,1–4 vorhergesagt, vollziehe sich in der reformatori­ schen Gegenwart die „voranderung der weldt“204 durch die Ausgießung des 196 

MSB 242,22–243,2. MSB 502,19 f. 198  Vgl. MSB 242,29; 245,16; 283,30 . 199  Vgl. MSB 504,14; 388,3; 243,6–15.21; 161,2. 200  „Die zeyt aber der ernden ist alweg da, Mathei am 9. [Mt 9,37] Lieben brueder, das unkraut schreyt yetz an allen orten, die ernde sey noch nit. Ach, der verrheter verrhet sich selber.“ (MSB 310,33–311,3). Vgl. auch MSB 261,28–262,4; 504,14–22 . 201  So sei „[…] erfullet die weissagung Pauli, 2. Timo. 3 [2 Tim 3,1 ff.]. In den letzten tagen werden die liebhaber der lueste wol ein gestalt der guettickeit haben, aber sie werden vorleucknen ire krafft. Es hat kein ding auff erden ein besser gestalt und larve dann die getichte guete.“ (MSB 262,22–26). 202  „[…] in diesen gantz verlichen tagen, 1.Timo.4 […]“ (MSB 247,7 f.), in denen „[…] die edle krafft Gottis so gar jemmerlich geschendet und voruneret wirt […]“ (MSB 247,11 f.), müsse man „[…] den allerhoechsten fleiß vorwenden“ (MSB 247,8), um „solchem hinderlis­ tigen ubel zu begegnen“ (MSB 247,9 f.). 203  „Sie sprechen fast alle: Ey, wir sind gesettiget an der schrifft, wir woellen keyner of­ fenbarung glauben, Gott redet nicht mer.“ (MSB 297,32–35). 204  MSB 255,16. 197 

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IV. Gegenwartsverständnis

Geistes in Form von Träumen und Gesichten.205 Immer mehr Auserwählte empfingen diese unmittelbare Geistbelehrung und vernähmen immer deutli­ cher das lebendige Gotteswort, welches sich nicht länger unterdrücken lasse.206 Die grundlegende Veränderung der Welt, durch welche Müntzer die Gegen­ wart charakterisiert sieht, ordnet sich als letzte Phase in die geschichtliche Ab­ folge der verschiedenen Weltzeitalter ein. Es ist die Zeit der „zurtrenten welt“,207 des fünften Reiches aus Eisen und Ton, welches Müntzer in Auslegung von Dan 2,37 ff. zuendegehen sieht.208 Die Gegenwart sei so verderbt wie nie209 – Beleg dafür, dass das fünfte Reich der Welt bereits zerfällt. Der Teufel bediene sich der geistlichen und weltlichen Herren, um sein Reich zu sichern, doch könne er den Untergang nicht auf halten: „Do haben sich die reich des teufels mit tone beschmiret.“210 – eine zerbrechliche Tarnung, denn „[…] hubsch wirt der Herr do unter die alten toepff schmeissen mit einer eysern stangen, Psal. 2 [Ps 2,9].“211 Eisen und Ton, die beiden Substanzen des zertrennten fünften Reiches, werden keine dauerhafte Verbindung sein; der Zerfallsprozess ist in vollem Gange: Der Geist Christi als der Stein, der sich ohne des Menschen Zutun vom Berg gelöst habe (vgl. Dan 2,34), wachse an und sei mittlerweile mächtig und stark gewor­

205  „Er [Gott] wil sie [die Veränderung der Welt, vgl. Joel 3,1–4] in den letzten tagen anrichten, das sein nam sol recht gepreiset werden. Er wil sie von yrer schande entledigen und wil seinen geist uber alles fleisch außgissen und unser soene und toechter sollen weyssa­ gen und sollen trewme und gesichte haben etc.“ (MSB 255,16–20). 206  Hatte Müntzer zuvor die göttlichen Offenbarungen durch Träume und Gesichte theo­ logisch legitimiert, so charakterisiert er die eigene Gegenwart durch den Empfang solcher Gesichte: „Es ist war und weiß vorwar, das der geist Gottis itzt vilen außerwelten frumen menschen offenbart, eine treffliche unuberwintliche zukuenfftige reformation von grossen noethen sein, und es muß volfueret werden.“ (MSB 255,23–26). 207  Vgl. MSB 243,21. Die zertrennte Welt bezeichnet das fünfte, in Müntzers Gegenwart noch andauernde Weltzeitalter, welches nach Dan 2,33 durch aus Eisen und Ton gemischte Füße symbolisiert ist, auf denen die Statue der Weltreiche steht (zum Topos der zertrennten Welt vgl. Kim: Reich Gottes in der Theologie Thomas Müntzers 97 f.). 208  „Es ist dieser text Danielis also klar wie die helle sonne, und das werck geht itzdt im rechten schwangke vom ende des funfften reichs der welt. Das erst ist erkleret durch den gulden knauff, das war das reich zu Babel, das ander durch die silbern brust und arm, das war das reich der Medier und Persier. Das dritte war das reich der Krichen, wilchs erschallet mit seiner klugheit, durch das ertz angezeycht, das vierde das Roemische reich, wilchs mit dem schwert gewonnen ist und ein reich des zcwingens gewesen. Aber das funffte ist dis, das wir vor augen haben, das auch von eysen ist und wolte gern zwingen, aber es ist mit kothe geflickt […].“ (MSB 255,28–256,7). 209  Vor allem die Kleriker und Fürsten seien wie ein Haufen Aale und Schlangen inein­ ander verschlungen: „Man sicht itzt hubsch, wie sich die oele [Aale] und schlangen zusam­ men verunkeuschen auff einem hauffen. Die pfaffen und alle boese geistlichen seint schlan­ gen, wie sie Joannes, der teuffer Christi, nennet, Matthei 3 [Mt 3,7], und die weltliche herren und regenten seint oele, wie figurirt ist Levit. am 11. capitel von vischen etc. [Lev 11,9–12].“ (MSB 256,10–14). 210  MSB 256,14 f. 211  MSB 256,16 f.

1. Fallbeispiele

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den – ein Umstand, der vor allem von den Laien erkannt werde.212 Unauf halt­ sam rolle der Stein auf die Statue, welche die verschiedenen Weltreiche verkör­ pert, zu und werde sie in Kürze gänzlich zerschmettert haben.213 Um das fünfte Reich endgültig zu Fall zu bringen, müsse die teuflische Ver­ blendung der Welt erkannt und der Engel des Lichts als Teufel entlarvt werden. Die Wiederherstellung der Unterscheidbarkeit Gottes und des Teufels ist Mün­ tzer daher wesentliches Anliegen – gleichsam als Voraussetzung für die Durch­ setzung seines reformatorischen Programms: „absuenderung der gotlosen von den außerwelten.“214 Der Widerstand des Teufels zum Erhalt seines Reiches konkretisiere sich in­ nerweltlich vor allem in den Klerikern und Schriftgelehrten, deren Bestreben es sei, die Auserwählten die lebendige Stimme Gottes nicht hören zu lassen.215 Die Vernichtung dieser irdischen Handlanger des Teufels ist Müntzer daher unabdingbare Voraussetzung für den Übergang zum Friedensreich. Gegen alle Versuche des Teufels, die Unterscheidbarkeit von Auserwählten und Gottlosen zu verschleiern,216 ist es für Müntzer die zentrale, heilsgeschichtlich-endzeitli­ che Bedeutung tragende Aufgabe der Gegenwart, die Gottlosen anzuzeigen und zu vernichten. Diese Trennung der Auserwählten und Gottlosen herbeizuführen, sei das Amt der Obrigkeit. In seiner Probepredigt vor den sächsischen Fürsten 217 (1524) ruft er diese auf, sich Christus, dem Eckstein, der auf das Fundament der Statue zurolle, anzuschließen und sich klar zu positionieren: „Drumb, yhr thewren regenten von Sachssen, tretet keck auff den eckstein […]“218 Gegen die insbe­ sondere von Luther vertretene Auffassung, dass die weltliche Gewalt nach ver­ 212  „Dann

der stein, an hende vom berge gerissen [vgl. Dan 2,34], ist groß worden. Die armen leien und bawrn sehn yn viel scherffer dann yr [die Fürsten].“ (MSB 256,20 f.). 213  „Ja, der steyn ist groß, do hatt sich die bloede welt lange vor geforcht. | Er hat sie uberfallen, do er noch kleine war. Was sollen wir denn nw thun, weyl er so groß und mech­ tigk ist worden? Und weil er so mechtigk unvorzcoegklich auff die grosse seul gestrichen und sie bis auff die alten toepff [das letzte Reich aus Ton und Eisen] zcuschmettert hat?“ (MSB 256,25–29). 214  MSB 289,27–29. 215  Damit kämpft Müntzer zum einen gegen die Altgläubigen, zum anderen aber auch gegen die Lutherischen. 216  Die Schriftgelehrten sind für Müntzer „gute ertzheuchler“ (MSB 290,8), da sie die klare Grenze zwischen Gottlosen und Auserwählten zu verwischen suchten: „Sie sprechen auß dem bart, die vilglaubertgen leut: Es kan niemant wissen, wer außerwelt oder verdampt sey. Ach ya, sie haben eyn solchen starcken glauben, der ist also mechtig gewiß, das er gantz und gar keynen verstand hat, denn allein die gottlosen zu vertaidigen.“ (MSB 290,10–18). 217  Gemeinhin wird in der Forschung davon ausgegangen, dass Müntzer von den Fürsten zu einer Probepredigt zitiert worden sei, um sich über Müntzers Einstellung klarer zu wer­ den. Widerspräche dies aber nicht dem Grundsatz der kursächsischen Kirchenpolitik, sich als weltliche Obrigkeit nicht in geistliche Belange einzumischen? Wie dem auch sei, für Münt­ zer war es eine Probepredigt: Er wollte endlich wissen, wofür die Fürsten einstanden und ob er mit ihrer Unterstützung rechnen konnte (vgl. dazu Goertz: Müntzer 105). 218  MSB 256,29–257,1.

188

IV. Gegenwartsverständnis

nünftig-pragmatischen Maßstäben zur Sicherung des Friedens zu handeln habe und von der geistlichen Gewalt klar zu unterscheiden sei, insistiert Müntzer auf der unbedingten Pflicht der Obrigkeit, sich geistliche Belange zu eigen zu ma­ chen und die Gottlosen auszurotten – andernfalls dienten sie dem Teufel, der alles tue, die Gottlosen zu verteidigen: „Dann sie haben euch genarret, das ein yeder zun heylgen schwuer, die fursten seindt heydnische leuthe yres ampts halben, sie sollen nicht anders dann burgerliche einigkeyt erhalten. Ach, lieber, ja, do fellt und streycht der grosse stein [Christus] balde drauff und schmeist solche vornuenfftige anschlege zcu bodem, do er saget Matthei am 10. [Mt 10,34]: ‚Ich bin nicht kummen, frid zu senden, sonder das schwert.‘ Was soll man aber mit demselbigen machen? Nicht anders dann die boesen, die das evangelion vorhindern, weckthun und absundern, wolt yr anders nicht teuffel, sonder diener Gottis sein […].“219

Müntzer ruft die Fürsten auf, ihrem Auftrag und Amt entsprechend die Tren­ nung von Auserwählten und Gottlosen mit Gewalt herbeizuführen: „Solt yhr nw rechte regenthen sein, so muest yhr das regiment bey den wortzeln anhe­ ben und wie Christus befolen hat. Treibt seyne feinde von den außerwelten, dann yhr seyt die mitler dozu. Lieber, gebt uns keyne schale fratzen vor, das die krafft Gotis es thun sol an ewr zuthun des schwerts, es moecht euch sunst in der scheyden vorrus­ ten.“220

Für den Fall ihrer Weigerung wird den Fürsten ihre Entmachtung angedroht: Müntzer stellte die Fürsten vor die Wahl, entweder dieses Schwert selbst zu ergreifen oder durch das Schwert unterzugehen.221 Die Gottlosen störten die Beziehung Gottes zu seinen Auserwählten; da sie nunmehr durch die Anzeige des Geistes erkannt seien, müssten sie gemäß Röm 13,4 von der Obrigkeit vernichtet werden.222 Gegen die Ansicht, der Antichrist solle ohne Gewaltanwendung bekämpft werden, meint Müntzer, er könne und müsse mit dem Schwert vernichtet werden. Hierzu sei die historische Gelegen­ heit gekommen: Die Macht des Antichrist schwinde, er sei ängstlich und müsse jetzt niedergemacht werden wie die Widersacher Josuas beim Einzug ins gelob­ te Land. Wie Israel einstmals mit dem Schwert das gelobte Land eroberte, so nun die Auserwählten das Gottesreich, indem sie den Antichrist und dessen Handlanger gewaltsam vernichten: 219 

MSB 257,29–258,6. MSB 259,1–6. 221 „Wo sie [die Regenten] aber das nicht thun, so wirt yhn das schwerdt genommen werden, Danielis am 7. capitel [Dan 7,27], dann sie bekennen yhn also mit den worten und leugknen sein mit der that, Titum 1 [Tit 1,6]. […] Wo sie aber das widderspiel treiben, das man sie erwuerge on alle gnade […].“ (MSB 261,17–25). 222  „Drumb lasset die ubeltheter nit lenger leben, die uns von Gott abwenden, Deut. 13. [Dtn 13,6], dann ein gottloser mensch hat kein recht zcu leben, wo er die frumen vorhindert. Exodi am 22. capitel [Ex 22,2] saget Got: ‚Du solt die ubeltheter nicht leben lassen.‘ Das meynet auch sant Paulus, do er vom schwerdt saget der regenten, das es zcur rache der boesen vorlihen sey und schutz der frumen, Roma. am 13. capitel [Röm 13,4].“ (MSB 259,13–19). 220 

1. Fallbeispiele

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„Das aber unser gelerten herkommen und sagen mit dem Daniel mit yhrer gottlosen, gestollenen weise, das der widderchrist soll an handt vorstoeret werden, ist also viel. Er [der Antichrist] ist schon vorzcaget, wie das volck [der Kanaaniter] war, do die außer­ welten ins gelobte landt wolten, wie Josua schreybet [vgl. Jos 5,1]. Er [ Josua] hat gley­ chwol in der scherffe des schwerts yrer nit verschonet.“223

Das Schwert sei den Auswerwählten zur Errichtung des Gottesreiches ein Mit­ tel, so notwendig wie die Nahrungaufnahme zum Überleben: „Sie haben das lant nicht durch das schwerdt gewonnen, sonder durch die krafft Gottis, aber das schwerdt war das mittel, wie uns essen und trincken ein mittel ist zu leben. Also noetlich ist auch das schwerdt, die gottlosen zu vertilgen, Rom. am 13. [Röm 13,4].“224

Die Gegenwart sei somit nicht die Zeit der Gnade, sondern (nach alttestament­ lichem Vorbild) die Zeit des Gerichts über die Gottlosen 225 – „Anders mag die christliche kirche zcu yrem ursprung nicht widder kummen.“226 Hegte Müntzer zunächst noch die Hoffnung, die Obrigkeiten würden sich für sein Reformationsmodell in Dienst nehmen lassen, schien es ihm mit dem Fortgang der Ereignisse immer deutlicher, dass eine konsequente Reformation nicht mit, sondern nur gegen die herrschenden Obrigkeiten zu bewerkstelligen sei. Was in der „Fürstenpredigt“ noch als Ermahnung zur Umkehr formuliert war, wird in der „Entblößung“ zum Befund: Die Obrigkeit habe ihren Auftrag korrumpiert, statt die Frommen schütze sie die Gottlosen; deshalb werde Gott ihre Herrschaft zunichte machen und sie verwerfen.227 In der Folge hielt Müntzer nach anderen Trägern zur Durchsetzung der Tren­ nung von Auserwählten und Gottlosen Ausschau. Mit den Anfängen der Bau­ ernunruhen in Süddeutschland glaubte er fündig geworden zu sein: Hatte er schon im Prager Sendbrief (1521) nur noch auf einen Funken gewartet, der das die Gottlosen verzehrende Feuer entfache,228 so sah er mit dem Bauernkrieg die 223  MSB

261,6–11. 261,12–16. 225  Die Gottlosen (auch die Regenten!) solle man„[…] erwuerge[n] on alle gnade wie Ißkias [vgl. 2 Kön 18,22], Josias [vgl. 2 Kön 23,5], Cirus [vgl. 2 Chr 26,22 f.], Daniel [vgl. Dan 6,27], Helias [vgl. 1 Kön 18,40], 3 Regnum 18, | die pfaffen Baal vorstoeret haben.“ (MSB 261,25 f.). 226  MSB 261,27 f. 227  „[…] die gewaltigen hat er vom stul gestossen, darumb das sie sich unterwinden, den christenglauben zu regiren und woellen in meysterlich anrichten, welches ankunfft sie nym­ mermehr gedencken zu lernen; woellen es auch niemands gestatten zu lernen, und woellen gleychwol alle leuet verurteilen, und allein darumb die oebersten sein, das man sie vor allen leüten foercht, anbete, in ehren halte; und woellen doch daneben das evangelion auffs aller­ schendtlichest verketzern, wie sie ymmer erdencken muegen. Da wirdt die rechte arte Hero­ dis, des weltlichen regiments erkleret, wie der heylig Samuel 1. regnum am 8. mit dem rechten durchleuechtigsten Hosea am 13. weyssagt: ‚Gott hat die herren und fuersten in seynem grymm der welt gegeben, und er wil sie in der erbitterung wider weg thun.‘“ (MSB 284,17–285,3). 228  „Fult mahn dann nicht eyn cleines funckeleyn, das schier wil auffwachen zcum zcun­ derfewer? Ja man fulitz unde ich fules auch.“ (MSB 503,25 f.). 224  MSB

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IV. Gegenwartsverständnis

Zeit der Entscheidung gekommen: Entweder die Obrigkeiten bekehrten sich, oder sie seien dem Untergang geweiht.229 Im Aufruhr der Bauern glaubte Mün­ tzer Dan 7,27 verwirklicht; das Volk Gottes werde in Kürze die Macht überneh­ men und das Gottesreich errichten: „[…] das volck wirdt frey werden und Got will allayn der herr daruber sein.“230 Müntzer sah im Bauernkrieg den Beginn des endzeitlichen Geschehens, in welchem der Wille Gottes letztgültig zur Durchsetzung gelange.231 Ihm ging es nicht darum, einzelne Forderungen der Aufständischen, sondern die Trennung von Auserwählten und Gottlosen zu realisieren. In den Aufständischen sah er Bundesgenossen im Kampf gegen die Gottlosen, mit deren Vernichtung sich die „voranderung der weldt“232 vollzie­ hen werde. Gott selbst rufe die Auserwählten zum Handeln, nun müsse Folge geleistet werden.233 Die Ereignisse des Bauernkrieges erhielten bei Müntzer eine „kosmische Dimension“,234 die letztlich die Herrschaft des Teufels brechen und den begangenen Betrug an den Auserwählten rächen werde. Die gegenwärtige Zeit sei noch durch „ergernus“ gekennzeichnet, doch folge für die Auserwähl­ ten in Kürze die „besserung“.235 Die Vervollkommnung der Christenheit, wel­ che die der Apostelzeit noch weit übertreffen werde, stehe kurz bevor.236 In der unmittelbaren Gegenwart jedoch leiste der Teufel noch erbitterten Widerstand; dabei gehöre es zur Verteidigungsstrategie des Teufels, die Münt­ zersche Lehre verdächtig zu machen. Der Teufel wisse sich durch Müntzers Werk in Gefahr und wehre sich in Verzweiflung – wiederum indem er Gut und Böse zu verkehren suche und durch seine Handlanger den Teufelsverdacht auf 229 

Vgl. z..B. MSB 454–456; MSB 467–469. MSB 343,13 f. 231 Vgl. Schwarz: Die apokalyptische Theologie 88. 232  MSB 255,16. 233  In eindringlichen Aufrufen versuchte Müntzer, den Aufruhr zu schüren und weitere Bevölkerungsteile für den großen Kampf zu mobilisieren. So z. B. im Brief an die Bergknap­ pen: „Die reynen forcht Gottes zuvor, lieben brueder. Wye lange slafft yr […]? Das sag ich euch, wolt ir nit umb Gottes willen leyden, so must ir des teufels merterer sein. Darumb huett euch, seyt nit also vorzagt, nachlessig, schmeychelt nit lenger den vorkarten fantasten, den gottloßen boßwichtern, fanget an und streytet den streyth des Herren! Es ist hoch zeyth […] Das ganze deutsche, franzosisch und welsch land ist wag, der meyster will spiel machen, die bößwichter mussen dran. Zu Fulda seynt in der osterwochen vier stiefftkirchen vorwu­ estet, die pauern im Klegaw und Hegaw Schwarzwald seint auf, dreymal tausent stark, und wirt der hauf ye lenger ye grosser. […] Nuhn dran, dran, dran, es ist zeyt, die boßwichter seint frey vorzagt wie die hund. […] Dran, dran, dyeweyl das feuer hayß ist. Lasset euer schwerth nit kalt werden von blut, lasset nit vorlehmen. […] Dran, dran, weyl ir tag habt, Gott gehet euch vor, volget, volget! […] Ir solt diese grosse menge nit scheuen, es ist nit euer, sondern des herrn streyt.“ (MSB 454,1–456,1). 234  Vogler: Müntzer und die Aufstandsbewegung 130. 235  MSB 311,3–11: „Die recht yetzige christenheyt wirt den rechten schwanck nach allem ergernus gewinnen, Math. 18 [Mt 18,7 ff.], denn die besserung folgt der ergernus nach der erstatung des schadens und der peyn des unglaubens.“ 236  MSB 311,10–12: „Das evangelion Math. 8 [Mt 8,11 f.] wirt vil hoeher inß wesen ku­ men denn zu den zeytten der aposteln.“ 230 

1. Fallbeispiele

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seine Gegner zurückwerfe.237 Das ungerechte Verteufeln der eigenen Person und Lehre wirft Müntzer namentlich Luther vor: Dass Müntzer bis zu seiner Tätigkeit in Allstedt meist schon nach kurzer Zeit vertrieben wurde, war Luther in Anlehnung an Mt 12,43 Erweis des teuflischen Ursprungs des Müntzerschen Geistes.238 Durch die Verleumdung, Müntzer „offentlich einen teüffel“ ge­ scholten zu haben, wie Luther mit allen seinen Widersachern verfahre, schreie der „Kolkrabe“ jedoch lediglich „seinen aygen namen auß.“239 Das Wort Gottes müsse Verfolgung leiden; wenn Luther, der dies schließlich mitveranlasst habe, Müntzer deswegen verteufelt, verspotte er den Heiligen Geist und gebe sich selbst dadurch als „des teüffels sicherlicher ertzkantzler“ zu erkennen.240 Durch den Teufels-Vorwurf gegen Müntzer versuche Luther, seinen Namen rein zu waschen und die ihm gemachten Vorwürfe auf Müntzer zu projizieren, um dem Widerstand und dem Ärger der Welt zu entgehen – eine Methode, mittels derer der Teufel seine Herrschaft sichert: „Nun du vernympst, es moechte zu tieff einreyssen, so wiltu deinen namen, da er am ergsten ist, einem andern, dem die welt vorhyn feyndt ist, auflegen und dich schoene brennen, wie der teüffel pflegt, daß ja nyemandt deiner poßheyt offenlich innen wer­ de.“241

Das Verteufeltwerden gehört damit für Müntzer konstitutiv zu seiner Teufels­ vorstellung dazu, da der Teufel unentwegt bestrebt sei, die Unterscheidung von Gott und Teufel zu verunklaren, indem er sich auf Kosten der Auserwählten „schöne brennt“. Vor diesem Hintergrund ist Müntzer die eigene Verteufelung geradezu Gradmesser der Rechtmäßigkeit seiner Lehre und Bestätigung der eigenen Sendung. Luther hatte in seinem Sendbrief an die Fürsten zu Sachsen mit Blick auf Müntzer geschrieben: „Das glueck hat allwege das heylig Gottes wort, wenns auffgeht, das sich der Satan dawider setzt mit aller seyner macht.“242 In seiner „Hochverursachte[n] schutzrede“ nimmt Müntzer gezielt diesen Ge­ danken auf und wendet ihn gegen Luther: Christus anredend, antwortet er: 237  „Ach, lieben herren, seyt mit ewerm tollen glauben nit also kuene, das ir alle leut (one euch allein) dem teufel gebt, wie ir denn stets gewont seyt. Denn das verteufeln hebt sich nu auffs hoechst an durch die wuchersuechtigen evangelisten, die iren namen also hoch auff­ werffen. Sie meynen, es sey keyner ein christ, er mueß iren buchstabischen glauben anne­ men.“ (MSB 311,16–27). 238  Luther über Müntzer in Allstedt: „Also nach dem der ausgetrieben Satan itzt eyn jar odder drey ist umbher gelauffen durch dürre stette und ruge gesucht und nicht gefunden, hat er sich ynn E. F. G. Fürstenthum nydergethan und zu Alstett eyn nest gemacht […]“ (WA 15; 211,11–14). 239  MSB 338,2–5. 240  MSB 338,11–15: „Christus saget Matthei 10. und 23. [Mt 10,23; 23,34]: ‚So sye euch in einer stat verfolgen, fliehet in dye andern.‘ Aber dyser pott, des teüffels sicherlicher ertz­ kantzler, saget: So ich vertriben pin, sey ich ein teüffel, und er wils beweren, Matthei 12. [Mt 12,43], und erlangt den verstandt wider den heyligen geyst, den er bespottet […]“ 241  MSB 332,12–16. 242  WA 15; 210,8–10.

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IV. Gegenwartsverständnis

Dein Geist hat „vor den gnadlossen lewen, den schrifftgelerten, allezeit soelich glück gehabt, das er mueste der allerergste teüffel sein, Joh. 8. [ Joh 8,51] […].“243 Durch den von Luther an ihn gerichteten Teufels-Vorwurf sieht sich Müntzer in direkter Christus-Nachfolge: Wie einst Christus, so müsse nun auch Münt­ zer Verteufelung und Verfolgung leiden und teile so mit ihm das gleiche Schick­ sal.244 Der Umstand, dass Müntzer von seinen Gegnern verteufelt wurde, kon­ stituierte in entscheidender Weise sein Sendungsbewusstsein in der Nachfolge Christi als Streiter gegen den Teufel.245 Die Illusion des schönen Scheins als solche zu kennzeichnen, den Engel des Lichts als Teufel zu entlarven und Gott und Teufel wieder in rechter Weise zu unterscheiden, sieht Müntzer als seinen gottgegebenen Auftrag. Er versteht sei­ nen reformatorischen Dienst als Kampf gegen die Trugbilder des Teufels, des­ sen Machenschaften aufgedeckt werden müssten. Um der „armen zerstraw­ te[n] christenheyt“246 wieder aufzuhelfen, müsse er selbst dem „auffstehend übel zuvorkumen“247 und „den vergifften schaden, der also tief eingerissen, greuelich entdecken.“248 Er will den desolaten Zustand der Christenheit anzei­ gen, indem er das Loch in der Tempelwand, durch das einst die Sünden Israels sichtbar wurden (vgl. Hes 8,7), in der reformatorischen Gegenwart noch wei­ ter aufreißt: Er tritt an, „das loch des vorhoffs weytter zu machen“249 – einge­ denk des absehbaren Widerstands: „mit erwartung alles uebels, welichs die gottloß artt der verterber pflegt zu leysten den dienern der christenheyt […].“250 Er sieht sich in einer prophetischen Linie mit Hesekiel,251 Jeremia,252 243 

MSB 322,17 f. Christus den jüdischen Schriftgelehrten als Teufel galt, so werde nun Müntzer von den wittenbergischen zum Teufel gemacht: „So sy nun dich, unschuldigen hertzogen und getroesten seligmacher, also lesterlich haben beelzebub geheyssen, wievil meer mich, deinen unverdrossen landtßknecht […]“ (MSB 323,21–23). Diese Entsprechung hebt Mün­ tzer wiederholt hervor: „O Christe, ich schaetze mich unwirdig soelliches kostparlichen leydens, mit dyr zu tragen in gleicher sach […].“ (MSB 332,1 f.). 245  Dies bleibt gegen Hinrichs festzuhalten, der aus der Tatsache, dass Müntzer sich über das Verteufeln der eigenen Person durch Luther beschwert, auf eine „deutliche Nichtachtung der Teufelsvorstellung bei Müntzer“ schließt (Hinrichs: Luther und Müntzer 169). Die Klage über die eigene Verteufelung erweist jedoch keineswegs die Nichtigkeit der Teufels­ vorstellung bei Müntzer, sondern wird im Gegenteil zum fundamentalen Bestandteil seines Kampfes gegen den Teufel, welcher die Auserwählten stets der Teufelsbundschaft zu ver­ dächtigen pflege. 246  MSB 267,31 f. 247  MSB 268,6. 248  MSB 269,20–22. 249  MSB 268,26 f. Anspielung auf Hes 8,7, wo der Prophet durch ein Loch in der Wand die Sünden Israels sah. Um den Irrglauben seiner Zeit schonungslos aufzudecken, will Mün­ tzer das Loch noch weiter aufreißen. 250  MSB 268,27–30. 251  Vgl. MSB 268,26 f. 252  Vgl. MSB 267,14. 244  Wie

2.  Innere Kohärenz

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Elia,253 Daniel,254 Johannes dem Täufer 255 und sogar Christus selbst.256 „Auß der hoelen Helie, welches ernst niemant verschonet“,257 wendet er sich gegen jede Art von Kompromiss-Theologie, die die gottgewollte klare Unterschei­ dung von Gut und Böse verwische. Als Christi „unverdrossen landtßknecht“258 betreibt er die Sammlung der Auserwählten und die Scheidung von den Gott­ losen. Die teuflische Vermischung von Gut und Böse gedenkt er „mit dem hammer“259 zu zerschlagen. In Auslegung von Mt 13,24–30 habe Gott im Verlauf der Kirchengeschichte um des Weizens willen auch das Unkraut wachsen lassen. So seien die vom Teufel gesäten Irrtümer bislang geduldet worden; zur Erntezeit aber werde das Unkraut als solches erkannt und vom Weizen getrennt.260 Indem das „unkraut“ allerorten schreie, diese Zeit sei noch nicht gekommen, verrate es sich nur selbst 261 – die Zeit der Ernte aber sei unabwendbar angebrochen. Müntzer selbst sieht sich als endzeitlicher Schnitter, gemietet zur Vernichtung der Gottlosen: „Dye zceyt der ernde ist do! Drumb hat mich Goth selbern gemit in seyn ernde. Ich habe meyne sichel scharff gemacht […].“262

2.  Innere Kohärenz Wie anhand der Fallbeispiele von Stifel und Müntzer deutlich wurde, stellt die Verschiedenheit der theologischen Ansätze die Rede von einer inneren Kohä­ renz der reformatorischen Bewegungen auf eine harte Probe. Im Folgenden sollen verschiedene Aspekte des frühereformatorischen Gegenwartsverständnis­ ses thematisiert werden, um den Merkmalen einer inneren Kohärenz auf die Spur zu kommen. 253 

Vgl. MSB 322,6. Vgl. MSB 242 ff. 255  Vgl. MSB 296,27 ff. 256  Vgl. MSB 323,21–23. 257  MSB 322,6. Gemeint ist die Höhle des Elia, in der er sich versteckte, nachdem er die Baalspriester umgebracht hatte, vgl. 1 Kön 19,9 f. Dass die Flugschrift mit dieser symboli­ schen Ortsangabe erschien, hatte zudem den Vorteil, den Drucker nicht zu gefährden. 258  MSB 323,23. 259  MSB 267,14. Anspielung auf Jer 23,29, wo das Wort Gottes mit einem Hammer ver­ glichen wird, der Felsen zerschmettert. 260  „Solche [teuflischen, vgl. Z. 7] yrthumer haben geschen musse, auff das aller men­ schen, der auserwelten und der vortumpten wercke haben also must ins wesen komen, wan zcu unser zceit, in welcher Got will absundern den weussen von unkrauth [vgl. Mt 13,30], in dem das man wie im hellen mittag magk greiffen, wer dye kirche alßo lange vorfuret habe. Es hat alle buberey uff das allerhochst must an tagk komen.“ (MSB 504,12–17). 261  MSB 310,35–311,3: „Lieben brueder, das unkraut schreyt yetz an allen orten, die ern­ de sey noch nit. Ach, der verrheter verrhet sich selber.“ 262  MSB 504,18–20. 254 

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IV. Gegenwartsverständnis

Zunächst soll gefragt werden, inwiefern die paradigmatisch an Stifel und Müntzer konturierten Offenbarungsverständnisse einem neuen, spezifisch re­ formatorischen Gegenwartsverständnis Ausdruck verleihen und zum Ausgangs­ punkt einer umfassenden Enttarnung des Teufels werden (2.1). Die Deutung des Gegenwartsgeschehens als Wiederentdeckung der Offenbarung (2.1.1) kor­ respondiert mit der Wahrnehmung einer veränderten Grundcharakteristik des Teufels, infolge derer die Erfordernis der grundlegenden Unterscheidung von Gott und Teufel (2.1.2) neuartig virulent wird. Die neuen Offenbarungsverständnisse sind mit der reformatorischen Vorstel­ lung von einer Provokation des Teufels (2.2) originär verbunden. Dabei wird zu zeigen sein, inwiefern diese Vorstellung in den Kern des frühreformatorischen Selbstverstänsdnisses ragt und gerade das Empfinden der Kulmination der Teu­ felsaktivität (2.2.1) zur Grundlage des frühreformatorischen Sendungsbewusst­ seins (2.2.2) wird. Vor dem Hintergrund von Enttarnung und Provokation des Teufels scheint den reformatorischen Zeitgenossen ihre Gegenwart in umfassender Weise als Endzeit qualifiziert (2.3). Diese heilsgeschichtliche Verortung gründet auf mannigfaltigen Zeichen (2.3.1), wobei den Antichristvorstellungen (2.3.2) auf­ grund der ihnen von den Zeitgenossen beigemessenen außerordentlichen Evi­ denz innerhalb des Zeichenkonglomerats besondere Aufmerksamkeit zu wid­ men ist. In diesem Kontext sollen verschiedene Typen von Antichristbegriffen konturiert und untersucht werden, wie sich die reformatorischen Antichristvor­ stellungen in Kontinuität und Diskontinuität zu den überkommenen ausbilden und welche Komponenten genuin reformatorische Innovationen darstellen. Die im Rahmen des Schemas von biblischer Verheißung und endzeitlicher Erfül­ lung (2.3.3) vorgenommene Gegenwartsdiagnostik basiert auf einem von den reformatorischen Zeitgenossen konstatierten einzigartigen zeichenhaft-verwei­ senden Charakter der Gegenwart, vor dessen Hintergrund reformatorisches und altgläubiges Gegenwartsverständnis in scharfe Konkurrenz treten. Die reformatorische Endzeitgewissheit lässt das entschiedene Bekenntnis des Einzelnen unausweichlich werden (2.4). Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen soll untersucht werden, inwiefern die reformatorischen Bewegungen eine neuartige Beziehung zum Teufel konstituieren, in deren Konsequenz die Un­ vertretbarkeit des Teufelskampfes (2.4.1) liegt, derzufolge jeder Christ coram diabolo bekenntnisfähig sein muss. Zum anderen soll untersucht werden, wie in den Flugschriften die Positionierung im Meinungsstreit und die konsequente Entscheidung für die reformatorische Lehre eingefordert wird (2.4.2) und in­ wiefern die Teufelsvorstellungen im Rahmen dieser persuasiven Intentionalität funktionalisiert werden. Auf der Kontrastfolie der Vergangenheit als Zeit der Teufelsherrschaft neh­ men die reformatorischen Zeitgenossen ihre Gegenwart als kurze Zwischenzeit

2.  Innere Kohärenz

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(2.5) wahr: Noch in der Auseinandersetzung mit dem Teufel befindlich, aber angelegt auf baldige Vollendung durch die Vernichtung des Teufels.

2.1  Gegenwart als Enttarnung des Teufels 2.1.1  Die Wiederentdeckung der Offenbarung Die Herausbildung der reformatorischen Offenbarungsverständnisse steht mit dem Verständnis der eigenen Gegenwart in konstitutivem Zusammenhang: In signifikantem Unterschied zur altgläubigen Wahrnehmung wird der Gegen­ wart eine herausgehobene heilsgeschichtliche Qualität zugesprochen als Zeit, in der sich die Beziehung zwischen Gott und Mensch grundlegend erneuere. Nachdem die Vergangenheit unter der Signatur der Teufelsherrschaft stand und der Teufel durch die Sendung des Antichrist über mehrere geschichtliche Etappen stark und mächtig geworden war, beginne in der reformatorischen Gegenwart durch die erneuerte Predigt des Evangeliums die Phase der Schwä­ chung und Vernichtung von Teufel und Antichrist.263 Zunächst aber müsse die teuflische Verstrickung der Vergangenheit er- und bekannt werden: „Alleyn unnd eynnigk stehet unßer aller heyl und gesuntheyt in dem, das wir unßer grosse kranckheyt bekennen, unnd darumb mogen wir wol sprechen, O gutiger gott, wie lanng wollen wir blyndt, doricht und verstockt bleyben, Wollen wir noch unßern untrewen vatter den teufel nit recht lernen erkennen […].“264

Dies werde nunmehr wieder möglich, da Gott seine Offenbarung noch einmal neu ergehen lasse: Im Gegensatz zur Vergangenheit als Zeit der Teufelsherr­ schaft werde in der Gegenwart der Blick wieder frei für das ursprüngliche Evangelium, welches, gereinigt von allem Menschenwort und teuflischer Ver­ fälschung, nunmehr wieder zu neuer Klarheit gelange und die Irrtümer der Vergangenheit kenntlich mache: „Yetz kompt es an tag, so man das wort gots in der biblia widerumb fürnimpt, wie fast vnd vil man bißher geirrt hat […].“265 263  Vgl. die Einordnung der reformatorischen Gegenwart als Zeit der beginnenden Ver­ nichtung des Antichrist: „Und das ist unwidersprechlich schon angefangen und ist das letst alter, doryn der anthicrist wider schwach wirt. Dann der herr Cristus wirt in, wie Paulus sagt, mit dem gaist seines munds, das ist durch die predig des heyligen euangelion, wider todten und austillgen [2 Thess 2,8].“ (Osiander: Ratschlag 369,8–11). 264  Cronberg: Christliche Schriften 57 f. 265  Eberlin: Falschscheindende Geistliche 75. Vgl. auch: „Das alles leeret das exem­ pel gegenwertiger zeit, darinn augenscheinbar ist worden durch zukunfft goetlichs worts, wie ain grosse hynlaessykait vnd schlaff gesein ist in vnsern vorfarenden, das sy so grausame verfuerung haben lassen eynreyssen […].“ (Eberlin: Falschscheinende Geistliche 44). Das Evangelium werde in der Reformationszeit nach Jahrhunderten der Verdunkelung nun­ mehr wieder rein und ohne menschliche Zusätze gepredigt: „Aber mercklich erbarmet sich got vber die waelt zu vnseren tagen do ewangelische fryheit lüchtet, vnd menschlich gesatz in irem grad abgestossen wirt.“ (Eberlin: Bundesgenossen 22). Vgl. zudem z. B. Gengen­ bach: Angesichts des „[…] abgang[s] der ewangelischen leer vnd gebotten, vnd auffgang der

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IV. Gegenwartsverständnis

In diesen Irrtum waren die Menschen aus eigenem Verschulden gelangt; doch war ihre teuflische Verblendung so stark, dass sie sich nicht selber wieder daraus befreien könnten – Gott müsse eingreifen und tue dies: Besonderes die frühe Reformationszeit war getragen von der Überzeugung, dass Gott in seiner Of­ fenbarung noch einmal unmittelbar an die Gläubigen herantrete und das Heil noch einmal neu erfahrbar werden lasse. Diese Wiederentdeckung des Evange­ liums ist also ein Gnadengeschenk Gottes, durch das er die Gläubigen ihre teuf­ lische Befangenheit erkennen lehrt und die Teufelsdiener abstrafe: „Aber yetzt zu vnsern zeytten hat sich Got vnser erbarmt, sein wort vns geschickt, zu erleuchtung vnd erloesung aller außerwelten, ym Antichristischen regiment gefangen, vnd zur straff des antichrists vnnd seyner anhangigen […].“266

Immer wieder wird dabei toposartig die besondere heilsgeschichtliche Qualität der Gegenwart als Zeit der Entlarvung des Teufels hervorgehoben: „Der allmechtig barmhertzig got hat einnig auß seyner gnadenn, unns, tzu dißenn un­ ßern tzeytenn das hymmellisch ewangelisch liecht gesendet, dardurch viler menschenn hertzen erleuchtent seyndt, dardurch dem teuffell alle seyne boßheyt uffgedeckt wor­ denn, das sollichs einn yglicher mensch sehen unnd greyffen mag, unnd wir die da sol­ ten sein gewest die wercktzeug gottes, seyndt wordenn wercktzeug des teufels […].“267

– erst die Wiederentdeckung der Offenbarung mache die umfassende Enttar­ nung des Teufels überhaupt wieder möglich. Diese Wiederentdeckung der Offenbarung wurde zunächst allgemeinrefor­ matorisch gegen das altgläubige Traditionsprinzip zur Geltung gebracht, doch brachen mit dem Fortgang der Ereignisse bald binnenreformatorische Differen­ zen im Offenbarungsverständnis auf. Die Wiederentdeckung der Offenbarung vollzog sich für die bibliozentrischen Richtungen als Wiederentdeckung der Schriftoffenbarung, für die spiritualistischen Richtungen als Wiederentde­ ckung der Geistoffenbarungen – eine Differenz, die in das Empfinden einer totalen Gegensätzlichkeit mündete. In der Wahrnehmung der bibliozentrischen Richtungen gefährdeten auch die spiritualistischen Richtungen die Exklusivität des Schriftprinzips: So ist z. B. für Luther die Müntzersche Hochschätzung des Geistes untrennbar mit der Geringschätzung der Schrift verbunden. Die von Müntzer vorgenommene Er­ gänzung des Schriftprinzips durch die Annahme subjektiver Geistbegabung kommt für Luther der Behauptung der Insuffizienz der Schriftoffenbarung menschlichen satzungen wider die leer Christi, so sind nach meim beduncken die zyt oder tag von denen der geyst sagt jetzund gar nach erfült. Vrsach halber, dz das liecht der ewan­ gelischen warheit wider haer für tringt, vnd die finsternüß der irrigen geister vnd tüfelschen lerer wider zu ruck getriben wirt.“ (Gegenbach: Bürger 198,23–29). Vgl. auch die Flug­ schrift Triumphus veritatis 196 ff. 266  Eberlin: Zuschreiben 131. 267  Cronberg: Christliche Schriften 58.

2.  Innere Kohärenz

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gleich – wie das altgläubige Traditionsprinzip sei auch das Geistprinzip ein An­ schlag des Teufels, um die Schrift als alleinige Offenbarungsquelle zu entwer­ ten. Für Luther ist das spiritualistische Offenbarungsverständnis im Ergebnis dem römischen Traditionsprinzip verwandt, doch gehe es insofern gar darüber hinaus, als die Spiritualisten es nicht bei Umdeutung und Überfremdung der Schrift beließen, sondern die Schrift gänzlich abtäten und einzig subjektive Geisteingebungen für verbindlich erklärten.268 Wenn sich aber der Geist Gottes fortwährend offenbare, wären Schrift und Predigtamt überflüssig – eine Konse­ quenz, die Müntzer, der „luegen geyst“269, nicht sehe.270 Deshalb Luthers erbit­ terter Vorwurf: „Er [Müntzer] will die schrifft und das muendlich Gottes wort auff heben […].“271 Die von der Schriftoffenbarung gelöste Geistbegabung sei, so stellt Luther ironisch fest, prinzipiell vor Irrtümern gefeit; 272 dieses selbstherr­ liche Offenbarungsverständnis verachte die äußere Komponente des Wortes Gottes und beraube die Schrift ihrer hermeneutischen Funktion als „vorlaufft des geysts“.273 Umgekehrt sahen die spiritualistischen Richtungen im Schriftprinzip ledig­ lich einen neuen Anschlag des Teufels, mit dem er die in der Gegenwart ange­ brochene Rückgewinnung der Offenbarung Gottes hindern wolle. Namentlich für Müntzer war die reformatorische Gegenwart die Zeit der Wiederentde­ ckung des Geistes, der sich in Träumen und Gesichten mitteile. Gegen den steten Verfall der Christenheit tritt er ein für die Resensibilisierung für das ungebundene Wirken des Geistes. Dieses Wirken, dessen immer mehr Auser­ wählte gewahr würden, finde auch außerhalb der Schrift in unmittelbarer Geistbelehrung statt.274 Die Schriftgelehrten hingegen diffamierten die Geist­ 268  Die „Papisten“ verfälschten die Schrift, ohne sie zu verwerfen (vgl. Luther: Offenbarung des Endtchrists G2a), die Spiritualisten hingegen lösten sich komplett von der Schrift (vgl. WA 15; 211,27–29). 269  WA 15; 216,28 f. 270  „Ja es wundert mich, wie sie yhrs geysts so vergessen und woellen die leut nu muend­ lich und schrifftlich leren, so sie doch rhuemen, es muesse eyn iglicher Gottes stym selbst hoeren, und spotten unser, das wyr Gottes wort muendlich und schrifftlich fueren, als das nichts werd noch nuetze sey, und haben gar eyn viel hoeher koestlicher ampt denn die Apo­ stel und Propheten und Christus selbs, wilche alle haben Gottes wort muendlich odder schrifftlich gefuret, und nie nichts gesagt von der hymlischen Goettlichen stym, die wir hoeren muesten. Also kauckelt diser schwymel geyst, das er selbst nicht sihet, was er sagt.“ (WA 15; 216,12–20). 271  WA 15; 216,29 f. 272 Vgl. Luther in Bezug auf Karlstadt: „Doch dieser geyst hats alles macht zu setzen, endern, zu und abethun, wie er will, wie kan er yrren?“ (WA 18; 188,28–30). 273  „Aber sie selbs sind besser und hoeher denn die Aposteln und woellens on eusserlich wort und on mittel ynnwendig ym geyst lernen, wilchs doch den Aposteln nicht ist gegeben sondern dem eynigen son Jhesu Christo alleyne. Da siehestu den teuffel, wie ich dyr droben sagt, das er das eusserlich wort nichts achtet und gar nicht will haben zum vorlaufft des geys­ ts.“ (WA 18; 185,22–27). 274  Vgl. oben 180.

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IV. Gegenwartsverständnis

offenbarungen als teuflisch, wenn sie mit dem Hinweis auf die Schrift die Of­ fenbarungstätigkeit Gottes für beendet erklären. Dass der Teufel in der Schrift ein hervorragendes Mittel gefunden habe, die Menschen die Kraft Gottes und seine Offenbarungen nicht annehmen lassen zu wollen, kennzeichnet die Ei­ genständigkeit der Teufelsvorstellung Müntzers im reformatorischen Lager. Bei Stifel und den bibliozentrischen Richtungen verhindert allein die Schrift den Einfall des Teufels, bei Müntzer hingegen ist sie geradezu sein Einfallstor, wenn der Teufel unter Berufung auf die Schrift die wahren Manifestationen des gött­ lichen Geistes in Träumen und Gesichten als teuflisch hinstellt und damit die „wirckung des besten guts [des Geistes]“ zum „teufflisch gespenst“ gemacht werde.275 Insgesamt bleibt der publizistische Niederschlag des Müntzerschen Geistprin­ zips in der frühreformatorischen Flugschriftenlandschaft allerdings begrenzt. Die überwiegende Mehrheit der reformatorischen Flugschriftenautoren präfe­ rierte das Schriftprinzip lutherischer Provenienz und deutete das Geistprinzip als dessen teuflische Relativierung. Die Zeitgenossen stellten damit vor allem die Gegensätzlichkeit von Schrift- und Geistprinzip heraus und betonten nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht können gleichwohl Merkmale einer inneren Kohärenz benannt werden, ohne dass die Unterschiede im Offenbarungsverständnis nivelliert werden dür­ fen. Die Kohärenzmerkmale weisen dabei auf ein Gegenwartsverständnis, wel­ ches in den Flugschriften freilich in unterschiedlichen Akzentuierungen begeg­ net, in dem aber gleichwohl ein weit verbreitetes, neues und spezifisch reforma­ torisches Zeitempfinden zu Tage tritt. Diese Merkmale gewinnen vor allem in der gemeinsamen Frontstellung zur römischen Kirche Kontur. Auch wenn die Gegnerschaft zur Papstkirche ledig­ lich ein äußeres Kriterium darstellt,276 so artikuliert sich hinter dieser äußeren Frontstellung in theologischer Hinsicht ein gemeinsames Anliegen: Was in Be­ zug auf Luther hervorgehoben wurde, gilt allgemeinreformatorisch: Die religi­ öse Leitidee Luthers sei im Auf bau eines unmittelbaren Gottesverhältnisses zu sehen.277 Wenngleich verschiedenartig hergeleitet und ausgestaltet, so wird doch die Forderung nach einer neuen Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung von allen reformatorischen Bewegungen vehement vertreten. Die neue Unmit­ telbarkeit bezeichnet damit ein entscheidendes Kohärenzmerkmal des reforma­ torischen Offenbarungsverständnisses, welches sich scharf gegen den überkom­ menen spätmittelalterlichen Gradualismus wendet. „Gradualismus“ bezeichnet nach Hamm die Grundansicht, dass Gott und Mensch, Natur und Gnade, Kirche und Welt sich in einem Stufenverhältnis 275 

MSB 317,16 f. Vgl. oben 13. 277 Vgl. Korsch: Leitidee 94.97. 276 

2.  Innere Kohärenz

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zueinander befinden: Gott in graduell sich steigernder Gnadenmitteilung, der Mensch in graduell sich steigernder Mitwirkung.278 Im Gradualismus liegt nach Hamm das strukturprägende Merkmal mittelalterlicher Theologie und Kirch­ lichkeit, welches, bei aller Pluralität und Partikularität, den „Nerv mittelalterli­ cher, katholischer Gemeinsamkeit“ kennzeichnet.279 Hier liege die Grundlage für die Ausbildung einer Pluralität von Heiligungsgraden, die sich in Funktion und Ausgestaltung der kirchlichen Hierarchie niederschlugen.280 Die allge­ meinreformatorische Ablehnung des Gradualismus stellte nach Hamm einen grundlegenden Systembruch dar und bezeichnet in dieser Hinsicht das eigent­ lich Reformatorische.281 Die vielfäligen Erscheinungsformen des Gradualismus nehmen ihren Anfang im gestuften Offenbarungsverständnis der römischen Kirche. Gegen die gestuf­ te Offenbarungstätigkeit Gottes und -empfänglichkeit seitens des Menschen setzten die reformatorischen Bewegungen eine neue Unmittelbarkeit in der Be­ ziehung zwischen Gott und Gemeinem Mann. Diese neue Unmittelbarkeit kennzeichnet die Gegenwart als Heilszeit, in der Gott vorbehaltlos allen Gläu­ bigen, auch und gar allererst den Laien, wieder in direkter Anrede begegnen will. So gilt den reformatorischen Bewegungen die Behauptung der besonderen Geistbegabung des papstkirchlichen Lehramtes auf der Basis des successio-Ge­ dankens als teuflische Anmaßung und Verfälschung der apostolischen Lehre.282 Ob nun mit bibliozentrischer (vgl. z. B. Stifel) oder pneumatologischer (vgl. z. B. Müntzer) Begründung, der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen wurde von den reformatorischen Bewegungen gegen die von der Papstkirche beanspruchte Heilsmittlerschaft gesetzt und damit auch die kirchenrechtlich 278 Vgl.

Hamm: Einheit und Vielfalt 70. Hamm: Einheit und Vielfalt 71. 280 Vgl. Hamm: Einheit und Vielfalt 70 f. 281 Hamm erklärt den Oberbegriff „reformatorisch“ durch die Begriffe des „System­ bruchs“ oder des „Systemsprengenden“: „Ich definiere: Reformatorisch ist, was – im Hin­ blick auf die mittelalterliche Kirche, Theologie, Frömmigkeit und Gesellschaft – sys­ temsprengend ist in der Weise der Rückbindung an die Bibel und was nicht mehr als eine ausgefallene Position innerhalb der Variationsbreite kirchlich tolerierter mittelalterlicher Theologien, Frömmigkeitsformen und Reformmodelle und ihres deutenden Umgangs mit der Hl. Schrift erklärbar ist.“ (Hamm: Einheit und Vielfalt 64). Von der spätmittelalter­ lich-katholischen Gemeinsamkeit im Denkschema des Gradualismus hebe sich dessen radi­ kale Ablehnung als reformatorische Gemeinsamkeit in grundlegender, systemsprengender Weise ab (vgl. ebd. 73 ff., z. B. 78: „Und dieser Bruch mit dem Gesamtsystem eines graduel­ len Sich-Mitteilens Gottes und Mitwirkens der Kreatur auf den Heilsgewinn zu bestimmt alle […] Teilaspekte reformatorischer Gemeinsamkeit“). 282  Vgl. oben 110 ff. Vgl. zum Umbruch in der Pneumatologie auch Hamm: „Geistliche Wahrheit kommt in die Kirche nicht durch einen besonderen Geistbesitz klerikaler Hierar­ chie und durch die Irrtumslosigkeit eines geistgeleiteten kirchlichen Lehramtes, sondern allein durch die Unmittelbarkeit aller glaubenden Christen zum geistgewirkten biblischen Wort – oder sachgemäßer formuliert: durch die Unmittelbarkeit des Wortes und Geistes zu allen Glaubenden.“ (Hamm: Einheit und Vielfalt 80). 279 

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IV. Gegenwartsverständnis

festgeschriebene Trennung von Klerikern und Laien als teuflisch zurückgewie­ sen.283 Der Klerus sei von seinem Auftrag abgeirrt; anstatt Sorge für die Rein­ heit der Lehre zu tragen, verfälsche er sie und hindere deren Verkündigung. Das Selbstverständnis des Klerus, über die christliche Lehre zu wachen und den Einfall des Teufels zu verhindern, sei in der Realität in das Gegenteil umge­ schlagen; nicht der Klerus, sondern „ander leut“ haben das Wort Gottes wie­ derhergestellt – während der Klerus dem Teufel diene und die rechten Christen verfolge.284 Gegen das papstkirchliche Hierarchiegebäude wurde reformatori­ scherseits die Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung gesetzt, die keinerlei Zwi­ scheninstanzen zwischen Gott und Gemeinem Mann duldete.285 Dadurch wur­ de die Funktion des Geistlichen neu definiert: Er ist nicht mehr instrumentaler Mittler göttlicher Gnade, sondern Zeuge des Wortes – womit sowohl das Wei­ hesakrament wie auch alle anderen hierarchischen Grade geistlicher Kompetenz im Hinblick auf die Vergegenwärtigung des sich selbst offenbarenden Gottes hinfällig werden.286 Diese neue Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung sah man jeweils im Schriftbzw. Geistprinzip verwirklicht: Jeder Gläubige habe in der Schrift bzw. in Träumen und Gesichten unmittelbaren Zugang zur unverfälschten und voll­ gültigen Offenbarung Gottes. Für die Aneignung dieser Offenbarung bedürfe es keiner von Gott in besonderer Weise berufenen institutionalisierten Ausle­ gungsinstanz, ohne deren Mittlerschaft die Offenbarung unverständlich bleibe;

283 Der Gradualismus, der sich vor allem in der Trennung von Geistlichen und Laien manifestiere, sei vom Teufel in die Lehre eingebracht worden und bilde seither das Funda­ ment des antichristlichen Papsttums (vgl. z. B. Luther: Offenbarung des Endtchrists O1a). 284  „Daher kumpt dann ain unüberwintlich begyrd dem gemaynen man, die warhait zu erfaren, darbey ain unaußsprechlich mißfallen gegen den gaystlichen, die so vil hundert jar nicht allain reichlich, sonder auch gantz fürstlich in aller christlicher nation begabet und er­ halten seind worden, auff daß sy ja die heyligen, goettlichen schrifft in stiller rue on alle hyndernuß erlernen und das volck recht und christlich leren moechten, dieweyl er sicht, daß sy nicht allayn soeliche ire gottesgab und allmusen in aller leiblicher wollust bißher verthan und darneben Gottes wort vergessen haben, sonder auch, so yetzt ander leut [!] dasselbig lautter und rayn herfürbringen, sich dawiderlegen und eben mit den guettern, damit sy es erhalten soelten haben, sich das haylig wort Gottes zu verdrucken understeen […].“ (Osiander: Grund und Ursach 246,5–14). 285 Vgl. Punkt vier in Hamms offenem Katalog reformatorischer Kohärenzmerkmale: „Unmittelbarkeit jedes Christen zu Gott, zu seiner Gnade, seinem Heiligen Geist und sei­ nem Wort – geltend gemacht gegen ein kirchliches System der Heils-, Gnaden- und Segens­ vermittlung durch die Hierarchie des Klerus […].“ (Hamm: Einheit und Vielfalt 88). Vgl. z. B. Luther: „Secht, hie im euangelio nent Christus alle christen tzu samen ein gespons oder bräut und er ist der breutigam. Hie sal kein mittel sein: was wer das vor ein eh, so einn mittell personn sich must tzwuschen der eh stellen und dy braut bei irem breutigam ettwaß werben und erlangen? Ein schlechte lieb, ein baufellige eh […].“ (WA 10,3; 357,28–32). 286 Vgl. Korsch: Leitidee 96 im Hinblick auf Luther.

2.  Innere Kohärenz

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vielmehr lege sich die Offenbarung selbst aus und werde so jedem Geistbegab­ ten unabhängig seines Bildungs- oder Berufsstandes verständlich.287 Die Forderung nach einer neuen Unmittelbarkeit führte bei den bibliozent­ rischen Richtungen auch zur Ausbildung einer neuen theologischen Medien­ theorie: Um die Unmittelbarkeit des Gläubigen zu Gott zu gewährleisten, musste der Zugang eines jeden Christen zur Schrift sichergestellt sein, wofür die Verbreitung der Schrift mittels der Drucktechnik eine unabdingbare Vor­ aussetzung war.288 So korrespondierte der Buchdruck mit den offenbarungs­ theologischen Grundvorstellungen des Schriftprinzips und wurde zum Vehikel zur Verwirklichung des Priestertums aller Gläubigen und der neuen Unmittel­ barkeit im Offenbarungsverständnis. Der Vorwurf des Gradualismus wurde zum einen einhellig gegen die römi­ sche Kirche gewandt, zum anderen aber auch innerreformatorisch erhoben: Z. B. Luther richtet ihn ebenfalls gegen die Spiritualisten, wenn er Müntzers exklusive Geistbegabung und seine Behauptung, einen höheren Zugang zu Gott zu haben, indem er nicht auf die Schrift als Offenbarungsmedium ange­ wiesen sei, als teuflisch qualifiziert.289 Müntzer indes sah die neue Unmittelbar­ keit durch die bibliozentrischen Richtungen unterminiert: Wer die freie Offen­ barungstätigkeit Gottes auf der Basis des Schriftprinzips für beendet erkläre und suggeriere, die Schrift wirke den Glauben, ist Müntzer ein Handlanger des Teufels, der die Gläubigen an tote Buchstaben verweise und sie taub mache für die lebendige Stimme Gottes. Mit der statischen Bindung des Geistes an den Buchstaben werde ebenfalls eine Bedingung in die Gottesbeziehung einge­ führt, die nicht nur dem Geist sein Wirken vor-, sondern zugleich die gesell­ schaftliche Ungleichheit festschreibe, da der Gemeine Mann die Schrift gar nicht lesen könne – bzw. können solle.290 Gerade in der bibliozentrischen Me­ 287  Vgl. oben 71 ff. Generell wird die Bindung des Geistes an Institutionen, Hierarchien oder Schulgelehrsamkeit scharf zurückgewiesen, vgl. z. B. Gengenbach: Bürger 199–201. 288 Vgl. Burkhardt: Reformationsjahrhundert 49: „Die Vorstellung, daß jeder unmit­ telbar zu Gott stehe und sich dessen über einen Text vergewissern könne, ist eine Vorstel­ lung, die erst im typographischen Zeitalter technisch einlösbar war. Aber die technische Erfindung war nur die Voraussetzung; zwei Generationen Wartezeit nach ihr belegen, daß sie nicht selbstverständliche Folge war. Erst mußte die Bibel freigekämpft werden und eine kongeniale theologische Medientheorie für die entwickelt werden. Erst das religiös formu­ lierte Schriftprinzip – das beläßt ihm seinen Rang und seine Würde – hielt die Druckma­ schinen auf Dauer in Bewegung und gab ihnen einen Sinn.“ 289  Vgl. z. B. WA 15; 215,31 f. 290  Die (wittenbergischen) Schriftgelehrten hätten „das gezeuegnus des geysts Jesu auff die hohen schul“ (MSB 270,8–10) gebracht, aus dem Glauben eine Wissenschaft gemacht, um diesen als Privileg zu vereinnahmen und dem Gemeinen Mann zu entfremden. Sie be­ anspruchten die Deutungshoheit über den Glauben und verhinderten, „das der gemeyn man in durch ire lere soll gleych werden, sondern sie woellen alleyn den glauben urteylen mit irer gestolnen schrifft“ (MSB 270,12–16). Die Bedingung für den Glaubensempfang nach luthe­ rischer Lehre sei die Lesefähigkeit – dieser exklusive Zugang zum Glauben werde dem Ge­ meinen Mann durch Unterdrückung verwehrt, da dieser zu sehr mit der Sicherung seiner

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IV. Gegenwartsverständnis

dientheorie erkennt er einen verschleierten Gradualismus, wenn der Geistemp­ fang an Voraussetzungen wie Kauf kraft und Lesefähigkeit geknüpft werde. Die innerreformatorischen Unterschiede im Offenbarungsverständnis betref­ fen damit vor allem die Auffassung, inwiefern Gott sich in seiner unmittelbaren Offenbarungstätigkeit an äußere Mitteilungsformen (wie die Schrift) bindet bzw. von ihnen frei macht. Auch wenn also die Medien der Offenbarung bei bibliozentrischen und spiritualistischen Richtungen verschiedene waren und die Zeitgenossen infolgedessen die empfundene Gegensätzlichkeit der Offenba­ rungsverständnisse besonders stark hervorheben können, so wird doch in der Zielbestimmung einer neuen Unmittelbarkeit und Voraussetzungslosigkeit des Offenbarungsgeschehens eine innere reformatorische Kohärenz erkennbar.291 Gerade diese Verwandtschaft in der Zielbestimmung der neuen Unmittelbar­ keit führte zu den innerreformatorischen Auseinandersetzungen um deren voll­ gültige Verwirklichung und verlieh diesen ihre Schärfe292 – sowohl die biblio­ zentrischen wie die spiritualistischen Richtungen nehmen für sich in Anspruch, gegen den Offenbarungs-Gradualismus die Unmittelbarkeit der Gottesbezie­ hung wiederhergestellt zu haben. Jedwede Existenz geistlicher Grade der Ver­ vollkommnung oder des mehr oder weniger Christlichen werden abgelehnt und die Sakralität auf alle Gläubigen hin entschränkt.293 Der Prämierung und Subsistenz beschäftigt sei, als Lesen lernen zu können: „Da werden denn die armen duerffti­ gen leuet also hoch betrogen, das es kein zung genug erzelen mag. Mit allen worten und wercken machen sie es ya also, das der arm man nicht lesen lerne vorm bekuemernuß der narung, und sie predigen unverschempt, der arm man soll sich von den tyrannen lassen schinden und schaben. Wenn wil er denn lernen, die schrifft lesen?“ (MSB 275,23–34). Das freie und lebendige Wirken des Geistes werde durch die Exklusivität des sola scriptura unzu­ lässig eingeschränkt – mit dem Ziel, die gesellschaftliche Ungleichheit festzuschreiben und dem Glaubensempfang ein für Benachteiligte unüberwindliches Hindernis in den Weg zu stellen: den direkten Zugang zur (vermeintlichen) Offenbarungsquelle der Schrift. So werde das Volk durch das Schriftprinzip vom Glauben ferngehalten – während der Geist zu jedem rede, der sich auf das Leiden einlasse. Auch im Schriftprinzip gebe es damit graduelle Abstu­ fungen bei der Möglichkeit des Offenbarungsempfangs, weshalb es lediglich eine Variation des altgläubigen Gradualismus darstelle. 291  Mit der Konstatierung dieser inneren Kohärenz sind die innerreformatorischen Sys­ temverschiedenheiten, wie sie insbesondere im Offenbarungsverständnis zum Tragen kom­ men, nicht geleugnet; doch bezeichnet die Ablehnung des Gradualismus eine weitreichende reformatorische Gemeinsamkeit, die es rechtfertigt, als solche benannt zu werden. Vgl. Hamm: „Ebenso selbstverständlich erscheint es mir, daß man auch innerhalb der Reforma­ tion von Systemverschiedenheiten und Systembrüchen sprechen kann. Man denke an die tiefgreifenden Unterschiede […] zischen Luther, Zwingli, Karlstadt und Müntzer […]. Doch schließen solche sozial-, bildungs-, frömmigkeits- und theologiebedingten Brüche keines­ wegs aus, daß man diese Kontrahenten aus einem anderen Blickwinkel wieder in der Kohä­ renz einer umgreifenden reformatorischen Gemeinsamkeit gegenüber der gradualistischen Kirche der Hierarchie sehen darf und muß.“ (Hamm: Einheit und Vielfalt 74). 292 Wie insbesondere an der frühen Reformationszeit ersichtlich wird, ist es mitunter gerade die gemeinsame Ausgangsbasis, die zum Empfinden einer totalen Gegensätzlichkeit beitragen kann, vgl. Hamm: Einheit und Vielfalt 58. 293 Vgl. Hamm: Einheit und Vielfalt 92–94.

2.  Innere Kohärenz

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Hierarchisierung von Gottesbeziehungen wird der Grundsatz der prinzipiellen offenbarungstheologischen Gleichheit aller Gläubigen entgegengesetzt 294 und der Leitgedanke des Gradualismus in seinen mannigfaltigen Erscheinungsfor­ men grundsätzlich als teuflisch verworfen. Die Verfestigung gradueller Unter­ schiede innerhalb der Christenheit aufzubrechen und damit dem Teufel seine ideelle Machtbasis zu entziehen, sei der gottbefohlene Auftrag, den zu erfüllen sich die reformatorischen Flugschriftenautoren in die Pflicht genommen sehen. 2.1.2  Die Unterscheidung von Gott und Teufel Übereinstimmend konstatieren die Flugschriften, dass der Teufel in der Ver­ gangenheit durch die Etablierung des Gradualismus erfolgreich dem Gemeinen Mann den direkten Zugang zu Gott verstellt habe. Zur Wiederherstellung der neuen Unmittelbarkeit in der Beziehung zu Gott ist daher die Erkenntnis der Machenschaften und der Handlanger des Teufels unabdingbare Vorausset­ zung 295 – um Gesundung zu ermöglichen, müsse zuvor die Krankheit erkannt sein.296 Doch ist die rechte Identifizierung des Teufels diffizil, da der Teufel sich nicht als böse zu erkennen gibt, sondern sein zerstörerisches Wesen hinter dem An­ schein göttlicher Majestät verbirgt.297 Die reformatorische Deutung der Ver­ gangenheit als Zeit der unbemerkten Teufelsherrschaft veränderte auch die Wahrnehmung der grundsätzlichen Charakteristik des Teufels: Nicht vom of­ fensichtlich Widerchristlichen, sondern vor allem vom christlich Scheindenden gehe die größte Gefahr für die Christenheit aus. Diverse Flugschriftenautoren sehen den Teufel den göttlichen Namen missbrauchen; 298 unter göttlicher Atti­ tüde und „gut scheynender verfuerung“299 verrichte er sein Unheilswerk. Der fromme Schein, mit dem der Teufel und seine Handlanger sich umgeben, sei 294 Vgl.

Hamm: Einheit und Vielfalt 91. hab ich gesagt dz der mensch achtung hab vffs teüffels stercke / vnd lerne jn er­ kennen / denn die vnwissenheit ist ferlich / vnd gemeyniglich steht der vffs teüffels sey­ ten / der seyne fewrige vnd listige versuchung nit versteht […].“ (Karlstadt: Von Engeln und Teufeln B2b). 296  „[…] dieweyl unmueglich ist, fruchtpare, heylßamliche ertzney zu geben, die kran­ ckeyt sey dann zuvor gnugßam erkundigt und an tag bracht.“ (Spengler: Hauptartikel 338,20–22). 297 Vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 267: „In göttlicher Majestät tritt er auf, nicht im eigenen Namen. Nie will er als böse erscheinen, sondern stets als einer, der Gott auf seiner Seite hat. […] Jedoch im Gegensatz zu Gott, dem Schöpfer, kann er nur zerstören.“ 298  Vgl. Eberlin: „vnder gutem schein des namen gotes, gotes worts, Christi, Christlicher kirchen, der hailgen etc. […]“ verderbe der Teufel die Christenheit (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 142). Vgl. auch Luther: „Also verblendet vns vnser augen diser Endtchrist / mit hayligen namen vnd woertern / Als nemlich mitt dem namen Christi / vnd Petri / sampt dem namen der kirchen damit die vnerfaren gewissen / ja noch die erfaren (das ist / die gewissen der außerwoelten) gefangen werden.“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists N3b-N4a). 299  Eberlin: Falschscheinende Geistliche 44. 295  „Das

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IV. Gegenwartsverständnis

deren „haubttugend“; 300 doch könne der fromme Schein nur oberflächlich die eigentliche Verdorbenheit kaschieren – wie „[…] eyn verschnygter myst, ist oben wyß und schoen, aber so der schnee zergat, unden eytel würm, kot unnd ungeseüfer.“301 Seinen effektivsten Widerstand gegen das Wort Gottes übe der Teufel in Scheinheiligkeit; unter der Maske trete er auf als Engel des Lichts (vgl. 2 Kor 11,14). Mit dieser Bestimmung sind vor allem seine Eigenschaften der Verstellung und Verblendung hervorgehoben, mit denen der Teufel die Gläubi­ gen betrüge. Die Charakteristik des Teufels als Engel des Lichts avanciert gera­ de in der frühen Reformationszeit zu einem allgemeinreformatorischen Topos und rückt bei vielen Flugschriftenautoren in das Zentrum ihrer Teufelsvorstel­ lungen. Neben Müntzer 302 beschreiben z. B. Linck 303, Eberlin 304 oder Luther 305 den Teufel immer wieder als Engel des Lichts. Diese grundlegende Charakteristik des Teufels drückt sich auch in der refor­ matorischen Rede vom Antichrist aus.306 Die Verwandtschaft der Charakteris­ tierung des Teufels als Engel des Lichts mit der Vorstellung vom Antichrist wird z. B. von Karlstadt ausdrücklich benannt und reflektiert: „Von den teüffeln ist gesagt / das sy sich befleyssen / vnd richten allen jren fleyß da­ hin / das sy leüt betriegen in vnwarheit / vnnd luegen füren. Vnd stellen sich zu zei­ ten / als menner des liechts vnd warheit [vgl. 2 Kor 11,14] / aber alles darumb / das sie vns in finsternüs vnd luegen fueren. Als auch der endtchrist wirt thun / der schoene gulden vnd groschen / silber vnd gold strewen wirt / das ist: Er wirt gutescheynliche gruende 300 

Sonnentaller 404,30. Sonnentaller 404,36–38. 302  Vgl. oben 178. 303 „Wann er [der Teufel] Gottes ordnunge zerbrechen wil, so nympt er einen gutten scheyn für sich, dar unter er sich verstellet zum engel des liechts.“ (Linck: Von Arbteit und Betteln 1099,6–8). Vgl. auch ebd. 1096,8–11: „Dann dieweyl der teüffel sich verstellet zum engel des liechts, ists keyn wunder, das er andere dingk verkeret unnd evangelisch viel mal nennet, das teüfelisch ist, und herwiderumb tewflisch, das goetlich ist.“ 304  So sende der Teufel falsche Offenbarungen und verwandle sich dabei in den Engel des Lichts (vgl. Eberlin: Falschscheindende Geistliche 65). Wie der Teufel als Engel des Lichts auftrete, so auch seine Handlanger als Diener der Gerechtigkeit: „[…] den solche fal­ sche Apostel vnd truegliche arbaiter verstellen sich zu Christus aposteln, vnd das ist auch kain wunder, den er selb, der teuffel, verstellt sich zum engel des liechts, drumb ists nicht ain grosses, ob sich auch syne diener verstellen zu diener der gerechtigkait.“ (Eberlin: Letztes Ausschreiben 181 f.). Vgl. zum sich als Engel des Lichts verstellenden Teufel zudem Eberlin: Schänder 15. Zur Verstellungskunst des Teufels, der „vnder guttem scheyn“ auftrete, vgl. Eberlin: Warnung 255. 305 Vgl. Barth: Teufel 101 f. Die Rede vom sich verstellenden Teufel taucht in unter­ schiedlichen Variationen bei Luther auf, doch ist ihm das Bild vom Engel des Lichts beson­ ders prägnant: „All das [die verschiedenen Ausdrucksformen für den scheinheiligen Teufel] faßt sich für Luther zusammen in der Vorstellung vom ‚Engel des Lichts‘, 2. Kor. 11, 14, auf den er unzählige Male direkt Bezug nimmt.“ (Barth: Teufel 104). 306  Zum inneren Verwandtschaft des Topos des Teufels als Engel des Lichts und der Anti­ christvorstellung bei Luther vgl. Barth: Teufel 105 f. Zum grundsätzlichen Verhältnis von Teufels- und Antichristvorstellung bei Luther vgl. Barth: Teufel 106–112. 301 

2.  Innere Kohärenz

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der schrifften fürlegen / vnd die leüt also an sich hencken / darnach wirt er sie vorfü­ ren / wenn er ist des teüfels botschafft.“307

Auch Stifel hebt immer wieder die Scheinheiligkeit des Antichrist als dessen Grundmerkmal hervor: 308 Der Antichrist erscheint in der Gestalt Christi; dabei gehört es gleichsam per definitionem zum Wesen des Antichrist, seine wahre Identität und seine Gegensätzlichkeit zu Christus verschleiern zu wollen.309 Sowohl in der Rede vom Teufel als Engel des Lichts wie in der Antichristvor­ stellung kommt eine innere Kohärenz der reformatorischen Teufelsvorstellun­ gen zum Ausdruck: Die Scheinheiligkeit und Verstellungskunst, mit welcher der Teufel die Gläubigen über seine wahre Identität zu täuschen und sich der Erscheinungsweise Gottes anzugleichen suche, gilt als sein dominierendes Grundmerkmal und kennzeichnet die historische Situation, mit der sich die reformatorischen Zeitgenossen konfrontiert sahen.310 Das Hervorheben der besonderen Scheinheiligkeit des Teufels stellt eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber der Tradition dar und verleiht einem spezifisch reformatorischen Gegenwartsverständnis Ausdruck: Der Motivkreis des Teufels als Engel des Lichts war angesichts der von ihrem Auftrag abgewi­ chenen römischen Kirche von ungemein hoher Plausibilität, ließ er doch die Identifizierung des Teufels innerhalb der eigenen, vermeintlich christlichen Reihen zu: War er nach altgläubiger Auffassung tendenziell außerhalb von Kir­ che und Gesellschaft bzw. an deren Peripherie zu finden, so hatte er sich im 307 

Karlstadt: Von Engeln und Teufeln C4a. Stifel: Christförmige Lehre 282,10 f.: Alles komme darauf an, „[…] den heymlichen subtilen betrug des Antichrists“ aufzudecken. 309  Nach den Ankündigungen der Schrift werde der Antichrist sein wahres Wesen unter Scheinheiligkeit verbergen können, vgl. Luther: „Wenn des Endchrists vorfurung ßo grob were, das sie yderman mocht mercken, […] hetten die propheten unnd Apostell vorgebenß ßo viel und ßo ernsthafftig davon geschreyen und geschriebenn.“ (WA 7; 177,19–178,3). Vgl. auch Stifel „Lieber meynestu der Antchrist wird den teufel sichtbarlich tragen vff der ach­ sel?“ (Stifel: Christförmige Lehre P1b). 310  Die Verwandtschaft der „Engel-des-Lichts“- und der Antichirstvorstellung wird auch von Richardsen benannt; allerdings unterläuft ihr die Fehleinschätzung, dass der Antichrist erst im Zusammenhang mit dem Interim als Engel des Lichts tituliert werde: „Die Interims­ zeit war beherrscht von der Idee einer neuen Erscheinungsweise des Antichristen, nämlich von seinem aktuellen Auftreten in der Gestalt eines ‚Engels des Lichtes‘.“ (Richardsen: Idee 279). Der durch Luther ausgebildeten Antichristologie werde hier ein Aspekt hinzugefügt, der das Interim als „neue Etappe für die protestantische Idee des Antichristen“ (Richardsen: Idee 282) erscheinen lasse. Wie nachgewiesen wurde, bezeichnet die Verwandtschaft der beiden Vorstellungskreise keine neue, erst im Zuge der Interimszeit namhaft gemachte Er­ scheinungsweise von Teufel resp. Antichrist, sondern eine, die zu den fundamentalen Kons­ titutionsbedigungen der reformatorischen Teufels- und Antichristvorstellungen bereits in der frühen Reformationszeit gehört und in diversen Flugschriften zu finden ist. Die bei Richardsen vorgenommene verengende Kontextualisierung in Bezug auf das Interim ver­ kennt damit die bereits in den frühen 1520er Jahren gegebene grundlegende Bedeutung des Engel-des-Lichts-Motivs für den Paradigmenwechsel innerhalb Teufels- und Antichristvor­ stellungen durch die reformatorischen Bewegungen. 308 Vgl.

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IV. Gegenwartsverständnis

reformatorischen Verständnis längst in der Mitte der Gesellschaft, gar an der hierarchischen Spitze der sichtbaren Kirche festgesetzt.311 In Umwertung mit­ telalterlicher Vorstellungen greife der Teufel insbesondere das Heilige an 312 – daher müsse der Teufel nicht in erster Linie im augenscheinlich Bösen oder bei den klassischen Glaubensfeinden, sondern vor allem in der Kirche selbst gesucht werden, da er hier unbemerkt den größten Schaden anrichte: „O, es ist vil notter ytzunt zu predigenn wyder die subtile, heylige, wolgestalte verfue­ rung der welt durch das beschorn volck dann predigen wyder oefflich sunder, heyden vnnd Türcken, wyder rauber, morder, dyb, eebrecher etc. dann mann weyß, das daß vnrecht ist. aber durch münch vnd pfaffen erdacht leer wirt die welt verfuert vnd vn­ wyssiglich dem teüffel in die handt geben. dann so wir wenen, wir thon got ein dynst, so hofiren wir satane.“313

Der Teufel ist im reformatorischen Verständnis eben nicht offenkundiger Wi­ dersacher Gottes, sondern ein „subtiler Teüffel“.314 Die im Vergleich zu den Altgläubigen in besonderer Weise hervorgehobene Subtilität ließ den Teufel ungleich gefährlicher als in altgläubiger Wahrneh­ mung erscheinen. Vor dem Hintergrund des großartigen Erfolges des Teufels bei der geschichtlichen Unterwanderung der Kirche und dem Auf bau einer institutionalisierten Korrumption der christlichen Heilsbotschaft sahen die re­ 311  Was die reformatorischen Teufelsvorstellungen verbindet, ist das Empfinden der mas­ siven teuflischen Unterwanderung von Kirche und Gesellschaft. Diese allgemeinreformato­ rische Einschätzung kommt z. B. im Antiklerikalismus deutlich zum Ausdruck. Zum refor­ matorischen Antiklerikalismus siehe Goertz: Antiklerikalismus und Reformation. 312  Vgl. zum verstärkten Angriff des Teufels auf das Heilige z. B. Stifel: Christförmige Lehre I4b. Die hergebrachte Auffassung, das Heilige (z. B. die Kirche) sei tendenziell teufels­ freie Zone, wird reformatorisch umgewertet: Das Heilige halte den Teufel nicht fern, son­ dern ziehe ihn im Gegenteil besonders an und reize ihn zum Angriff (vgl. dazu Oberman: Luther 186 ff.; Ders.: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 17 f.). Vgl. auch Ebeling: „Man braucht nicht erst zur Hölle zu laufen, um den Teufel anzutreffen; man braucht nur zur Kir­ che zu gehen, dort findet man ihn mitten unter den Heiligen Gottes, die die Predigt hören und beten. Denn er weiß, was ihm selbst am gefährlichsten ist – das Wort Gottes – und wo er darum den Christen den größten Schaden zufügen kann. […] Es wäre ein schlechtes Zei­ chen für die Kirche, wenn sie unangefochten wäre.“ (Ebeling: Mensch unter der Macht des Teufels 241 f.). 313  Kettenbach: Ein neu Apologia 169,8–15. Vgl. auch Luther: Wer dem Teufel weh­ ren wolle, solle beim Papsttum anfangen: „Die weil den solchs teuffelisch regiment nit allein ein offentlich rauberey, triegerey und tyranney der hellischen pfortten ist, szondern auch die Christenheit on leyp und seel vorterbet, sein wir hie schuldig allen vleisz furtzuwenden, solch jamer und zurstorung der Christenheit zuweren. Wollen wir widder die Turcken streytten, szo lasset uns hie anheben, da sie am allerergistenn sein: hencken wir mit rechte die diebe unnd kopffen die reuber, warumb solten wir frey lassen den Romischen geytz, der der grossist dieb und reuber ist, der auff erden kummen ist odder kummen mag, und das allis in Christus und sanct Peters heyligem namen?“ (WA 6; 427,13–21). Vgl. auch Stifel: Euangelium F4b-G1a; H3a: Der Schaden, den der Teufel durch das Papsttum angerichtet habe, sei ungleich größer als durch die Türken oder Juden. 314  Eberlin: Schänder 17. Auch Karlstadt nennt den Teufel einen „subtilen feynd vnd listigen teüffel“ (Karlstadt: Von Engeln und Teufeln B1b).

2.  Innere Kohärenz

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formatorischen Bewegungen den Teufel in bedeutend mächtigerer Position als die Altgläubigen: Mit der Indienstnahme des Papsttums habe er nicht nur punktuell oder auf Einzelpersonen seinen verderblichen Einfluss ausgeübt, son­ dern Kirche und Verkündigung strukturell nahezu total pervertieren lassen. Diese veränderte Einschätzung der Machtposition des Teufels hatte ihren argu­ mentativen Vorlauf in der dominierenden Charakterisierung des Teufels als En­ gel des Lichts; allein von hier aus war es möglich, die Geschichte der Kirche ungeachtet ihres geschichtlichen Fortbestandes als Erfolgsgeschichte des Teufels zu deuten. So steht die veränderte Grundcharakteristik des Teufels mit dem reformatorischen Gegenwartsverständnis in konstitutivem Zusammenhang: Die Gegenwart konnte nur dann als Beginn der Endzeit gelten, wenn der in der Schrift angekündigte Abfall bereits eingetreten sei; 315 dass dieser Abfall so lange unbemerkt geblieben sei, gründe in der Scheinheiligkeit des Teufels, die selbst die Auserwählten geblendet habe.316 Die Charakteristik des subtilen Teufels bildet damit gleichsam die Voraussetzung für die reformatorischerseits konsta­ tierte ungeheure Machtentfaltung des Teufels. Vor dem Hintergrund dieses Paradigmenwechsels innerhalb der Charakteris­ tik der Teufelsvorstellungen wurde die grundlegende Unterscheidung von Gott und Teufel zu einem virulenten Problem.317 Der Teufel habe es verstanden, Gott teuflisch und sich selbst göttlich erscheinen zu lassen: „Dann dieweyl der teüffel sich verstellet zum engel des liechts, ists keyn wunder, das er andere dingk verkeret unnd evangelisch viel mal nennet, das teüfelisch ist, und herwi­ derumb tewflisch, das goetlich ist.“318 Der Engel des Lichts setze alles daran, selbst die Stelle Gottes einzunehmen und sich verehren zu lassen.319 Durch die Scheinheiligkeit des Teufels glichen sich die Erscheinungsbilder Gottes und des Teufels an, obschon ihre Ziele absolut gegensätzlich seien.320 Mittels der ihnen 315  Nach Gottes unverfügbarem Ratschluss habe der von der Schrift angekündigte Abfall und die ungeheure Machtentfaltung des Teufels dem Ende vorausgehen müssen; die Schrift habe erfüllt werden müssen und erfülle sich eben zu diesen Zeiten (vgl. Luther: Offenbarung des Endtchrists Y1a). 316  Vgl. z. B. Luhter: Offenbarung des Endtchrists M1a. 317  Vgl. Barth in Bezug auf Luther: Das Unterscheidungsproblem ergibt sich vor allem durch die Verborgenheit Gottes und die Scheinheiligkeit des Teufels: „Der verborgene Gott trägt die Züge des Satans“ (Barth: Teufel 185), weshalb die Schwierigkeit in der Bestim­ mung des Verhältnisses von verborgenem Gott und Teufel für Luther „geradezu sachlich notwendig“ ist: „Gott, weil er Gott ist, will erkannt werden – ‚sub larva diaboli‘, und der Teufel, weil er Teufel ist, will sich verwandeln ‚in Angelum lucis‘ und die Stelle Gottes ein­ nehmen. Der ‚Theologia crucis‘ entspricht eine ‚Satanologia gloriae‘.“ (Barth: Teufel 185). 318  Linck: Von Arbteit und Betteln 1096,8–11. 319  Die Methode des Teufels, sich als Engel des Lichts zu verstellen, dient allein dem Ziel, sich an die Stelle Gottes zu setzen (vgl. Barth: Teufel 105) – ein Vorhaben, welches er in reformatorischer Deutung durch die Indienstnahme des Papsttums und dessen Absolutheits­ anspruchs bereits verwirklicht habe (vgl. Barth: Teufel 111). 320  Wie verwechselbar das Wirken Gottes und des Teufels sein kann, wird beispielhaft in der Anfechtungserfahrung deutlich: Gott kann hier „geradezu die Züge des Teufels an[neh­

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IV. Gegenwartsverständnis

verliehenen Macht der Irrung haben Teufel und Antichrist die Unterscheidung von Göttlichem und Teuflischem völlig verunklart 321 – zumal sie ihre Schein­ heiligkeit mit falschen Zeichen und Wundern meisterhaft inszenierten: 322 Die schier unbegrenzte Machtsteigerung des Teufels war nur möglich aufgrund sei­ ner Befähigung zum Vorgauckeln falscher Wunder: „Nicht desterweniger durch dise zaychen vnd wunder hat der teuffel vberal vber hand genommen […].“323 Von dieser falschen Wundertätigkeit des Teufels sei die reformatorische Gegenwart in signifikanter Weise geprägt: „Dise zaychen vnnd wunder greyf­ fen wir nun / noch wircket vnd schaffet der Teuffel so vil […]“324 Damit ent­ spreche die reformatorische Gegenwart der von der Schrift für die Endzeit an­ gekündigten Zeit der falschen Wunder.325 Die teuflische Wundertätigkeit ma­ che die Unterscheidung von Gott und Teufel für die Gläubigen nahezu unmöglich.326 Vor dem Hintergrund der Einordnung der reformatorischen Gegenwart als Zeit der falschen Wundertätigkeit des Teufels stellte sich die Un­ terscheidungsproblematik damit in ganz neuer Weise. men]“ (Ebeling: Mensch unter der Macht des Teufels 244), wodurch die Unterscheidung von Gott und Teufel kaum mehr zu treffen sei. Dennoch zielen Gott und Teufel auf absolut Entgegengesetztes: „Gott und der Satan tun dem Menschen das eine und selbe an – und es ist doch in beiden Fällen denkbar verschieden gemeint und gezielt. […] Beide fechten den Menschen an aufs äußerste. Aber Gott tut es zum Heil, um den Menschen von sich selbst un allem Vertrauen auf sich selbst ganz loszumachen und seiner Barmherzigkeit in die Arme zu treiben; der Satan tut es, um den Menschen endgültig von Gott loszureißen. […] der eine tut es zum Heil, der andere zum Tode. […] So hat die Anfechtung immer ein doppeltes Gesicht, eine doppelte Tendenz in sich, Gottes und des Teufels – beide sind widereinander.“ (Althaus: Theologie Luthers 150). Daher muss bei der Anfechtungsintention Mittel und Zweck unterschieden werden: „Gott benutzt den Satan für sein ‚fremdes Werk‘, opus alienum, aber er zielt dabei immer auf sein ‚eigentliches Werk‘, opus proprium […]. Für Gott ist das opus alienum nur Mittel, Durchgang, für den Satan aber das Ziel, der Selbstzweck der Lebenszer­ störung.“ (Althaus: Theologie Luthers 150). Für den Gläubigen ist es daher nach Barth entscheidend zu durchschauen, „[…] daß das, was der Teufel als ‚opus proprium dei‘ ausgibt, in Wahrheit dessen ‚opus alienum‘ ist; daß das, was der Teufel als Endzweck hinstellt, von Gott nur als ‚instrumentum‘ für sein eigentliches Ziel gebraucht wird.“ (Barth: Teufel 165 f.). 321  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre N2a. Vgl. auch Luther: Die „Papisten“ als Handlanger des Teufels verwischten die Unterscheidung von Göttlichem und Teuflischem, wenn sie „[…] Gott vnd den Teuffel / Christum vnd Belial zu hauffen stellen […].“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists E1a). 322  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre 310,7–14. Vgl. auch Luther, der mit Hinweis auf Mt 24,24 und 2 Thess 2,9 f. fest damit rechnet, „[…] das der Endchrist werde durch Sa­ tanam mechtig sein in falschen wundertzychen.“ (WA 6; 414,22–26). 323  Luther: Offenbarung des Endtchrists N3b. 324  Luther: Offenbarung des Endtchrists N3b. 325  „[…] sonderlich in dieszer letzten ergisten zeit, von wilcher falsche wunder vorkundet sein in aller schrifft […].“ (WA 6; 414,31 f.). Vgl. auch Kettenbach: In der reformatorischen Gegenwart ereigneten sich diverse falsche Wunder des Teufels zum Betrug der Gläubigen: „mit sollichen zaichen soll des sathane vnd endtchristen reich bestettiget werden, als Christus vnd Paulus verkünt haben.“ (Kettenbach: Altmütterlein 61,7–9). 326  Vgl. z. B. Stifel: Euangelium D3a.

2.  Innere Kohärenz

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Wie Gottes Heilswerk, so ziehe auch das Unheilswerk des Teufels unter dem Gegenteil auf.327 Der subtile Teufel ist ein „König der Konfusion“,328 der steten Widerstand gegen das rechte Unterscheiden übe.329 Als diabolos versuche er alles, was Gott eindeutig unterschieden haben wolle, ineinanderzumengen.330 Als Verwirrer und Verunklarer rechten Unterscheidens ist der Teufel vor allem bestrebt, seine eigene Unterschiedenheit von Gott zu verschleiern 331 – dass selbst die Auserwählten schließlich kaum in der Lage seien, zwischen Gott und Teufel zu unterscheiden, bezeichnet den „Gipfel der Machtvollkommenheit des Teufels“.332 Die Ermächtigung des Antichrist ist hierfür sinnfälliger Ausdruck, weshalb klar und eindeutig auseinandergehalten werden müsse: „Das ist vnd thut der Antechrist mitt allem seinem anhang. Dabey lerne, was Christus oder Antechrist, Christlich oder Antechristlich sey.“333 Angesichts der geschichtlich gewachsenen, nahezu totalen Verkehrung von Gott und Teufel und des Um­ stands, dass der Teufel sich über Gott erhoben habe und dem Antichrist gott­ 327  Gott und Teufel begegnen dem Menschen jeweils unter dem Gegenteil dessen, was sie sind: „Satan versucht, sich als Gott hinzustellen; Gott dagegen begegnet dem Menschen in verborgener, ja teuflischer Gestalt; der Mensch aber […] ist nicht in der Lage, Gott als Gott bzw. Satan als Satan zu erkennen.“ (Barth: Teufel 202). Vgl. auch Brunfels: Das Widerein­ ander von Gott und Teufel manifestiere sich in zwei grundverschiedenen Evangelia: „eins Christi, das ander des endchrists.“ (Brunfels: Anstoss 298,16 f.), wobei er die Herauf kunft der beiden Evangelia unter dem Gegneteil betont: Das Evangelium Christi richte sich gegen den Unglauben, strafe die Welt und gleiche einem Schwert, das Teufel und Antichrist ver­ nichte (Brunfels, Anstoss 298,16–26). Im Gegensatz dazu verspreche das Evangelium des Antichrist falschen Frieden und äußere Sicherheit: „Herwiderumb ist das evangelium des endtchrists fridsam, verheisßt zeytlichen fryden, zeytliche ere und reichtumb.“ (Brunfels, Anstoss 298,27 f.). 328  Ebeling: Unterscheiden 451. 329 Vgl. Ebeling: Unterscheiden 420 ff.: Für Luther ist das Unterscheiden Konstituens rechter Theologie. Der Teufel ist dabei stets der Verunklarer rechten Unterscheidens. Dies gilt hinsichtlich zweier, freilich ineinander verwobener Unterscheidungsdimensionen: Zum einen ad extra, bezogen auf die Scheidung von aller Pseudo-Theologie und Philosophie, welche der Teufel als Heilsweg erscheinen zu lassen bestrebt ist. Zum anderen ad intra, be­ zogen auf den binnentheologischen Unterscheidungsvollzug: Hier versucht der Teufel, aller­ erst die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium einzutrüben, indem er beides heillos miteinander vermischt (zu den beiden Unterscheidungsdimensionen nach au­ ßen und nach innen vgl. Ebeling: Unterscheiden 422 f.). 330  Vgl. in Bezug auf Luther Beutel: Unterscheidungslehre 452; Ebeling: Unterscheiden 451. Dies gilt z. B. bezüglich der Vermischung von geistlichem und weltlichem Regiment, welche der Papst-Antichrist in seiner Hand unrechtmäßig zusammenführe, vgl. z. B. Stifel: Euangelium A4b.B2a. Zur Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment siehe Luther: WA 11; 245–281 (Von weltlicher Obrigkeit). 331 Vgl. Ebeling: Unterscheiden 458: Auch Gott selbst muss zum Gegenstand des Unter­ scheidens werden, sowohl hinsichtlich seiner Unterschiedenheit vom Teufel als auch im Hin­ blick auf Gott selbst als offenbarem und verborgenem. 332  Barth: Teufel 202. 333  Eberlin: Tröstliche Vermahnung 142. Das Mittel hierzu ist Eberlin das Gesetz, welches die Verführung des Antichrist aufdecke, indem es die Erkenntnis schaffe, dass der Mensch nicht von sich aus zum Heil kommen könne, vgl. Eberlin: Tröstliche Vermahnung 142.

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IV. Gegenwartsverständnis

gleiche Verehrung zuteil werde, müsse eindeutig unterschieden werden – eine Aufgabe, die durch die gegenwärtige Wiederentdeckung der Offenbarung wie­ der lösbar geworden sei. Die Wiederherstellung der rechten Unterscheidung von Göttlichem und Teuflischem rangierte daher auf der reformatorischen Agenda an oberster Stelle.334 Die Grundlage für rechtes Unterscheiden könne allein die Schrift sein: Nur sie lehre die Täuschungen des Teufels als solche zu durchschauen und entlarve z. B. die falsche Wundertätigkeit.335 Am Beispiel von Stifel wurde bereits hin­ reichend deutlich, dass die bibliozentrischen Richtungen in der Schrift die einzige Handhabe sehen, anhand derer grundsätzlich Gott und Teufel unter­ schieden und Teufel und Antichrist in ihrer Scheinheiligkeit angezeigt werden können.336 Diese Unterscheidungsleistung wird der Schrift auch von Müntzer zugespro­ chen. Da auch der Teufel sich Geistoffenbarungen in Träumen und Gesichten bediene, müsse der Ursprung der Geistoffenbarungen genau geprüft werden. In diesem Zusammenhang verweist auch Müntzer auf die Schrift: Zwar erzeuge sie den Geist nicht, müsse aber vor dem Hintergrund des sich göttlich gebären­ den Teufels als Korrektiv zur Scheidung der Geister herangezogen werden.337 Müntzer plädiert für ein dynamisches Schriftverständnis, welches sich im Aus­ tausch von Geistoffenbarung und Schriftbestätigung konstituiert. Da die An­ kunft des Glaubens auch trügerisch sein könne, brauche der Mensch eine Bestä­ 334  Den Teufel in rechter Weise zu identifizieren und von Gott zu unterscheiden, ist das eigentliche Ziel des frühreformatorischen Teufelsdiskurses; den Flugschriftenautoren liegt alles daran, den Teufel als Teufel und Gott als Gott erkennen zu lehren, vgl. Barth: Teufel 116. Diese Unterscheidung zu lehren, sieht Barth als das eigentliche Ziel der gesamten Ver­ kündigung Luthers: „Die gesamte Theologie Luthers will nichts anderes als die Unterschei­ dung zwischen Gott und Teufel lehren, eine Unterscheidung, die sie als nur in Jesus Christus möglich erkennt. Alles Reden von Gott und dem Teufel in ihr ist daher ein einziger mäch­ tiger Hinweis auf Christus. So betrachtet, besteht die reformatorische Entdeckung deswegen – auf eine letzte Formel gebracht – in der Feststellung, daß Gott nicht der Teufel ist: in der Entdeckung Jesu Christi.“ (Barth: Teufel 210). „Das heißt für das Selbstverständnis der Reformation: Die reformatorische Entdeckung besteht darin, daß Gott nicht der Teufel und daß der Teufel nicht Gott ist.“ (Barth: Teufel 142). Relativierend muss allerdings festgehal­ ten werden, dass bei Luther die Unterscheidung von Gott und Teufel keine klar benannte Fundamentalunterscheidung ist, der sich womöglich alle anderen Unterscheidungen, wie z. B. diejenige von Gesetz und Evangelium, unterordnen ließen. 335  Z. B. Luther: Man solle „[…] durch und auß der schrifft gewiß seyn, das die tzeychen, welche alleyn ane das wort geschehen, des teuffels tzeychen sind […].“ (WA 8; 532,19 f.). Vgl. auch Eberlin: „Der allmechtig Got hat außgeschickt seyn wort zu vnsern letsten zeytten wider das reych des antichrists, welchs boeß reych seynen grund vnd feste hat ynn selbs er­ dichtem gotßdienst, gut scheynend vor den menschen, als habens ein gestalt der weyßheyt vnd andacht. Aber ym grundt nichts seind dann netz, daryn zufahen selen, gut vnd leyb, wie vns yetzt zeygt das war Gottes wort vnd tegliche erfarung, wir sehen, das all vnser gottis dienst widerig ist dem waren, so yn heyliger Biblia geschriben ist.“ (Eberlin: Zuschreiben 130). 336  Vgl. oben 161 ff. 337  Vgl. oben 181.

2.  Innere Kohärenz

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tigungsinstanz, die ihm Gewissheit schaffe, an Gott und nicht an den Teufel geraten zu sein, da der Teufel andernfalls mit seinem Verwirrspiel und seinen Täuschungen als Engel des Lichts die Menschen allzu leicht verführen könne. Diese Bestätigungsinstanz ist Müntzer die Schrift; mit ihrem Zeugnis könne der Geist geprüft werden auf seine göttliche oder teuflische Herkunft. Damit erfüllt die Schrift auch bei Müntzer eine ganz wesentliche theologische Aufga­ be: den Engel des Lichts als Teufel zu enttarnen. Allein im Rahmen des Unter­ scheidungsproblems von Gott und Teufel erhält die Schrift bei Müntzer einen unverzichtbaren Stellenwert und eine hermeneutische Funktion: als Unter­ scheidungsinstanz zwischen Gott und Teufel – für die Ankunft und den Emp­ fang des Glaubens hingegen sei sie entbehrlich. Sowohl die bibliozentrischen wie die spiritualistischen Richtungen sehen in der Schrift das entscheidende Korrektiv für die Bestimmung dessen, was als teuflisch zu gelten habe. In Abgrenzung zum altgläubigen Traditionsverständ­ nis sehen sich die reformatorischen Flugschriftenautoren in der Pflicht, auf der Grundlage der von der Schrift bereitgestellten Kriterien die Unterscheidung von Gott und Teufel neuartig vorzunehmen und ihren Rezipienten zu vermit­ teln. Dabei werden gerade im Hinblick auf die Unterscheidung von Gott und Teufel bestimmte literarische und rhetorische Strategien als besonders erfolg­ versprechend qualifiziert. In der Reformationszeit ist allgemein ein signifikanter Aufschwung der An­ tithetik zu beobachten.338 Insbesondere in den Flugschriften ist die antithetische Denk- und Darstellungsweise aufgrund ihrer persuasiven Funktionalität außer­ ordentlich stark ausgeprägt.339 Der Aufschwung der Antithetik stellt dabei nicht einfach eine stilistisch-rhetorische Marotte dar, sondern korrespondiert mit der Ausrichtung der reformatorischen Theologie als Unterscheidungslehre.340 Die­ ser theologische Sachgehalt der Antithetik kommt gerade auch hinsichtlich der 338 Vgl. Hamm: Einheit und Vielfalt 83. Die allgemeinreformatorische Grundstruktur der scharfen Alternative stellt den Gegenentwurf zum spätmittelalterlichen Gradualismus dar. 339 Zur persuasiven Funktionalität der Antithetik in der Reformationszeit siehe Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 105–107; Reumann: Das antithetische Kampf bild 9–37. 340  Nach Beutel ist die Antithetik für Luther eine „sachnotwendige Denk- und Sprach­ form der Theologie“, welche sich als „strukturprägende Konsequenz aus seiner Einübung in den modus loquendi scripturae“ ergebe (Beutel: Unterscheidungslehre 450). Ausgehend von der antithetischen Wirklichkeitswahrnehmung der Schrift konstituiere sich für Luther Theologie im Vollzug rechten Unterscheidens. Dabei gilt es zu beachten, dass nach Luther das Unterschiedene nicht auseinander gerissen werden darf (vgl. Beutel: Unterscheidungs­ lehre 451). Luthers Antithetik sei dialektisch, nicht dualistisch qualifiziert, wie das Beispiel von Gesetz und Evangelium erweise: „Sie zielt nicht auf ein Trennen und Auseinanderreißen der Gegensätze, sondern auf die distinkte Wahrnehmung ihres strittigen Beieinanders.“ (ebd. 452). Selbst der Teufel gehöre für Luther ins Evangelium wie die Schlange ins Paradies (vgl. ebd. 452). Die Unterscheidungskunst bezeichne dabei keine einmalige analytische Operation, sondern einen Lebensvollzug in immerwährender Opposition zum Teufel als dem Verunklarer aller Unterscheidungen (vgl. ebd. 452). Vgl. dazu auch Ebeling: Unter­

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IV. Gegenwartsverständnis

Unterscheidung von Gott und Teufel zum Tragen. Damit entsprach der Ge­ brauch der Antithetik in besonderer Weise der Problemlage der reformatori­ schen Gegenwart, in welcher göttliche und teuflische Lehre und Kirche in neu­ artiger Weise zu unterscheiden waren. Die Antithetik als rhetorische Strategie schien dieser neuen Unterscheidungserfordernis am besten gerecht zu werden. Generell findet sich die Hochschätzung der Antithetik als Erkenntnisprinzip in diversen Flugschriften.341 Müntzer z. B. betont, die Wirklichkeit lasse sich nur in Gegensätzen erfassen: „Dann es haben alle urteyl das hoechst gegenteyl bey in selber. Wo sie aber nit zusammen verfast werden, mag keyns gantz und gar verstanden werden (wie helle oder klar es ist) on des andern unaußsprechli­ chen schaden.“342 So werde stets das „hoechst gut mit dem gegenteyl“ erklärt.343 In diesem Sinne hält Paulus Speratus fest, dass Christus und Antichrist jeweils erst durch ihr Gegenteil begriffen werden könnten: „Auch eben wie wir an dem hellen tag / weyß vnd schwartz von ainander / ja ains on das ander nicht kennen mügen. Also / vns Christus vnd der widerchrist allain das helle liecht der geschrift / ja auch ainen nicht on den andern anzaygt.“344

So macht auch Luther von der Antithetik regen Gebrauch, um den Papst als genaues Gegenteil von Christus und damit als Antichrist darzustellen.345 Er beurteilt die antithetische Gegenüberstellung als besonders geeignet, gerade den Laien die schwierig zu erlangende rechte Erkenntnis des Teufel und die PapstAnti­christ-Identität zu vermitteln.346 scheiden 420–459; Ders.: Luthers Wirklichkeitsverständnis 460–475; Ders.: Der theologi­ sche Charakter von Luthers Gegensatz-Denken 20–29. 341  Weit verbreitet war z. B. das Passional Christi und Antichrist (1521; WA 9; 701– 715), wo in Text und Bild die Gegensätzlichkeit von Papst und Christus dargestellt wird. Zur Antithetik des Passionals vgl. Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 101–107. Vgl. zur Bildantithetik als reformatorischer Strategie Oelke: Konfessionalisierung 247–251. 342  MSB 268,14–21. 343  MSB 283,9. Dieses hermeneutische Grundprinzip begegnet bei Müntzer immer wie­ der. Unablässig stilisiert er Gegensätze: Geist gegen Fleisch, lebendige Stimme Gottes gegen toten Buchstaben, Gottesfurcht gegen Kreaturenfurcht, Auserwählte gegen Gottlose, etc. Alle diese Gegensätze werden umgriffen vom Gegensatzpaar Gott und Teufel. Der Umstand, dass Müntzer das antithetische Prinzip zum hermeneutischen Schlüssel für die Wirklich­ keitserfassung erhebt, macht evident, wie zentral die Bedeutung des Teufelsmotivs in Mün­ tzers Denken ist – ohne die Negativfolie des Teufels lässt sich auch die göttliche Wirklichkeit nicht erfassen. 344  Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A2b. 345  Vgl. zu Luthers Hochschätzung der Antithetik als Vermittlungsstrategie für die Laien Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 119–121. 346  „Es gehoert aber ein verstand und scharff gesicht dazu, das man den grewel [der ‚Wüs­ tengreuel‘ als Antichrist, vgl. Dan 9,25 ff.] recht erkenne, Ist aber nicht bass zu sehen, denn wenn mans gegen Christum helt […].“ (WA 15; 752,34–36). Durch diesen Vergleich werde der z. B. Gegensatz ersichtlich, dass Christus die Gläubigen ohne deren Zutun durch sein Blut erlöse, der Papst hingegen glauben mache, des Menschen Werke könnten dies leisten, vgl. WA 15; 752,36–753,13.

2.  Innere Kohärenz

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Verschiedene Flugschriftenautoren reflektieren expressis verbis über den theologischen Wert der Antithetik, wenn sie diese als gedeihlichste Strategie kennzeichnen, mittels derer Teufel und Antichrist in ihrer Gegensätzlichkeit zu Gott und Christus erkennbar gemacht werden könnten. So erläutert z. B. Ket­ tenbach die Methode seiner Flugschrift „Vergleichung des allerheiligsten Herrn und Vaters des Papsts gegen Jesus“: „Darumb wollen wir sehen, ob der Babst und syn stand christo glychformig sey, mit im concordiere oder wider christum [sei]. […] Nun wil ich Christum und sein stathelter gegen ein ander halten, so werden sy concordiern und so gleych sein als Lucifer und sant Michael, als tag unnd nacht etc. unnd wo der stathalter ist, do ist Christus nit do heym.“347

Kettenbach verspricht sich vom antithetischen Verfahren, die grundsätzliche Opposition des Antichrist zu Christus eindringlich herausstellen zu können und erhebt es zu einem regelrechten Beweisverfahren für die Papst-Antichrist-Iden­ tität. Erst durch die direkte Gegenüberstellung komme die Gegensätzlichkeit von Papst-Antichrist und Christus in ihrer vollen Tragweite zum Ausdruck. Auch Karlstadt spricht dem antithetischen Verfahren eine spezifisch theologi­ sche Erhellungskraft zu im Hinblick auf die Unterscheidung von Gott und Teu­ fel, Glauben und Unglauben: „Gründtlich in dise sach zu kommen / wil ich zwen gegensaetze / einen wider den ande­ ren / stellen / als nemlich den vnglauben wider den glauben. Dann sie beide dester kaentlicher / vnd ein iedes teil durch das ander sichtiger wirt.“348

Auch in der Flugschrift „Von Engeln und Teufeln“ kontrastiert Karlstadt das Wirken von Gott und Teufel. Er handelt zunächst von Gott, anschließend vom Teufel; an der Gelenkstelle der Schrift begründet Karlstadt seine Vorgehenswei­ se: „Das ist von dem nutz des menschen / vnd von gottes eere gesagt / von vn­ serm schaden / vnd gottes vnere / wil ich folgend reden / denn ein gegensatz machet den andern vernemlicher.“349 Karlstadt betont, wie schwer es sei, auf­ grund des äußeren Scheins den Teufel von Gott zu unterscheiden. Der Antithe­ tik als rhetorisch-stilistischer Strategie wird dieserhalb ein hermeneutischer Mehrwert zugesprochen, da erst in der direkten Gegenüberstellung die Unter­ scheidung von Gott und Teufel möglich werde und den Rezipienten vermittelt werden könne. Erst vor dem Hintergrund dieser – von den Flugschriftenauto­ ren selber ausdrücklich benannten – Verschränkung von kommunikativer und theologischer Ebene wird der signifikante Aufschwung der Antithetik in den frühreformatorischen Flugschriften verständlich. Zugleich wird dieser Auf­ schwung zum sinnfälligen Ausdruck des frühreformatorischen Gegenwartsver­ ständnisses, wenn der von den reformatorischen Zeitgenossen konstatierten 347 

Kettenbach: Vergleichung 132,5–22. Karlstadt: Glaub und Unglaub A3b. 349  Karlstadt: Von Engeln und Teufeln C2a-C2b. 348 

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IV. Gegenwartsverständnis

neuen Unterscheidungserfordernis die verstärkte Anwendung rhetorischer Stra­ tegien korrespondiert, denen diesbezüglich eine besondere Funktionalität bei­ gemessen wurde. Auf der Grundlage der Wiederentdeckung der Schrift und der Antithetik als Erkenntnisprinzip sei in der reformatorischen Gegenwart die Internalisierung des teuflischen Blendwerks aufgebrochen und die rechte Unterscheidung von Gott und Teufel wieder neu möglich geworden. Erst jetzt werde der Sachverhalt ersichtlich, dass der Teufel sich zwar mit dem Schein der Wahrheit umgebe, doch letztlich deren ärgster Feind sei.350 Sein gesamtes Reich, seine ganze Ge­ fährlichkeit basierte auf der Macht der Lüge: „Der teüffel stund nit in der war­ heyt / sonder er fiel in seiner eygenschafft / vnd sprach auß die lugen / vnnd ist worden ein vatter der lügen [ Joh 8,44] / vnd alle seine macht steht vff lügen […].“351 Doch am Kulminationspunkt der teuflischen Machtentfaltung, gerade zu der Zeit, in der eine nochmalige Steigerung seiner Macht undenkbar scheint,352 greife Gott ein: Durch die Wiederentdeckung des Evangeliums in der reformatorischen Gegenwart seien die Gläubigen nunmehr befähigt, den Teufel und seine Handlanger zu erkennen und abzuweisen: „[…] unnd sollichs hab ich eynn gewisse hoffnung, dieweyl doch des teufels crafft und macht nichts anders ist gegen unns dann eyttel betrugk und lugen, dardurch er uns biß­ her verfueret hatt, Dieweyl aber der almechtig gott durch seyn gottlichs warhaftigs wort, des teufels boßheyt teglichs ye clerer uff deckt, Szo mogen wir uns vor des teufels lugen und boßheyten mitt hilff gottes woll bewarenn, das weder der teuffel oder die

350  Zu Luthers Verständnis der Lüge siehe Beutel: Sprache 254: Eine auch für Luthers Teufelsvorstellung aufschlussreiche Definition der Lüge betrifft das Verhältnis von Herz und Mund: „Deren Konvergenz gilt ihm als Wahrheit, deren Divergenz hingegen als das Indiz einer Lüge. Insofern sieht Luther auch denjenigen als Lügner, der in verleumderischer Ab­ sicht eine Wahrheit sagt (WA 1; 472,40–473,11). Erst recht ist ihm der Schönredner ein Lügner, weil dieser nicht allein anders redet, als er handelt, sondern dazu auch anders redet, als er denkt und fühlt (WA 42; 681,20–22).“ Diese wahrheitstheoretische Reflexion steht auch bei Luthers Bestimmung des Teufels als Lügner im Hintergrund: Das Wesen des Teufels ist abgrundtief böse, sein suggerierter äußerer Schein hingegen gibt sich fromm. Immer wie­ der verweist Luther darauf, dass auch der Teufel sich der Wahrheit bediene, allerdings in entstellender Absicht: „Der teuffel kan auch predigen, thuts aber darumb, das er yhm rawm mache und eyn anhang gewinne, als denn bricht er heraus und sehet seyn gifft und samen auch mit unter […]“ (WA 17,1; 361,35–37). Als Wolf im Schafspelz (vgl. Mt 7,15) bringe er Bibelsprüche bei, reiße sie aber aus dem Zusammenhang und verzerre so ihren Geist und die eigentliche Aussageabsicht: „Dis sind die kleyder, also predigen und schrifft furen, das es fur die rechten lere geacht wird […].“ (WA 17,1; 363,16 f.). 351  Karlstadt: Von Engeln und Teufeln B2b. „Auch ist gemelt das luegen vnd liste des teüfels harnisch vnd pfeyl seind.“ (Karlstadt: Von Engeln und Teufeln C1b). Zum Teufel und seiner Macht der Lüge vgl. zudem Karlstadt: Glaub und Unglaub C2a.C4b. Auch Karlstadt: Ob Got ein Ursach sei A2b. 352  Z. B. Luther: „[…] unnd teglich mehr und mehr der teuffel zunympt, so es anders muglich were, das solch hellisch regiment mocht erger werden, das ich doch nit begreiffen noch gleuben kan.“ (WA 6; 415,16–18).

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menschen die yme dem teuffel lenger begerend antzuhangen unns schaden mogen […].“353

Die Gegenwart markiere daher einen unhintergehbaren Wendepunkt: Die Macht der Lüge sei gebrochen, Teufel und Antichrist seien angegriffen, ihre Machtbasis erodiere: „Dann welicher mag mitt warheit ableynen, das uff dißen tag durch das wort gottes ein unzaelichs volck dem teüfel ab gerissen, und uß Antchristischen glyderen, warhafftige glyder Christi worden seind? O wie vil fallen taeglich von dem teüfel uff die seiten Christi […].“354

Oder Eberlin: „Kurtz, Gott hat seynen spieß an den Antichrist gesetzt, yhm muß ein grosser hauff abfallen […].“355 Noch allerdings sei der Teufel nicht vollends überwunden; obschon er in seiner Scheinheiligkeit bereits erkannt sei, habe sich seine Macht über Jahrhun­ derte so weit verfestigt, dass der Weg zu seiner Entmachtung beschwerlich blei­ be.356 Wiewohl sein Reich dem Untergang geweiht sei, setze sich der Teufel noch unerbittlich zur Wehr: „Aber got sy gelobt, das wor liecht kumpt wider an tag, got hat vnser noch nit vergessen, ob schon der teüfel vnd Endtchrist vnd alle boesen münch, pfaffen, hoch schuler dar wider streiten.“357

2.2  Gegenwart als Provokation des Teufels 2.2.1  Kulmination der Teufelsaktivität Die Rückbesinnung auf das Wort Gottes konnte in der Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht ohne Folgen bleiben: Durch die Offenlegung des reinen Gotteswortes regte sich das Böse, musste reagieren – der Teufel war provo­ ziert.358 Die erneuerte Predigt des Evangeliums rufe notwendig den Teufel auf 353 

Cronberg: Christliche Schriften 59. Cronberg: Strassburg 109. 355  Eberlin: Zuschreiben 133. 356  „Aber der teufel hat uns also hart in seynem gewalt gehabt, und als tzubesorgen, das wir noch nitt gantz von yhme enntlediget seyndt, deßhalb wir mit sehenden augen blint gewest, und uff dißen tag understehet unns der teufel, das hymmelisch liecht, das unns gott auß gnaden geben, von uns tzuryssen, unnd in unßere alte vinsternuß tzufuren; Sollichs thut unnd wurckt der teufel alßo, durch seine teufelische hirten und wolfe in den schafs cleydern, die reyssenden wolfe seind uns durch yhre angenummen cleyder, und yhren geystlichen scheyne und unßer blyndheyt halben, gantz unbekant geweßen; Got sey lob und danck ge­ sagt, das er uns durch seyn gnad, yhre teufelische frucht hat lernen kennen […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 46 f.). Die Entmachtung des Antichrist sei aufgrund seines zunächst noch verbleibenden Einflusses kein leichtes Untrerfangen: „Auch wirt es schwer sein, also dem Antichrist seinn apostel vnnd regiment veryagen.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 30). 357  Eberlin: Bundesgenossen 170. 358  Den erneuerten Erfolg des Gotteswortes wolle der Teufel nicht dulden: „[…] deß halb auch der Teüffel nit leyden mag ewer fridlichen haysamen fürgang im weg des herren, vnd­ 354 

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IV. Gegenwartsverständnis

den Plan: „Das glueck hat allwege das heylig Gottes wort, wenns auffgeht, das sich der Satan dawider setzt mit aller seyner macht.“359 Enttarnt und angegriffen spiele der Teufel noch einmal seinen ganzen Einfluss aus, um der Welt das Reich Gottes zu versperren.360 Dabei wurde der Teufel als handelnde Macht empfun­ den, dessen intensive Aktivität dem Wissen um seinen baldigen Untergang ent­ sprang. Er sehe seinen Einfluss schwinden und versuche verzweifelt, dem entge­ genzuwirken: „dieweil er enpfindt was uß dißem spyl werden will, durch taeglichen abgang seiner glyder, die sich zu gott und dem rechten weg keren, desßhalb wolt er das selbig gern hinderen, wie es im offtmals geraten ist.“361 In der Wahrnehmung der reformatorischen Zeitgenossen manifestiert sich der Widerstand des Teufels innerweltlich zum einen im Kampf der Papstkirche gegen die rechte Lehre, zum anderen in den auf brechenden Gegensätzen inner­ halb der reformatorischen Bewegungen. Im beginnenden innerreformatori­ schen Separatismus sahen sowohl die bibliozentrischen wie die spiritualistischen Richtungen den Teufel am Werk,362 der gewissermaßen einen Zweifronten­ krieg gegen die Wahrheit Gottes führe. Aus der Sicht Luthers und vieler weiterer Flugschriftenautoren war der Teufel neben dem Papsttum nun auch in den „Rottengeistern“ und „Schwärmern“363 aktiv. Nachdem das Papsttum geschwächt war, habe der Teufel mit dem Auf­ kommen der Spiritualisten eine neue Front eröffnet und das reformatorische Lager gespalten: „Nu ist das die geringst anfechtung, das uns die welt hasset und verfolget, daran auch der Satan nicht benuget, ßondernn unter uns selb gedenckt er seynen mutwillen tzu erstat villeücht durch glück vnd vnglück, durch guten vnd boesen schein, ewern glauben zuschwechen […].“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 138). 359  WA 15; 210,8–10. 360  „Aber der teufel hat uns also hart in seynem gewalt gehabt, und als tzubesorgen, das wir noch nitt gantz von yhme enntlediget seyndt, deßhalb wir mit sehenden augen blint gewest, und uff dißen tag understehet unns der teufel, das hymmelisch liecht, das unns gott auß gnaden geben, von uns tzuryssen, unnd in unßere alte vinsternuß tzufuren; Sollichs thut unnd wurckt der teufel alßo, durch seine teufelische hirten und wolfe in den schafs cleydern, die reyssenden wolfe seind uns durch yhre angenummen cleyder, und yhren geystlichen scheyne und unßer blyndheyt halben, gantz unbekant geweßen; Got sey lob und danck ge­ sagt, das er uns durch seyn gnad, yhre teufelische frucht hat lernen kennen […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 46 f.) 361  Cronberg: Strassburg 111. Vgl. auch die Flugschrift Botschaft aus der Hölle, in welcher der Teufel alle Kräfte mobilisiert und Luther persönlich aufsucht, um ihm die Feind­ schaft zu erklären: „Die ganze Sammung der höllischen Pforte haben sich zusammengefügt und den Aufruhr, so Martinus Luther von wegen Göttlichs Wortes erregt, in Bedenken ge­ nommen, auf daß sie solchs möchten gewehren […].“ (Botschaft aus der Hölle 317). 362  Vgl. z. B. Luther: WA 15; 210 ff.; Eberlin: Warnung 266 f.; vgl. zu Müntzer oben 177 ff. 363 Luthers „Schwärmer“-Begriff ‘ war eine polemische Diffamierung, aber auch eine theologische Bestimmung: Sprachlich abgeleitet von umherschwärmenden Bienen sollte er den von Luther z. B. bei Karlstadt und Müntzer empfundenen aufrührerischen Mangel an innerer und äußerer Ordnung zum Ausdruck bringen, vgl. Leppin: Art. „Schwärmer“ 628.

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uben, und ob wyr seyner laruen, den Papisten, von ausßen tzu starck sind, will er uns durch uns selbs von ynnen tzurtrennen und vertilgen […]. Wyr wissen woll, was er ym synn hatt, spricht S. Paulus 2. Cor. 2. [2 Kor 2,11] Nu er sihet, das er uns tzur lincken nicht tewben kann, wirfft er sich auff die rechten seytten. Vorhyn hatt er uns altzu Bepstisch gemacht, nu will er uns altzu Euangelisch machen.“364

Aus der Sicht Müntzers hingegen führte die lutherische Bewegung die Verfeh­ lungen des Papsttums in lediglich anderer Weise fort; auch sie sei teuflischen Ursprungs und versuche mit aller Macht, die Gottlosigkeit in der Welt zu erhal­ ten und zu rechtfertigen. Die bereits zuvor latent vorhandenen innerreformatorischen Spannungen wuchsen sich vor allem im Kontext der Bauernkriegsjahre zu scheinbar unüber­ windlichen Gegensätzen aus. In den konkreten innerweltlichen Auseinander­ setzungen wurde in theologischer Hinsicht vor allem die Frage virulent, ob der Kampf gegen den Teufel und seine Handlanger rein geistlich oder auch weltlich und damit gleichsam haptisch zu führen sei – in pragmatischer Hinsicht zuge­ spitzt: ob man den Teufel mit weltlicher Gewalt bekämpfen könne bzw. müsse. In diesem Zusammenhang war vor allem die Rolle der Obrigkeit heftig um­ stritten: Sollte sie lediglich weltlichen Frieden und äußere Sicherheit aufrecht­ erhalten, sich dabei auf den weltlichen Bereich beschränken und dem geistli­ chen Regiment den Teufelskampf überlassen, oder müsse sie sich geistliche Be­ lange zu eigen machen und ihr Schwertrecht zur Verwirklichung des Gottesreiches und Vernichtung der Teufelsdiener einsetzen? Müntzer positioniert sich eindeutig, wenn er auf der Basis seiner Teufelsvor­ stellung Gewaltgebrauch legitimiert und gar als unverzichtbar kennzeichnet: Der Antichrist könne nur mit Gewalt besiegt werden.365 Dies sei zunächst Auf­ gabe der Obrigkeit: Nach Müntzers Auslegung von Röm 13,4 beinhalte der Schutzauftrag der Obrigkeit die gewaltsame Vernichtung der Gottlosen; wo die Obrigkeit diesem Auftrag nicht nachkomme, müsse sich das Volk dieser Aufga­ be (auch gegen den Widerstand der Obrigkeit) annehmen. Die Gegenwart sei nicht die Zeit des Friedens, sondern des Schwertes, mit welchem dem Teufel seine Herrschaft genommen werden müsse. Dabei dürfe es keine falsche Rück­ sicht auf die Schwachen im Glauben geben – dies komme letztlich einer Vertei­ digung der Gottlosigkeit gleich. Ähnlich argumentiert auch Karlstadt: Die Ein­ flüsse des Teufels müssten – gerade im Hinblick auf die Schwachen – konse­ quent aus der Kirche verbannt werden.366 Im Unterschied zu Müntzer vertrat 364  WA

10,2; 11,15–12,2. Vgl. zu Müntzers Gewaltlegitimation oben 187 ff. 366  Diese Haltung nimmt Karlstadt z. B. hinsichtlich der Bilderfrage ein. Da Bilder und Götzen teuflische Instrumente seien, mit denen er zum geistlichen Ehebruch herausfordere (vgl. Karlstadt: Ob man gemach 88,11–14), müssten sie gerade im Hinblick auf die Schwachen beseitigt werden (vgl. ebd. 88,24–26). Die vermeintlichen Argumente, die Bilder zu beseitigen sei Aufruhr und die Rücksicht auf die Schwachen sei ein Dienst der Nächsten­ liebe, weist Karlstadt als teuflische Verdrehung zurück: „Ergernus und liebe des nechsten ist 365 

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IV. Gegenwartsverständnis

Karlstadt jedoch die Legitimation von Gewalt lediglich gegen Sachen, nicht gegen Menschen.367 Die meisten reformatorischen Flugschriftenautoren lehnen jedoch Gewaltan­ wendung zur Herbeiführung des Gottesreiches strikt ab. Legitime Gewaltan­ wendung bleibe auf die Obrigkeit beschränkt, die ihr von Gott verliehenes Ge­ waltmonopol allein in weltlicher Hinsicht zur Sicherung äußeren Friedens aus­ üben dürfe.368 Der Kampf um das Gottesreich sei ein rein geistlicher – und also auch allein mit geistlichen Waffen zu gewinnen.369 In diesem geistlichen Kampf geht es z. B. nach Luther vor allem um die Wiederherstellung der Reinheit der Lehre – die defizitäre Lebensführung vieler Menschen dürfe nicht dazu verlei­ ten, sie gewaltsam zu vernichten, sondern müsse Ansporn sein, sie zu beleh­ ren.370 Die Rücksicht auf die Schwachen sei ein unaufgebbares Gebot christli­ cher Nächstenliebe.371 Das Wort Gottes sei immer durch Irrlehren gefährdet,372 doch solle man im Geiste fechten, der redliche Geist werde sich durchsetzen.373 ein teüfelischer mantell aller boßheyt“ (vgl. ebd. 88,1 f.). Durch die Hochschätzung der Bil­ der werde Gottes Ehre beschnitten; dies werde mit pädagogischen Argumenten gedeckt und verschleiert: „Der teüffel hat disen schalcks mantel erdacht / gleich als er auch das erfand / und sagt / das die bilder der leyen bücher seind. Denn der tüffel hat dadurch dem wort gottes sein ere dieplich ab gestolen […]“ (vgl. ebd. 90,15–18). Daher dürfe man die Bilder als „des teu­ fels lockpfeyffen“ nicht dulden und müsse sie gerade im Hinblick auf die Verführbarkeit der Schwachen zerstören (ebd. 95,19–23). Siehe zur Bilderfrage auch Karlstadt: Von abtuhung der Bylder. Karlstadts Rigorismus trieb in in direkte Konfrontation mit Luther, wobei der Dissens nicht vorrangig die teuflische Herkunft und Funktion der Bilder betraf, sondern die Frage, wie mit diesen teuflischen Einflüssen umzugehen sei. 367  Siehe dazu Karlstadt: Von abtuhung der Bylder 235 ff. 368  Vor dem Hintergrund der Zweireichelehre ist z. B. für Eberlin das Gewaltrecht für die Obrigkeit reserviert, welche die Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen beauftragt sei – dies allerdings nicht in christlicher, sondern rein weltlicher Mission: „[…] mag ain oberkait wider sie fechten, nit als Christen, sonder als haiden, dar zu gebruchen das weltlich schwerdt […].“ (Eberlin: Letztes Ausschreiben 194). Vgl. zum rein weltlichen Auftrag der Obrig­ keit vor allem Luther: Von weltlicher Obrigkeit (WA 11; 245–281). 369  Das Schwert, welches Christus gesandt hat, sei ein rein geistliches Schwert, vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre S1b; Wider Murnars Lyed C3b; Christförmige Lehre Q2b). Vgl. auch Luther: Die innerweltlichen Auseinandersetzungen seien nur vordergrün­ dig; der eigentliche Kampf gehe gegen den Teufel, weshalb dieser Kampf auch nur auf geist­ licher Ebene geführt werden könne, vgl. Luther: „Denn wyr fechten hie nicht alleyne wid­ der blut und fleysch, sondern widder die geytlichen boesewicht ynn der lufft, wilche mit gebet mussen angryffen werden.“ (WA 18; 359,31–33). 370  „Denn der heylige geyst taddelt falsche lere und duldet die schwachen ym glauben und leben […]. Weyl denn diser geyst [Müntzer] dahynaus will, das er sich an unserm krancken leben ergert und so frech urteylt die lere umbs lebens willen, so hat er gnugsam beweyset, wer er sey. Denn der geyst Christi richtet niemand der recht leret und duldet und tregt und hilfft den, die noch nicht recht leben, und verachtet nicht also die armen suender, wie diser Phariseischer geyst thut.“ (WA 15; 218,6–16). 371  „Darumb erfordert es die liebe, das du mitleyden hast mit dem schwachen.“ (WA 10.3; 17,11). 372  „Es muessen secten seyn und das wort Gottes mus zu felde ligen und kempffen […].“ (WA 15; 218,20 f.). 373  „Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen. Werden ettlich ynn des ver­

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Wo es aber gewalttätig werde, da solle die Obrigkeit eingreifen mit ganzer Här­ te.374 Mit Gewalt könne in Glaubensachen nichts erreicht werden, nur ein Sieg im Geiste werde nachhaltig sein 375 – „Es ist eyn geystlich streyt, der die hertzen und seele dem teuffel ab gewynnet.“376 Der Antichrist könne nicht mit Gewalt besiegt werden; erst die Parusie Christi werde ihn vernichten: „Daniel. viij. [Dan 8,25] spricht: ‚Er [der Antichrist] soll onn hand tzur knursset wer­ den‘, das ist, nit mit dem schwerd und leyplicher gewalt. Und S. Paulus ij. Thess. ij. [2 Thess 2,8] sagt von ym alszo: ‚Unszer herr Jhesus wirt yhn todten mit dem geyst seynes munds und wirt yn vorstoren durch das erleuchten seyner tzukunfft‘.“377

Der Teufel könne wohl Blutvergießen anrichten, doch lasse er sich dadurch nicht überwinden.378 Der Gebrauch von Gewalt ist z. B. nach Stifel vielmehr ein Merkmal des Antichrist, von dem wahre Christen sich zu distanzieren haben.379 Auch Eberlin betont, ein Christ sei gefordert zum Streit, doch solle dieser ge­ waltlos sein: „Der Christlich streyt stat ym predigen, der Christlich syg statt in sterben vmb der warhait willen, vnd in lyden alles vbel, in gedult vnnd hoff­ fueret: Wolan, so gehets nach rechtem kriegs laufft. Wo eyn streyt und schlacht ist, da mues­ sen ettlich fallen und wund werden. Wer aber redlich ficht, wird gekroenet werden.“ (WA 15; 219,1–4). 374  „Wo sie aber woellen mehr thun denn mit dem wort fechten, woellen auch brechen und schlahen mit der faust, da sollen E. F. G. zu greyffen, Es seyen wyr odder sie, und stracks das land verbotten und gesagt: Wyr woellen gerne leyden und zusehen, das yhr mit dem wort fechtet, das die rechte lere bewerd werde. Aber die faust halltet stille, denn das ist unser ampt, odder hebt euch zum lande aus. Denn wyr, die das wort Gottes fueren, sollen nicht mit der faust streytten.“ (WA 15; 219,5–11). 375  „Predigen und leiden ist unser ampt, nicht aber mit feusten schlahen und sich weren. Also haben auch Christus und seyne Apostel keyne kirchen zu brochen noch bilder zu ha­ wen, sondern die hertzen gewonnen mit Gottes wort, darnach sind kirchen und bilder selbs gefallen.“ (WA 15; 219,15–18). 376  WA 15; 219,11 f. 377  WA 8; 677,22–25. Vgl. auch WA 10,2; 38,1–3; WA 15; 753,15–25. Vgl. auch Luther: Offenbarung des Endtchrists Y2b: „Also soll verderben vnnd vndergeen der schalck / der sich wider Gott vnd alle creatur / one hand / vnd allain durch den gayst des Teufels erhebt vnd auffwirfft / damit ain gayst den andern erwürge / der gayst Christi den gayst des Endtchrists […].“ Vgl. auch Kettenbach: „aber ich sich wol, das die schrifft muß erfült werden, da Dani­ el von schreibt am 8. [Dan 8,25], 11.: er (vernim der antchrist vnd sein anhang) wirt on schwert vnd handt getoedt. Darumb vnderstee sych kainer auß zu dilgen mit waffen, es muß mit dem schwert des gaist geschehen, Ephe. 6 [Eph 6,17], vnd wie Esa. 11 [ Jes 11,4] Sagt: er wirt den gotlosen toedten mit dem gaist seiner lepssen vnd das erdrich schlagen mit der ruet­ ten (das ist mit seinem hailigen euangelio, Psal. 2 [Ps 2,9]: Jn virga ferrea) seines munds, wie 2. Thessal. 2 [2 Thess 2,8].“ (Kettenbach: Vermahnung 212). Vgl. auch Botschaft aus der Hölle 324. 378  In der reformatorischen Sache handle man letztlich „[…] nit mit menschen, szondern mit den fursten der hellenn […], die wol mugen mit krieg und blut vorgissen die welt erful­ lenn, aber sie lassen sich damit nicht uberwinden.“ (WA 6; 406,7–9). Da dem Teufel durch die Wiederentdeckung des Evangeliums seine Lügen aufgedeckt seien, bedürfe es keiner leiblichen Gewalt mehr, um sein Reich zu Fall zu bringen, vgl. WA 8; 678,4–11. 379 Vgl. Stifel, oben 173.

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IV. Gegenwartsverständnis

nung zcu gott.“380 Wo Gewalt gebraucht werde, gehe die Strategie des Teufels auf, den geisltichen Kampf der Christen von sich abzuwenden und in leiblicher Form gegen die Menschen zu lenken: „So kompt der teuffel vnd richtet ab sich den streyt, vnd wendet yhn vff die menschen. Unnd das er dem boeßen mutwillen zcustreytten (welcher yn vilen hertzen verborgen ist, vnnd gewurtzlet) ain schyne mache, als er allen lastern gutten schyn vffsetzt, so leret er, man sol lyplich fechten wider die menschen, vnd das nit erber gemuet erschrecke ab diser morderey, sonderlich, so Christus leret bruderliche liebe, so leret der teuffel, man soll wider die vngleubigen kriegen, nit als wider vnser feindt, sonder als wider gottes feindt.“381

So säe der Teufel Gewalt unter frommem Schein und lasse die Christen sich mit Blutvergießen versündigen 382 – die Rache an den Gottlosen aber gebühre Gott allein.383 Der haptische Teufelskampf und der Aufruf, den Teufel durch leibliche Gewalt zu bekämpfen, führe lediglich tiefer in die teuflische Verstickung hinein und gebe die Initiatoren selbst als Teufelsdiener zu erkennen.384 Vor dem Hintergrund des rein spirituellen Charakters des Teufelskampfes wurden von den meisten Flugschriftenautoren die Ereignisse des Bauernkrieges als letzter großer Anschlag des Teufels gedeutet und der Aufruhr entschieden abgelehnt. Die Aufstände seien Ausdruck der Provokation des Teufels, der bei der Verteidigung seines Reiches auf verschiedene Strategien zurückgreife: Zu­ erst habe er mittels des Papsttums auf Werkgerechtigkeit gegründete falsche Heilsgewissheit suggeriert und so unter frommem Schein das Evangelium total entstellt. Als dieser Anschlag des Teufels durch den reformatorischen Auf bruch entlarvt war, wechselte er seine Strategie und trieb zum Aufruhr, damit sich die Menschen entzweiten und er auf diese Weise die Heilsbotschaft konterkariere: „Da der teuffel das ersach, das er durch den Babst und seyn Apostel nichts kont aussrich­ ten, hebt er ytzt durch die baurn an zu toben und wyrd uns das Euangelium feyn hyn­ weg nehmen, das wyr yhm feynd werden, uber die koepff geschlagen und die seele dem teuffel geben werden […].“385

Das Kalkül des Teufels sei, Gottes Zorn auf die Menschen neu zu entfachen und ihn dadurch zu bewegen, das angebotene Heil wieder von den Menschen zu­ 380 

Eberlin: Letztes Ausschreiben 192. Eberlin: Letztes Ausschrieben 193. 382  Dies gilt z. B. für Eberlin im Hinblick auf die Ritterorden: „Und das in allen landen dem vnsynigen kriegen ain furdernuß geschehe, so wil der teuffel, das in allen stetten getra­ gen werd ain wyß oder schwartz creutze an sondern klaidern von dem ritter orden, do mit also durch bywonung sollicher lewt das vnrechte vnchristlich blut vergiessen ain gut ansehen gewynne, als man an teutschenn orden vnnd Johanniter orden sehen mag.“ (Eberlin: Letztes Ausschrieben 193 f.). 383 Vgl. Eberlin: Warnung 282. 384  Vgl. Luthers Verdikt über Müntzer WA 15; 210 ff. 385  WA 17,1; 359,14–17. Vgl. auch Brunfels: Anstoss 312,16–21. 381 

2.  Innere Kohärenz

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rückzuziehen 386 – gerade in der Zeit der neuergehenden Offenbarung werde Gott des Menschen Gewalttaten nicht ungestraft lassen.387 Der Teufel habe „ain subtyl netz gelegt“, indem er unter dem Anschein christlicher Gesinnung zur Gewalt reizt.388 Gegen die Schrift führe der Teufel die Vernunft an, um Kriege und Blutvergießen anzurichten; dabei betrüge er die Menschen, die auf sein Geheiß die Gottlosigkeit gewaltsam zu bekriegen suchten, sich dadurch aber immer weiter vom Willen Gottes entfernten.389 Durch diese Strategie erweist sich der Teufel gemäß dem Doppelsignet in Joh 8,44 zugleich als Lügner und Mörder. Nachdem er als Lügner durch die Wiede­ rentdeckung der Offenbarung enttarnt ist, wird er in der Deutung der Flug­ schriften immer offensichtlicher zum Mörder: zunächst im Hinblick auf das Papsttum noch vorrangig als Seelenmörder, im Umfeld des Bauernkrieges aber zunehmend auch als Mörder des Leibes.390 Ganz selten nur nehme der Teufel in 386  „Auch merckt er [der Teufel], das ietz gott gedenckt, der boßhait in oberen vnd vn­ deren ainßtayls ein end zu machenn durch die predig deß Euangelions, Welichs denn jm, dem Sathan, mißfallet, darumb gedenckt er die leut (sonderlich die liebhaber des worts) also erwecken in unru, in neyd, haß, vngehorsam […]. Und got erzuerne, seyn wort vnd alles fuegenomen hayl von vnns wende, das wir vnerloeßlich jhn Sathans reych behaft bleyben.“ (Eberlin: Warnung 258). 387  „Dan der teuffel, Ihr fuerst, waißt, das got soelichs fuernemen nie vngestraft hat ge­ lassen, vnd ietz mynder vngestraft last zur zeyt der offenbarung des Euangeliums.“ (Eberlin: Warnung 257) 388  So habe der Teufel z. B. den Adelsstand durch die Errichtung der Ritterorden verdor­ ben: „[…] der teuffel [hat] ain subtyl netz gelegt allen adelichen gemuetten, vnnd vffgericht orden zu fechtenn mit dem schwerdt, menschlich blut zevergiessen an recht, wieder gottes gebot.“ (Eberlin: Letztes Ausschrieben 191). 389  „Der teuffel gibt fur, man soll wider gottes vnd der christenhait feindt kriegen, do mit gottes ehre furgang habe, vnd das ist ware, aber man sol nit mit dem schwerdt, mer aber mit gottes wort fechten wieder sie, das selbig predigen. Darnach schleust der teufel vß der ver­ nunfft, man moege dem feindt nemen alle sein habe, auch das leben, vnd zwingt dar vff die exempel der biblia, aber er verhalt das, das got kain streyt gelobt hat, dan welchen er sonder­ lich gebotten hat.“ (Eberlin: Letztes Ausschrieben 192). Gewaltgebrauch gegen Ungläu­ bige sei nicht schriftgemäß: „Also treybt der teuffel etlich hohe gemuet dar zcu, das sie wollen got zcu dienst widder die vnglaubigen kriegen, wan sie zcu krieg genaigt sendt. Aber sie haben des kain fueg, dan kain gschryfft leret sie das, kain sondere offenbarung haben sie von got dar zu.“ (Eberlin: Letztes Ausschrieben 192). Vgl. auch Osiander: „Der teüffel, wenn er mit dem widerstandt nichts mer vermag, so schleych er haimlich unter uns und stelle sich, als woelle er der sach helffen, und sie vil besser machen. […] do er die predig des wort Gottes nit mer mocht verdrucken, gedacht er: Ich wil, unter dem scheyn des evange­ lions, eytel new lügen und irtumb lassen predigen, und also ee dann sie des gewar werden, jammer und not durch meine propheten anrichten, welche unter andern auch mit der feust wider das klar und lauter wort unnd verbot Gottes drein schlagen wolten. Do sie solches auß der schrifft nit erhalten und beweysen mochten, muesten sie gesicht und hymlische stimm fürgeben.“ (Osiander: Zollpfennig 304,36–305,3). 390 Vgl. z.  B. Eberlin, der die „Papisten“ mehrfach als „seelen verderber“ bezeichnet (Eberlin: Schänder 9). Allerdings wird in den Flugschriften auch der Gewaltgebrauch des Papsttums kritisiert, vgl. z. B. Kettenbach: Ein neu Apologia 158,9–19. Vgl. zur mörderi­ schen Aktivität des Teufels, der im Aufruhr zur Gewalt hetze Eberlin: Warnung 256 ff.

222

IV. Gegenwartsverständnis

seiner Scheinheiligkeit als Engel des Lichts die Maske ab391 – doch sei er von der neu aufgehenden Wahrheit so geblendet, dass er seine Tarnung vernachlässige und im Aufruhr sein zerstörerisches Wesen offenbare: Der Aufruhr sei „[…] eyn szonderlich gewissz eyngeben des teuffels. Denn die weyl er sihet das helle liecht der warheyt, welches seyne gotzen Bapst und Papisten auffdeckt ynn aller welt, vnnd er yhm ynn keynen weg begegen kan, die glentz sind yhm ynn die augen geschla­ gen, das er vorblendet nit mehr den liegen, lestern und das nerrischt ding fur geben kan, szo gar das er auch vorgist, scheyn farbe und gleyssen, wie er biszher gewonet hat, fur tzu wenden […], [so] feret ertzu unnd will auffruhr anrichten durch die, szo sich des Evangelii rhumenn, domit er hoffett unszere lere tzu schimpfirn, als sey sie vom teuffell unnd nit ausz gott […].“392

Entgegen seiner Gewohnheit, sich als Engel des Lichts heilig und friedsam zu geben,393 zeige der Teufel im Wüten und Morden sein wahres Gesicht: „Nichts dester weniger hat der teuffel ym synn, er wolle das gantz teutzsch land ym blut erseuffen und das Euangelium weg nemen […].“394 Als Fürst der Welt habe sich der Teufel vor allem die Bauern hörig gemacht und zum Aufruhr erweckt: „Da sihe, wilch eyn mechtiger fürst der teuffel ist, wie er die wellt ynn henden hat und ynneynander mengen kan, Der so bald so viel tausent bawrn fangen, verfuren, verblen­ den, verstocken und empören kan und mit yhn machen, was seyn aller wütigester grym fur nympt.“395

Der Bauernkrieg sei die letzte Mobilmachung des Teufels zur Verwüstung der Christenheit: „Ich meyn, das keyn teuffel mehr ynn der helle sey, sondern all­ zumal ynn die bawrn sind gefaren. Es ist uber aus und uber alle masse, das wueten.“396 So werden die innerreformatorisch divergierenden Positionen vor allem in der Wertung des Bauernkrieges deutlich: Müntzer z. B. erkennt in den Aufständi­ schen die Werkzeuge Gottes, mit denen er die teuflischen Einflüsse in der Welt gewaltsam vernichten wolle. Diese „voranderung der weldt“397 sei ohne den Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen nicht herbeizuführen. Stifel vertritt gewissermaßen eine Mittelposition, wenn er den an leiblicher Freiheit Orientierten einen Beitrag bei der innerweltlichen Durchsetzung der Reformation in gewisser Weise zuerkennt, ihnen aber doch im Hinblick auf die Erlangung des ewigen Heils den Auserwähltenstatus abspricht.398 391 

Vgl. dazu Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 266. WA 8; 681,6–16. 393  Dies gilt auch für den Antichrist, der z. B. nach Brunfels falschen Frieden verheiße: „Herwiderumb ist das evangelium des endtchrists fridsam, verheisßt zeytlichen fryden, zeytliche ere und reichtumb.“ (Brunfels: Anstoss 298,27 f.) 394  WA 17,1; 359,11–13. 395  WA 18; 358,28–32. 396  WA 18; 359,11–13. 397  MSB 255,16. 398  Vgl. oben 168 ff. 392 

2.  Innere Kohärenz

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Die überwiegende Mehrheit der Flugschriftenautoren aber sieht in den Auf­ ständischen eindeutig die Werkzeuge des Teufels, der den Umsturz der weltli­ chen Ordnungen Gottes betreibe, um die Welt ins Chaos zu stürzen.399 Insbe­ sondere Luther fand damit die von ihm mühevoll erstrittene Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Reich missachtet.400 Hatte schon das Papsttum diese Unterscheidung verwischt, indem es in das weltliche Regiment eingriff und damit Geistliches verweltlichte,401 so seien Autorität und Auftrag der gott­ gesetzten weltlichen Gewalt von den „Rottengeistern“ ebenfalls untergraben, wenn sie die Obrigkeiten auf geistliche Ziele verpflichteten und also geistlich machten, was weltlich sei.402 Dabei witterte Luther sowohl beim Papsttum als auch bei den Spiritualisten das teuflische Bestreben, die Gottesbeziehung auf menschliche Leistungen gründen und sich aus eigenen Kräften das Gottesreich verfügbar machen zu wollen.403 Vor dem Hintergrund dieser von Luther konstatierten Verwandtschaft von „Papisten“ und „Schwärmern“ erscheint der in der Forschung immer wieder unternommene Versuch, die Fronten zu hierarchisieren, wenig ergebnisträch­ tig.404 Letztlich sind für Luther sowohl die papstkirchliche als auch die spiritu­ 399 

Vgl. z. B. Eberlin: Warnung 255 ff.; Luther: WA 18; 357 ff. Unterscheidung der zwei Reiche bei Luther siehe WA 11; 245–281; Gänssler: Evangelium und weltliches Schwert. 401 Das Papsttum schmälere die weltliche Gewalt durch seinen Superioritätsanspruch, welcher in der Zweischwerterlehre zum Ausdruck komme, vgl. Luther: WA 10,3; 358,25– 32. Vgl. auch Stifel, oben 160. 402  So beklagt Luther in grundsätzlicher Hinsicht die Verdrehung von Geistlichem und Weltlichem: Des Papstes „[…] geyst hat mehr gehandelt, das er das geystliche leyblich mach­ te, wie er die geystliche Christenheyt eyne leybliche, eusserliche gemeyne macht. Dieser rotten geyst [Karlstadt] widderumb damit am meysten umbgeht, das er geystlich mache, was Gott leyblich und eusserlich macht.“ (WA 18; 181,31–34). 403 Zur Verwandtschaft der beiden Fronten des Papsttums und der Spiritualisten vgl. Zschoch: Streitschriften 291. Zur Werkgerechtigkeit der Spiritualisten vgl. WA 15; 216,29– 217,2. 404  Z. B. Johannes Schilling nimmt eine eindeutige Hierarchisierung der Gegnerschaften Luthers vor: Sein Selbstverständnis entfalte sich in Abgrenzung zum Papsttum; die Rotten­ geister und Schwärmer „[…] konnte er dagegen als abgefallene Nachfolger betrachten, die von den Erkenntnissen (falschen) Gebrauch machten […]“ (Schilling: Geschichtsbild und Selbstverständnis 98). Noch einseitiger Brückner: Wirken des Teufels 404: „Luther war in diesem Sinne [den Gegner teuflischer Häresie zu bezichtigen] auf seine römischen Gegner fixiert geblieben […].“ Gegen derartige Einschätzungen bleibt festzuhalten, dass zumindest zeitweise (vor allem im Kontext des Bauernkrieges) Luther das „Schwärmertum“ die weitaus gefährlichere und teuflischere Herausforderung zu sein scheint (vgl. dazu Barth: Teufel 86 f.). Schon 1522 deutet er die beginnenden innerreformatorischen Lehrstreitigkeiten als den „recht[en] hewbtstreytt“ mit dem Teufel, welcher die Ernsthaftigkeit und Standhaftig­ keit der Auserwählten einer letzten Prüfung unterziehe und etliche zum erneuten Abfall bewegen werde: „Alßo mussen wyr hie auch gewartten an den unßern, das yhr ettlich abfal­ len, wenn der streytt angehet, ubir das, wo der recht hewbtstreytt angehet mit dem teuffel unter uns selbs, mussen wyr gewarten, das auch die fallen, die itzt die spitzen furen, es sey Luther oder wer es woelle. Es ist nicht eyn Sophistisch disputation, wer mit Satan kempffen soll.“ (WA 10,2; 12,12–16). 400  Zur

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IV. Gegenwartsverständnis

alistische Lehre teuflischen Ursprungs; alle Erscheingungsweisen der Häresie finden ihre Einheit im Teufel, der mit verschiedenen Herangehensweisen ein breit angelegtes Verschwörungswerk gegen das Gotteswort betreibe. So glaubt Luther gar, hintergründige Beziehungen zwischen den gegnerischen Lagern erkennen zu können405 – all ihr Handeln diene ausschließlich dem teuflischen Widerstand gegen die Wiederentdeckung des Evangeliums. Umgekehrt ordne­ ten die spiritualistischen Richtungen die lutherische Reformation der Papstkir­ che zu: Sie sei lediglich eine weitere Spielart innerhalb einer teuflischen Ein­ heit.406 Hinter den innerweltlichen Auseinandersetzungen erkannten die Flugschrif­ tenautoren den Teufel, der in den jeweiligen irdischen Widersachern konkrete Gestalt annehme.407 Allerdings lässt sich der Teufel z. B. nach Luther im Unter­ schied zu mittelalterlich-volkstümlichen Teufelsvorstellungen nicht auf eine feste Gestalt festlegen; 408 er hat viele Gesichter und begegnet gerade vor dem Hintergrund seiner Eigenschaft der Verstellung in vielerlei Gestalt. Doch ist er gerade deshalb eine stete Gefahr, die im feindlichen Gegenüber leiblich erfahr­ bar sei. Der Teufel sei eine reale Bedrohung; er nehme als handelnder Akteur Einfluss auf das Weltgeschehen und bezeichne dabei nicht eine lediglich abs­ trakte geschichtliche Gegenmacht Gottes, sondern greife auch ins Leben jedes Einzelnen ein, wenn er in zerstörerischer Absicht Anfechtungen oder falsche Offenbarungen sendet. Dabei wird die Teufelsvorstellung mitunter sehr kon­ kret personalisiert, wenn er mit den verschiedenen irdischen Gegnern identifi­ ziert wird.409 Der Einfluss, den der Teufel auf die Menschen ausübt, scheint dreifach ge­ stuft: Barth unterscheidet in Bezug auf Luther zwischen den Einflussgraden „verführt“, „besessen“ und „identisch“: 410 Das Stadium des Verführtseins, wel­ ches er mit den Motiven der Teufelskindschaft und Teufelshelferschaft um­ schreibt, erfahre eine Steigerung durch die noch intensiver verstandene Allianz 405  Durch Karlstadt wolle der Teufel dem Papsttum wieder auf helfen, weshalb sich die Altgläubigen über das Auf kommen der Spiritualisten erfreut zeigten: „Solchs thut der teuffel D. Carlstads, nicht, das er des Bapsts teuffel feynd sey, von wilchem er ynn D. Carlstat gesand ist, dem Bapstum listiglich widder auff zu helffen […].“ (WA 18; 191,8–10); „Jtzt aber stehen sie [die Papisten] ynn grosser hoffnung, wyr werden uns selb vorstoeren mit eygener uneyni­ ckeytt und tzwitracht.“ (WA 10,2; 12,7 f.). 406 Neben Müntzer gilt dies z. B. auch für Karlstadt, der die Wittenberger zur „Welt“ zählt und sie daher zusammen mit der Papstkriche unter eine gemeinsame antichristliche Front subsumiert, vgl. Karlstadt: Ob man gemach 78,15 ff.; 88,1 f.; 95,9. 407  Vgl. z. B. Luther: WA 18; 359,31–33. 408 So lasse sich der Teufel nach Luther nicht in bildlichen Darstellungen fassen, vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 266; Barth: Entwicklung 210; Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 13. 409 Vgl. z. B. die wechselseitige Verteufelung von Luther und Müntzer, z. B. WA 18; 357,13–17; MSB 339,11 f. 410  Vgl. in Bezug auf Luther Barth: Teufel 98–101.

2.  Innere Kohärenz

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zwischen Teufel und Mensch in der Besessenheit. Die letzte Stufe sei mit der Identifikation von Teufel und Mensch erreicht, die Barth missverständlich auch als Inkarnation bezeichnet.411 Ohne Zweifel sind, gerade auch in den Flugschriften, gezielt vorgenommene Unterschiede in der Intensität der Verfallenheit an den Teufel und der Inszenie­ rung der Bösartigkeit der Gegner erkennbar.412 Ob sich derartige Abstufungen in der Evokation von Feindbildern jedoch streng systematisieren lassen, sei da­ hingestellt; auf jeden Fall aber muss die Grenze der teuflischen Einflussmöglich­ keiten auf den Menschen beachtet werden: So personalisiert der Teufel in Er­ scheinung treten kann – in Umwertung mittelalterlicher Teufelsvorstellungen steht fest: Mensch werden kann er nicht.413 Die innerweltliche Konkretisie­ rung des Teufels hat ihre Grenze an der Inkarnationsfähigkeit: Weil der Teufel der Teufel und eben nicht Gott ist, will und kann er die letzte Stufe in der Be­ ziehung zum Menschen nicht erreichen – selbst Mensch zu werden und sich in Wesensgleichheit auf bedingungslose Weise mit dem Menschen zu identifizie­ ren, bleibt dem Teufel verwehrt.414 411 „Luther

sieht den Häretiker als Werkzeug, als Besessenen oder als Inkarnation des Teufels.“ (Barth: Teufel 101). 412  So z. B., wenn sich im Fortgang der Ereignisse Verwerfungsurteile verschärfen, wie es bei Luther z. B. in Bezug auf das Papsttum oder die Aufständischen zu beobachten ist. Auch trifft die Verteufelung nicht alle Gegner in gleicher Weise: Während Luther die Bauern meist als Verführte qualifiziert, scheint er in Müntzer regelrecht den Teufel persönlich er­ kennen zu können (vgl. z. B. WA 15; 211,11–14). Abstufungen bei der Verteufelung sind auch innerhalb einzelner Flugschriftentexte erkennbar: Oftmals wird eine tendenzielle Verschär­ fung der Verteufelung literarisch inszeniert; die Strategie der „fortschreitenden Verteufe­ lung“ (vgl. Schwitalla: Deutsche Flugschriften 49–51) bezeichnet die innerhalb eines Tex­ tes angelegte schrittweise Steigerung der Verteufelung, die dem Leser sozusagen im Zeitraf­ fer den theologischen Verwerfungsprozess vor Augen führt und die Unausweichlichkeit des Urteils immer deutlicher werden lässt. 413  „Der Teufel aber, trotz seiner Macht, kann eben nicht Fleisch werden, sondern nur Gespenster zeugen und Teufelsdreck wälzen. Krippe und Altar konfrontieren den Teufel mit dem Unerreichbaren. Beide sind gegenwärtig, der dämonische, ungreif bare Widersacher Gottes und der Sohn Gottes. Doch nur Christus, der Sohn, ist leiblich, real gegenwärtig.“ (Oberman: Luther 165). Damit sind mittelalterliche Vorstellung zurückgewiesen, die den Teufel vermenschlichten: „Sein [Luthers] Teufelsglaube rechnet ständig mit der bedrohli­ chen Macht des Satans, diese Schau aber ist keineswegs einfach mittelalterlich. […] Luther hingegen hat den Aberglauben darin gesehen, daß man glaubt, der Teufel könne Mensch werden, mit Bockshörnern zwar und Pferdefuß verkleidet, aber eben real präsenter Mensch.“ (Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 13). 414 Vgl. Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 13: „[…] der Teufel ist gegenwär­ tig, und voller Neid möchte er Mensch werden. Genau das aber kann er nicht.“ In Korrektur zu Oberman wird man jedoch festhalten müssen, dass der Teufel keineswegs die Menschwer­ dung neidvoll anstrebe. Das Ziel, Gott gleich zu sein, gilt nur in Richtung der Erhöhung, nicht der Erniedrigung. In der Inkarnation wird ein Wesensunterschied von Gott und Teufel deutlich: Zur freiwilligen Selbsterniedrigung aus Liebe ist der Teufel seinem Wesen nach weder fähig noch willens; er kann nichts über sich dulden, sein einziges Bestreben ist, sich selbst an die höchste Stelle zu setzen. Im Unterschied zu Gott in Christus will der Teufel nur besitznehmen, nichts veräußern: „Eben dadurch unterscheiden sich der Teufel und Christus.

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IV. Gegenwartsverständnis

Die teuflische Einflussnahme auf den Menschen stellt für die Flugschriften­ autoren jedoch unzweifelhaft eine reale, in der Welt spürbare Bedrohung dar. Dabei glaubt man, eine signifikante Steigerung der teuflischen Aktivität seit Beginn der Reformation registrieren zu können. Nach Luther z. B. herrschte am Vorabend der Reformation noch eine unheimliche Ruhe vor dem Ansturm des Teufels; dieser regte sich erst mit dem Aufgehen des Evangeliums: „Darumb bleybt der teuffel auch stil sitzen, die weyl ehr durch des Evangelii niderlag hat auch den glauben Christi nidergelegt, und gaht alles wie er wil. Solt aber das Evan­ gelium aufferweckt werdenn und sich widder horen lassenn, wurd an zweyffel sich widderumb die gantz welt regen unnd bewegen […].“415

Diese Verhaltensänderung des Teufels zeuge von den fundamentalen Verände­ rungen, die sich in der reformatorischen Gegenwart vollziehen: Die erneuerte Zuwendung Gottes zum Menschen habe die Intensivierung der Aktivität des Teufels zur zwangsläufigen Folge; 416 da der Teufel in der reformatorischen Ge­ genwart sein Ende kommen sehe, werde sein Widerstand immer verzweifelter: „Und achte auch, das der teuffel den iungsten tag fule, das er solch unerhorte stuck furnympt, als solt er sagen: Es ist das letzte, drumb soll es das ergste seyn, und will die grundsuppe ruren und den boden gar auffstossen […].“417 Vor die­ sem Hintergrund erscheint die reformatorische Gegenwart als Zeit, in welcher der Teufel durch ein letztes Auf bäumen versuche, sein Ende mit Gewalt hinaus­ zuzögern. Machtentfaltung und Aktivität des Teufels haben einen historischen Höchststand erreicht: Wie in der Schrift angekündigt, werden die Leiden der Frommen und die Bosheit des Bösen in der letzten Zeit ein kaum erträgliches Maß erreichen – die gegenwärtigen Greuel seien so intensiv, dass sie nur diesen Ankündigungen der Endzeit entsprechen könnten.418 Der eine will die Menschheit besitzen, ohne Mensch zu werden; der andere wird Mensch, der Menschheit zugute, die schon sein eigen ist.“ (Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 263). 415  WA 6; 274,24–28. Vgl. zudem: „Da der Bapst regirte, war es stille von rotten, Denn der starcke hatte seynen hoff mit friden ynnen. Nu aber der stercker komen ist, und uberwin­ det yhn, und treybt yhn aus, wie das Euangelion sagt [vgl. Lk 11,21 f.], so tobet und rumpelt er so, und feret ungerne aus.“ (WA 18; 548,27–30). Vgl. auch Eberlin: Die Teufelsdiener machten gegen die Wiederentdeckung des Wortes Gottes mobil und steigern ihre Aktivität: „So das [die Rückkehr zur reinen Lehre] mercken die botten deß pabst, baettelmünch vnd curtisanen, erdencken sie alle list, do mit sie behalten ire gefaencknüß in fryd, vnd woellen hinderen goettlichs gefallen, vnd vnser eer, hail vnd nutz, do mit ire vnbilliche teüfflische, antichristlich weiß fürgang, dar vff legen sie all sinn vnd gedenck, arbeit vnd fleiß.“ (Eberlin: Bundesgenossen 84). 416  Vgl. Oberman: „Solange der gerechte Gott auf das Ende der Weltzeit harrend fern im Himmel thront, verharrt auch der Teufel am Rande der Weltgeschichte. Je näher der Ge­ rechte uns im Glauben an Christus jedoch auf Erden kommt, desto näher rückt auch der Teufel und sieht sich zu geschichtswirksamen Gegenmaßnahmen herausgefordert. Nicht der Heiligenschein, sondern die Teufelspräsenz wird zum reformatorischen Zeichen der Wir­ kung Christi.“ (Oberman: Luther 163). 417  WA 18; 358,25–28. 418  Vgl. z. B. Luther: Offenbarung des Endtchrists O3a: „Fürwar diser grewel hat

2.  Innere Kohärenz

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Das scheinbar unüberbietbare Wüten des Teufels lässt die reformatorische Gegenwart nach Off b 20,2–7 zur Zeit der Entfesselung des Teufels werden.419 Die in der Gegenwart erfolgte Wiederentdeckung der Offenbarung öffnete nicht die Perspektive einer langangelegten Phase der Besserung und Heilung, sondern bezeichnete die Erfüllung von Mt 24,24 und verwies somit auf das nahe Ende der Welt. Doch das Neuergehen der Offenbarung schlage den Teufel nicht sofort zurück, sondern reize ihn zu verstärkten Angriffen auf das Volk Gottes – die Wehen der Endzeit haben begonnen. Die Vorstellung von der Pro­ vokation des Teufels ist ein reformatorisches Kohärenzmerkmal, aufgrund des­ sen die Gegenwart in einen apokalyptischen Kontext einordnet wurde. Den Umstand, dass gemäß der Schrift das Weltende erst nach der Entfesselung des Teufels eintreten werde, hat Oberman treffend beschrieben: Nach der inneren Logik der zeitgenössischen Endzeiterwartung ging nicht wie in der wissen­ schaftlichen Abfolge die Reformation der Gegenreformation, sondern umge­ kehrt die Gegenreformation der Reformation voraus: 420 Bevor die endzeitliche Reformation Gottes den gesamten Verlauf der Heilsgeschichte abgeschlossen und sie vollendet haben werde, biete der Teufel alle Kräfte auf, das Aufgehen des Evangeliums doch noch zu hindern – die reformatorische Gegenwart ist auch die Zeit der Gegenreformation des Teufels. In diesem Sinne begegnen die Flugschriftenautoren auch dem von altgläubi­ ger Seite vorgebrachten Vorwurf, die zuvor intakte Heilsgemeinschaft zu zer­ stören und die Christenheit zu spalten.421 Gegen den Aufruhr-Vorwurf der Altgläubigen halten sie fest: Die Wiederentdeckung der Offenbarung lasse alles in Bewegung geraten und den Teufel aktiv werden; geistlicher Aufruhr sei un­ vermeidliche Folge der Verkündigung des Gotteswortes. Wie zur Zeit Christi und der Apostel schaffe das Evangelium zwangsläufig Unruhe in der Welt; 422 sich auff kaine zeyt baß reymen mügen / denn eben zum ende diser wellt / da die grewlichen zeyt einreyssen muesten.“ Die gegenwärtige Teufelsaktivität entspreche unzweifelhaft den biblischen Endzeitankündigungen: „O wie gar warlich seynd das ferliche zeyt / die diser letsten tage wol werdt seynd […].“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists X3b). 419  Vgl. dazu Oberman: Luther 63. 420 Vgl. Oberman: Luther 79; Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 12 f. Zur Kritik an Obermans Reformationsbegriff siehe Lohse: Evangelium 165 f. 421  Zum Aufruhr-Vorwurf der Altgläubigen vgl. z. B. Botschaft aus der Hölle 338 f.; Marschalck 563,22–26; Kettenbach: Practica 189,1 f. So hatte z. B. Erasmus Luther vorgeworfen, seine Theologie verursache überflüssige und unverantwortliche Unruhe (vgl. May: Je länger, je ärger 214). Insbesondere in den Ereignissen des Bauernkrieges sahen viele Altgläubige die Aufruhr-Vorwürfe bestätigt, wenn sie den Bauernkrieg als direkte Folge der reformatorischen Lehre interpretierten (vgl. dazu Maron: Art. „Bauernkrieg“ 322 f.). 422 Vgl. Stifel: Wider Murnars Lyed C1b.F2a. Vgl. auch Eberlin: Wie am Anfang der Christenheit, so zieht auch in der reformatorischen Gegenwart das glaubenstreue Auftreten der Christen Zwietracht in der Welt nach sich: „ES ist jetz ein grosse zwitracht yn der welt des Christentumbs halb, gemanet mich eben des haders, den die Jueden vnd allerley heyden widder die ersten predigen der Apostelen erweckten […].“ (Eberlin: Andere Vermahnung 13). Paradigmatisch begegnet diese reformatorische Argumentationsweise in der Flugschrift

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IV. Gegenwartsverständnis

die von den Altgläubigen kritisierte Öffentlichkeit dieser Unruhe sei mithin nicht nur das Mittel, sondern auch das Ziel des geistlichen Aufruhrs.423 Die reformatorische Gegenwart ist die kurze, aber entscheidende Kampfesphase, in welcher dem Wort Gottes zur Durchsetzung verholfen werden müsse. 2.2.2  Teufelsaktivität und reformatorisches Sendungsbewusstsein Der Umstand, dass der Teufel durch die reformatorische Lehre in Bewegung gerät und angesichts des Neuergehens der Offenbarung zur Reaktion gezwun­ gen ist, wird zum fundamentalen Bestandteil des frühreformatorischen Selbst­ verständnisses. Die entfesselte Aktivität des Teufels war den reformatorischen Flugschriftenautoren Gradmesser der Rechtmäßigkeit ihrer Lehre und Bestäti­ gung der eigenen Sendung: „Es ist eyn grosß thewr tzeychen eyns rechten glawbens und lerens bey uns, das uns der Satanas durch seyne schuppen ßo bitter und manchfeltiglich angreyfft. Were unßer lere von der wellt, ßo wurde sie die wellt loben wie des Bapsts leren bißher geschicht. Nu sie aber nicht von der wellt ist, ßondern gott hatt sie uns geben, darumb hassit uns die wellt.“424

Die Teufelsaktivität äußerte sich in z. B. in den leiblichen Verfolgungen der Anhänger der reformatorischen Lehre.425 Die Verfolgungen durch die Hand­ „Vom dem evangelischen Anstoss“: Brunfels betont, dass das Gotteswort notwendig geistli­ chen Aufruhr treibe und Zwietracht säe, vgl. Brunfels: Anstoss 294 ff. Zu reformatori­ schen Rechtfertigung gegen den altgläubigen Aufruhr-Vorwurf vgl. auch Botschaft aus der Hölle 319. 423  Vgl. z. B. Stifel, oben 170. 424  WA 10,2; 11,10–14. Vgl. zu Luther auch: „Der Satanas fulet auch selbs woll, wer mey­ ner lere meyster sey, darumb tobet er und sucht alßo schwinde griff.“ (WA 10,2; 12,23 f.). Vgl. auch den Teufelsbrief „Absag oder Fehdschrift“, welcher als Kampfansage des Teufels an Luther konzipiert ist: „WJr Lucifer, eyn herr vnd besitzer der ewigen finstirnuß, gewalttiger regirer vnd herscher der gantzen welt, auch aller schaetz vnd reichtumbs, die darinn seien etc., Entpieten dir, Martin Luther, vnsern zorn vnd vngnad.“ (Absag oder Fehdschrift 364,1–4). Vgl. auch Stifel, oben 171; Müntzer, oben 191. 425  Vgl. z. B. die Flugschrift Absag oder Fehdschrift (1524): Der von der lutherischen Lehre provozierte Teufel habe seinen papstkirchlichen Handlangern auf dem Reichstag zu Regensburg den Verfolgungsbefehl erteilt: „So haben wir mit vnsern Rethen nach gnugsa­ mer erwegung aller deiner [Luthers] vns zugefügten schmach vnd schadens gaentzlich be­ schlossen, dich vnnd deine anhenger, helffer vnd helffers helffer mit rechtem ernst zeueruol­ gen, Verkünden demnach dir vnd beurten deinen anhengern hiemit in crafft dits offen briffs vnsern vnfrid, feindschafft, vhede vnd absagung, für vns, vnsern Bapst, Cardinal, Bischoue vnnd andere vnser diener vnd Amptleut, so in vnserm gewalt, diest oder anderer gestalt vns oder inen zugehoerig sein. Woellen auch vff soelchs gegen dir vnd deinem hauffen vnd an­ hang mit Brandt, enthawptung, ertrenckung, beraubung, ewer vnd ewer kinder, leib, hab vnd güter […] grausamlich fürnemen […]. Wir habenn auch vnsern dienern vnd amptleuten samptlich vnnd sünderlich, wie die selben ietzt zu Regenspurg in versammlung gewesen, mit ernst befolhen vnd volligen gewaltt geben, in vnserm namen vnd von vnsern wegen wider dich vnd alle dein anhenger oder beschirmer zum fürderlichsten anzegreiffen vnd mit der thadt zu handeln […].“ (Absag oder Fehdschrift 366,15–367,9).

2.  Innere Kohärenz

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langer des Teufels stellten die reformatorischen Zeitgenossen in die Nachfolge Christi und der Apostel.426 So schien die Konformität der reformatorischen Lehre mit derjenigen Christi zweifelsfrei erwiesen – die Massivität der gegen­ wärtigen Verfolgungen lasse daher den Wahrheitsgehalt der reformatorischen Lehre deutlich erkennen.427 Die Verfolgungssituation sei ein untrügliches Kennzeichen der wahren Kirche – insofern führe der in der Gegenwart entfes­ selte Widerstand des Teufels die Kirche wieder ihrer wahren Bestimmung zu und heilige die Auserwählten.428 Durch die Zunahme der Verfolgungen sei nunmehr das Quorum der Auserwählten bald erfüllt und daher die Erlösung nahe.429 426  Vgl. z. B. Eberlin: „Lieben brieder, erschrecken nit, das vil leyden auff euch fallet vmb diser lere willen, dise leer mit jrem hauptlerer Christo hat allweg groß verfolgung erlitten, all propheten, Apostel, auch Christus selb seind darumb gestorben, vnd alle frummen Christen myessen verfolgung leyden.“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 146). Dies kann Eberlin auch ganz direkt auf seine eigene Person beziehen: So bringt er seine Vertreibung aus Ulm mit dem Teufel in Verbindung, der so die Predigt des Gotteswortes hindern wolle: „Do verhenckt Gott dem Teuffel ein spiel anzurichten durch meine gleissende brueder, do durch ich von euch getriben wurd […].“ (Eberlin: Andere Vermahung 2). Vgl. zum Umstand, dass Christus und die Apostel stets Verfolgungen ausgesetzt waren, auch Gesprechbiechlin neüw Karsthans 425,35–426,8. Vgl. auch Stifel, oben 155 (Christförmige Lehre 292,5–17); Müntzer, oben 192. 427  Z. B. Brunfels: „Es ist nye keiner kummen, der die warheit geleert hatt und nit sey verfolgt worden. Das wir yetzundt kein ander gewisser zeychen haben, das wort Gottes zu erkennen vor den fabelen unnd menschlichem tanndt. Dann wo es nit zweytracht macht, und wo im nit widersprochen würdt, ist es nitt das rechte evangelium.“ (Brunfels: Anstoss 304,36–40). Auch für Kettenbach zieht die Entlarvung der falschen Propheten deren gewalt­ samen Widerstand nach sich: Wer ihre Teufelslehre angreife, müsse Verfolgungen bis hin zum Martyrium erleiden: „[…] wie die Juden die Propheten verfolgten, […] Also thun jet­ zundt prelaten der kirchen vnd mithelffer irer schergen als pfaffen vnd münch, verfolgen byß inn todt die recht christlichen leerer, die dem armen verfürten leyen wider woeln bringen von heydescher menschen, von tüffels leer vnd gesetzen der Bebst zu euangelischer freyheit vnd lauterkeit […]. Also sint vmbracht treflich leerer vnd euangelisch prediger […].“ (Kettenbach: ein neu Apologia 158,9–19). Zur Verfolgungssituation als Moment der reforma­ torischen Selbstbestätigung vgl. auch die Flugschrift Botschaft aus der Hölle 327. 428  Vgl. z. B. Karlstadt: Die rechte Predigt ziehe notwendig Verfolgung nach sich: […] das wort gotis muß vorvolgung haben […].“ (Karlstadt: Berichtigung dieser Red B3b). Die Verfolgung wird gar als Taufe bezeichnet: „Ja vil werden yhm wasser der vervol­ gung / glidmas gotliches reichs.“ (ebd. B4a). Wesens- und Konstitutionsmerkmal der Kirche ist ihre Verfolgungssituation, weshalb die Krichengeschichte eine Verfolgungsgeschichte sei: „[…] behald vleyssig / Dz Christus die gantz kirch aber reich gottis deutet ßo vervolget was / vnd hinfüro noch sal vorvolgung leyden.“ (ebd. B4b). Mit den Verfolgungen versuche der Teufel, das Reich Gottes zu schmälern (vgl. ebd. C2a-b), doch würden wahre Christen durch die Verfolgungen vielmehr bestärkt (vgl. ebd. C3b). Die Verfolgungssituation sei da­ her der Nährboden, auf dem Gottes Reich gedeihe (vgl. ebd. C4a). So wissen die Christen um die Heilsamkeit der Verfolgung und lassen sich davon nicht schrecken, sondern nehmen Gottes strafende Barmherzigkeit als Vorlauf der Heiligung dankbar an (vgl. ebd. C4b). 429  „[…] die rechten Christen / dz man sy darfür erkennen müg / muessen durch verfol­ gung werden auferweckt / damit die zal der martrer vnd vnserer mit gebrueder erfüllet wird […]“ (Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a).

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IV. Gegenwartsverständnis

Dabei war der Verfolgten-Status auch innerreformatorisch hart umkämpft: So hielten sich z. B. Luther und Müntzer gegenseitig vor, mit ihrem persönli­ chen Schicksal als Verfolgte zu kokettieren, gleichwohl tatsächliche Verfol­ gungssituationen geflissentlich zu meiden.430 Derartige Auseinandersetzungen bezeugen die außerordentliche Evidenz, die dem Verfolgten-Status in allge­ meinreformatorischem Verständnis beigemessen wurde. Das Ausmaß der Ver­ folgungen wird geradezu zum Maßstab der Rechtmäßigkeit – diese Logik stell­ te eine signifikante Umbildung des papstkirchlichen Verständnisses von Recht­ gläubigkeit dar. Wo der Teufel die reformatorische Lehre durch Verfolgungen nicht unter­ drücken könne, versuche er, sie zu diskreditieren und verdächtig zu machen.431 Diese Verleumdungsstrategie ist ebenfalls Teil des teuflischen Widerstandes, mit dem er die Wiederherstellung der rechten Lehre hindern wolle. Die denunzia­ 430 Für Luther ist Müntzers Verhalten keineswegs so leidensbereit, wie er sich dessen lautstark rühme: „Darumb er auch grewlich schreyet und klagt, Er müsse viel leyden, so doch sie bisher niemand widder mit faust noch mund noch fedder hat angetast, und trewmen yhn selbs eyn gros kreutz, das sie leyden.“ (WA 15; 211,18–20). Etwaigen Verfolgungen sei Müntzer bislang tunlichst aus dem Weg gegangen; so habe er seine Aktionen (Luther spielt auf die Zerstörung der Mallerbacher Kapelle an) lediglich in der sicheren Provinz anstatt auf gefährlichem Terrain durchgeführt: „[…] es mus freylich eyn schlechter geyst seyn, der sey­ ne frucht nicht anderst beweysen kan denn mit kirchen und klöster zubrechen und heyligen verbrennen. Wilchs auch wol thun künden die aller ergisten buben auff erden, sonderlich wo sie sicher sind und on widderstand. Da hielt ich aber mehr von, wenn der geyst zu Alstett gen Dreßen odder Berlin odder Ingolstad füre und stürmet und breche daselbs klöster und ver­ brenne heyligen.“ (WA 15; 213,13–19). Umgekehrt wirft auch Müntzer Luther vor, dass er die Berechtigung seiner Lehre über deren angebliche Verfolgung erweisen wolle: „[…] er trotzet darauff, daß seyn predigen darumb das rechte wort Gottes sey, daß es also groß ver­ folgung tregt.“ (MSB 334,2 f.). Für einen Verfolgten aber ginge es Luther viel zu gut: „Es nympt mich auch sere wunder, wie es der außgeschämbte münch tragen kann, daß er also greülich verfolgt wirdt, bey dem guten malmasier und bey den hurnköstlein.“ (MSB 334,3– 6). In Leipzig und Augsburg sei die Gefahr lange nicht so groß gewesen, wie Luther glauben machen wolle (vgl. MSB 340,19–27). Dies gelte auch für Worms: Nachdem er durch das Zugeständnis der Säkularisierung von Kirchenbesitz den Adel auf seiner Seite hatte, konnte er ihn nicht enttäuschen und mußte dem Papst trotzen – andernfalls wäre er tatsächlich in Gefahr gewesen (MSB 341,15–22). Mit mächtigen Protegés im Rücken sei sein Auftritt keinesfalls mutig gewesen, wie auch das Versteckspiel mit der angeblichen Entführung auf der Rückreise von Worms bestätige, da Luther hier mit List und Tücke vor echter Verfol­ gung geflohen sei: „Du darffst warlich dir nit zuschreiben, du woltest dann noch ein mal dein edels blut, wie du dich rhümest, darumb wagen, du geprauchest doselbst mit den deinen wilder tück und lyste. Du liessest dich durch deinen rath gefangennemen und stellest dich gar unleydlich.“ (MSB 341,22–25). 431  Der Teufel wehre sich gegen die Predigt des wiederentdeckten Evangeliums, indem er die Rechtgläubigen als teuflisch denunziert und sie als Ketzer erscheinen lassen will: „Wel­ ches dann der teüffel, ain feind aller warhayt, nicht gern gelitten, sonder mit all seiner macht und krafft zu vervolgen und zu vertrucken unterstanden, und dieweyl ime an unserm leyb und leben noch nichts gestattet werden moecht, uns doch an unsern eren und christlichem namen durch die gotlosen, seine glider, zu verletzen und imm landt hyn und wider, als weren wir ketzer, andern leüten einzupilden versucht hat.“ (Osiander: Grund und Ursach 195,15–20).

2.  Innere Kohärenz

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torische Taktik des Teufels, die wahren Christen der Teufelsbundschaft zu be­ zichtigen und Rechtgläubige als Ketzer zu verleumden, habe biblische Paralle­ len: Wie einstmals Christus selbst, so werden in der Gegenwart die reformato­ rischen Zeitgenossen vom Teufel verdächtig gemacht432 – ein Umstand, durch den man sich ebenfalls in direkter Nachfolge Christi sieht. Insofern wird das Verteufeltwerden zum integralen Bestandteil des frühreformatorischen Selbst­ verständnisses; zudem spiegelt es die spezifische Charakteristik der reformatori­ schen Teufelsvorstellungen, da der Teufel unentwegt bestrebt sei, seine Unter­ schiedenheit von Gott zu verunklaren, indem er sich auf Kosten der Auserwähl­ ten „schöne brennt“.433 Das Verteufeln und die Denunziation der Auserwählten ist Methode des Teufels, ordnet sich ein in seine Strategie der Verkehrung von Gut und Böse und seinen Habitus als Engel des Lichts. Wie die Verfolgungen und Verleumdungen sind auch die Anfechtungen eine Erscheinungsform des teuflischen Widerstands. Die Anfechtungen gehören im reformatorischen Verständnis zum Christenstand notwendig dazu, sie definie­ ren ihn geradezu.434 Gegen die Argumentation der Altgläubigen, nach der die Anfechtungen durch den Teufel Folge eines fehlgeleiteten Glaubens seien und der Teufel in dieser Hinsicht bei Schwachen und Sündern besonders erfolgreich sei, halten die reformatorischen Flugschriftenautoren fest, dass gerade die wah­ ren Christen mit Anfechtungen zu leben haben – je mehr sie Gott vertrauten, je mehr versuche der Teufel, dieses Vertrauen durch Anfechtungen zu zerstö­ ren: „Aber als günstig dir got ist, so widerig ist dir der teüfel, wo er moecht din frumm haertz verkeren so fyret er nit.“435 Allein an den wahren Christen habe der Teufel gesteigertes Interesse436 – die anderen laufen ihm sowieso zu: Die 432 Die zeitgenössische Verleumdung Luthers habe ihre biblische Entsprechung in der Verteufelung Christi: Auch Christus „hat vil falscher namen tragen müssen“, da die Schrift­ gelehrten ihn verdächtigten, „er hette ein teüfel bey im und durch gewalt der teüffel thet er wunderzeichen […]“ – wenn nun auch Luther denunziert werde, bestätige dies lediglich die Rechtmäßigkeit seiner Lehre in der Nachfolge Christi (Marschalck 563,3–9). Vgl. dazu auch Cronberg: „Darumb dorfften sye [die Priester und Schriftgelehrten] unuerschampt zu Christo sprechen, er hette den teüffel bey im [vgl. Joh 10,20]. Zu gleicherweiß wie die teü­ felischen Papisten auch keinen anderen grundt dann lugen gegen des Euangeliums diener haben moegen, sonder [wider] allen grundt der geschrifft reden sye was sye gut dunckt.“ (Cronberg: Strassburg 115). Vgl. auch Brunfels: Anstoss 305,15–17. 433 Vgl. Müntzer, oben 192. 434 Vgl. Ebeling: Mensch unter der Macht des Teufels 241, der in Bezug auf Luther die Anfechtung als Folge des Christseins beschreibt: „Die Anfechtung ist gewissermaßen die Rache des Teufels für den Verlust eines Besessenen.“ Vor allem die rechten Christen können sicher sein, mit dem Teufel zu tun zu bekommen und von ihm angegangen zu werden. Dabei taucht der Teufel inmitten der Kirche, auf vermeintlich heiligem Boden auf – hier könne er am meisten Schaden wirken, vgl. Ebeling: Mensch unter der Macht des Teufels 241 f. 435  Eberlin: Bundesgenossen 5. 436  Vgl. z. B. Eberlin: „Es ist offt ain gut zaichen also angefochten werden, vnd so der teufel ain fromm mensch nit mag hindern am himel ewigklich, wil er jm doch got biter machen ain zeit lang.“ (Eberlin: Bericht 184).

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IV. Gegenwartsverständnis

Anfechtungen, welche die reformatorischen Zeitgenossen erleiden, seien „[…] ein zeichen, das sy einn rechten glauben han, darumb stryt der teüfel wyder sy. Aber ir papisten seyt des teüfels eygen, darumb darff er nit nach euch steln mit anfechten, ir seyt vff seynem weg.“437 Dabei wird die altgläubige Argumentati­ on, nach der gerade die reformatorischen Zeitgenossen in besonderer Weise Anfechtungen ausgesetzt seien, nicht bestritten, sondern bestätigt – allerdings sei das besondere Ausmaß der Anfechtungen ein sicherer Erweis für die Recht­ mäßigkeit der reformatorischen Lehre.438 Im reformatorischen Verständnis gilt die Teufelspräsenz in der Anfechtung nicht mehr als Beleg für einen defizitären Glauben oder gar für das Ketzertum, sondern wird zum Siegeszeichen des wahren Glaubens. Erst die Anfechtung mache rechte Christen, sie übe den Glauben und erfülle eine elementare Erkenntnisfunktion, da erst vor dem Hin­ tergrund des teuflischen Widerstands die Barmherzigkeit und Majestät Gottes erkennbar werde.439 In der Annahme, dass der Teufel gerade die rechten Christen verfolge und anfechte, liegt eine deutliche Umbildung der Teufelsvorstellung gegenüber dem Mittelalter vor: Die mittelalterliche Anschauung, dass die Teufelsaktivität vor allem bei den Ungläubigen und Gottlosen vorfindlich sei, wird radikal umge­ wertet und für die reformatorische Selbstvergewisserung in Dienst genommen: Wo der Teufel besonders aktiv sei, sei auch das Evangelium besonders nah.440 Daher geht es im reformatorischen Verständnis nicht darum, die Anfechtungen 437 

Kettenbach: Ein neu Apologia 174,16–19. priester so er spricht: die Lutherische haben groß anfechtung vom glauben, so sy sterben, vnd wyderruffen etwan, was sy vom Luther gehalten haben, antwort: das ist ein war zeichenn, das jr glaub recht ist nach der heilgen schrifft. darumb wil sy der teufell durch sich vnd sein schyrgen abtrynnig machen, wann wer jr glaub vnrecht, so ließ sy der boeß geist vnangefochten in jrm vnglauben sterben, wie er thut den Türcken, heyden vnd Juden, die er nit ansicht, sy woellen dann christen werden.“ (Kettenbach: Practica 200,11–19). 439  „[…] wenn du das rechte wort hast und eynen rechten verstand, so wird sich die weld widder dich setzen, dort auff der andern seyten wird dich der teuffel woellen davon reyssen, […] auff das dich Gott mit seynem wort ube und dem geyst, den er dyr geschenckt hat, zu schaffen gebe, damit du lernst, […] das Gottis stercke stercker sey denn die sterck und gewalt diser welt, welches du ausserhalb dem kampff nicht lernen wuerdest […].“ (WA 17,1; 356,34– 357,14). 440  „Diese Grundschau, daß die Güte nur das Gute sucht, Böses sich aber zu Bösem ge­ sellt und der Teufel wesensgemäß und rechtens nur Gottlose eintreibt, hat mittelalterliche Frömmigkeit geprägt […].“ (Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 18). Die refor­ matorische Sicht, dass der Teufel vornehmlich die besten Christen angreife und also die Präsenz des Teufels zugleich von der Präsenz des Evangeliums kündet, bedeutet eine radika­ le Umdeutung mittelalterlichen Frömmigkeitsverständnisses: „Diese zuvor unerhörte Deu­ tung des Teufels ist eine Revolution in der Geistesgeschichte, tausend Jahre christliche Fröm­ migkeit und abendländische Moral werden hier umgestürzt.“ (Oberman: Zwischen Mittel­ alter und Neuzeit 17). Vgl. zur reformatorischen Umdeutung der teuflischen Anfechtungen auch Oberman: Luther 186. Auch Ebeling betont in Bezug auf Luther, dass Christ und Kirche angefochten sein müssen; eine diesbezügliche Passivität des Teufels sei Zeichen seines Wohlwollens. So gehört bei Luther die Anfechtung als „ein Wesenselement zur Sache seiner Theologie“ (Ebeling: Mensch unter der Macht des Teufels 242). 438  „Der

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zu überwinden, sondern sie als wesenhaften Bestandteil der christlichen Exis­ tenz anzunehmen.441 Durch die Kulmination der Teufelsaktivität in der reformatorischen Gegen­ wart erscheint der Teufel zum einen im Vergleich zu mittelalterlichen Teufels­ vorstellungen ungleich machtvoller und gefährlicher; 442 zum anderen aber wird aufgrund der Vorstellung vom provozierten Teufel dessen bedrohliche Präsenz zum Fundament der reformatorischen Siegesgewissheit. Wie sehr die reformatorische Siegesgewissheit sich nicht trotz, sondern gerade aufgrund des entfesselten teuflischen Widerstands konstituierte, wird auch deutlich, wenn viele Flugschriftenautoren ihr eigenes Wirken als gezielte Provokation des Teu­ fels verstehen. So widmet z. B. Paulus Speratus seine Übersetzung der Luther­ schrift „Offenbarung des Endtchrists“ dem Papst-Antichrist: Sie soll ihn erzür­ nen, damit er umso mehr wüte; je mehr Übel er anrichte, desto eher werde Gott ihm ein Ende machen: „[…] Das er sich drüber erzürnen soll / vnd erst recht anfahen zu rasen vnd zu toben wider Christum in seynen gelydern / damit er dem zorn gottes vber sich herzu helffe /  vnd er als denn […] dester eer von seiner hoffart gestürtzet wird.“443

Durch die massive Provokation des Teufels rücke dieses Ereignis unmittelbar an die Gegenwart heran.

441  Vgl. Oberman: „In zweierlei Hinsicht wird die Neudeutung greif bar: Anfechtungen sind keine Krankheiten; es gibt also auch keine Heilmittel, um dem Übel ein Ende zu berei­ ten. Anfechtungen gehören vielmehr zu den typischen Lebensbedingungen aller Christen. Allein der feste Glaube an Gottes unwandelbare Verheißung macht es möglich, die Anfech­ tungen zu bestehen – nicht, sie zu überwinden.“ (Oberman: Luther 189). Vgl. dazu z. B. Spengler: „Dieweil aber der teüfel, unser widersacher, nitt feyrt, obgeleich der mensch sein leben christenlich zubringt, sich zu befleissen, ob er uns im tod, alda sein anfechtung und list am groesten seind, von Got abreyssen und an uns auch tailhaben moecht, so woellen wir davon auch ain kurtze anweysung, wie sich in solchem zu halten sey, anzaigen. […] Darin sol ain yeder christenmensch gewarnet sein und sich dargegen also erzaigen, das er sich mit dem teüfel in kain gefecht […] einlaß, sonder schweig und allain des glaubens und diser hoffnung warneme und darauf entlich verharr: Dieweil Christus für seine und aller menschen sünd durch sein unschuldigs sterben gnuggethon und bezalt hab, so wirt er in auch gewißlich nit hinziehen lassen, sonder in erhalten und seligen.“ (Spengler: Begriff und Unterrichtung 296,17–297,9). 442  Vgl. Oberman, der (bezogen auf Luthers Teufelsvorstellung) einen deutlichen Unter­ schied in der Gefährlichkeit des Teufels im Vergleich zum Mittelalter sieht: „Das ist nicht mehr der Teufel, der im Dreibund mit ‚Sünde‘ und ‚Welt‘ das sinnliche Fleisch des Menschen gegen sein besseres ‚Ich‘ verführt. Der mittelalterliche Poltergeist ist geradezu harmlos im Vergleich mit diesem Widersacher, der sich jetzt gegen Gott erhoben hat, um die Verkündi­ gung des Evangeliums mit Feuer und Schwert, mit Anfechtung und klugen Argumenten zu verhindern.“ (Oberman: Luther 163). „Mittelalterlicher Teufelsglaube ist für Luther nicht lächerlich, sondern falsch; falsch, weil sagenhaft verharmlosend, legendenhaft einschläfernd und damit brandgefährlich. In nie zuvor und danach gekanntem Ausmaß hat er die Teufels­ macht erkannt und herausgestellt.“ (Oberman: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 19). 443  Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a.

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IV. Gegenwartsverständnis

2.3  Gegenwart als Endzeit 2.3.1  Die Zeichen der Endzeit Die Gegenwart erschien den reformatorischen Zeitgenossen als durch besonde­ re Erscheinungen qualifizierte Zeit. Man glaubte die Zeichen der Endzeit zu erkennen, welche in der eigenen Gegenwart erfüllt seien oder sich zu erfüllen begannen. In den Flugschriften werden verschiedene Zeichen benannt: So z. B. Astral­ phänomene wie Sonnen- und Mondfinsternisse, Sternschnuppen, Stürme und Fluten (vgl. Lk 21,25); zudem die klassische apokalyptische Trias Krieg, Teue­ rung und Pest (vgl. Lk 21,9 f.).444 Vor allem aber wird in den Flugschriften oftmals die von der Schrift für die Endzeit angekündigte Pervertierung der Lehre durch das Auftreten falscher Prediger im Dienste des Teufels erwähnt. Diese teuflische Verfälschung der Lehre sei bereits geschehen und manifestiere sich z. B. im Ehe- und Speiseverbot (vgl. 1 Tim 4,1 ff.) 445 – der Gesamtzustand der Kirche sei so verdorben wie nie zuvor.446 Zu dieser Endzeitdiagnose stimmt das Selbstverständnis der reformatorischen Bewegungen, das Evangelium wieder zu neuer Klarheit gebracht zu haben.447 In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Geistbegabung der Laien verwiesen: Nicht nur die Theologen, sondern alle gesellschaftlichen Stände, Generationen und Geschlechter seien vom Geist Gottes aufs Neue ergriffen.448 444 Vgl. z. B. Eberlin: „Bewerliche anzaigung des hungers oder tewrung, kriegs vnnd grosses sterbens ist vns vor die thuer, vnd wir syngen vnnd springen, fuellen vnd toben [..].“ (Eberlin: Erfurt 250). 445  Vgl. zur teuflischen Verfälschung der Lehre in der Endzeit durch Ehe- und Speisever­ bot z. B. Kettenbach: „[…] dauon Paulus redt inn der ersten epistel zu Thimotheo am vierd­ ten capittel [1 Tim 4,1 ff.]: Jn den letsten tagen etc. vnd die sollich gerechttigkait leren vnd predygen also, durch eur werck, die euch gefalen, den himel zustürmen, die seind auch sol­ lich abdrünnige vnd teufels leerer, als Paulus antzaigt an dem obgemelten ort.“ (Kettenbach: Altmütterlein 64,5–9). Zu den Speiseverboten: „sant Paulus helt es für teufels leer, da ainß ain speyß absündert, alls ob sy nite gutt sei von got erschaffen oder als ob hailigkait vnd frümbkait an speiß gehenckt sey.“ (Kettenbach: Altmütterlein 72,21–23). Vgl. auch Kettenbach: Fasten 18,4–9; Kettenbach: Küchenprediger 37,2–4. Vgl. auch Eberlin, vor allem zur Zölibatsforderung: Eberlin: Eheweib 28.30; Eberlin: Andere Vermahnung 6; Eberlin: Schänder 11. Vgl. auch Osiander: Sendbrief 98,32–39. 446  Die Verfolgungen, Gotteslästerungen und Laster haben einen historischen Höchst­ stand erreicht: „Und ist wol zu vermeynen, es werde sich der schimpf erst basß heben, als nye ist gesein, von anbegynne der welte. Christus sprichts [Mt 24,9]. Es haben doch alle laster überhant genummen, und allermeyst in der geystlicheit, daz es auch nit hoeher moecht kum­ men […]“ (Brunfels: Anstoss 308,1–5). 447  Vgl. z. B. Osiander: Die Wiederentdeckung des Evangeliums zeuge von der Nähe des Weltendes und der Wiederkunft Christi: „Das ist, wie vor dem tag der morgenstern, so muß vor dem ende das euangelion herfurprechen, daselbst ist ‚die erscheinung seiner zukunft‘ [2 Thess 2,8]. Darbey sicht man, das er pald komen soll.“ (Osiander: Ratschlag 371,3–5). Vgl. auch Luther: „Darin ist tzu gedencken, nach dem und das wort gottes also angefangen ist und wurckt ongleich, das der iungstag nit ferr sey […].“ (WA 10,3; 356,3–5). 448  Vgl. z. B. Stifel, oben 168.

2.  Innere Kohärenz

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Wie zu Beginn der christlichen Verkündigung, so sei auch die reformatorische Gegenwart von der Ausgießung des Geistes Gottes unter die einfachen Men­ schen gekennzeichnet, die inmitten der Bedrängnis das Wort Gottes bezeugen bis zum Martyrium, und dem Wort so zur Durchsetzung verhelfen.449 Insbe­ sondere die Geistbegabung und der Bekennermut von Frauen, namentlich z. B. Argula von Grumbach, gilt dabei als Erweis der Endzeit.450 Parallel zur sozialen Entgrenzung der vorwiegend laikal getragenen Geistbe­ gabung war den Flugschriftenautoren auch die enorme Machtfülle des Teufels ein Erweis der Endzeit. In der Gegenwart befinde sich die Teufelaktivität auf dem Höhepunkt – der entfesselte Widerstand des provozierten Teufels konnte nur den Ankündigungen der Schrift bezüglich der Endzeit entsprechen. 2.3.2  Die Antichristvorstellungen Diese endzeitliche Machtfülle konnte der Teufel nur mit Hilfe seines Ermäch­ tigten, des Antichrist, erlangen. Auch wenn die generelle Bedeutung der Anti­ christvorstellungen im jeweiligen Denken der Autoren mitunter stark variieren kann,451 so wird doch die Identifikation des Antichrist von der überwiegenden Mehrheit der Flugschriftenautoren als das eindeutigste und evidenteste Zeichen 449  „Mercket und greuffet, wie gnediglich, vetterlich, mannigfeltig und wunderberlich Christus, unser seligmacher, in diesen letzsten tagen (als im anfang seiner kirchen auch be­ schach [Apg 2,17–19]) uns nit allein durch gelerte der schrift, sunder auch durch ander vil, junger und alter, manß- und weibsbilder, grossen bestendigkeyt, pein, marter und tod zu seinem goetlichen seligmachenten wort locket und stercket und die vervolger desselben so scheinlich entlich schendet […].“ (Osiander: Vorrede 91,11–16). 450  In besonderer Weise ist Osiander in Anknüpfung an Joel 3,1–4 das Auftreten einer Frau, Argula von Grumbachs, Erweis der Endzeit: „Welcher spruch ytzo mancherlay weyß und sunderlich ytz in gemeltem weib [Argula von Grumbach] offenlich erscheinet […].“ (Osiander: Vorrede 92,7 f.). Ihr vorbildlicher Mut gilt ihm als historische Besonderheit (vgl. Osiander: Vorrede 92,12 f.); so sieht er sie in einer Linie mit Ester und Susanna: Ar­ gula lasse sich von zu erwartendem Widerstand nicht schrecken, „[…] sunder sich gleych der heyligen Hester umb heyls willen des volcks (Hester am 4. [Est 4,16]) dem tode und der verderbung ergeben hat. Und will mit der heiligen Susanna (Danielis am 13. [St zu Dan 1,23]) lieber on werck in die hend der menschen fallen, denn mit verschweigung der warheit vor Gott sündigen.“ (Osiander: Vorrede 92,19–22). Auch Eberlin gilt der Umstand als Endzeiterweis, dass in der reformatorischen Gegenwart besonders Frauen Bekennermut zeigten und das Evangelium ungeachtet der Gefahren verkündeten (vgl. Eberlin: Zuschrei­ ben 126 f.). Auch er hebt in diesem Zusammenhang Argula von Grumbach besonders hervor (vgl. Eberlin: Zuschreiben 129). 451  Vgl. z. B. die Unterschiede bei Stifel und Müntzer: Während für Stifel die Antichrist­ vorstellung den Schlüssel für sein Gegenwartsverständnis bildet und das Movens seiner pub­ lizistischen Tätigkeit bezeichnet, tritt die Antichristvorstellung bei Müntzer eindeutig in den Hintergrund. Diese Marginalisierung verdeutlicht schon der quantitative Befund, wenn Müntzer in seinem gesamten Werk lediglich drei Mal das Substantiv „endechrist“ verwen­ det, vgl. den Häufigkeits-Index bei Warnke: Wörterbuch 411. Auffällig ist, dass dort, wo die Antichristvorstellung im Hintergrund steht, das Motiv des Teufels als Engel des Lichts an Bedeutung zu gewinnen scheint.

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IV. Gegenwartsverständnis

im Rahmen der reformatorischen Endzeitdiagnosik benannt.452 Dies gilt nicht nur aus zeitgenössischer, sondern auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, da im Antichristverständnis diachrone und synchrone Spezifika der reformatori­ schen Bewegungen besonders greif bar werden.453 Die Eigenheit des reformato­ rischen Gegenwartsverständnisses lässt sich unter Ausblendung der signifikan­ ten Veränderungen, welche die Antichristvorstellungen durch die reformatori­ schen Bewegungen erfahren, nicht angemessen erfassen. Im Folgenden sollen daher die reformatorischen Umformungen der Antichristvorstellungen genauer in den Blick genommen werden, um Einheit und Vielfalt der reformatorischen Endzeitvorstellungen sowie das in scharfer Abgrenzung zu den Altgläubigen entwickelte neuartige Gegenwartsverständnis beschreiben zu können. Im Rahmen dieser Arbeit drängt sich dabei zunächst die Frage auf, in welcher Beziehung Teufel und Antichrist zueinander stehen. Jedoch bereitet das Unter­ fangen, das Verhältnis von Teufels- und Antichristvorstellungen auszuloten, einige Schwierigkeiten, zumal in den Flugschriften selbst eine genaue Verhält­ nisbestimmung nicht vorgenommen wird.454 Mitunter erscheinen Teufel und Antichrist geradezu als Synonyme, in deren polemischer Verwendung kaum semantische Unterschiede erkennbar sind.455 Teufel und Antichrist weisen eine enge Verwandtschaft in Charakteristik und Intention auf: Beide gelten (zumin­ dest in reformatorischer Sicht) als ungemein scheinheilig, beide sind bestrebt, einen Thron zu usurpieren, der ihnen nicht gebührt.456 Doch ist die Rede vom Antichrist im Unterschied zu der vom Teufel an be­ stimmte Prämissen gebunden und insofern eine spezielle Ausprägung des Phä­ nomens des Bösen.457 Teufels- und Antichristvorstellungen sind zwar ver­ 452 

Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre 282; vgl. auch Luther: WA 10,1.2; 97,9–16. Vgl. auch die Flugschrift Offenbarung des Endtchrists, die bereits im Titel anzeigt, dass die Identifikation des Antichrist aus Luthers Sicht das entscheidende Zeichen ist. 453  Vgl. zum historiographisch herausgehobenen Stellenwert der Antichristvorstellungen Leppin: Jüngster Tag 108. 454  Dies gilt auch im Hinblick auf Luther: „Luther umreißt die Tätigkeit des Antichrists, ohne dessen Verhältnis zum Teufel klar zu bestimmen; nur das, was der Teufel durch die Ermächtigung des Antichrists beabsichtigt, läßt er deutlich erkennen.“ (Barth: Teufel 106). Zum Verhältnis von Teufels- und Antichristvorstellung bei Luther vgl. Barth: Teufel 108– 112. 455 Z.  B. bei Luther erscheinen Teufel und Antichrist oft als „Wechselbegriffe“ (vgl. Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 119 f.). So kann er z. B. von „[…] des Endchrists unnd teuffels gewalt […]“ (WA 6; 414,15.29) sprechen, ohne hier genauer zu differenzieren. Die­ ser synonyme Gebrauch begegnet in diversen Flugschriften, vgl. z. B. Kettenbach: Fasten 13,4; 15,7. 456 Vgl. Barth: Teufel 111. 457 Vgl. Sparn: Art. „Antichrist III“ Sp.  534 f. Zum einen setzt die Antichristprädikation die Geltung des Christustitels voraus: „Der Terminus ‚A.‘ ist daher nicht beliebig auf Phäno­ mene des Bösen anwendbar. Erst die Mächte oder Gestalten, die sich, vom Bösen bevoll­ mächtigt (Apk 13,1–10), gegen Gott in Christus so stellen, daß sie sich verwirrender- und verführerischerweise an Christi Platz stellen (‚anti‘- in doppelter Bedeutung), können ‚A.‘ genannt werden.“ Fernerhin ist die Rede vom Antichrist, soweit sie biblisch begründbar ist,

2.  Innere Kohärenz

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wandt, aber nicht identisch: 458 Hierarchisch gesehen steht der Antichrist im Dienste des Teufels: Er ist ein Werkzeug des Teufels, von jenem mit der Macht der Irrung begabt459 und mit der Kraft ausgestattet, falsche Wunder wirken zu können.460 Der Antichrist ist mithin nicht aus sich selbst heraus stark und mächtig, sondern durch die Kraft des Teufels.461 Auch wenn viele Fragen im Hinblick auf das Verhältnis von Teufel und Antichrist offen bleiben – der Um­ stand der Bevollmächtigung des Antichrist durch den Teufel (vgl. Off b 13,1–10) sowie das Ziel, welches der Teufel mittels des Antichrist verfolge, wird in den Flugschriften immer wieder klar benannt.462 Dabei ist das Verhältnis von Teufel und Antichrist nicht das gleiche wie von Gottvater und Christus,463 wenngleich der Antichrist als machtvoller Abge­ sandter in gewisser Hinsicht eine spezielle anthropomorphe Ausprägung der Teufelsmacht darstellt. Z. B. Wagener sieht die grundlegende Unterschieden­ heit des Antichrist vom Teufel in der menschlichen Gestalt: Während der Teu­ immer eschatotlogische Rede. Zudem setzt die Rede vom Antichrist die Verfolgungssituati­ on voraus. 458  Vgl. Barth: „Der Antichrist ist nur ein Teil, eine besondere zusätzliche Ausprägung der teuflischen Macht. […] Satan und Antichrist gehören zusammen, sie treten sozusagen gemeinsam auf […], aber sie sind nicht einfach miteinander identisch.“ (Barth: Teufel 109). 459 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre N2a; Euangelium A4b. 460 Vgl. Stifel: Christförmige Lehre 310,7–14; Luther: Offenbarung des Endtchrists N3b. 461 Vgl. Luther: Offenbarung des Endtchrists M4b.N3b. 462  Z. B. Osiander beschreibt den Antichrist als Abgesandten des Teufels; während der Teufel die Quelle der falschen Lehre sei, sei der Antichrist deren öffentlicher Lehrmeister: Aus der Schrift sei ersichtlich, „[…] wie der teuffel, ein vater aller lugen, derselbigen falschen lere ainiger prun, der anthicrist aber, des zukunft nach der wurckung des satanas ist [dessen Kommen das Werk des Satans ist, 2 Thess 2,9], derselbigen offenlicher lermeister und hand­ haber sey […].“ (Osiander: Ratschlag 321,13–15). Mit der Sendung des Antichrist wolle der Teufel das Evangelium unterdrücken und das Gericht Gottes hinauszögern: „Der anthicrist ist ein solch verfurisch, schedlich und gotteslesterlich ding, das der heylig Geist vom anfang durch alle propheten wider in hat gefochten als wider den grosten und höchsten gottslesterer und verfurer, der in letzten zeiten aus hochstem betrug und grymmigen zorn des teufels, der das letzst gericht förcht und mit verhinderung unser seligkeit gern lenger auffziehen wolt, in die welt eingefurt und auffgericht solt werden.“ (Osiander: Ratschlag 352,9–14). Vgl. zur Ermächtigung des Antichrist durch den Teufel auch Cronberg: „Der Antichristus ist warlich in uns geboren durch den teuffel, der uns durch die verhengnuß gottis umb unser aller sunde willen des aller hochstenn lasters der undanckbarckeit halben besessen hat […].“ (Cronberg: Tzwen Brieff 11). „Und ob gleich vil uß den selbigen noch hart bey irem vatter dem teüfel halten, und sich nit woellen abreissen lassen vom Antchrist (das ist die gantz versammelung in dem geist des teüfels).“ (Cronberg: Strassburg 109). „Eynnigk durch das gotlich wort, muß die Anntichristus verfurung (die der teufel under uns all gesehet hat) außgetilget werden […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 47). 463 Vgl. Barth: Teufel 109, Anm.  352. Dies gilt zumindest im kriterienhaften Verständ­ nis des Antichristbegriffs, wie er in der Reformationszeit dominiert. Die Anwendung auf eine Institution, welche eine Pluralität der Antichristprädikation voraussetzt, stellt einen bedeutenden Unterschied zur Singularität und Einzigartigkeit Christi als des gottgesandten Erlösers dar.

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IV. Gegenwartsverständnis

fel der „direkte, außerirdische Gegenspieler Gottes“ sei, mache die „menschli­ che Gestalt des Antichrist“ den Wesensunterschied aus.464 So ist der Antichrist irdischer Exponent der Teufelsmacht; dennoch darf nicht verkannt werden, dass der Teufel auch andere Menschen besessen halten kann und der Unterschied somit nicht in erster Linie in der anthropomorphischen Qualität der Teufels­ macht, sondern in der prämissengebundenen Anwendung der Antichristprädi­ kation als Gegenbegriff zum Christustitel liegt.465 Die Verwendung des Anti­ christbegriffs ist gleichsam funktional auf die Christus-Imitation bezogen und stellt insofern lediglich einen Teilbereich der Teufelsaktivität dar. Fernerhin unterliegt die Antichristprädikation besonderen sozialen und geschlechtsspezi­ fischen Einschränkungen, wenn der Teufel prinzipiell auf alle Menschen Ein­ fluss ausübt, die Antichristprädikation aber nur auf machtvolle männliche Per­ sonen Anwendung findet.466 In der vorrangigen Anwendung auf das Papsttum tritt zudem ein regionaler Aspekt hinzu, der von den Flugschriften ausdrücklich benannt wird.467 Die Unterschiedenheit von Antichrist und Teufel ist daher weniger in der irdischen Konkretion als solcher,468 sondern eher in der funkti­ onalen, sozialen und geographischen Spezifikation des Antichrist zu sehen. Insbesondere im Hinblick auf die Neuausrichtung des reformatorischen Zeitbewusstseins ist mithin nicht die Anthropomorphisierung, sondern die 464 Vgl.

Wagener: Feindbilder 68. Antichristprädikation wird in der Reformationszeit in aller Regel auf das Papst­ tum angewandt (vgl. Seebass: Art. „Antichrist IV“ 30), während folglich z. B. Juden und Türken allein dem Einfluss des Teufels unterliegen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Andersgläubigen nicht in gleicher Weise wie das Papsttum unter falschem Schein an die Stelle Christi treten wollten. 466 Während der Teufel als Feindbild prinzipiell zum Stigma aller Menschen werden kann, kann der Antichrist immer nur auf die „Mächtigen dieser Welt“ angewendet werden (vgl. Wagener: Feindbilder 68.77). Hierin liegt wohl auch die Erklärung für die lediglich verhaltene Wendung der Antichristvorstellung gegen Luther, der von den Altgläubigen meist nur als „Vorläufer“ oder „vermischter Antichrist“ bezeichnet wird (vgl. Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 173 f.; Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 215 f.). In den refor­ matorischen Flugschriften wird vielfach betont, dass der Antichrist sich durch sein Machtstre­ ben zu erkennen gebe; dass das Papsttum als Haupt der Christenheit Huldigung verlange, ist z. B. Eberlin klarer Ausdruck seines antichristlichen Wesens – „[…] welcher wil ain haupt genant syn, ist der entchrist.“ (Eberlin: Bericht 177). Auch hinsichtlich der geschlechtli­ chen Zuordnung wird die Teufelsvorstellung durch die Antichristvorstellung verengt: Wäh­ rend der Teufel gerade zum weiblichen Geschlecht intime Beziehungen pflegen könne, findet sich eine Anwendung der Antichristprädikation auf Frauen in den Flugschriften nirgendwo. 467  Auch wenn der Einfluss des Papsttums natürlich als weitreichend beurteilt wird, so wird doch in den Flugschriften immer wieder betont, dass das Einflussgebiet des Papsttums auch regionale Grenzen habe: So z. B. bei Kettenbach, wenn er feststellt, dass außerhalb des Einflussbereichs des Papsttums die Christenheit nicht so verdorben sei, vgl. Kettenbach: Ein neu Apologia 173,20–26. Vgl. zum größeren Wirkungskreis des Teufels im Vergleich zum römischen Antichrist auch Barth: Teufel 108 f. 468  Der Einflussbereich des Teufels beschränkt sich nicht auf außerirdische Sphären, wie es bei Wagener den Anschein hat, sondern gerade die Welt ist sein Territorium, so dass die Diesseitigkeit nicht als exklusiver Wirkungsbereich des Antichrist gelten kann. 465  Die

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grundlegende Verzeitlichung der Teufels- durch die Antichristvorstellung von entscheidender Bedeutung. Durch den Antichristbegriff erfährt die Teufelsvor­ stellung eine eminent zeitliche, genauer: endzeitliche Konkretion. Im reforma­ torischen Verständnis ist dem Antichristbegriff die apokalyptische Konnotation bereits inhärent, wodurch er der Teufelsvorstellung eine eschatologische Zu­ spitzung verleiht. Dies gilt sowohl in zeitlicher wie in qualitativer Hinsicht: Durch das Wirken des Antichrist erreichte die Machtfülle des Teufels ihren Höhepunkt, der gleichzeitig den Wendepunkt zum Niedergang bezeichnet. So wird der Antichristbegriff nicht eigentlich zum Ausdruck von Vermenschli­ chung, sondern von Vermehrung und Verzeitlichung der Teufelsmacht. Vor diesem Hintergrund soll den Antichristvorstellungen im Folgenden genauere Aufmerksamkeit gewidmet werden, zumal der Antichristbegriff in der Refor­ mationszeit eine signifikante Umbildung erfuhr. Im Mittelalter dominierte eine personal-biographisch konzipierte Antichrist­ legende, welche auf die Kompilation altkirchlicher Lehrtraditionen durch Adso von Montier-en-Der aus dem 10. Jh. zurückging.469 Hiernach sei der Anti­ christ ein Abkömmling des Stammes Dan, werde in Babylon geboren und spä­ ter nach Jerusalem ziehen, um dort im wiedererrichteten Tempel ein pseudo­ messianisches Reich zu errichten. Sämtliche Herrscher der Welt werden ihm huldigen, bevor seine Regentschaft nach dreieinhalb Jahren durch die Wieder­ kunft Christi beendet werde.470 Neben bzw. in eigentümlicher Weise mit der biographischen Antichristvor­ stellung verwoben, begegnet in Ansätzen auch ein plurales Antichristverständ­ nis, demzufolge auch mehrere Antichristen anhand bestimmter Kriterien iden­ tifizierbar waren.471 Auf der Basis seiner kriterienhaften Fassung wies der An­ tichristbegriff eine große Affinität zum Häresiebegriff auf, was in der Konsequenz eine deutliche Relativierung des eschatologischen Charakters der Antichristvorstellung mit sich brachte.472 So fand der kriterienhafte Antichrist­ begriff, der bereits in Ansätzen korporative Konturen tragen konnte,473 gleich­ sam zeitenthoben als Bezeichung besonders gefährlicher Häretiker Verwendung und verlor dadurch an endzeitlicher Prägnanz.

469 Vgl.

Leppin: Jüngster Tag 207; Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 16.63. Leppin: Jüngster Tag 207 f. 471  So bei Adso selbst, vgl. Leppin: Jüngster Tag 209. Diesen kriterienhaften Antichrist­ begriff hat im Mittelalter vor allem Wyclif verwendet, ohne dass dies freilich den Anfangs­ punkt einer durchgehenden Traditionslinie zu Luther bezeichnet (vgl. Leppin: Jüngster Tag 209 f.). 472  Zur fehlenden apokalyptischen Dimension des kriterienhaften Antichristbegriffs im Mittelalter vgl. Leppin: Luthers Antichristverständnis 56 f.; Ders.: Jüngster Tag 209. 473  Z. B., wenn Wyclif ihn nicht nur auf einzelne Päpste, sondern darüber hinaus (zu­ mindest in Ansätzen) auf das Papsttum als Institution anwendet, vgl. Leppin: Jüngster Tag 209–211. 470 Vgl.

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IV. Gegenwartsverständnis

Damit lassen sich idealtypisch zwei Grundtypen der Antichristvorstellung im Mittelalter klassifizieren: Zum einen der ‚eschatologische biographisch-perso­ nale Typ‘, nach dem der Antichrist als Einzelpersönlichkeit am Ende der Zeiten gemäß der Antichrist-Vita erwartet wird, zum anderen der ‚enteschatologisier­ te kriterienhafte Typ‘, demzufolge der Antichristbegriff das an bestimmten Kri­ terien identifizierbare zeitenthobene Widerchristliche bezeichnet. Ungeachtet der verschiedenartigen Akzentuierung sah man jedoch im Mittel­ alter keinen Widerspruch zwischen dem biographisch-personalen und dem kri­ terienhaften Antichristbegriff.474 Die Diskrepanz zwischen der eschatologischen Antichrist-Vita und dem enteschatologisierten kriterienhaften Antichristbegriff ließ sich durch den Gedanken überbrücken, dass der eigentliche Antichrist ver­ schiedene Vorläufer habe.475 So konnten die beiden Grundtypen der mittelalter­ lichen Antichristvorstellungen auch in Kombination auftreten, wenn ein krite­ rienbasiertes, mitunter korporatives Antichristverständnis vorliegt, jedoch vor dem Jüngsten Tag ein letzter, persönlicher Antichrist erwartet wird. Da hier zwischen eigentlichem Antichrist und dessen Vorläufern unterschieden wird und die eschatologische Konnotation gleichsam aufgespalten ist, kann dieser Antichristbegriff als „semieschatologischer Vorläufer-Typ“ bezeichnet werden. Ein Widerspruch von personal-biographischem und kriterienhaftem Typ wurde erst von Luther namhaft gemacht. Er verwarf ausdrücklich das im Mit­ telalter dominierende personale Antichristkonzept, welches als Täuschungsma­ növer vom Teufel selbst lanciert worden sei, um vom wahren Antichrist abzu­ lenken.476 Stattdessen nahm Luther die Ansätze des korporativen Antichrist­ verständnisses auf und bildete den kriterienhaften Antichristbegriff vollgültig aus.477 Die kriterienhafte Fassung ermöglichte es ihm, den Antichristbegriff in konsequenter Weise nicht mehr nur auf eine Einzelperson, sondern in struktu­ reller Hinsicht auf eine gesamte Institution, das Papsttum, anzuwenden.478 Auch wenn Luther bei der Erstellung eines kriterienhaften Antichristbegriffs an gewisse mittelalterliche Traditionen anknüpfen konnte, stellte dennoch die Ab­ kehr vom personal-biographisch konzipierten Antichristbegriff einen Paradig­ menwechsel innerhalb der Antichristvorstellung dar, der erklärungsbedürftig 474 Auch wenn z. B. bei Wycilf ein korporatives Antichristverständnis in Ansätzen er­ kennbar ist, hat er das personale Konzept nicht für obsolet erachtet, vgl. Leppin: Luthers Antichristverständnis 59. 475 Vgl. Leppin: Art. „Antichrist II”, Sp.  532. 476 Vgl. Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 16 f. Zur lutherischen Verwerfung des personalen Antichristkonzepts im Unterschied zu Wycilf vgl. auch Leppin: Luthers An­ tichristverständnis 59. 477 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 214. 478 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 216. Vgl. Luther: „Das er [Paulus, 2 Thess 2,3] yhn [den Papst] nennet eynn mensch der sund unnd kynd des vorterbenß, meynet er nit seynn person alleyn, denn das were kleyner schad, sondernn das seyn regiment nit anders sey, dann sunde und vorterbenn, und er nur regiren wirt, alle welt zu sund und helle tzu furen.“ (WA 7; 176,12–15).

2.  Innere Kohärenz

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war: Die Befremdlichkeit, welche sich bei den Zeitgenossen aufgrund der Er­ kenntnis einstellen musste, dass der Antichrist keine Einzelperson bezeichnet, sondern im Papsttum bereits seit langer Zeit zu finden sei, wird in den Flug­ schriften gezielt aufgegriffen und erläutert.479 Auch wenn der kriterienhafte Antichristbegriff in formaler Hinsicht nicht originär reformatorisch war, so erhielt er doch durch die inhaltliche Ausgestal­ tung der Kriterien ein spezifisch reformatorisches Gepräge.480 Die vorrangig rechtfertigungstheologische Ausprägung der Antichristvorstellung stellt ein ge­ nuin reformatorisches Moment dar,481 welches nicht nur die inhaltliche Unter­ schiedenheit zum Mittelalter verdeutlicht, sondern darüber hinaus auch auf ei­ nen veränderten theologischen Stellenwert der Antichristvorstellung verweist: Anders als bei Wycilf, dessen Antichristbegriff lediglich die Spitze seiner antik­ lerikalen Polemik bezeichnete, weisen die von Luther formulierten Kriterien in das Zentrum seiner Theologie.482 So wächst dem kriterienhaften Antichrist­ begriff eine eminent theologische Qualität zu, da er – gleichsam als Negativ­ folie – mit den zentralen reformatorischen Theologumena untrennbar verbun­ den ist.483

479 Z. B. in der Flugschrift Ain schöner Dialogus (1521), in welcher ein Bauer von einem anderen über das kriterienhafte Antichristverständnis unterrichtet wird: „Claus Lamp: ‚nun sag an! ich wil doch gern hören was du doch sagen wilt vom Antechrist.‘ Hans Toll: ‚Das wil ich dir sagen und es wirt dich frembd nehmen.‘ Claus Lamp: ‚Wie so?‘ Hans Toll: ‚Es hat mich auch frembd genomen und seltsam, daß der mensch oder das reich solt der Antechrist sein.‘“ (Ain schöner Dialogus 130,3–12). Nachdem im Folgenden auf 2 Thess 2,1 ff. verwiesen wird und die Antichristkritetrien entfaltet werden, scheint das Papsttum als Institution eindeutig der Antichrist zu sein: „Claus Lamp: ‚Nun must dich all teufel holen! es [der Antichrist] ist kain anders tier dann der bapst und sein reich. das het ich mein lebtag nimmer erfaren, wer das nit gewesen. Ich wil dir zwu maß weins kaufen.‘“ (Ain schöner Dialogus 130,32–36). Vgl. auch das Gesprechbiechlin neüw Karsthans 441,15–442,3; Kettenbach: Vergleichung 132,8–11. 480 Vgl. Leppin: Luthers Antichristverständnis 60. 481 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 215. 482 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 215. 483 Die „Verbindungen der Antichristologie mit der Mitte der reformatorischen Bot­ schaft zeigen, daß es sich bei der Identifikation des Papstes als Antichrist keineswegs um eine billige Polemik handelte, sondern um eine ganz konsequente, wohl durchdachte, an Kriteri­ en festgemachte Folgerung aus den theologischen Grunderkenntnissen des Reformators. Die Antichristlehre ist in dieser Form nicht weniger als die negative Kehrseite der reformatori­ schen Lehren, die aus deren Anwendung auf die Luther umgebende kirchliche Realität ent­ sprang.“ (Leppin: Luthers Antichristverständnis 52). Vgl. auch May, der ebenfalls den theo­ logischen Charakter der Antichristvorstellung Luthers herausstellt: „Wenn Luther den Papst als Antichrist bezeichnet, ist das nicht einfach eine Beschimpfung, zu erklären aus dem Gro­ bianismus des 16. Jahrhunderts im allgemeinen und aus Luthers aggressiver Heftigkeit im besonderen. Eine solche Erklärung wäre eine Verharmlosung! Die These, daß der Papst der Antichrist sei, stellt nämlich eine streng theologische Aussage dar, die aus einer biblischen Geschichtsdeutung gewonnen ist.“ (May: Je länger, je ärger 212).

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IV. Gegenwartsverständnis

Die von Luther formulierten Kriterien der Antichristvorstellung wurden von diversen Flugschriftenautoren übernommen.484 Für die Identifikation des Anti­ christ mit dem Papsttum war vor allem das aus 2 Thess 2,4 entnommene Krite­ rium, der Antichrist werde im Tempel (bzw. in reformatorischer Deutung: in der Kirche) wirken, von besonderer Relevanz.485 Das Kriterium, dass sich der Antichrist über alles, was Gott und Gottesdienst heißt, erheben werde, sah man im Anspruch des Papsttums auf alleinige Schriftauslegungskompetenz und der Verbindlicherklärung der lehramtlichen Tradition verwirklicht.486 Die Feststel­ lung, das Papsttum erhebe sich über Gott, taucht in dieser Zuspitzung im Mit­ telalter noch nicht auf und stellt insofern ein spezifisch reformatorisches Anti­ christkriterium dar.487 Die Antichristkriterien werden dabei nicht mehr wie noch im Mittelalter vorrangig am Leben, sondern an der Lehre festgemacht, worauf bereits Preuß zurecht hingewiesen hat.488 Einschränkend wird man jedoch konstatieren müs­ sen, dass Luther selbst, vor allem aber viele weitere Flugschriftenautoren die Antichristlichkeit des Papsttums auch durch dessen Lebensführung und Herr­ 484 Rhegius z. B. stellt sechs Kriterien auf, anhand derer der Antichrist erkennbar sei: „Disz seind die sechs malzaichen. 1 Die gewißne mit menschen satzung verstricken. 2 Ee­ weyber vnd speyß in lauter gleyßnerey verbieten. 3 Ain scheyn ains gaystlichen lebens fue­ ren / vnd im grund flaischlich sein. 4 Suend mit aygnen wercken woellen buessen / vnd Gotts gnad erwerben. 5 Secten auffrichten wider die ainigkait der Christlichen kirchen damit frumm zu werden vnd selig. 6 Den weg der warhait / das ist / das lauter Euangelium lestern vnd ketzerey schelten.“ (Rhegius: Ernstliche erbietung B4a). 485 Vgl. Stifel, oben 160; Luther: WA 7; 177,14 f.; auch z. B. Rychsner: Unterweisung 426,27–30; Osiander: Ratschlag 356,30–33. 486 Vgl. z. B. Luther: „Gottis gepot druckt er [der Papst] unter, seinn gepot erhebt er druber: ist das nit der Endchrist, szo sag einn ander, wer er sein muge.“ (WA 6; 454,13–15). Damit sei der Papst „eyn gott auf erdenn“ (WA 7; 177,8), bzw. habe sich gar „ubir gott [ge] setzt“, was ihn eindeutig zum Antichrist mache (WA 8; 152,6 f.). Mit seinem Primats- und Absolutheitsanspruch mache sich das Papsttum selbst zum Gott, vgl. z. B. Eberlin: Bundesgenossen 85. Insbesondere durch das kanonische Recht erhöhe sich das Papsttum über Gott, vgl. z. B. Rychsner: „Das seyndt eben die knaben des endtchrists, die da verbietten, durcha­ echten, fahenn unnd verteyben woellent mit gewalt die hailigenn geschrifft, aber den enden­ christ unnd seynn gesatz emporhebenn.“ (Rychsner: Unterweisung 437,27–30). Vgl. auch Rychsner: Unterweisung 426,243–27; 429,23–31. Ziel des Papsttums sei es, nicht nur Gott gleich zu sein, sondern sich über Gott zu erhöhen, vgl. Kettenbach: Vergleichung 143,23–28. Der geschichtliche Erfolg, den das Papsttum dabei gehabt habe, bestätige die Antichristprophezeiungen der Schrift: Der Endchrist „[…] wirt genent der aller heyligst vnnd sein gebot hoeher geacht dann gots gebot, als Paulus meldet ad Tessalo. ij. ca. ij [2 Thess 2,4].“ (Kettenbach: Vergleichung 132,12 f.). Das Papsttum erfahre bei seien Anhängern höhere Verehrung als Gott: „jr haissent Christum ein lugner, vnd den Bapst werfft jr auff für ein got, ja über Got, wie Paulus daruon geweyssagt hat ij. Thessa. ij.“ (Kettenbach: Küchenprediger 33,6–8). 487  Vgl. May: „Die Zuspitzung auf den Anspruch des Papstes, über Gottes Wort zu ste­ hen, ist das Neue in Luthers Antichristpolemik gegenüber derjenigen des Mittelalters.“ (May: Je länger, je ärger 213). 488  Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 125.153.

2.  Innere Kohärenz

243

schaftsstil erwiesen sehen.489 Dieses Nebeneinander von Kriterien des Lebens und der Lehre in der Bestimmung des Antichrist wird z. B. bei Stifel deutlich, wenn er die Überheblichkeit des Papsttums in beiderlei Hinsicht betont.490 Grundsätzlich jedoch verändert sich im Kontext der reformatorischen Neufor­ mulierung des historischen Legitimationsgestus im Wort-Gottes-Typ auch die Antichristvorstellung: Die Diskonformität der papstkirchlichen Lehre mit der­ jenigen Christi und der Apostel, die Entwertung der apostolischen Lehre unter frommem Schein und die Überordnung der päpstlichen Autorität über diejeni­ ge der Schrift, gilt als zentrales Antichristkriterium.491 Durch diese Orientie­ rung auf die Lehre hin konnte das antichristliche Regiment als über lange Dau­ er errichtet beschrieben werden, ohne dass eine etwaige Besserung der Lebens­ führung einzelner Päpste dem Grundbefund der Antichristlichkeit des Papsttums Abbruch hätte tun können. Der antichristliche Charakter des Papsttums liegt aus reformatorischer Sicht nicht in der prinzipiell wandelbaren Lebensführung, sondern vielmehr in den Konstitutionsbedingungen des päpstlichen Lehramtes begründet. Die signifikanteste und für die Ausgestaltung des reformatorischen Gegen­ wartsverständnisses wesentlichste Veränderung der Antichristvorstellung im Vergleich zum Mittelalter betraf jedoch die eschatologische Zuspitzung. Im Mittelalter eignete nur dem biographisch-personalen Antichristbegriff eine endzeitliche Qualität, während der kriterienhafte Antichristbegriff keine aus­ gewiesenen apokalyptischen Implikationen aufwies. Im Unterschied zu diesem mittelalterlichen kriterienhaften Antichristbegriff war der reformatorische pro­ nonciert eschatologisch konnotiert: Während im Mittelalter Wider- und End­ christ nicht notwendigerweise identisch waren,492 wurde in der Reformations­ zeit der Antichrist primär als Endchrist und damit eminent zeitlich verstan­ den.493 Dass der Antichrist in reformatorischem Verständnis zwingend ein 489  In der Flugschrift Botschaft aus der Hölle wird die Antichristlichkeit des Papstes aus dessen Leben und Werken hergeleitet: „Die widerchristlichen Werke, damit man ihn erkennt hat, sind ganz an Tag kommen […].“ (Botschaft aus der Hölle 324). Auch Luther hat oftmals die päpstliche Lebensführung und die Herrschaftsausübung als antichristlich be­ zeichnet, vgl. z. B. WA 6; 425,19–22; 435,26 f.; 453,18–11. Vgl. auch die diversen Antithesen, mit denen Kettenbach die Gegensätzlichkeit von Christus und päpstlichem Antichrist be­ schreibt. Viele der Antithesen heben auf die Antichristlichkeit des päpstlichen Lebens ab, vgl. Kettenbach: Vergleichung 132 ff. Neben der weltlichen Herrschsucht und Prachtentfal­ tung gilt auch der Schwertgebrauch des Papsttums als antichristlich, vgl. z. B. Osiander: Ratschlag 365,20–23. 490 Vgl. Stifel, oben 161 f. 491  Vgl. z. B. Rhegius, in dessen Kriterienkatalog sich die ersten beiden Malzeichen ein­ deutig auf die Lehre beziehen (Rhegius: Ernstliche erbietung B4a). 492  Vgl. dazu Leppin: Jüngster Tag 209. 493  Zwischen den Bezeichnugnen Anti-, Wider-, oder Endchrist wird in den Flugschrif­ ten häufig nicht trennscharf unterschieden, doch ist auffällig, dass die Bezeichnung „End­ christ“ eindeutig überwiegt. Sie nimmt die Bedeutung des Widerchrist in sich auf, verleiht ihr aber eine eschatologische Zuspitzung, vgl. z. B. Kettenbach: „wann enchrist ist souil als

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IV. Gegenwartsverständnis

endzeitliches Phänomen bezeichnete, ist jedoch vor dem Hintergrund der insti­ tutionellen Anwendung auf das Papsttum nicht ohne weiteres einsichtig, da sich dessen Entwicklungsgeschichte prozesshaft vollzogen hatte und also einen län­ geren Zeitraum umspannte. Die Begründung, warum ausgerechnet die refor­ matorische Gegenwart das Ende dieser Entwicklungsgeschichte bezeichnen solle, wurde durch das Einbringen des Offenbarungsbegriffs in die Antichrist­ vorstellung geliefert: Das geschichtliche Auftreten des Antichrist wurde im Un­ terschied zum Mittelalter nicht mehr synonym mit seiner öffentlichen Kennt­ lichkeit gesehen,494 sondern Auftreten und Offenbarung des Antichrist treten auseinander – zwischen verborgener Präsenz des Antichrist und dessen Enthül­ lung besteht ein eschatologisch entscheidender Unterschied. Diese Unterschei­ dung von Auftreten und Offenbarung des Antichrist hat Leppin in Entlehnung eines neutestamentlichen Wissenschaftsbegriffs das „Revelationsschema“ ge­ nannt: Die lutherische Antichristvorstellung offenbarte etwas längst Existentes, aber bislang Verhülltes.495 Dieses Revelationsschema, welches auch bei Stifel besonders greif bar wird,496 bezeichnet die eigentliche reformatorische Innova­ tion innerhalb der Antichristvorstellung und war mit der heilsgeschichtlichen Verortung des Reformationsgeschehens engstens verbunden.497 Damit tritt zu den im Mittelalter vorfindlichen Antichristvorstellungen des „eschatologischen biographisch-personalen Typs“, des „enteschatologisierten kriterienhaften Typs“ und des „semieschatologischen Vorläufer-Typs“ in der frühen Reformationszeit ein vierter Typ hinzu, welcher den biographisch-per­ sonalen Typ (und damit auch den Vorläufer-Typ) ausdrücklich verwirft, hin­ gegen den kriterienhaften Typ aufnimmt und ihm durch das Offenbarungs­ moment eine akute eschatologische Spitze verleiht. Diese ab 1520 dominieren­ de Form der Antichristvorstellung kann als „Revelations-Typ“ bezeichnet werden. Das spezifisch Reformatorische des Revelations-Typs bestand in der offenbarungstheologisch begründeten Eschatologisierung eines nach geniun reformatorisch-theologisch bestimmten kriterienhaften Antichristbegriffs und

widerchrist gesprochen.“ (Kettenbach: Vergleichung 132,8). Zur Forcierung des eschato­ logischen Charakters der Antichristvorstellung in der Reformationszeit durch die Überset­ zung des lateinischen „Antichristus“ in „Endchrist“ vgl. auch Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 132. 494  Vgl. Leppin: Im Mittelalter „[…] war, wenn man denn die Verwendung des Anti­ christbegriffs überhaupt apokalyptisch zuspitzen wollte, das entscheidende Datum das Auf­ treten des Antichrist, das ja in der Legende schon selbst in unmittelbarer, durch die Dreiein­ halbjahresfrist auch genau quantifizierbarer zeitlicher Nähe zum Weltende lag. Die Offenba­ rung des Antichrist war demgegenüber kein Datum des Endzeitszenarios von eigenständiger Bedeutung, ja, der Begriff der ‚Offenbarung‘ konnte geradezu für das öffentliche Auftreten des Antichrist verwendet werden […].“ (Leppin: Luthers Antichristverständnis 61). 495  Leppin: Jüngster Tag 107. 496 Vgl. Stifel oben 166 f. 497 Vgl. Leppin: Luthers Antichristverständnis 61 f.

2.  Innere Kohärenz

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dessen korporativer Verfestigung in der exklusiven Anwendung auf das Papst­ tum.498 Wenn nun die Annahme einer strukturellen und langwährenden verborge­ nen Präsenz des Antichrist in der Welt ein reformatorisches Spezifikum be­ zeichnet, bestätigt dies die zuvor konstatierte grundlegende Veränderung in der Charakteristik der Teufels- und Antichristvorstellung: Der Antichrist konnte nur deshalb unerkannt bleiben, weil er sein Wesen unter scheinbarer Frömmig­ keit verbergen und seine Gegensätzlichkeit zu Christus verschleiern konnte.499 Voraussetzung für die Eschatologisierung des kriterienhaften Antichristbegriffs im Revelations-Typ war damit die auch für die Teufelsvorstellung insgesamt festzustellende Tendenz, die Scheinheiligkeit und die Eigenschaften der Ver­ stellung und Verblendung als Kardinalcharakteristika von Teufel und Antichrist hervorzuheben. Erst auf der Basis dieser veränderten Charakteristik des Anti­ christ konnte zwischen Auftreten und Offenbarung in eschatologischer Hin­ sicht unterschieden werden. Im Zusammenhang mit dem Revelationsschema wurde in den Flugschriften insbesondere Luther als Offenbarer des Antichrist gefeiert.500 Während es für

498  Zur Charakteristik des Revelations-Typs vgl. z. B. Stifel, oben 203 ff.; Luther: Offenbarung des Endtchrists; zudem z. B. Osiander: Ratschlag 352–371. Hinsichtlich der korporativen Verfestigung bildet die Flugschrift Gesprechbiechlin neüw Karsthans, in welcher der Antichristbegriff eine starke Ausweitung erfährt, eine Ausnahme, vgl. unten 247. Bei Luther aber bleibt die Anwendung der Antichristvorstellung im Wesentlichen auf das Papsttum beschränkt, auch wenn er zuweilen die Türken ebenfalls als Antichrist bezeich­ nen konnte. Das aus 2 Thess 2,4 entnommene Kriterium des innerkirchlichen Wirkungs­ kreises aber ließ Luther den eigentlichen Antichrist immer im Papsttum erkennen, vgl. Seebass: Art. „Antichrist IV“ 30. 499 Die Schrift habe deshalb so eindringlich vor dem Antichrist gewarnt, weil dessen Verführung bis zu seiner Offenbarung umbemerkt bleiben werde, vgl. Luther: „Wenn des Endchrists vorfurung ßo grob were, das sie yderman mocht mercken, […] hetten die prophe­ ten unnd Apostell vorgebenß ßo viel und ßo ernsthafftig davon geschreyen und geschrie­ benn.“ (WA 7; 177,19–178,3). Vgl. auch Stifel „Lieber meynestu der Antchrist wird den teufel sichtbarlich tragen vff der achsel?“ (Stifel: Christförmige Lehre P1b). 500  Vgl. z. B. Stifel (oben 156), der Luther als erster als apokalyptischen Engel deutet (vgl. Heinz: Art. „Stifel“ Sp.  1469; Sommer: Luther – Prophet 111, Anm.  9). Vgl. auch z. B. Cronberg: Tzwen Brieff 5.9 f.16; Sonnentaller 397,28–34; Kettenbach: Practica 186,17–19; Ain schöner Dialogus 133,19–22. Mitunter verwies man nicht nur auf die Person Luthers, sondern auch auf seinen Namen: So nimmt Marschalck gezielt mittelalterli­ che Antichristvorstellungen auf, wenn er an Elia und Henoch als Bekämpfer des Antichrist erinnert: „Hat sich nit die gmein red lange zeit verloffen, Enoch und Helias werden den endchrist zersteren […]?“ (Marschalck 565,30 f.). Sodann gibt er eine allegorische Deu­ tung des Namens Luther, bei der er wiederum auf Henoch und Elia verweist: „Daz L bedeüt Lautere evangelische leer / Daz U bedeüt Uberflüssige gnad des heiligen geists / Daz T bede­ üt Treülicher diener Christi / Daz H bedeüt Heliam [1 Kön 18] / Daz E bedeüt Enoch [ Jud 14.15] welche den endchrist verraten / Daz R bedeüt Rabi, daz er ist meister worden aller schrifft schender.“ (Marschalck 565,9–15). Die Deutung Luthers als neuer Elia wird allein von Müntzer zurückgewiesen, der sich selbst in dieser Rolle sieht, vgl. oben 193.

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IV. Gegenwartsverständnis

den Beginn des antichristlichen Regiments verschiedene Ansatzpunkte gab,501 ist man sich in der Terminierung der Offenbarung des Antichrist weitgehend einig, wenn man sie mit Luthers öffentlicher Kritik am Papsttum und seiner Feststellung der Papst-Antichrist-Identität gleichsetzt. Diverse Flugschriften nehmen auf Luthers Offenbarung des Antichrist bezug; sie war in der frühen Reformationszeit ohne Zweifel eines der populärsten Stücke seiner Theolo­ gie.502 Vor dem Hintergrund des Einbringens des Offenbarungsbegriffs in die Antichristvorstellung erhielt die publizistische Tätigkeit der Flugschriftenauto­ ren apokalyptische Valenz: Das Selbstverständnis vieler Flugschriftenautoren war getragen von der empfundenen kerygmatischen Verpflichtung, die Er­ kenntnis der Offenbarung des Antichrist weiterzutragen und möglichst vielen Gläubigen vor dem Weltende zur Kenntnis zu bringen.503 Zwar werde der An­ tichrist allein in der Schrift offenbart, doch könne der im Umgang mit der Schrift Unerfahrene auch durch die Rezeption von Flugschriften den Anti­ christ erkennen lernen.504 So werde nach der erfolgten Offenbarung des Anti­ christ dieser durch die publizistischen Angriffe auf das Papsttum stets aufs Neue überwunden.505 Insbesondere diese Verbreitung der Offenbarung des Anti­ christ wurde zur ganz persönlichen Mission vieler Flugschriftenautoren, wel­ che im Buchdruck das von Gott gestiftete Mittel erkannten, dieses Ziel zu rea­ lisieren.506 Die Antichristvorstellungen erfuhren insbesondere durch die Flugschrif­ ten-Publizistik immense Popularität.507 Die Umformungen der hergebrachten 501 

Vgl. oben 114 ff. zur ungeheuren Popularität von Luthers Antichristvorstellung Preuss: Vorstel­ lungen vom Antichrist 183. 503  Vgl. z. B. Stifel, oben 173. Vgl. auch die Flugschrift Botschaft aus der Hölle, in welcher der Verfasser Luther über seine kerygmatische Motivation Auskunft geben lässt: „Ich [Luther] bin schuldig, meinen Nächsten zur Seligkeit zu unterweisen und vom Widerchris­ ten und seinem Haufen zu führen.“ (Botschaft aus der Hölle 328). 504  Vgl. z. B. Paulus Speratus, der seine Übersetzung der Lutherschrift Offenbarung des Endtchrists in diesem Sinne anpreist: „Bistu nu der geschrift vnerfaren vnd vngeyebt / so kum her vnd lise in disem buch / da wirdestu finden vnd lernen was die recht wülfich art des sons der verderbnus ist. Wem woellen wir aber dise mein verdolmetschung schencken oder zuschreyben? Eben dem aller hayligsten stuel / darauff diser endtchrist sitzet.“ (Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a. 505  Vgl. dazu Leppin: Jüngster Tag 206. 506 Vgl. Stifel, oben 213. Wie wichtig die Offenbarung des Antichrist auch für Luther war, wird deutlich, wenn er dazu aufforderte, die Schriften, die er vor der Erkenntnis der Papst-Antichrist-Identität verfasst habe, zu verbrennen. Zudem benannte er immer wieder den Kampf gegen das antichristliche Papsttum als den nennenswertesten Ertrag seines Le­ bens, vgl. Seebass: Art. „Antichrist IV“ 31. 507  Herausgehobene Bedeutung in dieser Hinsicht kommt z. B. der Flugschrift Passional Christi und Antichristi (1521; WA 9; 701–715) zu, die große Verbreitung erfuhr und in Text-Bild-Kombination für besondere Eindringlichkeit und Verständlichkeit der lutheri­ schen Antichristvorstellung in weiten Bevölkerungsteilen sorgte (vgl. Seebass: Art. „Anti­ christ IV“ 31; Richardsen-Friedrich: Antichrist-Polemik 101 ff.). 502  Vgl.

2.  Innere Kohärenz

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Antichristvorstellungen werden dabei eigens thematisiert. Im fiktiven Dialog „Gesprechbiechlin neüw Karsthans“508 (1521) wird die Abkehr vom perso­ nal-biographischen Typ ausdrücklich benannt: Karsthans, der lediglich von dieser tradierten Form der Antichristvorstellung Kenntnis hat, wird von Sickin­ gen belehrt, dass der Endchrist keine Einzelperson sei, sondern das Antichrist­ liche generell das Widerchristliche bezeichne, welches in vielerlei Gestalt in Vergangenheit und Gegenwart vorfindlich sei.509 Der Verfasser macht sich ei­ nen sehr weit gefassten kriterienhaften Antichristbegriff zu eigen, welcher auf­ grund seiner Affinität zum Häresiebegriff kaum von der Teufelsvorstellung zu unterscheiden ist. Die korporative Spezifikation lutherischer oder stifelscher Provenienz, welche den Antichrist allein im Papsttum identifizierte,510 wird aufgebrochen zugunsten der Ausweitung auf einen spiritualisierten Widerchrist­ begriff, der gleichsam beliebig anwendbar erscheint. Damit knüpft der Anti­ christbegriff des „Gesprechbiechlin neüw Karsthans“ an den mittelalterlichen kriterienhaften Typ an, zumal auch die eschatologische Konnotation verwässert scheint, wenn der Verfasser den Unterschied zum überkommenen personal-bio­ graphischen Typ deutlich zu machen versucht. Allerdings kommt sie kurz dar­ auf wieder ins Spiel, wenn betont wird, dass der Papst zweifellos der größte Antichrist sei.511 Wenngleich hiermit lediglich ein gradueller, nicht wie bei 508  Die Verfasserfrage ist nicht abschließend geklärt (vgl. zur Verfasserfrage Stupperich (Hg.): Martini Buceri opera omnia, Ser. 1, Bd. 1: Frühschriften 1520–1524, 392–396). Die ältere Forschung schrieb die Schrift Ulrich von Hutten zu, die jüngere Forschung sieht zu­ meist Bucer als Verfasser (vgl. z. B. die Ausgabe Stupperich 1,1; 406–444, in der die Schrift unter die Dubiosa Bucers gezählt wird). Die Verfasserschaft Bucers wird z. B. von Greschat bestritten, vgl. Greschat: Bucer 49 f. 509  „K. [Karsthans] So es im Christenglauben also verkert ist, halt ich, es naehe sich dem end der welt, und wird bald der Endchrist kommen. F. [Franz von Sickingen] Was meynst du, das der Endtchrist sey? K. Ich weiß es warlich nit, dann das die pfaffen und münch pre­ digen, er wird ein neüwer gott sein, und wann er komm, so wird die welt bald darnach zergeen. Frantz. Ja, lieber Karsthans, Es hatt vil ein andere meynung. Er heißt nit Endchrist, als der am ende der welt kommen werde, sunder heißt er Antchrist, das ist ein Kriechisch wort und ist so vil gesagt im Teütschen als ein gegen-Christ oder wider-Christ, der seind vil gewesen und noch. Darvon sagt Johannes in seiner Epistel [1 Joh 4,2 f.]: Ein yeder geist, der nit bekennet, das Jesus Christus mensch geboren sey, ist nitt von gott, und das ist der geist des Antchrists, von dem ir gehoert, das er zukünfftig sey, und er ist yetzund gereidt in der welt. Von dem sagt auch Christus Lu. am xi. [Lk 11,23]: Wer nit mit mir ist, der ist wider mich, und wer nit mit mir samlet, der zerstroewet. Von sollichen Antichrist ist alle geschrifft vol.“ (Gesprechbiechlin neüw Karsthans 441,15–30). 510  Luther kann zwar die Antichristprädikation auch vereinzelt auf die Türken anwen­ den, doch bleibt sie in Auslegung von 2 Thess 2,4 im Grunde auf das Papsttum beschränkt, vgl. Seebass: Art. „Antichrist IV“ 30. 511  „[F.] Aber kein groesser Antchrist ist nie gewesen, mag auch nymmer werden, dann ein Bapst zu Rom, der das Ewangelium gantz verkeret und sich in allen dingen, wie ich et­ licher massen angezeygt hab, wider Christum richtet. Vor dem warnet uns sant Paul. zu den Thessa. [2 Thess 2,3 f.]: Wir bitten eüch, brueder, ir woellent eüch in keinem weg betriegen lassen, dann der herr würt in seiner letsten zukunfft nit kommen, es sey dann zuvor ein abt­ rinnung geschehen und sey erkennet der schalckhafftig, ein verdorbner sun, der da ist ein

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IV. Gegenwartsverständnis

Luther oder Stifel ein grundsätzlicher Unterschied zu anderen Häretikern be­ nannt ist, wird der Papst als der in 2 Thess 2,3 f. angekündigte Antichrist gedeu­ tet und damit eindeutig endzeitlich qualifiziert. Nachdem diesem gemäß der Schrift die Welt zunächst zufallen musste, stehe nach seiner erfolgten Offenba­ rung nunmehr das Ende der Welt zu erwarten. Derartige ausdrückliche Verwerfungen des personal-biographischen Typs der Antichristvorstellung im Revelations-Typ dominieren in der Flugschriften­ landschaft ganz eindeutig,512 doch begegnen daneben – gerade in der frühen Reformationszeit – auch noch die überkommenen Typen der Antichristvorstel­ lung. Kettenbach steht paradigmatisch für den Vorläufer-Typ, der zwar eine refor­ matorische Prägung erhält, aber doch starke mittelalterliche Anleihen erkennen lässt. Er wendet sich zwar gegen die Singularität des personal-biographischen Typs, wenn er ein korporatives Antichristverständnis entfaltet und auf das Papsttum anwendet: „Vnd Enchrist ist ein nam viler nach einander regierend im rych, vnd nit ein eygen nam einer person. also ein enchrist wirt heyssen Alexan­ der, der ander Julius, der drytt Leo vnd deßgleichen […].“513 Letztlich jedoch hält er am personalen Antichristkonzept fest, wenn er in den geschichtlichen und gegenwärtigen antichristlichen Erscheinungsformen ledig­ lich Vorläufer des rechten, letzten Endtchrists sieht, dessen Ankunft noch aus­ stehe: „Wir thorechten menschen warten auff den Entchrist, vnd hat seyn reich bey fünff hun­ dert iar in krafft gewert, langst daruor angefangen, aber der letst Enntchrist ist noch nyt kommen, den werden die Juden mit vns annemenn, als ich glaub.“514

Kettenbach unterscheidet hier zwischen dem Auftreten antichristlicher Vorläu­ fer und dem Erscheinen des eigentlichen Antichrist 515 und knüpft damit an den bereits im Mittelalter vorfindlichen Vorläufer-Typ an, mittels dessen sich der kriterienhafte Antichristtyp mit dem personal-biographischen verbinden ließ. Auch Müntzer rechnet noch mit einem persönlichen Endchrist, nach dessen widerwertiger und erhebt sich wider ein yeden, der gott genennet würt oder gottes gewalt, also das er auch im tempel gottes sitze und sich für einen gott ußgeb. Karsthans. Fürwar, das reymet sich eben uff den Bapst […].“ (Gesprechbiechlin neüw Karsthans 441,31–442,3). 512 Die Aufgabe des Schemas der Antichristbiographie während der Reformationszeit lässt sich auch im Hinblick auf die Entwicklung des Dramas beobachten, von denen einige auch als Flugschriften veröffentlicht wurden, vgl. dazu Aichele 51 ff. Obwohl die Anti­ christbiographie in dramatischer Hinsicht sehr dankbar war, wurde sie in den reformatori­ schen Antichristdramen alsbald aufgegeben zugunsten der Inszenierung eines undramati­ schen Lasterkatalogs des Papsttums und der Betonung der Antithesen zwischen Christus und dem (Papst-)Antichrist (vgl. Aichele 55). 513  Kettenbach: Vergleichung 132,8–11. 514  Kettenbach: Küchenprediger 38,14–18. 515 Zur Unterscheidung von den Antichristi mystici oder praecursores und dem Anti­ christus personalis, verus oder purus vgl. Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 25 f.

2.  Innere Kohärenz

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kurzer Regentschaft das Reich der Welt in den Besitz der Auserwählten über­ gehen werde.516 Gleichsam in Reinform begegnet der personal-biographische Typ der Antichristvorstellung in der Flugschrift „Ain groszer preis“ (1521): Hiernach sei der Antichrist bislang noch nicht in Erscheinung getreten; seine Herrschaft sei vom Papsttum lediglich vorbereitet worden, doch habe der Teufel beschlossen, den Antichrist in Kürze in die Welt zu senden: „[…] wir [die teuf­ lische Majestät] gedenken bald euch [dem Papsttum] zu hilf und rat zu senden den Entchrist, dem ir den weg gar wol beraiten.“517 Obschon also der perso­ nal-biographische Typ in den Flugschriften zumeist aufgegeben wird, finden sich daneben immer wieder auch Relikte der personal konzipierten Antichrist­ vorstellung. Diese relative Vielfalt ist Kennzeichen insbesondere der frühen Re­ formationszeit, in der sich noch kein einheitlicher Antichristbegriff herausge­ bildet hatte. Bei aller Heterogenität werden die reformatorischen Antichristvorstellungen jedoch in aller Regel nicht zur binnenreformatorischen Abgrenzung verwen­ det,518 sondern sie richteten sich primär gegen das Papsttum und dessen altgläu­ bige Anhänger. Diese blieben in aller Regel dem personal-biographischen An­ tichristtyp verhaftet und lehnten insbesondere den Revelations-Typ mit dem Hinweis ab, dass der Antichrist eine Einzelperson sein müsse.519 Da die Alt­ gläubigen auf der Basis des successio-Typs des historischen Legitimationsgestus den Zustand der Kirche in der Gesamtheit positiv beurteilten und die Kirche (zumindest in struktureller Hinsicht) weitgehend frei von teuflischen Einflüssen sahen, vermochten sie im Papsttum nichts Antichristliches zu erkennen und glaubten also den angekündigten Abfall und das Auftreten des Antichrist noch weit entfernt.520 Neben dem klassischen personal-biographischen Typ begeg­ net im altgläubigen Milieu allenfalls der Vorläufer-Typ, wenn Luther gelegent­ lich als Antichristus mixtus bezeichnet wird.521 516  „Wer do solche vormanünge wyrt vorachten, der ist itzunde schon uberantwort in die hende des Türken. Nach wilch wutende brunst wyrth der rechte personliche enthechrist regryen, das rechte kegenteyl Christi, der yhm kortzen wyrt das reich dysser welt geben seinen auserwelten in secula seculorum.“ (MSB 504,34–505,4). 517  Ain groszer preis 89,29–31. 518  Hier steht die Teufelsvorstellung eindeutig im Vordergrund, da die Antichristvorstel­ lung durch deren Anwendung auf das Papsttum semantisch bereits besetzt erschien. 519 Vgl. Aichele 77. 520  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre N2a-N2b. 521 „Die katholische Theologie verhält sich gegenüber Luthers Antichristologie völlig defensiv. Sie versucht nicht, nachdem Luther den Papst mit dem Antichrist identifiziert hatte, nun ihrerseits Luther als den Antichrist zu brandmarken. Gelegentlich wird er zwar zum Antichristus mixtus, d. h. einem der vielen Vorläufer des Antichristus purus et finalis, er­ klärt, nie aber zu diesem selbst.“ (Aichele 76 f.) Vgl. dazu auch Preuss: Vorstellungen vom Antichrist 215 f.; 247–261. Dass Luther von den Altgläubigen auch als eigentlicher Antichrist angesehen wurde, wird lediglich in reformatorisch gesinnten Flugschriften kolportiert. In dem Dialog Botschaft aus der Hölle wird die diesbezügliche Verdächtigung Luthers dem Teufel in den Mund gelegt (vgl. Botschaft aus der Hölle 318.321 f.)

250

IV. Gegenwartsverständnis

Im Vergleich mit den altgläubigen Antichristvorstellungen tritt die innere Kohärenz der reformatorischen Antichristvorstellungen deutlich hervor: Unge­ achtet der relativen Typenvielfalt ergibt sich zum einen eine gemeinsame Front gegen das Papsttum. Vor allem aber liegt die innere Kohärenz in der grundle­ genden Verzeitlichung der Antichristvorstellungen und der unmittelbaren End­ zeiterwartung, welche gegenüber der altgläubigen Wahrnehmung als Diffe­ renzmerkmal explizit herausgestellt wird 522 – die eschatologische Kulmination in der eigenen Gegenwart ist allen reformatorischen Antichristvorstellungen gemeinsames Erfahrungsgut. Diese Zuspitzung gilt zum einen hinsichtlich des personal-biographischen wie des Vorläufer-Typs, welche im Vergleich zu denen des Mittelalters oder denen der zeitgenössischen Altgläubigen eine gewisse Verschärfung erfahren, wenn die unmittelbare Nähe der Ankunft des einen Antichrist (vgl. Ain groszer preis) respektive des letzten Antichrist (vgl. Kettenbach) konstatiert wird und somit die eschatologische Konnotation eine gegenwartsbezogene Konkretisie­ rung erhält. Auch wenn also, legt man die Dreieinhalbjahresfrist der überkom­ menen Antichrist-Vita zugrunde, noch eine gewisse Spanne bis zum Weltende verbleibe, so rückt dieses doch in ganz konkrete und bedrohliche Nähe. Neben der Konkretisierung der ehedem eschatologisch ausgerichteten Anti­ christtypen wird die eschatologische Zuspitzung besonders greif bar, wenn im Rahmen des Revelationsschemas die bereits erfolgte Offenbarung des Anti­ christ den Endzeitbeginn markiert und eine letzte Frist, etwa durch das Auftre­ ten des eigentlichen Antichrist, hinfällig wird. So stellt das Revelationsschema nicht nur eine Eschatologisierung des kriterienhaften Antichristbegriffs dar, sondern bedeutet auch im Vergleich mit den personal konzipierten Antichrist­ typen eine dramatische Akutisierung der Endzeiterwartung: Die bis zum Jüngs­ ten Tag verbleibende Spanne der Wirkungszeit des Antichrist wurde insofern nochmalig verkürzt, als die bereits erfolgte Offenbarung des Antichrist das Weltende absolut plötzlich erwarten lassen konnte – jeden Tag, jede Stunde musste mit dem Ende gerechnet werden.523

522 Vgl.

Stifel, oben 166. Entgegen der altgläubigen Erwartung des Antichrist noch in der Zunkunft betonen die reformatorischen Flugschriftenautoren, dieser sei im Papsttum längst in der Welt, man „darff warlich keins andern warten.“ (Frag und Antwort von zweien Brüdern 180). 523  Vgl. Stifel: „Niemants weyßt wie vil tag oder stund noch darzu seyen. wiewol wir wissen das die zeyt nah ist.“ (Stifel: Euangelium F3a). Vgl. auch Stifel: Wider Murnars Lyed G4a. Auch Luther hegt zeitweise eine akute Naherwartung des Weltendes und betont, dass „der iungst tag alßo unvorsehens kome“ (WA 10,1.2; 93,26–28). In der Vorrede der Flugschrift Ain schöner Dialogus wird festgehalten, dass der Antichrist im Papsttum „[…] iez offenbart ist und wir kains andern dürfen warten […].“ (Ain schöner Dialogus 128,6). Im Mittelteil der Flugschrift wird die akute Endzeiterwartung nochmals deutlich ausgespro­ chen: „der jüngst tag der ist an der tür.“ (Ain schöner Dialogus 133,9 f.).

2.  Innere Kohärenz

251

Vor dem Hintergrund der grundlegenden Eschatologisierung der Antichrist­ vorstellung im Revelations-Typ erfuhr auch die Teufelsvorstellung unweiger­ lich eine endzeitliche Zuspitzung.524 In Korrelation zur Offenbarung des Anti­ christ war auch die Endgeschichte des Teufels eingeläutet: Der Teufel hatte nur durch die Sendung und Ermächtignung des Antichrist seine endzeitliche Machtfülle erreichen und die heilsgeschichtlich größtmögliche Konzentration der Häresie herbeiführen können. So glaubt z. B. Luther, dass „[…] alle ketze­ rey, die yhe gewesen sind, yztz zusammen geflossen in eine grundsuppen kom­ men und die welt mit einer syndflut lautters auszsatzs erseufft haben, unter des Endchrists regiment, wie das vorkundigt ist.“525 Doch nach der in der reformatorischen Gegenwart erfolgten Offenbarung des Antichrist wisse der Teufel, dass sein Reich dem Untergang geweiht sei.526 Die nachurchristliche Erfolgsgeschichte des Teufels habe sich in Verborgenheit und scheinheiliger Täuschung vollzogen; nachdem aber das Papsttum als Anti­ christ und der Engel des Lichts als Teufel entlarvt seien, könne nur der Nieder­ gang der Teufelsherrschaft folgen. Dessen entfesselter Widerstand gegen das Neuergehen der Offenbarung Gottes schien dies zu bestätigen: Die endzeitliche Ausweitung der Aktivitäten des Teufels wurde als direkte Folge der Offenba­ rung des Antichrist gedeutet. Verzweifelt versuche der Teufel, neben seinen geschwächten antichristlichen Handlangern zusätzliche Häretiker zu erwecken – doch werde er die schwindende Macht des Antichrist dadurch nicht kompen­ sieren und seiner eigenen Vernichtung nicht entgehen können. 2.3.3  Verheißung und Erfüllung Letztgültige Gewissheit bezüglich der endzeitlichen Qualität der reformatori­ schen Gegenwart ergab sich vor allem durch das Zusammenspiel aller endzeit­ licher Zeichen, aufgrund derer die heilsgeschichtliche Verortung der Gegen­ wart vorgenommen wurde. Die Plausibilität der Qualifizierung der Gegenwart als Endzeit basierte dabei auf dem Schema von biblischer Verheißung und ge­ genwärtiger Erfüllung, von in der Schrift angekündigten Zeichen und deren Identifikation in der reformatorischen Gegenwart.527 Diverse Flugschriftenau­ toren mahnen daher zur Achtsamkeit, die Zeichen der Zeit auch zu erken­ nen.528 Im Unterschied zur mittelalterlichen Apokalyptik wird die Zeicheni­ 524  Zum Zusammenhang von Teufels- und Antichristvorstellung und der endzeitlichen Zuspitzung der Teufelsvorstellung durch den Antichristgedanken vgl. Barth: Teufel 108; vgl. auch Barth: Entwicklung 207. 525  WA 8; 390,24–26. 526  Vgl. z. B. Cronberg: Christliche Schriften 36. 527  Vgl. zum Schema von Verheißung und Erfüllung Leppin: „Durch die biblischen Tex­ te hindurch wurde die Gegenwart lesbar als Verweissystem auf das Ende hin“ (Leppin: Jüngs­ ter Tag 82). 528  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre I1a. Vgl. auch Luther: WA 10,1.2; 95,14–16; Rhegius: Ernstliche erbietung A3a.

252

IV. Gegenwartsverständnis

dentifikation in den reformatorischen Flugschriften mit der Schrift als alleini­ gem normativen Referenzhorizont vorgenommen. Wenngleich (wie z. B. bei Stifel) vereinzelt auch legendarische und volkstümliche Überlieferungen nam­ haft gemacht werden, um der umfassenden Erfüllung endzeitlicher Prophezei­ ungen zusätzliche Plausibilität zu verleihen,529 so erfolgte doch in der Gesamt­ heit gegenüber dem Mittelalter eine signifikante Neubildung des Zeichensets in Sinne einer Reduktion auf die in der Schrift angekündigten Zeichen.530 Sämtliche in der Schrift benannten Zeichen der Endzeit seien in der reforma­ torischen Gegenwart erfüllt bzw. begannen sich zu erfüllen: „Syhest du nun, wie die yetzige zeyt stympt mitt der geschrifft […]“531 Dabei schienen sich biblische Verheißung und Gegenwartsgeschehen wechselseitig zu bestätigen, wie z. B. Osiander am Beispiel reformatorischer Martyrien verdeutlicht: „Dann wir ye vor augen sehen, daß die frucht, so darauß erwachsen soll, nemlich unser selen seligkayt, durch das koestlich und teuer blut unsers herren Jesu Christi erworben, nicht allayn auß heyliger schrift beweiset, sonder auch widerumb mit plutvergiessen unüberwintlich bezeüget wirt.“532

Aus diesem Zusammenspiel von Schriftbeweis und Gegenwartsgeschehen kön­ ne jeder die endzeitliche Qualität der eigenen Gegenwart erkennen.533 Im Rahmen dieser wechselseitigen Bestätigung kam es zu einer verstärkten Einbe­ ziehung der historisch-konkreten Welt in die theologisch-exegetische Sinn­ konstruktion.534 So wie die Schrift die Gegenwart aufgrund der erfüllten Zei­ chen als Endzeit auswies, so verlieh das Gegenwartsgeschehen den biblischen Verheißungen eine konkrete Wirklichkeit und verbürgte rekursiv nicht nur die Wahrheit der endzeitlichen Ankündigungen der Schrift, sondern vor allem die des exegetischen Zugriffs durch die reformatorischen Flugschriftenautoren. In­ sofern wurde das Gegenwartsgeschehen in neuartiger Weise für die eigene Selbstvergewisserung in Dienst genommen. Bezogen z. B. auf die Offenbarung des Antichrist bedeutete dies, dass Luther im Verständnis vieler Flugschriften­ autoren nicht nur der Offenbarer des Antichrist war, sondern der biblisch ver­ 529 Vgl.

Stifel, oben 158. Leppin: Jüngster Tag 80. Das Prinzip „sola scriptura“ kommt damit auch in der Zeichenidentifikation zum Ausdruck. Dieser Befund gilt hinsichtlich der Endzeitdiagnostik sogar für Müntzer, der seine Einordnung der Gegenwart als Endzeit ausschließlich auf bibli­ sche Belege stützt, vgl. oben 185. 531  Brunfels: Anstoss 307,26; vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre I1a. 532  Osiander: Grund und Ursach 194,11–15. Osiander spielt wahrscheinlich auf das Martyrium von Henricus Voss und Johannes Esschen an, vgl. die Erläuterung von Seebass: Osiander: Grund und Ursach 194, Anm.  5 . 533 Vgl. Osiander: Grund und Urasch 194,15–24 mit Verweis auf Mt 24,9–14. 534 Sandl spricht in diesem Zusammenhang von einer neuartigen „bibliozentrische[n] ‚Souveränität der Wirklichkeit‘“, innerhalb derer die gegenwärtigen Ereignisse im Unter­ schied zum Mittelalter eine genuine Eigenständigkeit erhielten, vgl. Sandl: Interpretations­ welten 36 f. 530 Vgl.

2.  Innere Kohärenz

253

heißene Offenbarer, welcher sich durch sein Auftreten gewissermaßen selbst bestätigte.535 Die auf der Basis dieses Zirkelschlusses hergestellte Geschlossenheit der Selbstdeutung konnte von außen kaum erschüttert werden – im Gegenteil: die Divergenz zur Gegenwartsdeutung der Altgläubigen konnte die reformatori­ sche Selbstvergewisserung nur festigen. Dies gilt insbesondere für die Veror­ tung der eigenen Gegenwart inmitten des von der Schrift angekündigten apo­ kalyptischen Szenarios und der Identifikation der apokalyptischen Zeichen: Wie erwähnt, heben viele Flugschriften den Unterschied zur altgläubigen Ge­ genwartsdeutung ausdrücklich hervor, wenn sie betonen, die Altgläubigen wähnten die Endzeit noch weit entfernt und erwarteten das Ende der Welt erst in unbestimmter Zukunft.536 Das massiv hervortretende apokalyptische Be­ wusstsein ist eine spezifisch reformatorische Zeitwahrnehmung – aus Sicht der Flugschriften verkannten und missachteten die altgläubigen Zeitgenossen die Zeichen der Zeit damit in fataler Weise. Der Umstand, dass die Altgläubigen die Zeichen der Endzeit nicht als solche erkennen, wird reformatorischerseits wie­ derum selbst als sicheres Zeichen der Endzeit gedeutet, da verheißen ist, dass gerade die Ignoranz der Zeichen auf die Nähe des Gerichts verweist.537 Das fehlende apokalyptische Bewusstsein der Altgläubigen wird somit zur rückwir­ kenden Bestätigung der reformatorischen Endzeitgewissheit. Diesen funda­ mentalen Unterschied in der Wahrnehmung der Zeit wollen die Flugschriften­ autoren ihren Rezipienten deutlich machen und sie befähigen, ihre eigene Ge­ genwart als Endzeit zu erkennen – und entsprechend zu handeln.

2.4  Gegenwart als Bekenntniszeit 2.4.1  Die Unvertretbarkeit des Teufelskampfes Oben wurde bereits dargelegt, wie in den reformatorischen Flugschriften an die Stelle des überkommenen Gradualismus der Gedanke einer neuen Unmittelbar­ keit zu Gott und der Unvertretbarkeit des Glaubens gesetzt wird.538 Dieser Ge­ 535 Vgl. Sandl: Interpretationswelten 36, der diesen Sachverhalt in allgemeiner Hinsicht ausdrückt. Die Selbstbestätigung Luthers als Offenbarer des Antichrist wird z. B. bei Stifel deutlich: Das Wirken Luthers als des neuen Elia wird ihm zum direkten Endzeiterweis: „[…] das dises werck Lutheri vß gott ist / durch so vil anzeygung der geschrifft. Vnd das es ist ein zeychen des bald kummenden ends der welt.“ (Stifel: Christförmige Lehre M2a-M2b). 536  Vgl. MSB 310,33–311,3; Stifel: Christförmige Lehre N2a-N2b. 537  Vgl. z. B. Stifel, der, wie einst die Zeichen der Sintflut, auch die gegenwärtigen Zei­ chen des Gerichts von den meisten Zeigenossen missachtet sieht. (Stifel: Christförmige Lehre N1a). Vgl. Stifel: Christförmige Lehre I1a-I1b; Christförmige Lehre N2a-N2b; Euangelium F3a. Vgl. auch Eberlin: Die Nichtbeachtung der Zeichen wird selbst zum Zei­ chen, welches wiederum den anderen Zeichen ihre Eindeutigkeit verschafft (vgl. Eberlin: Erfurt 250). Vgl. auch Luther: WA 10,1.2; 93,21–28; 97,27–32. 538  Vgl. oben 198 ff.

254

IV. Gegenwartsverständnis

danke findet seine komplementäre Entsprechung in einer neuen Unmittelbar­ keit zum Teufel und der Unvertretbarkeit des Teufelskampfes: Die persönliche Auseinandersetzung mit dem Teufel ist unvertretbar; sie kann weder (etwa an den Klerus) delegiert werden, noch könne sich der Gläubige (etwa an Heilige) kommendieren.539 Wie es in der Beziehung von Gott und Mensch keinen not­ wendigen Vermittlerdienst, auf den der Gemeine Mann zur Erlangung des Heils angewiesen sei, gebe, so auch nicht in der Beziehung zum Teufel: Im Teufelskampf ist jeder selbst verantwortlich; daher müsse jeder Christ für diesen Kampf hinreichend zugerüstet sein. Damit werden etwaige Abstufungen und Wertigkeiten von Gottes- bzw. Teufelsbeziehungen im Denkmuster des Gradu­ alismus radikal abgelehnt. Hilfe von für den Teufelskampf in besonderer Weise zuständigen Personen könne nicht erwartet werden; jeder Einzelne stehe allein vor Gott wie vor dem Teufel: „Wir sind alle zum tode gefoddert und wird keiner fur den andern sterben, sondern ein jglicher in eigner Person mus geharnischt und geruestet sein fur sich selbs mit dem Teu­ fel und Tode zu kempffen. In die ohren koennen wir wol einer dem andern schreien, jn troesten und vermanen zu gedult, zum streit und kampff, aber fur jn koennen wir nicht kempffen noch streiten, es mus ein jglicher alda auff seine schantz selbs sehen und sich mit den feinden, mit dem Teufel und Tode selbs einlegen und allein mit jnen im kampff liegen: ich werde denn nicht bey dir sein noch du bey mir.“540

Diese Individualisierung des Teufelskampfes ist ein reformatorisches Kohärenz­ merkmal: Alle reformatorischen Bewegungen weisen den Gedanken einer Stellvertretung im Teufelskampf durch Kommendation oder Delegierung als Auswuchs des vom Teufel in die Lehre eingebrachten Gradualismus grundsätz­ lich zurück. Entgegen dem mittelalterlichen Verständnis, demzufolge der Kle­ rus eine gewisse Stellvertreterfunktion erfüllte und als Schutzmacht gegen den Teufel auftrat,541 wird der Klerus in reformatorischem Verständnis als teuflisch korrumpierter Stand gedeutet, der die Unmittelbarkeit des Gläubigen zu Gott behindere und nicht nur nicht dem Teufel wehre, sondern ihm gar zuarbeite.542 So dürften sich die Gläubigen nicht auf die vom klerikalen Selbstverständnis kolportierte Schutzfunktion verlassen, sondern müssten sich gemäß dem Pries­ tertum aller Gläubigen auch der eigenen Verantwortlichkeit im Teufelskampf stellen. Das altgläubige Kirchenverständnis sah die römische Kirche als Bollwerk ge­ gen den Teufel,543 welches den Teufel vermeintlich zielsicher identifiziert und 539 

Vgl. dazu Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 66.73. 10,3; 1,15–2,1. 541  Zur Vorstellung der Sicherheit spendenden und stellvertretend-schützenden Funkti­ on des Klerus für die Gesamtheit des corpus christianum vgl. Hamm: Von der spätmittelal­ terlichen reformatio zur Reformation 28.63. Zur Schutzfunktion des Klerus gegen den Teu­ fel vgl. auch Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 257 f. 542  Vgl. z. B. Osiander: Grund und Ursach 246,5–14. 543 Vgl. Korsch: Glaube und Rechtfertigung 372. 540  WA

2.  Innere Kohärenz

255

ein breit gefächertes Repertoire an Abwehrmaßnahmen gegen ihn bereitstellte, dessen Wirksamkeit von der Autorität des Papsttums verbürgt war. Der succes­ sio-Gedanke gewährleistete nach dem Selbstverständnis der Papstkirche die un­ gebrochene Geistbegabung des kirchlichen Lehramtes und verhinderte das strukturelle Eindringen des Teufels in die Kirche. Wer der Kirche als Heilsan­ stalt rechtmäßig zugehörig war und sich deren Schutzinstrumentarien bediente, konnte gemäß des papstkirchlichen Selbstverständnisses eine relative Sicherheit vor dem Teufel erlangen.544 Doch war bereits im Spätmittelalter das Vertrauen der Gläubigen in die kirchlichen Sicherungsinstrumente gegen den Teufel zu­ nehmend erschüttert worden. Die im Verlauf des Mittelalters stetig ansteigende Angst vor dem Teufel wurde durch die reformatorische Identifizierung des Teu­ fels inmitten der Kirche nochmalig gesteigert und auf die Spitze getrieben.545 Im reformatorischen Verständnis war die Papstkirche mitnichten ein Boll­ werk gegen den Teufel, sondern geradezu ein Hort des Teufels, welcher von hieraus nahezu die gesamte Christenheit verführt und verdorben habe. Die in­ stitutionalisierte Exklusion des Teufels im Schutzraum der Papstkirche wurde von den reformatorischen Flugschriften radikal bestritten, wodurch die Teu­ felsvorstellung eine insbesondere auch das kirchliche Lehramt einschließende, gleichsam ubiquitäre Ausweitung erfuhr. Die römische Kirche als Schutzmacht gegen den Teufel habe in umfassender Weise versagt, mehr noch: Ihr Repertoi­ re an vermeintlichen Sicherungsinstrumenten und Abwehrstrategien gegen den Teufel basiere lediglich auf Äußerlichkeiten und sei damit nicht nur unwirksam, sondern darüber hinaus schadhaft, da es die trügerische Heilssicherheit sugge­ riere, die (wie erwähnt) als sicheres Zeichen der Endzeit gedeutet wurde. Der Teufel selbst habe diese vermeintlichen Schutzmaßnahmen in die Frömmig­ keitspraxis eingebracht, um die von ihm ausgehende Bedrohung zu verharmlo­ sen und beherrschbar erscheinen zu lassen. Dies gilt z. B. für die Heiligenverehrung: Mit der neuen Unmittelbarkeit zum Teufel war die Zuständigkeit bestimmter Personen oder Gruppen für den Teu­ felskampf hinfällig.546 Die Verehrung einzelner Heiliger, die für den Teufels­ 544 Dieses papstkirchliche Selbstverständnis wird in vielen Flugschriften referiert und angegriffen, vgl. z. B. Kettenbach: Altmütterlein 55 ff. 545  Zur Steigerung der Teufelsangst im Verlauf des Mittelalters siehe Dinzelbacher, der die Angst vor dem Teufel zunächst primär als Komponente monastischer Religiösität sieht, dann aber eine ungeheure Ausweitung bishin zu einem „Pandämonismus“ konstatiert (Vgl. Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 95–101; Ders.: Ängste und Hoffnungen 287 f.). Ebe­ ling nimmt eine notwendige Differenzierung dieses Befundes vor: Während das Teufelsmo­ tiv in den theologischen Lehrsystemen der Scholastik auffällig in den Hintergrund trat, er­ langte es im Verlauf des Spätmittelalters auf der Ebene des allgemeinen Bewusstseins immer größere Bedeutung, verbunden mit der Frage, wie man die Angriffe des Teufels abweisen könne, vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 250. Zum Phänomen der Teufelsangst in Mittelalter und Früher Neuzeit siehe auch Delumeau: Angst im Abendland, 2 Bde. 546  Vgl. z. B. Stifel: Die Papstkirche behaupte, die geisltiche Ordnung des Reiches Gottes gleiche der weltlichen Ordnung des Reiches des Teufels, in dem der Gemeine Mann auf

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IV. Gegenwartsverständnis

kampf speziell gerüstet schienen und deren Anrufung hier tatkräftige Hilfe ver­ sprach,547 wurde von den Flugschriften grundlegend desavouiert. Der Teufel selbst befördere die Heiligenverehrung und deren vermeintliche Schutzfunk­ tion, um die Gläubigen vom alleinigen Vertrauen auf Gott wegzuführen.548 Dabei gilt den Flugschriftenautoren nicht die Verehrung der Heiligen per se, sondern deren Anrufung anstatt der Gottes als teuflisch: „aber vertrawen setzen […] in die hailigen meer dann in got, vnd Mariam vnd sant Wolffgang etc. halten für barmmhertzyger vnd gnediger dann got selber, ist abgoeterey vnd von dem teufel.“549 Eine weitere reformatorische Umwertung hergebrachter Strategien im Teu­ felskampf betraf z. B. die Askese: Galten Askese und Fasten im Mittelalter als Abwehrmaßnahmen gegen den Teufel, so galten die kirchlichen Fastengebote im reformatorischen Verständnis als Teufelslehre und Erweis der Endzeit (vgl. 1 Tim 4,1 ff.), da sie das Fasten zu einem frommen Werk pervertieren ließen und es für verbindlich erklärten – die teufelsabweisende Wirkung eigne dem Fasten jedoch nur durch den Glauben.550 Fürsprecher angewiesen sei: „Du must zu den heyligen kummen die selbigen muessent dir dein sach vßrichten. Dann es ist gleich als so arm mensch zeschaffen hatt vor einem Fursten so müssz er auch einen fürsprechen haben. Sych also wurt die gschrifft gebrucht das weisszt dz kindt vff der gassen. Also wurt dz rych Christi gezogen vnd vergleicht dem reych dieser welt vnd des teufels / vnd Christus dem Belial oder einem stoltzen heren der seiner armen klein achtet. dorumb der arm auch mussz ein fürsprechen haben.“ (Stifel: Christförmige Lehre L3a). Stifel verwirft den Heiligenkult als Auswuchs des teuflischen Gradualismus; dagegen setzt er die Unmittelbarkeit jedes Christen zu Gott, welche die Heiligen als Gna­ denmittler entbehrlich mache: „Jm himmel bedarff keiner der hilff des anderen. dann do ist ein yegklicher für sich selbs ein herr.“ (Stifel: Euangelium H1b) 547 Vgl. Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 39. Zur Heiligenverehrung im Mittelalter auch Hannick: Art. „Heilige/Heiligenverehrung IV“ 651–664. 548  „ZV dem anderen bracht der fiend zu wegen die abgoettery der helgen tempel, auß den so ein grosser mißbrauch entstund, das dz gemein volck gantz vnd gar abweich von der liebe, hoffnung, trost vnd zusagung Jesu Christi, vnd all ir zuuersicht satzten in die, die do durch iren glouben, liebe vnd zuuersicht die sy hatten zu Christo Jesu, erlangten die ewige froeid vnd saeligkeit. Vnd das hat gewaert biß vff disen tag dz vnser gloub nüt anders ist ge­ waesen, dann wir muessen durch die fürbit der helgen erlangen die froeid der ewigen saelig­ keit. So doch sanct Paulus schribt in siner ersten Epistel zu Timotheo im anderen capitel [1 Tim 2,5]. Das do Christus allein sy ein mitler zwischen den menschen vnd got sinem him­ melschen vatter […]“ (Gengenbach: Bürger 202,158–170). Vgl. auch Eberlin: Tröstliche Vermahnung 142 f. 549  Kettenbach: Altmütterlein 62,18–21. Vgl. auch Eberlin: „Auch gebraucht sich der teuffel zu verfierung nit allainn gottes namen vnnd wort, auch seyner hayligenn […], got will angeruefft sein, gott wil beschirmen vnd behuetten allain, allain, allein etc.“ (Eberlin: Schänder 17). Auch Stifel betont, dass „[…] heyligen eeren / vnd heiligen an rueffen zweyerley ist.“ (Stifel: Wider Murnars Lyed D4a). 550 Zum mittelalterlichen Verständnis des Fastens als Verteidigungsstrategie gegen den Teufel vgl. Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 43 f. Vgl. zum reformatorischen Fastenver­ ständnis z. B. Kettenbach: „also gefastet ain tag ist besser dann mit vnwillen tauset tag gefast. der teüfel fastet auch. also merck: fasten mit froelichem hertzen ist gutt euangelisch. gebieten zu fasten bey dem bann vnd todsünd ist teüfels vnd gut entchristisch.“ (Kettenbach: Fasten

2.  Innere Kohärenz

257

Auch die kirchlichen Sakramentalien könnten nicht vor dem Teufel schützen: Z. B. die Weihe wurde von den Flugschriften als Erscheinungsform des Gradu­ alismus grundsätzlich verworfen 551 – sie halte den Teufel entgegen der ihr zu­ geschriebenen Wirkung nicht fern, sondern sei im Gegenteil sein Herrschafts­ instrument zur Schändung der Kreaturen Gottes.552 Die Weihe sei ein listiger Anschlag des Teufels, der als Engel des Lichts die Gläubigen den Namen Gottes missbrauchen lasse und sie so in Gottes Fluch befangen halte.553 15,3–7). Das werkgerechte Fastengebot ist Kettenbach in Auslegung 1 Tim 4,1 ff. Ausdruck der endzeitlichen Verbundenheit von Teufel und Klerus, vgl. Kettenbach: Fasten 18,4–9. 551  Das Weihewesen ist z. B. für Eberlin eine Ausprägung des Gradualismus, da durch die Weihe nicht schriftgemäße Abstufungen in die Christenheit eingetragen werden: Geweihte Gegenstände oder Personen erhalten gehobenen Wert, folglich werde Ungeweihtes gleich­ zeitig abgewertet. Der Teufel habe mittels des Klerus, der gleichsam die Verkörperung des Gradualismus darstellt, die Weihe eingeführt, um Ungleichheit zu stiften und so die bedin­ gungslosen Heilszusagen des Evangeliums zu vergegenständlichen und damit zu hintertrei­ ben: „Jnn disem Text [1 Tim 4,1 ff.] zaigt Paulus an, das der teüffel wider gottes wort sich eindringen solle, etliche dinng für geweyhet, etliche fuer vngeweyhet halten, vnd der teüffel redett durch alle die die also leren, Solche lerer seind lügenreder, haben brandtmasig gewis­ sen. Also thond alle die da leren, man sol etwas meer halten vff ein geweyhet ding dann auff ain vngewyhets etc.“ (Eberlin: Schänder 12). „Auch schendet das weyhen gottes creaturn, dann sobald man ains weyhet, zaygt man an, das das ander, so vngeweyhet ist, sey vnrain, vnhayllig […].“ (Eberlin: Schänder 10 f.). 552  „Wee euch schrifftschender, euch seelen verderber, euch gottes feyndt. Kain groesse­ rer abgott, nach dem Endchrist, ist dann die glocken, kain groesser abgoetterey dann glocken gebrauch. Sollen jr glocken weyhen? Wee we euch, woellen jr gottes zorn abwenden, teüffel veriagen mit glocken gethün? Jch glaub wol, der teuffel erwecke etwan ain vngewitter vnnd lasse dauon ab, so man glocken leüt vnnd weychwasser sprengt, vnnd geweychtt palmen vnnd kertzen anprent, damit er solche abgoetterey fürdere vnd stercke im volck, darzu ge­ brauchtt er euch als werck gezeüg, auß haimlicher ordnung gottes, Aber das ist alles teuffels werck zu groesserm schaden.“ (Eberlin: Schänder 9). Nicht Gegenständliches, allein Christus könne dem Teufel wehren; wer anders lehre, schmälere die Erlösungstat Christi: „Jch frage dich, du vnrayner mensch der krafft gottes zu schenden, warzu gebrauchest du dich der geweichten ding. Du must ye sagen, Jch will damit teüfflisch gespaenst veriagen […]. Jch sage aber, Christus allain hat den teüffel krafftloß gemacht vnnd veriagt von allen seynen glidern, der vertreybet auch biß an den Jüngsten tag alle seyne gespaenst.“ (Eberlin: Schänder 11). Der Brauch der Weihe sei daher ein Instrument des Teufels: Ein rechter Christ müsse bekennen, „[…] das alles weyhen in gewonlicher maynung, jrrsal sey vnnd yrrig, sünd vnnd schand vnd ergernus, vnd des teuffels werckzeuck vns zuuerfueren […].“ (Eberlin: Schänder 11). Die Lehre von der Weihe sei Teufelslehre und führe in die Ver­ dammnis: „Kurtz alle solliche leere von der weyhung ist des teuffels leere, vnd alle, so daran glauben, seynd abgefallen vom glauben, vnd volgen yetz dem teuffel […].“ (Eberlin: Schänder 14). Die Weihe wird in reformatorischem Verständnis geradezu zu einem Erken­ nungsmerkmal der Teufelsdiener, welches anzeige, dass sie von Gott dem Teufel zugespro­ chen seien: „Sihe aber, ob nit sollich weyhung sey ain haymlich aber mal des teuffels, da mitt er alle die zaychnet, so inn gottes fluch seind, Naemlich Munchen, Nunnen, pfaffen, kürtz alles das zu gehoert dem valschen reich […]. Warüber der pfaffen weyhung gat, es sey person oder ander ding, halte ich, dem teuffel sey sonder gewalt darüber gegeben von got, das der teuffel bey der weyhung erkenne als bey ainem zaichen, über was vnd wie vil jm got gewalt gibt vnd verleyhet.“ (Eberlin: Schänder 15 f.). 553  „[…] solch weyhung ist ain fluch vor got, vnnd wirt dem teuffel mehr gwalt geben zu

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IV. Gegenwartsverständnis

Weder Weihwasser noch -rauch, weder Kreuzzeichen noch Glockenläuten würden den Teufel vertreiben; 554 alle derartigen Maßnahmen basierten auf Äußerlichkeiten und seien Ausdruck mangelnden Gottvertrauens und fehlgelei­ teten Schutzbedürfnisses. Der Mensch sei nur allzu bereit, die auf Leistungs­ frömmigkeit, Werkgerechtigkeit und Äußerlichkeiten basierenden Maßnahmen zu ergreifen – womit er unkritisch und leichtfertig dem Betrug des Teufels verfalle.555 Ein rechter Christ jedoch erkenne als eigentlichen Initiator der di­ versen Abwehrmaßnahmen den subtilen Teufel, der gezielt derartige, vermeint­ lich schutzspendende Maßnahmen kolportiere, um die Gläubigen vom alleini­ gen Vertrauen auf Gott wegzuführen.556 Durch die reformatorische Destruierung papstkirchlicher Schutzinstrumen­ tarien musste die Aktivität des Teufels noch bedrohlicher erscheinen als ehed­ em. Die Angst vor dem Teufel wird in den Flugschriften zum Teil gezielt sti­ muliert und aufgebaut: Immer wieder wird betont, wie machtvoll und gefähr­ lich der Teufel sei; immer wieder wird davor gewarnt, ihn zu unterschätzen.557 schaden einem menschen, welcher in seinem boesen glauben gebraucht geweyhet ding, dann ob er das nit gebraucht, vnnd das ist des teuffels liste, das er jm selbs ain wege mach vns zu schaden in gottes namen. Als auch Paulus dagt, er entstelle sich in ain enngel des liechts etc. Syhe, der teuffel hatte nymmer mehr moegenn vnns inn fluch gottes behalten, wo er nit fürhielte gottes namen, damit man segnet dise ding. Darumb hat er glert, man sol gotes na­ men mißbrauchen, darzu vns mehr zubetriegen.“ (Eberlin: Schänder 15). 554  Äußerlichkeiten seien als Schutz gegen den Teufel absolut unbrauchbar, nur Gott al­ lein könne diesen Schutz gewähren, vgl. z. B. Osiander: „Das ist aber ain grosse gotßleste­ rung, daß man dem geweychten saltz und dem geweychten wasser zulegt, daß sy soellen unser hayl an leyb und an seel sein, alle teüffelische gewalt vertreyben, den lufft raynigen und die sünde hynwegnemen, wie dann das in allen meßbuechern geschriben ist, […] so doch soelchs aigentlich des aynigen Gottes werck allayn sein […].“ (Osiander: Grund und Ursach 243,14–20). „Dergleichen, daß es [das geweihte Salz und Wasser] dem teüffel soll weh­ ren und in vertreiben, ist auch Gottes werck allain, wie Paulus zu den Roemern am letzten sagt [Röm 16,20]: ‚Der Herr woell den sathan undter euern fuessen zertretten in kürtz. Amen.‘ Deßgleychen Zacha. am 3. [Sach 3,2]: ‚Es woere dir der Herr, Sathan, es were dir der Herr, der im erwelet hatt Jherusalem.‘“ (Osiander: Grund und Ursach 244,3–7). Vgl. auch Eberlin: Das Glockenläuten, welches den Teufel vertreiben solle, ist unwirksam gegen den Teufel. Der Teufel aber fördere gezielt diesen Aberglauben, indem er zunächst Unwetter hervorbringe, um während des Glockenläutens davon abzulassen – und so die Suggwestion der Wirksamkeit aufrecht zu erhalten und die Gläubigen in falscher Sicherheit zu wiegen, vgl Eberlin: Schänder 9. 555  Vgl. z. B. die ausführlichen Erläuterungen bei Eberlin: Erfurt 239–243. 556  „Es ist auch ain subtiler Teüffel, der da leeret, man soll Creützlein von geweychtem wachß machen an die wiegen der kinder vnnd an die stall thüren, da man das vyhe hat, vnnd dem vihe ann den halß henckenn. Ain gutter Crist hat ain grewel ab allem, das also mit ge­ weyhet ding versigelt ist, sein gaist befindt des teuffel gegenwürtigkeit dabey, Befilch dich vnd dein vihe got, vnd gebrauch alles, was dir fürkommpt, zu nutz vnnd nott, vnnd vnnder­ lasse sollich Teüffels gespaenst.“ (Eberlin: Schänder 17). Dies gelte auch für die Friedhofs­ weihe: „Jnn kaynem ding haben die lewtbescheysser betrüglicher scheinlicher hilff biß her für den teüffel gesuchtt, dann in der weyhung der kirchoff.“ (Eberlin: Schänder 18). 557  Vgl. z. B. Karlstadt: „Nu merck der Teüffel ist so mechtig / das er heüt des tags / den bestendigen Engeln arbeyt machet […]. Darab zunemen ist wie grosser sterck wir bedürffen

2.  Innere Kohärenz

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Gleichzeitig wird in besonderer Weise die persönliche Involviertheit eines je­ den Christen herausgestellt. Vor dem Hintergrund der konstatierten Unmittel­ barkeit zum Teufel und der Unvertretbarkeit des Teufelskampfes müsse sich je­ der Einzelne, insbesondere als wahrer Christ,558 mit dem Teufel auseinander­ setzen. Die Individualisierung des Teufelskampfes zog auch eine gesteigerte Vulnerabilität jedes Einzelnen nach sich, zumal die überkommenen Schutzme­ chanismen gegen den Teufel wirkungslos seien bzw. gar einen gegenteiligen Effekt zeitigten. Für die Persuasionskraft der Flugschriften war die auf diese Weise betriebene Angststimulation eine wesentliche Grundlage, von der aus den spezifisch refor­ matorischen Strategien für den Teufelskampf eine ungemein hohe Virulenz zu­ gemessen werden musste. Insbesondere vor dem Hintergrund der gegenwärti­ gen Provokation des Teufels sei die Wehrhaftigkeit gegenüber seinen Anschlä­ gen notwendiger denn je: „Furwar, es ist tzeyt, das wyr uns rusten und mit beten und leren schutzen, der Satanas will dran.“559 In dieser Situation verspre­ che allein die Hinwendung zur reformatorischen Lehre wirkungsvolle Siche­ rung. So erscheint die zuvor aufgebaute Teufelsangst durch das Angebot aktiver Handlungsmöglichkeiten bewältigbar, indem die Flugschriften ihren Rezipien­ ten Strategien an die Hand geben, wie der teuflischen Bedrohung wirksam begegnet werden könne. Ausgangs- und zugleich Zielpunkt der reformatorischen Waffenlehre gegen den Teufel ist das rechte Gottvertrauen.560 Wo der Christ sein alleiniges Ver­ trauen auf Gottes Heilszusagen richte, schwinde die Macht des Teufels dahin: wider den teüffel / der yetzt vmb vns ist […]. Denn wir haben mit den teüffeln zukempf­ fen / welche fürstenn seind dieser welt. Dise boese geyster seind vnther dem hymel / vnd vnsaeglicher weyse stercker / dann vnser fleysch vnd blut / welchs auch nicht zu schaetzen ist gegen der grossen vnnd scharpffen macht des teüffels.“ (Karlstadt: Von Engeln und Teufeln B1a-B1b). Vgl. zum Furchtauf- und abbau auch Karlstadt: Glaub und Unglaub D2a. Auch Luther warnt immer wieder davor, des Teufels Macht zu unterschätzen. Für ihn ergibt sich beispielsweise der Wert der Beichte aus den machtvollen Anstürmen des Teufels, gegen die die Beichte helfen und Erleichterung der Gewissen verschaffen könne. Luthers Zuhörer unterschätzten die Macht des Teufels und die Mühe, die es koste, seinen Angriffen zu wehren – andernfalls würden sie die Beichte nicht so gering schätzen: „Dweil wir dann vil absolution benoettiget sind und troestunge, so wir wider den teüffel, tod, helle und sünde streytten müssen, so müssen wir uns kein waffen nehmen lassen, sonder harnasch und rüs­ tunge gantz lassen (so uns von got wider unser feinde gegeben) unverrückt bleyben. Dann jr wist noch nitt was es mühe kostet, mit dem teüffel zu streytten und uberwinden. […] Wenn jr jnn [den Teufel] hetten erkent, jr würden mir die beichte nicht also zurück schlagen.“ (WA 10.3; 64,9–16). 558  Vgl. die reformatorische Umwertung der Anfechtungserfahrung, oben 231 ff. 559  WA 10,2; 12,4 f. 560  So z. B. bei Karlstadt: Des Teufels Macht gründe auf Furcht. Sobald der Mensch den Teufel und die Welt anstatt Gott fürchte, nehme er Zuflucht zu kreatürlichen oder gar ma­ gischen Hilfen. Dagegen könne nur die innige Glaubensverbindung mit Gott die Waffen für den Kampf mit dem Teufel bereitstellen und die Furcht beseitigen, siehe Karlstadt: Von Engeln und Teufeln B1a ff.

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IV. Gegenwartsverständnis

„[…] unnd ßo wir sollichs [das Vertrauen allein auf das Evangelium zu setzen] mitt ernst unnd fleyß werden furnemen, Szo mogen wir unßern aller grewlichsten feynd den teu­ fel gantz leichtlich uberwynden, unnd tzu allen schanden bringen, durch unßern hernn Jesum Christum […].“561

Nicht Äußerlichkeiten wie z. B. geweihte Gegenstände, sondern allein der Glaube an die Macht Christi lasse gegen den Teufel bestehen: „Das vns allain durch Christum sey hilff, rath, schirm geben an leib, seel, eer, gut on allen zusatz anderer ding, welcher an Christum glaubt, ist geweyhet wider den Teuffel vnnd hell. […] Kain dinng weyhet dann der glaub inn Christum, nichts ist geweyhet dann ain glawbiger mennsch, vnnd alles, was er gebraucht, ist geweyhet von gott. Alle andere weyhung seind Laruen, mer dienendt zu verfuerung dann zu hayl, mer ain zau­ berey dann ain segen.“562

In der Beziehung zum Teufel werden jedwede graduellen Unterschiede inner­ halb der Christenheit abgelehnt: Völlig unabhängig von Standeszugehörigkeit oder etwaigen Voraussetzungen mache allein der Glaube rechte Christen und erlöse vom Teufel.563 Ein Hauptwerk Christi ist der Schutz und Schirm gegen den Teufel; diese schutzspendende Wirkung könne nicht (etwa vom Papsttum) reproduziert oder verfügbar gemacht werden, sondern gehe allein von Christus aus: „Deren kainer verrycht die hauptwerck in der chrystennhait, das seinnd erwoelen, beryeffen, erleüchtten, raynigen von sünnden, regyeren vnnd bestaetigen jm weg chrys­ ty, Schyrmen vor Teüfel vnnd helle, ewigklich befelygen, Christus allain thutt dyße werck, er ist allainn das haupt.“564

Jeder, der sich im Glauben vertrauensvoll Christus zuwende, partizipiere an diesem Schutz.565 Gegen den papstkirchlichen Dispensionsapperat nehmen die 561  Cronberg: Christliche Schriften 59. Zur Überwindung des Teufels durch rechtes Gottvertrauen vgl. auch Spengler: „Glaub myr, welcher dem wort Gotes kecklich vertraut, dem wirt weder tod, sund oder teuffel beschedigung zufuegen. Werden wyr uns aber auff menschenler steurn, so kann uns der teuffel an unsern letzten zeytten gar gerincklich stuert­ zen und uberwelltigen.“ (Spengler: Hauptartikel 329,7–10). Vgl. auch Eberlin: „Christus (an woelchen jr glaubt habt) hat überwunden sünd, todt, hell, teüffel, Das jren kains mag den Christen geschaden, das wissen sy durch den Gaist Christi, woelcher in jnen wonet, darumb bietten sy drutz dem teüffel vnd seiner macht.“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 146); vgl. zudem Eberlin: Zuschreiben 136; Eberlin: Zweierlei Reich 93. 562  Eberlin: Schänder 19. Vgl. auch Schänder 10. 563  „[…] weder stet, zeyt, noch person oder anders, vnderschaidet vnder den Christen, wa ain mensch ist, das glaubt, Cristus warer gotes vnd menschen sun hab jm verdienet bey got erloesung von sünd, tod, teüfel, hell, der gehoert zu dem Cristlichen hauffen […].“ (Eberlin: Bericht 175). 564  Eberlin: Bericht 177. 565  Das reformatorische „solus christus“ ist dabei sowohl als Exklusiv- wie als Inklusi­ vaussage zu verstehen: Exklusivaussage, insofern der Teufel von Christus grundsätzlich ge­ schieden wird; Inklusivaussage, insofern der Gläubige versichert wird, in den bereits errun­ genen Sieg Christi über den Teufel hineingenommen zu sein, vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 261–263.

2.  Innere Kohärenz

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reformatorischen Bewegungen eine grundlegende Spiritualisierung der Teu­ felskampfstrategien vor: Schutz vor dem Teufel könne nicht auf der Basis von Menschenlehren und -autorität erlangt werden, sondern ausschließlich im Ver­ tauen auf Gottes Gnadenzusagen.566 In diesem Zusammenhang wird vor allem die Macht des Gebetes immer wieder betont: Das christliche Gebet sei die wirkungsvollste Waffe gegen den Teufel.567 Wer das Vertrauen auf die eigenen Kräfte fahren lasse, sei in Christi Barmherzigkeit geharnischt wider den Teufel: Der Teufel wisse, dass er die Menschen zu Fall bringen könne, „[…] so wir nit starck gewapnet send wider yhn mit Christlichem gebet, kain gewissere nutzere frucht vnsers glaubens, kain starcker geschos oder harnasch wider den teuffel mag erfunden werden, dan ain Christlichs gebet, wilchs her kumpt vß warer erkanntnus aignes nichtes, vnd vß grosser zuuersycht zu gottis gnad durch Christum.“568

Um in der Auseinandersetzung mit dem Teufel bestehen zu können, müsse je­ der Christ mit dem dafür notwendigen Rüstzeug ausgestattet sein. Dieses wer­ de in der Schrift bereitgestellt: „Ein yetlicher muß vor sich stehen und gerust sein, mit dem theüffel zu streytten: du must dich gründen auff eynen starcken, klaren spruch der schriefft, da du besteen magst: wenn du den nit hast, so ist es nit müglich, das du bestan kanst, der teüffel reyst dich hinweck wie ein dürre blat.“569

Aus dem Gedanken der Unvertretbarkeit des Teufelskampfes erwuchs damit auch die reformatorische Betonung der Bildungspflicht in Glaubensbelangen: Ein Christ müsse über seinen Glauben Zeugnis ablegen können; er müsse die Schrift kennen, um den Teufel zurückweisen zu können: „[…] die heilig geschrifft ist das schwaert des gaists, do mit wir vnß alles jrsals muessen erweren, vnd jetz sind gefaerliche zeit, dar in der teüfel werckt, darvmb wer kein schwaert hat der Biblien, der verkouff sein rock vnd kouff ein Bibel dar vmb, die zeit ist hie. Nieman mag sich entschuldigen mit der armut, kanstu brot kouffen zu spyß deß 566 

Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre K4a-K4b. z. B. Eberlin: Angesichts des Missstands in der Christenheit müsse man „[…] yn grossem ernst zu Got schreyen vmb errettung seynes worts, mit Christlichem gebet fechten wider den gewaltigen eynbruch des teuffels, wan alain mag Christlichs gebet an dysem orth dem Teuffel widerstandt thun, das er nitt mehr eynfalle vnnd schaden thu, es mag auch die abgefallenden wider eryagen, vnd warlich hetten yetzgemelte abgefallende sych fleissig zum gebet gehalten, sie weren dem feyndt nit so fast zu spot vnd zu tail worden.“ (Eberlin: Erfurt 234 f.). 568  Eberlin: Erfurt 235. Und weiter: „Ainn sollich gebet mehret vnnd sterckt den glauben vnd vertrawen zu got, erleucht den menschen zu erkantnus sein selbs, demuettigt den menschenn, wirfft yhn yn den tieffen abgrunt aigner nichtikait, dahin der hoffertig teuffel kain fuß seynes gwalts setzen mag, vnd widerumb tragt das gebet den menschen vff, vnd schlueßt yhn yn Gottis almechtige barmhertzikeyt, macht jhn mit Got ains also, das er darff warlich drotz bieten allen porten der hellen.“ 569  WA 10.3; 22,10–23,3. 567  Vgl.

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IV. Gegenwartsverständnis

lybs, so bist du kein christ, wann du nit meer acht hast vff das brot der seel, das ist das wort gots. Kanstu nit selbs laesen, bestel ein armen schuler, der lißt dir vmb ein stück brot als vyl du ein tag bedarfft. Hastu kein buch, bist zu arm, baettel ein buch, es ist dir eerlicher ein ewangeli baetlen dann ein stuck brot. Bit andre vmb gotwillen das sie dir im ewangeli laesen.“570

Diese Bildungspflicht in Glaubensbelangen sei umso dringlicher angesichts des nahenden Jüngsten Tages, an dem jeder Mensch zur Rechenschaft gefordert sein werde.571 Der Antichrist sei in der Schrift angezeigt; wer nicht lesekundig sei, müsse sich an Vorleser wenden; über gemeinschaftliche Rezetionsformen und lesekundige Multiplikatoren könne jeder Gläubige den Antichrist als sol­ chen erkennen.572 Gott habe sein Wort in der reformatorischen Gegenwart er­ neut dargeboten; dieses Angebot müsse nun ergriffen werden, andernfalls falle man endgültig dem Teufel zu: „wilt du es nit, so far zum teufel. es ist iez vor handen. der sucht, der findt und hat.“573 Die Schriftkenntnis sei die unabding­ bare Voraussetzung, um gegen den Teufel bestehen zu können; 574 daher stehe jeder Einzelne in der Pflicht, den neu eröffneten Zugang zur Schrift auch zu nutzen – da nunmehr die Möglichkeit eröffnet sei, an der neuergangenen Of­ fenbarung teilzuhaben, gebe es keine Ausreden oder Entschuldigungen mehr.575 570  Eberlin: Bundesgenossen 165. Vgl. zur Bildungspflicht auch Luther: „Hierjnn so muß ein yederman selber die hauptstück so einen Christen belangen, wol wissen und gerüst sein […].“ (WA 10.3; 2,1 f.). 571  „Ain grosser feldstreyt stat den Christen vor, vnd ist jnen not, das yetlicher ain schwert hab, das schwert ist Gottes wort, in der Biblia begriffen, vnd ain ernstlicher Christ solle ee mangel an klayder vnd speyß erleyden, das er moege ain gantze Bibel, oder ain New testa­ ment haben, darinn altag suchen seelen speyß, durch leßen vnd betrachten in gottes wort, daruon der mensch meer lebt, dann von leiplichem brot. Kanstu nit leßen, gibe aim armen schuler ain stuck brott, er lißt dir so vil darumb, das du ain tag daran gnug hast, Ewer gesündt vnd kind sollen jr auch dartzu halten in allem ernst vnd wackerhait, wann der groß tag Chris­ ti ist nach.“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 145). 572  „Lieben christen und lieben brueder, wöllen wir den Antechrist kennen oder wißen, so mueßen wir zu den bruedern gon die lesen künden und si bitten, daß si uns lesen die epis­ tel Pauli die er schreibt zu den Thessalonicensern, die ander am andern capitel [2 Thess 2,1 ff.].“ (Ain schöner Dialogus 128,1–4). 573  Ain schöner Dialogus 128,14 f. 574 Vgl. auch Luther: Jeder Gläubige müsse sich auf der Grundlage der Schrift seines Glaubens vergewissern; gemäß dem Priestertum aller Gläubigen habe hier jeder Gläubige seine eigene Verantwortung, ansonsten sei er leicht vom Teufel zu überwinden, vgl. WA 10,3; 259,3–18. Vgl. auch WA 10,3; 353,29 f.: Die Schrift sei „[…] solich gros wirdig gewal­ tig ding, das es dich underricht und weisset, wie du die sund, den todt, teuffel und die hell mugest uberwinden.“ Vgl. auch WA 10,3; 360,9–11: „Darumb musen wir uns teglichen uben in der heilygen geschrifft, da mitt und wyr soliche menschen gesetz uberwinden mugen und mit dem euangelion, mit diem samenn, das teuffels haupt tzur knurszen.“ Vgl. auch Osiander: Sendbrief 95,20–25. 575 „Nun seind yetz die letsten zeyt / darinnen leib vnnd seel in grausamer gefar stan­ den / falsch leerer des Endtchrists botten seind in der welt […]. Wer nun nit will betrogen vnd verfuert werden / der muß warlich für sich sehen vnd sich hieten bey verlierung seiner seel seligkait / wir seind ye gnug gewarnet / wers verschlaft schad sein. 2. Thessa 2. So ligts yetz alles daran / das man wisse welches die selbigen falschen leerer seyen / damit man sich

2.  Innere Kohärenz

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Durch die Wiederentdeckung des Evangeliums könne und müsse jeder dem Teufel absagen: „Dieweyl aber solliche verfuerung in dißer gnaden tzeytten offenbar wurdet, und eyn yglicher gewalt hat sich von des teufels banden tzu­ reyssen […].“576 Mit der gestiegenen individuellen Verantwortlichkeit im Teufelskampf wer­ den in den Flugschriften auch die individuellen Handlungsoptionen zur Bewäl­ tigung der teuflischen Bedrohung in besonderer Weise hervorgehoben. Der Gedanke vom Priestertum aller Gläubigen fand seinen Niederschlag auch in einer gestiegenen laikalen Kompetenz im Teufelskampf, den jeder Gläubige im alleinigen Vertrauen auf Gottes Zuwendung ohne externe menschliche und gegenständliche Hilfe zu führen fähig sei. Diese konstatierte Kompetenzsteige­ rung wirkte dem Gefühl der Passivität und des Ausgeliefertseins gegenüber dem Teufel entgegen, welches sich mit der Destruierung hergebrachter Teufels­ kampfstrategien bei den Rezipienten einstellen musste. Die reformatorischen Teufelskampfstrategien transformieren das Ohnmachtsgefühl in ein Überle­ genheitsgefühl, indem sie Verhaltensmaximen formulieren und Handlungs­ möglichkeiten anbieten, infolge deren Beachtung der Teufel keinen Schaden mehr anrichten könne.577 So sei nicht Resignation, sondern das aktive Sichzum-Kampfe-Stellen die rechte Haltung des Christen.578 Auf der Grundlage der reformatorischen Lehre sei jeder Christ in die Lage versetzt, den Teufel „unter Berufung auf das Jawort im Himmel“ zurückzuweisen.579 Besonders greif bar wird die Betonung der eigenen Kompetenz im Teufels­ kampf bei Müntzer: Indem er den Teufelskampf nicht nur rein geistlich zu führen lehrt und den Teufel für innerweltlich und gleichsam haptisch bekämpf­ bar erklärt, wertet er die unbestimmte Teufelsangst in objektbezogene Teufels­ furcht um und lässt sie durch konkretes Handeln überwindbar erscheinen.580 Durch die innerweltliche Konkretisierung und die Identifizierung im Feindli­ wisse vor jnen zu hieten. Hie soll man die augen baß auffthun / dann biß her beschehen ist […].“ (Rhegius: Ernstliche erbietung A2b). 576  Cronberg: Christliche Schriften 58 f. 577  Vgl. z. B. Spengler: „Glaub myr, welcher dem wort Gotes kecklich vertraut, dem wirt weder tod, sund oder teuffel beschedigung zufuegen.“ (Spengler: Hauptartikel 329,7 f.). Zur generellen Funktionalität und geschichtlichen Anwendung der Angstbewältigungsstra­ tegie, Ohnmachtsgefühle durch das Angebot aktiver Handlungsmöglichkeiten zu überwin­ den vgl. Kittsteiner: Angst in der Geschichte 147; Putz-Osterloh: Angst und Handeln 7–11. 578  Vgl. in Bezug auf Luther: Ebeling: Der Mensch unter der Macht des Teufels 245. 579  Ebeling: Der Mensch unter der Macht des Teufels 245. Der Teufelskampf kann nur unter Berufung auf Christus bestanden werden. Daher darf die Betonung der eigenen Kom­ petenz im Teufelkampf nicht dahingehend missverstanden werden, als könne der Mensch aus sich selbst heraus dem Teufel wehren (diese Möglichkeit wird radikal bestritten), doch könne der Mensch sein Vertrauen eben nicht in Äußerlichkeiten und menschliche Hilfe setzen, sondern allein in Christus Beistand suchen – der Gläubige ist auf niemanden angwiesen als auf Christus. 580 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht siehe Kittsteiner: Angst in der Ge­

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IV. Gegenwartsverständnis

chen ist der Teufel nicht mehr un-, sondern angreif bar – er könne und müsse durch nach außen gerichtete Aktivität entmachtet werden.581 Auf der Grundlage der reformatorischen Teufelskampfstrategien mündet die Rede vom Teufel in eine pointierte Trostbotschaft: Zum einen werden die An­ griffe des Teufels als dem wahren Glauben zuträglich qualifiziert und als Erweis der Rechtgläubigkeit gedeutet, zum anderen ermögliche es die reformatorische Lehre, im Glauben in den Sieg Christi über den Teufel eingeschlossen zu sein – letztlich stehe der Teufel dem allein Gott Vertrauenden machtlos gegenüber und könne seinem Seelenheil nicht schaden.582 2.4.2  Umkehrruf und Persuasionsziel Viele Flugschriften spiegeln den starken Willen der reformatorischen Zeitge­ nossen, einen Bruch mit den überkommenen Frömmigkeitsformen zu vollzie­ hen und einer religiösen Erneuerung Ausdruck zu verleihen. Dabei standen sie vor der Problematik, sich einerseits von der Vergangenheit distanzieren und sich von vermeintlich altem Brauchtum und Herkommen lösen zu wollen, anderer­ seits die Vorväter auch in Ehren zu halten und deren ehrliches Frömmigkeits­ streben nicht gänzlich zu diskreditieren. So betont z. B. Lazarus Spengler, dass die Generationen der Vergangenheit in Unwissenheit gehalten und in die Irrtümer verführt worden seien. Die Zeitge­ nossen dagegen haben keinerlei Entschuldigungen vorzuweisen, denn ihnen sei die Wiederentdeckung des Evangeliums zuteil geworden. Daher sind sie aufge­ fordert, sich von den Irrtümern der Vergangenheit zu lösen: „Uns aber, die nun mit dem genadenliecht Christo offenlich erleucht sein, wurdet unser unwissenhait halben nichts moegen entschuldigen, vil weniger schutzen und furtragen, wo wir auff unser eltern zweyfenlichen glauben einichen grundt unser seligkait stellen wollen.“583

Nunmehr, da die Irrtümer der Vergangenheit offenbar geworden seien, wäre ein Weiter-So schlimmer als alles Bisherige. Die Gegenwart müsse eine Zeit der Veränderung sein; man müsse die Traditionen der Vergangenheit hinter sich lassen und historische Irrtümer als solche erkennen. Spengler illustriert dies an einem lebensweltlichen Beispiel: Wie man in so belanglosen Dingen wie der schichte 145–149; Dinzelbacher: Angst im Mittelalter 9; Reumann: Das antithetische Kampf bild 62 f. 581  Vgl. dazu in grundsätzlicher Hinsicht: Reumann: Das antithetische Kampf bild 32– 34; auch Kittsteiner: Durch Re-Personalisierung des Feindes wird das Objekt der Angst in­ nerweltlich lokalisiert und damit angreif bar (vgl. Kittsteiner: Angst in der Geschichte 147 ff.). 582  Zur tröstlichen Komponente der Rede vom Teufel vgl. Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 268; Oberman: Luther 186; Ders.: Zwischen Mittelalter und Neuzeit 17; Aichele 207. 583  Spengler: Verantwortung 368,17–20.

2.  Innere Kohärenz

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modischen Ausrichtung der Vergangenheit auch nicht vorbehaltlos folge, umso mehr dürfe dies in Glaubensbelangen nicht der Fall sein, zumal man doch um die Möglichkeit des Irrens selbst der Heiligen wisse: „Es wurd sich freylich yederman schemen, wo er seiner eltern klaydung mit den langen zoten, gespitzten schuhen und anderem menschlichem tandt nachvolgen solt, und wol­ len sich doch nit entsetzen, irem menschlichen zweyfelichen glauben nachzuvolgen, so wir doch finden, das zuweylen auch die hayligen faelen koennen.“584

Dieser Anspruch der grundlegenden Veränderung führte innerhalb des corpus christianum zu Auseinandersetzung und Zwietracht. Die reformatorische Ge­ genwart war geprägt durch die einsetzende Glaubensspaltung und den Zerfall der hergebrachten Heilsgemeinschaft: „Zu vnnseren zeyten ist der christlich vmbkreyß so gar zertrent in parteyen der leeren […].“585 In vielen Flugschriften artikuliert sich die für die Zeitgenossen verwirrende Erfahrung konkurrieren­ der Wahrheitsansprüche, die für den Einzelnen mit der existenziellen Frage verbunden war, mit welcher Seite er es um seines Heils willen halten solle.586 Der Meinungs- und Lehrstreit wurde auf allen gesellschaftlichen Ebenen ausge­ tragen und reichte bis in das einzelne Haus und stellte die engsten Familienban­ de vor eine Zerreißprobe.587 Dieser Meinungsstreit sei Folge des neuerlichen Aufgehens des Evangeliums, welches notwendig den Widerstand des Teufels hervorrufe und zur totalen Gegensätzlichkeit der Parteien führe: „Wo göttlich Wort soll regieren und in uns wohnen, da muß ein Teil bei Christo, ein Teil bei dem Bapst stehn.“588 Die sich per Absolutheitsanspruch gegenseitig ausschließenden Lehren waren die Grundlage für die ausgesprochen konfliktbeladene Persuasionskultur der frühen Reformationszeit – die geforderte Abkehr von der als Teufelskirche ge­ deuteten Papstkirche und der als Hinwendung zum Evangelium gedeutete An­ schluss an die reformatorische Lehre wurde den Rezipienten als Frage von Heil oder Verdammnis vorgestellt.589 Angesichts der Gegensätzlichkeit der religiösen 584 

Spengler: Verantwortung 369,14–20. Eberlin: Eheweib 22. 586  „Wa muß aber in diser zwitrechtigen leer / der arm ainfeltig man hinauß? Er were ye gern ain Christ / vnd belibe gern bey der hailigen Christlichen kirchen / auf das er selig wurd / Er hoert aber das sich ain yedertail der warhait vnd kirchen beruembt / vnd wirdt gantz irr / waißt nit welchem tayl er sicherlich glauben mag […].“ (Rhegius: Ernstliche erbietung A3a). 587  Einen lebhaften Eindruck hiervon vermitteln z. B. die Flugschriften „Ein Sendbrief von einem jungen Studenten zu Wittenberg an seine Eltern im Schwabenland von wegen der Lutherischen Lehr zugeschrieben“ (siehe Clemen 1, 9–18) und „Ein Dialogus oder Gespräch zwischen einem Vater und Sohn die Lehre Luthers und sonst anderer Sachen des christlichen Glaubens belangend“ (siehe Clemen 1, 21–47). Vgl. auch Stifel: Christför­ mige Lehre N1a. 588  Botschaft aus der Hölle 319. 589  Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre R4b. 585 

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IV. Gegenwartsverständnis

Wahrheitsansprüche wird in den Flugschriften alles auf die Entscheidungsfrage zugespitzt.590 Der Zerfall der Heilsgemeinschaft und die Erfahrung gegensätzlicher Lehr­ ansprüche qualifiziert die Gegenwart in der Wahrnehmung der reformatori­ schen Zeitgenossen eindeutig als Endzeit, angesichts derer die Entscheidungs­ frage unausweichlich erschien und keinerlei Aufschub mehr gestattete.591 Die­ ses Gegenwartsverständnis kommt insbesondere in der Gattung der Flugschriften zum Ausdruck, wenn sie in persuasiver Absicht eindringlich zur Positionierung im Meinungsstreit mahnen: In der gegenwärtigen Situation müsse jeder Einzelne eine ganz persönliche Gewissensentscheidung treffen. Diese Entscheidung könne nicht delegiert werden bzw. es dürfe nicht auf eine autoritative Lösung des Theologenstreits gewartet werden – in der Bibel sei schließlich alles für die Entscheidungsfindung notwendig zu Wissende bereit­ gestellt; durch die mannigfaltigen Warnungen der Schrift seien Teufel und An­ tichrist unzweifelhaft angezeigt und in ihren gegenwärtigen Konkretionen klar erkennbar: „Du bist ye schuldig bey verlierung deiner seelen seligkait / dem hailigen gayst zu glau­ ben / vnd seiner warnung gwar nehmen / vnd dich darnach zurichten / Die warnung ist ye klar / er hat die verfürer mit jren farben verstendtlich abgemalet / vnd man sicht yetz aygentlich bey welchen solche zaichen seind / wenn die welt nit starblind were / darumb sey yederman gewarnet / es wirt kain entschuldigung helffen […].“592

Der ungemein fordernde Impetus, mit dem die Flugschriftenautoren an ihre Rezipienten herantreten, hat seine theologische Grundlage in der durch die Wiederentdeckung der Offenbarung wiederhergestellten Unterscheidbarkeit Gottes und des Teufels, welcher die bekennende Entscheidung der Gläubigen folgen müsse: Z. B. Cronberg fordert dazu auf, „[…] den teufelischen weg [zu] verlassen, unnd [zu] volgen dem waren stracken ewan­ gelischenn wege, welichen unns der guetig barmhertzig gott auß ßonderlicher unuer­ dienter gnaden, durch die uberchristlich lere, so gantz clar tzeygt […].“593

590  Vgl. in Bezug auf Rhegius: Zschoch: Reformatorische Existenz 140: „Ihren beson­ deren Charakter erhält die ‚Ernstliche Erbietung‘ erst durch die Zuspitzung der Entschei­ dungsfrage […]. Es gelingt Rhegius, […] den religiösen Gegensatz zuzuspitzen auf den Ap­ pell, die unausweichliche Entscheidung für oder gegen Christus zu treffen.“ Durch die ein­ dingliche Verpflichtung auf reformatorische Lehrinhalte sei der „Ansatz zur evangelischen Bekenntnisbildung“ grundgelegt (vgl. ebd. 140). 591 „Nun seind yetz die letsten zeyt / darinnen leib vnnd seel in grausamer gefar stan­ den / falsch leerer des Endtchrists botten seind in der welt / man predigt widerwertig ding / da ye der ain tayl muß vnwarhafft sein […].“ (Rhegius: Ernstliche erbietung A1b). 592  Rhegius: Ernstliche erbietung B4b. 593  Cronberg: Christliche Schriften 53.

2.  Innere Kohärenz

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Da der Teufel durch den Rekurs auf die Schrift enttarnt sei, müsse die Gegen­ wart eine Zeit der grundlegenden Veränderung sein – die teuflische Verblen­ dung der Vergangenheit müsse erkannt und abgelegt werden. Die reformatorische Gegenwart gilt den Flugschriften als die Zeit der Ent­ scheidung im Kampf Gottes mit dem Teufel – allerdings nicht in dem Sinne eines offenen, nicht absehbaren Ausgangs, sondern in der Gewissheit des baldi­ gen Sieges Gottes. Vor diesem Hintergrund münden viele Flugschriften in ei­ nen eindringlichen Umkehr-Ruf: Die Gegenwart ist die letzte kurze Bewäh­ rungs- bzw. Bekehrungsfrist.594 So folgt der Aufforderung, sich der reformat­ orischen Botschaft anzuschließen, die Beschreibung der negativen Konsequenzen für den Verweigerungsfall: Im Sinne eines Furchtappells wird mit einer Un­ heilsfolge gedroht, wenn den Aufforderungen des Kommunikators nicht ent­ sprochen werden sollte: „got wirt jamer vnnd leyden zu schicken, so jr jetzundt sein leer lasset farn […].“595 Auf eindringliche Weise wird erhöhter Widerstand gegen den Teufel eingefordert; 596 wer sich nicht jetzt vom Teufel lossage, werde in Kürze die Strafe Gottes erfahren: „Hyerumb weliche teüfels glyder sich nitt bald durch genad gottes verwandlen in glyder Christi, die muessen kürtzlich durch das streng urteyl gottes vertilget werden.“597 Die Gegenwart ist damit einerseits Gnadenzeit, andererseits aber auch Zeit der Strafe über die Teufelsdie­ ner: „Desßhalb ich mitt warheit sagen mag, das diße unsere hoechste gnad, so uns gott bey dißen unseren zeyten erzeygt, sorklich ist allen denen die solich heymsuchung gottes nit annemen.“598 Über die Negativfolie der Teufelsvorstellungen versuchten die Flugschriften­ autoren, Einfluss auf die Einstellungen der Rezipienten zu nehmen. Da das Teufelsmotiv immer mit Abwehr und Kampf konnotiert ist, vermittelt es eine implizite Handlungsorientierung und weist eine Appellstruktur auf, die gerade in den Flugschriften besonders deutlich zu Tage tritt. In der entscheidenden Auseinandersetzung mit dem Teufel und dessen Handlangern genüge nicht die 594 

Vgl. z. B. Brunfels: Anstoss 301,38–302,8. Kettenbach: Vergleichung 149,12 f. Vgl. auch Eberlin: Wo sich die Menschen der rechten Lehre verweigern, will er ihnen ihr Unheilsprophet sein: „Und ich bitt Got, er woel ynen geben hilff, das sie from werden, wo aber sy nit woellen ablassen, so wil ich yr prophet seyn, yn kurtzer zeit wirt yr amen do seyn.“ (Eberlin: Andere Vermahnung 37). Vgl. auch Eberlin: Zuschreiben 134: „Lassest du dich nit freuntlich abweysenn, so achte ich, es sey ein plag von Got vber dich […]. Dan wurdst mir wol selbst sagen, wie es dir ergangen ist, vnd das mit weynen vnd klagen, so du mich ietzt nit wilt hoeren da sagen mit freud vnd friden.“ 596  „Wir sollen vns lassen erbarmen den grossen schaden, schand vnd verderbnus vnserer mitbrueder, an welchen der boeßwicht, der schalck, der teuffel, so groslich vnd gantz frey seynen mutwillen vbt, wan vnd wie er wyl, on allen widderstand […]. Wie fawl send wir, das wir dyser gefarlikait nit zuuor kommen […]. Were ain erlicher Christlicher bluts tropf yn vns, wir solten ernstlicher zu der sach thon.“ (Eberlin: Erfurt 236 f.). 597  Cronberg: Strassburg 109. 598  Cronberg: Strassburg 112. 595 

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IV. Gegenwartsverständnis

Haltung theoretischer Kontemplation, sondern die geforderte Einstellungsän­ derung müsse sich auch im Handeln der Rezipienten niederschlagen. Dies wird bei Müntzer oder Karlstadt besonders deutlich, wenn sie zur Tötung der Teu­ felsdiener oder zur Zerstörung teuflischer Gegenstände aufrufen.599 Doch auch die Flugschriftenautoren, die von Gewaltanwendung gegen Personen oder Sa­ chen Abstand nehmen, fordern Gehorsamsverweigerung und entschiedenen Widerstand gegen die als Antichrist erkannte Papstkriche ein: „des teuffels und Endchristes gewalt ists, die do weret was zur besserung dienet der christenheit, darumb yhr gar nit zufolgen, sondern widdertzustehen ist mit leyp, gut und allem was wir vormugenn.“600 An die Stelle des Gehorsams gegenüber der Papstkirche setzen die Flugschriften die Befähigung zur individuellen Urteils­ findung auf Grundlage der Schrift. Damit spiegelt sich der Gedanke der Unver­ tretbarkeit des Teufelskampfes auch in der Individualisierung der Entschei­ dungsfrage: Jeder Gläubige müsse sich dieser Entscheidung stellen und dem Teufel auf der Grundlage der reformatorischen Lehre wehren. Für etwaige Zö­ gerlichkeiten gebe es keine Entschuldigungen mehr – klare Bekenntnisse seien gefordert. Das Drängen der Flugschriftenautoren auf eine persönliche Entscheidung richtet sich mitunter auch gegen Teile des eigenen publizistischen Netzwerkes, allen voran die Drucker: Aus Gewinnstreben würden sie alles drucken, egal ob gut oder schlecht, wahr oder falsch. Sie schlössen sich keiner Partei an und scheuten die Entscheidung. Dies wird ihnen nicht als unparteiische Informati­ onsdienstleisung angerechnet, sondern vor dem Hintergrund der Wahrneh­ mung der Gegenwart als Entscheidungszeit zum Vorwurf gemacht: Die Dru­ cker verweigerten die eigene Positionierung und trügen zur Verwirrung der Gewissen bei: „Dieweil so grosser zangk sey zwischen predigern, woellen sie beyde partheyen lesen, trucken vnd verkeuffen biß zu einem außtrag der sache, vnd also handlen sie wider yr eygen herren, so mit yrrung der gewissen, aber eigner nutz sie treibt hyn vnd her, dar­ umb wirt zu letzt yr ehr zu schanden […]. Ach got, man sihet wol zu unsern tagen, wie grosse schand yne vnd dem Euangelio erwachsset durch solich lose, oede handlung.“601

Die frühreformatorische Persuasionskultur gestattete keinen Raum für Neutra­ lität: Entweder sei man dem Gottes- oder dem Teufelsreich zugehörig; hier 599 

Vgl. oben 218. 6; 414,15–18. Vgl. auch Eberlin: Zum Schluss seiner Flugschrift Schänder, in welcher er die Weihe als vom Teufel gestiftet beschrieben und die reformatorischen Strate­ gien für den Teufelskampf dargelegt hatte, fordert er nun das Handeln seiner Rezipienten ein: Jeder einzelne müsse von den äußerlichen Abwehrmaßnahmen gegen den Teufel Ab­ stand nehmen und allein auf das Gotteswort bauen; zudem müsse die Obrigkeit das Weihe­ wesen auch mit Gewalt abschaffen: „[…] darumb soll man allen ernst ankeren, das man ab­ lege mit gottes wort vnd durch ordentlichen gwalt des schwerts alle soellichen leruen wey­ hung.“ (Eberlin: Schänder 19). 601  Eberlin: Geld 162. 600  WA

2.  Innere Kohärenz

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existiere kein mittlerer Bereich, von dem aus sich Distanz wahren ließe.602 Das Widereinander von Gott und Teufel wird in den Flugschriften zur Entschei­ dung für oder gegen die reformatorischen Bewegungen stilisiert – in diesem Sinne war Parteinahme gefordert. So kritisiert z. B. Luther die Haltung vieler Zeitgenossen, welche sich der Lehrstreitigkeiten enthalten wollten; eindringlich werden sie ermahnt, für den wahren Glauben einzustehen: „Jch sehe, das eyn gutte vermanunge nott ist tzuthun an die, ßo itzt der Satanas anfehet tzu verfolgen, unter wilchen ettliche sind, die meynen, sie wollen der ferlickeyt damit entlauffen, wen man sie angreyfft, das sie sagen: Jch halts nicht mit dem Luther noch mit yemand, sondern mit dem heyligen Euangelio unnd mit der heyligen kirchen, odder mit der Roemischen kirchen, ßo lessit man sie mit friden, unnd behalten doch ym hertzen meyn lere fur Euangelisch und bleyben dabey. Warlich solch bekentniß hilfft sie nicht und ist eben ßo viell alß Christum verleucket […].“603

Freilich solle man nicht die Person, sondern die Lehre bekennen; wer aber die lutherische Lehre als christlich und die papstkirchliche als teuflisch erkannt habe, müsse für diese Erkenntnis auch einstehen und entsprechend handeln.604 Die Wiederentdeckung der Offenbarung forderte jeden Einzelnen unausweich­ lich zum Bekenntnis. Eingedenk des bevorstehenden Weltendes verdichtete sich alles auf den gegenwärtigen Moment, alles drängte zur Entscheidung – die Frist, die noch blieb, lief ab.

2.5  Gegenwart als Zwischenzeit Die reformatorischen Flugschriftenautoren suchten im Rahmen des histori­ schen Legitimationsgestus gezielt den Anschluss an die Apostelzeit, wenn sie die Konformität ihrer Lehre mit der urkirchlichen herausstellten. Das Wort Gottes stehe in der reformatorischen Gegenwart in so hoher Geltung wie seit der Apo­ stelzeit nicht mehr: „Das Euangelion haben wir und andere stedte mehr (Gott lob) reyn und reichlich, als nie gewesen ist sind der Apostel zeyten […].“605 602  Vgl. z. B. Müntzer, oben 184. Vgl. auch Eberlin: Zweierlei Reich 92–95. Vgl. in Bezug auf Luther Ebeling: Luthers Reden vom Teufel 264; Althaus: Theologie Luthers 145 f. 603  WA 10,2; 39,26–40,3. 604  „War ists, das du iha bey leyb unnd seel nicht sollt sagen: ich byn Lutherisch oder Bepstischs, denn der selb ist keyner fur dich gestorben noch deyn meyster, ßondern alleyn Christus und sollt dich Christen bekennen. Aber wen du es dafur heltist, das des Luthers lere Euangelisch und des Bapsts uneuangelisch sey, so mustu den Luther nicht ßo gar hyn werf­ fen, du wirffist sonst seyn lere auch mit hyn, die du doch fur Christus lere erkennist […]. Hie mustu warlich nicht mit rhor wortten reden, ßondern frey Christum bekennen, es hab yhn Luther, Claus odder Jorg predigt, die person laß faren, aber die lere mustu bekennen.“ (WA 10,2; 40,5–17). Vgl. auch: „Wiltu nu bey Christo bleiben, mustu den Bapst fliehen und faren lassen.“ (WA 15; 753,13 f.). 605  WA 17,1; 356,15 f. Diese euphorische Gegenwartsdeutung konnte sich auch mit nati­ onalem Phatos mischen: „Und wie wol solch christlich wesen soll in aller waelt ein fürgang

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IV. Gegenwartsverständnis

Müntzer geht sogar noch einen Schritt weiter und tritt damit aus dem Rahmen des historischen Legitimationsgestus in gewisser Weise heraus, wenn er den Glauben in der Gegenwart zu höherer Blüte gelangen sieht als es geschichtlich jemals der Fall gewesen sei.606 So erhält die Gegenwart bei Müntzer eine quali­ tative Sonderstellung, wenngleich auch er die Urkirche als historischen Refe­ renzhorizont festsetzt, an dem es sich zu orientieren gelte.607 Die meisten Flugschriftenautoren allerdings sehen die Geistbegabung der Apostelzeit in der Gegenwart nicht überboten, sondern wiederhergestellt. Diese heilsgeschichtliche Parallelisierung beschreibt z. B. Stifel im Bild von den zwei Morgen: Der Apostelzeit als erstem Morgen folgten der Abend der Teufelsherr­ schaft und der neue Morgen der reformatorischen Gegenwart.608 So sieht man sich zum einen in Kontinuität mit der wahren Kirche und beansprucht die Dig­ nität des Alters für die eigene Lehre; zum anderen aber nimmt man die eigene Zeit auch als grundlegend neue Zeit wahr, die zwar an die Apostelzeit anknüpfe, aber nicht einfach eine Wiederkehr des Gleichen darstelle. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung befindlichen Antichrist unterscheidet die Gegenwart von der Apostelzeit und verleiht ihr eine ganz eigene Charakteristik: War der Antichrist in der Apostelzeit noch durch Christi Auftreten geschwächt, so habe er seinen verderblichen Einfluss in einem geschichtlichen Entwicklungsprozess erweitern können bis zur gegenwärtigen, scheinbar uneingeschränkten Machtposition. Vor dem Hintergrund der nunmehr erfolgten Offenbarung des Antichrist wächst der Gegenwart ihre einzigartige heilsgeschichtliche Bedeutung zu als Zeit der beginnenden Vernichtung des Antichrist. Diese grundlegende Neuheit und historische Einmaligkeit der Gegenwart werde von den Altgläubigen völlig verkannt: „Aber als Petrus hat geweißsagt / so mussz es also sein / das in dißen letsten zeyten seyen verspottet solicher ding / die do sprechen sollen. Wo ist sein zukunfft? wobey weystu solichs? was geschicht dann yetzund dz vor auch nitt solichs geschehen sey? der Ant­ christ mussz vor kommen. Helias mussz vor kommen vnnd Enoch etc. Aber in dißen menschen würt erfüllt werden der spruch des herren von dem end der welt […].“609

Die konstatierte Neuheit der eigenen Gegenwart markiert in der Wahrneh­ mung der reformatorischen Zeitgenossen freilich keineswegs den Auf bruch in han, ist doch got gfellig das es in teütschen landen wider vffgang darinnen es laider lange jar verborgen ist gelegen (als auch in aller christenheit) aber jetz gefalt es got das in teütscher nation wider ein vrsprung hab in alle waelt ein christlich waesen, wie vormals auß Judea geschehen ist […].“ (Eberlin: Bundesgenossen 3). 606 Vgl. Müntzer, oben 190 (MSB 311,10–12). 607 Vgl. Müntzer, oben 115. 608 Vgl. Stifel, oben 154 ff. Zum Bild des „neuen Morgen“ vgl. auch Botschaft aus der Hölle 320. 609  Stifel: Euangelium F3a. Vgl. auch Stifel: Christförmige Lehre I1a-I1b; N2aN2b.

2.  Innere Kohärenz

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eine neue, langwährende Epoche der Weltgeschichte – sie bezeichnete im refor­ matorischen Verständnis nicht die Wende zur Neuzeit, sondern den Anfang der Endzeit.610 Die Offenbarung des Antichrist läutete das Ende des Gotteszornes ein und eröffnete den letzten Kampf gegen den Teufel und seine Handlanger.611 Damit war die Offenbarung des Antichrist zum einen die Voraussetzung für die baldi­ ge Vernichtung von Teufel und Antichrist; zum anderen aber zog sie zunächst deren entfesselten Widerstand nach sich. Insofern nahmen die Zeitgenossen die Gegenwart ambivalent wahr: als umfassende Zeit der Gnade, gleichwohl aber als Zeit der eskalierenden Bedrängnisse und Verfolgungen. Auch nach der Wie­ derentdeckung des Gotteswortes breche der Widerstand des Teufels nicht ein­ fach zusammen – im Gegenteil: er intensiviere sich nochmals und flamme letzt­ malig, dafür aber umso heftiger auf und mache die Gegenwart zur „gefaerli­ chen“612 , „boesen“613 bzw. „boesten“614 und „ergisten“615 Zeit. Insofern stellt die reformatorische Gegenwart nur das Vorspiel, das „schreckliche ‚Praeludium‘“ vor dem großen Finale dar.616 Die unmittelbare Gegenwart ist zunächst eine Zeit des Leidens, in welcher der Teufel die Nöte der Auserwählten auf die Spitze treibe und auf ein kaum erträgliches Maß anschwellen lasse. Doch gehe mit der leiblichen Bedrängnis die geistliche Reinigung einher: Der Christenstand stehe im Kreuz; ohne Lei­ den erschließe sich dem Menschen weder die eigene Unzulänglichkeit noch die göttliche Barmherzigkeit.617 Die Leiderfahrung breche Hybris und Hochmut 610 Vgl.

Oberman: Luther 281. Vgl. z. B. Stifel: Christförmige Lehre Q2b. 612  Vgl. z. B. Brunfels: Gott „hat offenbart seinen lieben sun und sein heyligs wort yet­ zunt zu disen gefaerlichen letsten zeyten, welches on zweyfel ein grosse genade ist […].“ (Brunfels: Anstoss 294,4–6). Vgl. auch Luther: „yn dißer ferlichen tzeytt“ (WA 10,2; 13,7). 613  Vgl. z. B. Eberlin: „in dieser boesen zeyt, […] in woelcher zeyt die warhait geschwi­ gen, verhasßt, verfolgt ist.“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 143). 614  Vgl. z. B. Zell: „yetzund zu unseren letsten boesten zeiten.“ (Zell: Christliche Verantwortung 288,13 f.). 615  Vgl. z. B. Luther: „in dieszer letzten ergisten zeit“ (WA 6; 414,31 f.). 616 Vgl. Oberman: Luther 284. 617 „[…] wa nicht Creütz ist  / daselbst mügen auch nicht Christen seyn.“ (Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a). Zum Leiden als christliche Bestimmung vgl. auch Eberlin: Warnung 261. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Bauernkrieg entfaltet Eberlin seine Leidenspädagogik: Das Leid führe zum Glauben und treibe die Auserwählten Gottes rettender Barmherzigkeit zu: Christus könne nur denjenigen trösten, der getröstet werden muss (vgl. Eberlin: Warnung 261). „Aber seind getroest, alle leyden werden euch mer hoffnung vnd trawen in gott bringen.“ (Eberlin: Tröstliche Vermahnung 146). Vgl. auch Karlstadt: Die Bedrängnis gilt Karlstadt als erzieherische Maßnah­ me Gottes (vgl. Karlstadt: Berichtigung dieser Red C4a); erst das Leiden schaffe Selbst­ erkenntnis des Menschen und Flucht zu Gott (vgl. ebd. C4a). Gottes Erbarmen sei dem Leiden nachgeordnet (vgl. ebd. C4b). So sei die Leidenszeit heilsam, da die Gnade und Barmherzigkeit Gottes im Leiden bereits aufgehoben seien (vgl. ebd. C5a). 611 

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IV. Gegenwartsverständnis

und schaffe so Raum für die Entfaltung des Geistes. Bei Müntzer ist das unver­ tretbare Leiden des Einzelnen gar unabdingbare Voraussetzung für die Ankunft des Glaubens.618 Insofern versuche der Teufel zunächst, durch die Suggestion falscher Heilssicherheit den Menschen ihre Leidensbereitschaft zu nehmen; al­ lein wo dies von den Auserwählten durchschaut werde, versuche der Teufel, die Gläubigen durch das ihnen zugefügte Leid von ihrem Weg abzubringen – doch bewirke gerade diese Vermehrung des Leidens die Vermehrung des Glaubens. Generell wird der theologische Stellenwert des Leidens von allen reformato­ rischen Flugschriftenautoren immer wieder stark hervorgehoben, wenngleich die Rechtmäßigkeit der Beanspruchung des Leidensmotivs innerreformatorisch umstritten sein konnte.619 So sei der gegenwärtige Leidensdruck der notwen­ dige Vorlauf des kommenden Reiches Gottes: Gerade die Kulmination der Lei­ derfahrung künde von der Nähe des Heils und verbürge die bedingungslose Zuwendung Gottes – hinter dem Wüten des Teufels zeigt sich in reformatori­ scher Logik bereits das Eingreifen und der Sieg Gottes. Die reformatorische Gegenwart war damit Leidens- und Heilszeit zugleich: einerseits voller Be­ drängnis und Anfechtung, andererseits voller Hoffnung und Zuversicht bezüg­ lich der nahenden Erlösung.620 Diese Zukunftserwartung macht den interimistischen Charakter der Teufels­ herrschaft deutlich: So uneingeschränkt die Macht des Teufels auch immer er­ scheinen mag und von den Flugschriftenautoren gegen die empfundene Ver­ harmlosung des Teufels durch die Altgläubigen hervorgehoben wird, letztlich werden die Gläubigen der Ohnmacht des Teufels gegenüber dem Heilshandeln Gottes versichert: „Das rede ich alles darumb, das wyr ynn solchen manchfelti­ gen anstossen unnd ergerniß des Satanas unerschrocken seyn. Denn S. Johannes spricht [1 Joh 4,4]: der yn uns ist, der ist grosser denn der ynn der wellt ist.“621 Nunmehr sei der Zeitpunkt gekommen, an dem Gott gegen die überhand nehmende Teufelsmacht interveniere, weshalb die Gläubigen aufgerufen seien, sich mutig von der Papstkirche abzuwenden: „Sind kaeck, die zyt ist hie, gott ist 618  In Ablehnung des Stellvertretergedankens führe ausschließlich das persönlich erfahre­ ne Leid zum wahren Glauben, vgl. Müntzer, oben 175 ff. 619  So setzte z. B. zwischen Luther und Müntzer ein skurriles „Wettbieten“ um die recht­ mäßige Vereinnahmung des Leidensmotivs ein, vgl. oben 230 f. Obschon die Authentizität der Leidensbereitschaft Grund für innerreformatorische Verdächtigungen und Diffamierun­ gen war, aufgrund derer den Zeitgenossen Gemeinschaft im Glauben ausgeschlossen schien, tritt doch in der Anhebung des theologischen Stellenwertes des Leidens eine innere reforma­ torische Kohärenz deutlich zu Tage – gerade die gemeinsame Basis in der Hochschätzung des Leidens führte zur erbitterten Auseinandersetzung um dessen legitime Beanspruchung. In­ sofern steht das Leidensmotiv beispielhaft für die Berechtigung der Rede von einer inneren reformatorischen Kohärenz, obgleich die Zeitgenossen keinerlei Gemeinsamkeiten erkennen konnten. 620  Zur Simultaneität von Heils- und Leidenszeit vgl. z. B. Osiander: Grund und Ursach 194,4–24. 621  WA 10,2; 13,18–20.

2.  Innere Kohärenz

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mit eüch, dann die grosse schindery der baepsttischen vnder falschem endtchris­ tischen schein […] mag vnd will gott nümme liden.“622 Im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen der Antichrist sich lediglich vereinzelt Angriffen durch die rechten Christen erwehren musste,623 werde die reformatorische Ge­ genwart den Sturz des Antichrist bringen: Schließlich habe der Antichrist die Kraft des Gotteswortes auch in der Zeit seiner größten Machtentfaltung nie gänzlich brechen können – wieviel weniger nun, da der Antichrist schwach und Gottes Wort wieder stark geworden sei.624 Der Teufel konnte seine geschichtliche Machtfülle nur erlangen, weil er die Verkündigung des Evangeliums behindern und den Gläubigen die Offenbarung Gottes vorenthalten konnte. Sein Reich sei nur eine sekundäre Größe und al­ lein auf Lügen gebaut; nachdem der Teufel als Lünger enttarnt sei, stürze seine Herrschaft: „[…] wie greußlich die [Teufelsmacht] ymer scheynen mag, so muß dasselbig doch ge­ wißlich durch die warheit zu boden gestossen werden, und mag das Antichristisch regi­ ment von dem teuffel auff den faulen grund der lugen gebawet, vor dem wort gottis nit bestehn […].“625

– „die warheyt die nympt uber handt“.626 Durch die Wiederentdeckung der Offenbarung seien Teufel und Antichrist nachhaltig geschwächt – zwar blieben viele Teufelsdiener verstockt und leisteten noch verzweifelten Widerstand,627 doch gehöre dies bereits zum Todeskampf des Teufels, dessen Macht nunmehr gebrochen sei.628 622 

Eberlin: Bundesgenossen 88. Vgl. oben 114 ff. 624  „Derhalben darf man sein crafft nit förchten. Er kan keinem land, keinem reich, kei­ ner stat mer schaden, sonder muß prechen. […] Hat er sich in seiner sterck nicht konnen re­ chen nach seinem begern, weil das wort Gottis noch nicht so crefftig im schwanck gieng, wievil weniger wirt ers nun thun mogen, nachdem er schwach, das wort Gottes aber starck ist worden.“ (Osiander: Ratschlag 371,6–14). 625  Cronberg: Tzwen Brieff 14 f. Vgl. auch „[…] darumb ist dem teufel keyn hoffnung mer tzu habenn, das seynn weltlich reyche das Bapstumb lang besten mag; die warheit schey­ net uberscheinbarlich herfur, wir erkennen die wolff in den schafs cleydern gantz eygentlich […].“ (Cronberg: Christliche Schriften 36). 626  Cronberg: Christliche Schriften 36. 627  Angesichts des neuergangenen Gotteswortes aber sei dieser Widerstand aussichtslos: „Dieweil nu die verfuerung des Antchrists durch das wort gottes so gantz klar an den tag bracht, und durch den heyligen geist taeglichs mer ußgekündet würt, und aber nichts dester weniger der teüfel alle mügliche weg understeet zu suchen, durch seine schwache glyder, darmitt er uns von der warheit uff unsere alte ban gern fueren wolt, wie wir sein teüfelische listigkeit (die uns durch vilfaltige erfarung kundig ist) wol mercken moegen.“ (Cronberg: Strassburg 110 f.) 628  „Und ob gleich vil uß den selbigen noch hart bey irem vatter dem teüfel halten, und sich nit woellen abreissen lassen vom Antchrist (das ist die gantz versammelung in dem geist des teüfels). so seind sye doch so gantz kranck, matt, unnd schwach worden. und ist dem teüfel alle artzeney zu behaltung seiner glyder genommen und entraubt, durch das sein lugen 623 

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IV. Gegenwartsverständnis

Damit öffnet das Gegenwartsgeschehen die Perspektive zur Zukunft hin, in welcher Teufel und Antichrist vernichtet sein werden. Diese Vernichtung voll­ ziehe sich in zwei Akten: Der erste Akt, die Offenbarung von Teufel und Anti­ christ, sei in der Gegenwart bereits im Gange, der zweite Akt, deren Vernich­ tung, stehe unmittelbar bevor. Die Gegenwart bezeichnet den Auftakt zur Überwindung der Teufelsmacht und erscheint damit als „Intermezzo zwischen Offenbarung des Antichrist und dem Ende der Welt“.629 Die Zeitgenossen sahen sich gleichsam zwischen den Zeiten: Nicht mehr in der Zeit der Teufelherrschaft, aber auch noch nicht in der Zeit der vollständigen Erlösung vom Teufel. Es ist die Zeit verstärkten, intensiven Leidens, welches sich noch kurzzeitig in die Zukunft verlängern werde: So seien auch künftig noch große Übel zu erwarten630 – „ye neher der jungst tag, souil meer falscher propheten, das leret vns Cristus.“631 Noch sei das Reich Gottes nicht vollstän­ dig verwirklicht, noch übe der Teufel Widerstand, noch liege das Wort Gottes mit den falschen Propheten im Streit: „[…] dan gewiß ists, es werden boese lerer und falsch Propheten auff steen, wann das wort gepredigt wirdt. Das moegen wir froelich erwegen das die beyde, als recht gutt leren und falsch verfuerend leren, werden umher mit einander gehn: […] Wann die boesen menschen, der teuefel mit all unsern feinden steen uns wider an underlaß. Also haben wir noch alles zu erstreitten und sindt noch nit uber den bach […].“632

Die Gegenwart stehe noch im Zeichen der Aktivität des Teufels, der nach wie vor unzählige Seelen verderbe.633 Der letztgültige Sieg über den Teufel bleibt damit zunächst noch vorständig, erst die Wiederkunft Christi werde ihn un­ wiederruflich herbeiführen: „So ist ja seine [des Teufels] macht durchs Euangelion geschwechet und gebrochen, aber sein endliche zustoerung wird auff den Juengsten tag behalten. Darumb muss es noch an den tag bracht seind. […] Dann dieweil ir grundt uff die lugen gestellt ist, so ist der gantz baw, so daruff gebawt, durch die warheit zerstoert.“ (Cronberg: Strassburg 109). 629  Leppin: Jüngster Tag 235. 630 Z. B. Eberlin vermahnt seine Rezipienten, „[…] zuschreyen vmb hilff vnd schirm wid` so grosse vbel, so vns ains thails gegenwertig, ains tails gewißlich vorstendig. In wilchen nicht dann eyn Christlich gebet helffen mag.“ (Eberlin: Erfurt 233). 631  Eberlin: Falschscheindende Geistliche 63. Vgl. auch Zell: Bereits den Aposteln schien der Einfluss des Teufels enorm, obschon damals Christi Auftreten erst in jüngster Vergangenheit lag – bis zur reformatorischen Gegenwart habe sich dieser Befund dramatisch verschärft: „[…] wie sich der Sathanas under die guten engel vermischet, die falschen pro­ pheten under die guten, und ist nit ein wunder, das es yezund geschicht, wann sich des auch Petrus [2 Petr 2,1–3] und Paulus [2 Kor 11,13 f.] hefftigklich beklagt haben zu iren zeiten, do Christus noch new was, ich geschweig yetzund zu unseren letsten boesten zeiten.“ (Zell: Christliche Verantwortung 288,9–14). 632  WA 10,3; 257,12–258,2. 633  Noch ist die Zeit der „[…] gewaltigen irrthummen des Teuffels / durch woelche lay­ der alle augenblick / vil tausent seelen verderbet werden / vnd in die helle geryssen […].“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists Y4a).

2.  Innere Kohärenz

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zum teil bleiben, so lang bis Christus mit seiner zukunfft alles ynn einen hauffen vertil­ ge und zu pulver mache von himel herab.“634

Angesichts der von den reformatorischen Flugschriftenautoren konstatierten ungeheuerlichen Teufelsmacht in der eigenen Gegenwart entfalten apokalypti­ sche Vorstellungen ungemein tröstliche Implikationen – je gewaltiger die Macht des Teufels und je entfesselter sein Wüten, desto heilsamer die Befreiung, die mit seiner Vernichtung verbunden sein werde: „Denn diese grosse anfechtung ist ein gut zeichen, das sie bald ein ende nehmen werde, und der Teuffel gantz nahet uberwunden ist, allein das er sein hoehestes versucht. […] Derhalben sol die selbige Person hoffen und einen guten trost haben.“635

Eingedenk des reformatorischen Paradigmenwechsels hin zum übermächtig er­ scheinenden Teufel und der von ihm initiierten gegenwärtigen Bedrängnisse verliert der Jüngste Tag in reformatorischer Wahrnehmung seinen Schrecken; in signifikanter Umwertung der Tradition wird er als Bestandteil der schlecht­ hinnigen Vollendung zum Gegenstand freudiger Zuversicht: zum „lieben Jüngsten Tag“.636 So richtet sich der reformatorische Blick in die Zukunft, auf­ gehoben in der Zusage Gottes und in sehnsuchtsvoller Erwartung der Erlösung von aller Teufelsmacht: „Und sey sicher, sie sollen das raßen nicht lange treyben, harre eyn kleyne tzeyt unnd laß dyr benugenn, das deyn gott dyr verspricht: Wer euch anruret, der ruret meyn augapffel an.“637

634 

WA 15; 753,29–32. WA 7; 791,5–11. 636 Die Unterschiedenheit der reformatorischen Deutung des Jüngsten Tages im Ver­ gleich zur Tradition wird in der Literatur (in Bezug auf Luther) klar benannt: Im Unter­ schied zur mittelalterlichen Eschatologie, die vor allem auf die individuelle Gerichtserwar­ tung abhob, fokussierte Luther sie auf Ende und Ziel der gesamten Geschichte: „Das eschato­ logische Interesse [des Mittelalters] richtet sich überwiegend auf die Zukunft des einzelnen Menschen. Hier allein bildete sich die theologische Lehre von den Letzten Dingen fort. Dagegen für die Frage nach dem Ende und Ziel der Geschichte blieb sie unfruchtbar. […] Auch die mittelalterliche Kirche spricht vom Jüngsten Tage. Aber der Ton liegt dabei ganz und gar auf der Bedeutung für den einzelnen als Tag des Gerichts: Dies irae, dies illa.“ (Althaus: Theologie Luthers 350). Während die Furcht vor Gericht und Verdammnis den Jüngs­ ten Tag im Mittelalter als Schreckensszenario erscheinen ließen (vgl. Schäufele: Pessimus­ mus 32 f.), wird er vor dem Hintergrund der reformatorisch konstatierten Machtfülle des Teufels und der erdrückenden Herrschaft des Antichrist geradezu herbeigesehnt, verspricht er doch die Erlösung und die Vernichtung des Teufels. Gegenüber dem Mittelalter liegt da­ mit eine deutliche Akzentverschiebung vor: nicht der Tag des individuellen Gerichts wird gefürchtet, sondern die Vollendung der gesamten Heilsgeschichte mit dem „lieben Jüngsten Tag“ freudig erwartet (vgl. Althaus: Theologie Luthers 351 mit Belegen). 637  WA 10,2; 41,11–13. 635 

V. Zukunftsperspektive 1. Fallbeispiele Im Folgenden werden Fallbeispiele frühreformatorischer Zukunftsperspektiven vorgestellt, welche um das rechte Verhältnis von reformatorischer Theologie und Astrologie kreisen und dabei Einblicke in die Zeitwahrnehmung der Flug­ schriftenautoren gewähren. Die ausgewählten drei Beispiele stehen paradigma­ tisch für jeweils unterschiedliche Argumentationslinien, die sich im Span­ nungsfeld von astrologieaffinen, astrologiekritischen und antiastrologischen Positionen aufspannen. Mithin sollen die Fallbeispiele die relative Vielfalt mög­ licher frühreformatorischer Zugänge aufgreifen, um anschließend eine Kohä­ renzprüfung zu ermöglichen.

1.1  Martin Luther Martin Luther ist der mit großem Abstand erfolgreichste Flugschriftenautor der frühen Reformationszeit. Aufgrund seiner überragenden Bedeutung ist das wissenschaftliche Publikationsvolumen zu Person und Werk Luthers nahezu unüberschaubar.1 Der nachfolgende Abschnitt konzentriert sich auf die Un­ tersuchung einer Predigt innerhalb der Adventspostille von 1522, in der Luther in Auslegung von Lk 21,25–36 seine Auffassung zur Zukunftsperspektive dar­ legt. Neben der thematischen Ergiebigkeit begründet sich diese Fokussierung zudem durch die große Wirkmächtigkeit dieser Predigt, welche über verschie­ dene Publikationsformen eine ernorme Verbreitung erfuhr und für die zeitge­ nössische Debatte große Bedeutung erlangte.2

1  Ein erster Überblick über Themen und Literatur findet sich bei Beutel (Hg.): Luther Handbuch ( 22010). 2 Als Teil der Adventspostille erschien die Predigt zum 2. Adventssonntag 1522 in Wittenberg und in Straßburg. Zusammen mit der Weihnachts- und Fastenpostille erschien sie bis 1540 in fünfzehn, als Teil der Winterpostille zwischen 1528 und 1552 in neunzehn Auflagen (vgl. Benzing / Claus: Lutherbibliographie 126–134, Nr.  1061–1133; vgl. auch WA 10,1.2; XIV–XXXV). Zudem liegt sie auch mit dem Titel „Ein Christlich vnd vast wol gegründte beweysung von dem Jüngsten tag / vnd von seinen zeichen / das er auch nit verr mer sein mag“ als Einzeldruck vor, von dem 1522 sieben Auflagen, 1524 eine weitere ge­ druckt wurden (vgl. Benzing / Claus: Lutherbibliographie 174 f., Nr.  1488–1495).

1. Fallbeispiele

277

Zu Beginn der Predigt zitiert Luther Lk 21,25–36. Einleitend führt er aus, dass sich das bevorstehende Gericht mit in der Schrift verheißenen Zeichen ankündige, jedoch nur wenige diese Zeichen als solche erkennen werden. Die­ se Zeichenignoranz ist ebenfalls biblisch verheißen und trägt daher selbst Zei­ chencharakter. Das Zeichen der Zeichenignoranz ist dabei sicherer Indikator für die zeitliche Nähe des Gerichts: Wie in der Schrift angekündigt, breche das Jüngste Gericht im Moment des höchsten Sicherheitsgefühls herein, dann, wenn die unverständigen Menschen am wenigsten damit rechnen: „Zum ersten ist tzu wissen, das diße tzeychen des iungsten tages, ob sie wol manchfeltig und groß sind, werden die doch vollnbracht werdenn, das niemant odder gar wenig sie achten und fur solche tzeychen hallten wirt. Denn diße tzwey werden und mussen bey­ de geschehen mit eynander, sind auch beyde mit eynander von Christo und den Apos­ teln vorkundigt, das erst, das viel und grosse tzeychen komen sollen. Das ander, das denn och der iungst tag alßo unvorsehens kome, das sich seyn die wellt von anbegynn nie weniger vorsehen hatt, denn eben tzu der tzeyt wenn er fur der thur ist […].“3

Das mangelnde Endzeitbewusstsein der Mehrheit ist Luther Bedingung und Katalysator des Endes: Je verfestigter die trügerische Sicherheit, desto plötzli­ cher und schneller werde sich das Gericht vollziehen: „Denn wo nit grosse si­ cherheyt und vorachtung seyn wurd, kund der tag nicht ßo unvorsehens schnell hereynbrechen.“4 Das reformatorische Minoritätsargument, demzufolge nicht der Mehrheitsglaube, sondern im Gegenteil das Gesetz der kleinen Zahl auf den Wahrheitsgehalt der Lehre schließen lässt,5 erhält somit eine apokalyptische Ausrichtung und eine eminent zeitliche Dimension – sowohl im Hinblick auf die Tatsache des nahenden Gerichts als auch im Hinblick auf dessen beschleu­ nigten Vollzug.6 Wenngleich nur eine begrenzte Zahl von Auserwählten die apokalyptischen Zeichen erkennen werden, so habe Gott doch die klare Absicht, die Menschen die Zeichen sehen zu lassen7 – weshalb es den Gläubigen aufgegeben sei, stets wachsam zu sein und nach den zu erwartenden Zeichen Ausschau zu halten: „Darumb ist uns nott, wol aufftzumercken, ob villeycht die tzeychen itzt gehen odder gangen sind odder bald gehen werden.“8 Die biblisch angemahnte Zei­ chenbeobachtung führt Luther zur Qualifikation der eigenen Zeit als Endzeit, 3 

WA 10,1.2; 93,21–28. 10,1.2; 94,13–15. 5  Vgl. oben 63. 6 Gleich einem Blitzschlag werde das Gericht die Menschen treffen: „Gleych wie der blitz leuchtet, und vom hymel erab ubir alles was unter dem hymel ist, scheynet, alßo wirtt seyn des menschen an seynem tage [vgl. Lk 17,24]. Sihe da abermal, das der tag wirt schnel augenblicklich eynherfallen ubir alle welt.“ (WA 10,1.2; 94,23–26). 7 „Nu ist das on tzweyffell, Christus hab solch tzeychen nitt darumb vorkundigt, das sie niemant achten oder kennen sollt, wenn sie da sind, wiewol yhr wenig seyn werden […]“ (WA 10,1.2; 95,6–8). 8  WA 10,1.2; 95,14–16. 4  WA

278

V. Zukunftsperspektive

wenn er die angekündigten Zeichen als erfüllt ansieht: „Ich will niemant tzwingen noch dringen myr tzu glewben. Ich will myrs aber auch widderumb niemant nehmen lassen, das ich hallt, der iungst tag sey nitt ferne; datzu bewe­ gen mich eben diße tzeychen unnd wort Christi.“9 Diese Endzeitgewissheit speist sich aus dem Kontrast mit der Vergangenheit. Den Chroniken könne man entnehmen, dass dem vergangenen Jahrhundert, kulminierend in den gegenwärtigen Ereignissen, eine völlig neue Qualität eig­ net: „Denn ßo yemandt lißet alle Cronicken, ßo find er von Christus gepurtt an dißer wellt ynn dißen hundert iarn gleychen nicht, ynn allen stucken.“10 Die Zeichen verdichteten sich in einem Ausmaß, welches eindeutig auf die Endzeit weise. Dies gilt für Luther zum einen was die „tzeyttlichen unnd leyplichen sa­ chenn“11 betrifft: Im Vergleich zur Vergangenheit habe sich der Fortschritt in weltlichen Dingen immens beschleunigt. Luther konstatiert eine exorbitante Steigerung von Wohlstand, Luxusstreben und Dekadenz, von handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten, von weltumspannendem Handel, Waren- und Finanzwirtschaft, sowie von Wissenschaft und technischem Fortschritt, wie z. B. der Erfindung des Buchdrucks oder Innovationen im Militärwesen: „Solch bawen unnd pflantzen ist nie geweßen ßo gemeyn yn aller wellt, solch kostlich unnd mancherley essen unnd trincken auch nie geweßen ßo gemeyn, wie es itzt ist, ßo ist das kleyden ßo kostlich worden, das nit hoher mag kommen. Wer hatt auch yhe solch kauffmanschafft geleßen, die itzt umb die welt feret, unnd alle wellt vorschlinget? Szo steygen auff und sind auffgestigen allerley kunst, malen, stricken, graben, das es sind Christus gepurtt nit gleychen hatt; datzu sind itzt solch scharff vorstendig leutt, die nichts vorporgen lassen, alßo auch, das itzt eyn knab von tzwentzig iaren mehr kan, den tzuvor tzwentzig Doctores kundt haben. […] es ist vorhynn solch witze, vornunfft und vorstand ynn der Christenheytt nicht geweßen auff und ynn tzeyttlichen unnd leypli­ chen sachenn, ich schweyg der newen fund als buchdrucken, buchßen und ander kriegs­ hendell.“12

In umfassender Weise sei der weltliche Fortschritt „ubirauß auffs hohest kom­ men“.13 Die Erfahrung einer immensen Beschleunigung des weltlichen Fort­ schritts ist bemerkenswert. Im Unterschied zum modernen Fortschrittsempfin­ den wertet Luther jedoch den Fortschritt als Auswuchs menschlicher Hybris und unangemessenem Fürwitz. Zudem ist Luthers Fortschrittsempfinden apo­ kalyptisch begrenzt: Er erwartet keinen weiteren Fortschritt, der denkbar höchste Stand sei erreicht, folgen könne einzig der Jüngste Tag.

9  WA

10,1.2; 95,17–19. 10,1.2; 95,19–21. 11  WA 10,1.2; 96, 11. 12  WA 10,1.2; 95,21–96,12. 13  WA 10,1.2; 96,5 f. 10  WA

1. Fallbeispiele

279

Beschleunigte Entwicklung erkennt Luther zum anderen auch in geistlichen Belangen – freilich gleichfalls in negativer Konnotation. Die geistlichen Miss­ bräuche, die Pervertierung der Lehre und die falsche Frömmigkeit haben sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts gesteigert und seien nunmehr auf einem historischen Höchststand angekommen.14 Die geistlichen Verfehlungen doku­ mentieren dabei einen immensen Machtzuwachs des Teufels: Dessen Erfolge gegen die rechte Lehre haben derart zugenommen, „[…] das sichs ansihet, als hab gott die gantze wellt dem teuffel ubirgeben.“15 Die in der jüngeren Vergan­ genheit exponentiell beschleunigte teuflische Erfolgsgeschichte sei nunmehr unzweifelhaft am Kulminationspunkt: „Kurtzlich, es ist nitt muglich, das gros­ sere lugenn, grewlicher yrthum, schrecklicher blindheytt, vorstockter lesterung ymer mehr komen mugen, als itzt schon regirn ynn der Christenheyt […].“16 Die weltliche und geistliche Entwicklung ist Luther ein klarer Erweis der angebrochenen Endzeit, wenn er die in Lk 17,27 f. angekündigte unchristliche Sorge um zeitliche Dinge in der reformatorischen Gegenwart überhand neh­ men sieht: „Es sey nu umb andere tzeychen wie es mag, ßo bynn ich yhe des tzeychens gewiß, da Christus spricht: Das esßen unnd trincken, bawen und pflantzen, kauffen und vorkauf­ fen, weyb und man nehmen und andere sorge dißes lebens, sollen regiren fur seyner tzukunfft.“17

Der Abfall unter dem Papsttum sei so dramatisch, dass die gesamte Institution nur dem Antichrist entsprechen könne. Die Papst-Antichrist-Identität sei damit untrügliches Zeichen der Endzeit: „Eben ßo gewiß ist myr das auch, das er Matth. 24. [Mt 24,15] vonn dem wustenn grewell sagt, dem antichrist, das unter seynem regiment die grossisten yrthum, blind­ heytt unnd sunde sollten regiren, wie das denn itzt unter dem Bapst auffs aller un­ vorschamptist, auffs aller tyrannischist, auffs aller vortzweyffeltist gehet yn hohem schwanck […].“18 14 „Datzu das nitt alleyn der welltlich handell auffs hohest komme, ßo ists auch auffs hohist kommen ynn geystlichen sachen; grosser yrthum, sund und lugen haben nit regirt auff erden von anfang, denn ynn dißen hundert iaren […].“ (WA 10,1.2; 96,13–15). Diesen be­ schleunigten Depravationsprozess macht Luther an mannigfaltigen Kriterien fest: „[…] da ist das Euangelium tzu Costnitz offentlich vordampt, des Bapsts lugen yn aller welt fur gesetz angenommen und er alle welt biß auffs marck schyndet, da opffert man die mesß teglig mehr denn viel hundert thausent mal ynn aller welt, wilcher sunde keyn mag gleych seyn, da wer­ den durch beycht, sacrament, ablas, gepott die seelen untzehlich tzur helle iagt […].“ (WA 10,1.2; 96,16–20). 15  WA 10,1.2; 96,20 f. 16  WA 10,1.2; 96,21–24. Der desolate Zustand der Christenheit sei in jeglicher Hinsicht unüberbietbar: „Ich schweyg auch hie der groben sunde, als unkeuscheyt, mord, untrew, geytz und dergleychen, denn da ist keyn scham noch furcht mehr, und gehet alles ym hohis­ ten.“ (WA 10,1.2; 97,3–5). 17  WA 10,1.2; 97,9–12. 18  WA 10,1.2; 97,12–16.

280

V. Zukunftsperspektive

Die Teufelsmacht sei so erdrückend, dass Gott sie nicht länger dulden könne. Die durch den subtilen Teufel gewirkte totale Verkehrung von Göttlichem und Teuflischem werde in kürzester Frist das Weltende heraufführen: „[…] denn das stuck fur allen tzwingt mich fest tzu glewben, das Christus musse bald komen, denn solch sunde sind tzu groß, der hymell kan sie nit lenger ansehen, sie reytzen unnd trotzen dem iungsten tage tzu seher, er muß ubir sie fallen, ehe es lang wirtt […]. Aber gottis dienst, gotis wort, gottis sacrament, gottis kinder und alles was gottis ist vorstoren, vortilgen, vordammen, vorlestern, und den teuffel an seyne statt setzen, an­ beten unnd ehren, seyne lugen fur gottis wortt hallten, das wirt der sachen eyn ende machen, da ist myr keyn tzweyffel an, ehe man sich umbsihet.“19

Die Macht des Teufels zeige sich vor allem darin, dass er die Gläubigen erfolg­ reich über die Nähe des Gerichts hinwegtäuscht. Das von ihm in die Kirche eingebrachte Konglomerat von vermeintlichen Heilssicherungsinstrumenten schaffe die trügerische Sicherheit, von der verheißen ist, dass auf sie das Gericht folgen werde: „Solch sicherheyt der menschen fur dem iungsten tag haben auch die Apostel vorkun­ digt. S. Paulus spricht .1.Thess. 5. [1 Thess 5,2 f.] Des herren tag wirt kommen, wie eyn dieb ynn der nacht, wenn sie werden sagen: Es ist still, es hatt noch nit nodt, ßo wirt sie behend ubirfallen yhr vorterben. Nu weyß man wol, das ein dieb kompt nit ehe, denn tzu der tzeytt, da man seyn am sichersten ist […].“20

In der Schrift sei der Betrug der Gläubigen über die Nähe der Endzeit bereits angekündigt. Die Handlanger des Teufels werden die heilsgeschichtliche Ent­ wicklung leugnen und suggerieren, das Ende sei noch weit vorständig: „2. Pet. 3 [2 Petr 3,3 f.]: Es werden tzu der letzten tzeytt komen betrieger mit falscheyt, die da wandeln nach yhrem eygen gefallen, und sagen: Wo ist die tzusagung oder seyne zukunfft? nachdem die veter gestorben sind, bleybt alle ding wie von anfang.“21

Diese biblische Verheißung einer fatalen Rückwärtsgewandtheit im Zeitbe­ wusstsein erkennt Luther in der eigenen Gegenwart vor allem bei den Altgläu­ bigen.22 Luther benennt damit einen fundamentalen Unterschied von reformatori­ scher und altgläubiger Zeitkonzeption: Die Altgkäubigen verstünden sich vom Anfang her und ignorierten dabei das Fortschreiten der Heilsgeschichte, wenn sie den Jüngsten Tag noch weit entfernt wähnen und glauben, alles bliebe wie gewohnt: „[…] dieselbigen [die „Papisten“] sind es auch, die da sprechen: Wo ist seyn tzukunfft? meynstu, das der iungst tag ßo bald kome? ia es bleybt noch

19  WA

10,1.2; 97,16–26. WA 10,1.2; 97,27–32. 21  WA 10,1.2; 97,32–98,2. 22  „Wer sind sie, die nach yhrem eygen gefallen wandeln, denn die geystlichen papisten, die wider gott noch menschen unterthan seyn wollen […].“ (WA 10,1.2; 98,3–5). 20 

1. Fallbeispiele

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wol, wie es bißher blieben ist.“23 Die Altgläubigen seien einem vergangen­ heitsorientierten Zeitbewusstsein verhaftet und leugneten die heilsgeschichtli­ chen Veränderungen, durch welche die Gegenwart gekennzeichnet sei. Gegen dieses gleichbleibende und verharrende Zeitverständnis setzt Luther eine ausge­ prägte Zukunftsorientierung auf den Jüngsten Tag hin. Dabei wird auf der Ba­ sis des apokalyptischen Minoritätsarguments gerade die Divergenz zum altgläu­ bigen Zeitbewusstsein zur rekursiven Bestätigung der reformatorischen Endzei­ terwartung: „[…] endlich von anfang der welt ists alltzeyt ßo ergangen, das die unglewbigen nie haben glewbt, das yhr ungluck ßo nahe sey, sie habens alle erfaren, ehe sie es glewben wolten […]. Alßo wirts auch hie tzugehen, das sie den iungsten tag ubir tausent iar werffen, wenn er die nehste nacht hernach komen soll.“24

Nachdem Luther die Präsenz des Antichrist als das entscheidende apokalypti­ sche Zeichen an den Beginn seiner Ausführungen gesetzt hat, kommt er im Folgenden auf weitere Zeichen zu sprechen, mit denen er seine apokalyptische Zeitdiagnose verifizieren will. So wendet er sich insbesondere den Astralphäno­ menen zu und rechnet in Auslegung von Lk 21,25 verstärkt mit Sonnenfinster­ nissen vor dem Jüngsten Gericht.25 Diese Sonnenfinsternisse bedeuteten aller­ dings nicht die völlige Umwertung der gewohnten Abläufe, sondern haben als Zeichen lediglich kurzzeitige Wirkung.26 Mit einer historischen Beweisfüh­ rung, die noch einmal den Stellenwert der Geschichtsschreibung in Luthers Denken hervorhebt,27 stellt Luther die Besonderheit der Gegenwart heraus: Wie die Historiographie ausweise, folge nach Sonnenfinsternissen immer ein Unglück.28 In der jüngeren Vergangenheit bis zur Gegenwart habe sich das Auftreten von Sonnenfinsternissen ungemein gehäuft, wobei das Unglück, das sie nach sich hätten ziehen müssen, ausgeblieben sei 29 – ein Zeichen dafür, dass umso schwereres Unglück zu erwarten stehe.30 23 

WA 10,1.2; 98,6–8. WA 10,1.2; 98,11–17. 25 „Das tzeychen ynn der sonnen ist, das sie yhren scheyn wirt vorlieren […].“ (WA 10,1.2; 98,20). 26  „Alßo lange die erden stett, sollen die frucht und erndt, frost und hitze, sommer und winter, nacht und tag nit auff horen, drumb muß ditz tzeychen geschehen on hynderniß des tags und der nacht, und muß doch fur dem iungsten tag geschehen, weyl es eyn vorgehend tzeychen ist […].“ (WA 10,1.2; 99,1–4). 27  Vgl. zum gehobenen Stellenwert der Vergangenheitsbetrachtung auch oben 146 ff. 28  „Nu ist alltzeyt eyn solch tzeychen der ßonnen geweßen eyn bedeuttung eynß grossen unfalls, der hernach gefolgett hatt, wie das die Cronicken außweyßen.“ (WA 10,1.2; 99,7 f.). 29  „Szo haben wyr ynn kurtzen iaren ßo viel ßonnen vorlust gehabt, das ich nit acht, das tzuvor ßo viel und ßo nahe auff eynander yhe geweßen seyen, got hatt geschwygen, ist nichts ßonderlichs ubels hernach folget, damit sind sie voracht unnd ynn den wind geschlagen.“ (WA 10,1.2; 99,9–12). 30  „Aber nichts deste weniger richtet gott alßo seyn werck auß, schwygt stille, lest uns sicher seyn, und feret ymer fortt, es sey der naturlich laufft am hymel wie er wille, ßo sind 24 

282

V. Zukunftsperspektive

Luthers Auslegung der Lukasstelle gerät nun zu einer generellen Auseinander­ setzung mit der zeitgenössischen Astrologie. Die Astrologen dämpften für Luther die Deutung von Astralphänomenen als Zeichen der Endzeit mit dem Hinweis, dass diese natürliche Phänomene seien und keinen Grund zur Beun­ ruhigung darstellten: „Datzu haben die sternmeyster unß gesagt, als denn auch war ist, es geschehe solch ding auß naturlichem laufft des hymels, und damit ist die vorachtung gesterckt, und die sicherheyt gemehret.“31 Gegen astrologische Lehrmeinungen, denen zufolge die gegenwärtig zu beobachtenden Astralphä­ nomene auf naturgesetzlichen Regularitäten beruhten und nicht zeichenhaft das Eingreifen Gottes sichtbar machen, betont Luther vehement die apokalyptische Zeichenbedeutung.32 Eine rein naturalistische Betrachtungsweise befördere das falsche Sicherheitsgefühl, das nach Luther allerorten Platz gegriffen habe. Nach Luthers Meinung verkennen die Astrologen, dass Gott in den natürlichen Lauf der Welt eingreife und ihn verändere, um seine Auserwählten die Zeichen der Endzeit sehen zu lassen: „Aber du solt wissen, was sich wandellt am hymel uber die gemeyne weyße, das da gewißlich gottis tzorn seyn tzeychen sehen lest.“33 Den geschilderten Sachverhalt verdeutlicht Luther auch an den Mondfinster­ nissen.34 Die empirische Erkenntnis, dass diese Zeichen in der Geschichte im­ mer wieder beobachtet wurden, ohne das Weltende nach sich gezogen zu ha­ ben, dürfe nach Luther nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass sie auch gegen­ wärtig keinen apokalyptischen Verweischarakter tragen. Die Neuheit der Astralzeichen und ihr apokalyptischer Charakter liege nicht in ihrem gelegent­ lichen Auftreten, sondern vielmehr in ihrer gegenwärtigen Häufung und Inten­ sivierung begründet – im Vergleich zur Vergangenheit sei eine ganz signifikan­ te Steigerung erkennbar: „[…] von dißem tzeychen [den Mondfinsternissen] ist eben tzu sagen wie von der ßon­ nen tzeychen, es sey wie naturlich es wolle, unnd ditz tzeychen ist auch ynn kurtzen iarn viel mal geschehen. Ist doch eyn tzeyttlang daher keyn iar geweßen, es hatt entweder ßonn oder mond den scheyn vorloren, tzuweyllen beyde mitt eynander ynn eynem iar, tzuweylen eynß tzwey mal; sind das nit tzeychen, was sind denn tzeychen? laß seyn, das vortzeytten mehr geschehen sey, aber nicht ßo viel und nahe auffeynander und miteyn­ ander. Da Hierusalem sollt vorstoret werden, waren ettlich der tzeychen tzuvor viel mehr geschehen, dennoch waren es newe tzeychen.“35 solche tzeychen allemal tzeychen des tzornß, und ist eyn gewiß unfall darnach tzukunfftig.“ (WA 10,1.2; 99,15–18). 31  WA 10,1.2; 99,12–14. 32  „Die heyden schreyben, der Comet erstehe auch naturlich, aber gott schafft keynen, der nit bedeutt eyn gewiß ungluck. Alßo auch der blindeleytter Aristot. hatt eyn eygen buch geschrieben von den hymmelischen tzeychen, gibt sie alle der natur, und macht, das sie nit tzeychen seyn; dem folgen unßer gelerten, und macht eyn narr die wellt voll narren.“ (WA 10,1.2; 99,21–100,4). 33  WA 10,1.2; 100,4–6. 34  WA 10,1.2, 100,8 f. 35  WA 10,1.2; 100,9–17.

1. Fallbeispiele

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Luthers Wahrnehmung einer signifikanten Beschleunigung der astrologischen Zeichenaktivität gilt auch für das Auftreten von Sternschnuppen (vgl. ebenfalls Lk 21,25).36 Wieder betont Luther, die Astralphänomene seien nicht „naturlich unnutze ding“, sondern biblisch verheißene apokalyptische Zeichen.37 Generell ereigneten sich in Luthers Wahrnehmung 38 alle Astralzeichen in deutlich ver­ kürzten Abständen und erhöhter Intensität: „[…] drumb wenn die sternn fallen, odder sonn und mond den scheyn vorlieren, ßo wisse, das es tzeychen sind, das Euangelium leugt dyr nicht; weyl aber diße iare, viel und nah auff eynander geschehen, und doch nichts ßonderlichs folget, hastu tzu dencken, das es werden diße tzeychen seyn des iungsten tages […].“39

Des Weiteren benennt Luther als eingetretene apokalyptische Zeichen die Be­ drängnisse und Bekümmernisse aus Lk 21,25.40 Dabei bestimmt er auch seinen Zeichenbegriff näher: Zeichen seien lediglich Irritationen des Gewohnten; konstitutiv für den Zeichencharakter sei die relative Begrenztheit des jeweiligen Phänomens, die den natürlichen Ablauf des Gewohnten zwar durchbrechen, aber nicht völlig verkehren.41 So dürfen die biblisch angekündigten Bedräng­ nisse ebenso wie die Astralzeichen nicht mit wissenschaftlichen Theorien als natürliche Phänomene fehlinterpretiert, sondern müssen mit der Schrift als göttliche Zeichen erkannt werden.42

36  „[…] die sterne werden fallen vom hymel; das tzeychen lest sich teglich sehen, unnd ich weyß nit, obs vor tzeytten auch ßo offt geschehen sey.“ (WA 10,1.2; 100,19–101,1). 37 „Aristoteles, der hohen schulen narrentreyber, macht auch naturlich unnutze ding drauß. Aber kurtzumb, das Euangelium ist gottis wort und weyßheyt, die nennet der sternen fall eyn tzeychen, da laß uns bleyben.“ (WA 10,1.2; 101,1–4). 38 Die von Luther wahrgenommene außergewöhnliche Häufung von Sonnen- und Mondfinsternissen sowie Sternschnuppen kann aus wissenschaftlicher Sicht für den von Luther angegebenen Zeitraum nicht bestätigt werden, vgl. zu den Sonnenfinsternissen WA 10,1.2; 99, Anm.  2 ; zu den Mondfinsternissen ebd. 100, Anm.  2 ; zu den Sternschnuppen ebd. 101, Anm.  1. 39  WA 10,1.2; 101,4–8. 40  Vgl. WA 10,1.2; 101,12 ff. 41  „Denn du must darauff achten haben, das es tzeychen seyn sollen; es fallen nicht alle sternn vom hymell, ßondernn gar wenig, die ßonn vorleuret yhren scheyn auch nicht eyn gantzs iar odder monat, ßondern eyn stund odder tzwo, […] auff das es zeychen bleyben und nit gar alles vorkeret werde.“ (WA 10,1.2; 101,14–20). Vgl. auch: „[…] denn es sollen nur zeychen seyn, die mussen nur ynn ettlichen und ym weniger teyl geschehen, das sie ettwas ßonderlichs ansehen gewynnen gegen das ander teyl, das nit tzeychen seyn wirtt.“ (WA 10,1.2; 107,26–28). 42  „Alßo werden nicht viel menschen ditz gedreng und angst leyden, ßondern gar wenig und auch nicht on unterlaß, auff das die tzeychen den andern bleyben, die es werden vorach­ ten, unnd durch unterricht der ertzt sagen, es sey der complexion unnd melancoley schuld, odder der planeten ym hymel, odder sonst yrgend eyn naturlich ursach erfinden; ynndes gehen gleychwol solch offenberliche tzeychen fur den blinden heymlich hynn, unnd ge­ schicht, das wyr mit sehenden augen die tzeychen sehen unnd dennoch nitt erkennenn, wie den Juden an Christo geschach, als Matt. 13. [Mt 13,1] schreybt.“ (WA 10,1.2; 101,20–27).

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V. Zukunftsperspektive

Die Bedrängnisse deutet Luther dabei nicht leiblich, sondern geistlich: 43 Die Unruhe der Gewissen sei in der Gegenwart eklatant; Schuld daran sei die Ver­ deckung des Gnadenzuspruchs des Evangeliums durch Menschenlehre und Werkgerechtigkeit,44 die zwar diverse Scheinangebote zur Besänftigung der Gewissen bereitstellten,45 doch ließen sich die Gewissen der rechten Christen von dieser auf Menschenlehren basierenden Sicherheit nicht beruhigen und ver­ fielen in historisch beispiellosem Maße in Gewissensnöte.46 Allein diese Inten­ sivierung und Häufung macht das in der Geschichte immer wieder auftretende Phänomen einer psychotischen Gewissensangst in der Gegenwart zum apoka­ lyptischen Zeichen: „Drumb ists auch noch nie eyn tzeychen des iungsten tags geweßen denn nur itzt.“47 Neben den genannten Zeichen glaubt Luther zudem, eine Zunahme der Stürme und Fluten zu erkennen.48 Der Gesamtbefund ist Luther eindeutig: Die verschiedenen Zeichen weisen in der reformatorischen Gegenwart eine deutlich gesteigerte Frequenz und Intensität auf; diese Beschleunigung könne nur dem biblisch angekündigten apokalyptischen Szenario entsprechen: „Szo gehen sie [die Zeichen] doch itzt mit dem hauffen semptlich daher, und nicht sel­ den, ßondernn viel und offt, denn unßer tzeytt die sihet tzugleych Sonn unnd Mons­ cheyn vorlieren, sterne fallen, menschen bange werden, grosse wind unnd wasser brau­ ßen, und was mehr gesagt ist. Es kompt alle auff eynen hauffen.“49 43  „Ditz gedreng aber ist nit leyplich; […] es wirt frid und gutts gnug bleyben […]. Ich acht, es sey die grosse marter der gewissen […]“ (WA 10,1.2; 101,28–102,1). 44 „[…] denn syntemal das Euangelium vordampt ist, darynnen alleyn die gewissen getrostet werden, und menschenlere auffgericht sind, die uns leren mit unsern wercken die sund ablegen und den hymell vordienen, da folget eygentlich nach eyn schwere, enge und betrubt gewissen […].“ (WA 10,1.2; 102,1–4). 45  „[…] daher komen ßo viel gelubd und wallfart, da heben sich der heyligen dienst und ehren. Daher wachßen ßo viel stifft von messen und vigilien, ettlich peytzschen und martern sich selbs, ettlich werden munch, […] das sind alles werck der gedrengten und beengsten gewissen […].“ (WA 10,1.2; 102,9–13). 46  „Sihe, das tzeychen kan auch niemant leucken, das es ynn dißen hundertt iaren ßon­ derlich ist ganghafftig, das yhr viel drob toll unnd wansynnig worden sind, wie auch Gerson schreybt. Ob wol aber vortzeytten unnd alltzeyt solch menschen geweßen sind, ßo ists doch nit ßo weyt ynn alle wellt und ßo gemeyn geweßen; denn es hatt von anfang der welt nie keyn menschenlere das tzehenden teyl, ia das hundert teyl, ßo weytt, ßo grewlich regirt und ßo viel gewissen ermartert und ermordet, als des Bapsts unnd seyner iunger pfaffen unnd munchen […].“ (WA 10,1.2; 103,4–13). 47  WA 10,1.2; 103,14 f. 48  „Es soll eyn tzeychen seyn, das ettlich meer und flusse rauschen und windicht sind, und das es geschehe viel mal und nahe auff eynander […]. und wiewol tzuvor viel mal solch tzeychen geschehen sind, sollen sie doch ßonderlich viel und grosß seyn fur dem Iungsten tage. Ich meyne aber, das wir ynwendig tzehen odder tzwelff iaren solch wind, solch raus­ schen und braußen gehabt und gehoert haben, on was noch werden will, das ich kaumet glewb, das tzuvor yhe eyn tzeyt ßo grosse unnd ßo viel wind und braußen habe erhoeret.“ (WA 10,1.2; 103,25–104,14). 49  WA 10,1.2; 104,15–19.

1. Fallbeispiele

285

Gegen die Astrologen hält Luther fest, dass diese Zeichen nicht den natürlichen Regularitäten entspringen, sondern gottgewirkte, wundersame Durchbrechun­ gen der natürlichen Abläufe darstellen. Daher könnten die Astrologen die apo­ kalyptischen Zeichen auch nicht berechnen oder vorhersagen: „Auch wie viel tzeychen und wunder sind alleyn diße vier iar50 am hymel ersehen, alß sonnen, mond, sternen, regenbogen, und viel ander selltzame bilde? Lieber, laß es tzey­ chen seyn, und grosse tzeychen, die ettwas grosses bedeutten, wilche auch die stern­ meyster unnd fraw hulde nit mag sagen das sie auß naturlichem laufft sind komen, denn sie haben tzuvor nichts davon erkandt noch weyßsagt.“51

Die mangelnde Prognosefähigkeit der Astrologen erweist sich für Luther auch am Beispiel des Tieres aus dem Tiber (des sogenannten „Papstesels“), dessen angeblicher Fund, gleich den Astralzeichen, nicht vorhergesagt wurde.52 So ist für Luther evident, dass weder Zustandekommen noch Bedeutung der apoka­ lyptischen Zeichenakkumulation mit vernunftbasierten und wissenschaftlichen Erkenntnisprinzipien zu erfassen sind.53 Luther glaubt in der gegenwärtig angebrochenen Endzeit in Auslegung von Lk 21,26 eine umfassende Bewegung aller irdischen und himmlischen Scharen zu erkennen.54 In diese apokalyptische Dynamik bezieht er auch die von den Astrologen für 1524 vorhergesagte Konjunktion mehrerer Planeten im Tier­ kreiszeichen der Fische mit ein.55 Die von einigen Astrologen vertretene Deu­ 50  Der Bearbeiter der Textausgabe, Oskar Brenner, wies bereits darauf hin, dass Luther hier womöglich an seinen Thesenanschlag als Anfang der Reformation und Beginn des apo­ kalyptischen Szenarios denkt (vgl. WA 10,1.2; 105, Anm.  1). Diese Stelle könnte auch auf die laufende Auseinandersetzung um die Historizität von Luthers Thesenanschlag neues, klären­ des Licht werfen. Zur neueren Diskussion siehe Ott / Treu (Hgg.): Luthers Thesenanschlag. Faktum oder Fiktion? 51  WA 10,1.2; 105,1–6. 52 Die Legende vom Fund des Tieres wurde auf das Papsttum gedeutet, welches den göttlichen Zorn auf sich gezogen habe: „Szo wird auch keyn sternkundiger thuren sagen, das des hymels laufft habe vorkundiget das schrecklich thier, das die Tyber zu Rom tod außwarff fur kurtzen iaren. Wilchs hatte eyn esells kopff, eyn frawen brust und bauch, eyn Elephant fuß an der rechten hand, unnd fischschuepen an den beynen, unnd eyn trachenkopff am hyndersten etc., darynn das Bapstum bedeuttet ist, der grosse gottis tzorn und straffe.“ (WA 10,1.2; 105,6–11). Zum Papstesel siehe auch die 1523 separat erschienene Flugschrift Me­ lanchthons und Luthers: „Deutung der zwo greulichen Figuren, Papstesels zu Rom und Mönchkalbs zu Freiberg“ (Melanchthon / Luther: Deutung). 53 „Solcher hauffe tzeychen will etwas grossers bringen, denn alle vornunfft denckt.“ (WA 10,1.2; 105,11 f.). 54  „[…] ßo will nu Christus sagen, das sich alle creatur werden bewegen und dißem tage mit tzeychen dienen. Sonn und mon mit finsterniß, die stern mit fallen, die volcker mit krie­ gen, die menschen mit angst und furcht, die erde mit beben, die wasser mit wind und brau­ ßen, die lufft mit pestilentz und gifft, alßo auch die hymel mit yhren scharen und bewegun­ gen.“ (WA 10,1.2; 107,13–17). 55 „Was aber die bewegung der hymelischen schar sey, weyß ich noch nicht, es were denn die grosse constellation der planten, die itzt eyntretten wirt ubir tzwey iar, denn die planten sind gewißlich von der hymel krefften und scharen wol das furnehmist, und yhre

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V. Zukunftsperspektive

tung, dass diese Konjunktion eine bevorstehende zweite Sintflut anzeige, teilt er nicht; dennoch hält er sie für ein apokalyptisches Zeichen.56 Auch wenn die Planetenkonjunktion dem natürlichen Ablauf entspringe, so ordne sie sich doch in die allgegenwärtige Zeichenaktivität ein und sei daher ebenfalls ein Teil des apokalyptischen Szenarios.57 Das Zusammenfallen verschiedener Zeichen und deren apokalyptische Inten­ sivierung verdeutlicht Luther in Auslegung von Lk 17,26 ff. und Mt 24,4 auch am Beispiel der Kriegführung: Der Fortschritt in der Kriegstechnik und die zunehmende Verrohung und Enttabuisierung produzierten immer mehr un­ schuldige Opfer – für Luther in der Zusammenschau mit anderen Zeichen ein sicherer Erweis der Endzeit.58 Nachdem Luther nun das bevorstehende Weltende anhand verschiedener Zeichen plausibel gemacht und die Rezipienten mit der apokalyptischen Zu­ kunftsperspektive konfrontiert hat, wendet er sich mit Lk 21,26 der Geisteshal­ tung zu, mit der die Christen auf diese Zukunft hin leben sollen. Angesichts der Widrigkeiten des Christenlebens habe das Hereinbrechen des Gerichts eine un­ gemein tröstliche Komponente, weshalb auch die Zeichen, mit denen sich das Gericht ankündigt, nicht verschrecken, sondern verzücken sollten.59 Der wunderliche vorsammlung ist eyn groß gewiß tzeychen ubir die wellt.“ (WA 10,1.2; 107,18– 22). 56  „Darumb ich darauff stehe, das der hymlischen scharen bewegung sey gewißlich die tzukunfftige constellation der planeten, daruber die sternmeyster sagen, es solle eyne synd­ flut bedeutten, got gebe, das der iungst tag sey, wilchen sie gewißlich bedeuttet.“ (WA 10,1.2; 108,1–4). Dass Luther die Sintflutprognose ablehnt, wird auch weiter unten deutlich, wenn er darauf hinweist, dass die Welt nicht durch Wasser, sondern durch Feuer untergehen werde, vgl. unten 289 (WA 10,1.2; 117,5 f.). 57  „Und hie soltu aber dich nit yrren lassen, das diße constellation sich auß des hymels laufft naturlich begibt, es ist dennoch eyn tzeychen von Christo genennet. Und ist fast wol seyn wartzunehmen, weyl es nitt alleyn, ßondernn gleych mit dem hauffen der andern tzey­ chen sich samlet und tzu gleycher tzeytt mit eyntrifft. Laß die unglewbigen tzweyffelln und vorachten gottis tzeychen unnd sagen, es sey naturlich geschefft, hallt du dich des Euangeli­ on.“ (WA 10,1.2; 108,5–10). 58 „Es sind noch mehr tzeychen, die an andern orttern beschrieben sind, als da sind, erdbeben, pestilentz, theur tzeytt und kriege, Luce. 17. und Matt.. 24. wilche wyr auch viel gesehen, wiewol sie tzuvor auch geweßen sind, aber drumb sind sie nichts deste weniger gewisse tzeychen, ßonderlich, dieweyl sie mit den andern tzu gleycher tzeytt lauffen; es be­ kennet auch yderman, das itziger kriegen art alßo gethan ist, das, ßo vortzeytten geweßen sind, kinder geachtet werden, ßo gar ists auffs aller grewlichst und hohist mit geschutz, har­ nisch und runstung komen.“ (WA 10,1.2; 108,11–18). 59 „Warhafftig Christen aber sticken ynn grossen anfechtungen und verfolgungen von sunden und allerley ubel, das yhn ditz leben sawr und heßlich wirt. Drumb wartten sie und vorlangen, und bitten erloßet tzu werden von sunden und allem ubell […]. So wyrß denn beten, ßo muß es gewißlich mit unß alßo stehen, das wyr diße tzeychen, wie schrecklich sie sind, mit freuden und vorlangen ansehen, […] denn es kompt, das wyr ßo ernstlich unnd sehnlich gepetten haben. Wollen wyr denn nu ernstlich von sunden, todt unnd helle loß werden, ßo mussen wyr diße tzukunfft auffs hohist begeren und liebhaben.“ (WA 10,1.2; 109,29–110,11).

1. Fallbeispiele

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Jüngste Tag bedeute die Erlösung vom Teufel und allen irdischen Üblen, wes­ halb freudige Erwartung die Haltung eines rechten Christen gegenüber dem Gericht sei. Allerdings lehnt Luther die Vorstellung einer Allversöhnung ab, die Gottlosen erwarte die Hölle.60 An der Art und Weise der Zukunftsorientie­ rung, an der freudigen apokalyptischen Erwartungshaltung, offenbart sich da­ her für Luther der rechte Glaube: Nur der Gottlose fürchte das Gericht, der wahre Christ dagegen sehe, ungeachtet aller Bedrängnisse, die das apokalypti­ sche Szenario mit sich bringe, voller Zuversicht der Vollendung des Reiches Gottes entgegen: „Darumb ist hie groß vleyß tzu haben, das yhe nicht ynn uns funden werde hasß odder schewe dißes tages, denn solchs schewen ist eyn boße tzeychen und gehoret tzu den vordampten […]. Aber den glewbigen soll er trostlich und lieblich seyn, es wirt der tag seyn tzugleych die hohist freud und sicherheytt den glewbigen, und das hohist schre­ cken und flucht den unglewbigen […].“61

Die apokalyptische Sehnsucht wird Luther geradezu Gradmesser der Bußfertig­ keit des Menschen und der Reinheit seiner Gesinnung: Wer reumütig auf Erlö­ sung hoffe, fürchte das Gericht nicht, sondern begreife es im Vertrauen auf die Gnadenzusage Christi in freudiger Erwartung als Erlösung von den Sünden: 62 „[…] es ist nitt deyn vordamniß, ßondern deyn erloßung […].“63 Die Altgläubigen hingegen ließen nach Luther ihr gottloses Wesen deutlich erkennen, wenn sie keine Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag hegten und im Gericht nicht das Gnadenereignis und Erlösungswerk Christi sehen, sondern Christus allein als „strengen richter“ erwarteten, den sie durch Werkgerechtig­ keit für sich vereinnahmen zu können glaubten.64 Sie fürchteten das Gericht und wiesen den Jüngsten Tag möglichst weit von sich, wollten, „dißer tag keme nymmermehr“ und beteten „Deyn reych kome ia nicht, oder kome ia noch nicht.“65

60  „Gibt er die kron allen, die seyne tzukunfft lieb haben, was wirt er geben denen, die sie hassen und schewen? on tzweyffel die helle, als seynen feynden.“ (WA 10,1.2; 110,13–15). 61  WA 10,1.2; 110,23–29. 62  „[…] denn eyn hertz, das warhafftig der sund gern loß were, das frewet sich gewißlich dißes tages, der yhm seyn begird erfullen wirt. Frewet sichs aber nicht, ßo ist nicht grundlich begirde da, von sunden loß tzu seyn.“ (WA 10,1.2; 111,21–23). 63  WA 10,1.2; 112,6. 64 „Die heylloßen trawmprediger sind tzu straffen, wilche mit yhrem perdigen den hertzen diße wort Christi vorpergen und den glawben davon wenden, wollen die leutt mit blossem schrecken frum machen, und darnach durch eygene gutte werck und gnugthun fur die sund tzu dißem tage bereytten. Da muß denn eyttel vortzagen, furchten und schrecken bleyben und wachßen, und damit hasß, widerwillen und schewe dißer tzukunfft Christi, das ist: gottis feyndschafft yn den hertzen auffgericht werden. Dieweyl sie lernen Christum nicht anders ynn sich bilden, denn nur als eynen strengen richter, den sie mit yhren wercken stillen und ßuenen sollen […].“ (WA 10,1.2; 112,23–31). 65  WA 10,1.2; 113,8–9.13.

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V. Zukunftsperspektive

Anstatt wie die Altgläubigen eine rückwärtsgewandte Zeitvorstellung zu verfolgen, orientiere sich ein rechter Christ auf die Zukunft hin, in der die Er­ lösung vom Teufel und die Vollendung des Gottesreiches sich verwirklichen werden.66 Jeder Christ ist daher zur Prüfung seines Glaubens aufgerufen, wo­ bei das apokalyptische Bewusstsein für Luther zum direkten Indikator rechten Glaubens wird.67 Die mangelnde Zukunftsorientierung der Altgläubigen und ihr fehlendes apokalyptisches Bewusstsein wird Luther zum Erweis ihrer Ver­ worfenheit, wenn sie dem Betrug des Teufels anheim fallen und sich in trügeri­ scher Heilssicherheit wähnen – doch ist es gerade dieser Unterschied in der Zukunftsperspektive, der die reformatorische Endzeitgewissheit weiter verfes­ tigt.68 Aber selbst wenn die Zeichen fehlgedeutet seien und das Ende noch ausbleiben sollte, so sei doch die apokalyptische Erwartungshaltung immer eine Bereicherung des christlichen Lebens, da die zukünftige Erwartung des Endes in der Gegenwart heilsam sei und bußfertig mache.69 Hier gibt Luther selbst einen Hinweis für die Erklärung der erstaunlichen Beharrungskraft und Nach­ haltigkeit der Apokalyptik im Luthertum, die trotz ausbleibenden Weltendes lange ein bestimmender Faktor der lutherischen Identität bleiben sollte.70 Im Folgenden wendet sich Luther der Frage zu, wie das Weltende eintreten werde. Ohne sich an philosophischen Spekulationen beteiligen zu wollen, be­ schreibt Luther das Weltende als totale materielle und leibliche Vernichtung, auf welche die Neuschöpfung folgen werde.71 Der Untergang selbst werde durch 66  „[…] denn ynn dißem leben fehet es an ym geyst, aber dieweyll wyr noch mitt den sunden streytten mussen, viel ubells leyden, datzu der todt noch fur uns, ist das reych gottis noch nicht volkommen; wenn aber nu sund und todt mit allem ubell von uns genommen wirt, da ists denn volkomen, das soll thun der iungst tag […].“ (WA 10,1.2; 114,23–27). 67  „Darumb lieber mensch, sihe deyn leben an, forsche deyn hertze, wie das sey gesyn­ net gegen dißem tage. Vorlaß dich nit auff deyn gutt leben, es wirt dyr bald tzu schanden, ßondern denck unnd sterck deynn glawben, das du dißes tags nit erschreckist, mit den vor­ dampten und vorkerten, ßondern seyn begerist als deyner erloßung und des reychs gottis ynn dyr, das, wenn du yhn horist nennen oder dran gedenckist, deyn hertz tantze fur freuden und sehnlich nach yhm vorlange.“ (WA 10,1.2; 114,28–115,1). 68  „Das alles geschicht darumb, das, wie droben gesagt ist, alle welt ßo sicher wirt seyn, unnd die tzeychen mit sehenden augen ßo gar vorachten, das freylich keyn gottis wortt ßo gar voracht geweßen sind, als diße seyn werden, da er den iungsten tag vorkundigt und vor­ tzeychnet. […] auff das alßo der tag eben kome, wenn die welt noch nie ßo sicher ist gewe­ ßen, und werd auff eynen augenblick ubereylet ynn der hohisten sicherheyt […].“ (WA 10,1.2; 115,10–18). 69  „Und tzwar obgleych die tzeychen ungewiß weren, ists doch denen on alle fahr, die sie gewißlich dafur hallten, aber ferlich denen, die sie vorachten. Darumb last uns des gewis­ sen spielen und die obgesagten tzeychen fur die rechtschuldigen halten, auff das wyr nicht anlauffen mitt den geystloßen; feylen wyr, ßo haben wyr doch troffen, feylen sie aber, ßo wirt es gefeylet mit yhn bleyben.“ (WA 10,1.2; 115,20–25). 70  Siehe z. B. Leppin: Jüngster Tag. 71  „Es haben auch ettlich sich bemuehet, wie hymel und erden vorgehen sollen, nehmen den blinden heyden Aristot. zu hulff, der muß yhn Christus wort außlegen […]. alßo wirt hymel und erden am iungsten tag mit allen elementen und was allenthalben ist, durchs fewr zuschmeltzt und zupulvert werden, sampt aller menschen corper, das nichts denn eyttel fewr

1. Fallbeispiele

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ein endzeitliches Feuer stattfinden, welches die alte Schöpfung komplett ver­ zehren werde.72 Mit dem Verweis auf 1 Kor 3,13 und die Feuervernichtung ist auch die astrologische Prognose einer zweiten Sintflut zurückgewiesen. Die Seelen der Gläubigen aber werden bewahrt werden – wie das jedoch genau geschehe, könne der Mensch nicht ergründen und müsse dies vertrauenvoll dem Schöpfer anheim stellen.73 Zum Abschluss gibt Luther eine allegorische Deutung auf die behandelte Lukasstelle: „die ßonne ist Christus, der mond die kirchen, die stern die Chris­ ten. Die krefft der hymel sind die prelaten oder planeten yn der kirchen.“74 Die Sonnenfinsternis entspreche der Verdeckung des Evangeliums Christi,75 welche auch die Mondfinsternis, den Abfall der Kirche, nach sich gezogen ha­ be.76 Der Fall der Sterne versinnbildliche die rechten Christen, die sich vom Angebot der Werkgerechtigkeit blenden lassen, zum Klerus über- und damit vom wahren Glauben abtreten.77 Die Gewissensnöte, die dies mitunter nach sich ziehe, entsprechen den angekündigten Bedrängnissen.78 Die überhand nehmenden Stürme und Fluten deutet Luther auf den weltlichen Stand, der zügellos geworden sei und alle Ordnung übertrete.79 Unter der Planetenkon­ junktion schließlich seien die Vertreter des päpstlichen Hierarchiegebäudes zu verstehen, welche ob des gegenwärtigen Aufgehens des Evangeliums in Unruhe allenthalben seyn wirt, unnd alsbald drauff alles widderumb new auffs aller schonest geschaf­ fen […].“ (WA 10,1.2; 116,10–21). 72 „Szo betzeugt auch S. Paulus 1. Corin. 3, das er iungst tag ym fewr wirt offenbar werden.“ (WA 10,1.2; 117,5 f.). 73  „Wo bleyben aber die weyl unßer seelen, wenn an allen ortten der creatur eyttel fewr seyn wirtt unnd keyn poden noch rawm? […] Es ist gnung, das du wissest, sie sind ynn got­ tis handen […]. Wenn wyr wissten, wie die seelen behallten wurden, ßo were der glawbe auß, aber nu wyr faren, und nitt wissen wohynn, wagens auff gott und yn seyne hende, be­ stehet der glawbe yn seyner wirde.“ (WA 10,1.2; 117,17–118,9). 74  WA 10,1.2; 118,11–13. 75  „Das die ßonne den scheyn vorleuret, ist keyn zweyffel, es bedeutte, das Christus nit leuchtet yn der Christenheyt, das ist: Euangelium wirt nit predigt, und der glaube vorlis­ schet, das keyn gotisdienst mehr da ist […].“ (WA 10,1.2; 118,16–19). 76  „Daruaß muste folgen: das der mond auch keyn scheyn gebe, das ist, da der glawbe vorlasch, must die liebe auch vorlesschen […].” (WA 10,1.2; 118,24–26). 77  „Den fall der stern deutte ich dahyn, wenn eyn mensch taufft und Christen worden ist, und danach eyn pfaff odder munch wirt. […] Aber das sage ich, wer pfaff odder munch wirt, ynn dem namen, das er eynen seligen stand will annehmen, der tritt vom Christlichen glawben yn den unglawben. […] Kurtzumb, wer durch werck und geystlich stand will frum und selig werden, der tritt vom glawben, und fellt vom hymell […].“ (WA 10,1.2; 119,1–17). 78 „Das aber die leutt vorschmachten fur gedrenge, bedeutt die marter, ßo des Bapsts heyligen und vorfallene sternn haben; denn sie thun groß dinck, und yhr gewissen hatt doch nymmer fride […].” (WA 10,1.2; 119,20–22). 79  „Das braussen der wind und rauschen der wasser sind der welltliche stand, ubirst und unterst, da ist keyn furst, keyn land mit dem andern eyniß, keyn trew, keyn zuvorsicht un­ ternander, eyn iglicher auff das seyne gericht; damit ist auch keyn straff, keyn tzucht, keyn furcht auff erden, und geht alle wellt yn fressen, suaffen, unkeuscheytt unnd ynn allen lastern frey, das es saußet und braußet.” (WA 10,1.2; 119,24–29).

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V. Zukunftsperspektive

geraten, sich versammeln und der Welt als falsche Drohgebärde eine zweite Sintflut vorhersagen80 – „[…] aber es will und wirt sie nichts helffen, der tag bricht an […].“81

1.2  Johannes Copp Der Theologe, Arzt und Astrologe Johannes Copp (um 1490–1558) 82 entfaltete insbesondere in den frühen 1520er Jahren eine rege Publikationstätigkeit und verfasste mehrere erfolgreiche Flugschriften. Nach Studium und Ausbildung in Freiburg, Wien und Italien war er 1520–24 in Erfurt mit einer eigenen Praxis ansässig und unterhielt gute Kontakte zum dortigen Humanistenzirkel. Copps publizisitsche Tätigkeit ist von dem Versuch bestimmt, Astrologie und reformatorische Gesinnung miteinander zu verbinden.83 Seine astrologisch basierten Vorhersagen üben starke Kritik an der Papstkirche und rufen zum Anschluss an die reformatorische Lehre auf. In seiner Flugschrift „Urtayl“84 von 1522 wendet er sich in einer Eingangssequenz direkt an die „pfaff hayt“, sagt ihr aufgrund astrologischer Erkenntnisse schweres Unglück vorher und mahnt zur Buße: „Der hymel weyßt dir grawsam plag / Künfftig seyn / versich dich eben / Es trifft dir an leyb eer lebenn / Darumb ich rat got bitten thu / Der vns bewar spat vnd auch fru.“85 Zum eigentlichen Beginn der Flugschrift hebt Copp die biblische Legitima­ tion der Astrologie hervor, wobei er neben Mt 2,1 f.9 vor allem auf die Refe­ renzstelle Lk 21,25 verweist. Damit macht er genau den biblischen Bezugspunkt zum Thema, den bereits Luther zum Ausgangspunkt für seine grundsätzliche Stellungnahme zur Astrologie genommen hatte: 86

80  „Die kreffte der hymel sind unßere planeten, unßere geystliche iunckern und tyran­ nen, Bapst, Bischoffe und yhre gesellen […]. Nu aber das Euangelium auff bricht unnd tzeygt yhn an yhre tugent, und ferbet sie mit yhrer eygen farbe, das es ungelerte goetzen und seel­ vorfurer sind, wollen sie tzornig werden, bewegen sich, und machen eyne constellation, tretten tzusamen, wollens mit bullen und papyr schuetzen, drewen eyne grosse sindflutt […].“ (WA 10,1.2; 119,30–120,6). 81  WA 10,1.2; 120,6 f. 82  Zu Person und Werk Copps vgl. Walde: Doktor Johann Copp, 2 Teile, Lynchnos, Jg. 1937, 79–111 und Jg. 1938, 225–269 mit deutschen Zusammenfassungen am Ende der beiden Teile; Talkenberger: Sintflut 224 ff.; Hohenberger: Lutherische Rechtfertigungslehre 282 ff. 83  So wirkte er auch als Multiplikator der lutherischen Rechtfertigungslehre, vgl. Hohenberger: Lutherische Rechtfertigungslehre 282–285. 84  Copp, Johannes: „Was auff disz \ Dreyundzwayntzigest vnd zum tail vyer = \ vnd­ zwantzigest jar. Des himels lauff künnftig sein/ \ Ausz weysz Doctoris Johannis Copp vr­ tayl“ (1522). Die Flugschrift ist in vier Auflagen erhalten und nur in deutscher Sprache ab­ gefasst, vgl. Talkenberger: Sintflut 225. 85  Copp: Urtayl A2a. 86 Vgl. Luther, oben 276 ff.

1. Fallbeispiele

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„DJe weyl die gepurt Christi vnsers selig machers / den dreyen weysen im aufgang der Sonnen / durch ain schen landt gethon ist / Als wir Mathei am andern [Mt 2,1 f.9] lesen /  vnnd Christus selbs vnser aller getrewster mayster zaychen künfftig seyn sagt an der Sonnen / Mon / vnd sternen Luce. am. xxj. [Lk 21,25]. Bey welchem vns seyn goetlicher mund die zunahung des Jungsten tags erkennen leeret […].“87

Die Astrologie gilt Copp gleichsam als Zeichenkunde, von Gott selbst einge­ setzt um die Menschen die Zukunft, insbesondere die zeitliche Begrenztheit der Zukunft, erkennen zu lassen: „Aller fraindtlichster leser / hoff ich / es werde nyemand mit guttem grund diese loebli­ che kunst der Astronomey verschmehen sondern ain yeder werde mit allen begyrden neben mir auff solche zaychen achtung geben / auff das wir dest eer erkennen wann vnser erloesung sich zu nahe / dan ich glaub das Christus vnser Got der da nichts vergeb­ lich gethan hatt / vnns das vmb sonst nit geleert hab […].“88

Mit seiner Flugschrift will Copp die „loebliche kunst der Astronomey“ popu­ larisieren und ihre Erkenntnisse verbreiten; so spricht er vorrangig den Gemei­ nen Mann, aber auch Gelehrtenkreise an.89 Der allgemeine Nutzen der astrolo­ gischen Zukunftsschau liege in ihrer Warnfunktion: Der gewonnene Einblick in zukünftige Geschehnisse befördere einen Sinneswandel und leiste damit ei­ nen entscheidenden Beitrag zur moralisch-sittlichen Besserung der Menschheit: „Auff das so du sollich ding vor dir künfftig sein erkaentest dester eer gedechtest zu wachen vnd nuechtern von der sorgfeltigkayt dises lebens ab stuendest / Dann Christus leeret vns an gemeltem ort / wir sollen wachen vnd betten zu allerzeyt / auff das wir diese ding alle so künfftig sein empfliehen mügen / bey welchem du wol zu gedencken hast das es nit ain mayen bad sein mag / die weyl der mund der warhait vns dauor hayst biten. Darinnen mein lieber leser bitte ich dich / so ich dir (als dann gesehen wirt) Et­ wann erschrocklich ding offenbaren wurde / woellest mir dz nit verübel haben / dann es geschicht von deynes nutzes wegen […].“90

Der Astrologie wird hier eine ganz pragmatische Funktion zugesprochen: In­ dem sie künftiges Unglück konkret vorhersage und anschaulich mache, erhalte der Umkehr-Ruf eine neue Dringlichkeit, wobei eine entsprechende Reaktion des Menschen dann wiederum Einfluss auf die Ausgestaltung der Zukunft neh­ me, indem die potentielle Besserung der Menschheit Gott bewegen werde, das bevorstehende Unglück zurückzuziehen. Mit ihrer Leistung der potentiellen Unglücksprävention sei die Astrologie damit nicht nur in individueller Hinsicht nutzbringend, sondern in kollektiver Hinsicht gar überlebensnotwendig – zu­ 87 

Copp: Urtayl A2b. Copp: Urtayl A2b. 89  „[…] so aber am tag leyt / dz nit allain der gemain man / sonder auch wenig vnder den gelerten vmb dyse kunst wissen tragen / wüste ich auf diß malß nit nutzers zuschaffen / dann dz ich dir durch diß mein Juditium / was ich für zaychen / an der sonnen / mons / vnd andern sternlauff / vnd wirckung erkaent hab / auch was dieselben künfftig sein bedeüten zu erken­ nen gebnn.“ (Copp: Urtayl A2b). 90  Copp: Urtayl A2b. 88 

292

V. Zukunftsperspektive

mal die gegenwärtigen Gestirnkonstellationen eine ganz neue Dimension des Unglücks erwarten ließen. Copp wendet sich im Folgenden den „grossen vnglückhafftigen Aspecten so sich diß xxiij. Vnnd xxiiij Jar vnder den oebersten planeten begegen werden“91 zu. Er zählt verschiedene Planetenkonjunktionen auf, die sich bis 1524 ereignen werden, von denen auffällig viele im „wässrigen“ Sternkreiszeichen der Fische stattfänden, was auf katastrophale Überschwemmungen hindeute: Unter den Konjunktionen werden „[…] xvj. jn waesserigen zaychen gefunden das da ain groß gewitter anzaygt deshalben die so in Taellern vnd an grossn wasser in nydern Laendern wonen / Got wol zubitten haben dann es trewet in des hymels eynfluß wol ain halben Sindfluß / wie wol eben die so in hochen Laendern vnd auff hochen felsen wonen kaum on ain mercklich gefaer daruon kommen mügen […].“92

Auch wenn Copp betont, die Konjunktionen „[…] bedeütet auch so groß jamer vnnd not / als noch in etlich tausent Jaren nit gesehen ist“93 – die von anderen Astrologen vertretene Sintflutprognose schwächt er deutlich ab. Er sieht zwar ungeheure Opferzahlen auf die Menschheit zukommen, doch werde es auch Überlebende geben.94 Das bevorstehende Unglück sei jedoch durch den ernst­ haften Appell an Gottes Barmherzigkeit abwendbar: „Darumb lieben brueder laßt vns all für ainander fleyssig bitten / Auff das Got solchen jamer so es sein goetlich will ist von vns neme.“95 Bei seinen astrologischen Vorhersagen geht Copp von einer Wirkmächtigkeit der Gestirne aus. Die Gestirnkonstellationen wiesen bestimmte Glücks- und Unglückseinflüsse auf, die zu decodieren allein die Astrologen in der Lage sei­ en. Im Folgenden beschreibt Copp die verschiedenen zu erwartenden Gestirn­ konstellationen und die dominierenden Planeten, die sogenannten Jahresherr­ scher, aus deren Bewegung er die Ausgestaltung der Zukunft erkennen zu kön­ nen glaubt.96 Dabei konstatiert auch er eine ungeheure Wandlung des Gewohnten: In rasanter Beschleunigung verändere sich das viele Jahrhunderte in Geltung Stehende, immer schneller folgten die ungewöhnlichen Phänomene aufeinander: Copp stellt fest, dass in den vergangenen „[…] zway jaren mer seltzsamer ding verlauffen seynd, Dann vor hin in vil hundert jaren […].“97 Zudem erwartet Copp für die nähere Zukunft eine weitere dramatische Steige­ 91 

Copp: Urtayl A3a. Copp: Urtayl A3a-A3b. 93  Copp: Urtayl A3b. 94  „[…] ich besorg das vnser vil / das selbig schwerlich erleben werden / woelchers aber erlebt / moechte darnach ayn bessere zeyt erfaren.“ (Copp: Urtayl A3b). 95  Copp: Urtayl A3b. 96 „Woelche planeten den künfftigisten Eyn/fluß dyse zway jar / haben werden die da die alten herrnn dyß jars genant haben.“ (Copp: Urtayl A4a). 97  Copp: Urtayl A4b. 92 

1. Fallbeispiele

293

rung; die enorme Veränderungsgeschwindigkeit deute auf die Nähe des Ge­ richts: „Jch hab aber sorg es sey biß her eyn Taw gewest vnd der platzregen sey noch da vor­ nen / Got woel das nit ein hagel drauß wird / Dann mich verursacht die weißsagung Christi / neben des himels eynfluß / das ich warlich argkwonnen mueß es sey der jungs­ te tag nit weyt.“98

Diese astrologisch basierte Endzeitprognose wird nun insbesondere mit bibli­ schen Belegen verifiziert: Copp verweist auf Lk 21,25 und Mt 24,5 ff. und sieht die ungewöhnlichen Astralphänomene mit chaotischen innerweltlichen Aus­ wirkungen verbunden: „Dann Christus sagt. Luce am xxj. So der selbe jungste tag nachent sey / so werden zay­ chen an der Sunnen / Mon / vnd Sternen / auch werde betruebnis der voelcker auff dem erdtrich / Durch verzweyflung / dz Moer werde rauschen mit waellen etc. vnd Mathei am xxiiij. Die pestelenz werde vor vber geen das gantz erdtrich / Es werde ein volck wider das ander / vnd ein reych gegen dem andern mit krieg vnnd zwytracht auff stehen […].“99

Des Weiteren sei die biblische Vorhersage über das Auftreten falscher Propheten vor dem Ende erfüllt, welche nach Copp bereits seit langem ihr Regiment auf­ gerichtet haben: „Jtem er sagt auch von den falschen propheten / vnd falschen Christen so zu vor sein muessen / Die da sagen werden / hie ist Christus dort ist Christus woelche meines bedunckens vil hundert jar regiert haben.“100 Auch werden dem Jüngsten Tag Verfolgungen der Christen vorausgehen – diese seien bereits angegangen und würden sich nochmals verschärfen: „Darnach hat selb vnser herr vnd Got denen so das Euangelium predigen auch vor ge­ sagt sy sollnn darumb groß veruolgung leyden zu tod geschlagen werden / vnnd schand eyn nehmen vor dem jungsten tag woelches nun wie offenlich ist sich auß weyst […]. Ist auch zubesorgen / Sy werden / das selbe diese zway künfftige jar / hefftiger fürnemen dann biß her geschehen ist / denn des himels lauff weyst gentzlich darauff.“101

Doch sei die Zeit der Strafe über die Verfolger nicht fern: „Die selben / so sich wider das Euangelium setzen werden hie in disen zway iaren jren lonn empfa­ chen / Jch sag dir das mich dunckt die zeyt sey hie […].“102 Insbesondere Fürsten und höhere Geistlichkeit werden gewarnt; Gott werde sie für ihre Verfehlungen zu Boden stoßen.103 Dieser radikalreformatorische obrigkeitskritische Duktus  98 

Copp: Urtayl A4b. Copp: Urtayl A4b. 100  Copp: Urtayl A4b-B1a. 101  Copp: Urtayl B1a. 102  Copp: Urtayl B1a. 103  „Deshalb O ir Fürsten vnd herrn Bischof vnd Bapst gedenckt dz ir euch nit vnderstet gotes wort vnderzutrucken / dann hymel vnd erden vnd all eüwer gewalt wirt zu geen / aber gotes wort muß bleyben vnnd ob ir gleych noch maechtiger werendt so werden ir daran nichts mügen enden / die zeyt ist hye es muß ain vorgang habenn / So ir euch gleych seer  99 

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V. Zukunftsperspektive

zieht sich durch die gesamte Flugschrift, wenn Copp lebensbedrohliche Zeiten für den Klerus104 und einen großen Bauernaufstand vorhersagt,105 der allerdings in einer Niederlage der Bauern enden werde.106 Immer wieder vermischt Copp biblische und astrologische Prophetie, wobei die Schrift lediglich zur Unterstützung und Ergänzung der astrologischen Zu­ kunftsschau dient. Der Primat der Astrologie wird u. a. deutlich, wenn Copp aus Gestirnkonstellationen abgeleitete meteorologische Vorhersagen trifft107 und Ernährungsberatung sowie Gesundheitsratschläge erteilt.108 Für Copp darwider auff boeumen werdent / So rychten ir nichts auß / dann das ir euch ain vngenaedi­ gen got macht / der euch wol starck genug ist / seyn wort für euch zu vertaedingen vnd son­ derlich / so ir euch vnderstan wert / mit gewalt dawider zustrebnn werdent ir seyn goetliche mayestat verursachen / das ir euch vnnd allen eüwrn gewalt auch mit seyner goettlichen macht / die weyl er doch almaechtig ist zu boden stossen moecht / dann seyn wort muß al­ lain / Ewig / ewig / ewig / bleyben / thut darzu was ir wolt / da fragt Christus nit nach etc.“ (Copp: Urtayl B1b). 104  „Auch haben wir am ersten tag des Mertzen an welchen das erste finsternuß ist gewe­ sen ain Oppositz Saturni vnd Martis gehabt / woelliche den münchen vnnd sonderlich den schwartzen vnd grawen / vil erschrecklich ding anzaygt / als nemlich beraubung der guetter groß verfolgung vonn Kriegßleütten / Ertzten / Schmyden / vnd Summa summarum von ye­ dermann / ist auch zu besorgen das jnen die Klöster genommen werden / vnd sy nit allain in das ellend jagen / sonderlich auch zu todt schlagen werdnn / des gleychen dürffen sy sich wol fürsehen vor feür. Es weysen auch darzu etlich Constellationes das jnen der donner etliche Kloester anzünden soll / sonst vil ander ding meer das erschrecklich wer hye zu beschreyben […].“ (Copp: Urtayl B2a). 105  „Aber die Finsternus so diß xxiij. Jar am andern sontag in der fasten ist geweßen / wirt meins bedunckens vil übels bedeütten / als grossen kryeg / vil blut vergyessen / brand / vnai­ nigkayt vnnd auffrur zwyschen dem gemainen man vnnd der pfaff hayt / Ist auch zubesorgen ain bundtschuch der gemayn wider die herschaft vnd nemlich wider die Bischoff vnd alle pfaffen […].“ (Copp: Urtayl B1b). 106  „Aber die paurn wie ich gesagt hab werden sich wider die herschafft mit vngeschick­ ter weyß setzen / vnd darüber nit allein die gueter sondern auch leyb vnnd leben verlie­ ren / des halben sy ir auffrueren wol moechten an ston lassen / dann sy werden wenig gewynn daran haben.“ (Copp: Urtayl B2b). 107 Seine Wettervorhersagen weiß Copp bei aller Allgemeinheit auch regional einzu­ grenzen: „Auch weyßt dise finsternuß groß vngewytter / vil feüchtigkayt / grosse platzre­ gen / wolckenbrüche / donner / plytz / hagel / vnnd schawr / wie wol sollichem die gantze welt schwerlich entgeen wirt / hab ich sorg aber der eynfluß weyst heefftiger auff Teütschland vnd sonderlich Reynstram / Nyderland / Holland / Brabant / Hyspanien / Engelland / Franck­ reych / Schweden / Dennmarck / Vngern / Behem / Merhern / vnd deren anstossenden Laen­ dern vnnd steet.“ (Copp: Urtayl B1b-B2a). 108  „Wir haben im vergangen xxij. Jar. am v. tag des Herbstmons ain gantze finsternus des mons gehabt woelche aller erst diß xxiij. Jar. im Mertzen / Aprillen / vnd Mayen jren Effect wirt mercken lan / mit vil feüchtigkayt / werde die wayde vergyfften. Da durch dann das vi­ che vngesund wirt / woelches dem menschen nit klain schaden an der gesundthayt zu fugen moechte / der gleychen wirt das wasser vnrain / darumb die visch seer vngesund vnd den menschen schedlich werden. […] Es were auch gutt das sich diß xxiij. Jar. Ain yetlicher als vil müglich ist vor vischen huettet so er anderst gesund leben will / denn ich sag dir / so ann­ derst des hymels eynfluß etwas ist / das sich vil allain in disem Jar an vischen zutodt essen werden / dann sy werden wol boeß vnd vns schedlich als gyft / auch gedunckt mich es werden diß jar deren thyer so von jnen selbs oder in den lüfften auß der faulen feüchtigkayt geborn

1. Fallbeispiele

295

üben die Gestirnkonstellationen ganz konkreten und bedeutenden Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen aus, weshalb es mitunter lebenswichtig sei, die astro­ logischen Kenntnisse zu nutzen und sich danach zu richten. Dies gelte zum ei­ nen ganz profan z. B. für die Vermeidung von in diesem Jahr besonders schäd­ lichen Speisen, zum anderen auch in spiritueller Hinsicht, wenn Buße und Um­ kehr gefordert werden, um den Strafen Gottes zu entgehen.109 Gegen Ende seiner Schrift gibt Copp seine Stellungnahme zur in diesen Jah­ ren immer virulenter werdenden Sintflutfrage ab.110 Nachdem er bereits ein­ gangs die Prognose einer zweiten Sintflut im eigentlichen Sinne verworfen hat­ te, liefert er nun die Begründung für seine Ablehnung nach. An Copps Argu­ mentation gegen die Erwartung einer alles vernichtenden Sintflut für das Jahr 1524 wird seine Gratwanderung zwischen Astrologie und Schriftprinzip beson­ ders deutlich: Zwar wiesen die Gestirne eindeutig auf eine Flut immensen Aus­ maßes hin, doch bedeute dies nicht eine zweite Sintflut, da Gott im Regenbo­ genbund den Menschen zugesagt habe, die Welt nicht noch einmal mit Wasser zu vertilgen: „Wiewol die finsternus / So in dem xxiij. jar am ersten tag des Mertzen in den vischen vnd darnach im xxiiij. jar im Hornung eben im selben zaichen der visch die grossen Coniunction Saturni vnd Jouis künfftig ist / nitt allain eyn grosse verendung der gant­ zen welt vnnd alles was darinnen ist / Sondern auch ein groß gewesser dadurch dann alles verderbt vnd zu nichten gemacht werden / moecht künfftig sein auß weyst / So hoff ich dannocht vnd waiß fürwar das got / die welt nymer mer durch wasser vertilcken würdet / Die weiler er vns den regenbogen zu eim zaichen gesatzt vnd vns mit seinem goetlichen warhafttigen mund / der da nie gelogen / vnnd ewig nit liegen wirt / solchs zugesagt hat Gene. am ix [Gen 9,11].“111

Die Schrift fungiert in der Sintflutfrage als Korrektiv für die Astrologie: Sie gibt einen Begrenzungsrahmen vor, in den sich die astrologische Zukunftsprognose einfügen muss. Der interpretatorische Möglichkeitsraum astrologischer Vorher­ sagen ist somit durch das Schriftprinzip kanalisiert. Im Falle der Sintflutfrage sieht Copp hier einen Widerspruch, den er zugunsten einer schriftbasierten Zukunftsprophetie auflöst: Auch wenn die große Planetenkonjunktion auf eine Sintflut deutet, so bleibt doch die Zusage Gottes im Regenbogenbund bestehen – der biblische Befund widerlegt die astrologischen Erkenntnisprinzipien. Auch wenn also die von einigen Astrologen vertretene Sintflutvorhersage nach Copps Meinung die Planetenkonjunktion überinterpretiert und den in der vil werden woelches dann ain anzaygen ist aines faulen luffts / der da pestilentz vnd alle boe­ se fieber verursacht.“ (Copp: Urtayl B1b-B2a). 109  „[…] ich sag dir in der warhayt das ich nit anders dann ain straff von got arckwonen muß die künfftig sey. Darumb lieben brueder bekert euch / die zeyt ist hie […].“ (Copp: Urtayl B2a-B2b). 110 “NVn mein freundtlicher leser / wil ich dir sagen was mein mainung sey von dem sindfluß so im xxiiij. jar etlich haben gesagt künfftig zu sein.“ (Copp: Urtayl B3b). 111  Copp: Urtayl B3b-B4a.

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V. Zukunftsperspektive

Schrift vorgegebenen Begrenzungsrahmen außer Acht lässt, so sei doch un­ zweifelhaft eine extreme Flut zu erwarten. Copp sieht mit der großen Kon­ junktion eine „besondere verendrung“ Welt einhergehen, die sich in Fluten, Erdbeben und Unwettern manifestieren werde; 112 zudem seien durch weitere Gestirnkonstellationen Missernten und Teuerung zu erwarten, denen Hungers­ nöte und innerchristliche Kriege folgten,113 „Als noch in vil tausent jaren nit gewesen ist […].“114 Diese chaotischen und selbstzerstörerischen Verhältnisse werden sich auch die äußeren Feinde zu nutze machen: Copp befürchtet, „[…] das nit in mitler zeit / die weil wir selbs ainander verderben / vnd zu todt schla­ gen / der Türck mit eym platze vnd vns gar haim helffe / dann ich sag dir / das so grewlich ding der himel künfftig sein auß weyst.“115 Bei seinen Zukunftsvorhersagen vermeidet Copp allerdings eine genaue zeit­ liche Festlegung: Zwar prognostiziert er die Geschehnisse für die nächsten zwei Jahre, doch betont er zugleich, das Eintreffen seiner Vorhersagen könne auch noch in weiter Ferne liegen, da Gott allein wisse, wann die Dinge geschehen sollen; gewiss sei allerdings, dass sie geschähen: „[…] aber du darfft nit gedencken / Das es alles in disen zway jaren geschehenn wer­ de / Ist auch wol müglich das noch in langer zeyt nit geschicht / Aber das bist du ge­ wiß / Das sollich ding wie ich gesagt habe des himels lauff künnfftig seyn außweyst / wirt sich auch zum tail mercklich ym xxiiij. jar sehen lan / Wann es aber alles volbracht werden sol / das wayst Gott allain / darumb ich nit ein zeyt setzenn wayß / mich bedun­ ckt aber an aller gelegenhait die zeit sey hie.“116

Auch wenn Copp immer wieder die bedrohliche Nähe des Jüngsten Tages pro­ klamiert, so betont er gleichzeitig in redundanter Weise die Möglichkeit des Aufschubs des Weltendes. Wenn man fest im Glauben stehe und Gottes Barm­ herzigkeit anrufe, werde Gott die zu erwartenden Unglücke verhindern und den Jüngsten Tag hinauszögern: „Doch ist mein radt das wir all einander helffen / Got bitten in eym vesten glauben vnd vertrawen / So wirt er vns warlich für brot nit stayn / vnd für visch nit schlangen ge­ 112 „Der halb di dich gar nit vermuettenn solt das ein sindfluß von wasser künfftig sey / aber das bist du gewiß dz dise grosse Coniunctio / on eine besondere verendrung nitt vergan wirt / Des halbenn ich glaub das ein groß gewesser vonn schne und regen sich samlen werde woelches denen so an der See / Ynselen / am Rheyn / Thonaw / vnd der gleichen gros­ sen wassern / auch in Toellern wonnen / nit one mercklich schaden vergeen moechten / Auch seind grosse vngewonlich wind / Erdtpydem / Donner plitz / vnd andere vngewitter zubesor­ gen woelches des hymels lauff so grewlich künfftig sein.“ (Copp: Urtayl B4a). 113 „[…] vber das alles weysen die andere Constellationes so ein grosse vnfruchtbar­ kait / des erdtrichs / das dar auß gar nichts mer wachsen sol / dardurch dann ain grosse te­ ürung verursacht wirt / Sonderlich ich besorg / so es got so hefftig machen woelt / Als der himel anzaigt das vil muesten hunger sterben / dar nach besorg ich so grosse krieg vnd blut vergiessen künfftig seyn.“ (Copp: Urtayl B4a). 114  Copp: Urtayl B4a. 115  Copp: Urtayl B4a. 116  Copp: Urtayl B4a-B4b.

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ben / Allain das wir an im nichtt zweyflen / dann so vil wir glauben wirt es vns ge­ benn / auch so wir Gott in eym vesten vertrawen bitten / mag er wol alle diese plage von vns nehmen / vnd allen disen eynfluß der Stern zuruck treiben.“117

Die von Copp verkündete Zukunftsperspektive zu erwartender Unglücke und die Nähe des Jüngsten Tages ergibt sich nicht in erster Linie aus den biblischen Prophetien, sondern aus den Gestirnkonstellationen. Die biblischen Prophetien seien zwar unverrückbar und wahr, doch könnten sie nur auf der Grundlage der Astrologie zeitlich fixiert und eingeordnet werden. Die Gestirnkonstellationen zeigen demnach die Verortung der Gegenwart innerhalb des von den biblischen Prophetien vorgegebenen heilsgeschichtlichen Ablaufschemas an. Die Astrolo­ gie dient damit der Präzisierung und Konkretisierung der biblischen Zukunfts­ schau, ist allerdings auch durch diese begrenzt, wenn Copp versichert, dass Gottes gegebene Zusagen uneingeschränkt gültig blieben und er Gottes letzt­ gültige Superiorität über die Gestirne hervorhebt.

1.3  Heinrich Pastoris Einer der schärfsten Kritiker der Astrologie ist Heinrich Pastroris, der in seiner Flugschrift „Practica Teütsch“ von 1523 die Bestandteile herkömmlicher astro­ logischer Praktiken aufnimmt, aber auf der Grundlage eines exklusiven Schrift­ prinzips apodiktisch gegen die Astrologie Stellung nimmt. Zu seiner Person ist leider wenig bekannt.118 Aufgrund des predigtartigen Duktus seiner Schrift darf man in ihm einen Theologen vermuten. Die Widmung der Schrift an zwei Gefolgsleute vom Mansfelder Hof, die als Anhänger Luthers gelten, deutet auf Kontakte zu lutherischen Kreisen hin.119 Der Titel der Schrift formuliert das Programm: Alleinige Quelle der Vorher­ sagen soll die Schrift sein; als Jahresherrscher (in herkömmlichen Praktiken die für das betreffende Jahr dominierenden Planeteneinflüsse) wird Christus einge­ setzt und sein Einfluss zeitlich entgrenzt: „Practica Teütsch von vergangen / vnd zuekünfftigen dingen / Auss der heyligen gschrifft gegründt vnd gezogen. Auf das 1524. Jar. Christus Jesus eyn Herr vnd Meyster diß Jar und alletzeyt Mathei am xxiiij.“120 Pastoris beruft sich nicht wie üblich auf die antiken oder arabischen Autori­ täten der Astrologie, sondern nimmt die Schrift als alleinige Grundlage aller Prophetie. Die Referenzstelle Mt 23,13 ff. wird als Kampfansage an die Astro­ logie eingeführt: Christi Wehe-Rufe über Schriftgelehrten- und Pharisäertum, 117 

Copp: Urtayl B4b. den spärlichen Informationen über Pastoris vgl. Talkenberger: Sintflut 308; Dies.: Bewegung 37; ; Robinson-Hammerstein: Battle 147 ff. 119 Vgl. Talkenberger: Sintflut 308. 120  Pastoris: Practica A1a. 118 Zu

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V. Zukunftsperspektive

Götzendienst, Gewinnsucht, Heuchelei, Unglauben und Verfolgung der wah­ ren Gläubigen werden auf die Astrologie und ihre Vertreter übertragen. Zum Einstieg beschreibt Pastoris die besondere heilsgeschichtliche Situation der Gegenwart, in der Gott sein Wort wieder erstrahlen ließe und jeder Gläu­ bige aufgerufen sei, davon wider den Teufel Gebrauch zu machen: „[…] wir haben nu Gott hab lob / auß Gottes gnaden erfarung (durch dz Goetlich wort so bey vnsern zeyten wider erscheint / vnd verdunckelt gewest vilhundert jar) wie sich ein yeder Christ auß genade Gottes / darauß rusten soll da mit in diser zeyt / wider den todt / Teüffel / helle / vnnd die welt zukempffen vnd do mit Gott seinen herrn zu beken­ nen […].“121

Der Teufel aber wehre sich mit allen Mitteln gegen die Wiederentdeckung des Evangeliums: „[…] do wider nu der Teüffel tag vnd nacht brommet (wie S. Peter saget) vnnd suchet wen er zu reysse / durch die Rotte Sathane vnd seiner soldaten / die er aufwecket.“122 Einen neuen Anlauf des Teufels sieht Pastoris in dem ausufernden astrologi­ schen Schrifttum; mit den astrologischen Praktiken (Pastoris wendet sich spezi­ ell gegen eine bestimmte, anonym veröffentlichte Praktik) 123 versuche der Teufel, die Bedeutung der Schrift zu untergraben: „Dem nach solt er wissen / dz der lystige feyndt yetzundt wider vmb auff ein newes mit veranderung har gestellet eyn austzug auß der prophecey Sybille / Brigitte / Cirille / Jo­ achim / […] vermeynt do mit widerumb die einfeltigen Christen zufuern vom klaren wort Gottes […].“124

Ein rechter Christ aber setzte sein Vertrauen ausschließlich auf die Schrift: „[…] die weyl wir dann Christen [sind] / so woellen wir mit Gottes gnad kein andere lere preysen / sie sey weß sie woelle / dan allein die wie im alten vnd newen Testament verfaßt […].“125 Pastoris nennt die Astrologen in Auslegung von Gal 4,21–31 „Agarener“, d. h. Abkömmlinge der Magd Hagar, nicht der Freien Sara, und setzt sie pau­ schal mit den Altgläubigen gleich: „Got sey es geklagt / dann die Agareni / nach verstand der schrifft synd die papisten (meins verstandts) die langezeit geher­ schet / Als nemlich bey 430. jaren / nicht von dem rechten sone Sare der Jsaac genant […].“126 Die wahre Lehre sei von den Astrologen lange verdunkelt wor­ 121 

Pastoris: Practica A2a. Pastoris: Practica A2a. 123  Die Angabe von Pastoris, „[…] der selbige zu Speyer gedruckt / als der Tyttel antzey­ get […]“ (Pastrois: Practica A2a) deutet auf eine anonyme Praktik hin, die nicht zweifels­ frei bestimmt werden kann (vgl. Talkenberger 309, Anm.  526). Die Tatsache, dass der Verfasser anonym bleiben wollte, ist Pastoris Beleg für unehrenhafte Absichten, vgl. Pastoris: Practica A2b. 124  Pastoris: Practica A2a. 125  Pastoris: Practica A2a. 126  Pastoris: Practica A2b. 122 

1. Fallbeispiele

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den; jetzt aber habe Gott Luther als neuen Elia berufen, die Schrift gegen die antichristliche Verfälschung wieder zur Geltung zu bringen: „[…] vnd seine [Christi] lere verdunckelt durch die Agarenos / die die welt durch zo­ gen / vnd das buch Gottes ym Tempel Gottes gar nahe vmbracht / biß zu letzt Gott der hymelisch vater (mir vnzweyflich) den außerwoeleten Heliam / Martin Luther yn diser letzsten ferlichen zeyt erwecket / der solch buch auff thun solt / vnnd das selbige antzey­ gen / der welt / wie dann vor augen / wider die Antichristischen […].“127

So ruft Pastoris die Gläubigen (allen voran die Fürsten) auf, alle Menschenlehre fahren zu lassen: „O lieben Fürsten vnd hern es wer yetzundt hoch zeyt / in diser zeyt der gnaden do vns allen das Euangelion (das gar nahe verlescht gewest) zu gleich wirdt angeboten / […] das wir aller menschen radt (so nit mit Gottes radt / wort vnd des Euangelion willen zu­ stympt) vorachteten / wie das argest gifft […].“128

Hielte man sich allein an die Schriftoffenbarung, würde schnell erkenntlich, was die von den Astrologen für so wirkmächtig erklärte Planetenkonjunktion im Jahr 1524 in Wahrheit bedeute: nicht etwa, wie der von Pastoris angegriffe­ ne Praktikenschreiber glauben machen wolle, eine essentielle Veränderung der irdischen Gegebenheiten, so gewaltig wie seit der Sintflut nicht mehr gesche­ hen, sondern die Aufforderung, sich unter dem einzig wahren Gotteswort zu sammeln: „So wurde Got on zweyffel sein genad geben / das wir alle zu gleich / nach Goetlichem wort / versteen vnd mercken / was die groß Coniunction (da die Stern meyster von sa­ gen) bedeütte / welche nach liechtmeß yetzundt in disem jar eintretten wirdt / in das zeychen der Fisch / die dann ein mercklich veranderung / der dinge auff erden antzey­ get / so groß als sie ein geschicht schreyber in vergangen zeiten nye ausserhalb der sindt­ fluß beschriben hat / wie dann der kunstmeyster beschriben. Aber meins verstands be­ deüt solche Coniunction das Gott vns antzeyget / das er yederman / allerley Nation / be­ rufft / zu seinem troestlichen wort […].“129

Die wieder zu Geltung gelangte Schrift werde die Astrologen als Handlanger des Antichrist enttarnen und die teuflische Herkunft ihrer Lehren offenlegen.130 Die Planetenkonjunktion wird von Pastoris allegorisch umgedeutet als Aufruf,

127 

Pastoris: Practica A2b. Pastoris: Practica A3a. 129  Pastoris: Practica A3b. 130  „[…] dann er [Christus] das liecht der welt ist Joannis am. 8. [ Joh 8,12] das der Anti­ christisch hauff fleücht / mit seinen schreybern der diser schreyber gedrückter Practica zu Speyer auch einer ist / die das liecht also fliehen / dann es saget Johannis Euangelist am. 3. Capitel des Euangelij [ Joh 3,20 f.] / Ein yegklicher der do boeßlich handelt / hast das liecht / vnd kompt nit an den tag / auff das seine werck nicht gestrafft werden / wer aber thut die warheit / kompt an das liecht / auff das sein werck offenbar werden […].“ (Pastoris: Practica A3b). 128 

300

V. Zukunftsperspektive

von der Finsternis der astrologischen Lehren in das helle Licht Christi zu treten und dem Evangelium zu folgen: „[…] als wil vns Got alle gleich durch die Coniunctio so in das eynig zeychen zusamen lauffen / meyns verstandts zuuersteen geben / sich zu hueten vor ewiger verdamniß / vnd zu dem liecht ewiger seligkeit weysen / wie dann das Euangelion in die welt schallet / da nach zu wandern […].“131

Der zu erwartende Widerstand dürfe dabei nicht schrecken, er sei notwendiger Bestandteil des in der Schrift verkündeten Endzeitszenarios; doch werde der Jüngste Tag die rettende Erlösung bringen, weshalb ein rechter Christ das Ge­ richt nicht fürchten, sondern begehren solle: „[…] vnnd ob jr hoeret oder sehet krieg wie sich dann anfahet / so gedenckt das soelche alles vor dem jungsten tag nach dem Euangelio […] ergeen müß / vnd alle Christglaubi­ gen sollen den tag begeren (nach Gottes willen wann er wil) dann vnser aller erloesung nahet sich Luce a. 21. [Lk 21,28] Gott geb sie vns mit genaden. Amen.“132

Abschließend fasst Pastoris seine Haltung nochmals in Reimform zusammen: Zwar seien die astrologischen Schriften momentan weit verbreitet, doch rufe Gott nunmehr sein Volk zu sich – der Unvergänglichkeit der göttlichen Wahr­ heit könne auch der Teufel keinen Abbruch tun: „Die Sternseher zu diser zeyt / Practicirn fürwar weyt vnd breyt. […] Auff solchs geb ich diß Practica auß / Und sag das Got wil beschließ das hauß. […] So den Christum bekenn über all / Der den Teüffel geschlagen mit schall. Durch seyn roßefarb blut in gemeyn / Wie dann die schrifft leret klar vnd reyn. Der nicht ein spitzlein vergehen wirt / Wie hart der Sathan do wider kyrdt.“133

2.  Innere Kohärenz 2.1  Umstrittene Zukunft – Kampf um die Deutungshoheit 2.1.1  Herausforderung Astrologie Das 16. Jahrhundert ist nicht nur die Zeit der Reformation der Kirche, sondern auch die große Blütezeit der Astrologie.134 Ihre breite Anerkennung verdankte sie zum einen der wissenschaftlichen Akzeptanz, die sie als Teil des Quadrivi­ ums in der Universitätslandschaft erlangen konnte, zum anderen der weiten Verbreitung und Popularisierung, welche insbesondere durch das Medium der Flugschriften hergestellt wurde.135 131 

Pastoris: Practica A3b. Pastoris: Practica A4a. 133  Pastoris: Practica A4a. 134 Vgl. Hamel: Qualität der Zeit 99. 135 Vgl. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 288. 132 

2.  Innere Kohärenz

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Ein Kapitel über die reformatorische Zukunftsperspektive in Flugschriften wird somit das Verhältnis der reformatorischen Bewegungen zur Astrologie zu berücksichtigen haben, um anschließend nach der Rolle des Teufels in diesem Kontext fragen zu können. Das geschichtswissenschaftliche Publikationsvolu­ men scheint indes der enormen Bedeutung, welche die Zeitgenossen der Astro­ logie zumaßen, kaum angemessen.136 Auch hier soll nicht der Versuch unter­ nommen werden, das Verhältnis von reformatorischen Bewegungen und Astro­ logie umfassend und systematisch zu bestimmen – ein Unterfangen, das gleichwohl wünschenswert wäre und ein Desiderat der Forschung darstellt. Auf das besagte Verhältnis wird lediglich insoweit eingegangen, wie es in den Flug­ schriften der frühen Reformationszeit eigens thematisiert wird und für die Pro­ filierung der reformatorischen Zukunftsperspektive von Bedeutung ist.137 Die Fülle der erhaltenen astrologischen Flugschriften, namentlich Praktiken und Prognostiken, weist auf einen fulminanten publizistischen Erfolg und ent­ sprechend breite Rezipientenkreise.138 Die enorme Zahl der erhaltenen astro­ logischen Praktiken ist umso aussagekräftiger, als es sich um äußerst vergängli­ ches Schrifttum handelt, welches, nach Ablauf der in der Regel kurzen Zeit­ fenster für die Prognose (meist das nächste Jahr), obsolet werden und jeden Gebrauchswert einbüßen musste.139 Zudem sind die Erfolge nicht zufällig: Die stark stereotypisierte literarische Form der Praktiken schuf einen einheitlichen Erwartungshorizont, der auf eine bewusste Kaufentscheidung rückschließen lässt: Der Käufer wusste genau, worauf er sich einließ.140 Die hohe Verbreitung von astrologischen Flugschriften lässt sich auch aus den astrologiekritischen Flugschriften ableiten, die zum einen die große Beliebtheit der astrologischen Praktiken beklagen,141 zum anderen deren literarische Form parodieren, indem sie deren Elemente kontrafaktisch aufnehmen und deren Be­ 136  Lange Zeit wurde den astrologischen Schriften wenig Beachtung zuteil (vgl. Talken­ berger: Sintflut 9). Zum Verhältnis von reformatorischer Theologie und Astrologie in wei­ testem Sinne siehe Talkenberger: Sintflut; Leppin: Jüngster Tag; Brosseder: Im Bann der Sterne. 137  Es wurde hier nur auf Flugschriften zurückgegriffen, die eindeutig reformatorische Grundhaltungen erkennen bzw. sich ihnen zuordnen lassen; somit wurden eine ganze Reihe von Flugschriftenautoren nicht berücksichtigt (z. B. Cairon, vgl. zu Cairon Talkenberger: Sintflut 210 ff.), über deren reformatorischen Hintergrund sich zwar Anhaltspunkte finden lassen, die aber letztlich religiös indifferent bleiben und daher im Rahmen einer Untersu­ chung über die reformatorische Zukunftsperspektive wenig aufschlussreich sind. 138  Die neue Literaturgattung der astrologischen Jahrespraktiken formulierte Prognosen für ein oder mehrere Jahre und wurde als Flugschriftenformat ungemein erfolgreich, vgl. Talkenberger: Sintflut 6. 139  Auf diesen Umstand hat bereits Leppin mit Blick auf die Flugschriften des späten 16. und 17. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, vgl. Leppin: Jüngster Tag 175. 140 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 178. Zur stereotypen Gestaltung der Praktiken vgl. Talken­ berger: Sintflut 6 f. 141  Vgl. z. B. Pastoris: Practica A4a.

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V. Zukunftsperspektive

liebtheit gezielt für die eigenen Zwecke nutzten.142 Solche „Gegenpraktiken“, welche die schärfste Form der Astrologiekritik darstellten, verdeutlichen – bei aller gebotenen methodischen Vorsicht – die enorme Attraktivität der astrolo­ gischen Praktiken und ihre breite Rezeption.143 Dieser immense Erfolg ist auf das Versprechen zurückzuführen, konkrete Aussagen über Bevorstehendes treffen und so der Zukunft habhaft werden zu können. Die Astrologie ist per definitionem mit einem Deutungsanspruch ver­ sehen,144 wobei sie im 16. Jahrhundert noch nicht trennscharf von der Astro­ nomie unterschieden wurde.145 Innerhalb der Astrologie unterschied man grob drei Bereiche: Einmal die in der Regel als nutzbringend qualifizierte heilkund­ liche oder medizinische Astrologie, dann die ebenfalls zumeist positiv betrach­ tete metereologische Astrologie, schließlich die sogenannte „judiziarische Ast­ rologie“, welche allerdings heftig umstritten war.146 Diese sah sich zu Aussagen über die zukünftigen Geschicke der Menschen befähigt, wobei sie von einem mechanistischen Einfluss der Gestirne auf die irdische Sphäre ausging.147 Die Astrologie kommentierte demnach das gottgesetzte universale Naturgesetz und legte dessen immanente Kausalitäten offen.148 Grundlage der Vorhersagen wa­ ren Gestirnkonstellationen, wobei den Wirkungen von Planetenkonjunktio­ nen149, Sonnen- und Mondfinsternissen sowie Komenten besondere Bedeu­ tung beigemessen wurde.150 Ein Sachverständiger könne die Wirkkräfte der Gestirne offenlegen und sei daher fähig und berufen, Aussagen über zukünfti­ 142  Zur formalen kontrafaktischen Struktur der „Gegenpraktiken“ vgl. Talkenberger: Sintflut 306. 143 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 175–178. 144  „Unter A[strologie] ist die Funktionalisierung astronomisch-quantitativer Beobach­ tungen und Berechnungen zugunsten einer kosmisch- und anthropologisch-qualitativen Deutung der Gestirne zu verstehen.“ (Thiede: Art. „Astrologie“ Sp.  856). 145  Obschon die Unterscheidung von Astrologie und Astronomie bereits bei Isidor von Sevilla (ca. 560–636) begegnet, werden Astrologie und Astronomie im 16. Jahrhundert meist synonym gebraucht (vgl. zum Verhältnis und zur mangelnden Ausdifferenzierung von Ast­ rologie und Astronomie Leppin: Jüngster Tag 172–174; Pfister: Parodien 62). In der wissen­ schaftlichen Verortung galt die Astrologie als angewandte Astronomie und Mathematik (vgl. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 288); in den Flugschriften jedoch ist ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied einmal von Astrologie, einmal von Astronomie die Rede. 146  Zur Unterscheidung von astronomia/astrologia naturalis, zu der auch die Metrerolo­ gie zählte, astronomia/astrologia medica und astronomia/astrologia judiciaria vgl. Pfister: Parodien 62. 147 Siehe North: Celestial influence – the major premiss of astrology 45–100. 148  Zur naturgesetzlichen Bezugsebene der Astrologie vgl. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 290. 149  „Unter einer Plantetenkonjunktion versteht man das – von der Erde aus betrachtete – scheinbare Zusammentreffen zweier oder mehrerer Planeten in einem Tierkreiszeichen. Die Tierkreiszeichen werden einem der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zuge­ ordnet.“ (Talkenberger: Sintflut 2, Anm.  5 ). 150  Siderische Einflüsse und ganz materiell gedachte Wirkkräfte wurden den Sternen vor allem ab der Rezeption arabischer Autoritäten seit dem 9. Jahrhundert, u. a. Albumasar, Mes­ sahalla und Alkindus, zugeschrieben (vgl. Pfister: Parodien 418).

2.  Innere Kohärenz

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ges Geschehen zu tätigen. Damit beanspruchten die Astrologen die Deu­ tungshoheit über die Zukunft und waren ihrem Selbstverständnis nach Weg­ weiser für deren Ungewissheiten. Zukünftiges Geschehen glaubten sie mitunter bis ins Detail prognostizieren zu können, was sich z. B. in der Tagewahl äußer­ te, also der Festsetzung von Glücks- und Unglückstagen.151 Mit dieser konkreten Zukunftsschau geriet die Astrologie mit der christli­ chen Weltsicht allgemein, insbesondere aber mit der reformatorischen Apoka­ lyptik in einen grundsätzlichen Konflikt: „Der Astrologe beanspruchte ebenso wie der Apokalyptiker, aus seiner theoretischen Gesamtdeutung der Wirklichkeit Aussagen über das individuelle und kollektive Ge­ schick in näherer oder fernerer Zukunft treffen zu können.“152

Durch den beiderseits gestellten Anspruch auf Deutungshoheit über die Zu­ kunft entwickelte sich vom Beginn der 1520er Jahre an eine ausgesprochene Weltbildkonkurrenz von bibliozentrischer Apokalyptik und Astrologie.153 Diese Weltbildkonkurrenz verschärfte sich, als einige wenige Astrologen ebenfalls begannen, apokalyptische Aussagen zu treffen. Aufgrund einer großen Planetenkonjunktion im Zeichen der Fische sagten sie für das Jahr 1524 eine zweite Sintflut voraus, die das Weltende heraufführen werde.154 In der Folge entwickelte sich eine erregte Sintflutdebatte, die vorrangig im Medium der Flugschriften geführt wurde und wesentlich zur Popularisierung der Astrologie im 16. Jahrhundert beitrug.155 Die Sintflutfrage ließ die ehedem vorhandenen Spannungen zwischen Astrologie und reformatorischen Bewegungen zum of­ fenen Konflikt eskalieren. Dies ist nicht von vornherein einsichtig, da doch im Ergebnis der Prognose­ tätigkeit eine Kongruenz bestand: Der nahe Weltuntergang. Doch genau an dieser scheinbaren Kongruenz brach der Kampf um die Deutungshoheit in neu­ artiger Schärfe auf: Die apokalyptische Erwartungshaltung, bis dato reformato­ risch-theologisches Sondergut und von den reformatorischen Flugschriftenau­ toren stetig gegen die altgläubige Endzeitignoranz in Stellung gebracht, wurde nun in sich zum strittigen Gegenstand, da sich die Astrologen die apokalypti­ 151 

Vgl. zur Praxis der Tagewahl Talkenberger: Sintflut 286; Dies.: Bewegung 26. Leppin: Jüngster Tag 181. 153  Diese Weltbildkonkurrenz bestand im 17. Jahrhundert fort, wie Leppin in seiner Un­ tersuchung apokalyptischer Flugschriften von 1548–1618 dargelegt hat. Dass sie bereits in den frühen 1520er Jahren mit der Entstehung der reformatorischen Bewegungen in der Flugschriftenlandschaft einen ersten, die Folgezeit prägenden Höhepunkt erreichte, wird zu zeigen sein. 154 Siehe zur Sintflutdebatte Talkenberger: Sintflut 154 ff.; Dies.: Bewegung 25–47; Zambelli: Gustav-Hellmann-Renaissance? 413–455. 155 Vgl. zur europäischen Dimension der Sintflutdebatte Talkenberger: Sintflut 154 f. Die Debatte um die Sintflutprognose gilt als „größter literarischer Streit auf dem Gebiet der Astrologie“ (Hellmann: Blütezeit 5) und trug wesentlich zur „Intensivierung und Popula­ risierung“ der astrologischen Vorhersage bei (Talkenberger: Sintflut 336). 152 

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sche Prognosekompetenz zu übernehmen anheischig machten. Mit der astrolo­ gisch begründeten Weltuntergangsprognostik griffen die Astrologen aus der Sicht ihrer Gegner in einen genuin theologischen Bereich über – die reformat­ orischen Apokalyptiker sahen ihr Deutungsmonopol hoch gefährdet und gin­ gen zum Gegenangriff über: Die unten eingehender zu untersuchenden refor­ matorischen Gegenpraktiken stellen eine direkte Reaktion auf die ausgreifen­ den Ansprüche der Astrologen und ihrer publizistischen Erfolge dar. Die Auseinandersetzung um das Für und Wider der Astrologie wurde dabei vorrangig im Medium der Flugschriften, in Praktiken und Gegenpraktiken, geführt. Publizistisch und literarisch betrachtet war es damit ein gattungsinter­ ner Kampf um Marktanteile, Rezipientenkreise und erfolgreiche Formate; ide­ en- und theologiegeschichtlich war es ein Kampf um die Deutungshoheit über die Zukunft – Blütezeit der Astrologie und reformatorischer Auf bruch, natur­ wissenschaftliches Kausalitätsschema und biblisches Offenbarungswissen stan­ den einander kritisch gegenüber. In der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen kollidierten hier zwei völlig gegensätzliche Weisen, Wirklichkeit zu erfassen und Zukunft zu deuten. 2.1.2  Grundtypen des Verhältnisses von reformatorischer Theologie und Astrologie Im Hinblick auf die Astrologie verliefen die konfessionellen Fronten keineswegs einheitlich:156 Unter altgläubigen wie unter reformatorischen Zeitgenossen fin­ den sich sowohl Astrologiekritiker wie -befürworter. So musste eine reformat­ orische Gesinnung nicht von vornherein mit der kompletten Ablehnung der Astrologie einhergehen, wie u. a. die Beispiele von Johannes Copp, Alexander Seitz oder auch von Melanchthon und Spalatin zeigen.157 Gleichwohl erreicht aber die Astrologiekritik mit dem neuen reformatorischen Bibliozentrismus ei­ nen neuen Höhepunkt. Das Verhältnis der reformatorischen Flugschriftenautoren zur Astrologie ist vielfältig und facettenreich. Die Spannbreite reicht von Indifferenz und Desin­ teresse bis hin zu apodiktischen Positionierungen, von Hochschätzung der Ast­ rologie bis zu deren totaler Verwerfung. Bei einer Durchsicht der Flugschrirften lassen sich drei Grundpositionen idealtypisch unterscheiden: astrologieaffine, astrologiekritische und antiastrologische Flugschriften. a)  Astrologieaffine Flugschriften Die astrologieaffinen Flugschriftenautoren gehen von einer Wirkmächtigkeit der Gestirne aus, welche das irdische Geschehen und das kollektive wie das einzelne Schicksal beeinflussen. So werden z. B. diejenigen Planeten, denen der 156 Vgl.

Pfister: Parodien 452. Vgl. Talkenberger: Sintflut 284; Dies.: Bewegung 26 f. Zu Melanchthons positiver Haltung zur Astrologie siehe Jung: Melanchthon 136–139. 157 

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dominierende Einfluss auf das Jahresgeschehen zugeschrieben wird, als Jahres­ herrscher bezeichnet.158 Dabei wird in der Regel jedoch kein starrer Determinismus vertreten, son­ dern (zumeist allerdings eher formelhaft) beteuert, dass es sich bei den sideri­ schen Einflüssen um Dispositionen handle, die nicht zwangsläufig wirksam werden müssten – die Sterne machen geneigt, zwingen aber nicht, ist eine häu­ fig bemühte Formel.159 Mit Hilfe der Astrologie könne sich der Mensch als Geistwesen den siderischen Einflüssen mehr oder weniger weitgehend entzie­ hen und sie beherrschen.160 Vor allem aber wird die Prädominanz Gottes über die Wirkeinflüsse der Ge­ stirne hervorgehoben. Die oben dargestellte Argumentation Copps steht para­ digmatisch für die von den Astrologen verfolgte Immunisierungsstrategie ge­ gen theologische Vorbehalte, wenn er Gottes Superiorität über die Gestirne als Postulat durchaus vertritt, dessen unberührt aber in seiner praktischen Progno­ setätigkeit von den vermeintlichen Wirkeinflüssen der Gestirne einsinnig auf die konkrete Ausgestaltung der Zukunft schließt.161 Copp zählt dabei aller­ dings zu den astrologischen Flugschriftenautoren, die in der Frage der Wirk­ mächtigkeit der Gestirne auffällig behutsam agieren und sich mit der Betonung der Prädominanz Gottes geflissentlich gegen etwaige Anfeindungen der Theo­ logen abzusichern suchen.162 Weniger vorsichtig in dieser Frage geht z. B. Alexander Seitz vor:163 Seine Flugschrift „Warnung des Sündtfluss“ (1520) gibt ein Beispiel davon, wie wirk­ mächtig die Rolle der Gestirne ungeachtet aller theoretischen Beteuerungen in pragmatischer Hinsicht eingeschätzt werden konnte. Er macht die Sterne zu Beamten und „diener[n]“164 Gottes, deren Einfluss zwar durch Gott in beson­ deren Fällen entkräftet werden könne,165 die aber ansonsten uneingeschränkt 158 Vgl.

Talkenberger: Sintflut 6. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 290: „Astra inclinant, non necessitant.” 160 Vgl. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 290: „Vir sapiens dominatur astris.” 161 Vgl. Copp, oben 290 ff. 162  Nach der Veröffentlichung seiner Flugschrift „Urtayl“ (1522) sah Copp sich genötigt, auf die scharfe theologische Kritik, die seine Schrift auslöste, zu reagieren. Er verfasste eine Rechtfertigungsschrift, „Practica Teutsch“ (1523), in der er in besonderer Weise versuchte, die Konstatierung von Wirkeinflüssen der Gestirne mit der Herrschaft Gottes in Einklang zu bringen: Zunächst nennt er Jupiter und Venus als dominierende Einflussfaktoren, schränkt dann aber ein: „Aber mein freüntlicher leser / will ich dich gewarnet haben / das du nit mey­ nen solt / das darumb herren diß Jars genant werden daß sie das Jar regieren / darumb solß auch weyt von vns sein / das wir solliches glauben / dann der herr der die Planeten beschaffen hat regiert allein deßhalb / huette dich das du nit meynst die Creatur regier / so doch der schoepfer vil mechtiger ist dann die Creatur […].“ (Copp: Practica Teutsch A3b, zitiert nach Talkenberger: Sintflut 290). 163  Zu Seitz siehe Talkenberger: Sintflut 184 ff.; Seitz war den radikalen Strömungen der Reformation zugeneigt. 164  Seitz: Warnung des Sündtfluss A4a. 165  Es sei „[…] zu bedencken / das got gemainklich darbey beleiben last wie seine ampt­ 159 Vgl.

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und mechanisch auf die äußere Natur und die des Menschen einwirkten: Gott habe „[…] yedem stern zuuerordnet sein aygne art / als seinen amptleüten oder Voegten her­ ab in dise vnderste welt zewircken / das oder jhens / vnd nit alain das erdtrich vnder­ schaydenlich / fruchtper / vnfruchtper / yetz kalt yetz warm zemachen / sonder auch des menschen gemuet zuuerwandlen […].“166

Diesem Einfluss der Gestirne könne sich der Mensch kaum entziehen: „So mag ich wol sprechen / das des menschen gemuet tantzet nach dem die planeten pfeyffen“167 Der menschliche Verstand sei zwar theoretisch von der Plantenwir­ kung ausgenommen,168 doch werde der Mensch letztlich vom Reiz der Planeten dominiert: „Wir seind aber so ainer ploeden natur / das wir der raytzung bald hinach vallen.“169 Angesichts einer derartigen, von quasi zwangsläufigen Wirkannahmen aus­ gehenden astrologischen Anthropologie verwundert es nicht, dass die Astrolo­ gen immer wieder in den Verdacht einer deterministischen Weltsicht gerieten. Die apologetischen Zwänge, welchen sich die Astrologen zunehmend ausgesetzt sahen, dokumentieren schon die Vorwörter der Praktiken: Sie sind geprägt von Absicherungsrhetorik und formelhaften Beteuerungen, dass die Wirkeinflüsse der Gestirne zum Teil von den Menschen, letztinstanzlich aber von Gott be­ herrscht werden.170 So wehren sich die Astrologen gegen den Vorwurf, sie betrieben eine unchristliche Kunst und versuchten dagegen, die Vereinbarkeit von Astrologie und Theologie herauszustellen. Die zuweilen recht eigentümliche Verquickung von astrologischer und theo­ logischer Argumentation wird insbesondere in der Debatte um eine zweite Sintflut greif bar. Durch ihre apokalyptischen Implikationen stellt die Sintflut­ prophetie allerdings eine Sonderform des astrologischen Schrifttums dar: Die Melange astrologischer und apokalyptischer Vorstellungen begegnet lediglich im Hinblick auf die Planetenkonjunktion 1524 und sollte sich alsbald wieder auflösen,171 um erst im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts wieder massiv zu leüt nemlich das gestirn verschafft doch alweg seiner allmächtigkait vorbehalten / seine amptleüt zu ersetzen oder bleiben lassen / seins gefallens / woelt aber got sein creaturn ir art leichtlich nehmen / er het on zweyfel die aengstlich fall Lucifers vnd Adams nit zugelassen etc.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A4a). 166  Seitz: Warnung des Sündtfluss A3b. 167  Seitz: Warnung des Sündtfluss A3b. 168 „Jst aber darumb nit zu bedencknn das wir darumb vnsers aygen willens beraubt seind vnd dem einfluß leben muessen / sonder wir werdnn allain geraytzt vom einfluß / so muessen wir durch ain widerstand verdienen etc.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A3b). 169  Seitz: Warnung des Sündtfluss A3b. 170 Vgl. Talkenberger: Sintflut 279. 171 In den astrologischen Praktiken spielen Endzeiterwartungen in aller Regel keine Rolle, die Einbettung in einen eschatologischen Kontext begegnet lediglich im Rahmen der Sintflutprophetie (vgl. Talkenberger: Sintflut 330.381). Nachdem die Sintflutdebatte obso­ let geworden war, verschwinden die apokalyptischen Bezüge wieder: „Als Ergebnis der Be­

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begegnen.172 Dabei wird eine eindeutige Zuordnung zu konfessionellen Kate­ gorien durch die Vielfalt der einzelnen astrologischen Positionen erschwert.173 Auch innerhalb der reformatorischen astrologieaffinen Flugschriftenpublizistik begegnen verschiedene Standpunkte: Während Copp die Sintflutprophetie stark relativiert und lediglich große Überschwemmungen vorhersagt,174 ver­ tritt Seitz die Prognose einer Sintflut apokalyptischen Ausmaßes.175 Die über­ wiegende Mehrheit der Astrologen lehnte die Sintflut-Prophetie ab; insofern stellt Seitz’ unverholene Rede von einer Sintflut eher eine Ausnahme dar. Dennoch rief die Sintflutprophetie ein großes Echo hervor, wobei die aufwän­ digen Bemühungen um deren Widerlegung die zeitgenössische Plausibilität der Vorhersage und das immense Interesse, das ihr entgegengebracht wurde, dokumentieren. Seitz und Copp stehen beispielhaft für die Verbindung von astrologischer und theologischer Argumentation, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Ge­ wichtung: Copp sieht die Gestirnkonstellationen durchaus auf eine Sintflut hindeuten, spricht jedoch nur von einem „halben Sündfluß“176 , da die bibli­ schen Verheißungen eine zweite Sintflut ausschließen – für ihn ist in der Sint­ flutfrage der Möglichkeitsraum astrologischer Prognosetätigkeit biblisch limi­ tiert, wenn er die Astrologie als Präzisierung und Konkretisierung der unver­ rückbar in Geltung stehenden biblischen Zukunftsprophetie und also gleichsam als Instrument der zeitlichen Verortung innerhalb des biblisch festgesetzten Heilsplanes gebraucht. Seitz dagegen hierarchisiert umgekehrt: Die astrologischen Erkenntnisse sind für ihn so evident, dass die theologische Interpretation nachziehen muss. Wenn die Menschen nicht durch ehrliche Buße die Barmherzigkeit Gottes erwirkten, trachtung der Schriften nach 1524 läßt sich so festhalten, daß sich nach der Sintflutdebatte die astrologische und die prophetisch-apokalyptische Argumentationsweise wieder trennen: Während apokalyptische Erwartungen nur noch aus den evangelischen Schriften spricht, tauchen Weltuntergangsängste oder Mahnungen an das Jüngste Gericht in den astrologi­ schen Jahrespraktiken nicht mehr auf.“ (Talkenberger: Sintflut 367; vgl. zudem Talkenberger: Bewegung 42). 172  Im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts kommt es wieder zu einer engen Verbin­ dung von apokalyptischer und astrologischer Argumentation, wobei dieses Phänomen ein­ deutig unter konfessionellen Vorzeichen steht, wenn es im Luthertum sehr stark, bei den Altgläubigen kaum auftritt und dieser Unterschied von den Zeitgenossen selbst als charakte­ ristisch benannt wird, vgl. Smolinsky: Deutungen der Zeit 5 f.; Leppin: Jüngster Tag 45–50. 173 Vgl. dazu Talkenberger: Bewegung 26. Talkenberger sieht die Katastrophenpro­ phetie eher durch reformatorische Autoren vertreten, während die altgläubigen Autoren ten­ denziell zu beruhigen versuchten. 174 Vgl. Copp, oben 292. 175  „Nach dem vil menschen frauenlich / vnd nit perssers verstands / vernichten die trew väterlich warnung der gelerten auff die grausamliche straff zukünftig Sündfluß des xxiiij. jars […]. Soellich thorliche vernichtigung hat mich vermüet […] ain Tractetlin dauon vnd anders hymels lauff zu machen […].“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A2b). 176 Vgl. Copp: Urtayl A3a-A3b.

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sei eine Sintflut aufgrund der Astralwirkungen unausweichlich; 177 theologisch wird sie als Strafgericht Gottes gedeutet, der sich auch nach dem Regenbogen­ bund „Wasserstrafen“ vorbehalten habe und angesichts der überhand nehmen­ den Sündhaftigkeit der Menschen auch wieder einsetzen werde178 – die theolo­ gische Deutung folgt der astrologischen Erkenntnislage. Um ihre Prognosekompetenz zu untermauern und plausibel zu machen, be­ nennen die Astrologen eine Vielzahl von Autoritäten als Referenzen (vorwie­ gend arabischer und antiker Provenienz),179 doch lassen sich in deren Gewich­ tung Unterschiede erkennen. Während altgläubige Astrologen sich mitunter gar ausschließlich auf griechische und arabische Lehrer beziehen bzw. die Bibel als Autorität hintanstellen können,180 verweisen die reformatorisch gesinnten Astrologen zwar ebenfalls auf die astrologischen Lehrer, bemühen sich aber, den Stellenwert der Bibel besonders hervorzuheben. Für Copp z. B. ist die Schrift absolut hinreichende Legitimationsquelle für die astrologische Praxis: Hatte er bereits in seiner Flugschrift „Urtayl“ (1522) die biblische Legitimation der Ast­ rologie betont,181 so bezieht er sich zu Beginn seiner Rechtfertigungsschrift „Practica Teutsch“ (1523) nicht wie üblich auf arabische und griechische Auto­ ritäten, sondern allein und ausschließlich auf die Bibel:

177  Einzige Möglichkeit der Rettung sei ernsthaftes Bitten, „[…] genad vnd barmhert­ zigkait zu erlangen / vnd abwendung der angstlichen zukünfftigen nott vnd straff / die auß hymels art vnderlassen nit wirt.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A2b). Vgl. zudem: „Darumb ist noch mals zu besorgen / was das gestirn / der goetlich paw vnd sigel / vns anzay­ gent / wird mit leichuertigen worten nit abgewendt.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A3a). 178  Seitz kann keinen Widerspruch zwischen dem Regenbogenbund und einer erneuten Sintflut erkennen. Gezielt greift er den theologischen Einwand, den auch Copp geltend macht, auf, demzufolge die Zusage Gottes, die Welt fortan nicht mehr durch Wasser zu ver­ nichten, eine zweite Sintflut ausschließe: „Dargegen sagent aber etlich. Got hab versprochen in Genesi [Gen 9,12–18] kain sündfluß mer zesenden. […]. Auff das erst sag ich. Der goetlich verhaiß streck sich nit so weit. Seine wort habnn kurz gelautet. Er woelle das flaisch nit mer mit wassergüß gantz verderben etc. vnd damit sich nit verzigen der wasserstraffen. Aber fü­ rohin wen / wie vil / oder wa das steet in seiner gotthait / doch zuuersichtig / nitt gentzlich vnderlassen / von wegen vnsers verruchten lebens vnd sünden / damit wir ersettiget werden vnsers schentlichen zutrinckens.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A2b). Gott habe seine Gnade, welche im Regenbogenbund symbloisch zum Ausdruck komme, aufgrund der menschlichen Sündhaftgikeit wieder zurückgezogen: „Vnd wiewol der Regenbog durch go­ etlich verhaiß in Genisi verainung bedeüten sol zwischen gothait vnd der menschait. So aber der Regenbog etwas wider sein natur sich verkoert / vnd von vns übersich gewent hat / ist zu besorgen goetlich gnad hab sich von vns gewent zu verhengen ain grosse verenderung in der welt darinn ungehoerte ding geschehen werden.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss B2a). 179 Vgl. Talkenberger: Bewegung 29. 180 Vgl. Talkenberger: Sintflut 159; Dies.: Bewegung 39. 181 Vgl. Copp, oben 290.

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„Ich wolte dir hye auch wol vil haydnischer sprüch antzeygen / die do al bewern das man an den sternen künftig ding erkenen mag / gedunckt mich aber nit von noetten seyn / die weylen doch die grundtfest der angetzeygten schrifften starck genug ist.“ 182

Die Bibel selbst legitimiere die Astrologie, da sie immer wieder auf die Gestirne als Kommunikationsmedien Gottes rekurriere: Mit den Gestirnen tue Gott sei­ nen Willen kund, weshalb es nicht nur zulässig, sondern auch geboten sei, die­ sen Willen mit den den Menschen gegebenen Möglichkeiten zu erkunden. Copp z. B. ist der Stern von Bethlehem Erweis, dass Gott die Menschen gezielt durch Himmelserscheinungen zu lenken versuche und dabei auf deren Auf­ merksamkeit zähle.183 Weitere klassische biblische Referenzstellen für die Legi­ timation der Astrologie sind Lk 21,25, Gen 1,14 und Ps 19,2. Demnach sei die Astrologie eine von Gott eingesetzte Kunst, durch deren Erkenntnisse sein Wil­ le erst vollgültig erkennbar werde. Nach Seitz verfügen die Astrologen über göttlich legitimiertes Spezialwissen, um den Gemeinen Mann über Bevorstehendes zu informieren.184 Ihre – insbe­ sondere auch apokalyptische – Prognosekompetenz gehe dabei über eine rein theologisch-schriftbasierte Prognosekompetenz hinaus: Primär an den Astral­ phänomenen sei der göttliche Wille und das zukünftige Geschick der Welt ab­ lesbar: „Der gantzen welt art ist vnderworffen dem hymel / daran geschryben stet / darauß der Astronimus erkennen mag nach dem gstirn die zukuenfftignn ding / vnd vil ubels zuuerkomen etc.“185 Die Gestirnkonstellationen spiegelten untrüglich Gottes Willen und seine momentane Befindlichkeit – schließlich sei Gott dem Menschen nach wie vor ein lebendiges Gegenüber und reagiere auf das menschliche Verhalten in ungebundener Souveränität: „Ja got lebt noch / er mags machen wie er will etc.“186 – dies gilt für Seitz auch bezüglich einer Re­ vision des Regenbogenbundes. Wie insbesondere an der Sintflutfrage deutlich wird, sind im eher spiritualistischen Ansatz bei Seitz die astrologischen Er­ kenntnisprinzipien gleichsam aktueller und näher am Gegenwartsgeschehen als die in der Schrift vorfindlichen Anhaltspunkte zur Zukunftsprognostik. Über den Coppschen Ansatz hinausgehend dient die Astrologie hier der Aktualisie­ rung der biblischen Zukunftsprophetie und wird mitunter gar als deren Korrek­ tiv wirksam: Als Medium des sich immer wieder neu mitteilenden Gottes kön­ ne die Astrologie biblische Ankündigungen gar obsolet werden lassen. Für Seitz folgt das Miteinander von Gott und Mensch nicht einem starren, irreversiblen 182 

Copp: Practica Teutsch A2b (zitiert nach Talkenberger: Sintflut 290). zu den Sternen als Kommunikationsmedien Gottes, zum Stern von Bethlehem im Besonderen: Copp: Practica Teutsch A1b. 184  „Er [Gott] hat den hymel soelichs zepringen anfengklich also erschafft / vnd kompt alles von jm daher vnd den Astronimus gelernet soelch sein wunderwerck zu verkünden.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A4b). 185  Seitz: Warnung des Sündtfluss A4a. 186  Seitz: Warnung des Sündtfluss A3a. 183  Vgl.

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V. Zukunftsperspektive

Heilsplan, sondern stellt ein dynamisches Geschehen dar, welches die Astrolo­ gie zu erhellen berufen sei. So bezeuge schließlich auch die Schrift vielerorts den Offenbarungscharakter der Gestirne, weshalb die Astrologie nicht im Wi­ derspruch zur Bibel stehe, sondern in dieser selbst ihre legitime Fortschreibung durch die Astrologie angelegt sei. Gegen den theologischen Einwand, Gott habe dem Menschen das Wissen über Zukünftiges bewusst vorenthalten, wird von den astrologieaffinen Flug­ schriftenautoren die gottgewollte Entschlüsselung der Zukunft durch astrologi­ sche Erkenntnisprinzipien herausgestellt – die Astrologie erhält hermeneutische Dignität: „[…] das dem menschen nit gepüre zuekünfftige ding zewissen etc. ist woll war / was der allmaechtig got jm vorbehalten hat / ist dem menschen vnmüglich zuewissen. Aber was er offenlich auffgeschlagen hat beuor der menschait zu ainer warnung / das wil er auch den menschen eroeffnen […]“187

– die Sterne glichen einem Buch, mit welchem Gott die Verständigen über die Zukunft unterrichten wolle. Diese Buchmetapher, nach der die Astralphäno­ mene eine Art Himmelskörper-Bibel darstellten, stellte in der Sicht der astrolo­ gieaffinen Flugschriftenautoren die offenbarungstheologische Rechtfertigung der Astrologie sicher und begründete den Aufruf, durch (in damaligem Ver­ ständnis) wissenschaftliche Methoden Gottes Willen zu ergründen und die Zu­ kunft zu erhellen. Dabei betonen sie die Verlässlichkeit ihrer Vorhersagen, die auf von Gott gesetzten mechanistischen Kausalitäten beruhten. Nach Seitz z. B. weise die geschichtliche Erfahrung vielfach die Glaubwürdigkeit und Treffsicherheit ast­ rologischer Prognostik aus.188 Um aber dem Determinismus-Verdacht entge­ genzuwirken, betonen sie gleichzeitig die Herrschaft Gottes über die Gestirne: Gleichsam als „gubernator“ sei es letztlich Gott, das alles lenke oder zumindest zulasse, weswegen die Gestirne zwar das irdische Geschehen beeinflussen, aber nicht mit Notwendigkeit wirken könnten.189 Auf der Basis dieses guberna­ tor-Gedankens stand die Wirkmächtigkeit der Gestirne aus Sicht der Astrolo­ gen nicht in Konkurrenz zu Gottes Alleinwirksamkeit, sondern leite geradezu zur wahren Gottesfurcht an: „Nun mag sein goettlich maiestat in seiner al­ 187 

Seitz: Warnung des Sündtfluss A3a-A3b. „Dz bezeügt vns der hochgelert Hartman / der in seiner practica gantz grundtlich vnd gnugsam vor verkundt. vnd die armen treulich warnet vor der grossen truebseligkait des armen Contz im land Wirtenberg. Jtem wie hat auch der wolbegrünt maister hans Haßfurter des aller großmechtigistnn etc. kaysers maximilians tod des vorignn jars in seiner practica getroffnn / auch nit minder des vergangnn jars wird nit der minst Fürst des Reychs on son­ dere belegerung stet seins lands vertriben etc. ist gnugsam an dem Wirtenberg begangen. Jtem wie gwislich treffent sy alle jar on fälens bey ainen punctnn die finsternuß vnd Comen­ ten auch gar recht practicirt des aller durch leichtigisten großmechtigisten künig Philipsen tod auß dem Cometen des vj. jars.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluss A4a-A4b). 189  Zum Topos des „gubernators“ vgl. Leppin: Jüngster Tag 185. 188 

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mechtikait hoeher nit erkant werdenn / dann durch das wunderbarlich vnd krefftig gestirn.“190 Mit dem Hinweis auf Gottes Allmacht und Providenz sicherten sich die Ast­ rologen zudem vor dem eventuellen Nichteintreffen ihrer Prognosen ab: Deren Falsifizierung durch den Geschichtsverlauf wird somit zum Erweis göttlichen Eingreifens und der gottgewirkten Abänderung des siderischen Einflusses. So konnten sie ihre Tätigkeit theologisch aufwerten, indem sie nicht allein das künftige göttliche Wirken, sondern zudem das vergangene rekursiv transparent machen zu können beanspruchten. Darüber hinaus wird das Nichteintreffen der Unheilsprognosen zur Bestätigung des hohen Wirkungsgrades der von den As­ trologen ausgesprochenen Warnungen, weshalb die astrologieaffinen Flug­ schriftenautoren ihren praktischen Ort vor allem in der Paränese sehen. Ihrer Prognostik eigne durch deren Zuverlässigkeit und Konkretheit eine gesteigerte paränetische Funktionalität: Indem sie die zukünftigen Geschehnisse und Kata­ strophen konkret vor Augen stellt, gleichzeitig aber auch warnt, ermahnt und (oftmals mit Verweis auf Ninives Buße, Jona 3,1–10) 191 bei entsprechendem menschlichen Verhalten eine Abänderung der Zukunft durch Gott als barmher­ zigem gubernator in Aussicht stellt, leiste die Astrologie effektive Unheilsprä­ vention und einen unverzichtbaren Beitrag zur moralisch-sittlichen Besserung der Menschheit. b)  Astrologiekritische Flugschriften Paradigmatisch für diesen Typus steht Martin Luther, der seine Haltung zur Astrologie unter anderem in der oben ausführlich dargestellten Predigt über Lk 21,25 darlegt. Auch wenn Luther der Astrologie z. B. im medizinischen Bereich durchaus eine profan-praktische Relevanz zumessen konnte und sie auch zur Kurzweil geeignet sein mochte, steht Luther der Astrologie generell sehr skep­ tisch gegenüber.192 Gleichwohl teilt auch er die Meinung, dass Gott Bevorste­ hendes durch Himmelszeichen anzeige und sich der Gestirne als Kommunika­ tionsmedien bediene. So glaubt er, in den seinerzeit zu beobachtenden Astral­ phänomenen die Zeichen der Endzeit zu erkennen. Die Astrologen allerdings dämpften in Luthers Wahrnehmung die Deutung von Astralphänomenen als Zeichen der Endzeit mit dem Hinweis, dass diese natürliche Phänomene seien und keinen Grund zur Beunruhigung darstell­ ten.193 Mit ihrer naturalistischen Argumentation, derzufolge die Astralphäno­ mene naturgesetzlichen Regularitäten entspringen und insofern keine geson­ derten Willensbekundungen Gottes darstellten, beförderten die Astrologen ein 190 

Seitz: Warnung des Sündtfluss A4a. Vgl. z. B. Seitz: Warnung des Sündtfluss A2b; A3a; B1a. 192 Vgl. Matthäus: Art. „Astrologie II/2“ 291; Ludolphy: Luther und die Astrologie 101. 193  Vgl. WA 10,1.2; 99,12–14. 191 

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V. Zukunftsperspektive

falsches Sicherheitsgefühl, welches über die tatsächliche heilsgeschichtliche Si­ tuation hinwegtäusche.194 Auf diese Weise werde der Zeichencharakter der Astralphänomene völlig verkannt und die durch Gott verkündete Nähe des Gerichts geleugnet.195 Mit dieser Einschätzung kommt sogleich der entscheidende Unterschied von astrologieaffinen und astrologiekritischen Flugschriften in den Blick: Dieser be­ traf vor allem die Frage, ob den Gestirnen eine genuine Wirkmächtigkeit eig­ net, oder ob sie lediglich Zeichencharakter tragen und also keinen eigenständi­ gen Einfluss auf die irdische Sphäre haben. Hatten z. B. Copp und Seitz die Sterne als Wirkursachen qualifiziert, so reduziert Luther sie auf ihre Zeichenbe­ deutung. Diese Reduktion bedeutet aber keineswegs die totale Ablehnung der Astro­ logie. Wenn den Astralphänomenen nach Luther eine gewisse Bedeutung zu­ kommt, dann (zumindest potentiell) auch der Astrologie. Durchaus erkennt Luther deren biblische Legitimation an, wenn er ihr im Rahmen der apokalyp­ tischen Vorzeichenidentifikation eine theologische Funktion zuerkennt. So könne die Astrologie die Abweichung der Astralphänomene vom Normalen und Regulären bemessen und die Besonderheit, welche den apokalyptischen Vorzeichen eigen ist, offenlegen.196 Indem sie also die Normalitätsdifferenz kenntlich zu machen und so Natürliches von Übernatürlichem zu unterschei­ den in der Lage ist, erfüllt sie eine wichtige Warnfunktion innerhalb der End­ zeitdiagnostik. Nach heutiger Terminologie denkt Luther hier vorrangig an die Astronomie, die er gleichsam als theologische Hilfswissenschaft durchaus legi­ timiert, ihr aber eine eigenständige Deutungskompetenz bestreitet. Mit dieser partiellen Anerkennung erhält die zeitgenössische Astrologie zum einen apoka­ lyptische Valenz als Instrument der Zeichenidentifikation, zum anderen aber wird sie in ihrem Anspruch begrenzt und theologisch kanalisiert. Die zeichentheologische Reduktion der Astrologie tritt auch bei Gengenbach deutlich hervor. In seiner Flugschriften-Kontroverse mit dem altgläubigen Ast­ rologen Lorenz Fries formuliert Gengenbach scharfe Astrologiekritik, benennt aber gleichzeitig den hohen Stellenwert, den rechtmäßig betriebene Astrologie haben könne.197 Er unterscheidet zwischen legitimer Astrologie und deren 194 Gottes Zeichen würden verachtet und der Natur zugeschrieben, vgl. WA 10,1.2; 105,15 f. 195  Vgl. WA 10,1.2; 100,4–6. 196  Die Besonderheit liegt für Luther nicht unbedingt in der Durchbrechung der Regula­ ritäten, sondern bereits in der ungewöhnlichen Häufung der Erscheinungen, vgl. Luther, z. B. oben 283. 197 Die Streitschrift gegen Fries trägt den Titel: „Eine Christliche und ware Practica wider ein unchristenliche gotzlesterige unware practica. Welche ein Bomolochischer stär­ nensäher hat lassen ußgon uff das M.CCCCC.XXIIII jar. Inn der, er nit allein die menschen, sunder auch Gott, sine Propheten und die helge geschryfft gelestert und geschmächt hat.“ (Gengenbach: Ware Practica 116,1–6). „Bomolochisch“ steht wohl für „Lumpengesin­

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Missbrauch; so gebe es „etlich gotzförchtig stärnen säher“198 , die sich nach christlichen Maßstäben richteten und durchaus einen wertvollen Beitrag zur Zukunftsschau leisten könnten.199 Dabei ist Gengenbach Schriftkompatibilität unabdingbare Voraussetzung rechter Astrologie; er wendet sich scharf gegen die Entchristlichung und Ver­ selbstständigung astrologischer Lehren, wie er sie allen voran von Fries vertre­ ten sah. Fries hatte in seiner Praktik den Wahrheitsgehalt und das Zukunftswis­ sen der Schrift dem astrologischer Lehren hintangestellt200 und die Ansicht ge­ äußert, Gott nehme allein und ausschließlich über die Gestirne Einfluss auf die irdische Sphäre und habe deren Anordnung nach naturgesetzlichen Kausalitä­ ten festgesetzt, die zuverlässig und exakt berechenbar seien 201 – der Gedanke, dass Gott die Anordnung der Gestirne verändern könne, um in einem souverä­ nen Entscheid z. B. auf die zunehmende Sündhaftigkeit der Menschen zu re­ agieren, taucht bei Fries nicht auf. In der Konsequenz ist damit in hermeneuti­ scher Hinsicht die Absage an die biblische Prophetie verbunden, da ein nicht an die Gestirne gebundenes Offenbarungsgeschehen, in dem sich Gott unmittelbar an die Menschen wendet, ausgeschlossen ist und damit der Erkenntniswert der biblischen Prophetien hinter dem der astrologischen Theoreme zurücktritt.202 Dagegen vertritt Gengenbach die unbedingte Prävalenz Gottes über die Ge­ stirne. Gott ordne sie jederzeit so, wie es ihn beliebe und wie er durch das menschliche Verhalten bewegt werde: „Dar by mag man wol abnemen, das dyse zuosamenfügungen, nit stond inn der anzeygung deß gestirns, sunder inn dem

del“, vgl. Hellmann: Blütezeit 35. Vgl. zu Gengenbachs Praktik Pfister: Parodien 135 ff.; 373 ff.; 431 f.; 434 ff. 198 Vgl. Gengenbach: Ware Practica 117,40. 199 Gengenbach ist in seiner Haltung zur Astrologie nicht immer eindeutig, Einerseits kann er die Astrologie heftig kritisieren, andererseits argumentiert auch er zuweilen pronon­ ciert astrologisch – ein Widerspruch, den er nicht gänzlich auslösen konnte (vgl. Talkenberger: Sintflut 290). 200 Vgl. Talkenberger: Sintflut 301: Fries will seine Zukunftsschau nur aus dem bezie­ hen, was „[…] die Astronomy vnd natürlichen philosophy zu samen fuegend / in welchen beiden die goettlich warheit stet. Hierumb will ich nichts schreiben […] auß der Bibly Son­ ders myne propheten sollen keine andern sein dann Ptolemeus / Albumazar vnd Aristoteles.“ (Fries: Urteil A2a-A2b; zitiert nach Talkenberger: Sintflut 301; Nachweis zu Fries bei Talkenberger 441). 201 „Lob vnd ere sey dem obersten gut  / dem ewigen vnüberwintlichen herren aller ding / welcher alle ding auff diser zergengklichen erdenn / gebürt / enthaltet vnd zerstoert durch die bewegung vnd das liecht der hymelschen coerper […].“ (Fries: Urteil A1b; zitiert nach Talkenberger: Sintflut 302). 202  Fries führt z. B. die Praxis der Heilkunde an, um den unbedingten Vorrang astrolo­ gisch-wissenschaftlicher Methoden vor biblischem Offenbarungswissen zu verifizieren: „Ich erschrick auch wann ich sich eyn artzet der mer in Biblia liset dann in Hipocrate / vrsach das er ein todtschleger sein muß […].“ (Fries: Urteil A2b; zitiert nach Talkenberger: Sintflut 302).

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V. Zukunftsperspektive

gewalt gottes, welcher allein das gantz firmament richt nach den sünden und der buoß.“203 Gegen die (in damaligem Verständnis) naturwissenschaftlichen Methoden der Astrologie betont Gengenbach, dass der Mensch von seinem Erkenntnisver­ mögen her nicht in der Lage sei, über die irdische hinaus auch die göttliche Wirklichkeit zu erfassen.204 So bleibe ihm z. B. die Stunde des Gerichts verbor­ gen 205 – „Dann die hymmelsche wissenheit gehört allein got zuo.“206 Gegen die Maxime von Fries, Astrologie ohne biblische Fesseln zu betreiben,207 hält Gen­ genbach fest: Die Bibel mit ihrem Offenbarungswissen sei die weitaus verlässli­ chere Quelle der Zukunftsschau. Die unmittelbare Geistbelehrung der Prophe­ ten sei nachweislich untrüglich und bedinge die unüberbietbare Zuverlässigkeit biblischer Verheißungen. Alles, was die Propheten angekündigt haben, sei ein­ getreten – die geschichtliche Erfahrung sei daher eindeutig auf seiten des bibli­ schen Offenbarungswissens.208 Irrtümer der Astrologie und innerastrologische Lehrdifferenzen sind Gengenbach Erweis der Profanität der Astrologie,209 de­ 203 

Gengenbach: Ware Practica 117,34–37. „Wie kan ich got gnuogsamlich loben so ich gedenck das er den menschen so grossen verstand hat geben, das er nit allein hie niden die groben irdischen ding betrachten mag, sunder auch durch gewisse zal und maß hymmelsche Ding ermässen. Wider das spricht Pau­ lus. Ir söllen nit wissen die hohen ding, und me dann ir müssen, sunder allein Jesum Chris­ tum den gecrützgeten.“ (Gengenbach: Ware Practica 118,80–87). 205 Vgl. Gengenbach: Ware Practica 119,122–124. 206  Gengenbach: Ware Practica 124,327 f. 207  „Witer spricht er [Fries] yn siner vorred, das er well soliche bewärung nit auß der Bibel nämen (das ist auß der helgen geschrifft). Und spricht witer man söll auch solchen keinen glouben gäben, o was unchristlichen wort sind das.“ (Gengenbach: Ware Practica 119,146–149). 208  „Hat nit Christus gesprochen: Der hymmel und das ärdtrych werden zergon, mine wort aber werden nit vergan. So haben auch die Propheten auß einsprächung deß helgen geysts vyl gewysaget, von der mensch wärdung Jesu Christi, lyden, ufferstentnüß, hymmel­ fart, zuokunfft deß lesten urtheyls. Von den penen der sünden, den goben gottes und der straff der menschen. Esaias von der straff der Juden. Der zuokunfft gottes inn die menscheit, und sinem lyden. Von dem rich der Juden und Israel. Hieremias, von der gefäncknüß der Juden, und der zerstörung der stat Hierusalem. Baruch von den letzsten zyten. Ezechiel von dem val der stat Hierusalem und ir widermachung. Daniel von der beweglichkeit der zyt und der zerstörung Bäl. […] Aber solich ir prophetien und wißsagungen sind wor und offenbar worden.“ (Gengenbach: Ware Practica 119,149–120,164). 209  „Welcher der selben [Ptolemeus, Albumasar und Aristoteles als astrologische Lehrau­ toritäten] acht nimpt, der findt das nit das dritt wort war ist […]. Aber daß wor sy, das sine propheten [die von Fries benannten Autoritäten] undereinander unwarhafft syen, so finden wir das Ptolemeus zuo ettlicher zyt das elfft hauß für das erst setzt inn der stercky, und zu ettlicher zyt den mittel deß hymmels für die andern all. So setzen Messahala und Aboasar den uffgang für. Nun sähen do, wie sy yn den bedütungen der hüser irren, das ein grosser gebrust ist. So irren sy auch inn den naturen der planteten, dann Abenragel und Alchibitius schetzen Venus kalt. Aboasar und Ptolemeus bestätigen sy warm. Also geschicht es auch mit dem Mercurio trachen houpt und trachen schwantz und inn den tripliciteten. Sy sind auch ein ander widerig inn den guotheiten und boßheiten der planeten. So sähen wir daß sy selten eins sind inn den herren deß jars. Darumb dann der spruch Matthei an dysen propheten erfült 204 

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ren naturwissenschaftliche Methoden des „mässen[s]“ und „rächnen[s]“210 vom bedingungslosen Gottvertrauen wegführten und für Gengenbach damit in ei­ nen grundlegenden Konflikt mit dem universellen Anspruch der Bibel gera­ ten 211 – so warnt Gengenbach, „das unß die Astrology und philosophy me füren inn ein irrung dann zuo dem heyl der selen.“212 Gegen die astrologisch behaup­ teten Wirkeinflüsse der Gestirne setzt Gengenbach das Theologumenon von der Alleinwirksamkeit Gottes: Die individuellen Schicksale werden nicht von den Gestirnen, sondern allein von Gott gelenkt.213 Zudem schmälerten etwaige Wirkeinflüsse von Gestirnen die Wirkeinflüsse des Gebets: Durch die astrolo­ gische Berechnung besonders erfolgversprechender Gebetszeiten sieht Gengen­ bach die umfassende Zusage Christi über die Macht des Gebets verachtet.214 Gleichwohl aber hat rechtmäßige Astrologie für Gengenbach eine theologi­ sche Funktion: Sie identifiziert die von Gott gesandten Astralzeichen, mittels derer er die Menschen warnen wolle. Dieses Potential, den Willen Gottes über Gestirnkonstellationen transparent zu machen, verfehlt die zeitgenössische Ast­ rologie aber in fataler Weise. Rechte Astrologie würde die Plantenkonjunktion im Februar 1524 nicht (wie Fries es tat) als gewöhliches Phänomen qualifizieren und die auf horchenden Gläubigen zu besänftigen suchen, sondern derartige wirt, do er spricht: Ein jedes rych yn imm selbs zerteilt, wird zergan.“ (Gengenbach: Ware Practica 120,173–195). 210  Gengenbach: Ware Practica 121,202 f. 211  In diesem Zusammenhang greift Gengenbach das von Fries beigebrachte Beispiel der Heilkunde auf: „Witer spricht er [Fries] yn siner ußteylung, er acht nit vyl uff die natürlichen meister die ir sachen wellen do här bringen (als wolt er sprächen, die ire sachen uff die helge geschrifft setzen und inn den willen gots). Er spricht auch, er erschräck, so er hör das ein artzet meer inn der Bibel läß dann inn Hipocrate, ursach das er muoß ein todtschleger sein. O was unchristenlicher und verzwyffleter wort sind das, weißt er nit das Christus gesprochen hat: Ich bin der wäg das leben und die warheit, welcher yn mich gloubt und wär er todt so wirt er läbendig.“ (Gengenbach: Ware Practica 122,243–253). Nicht allein und aus­ schließlich medizinisches Fachwissen oder materielle Arznei, sondern primär rechtes Gott­ vertrauen wirke Genesung: „Ein solicher artzet, der sine krancken uff das recht läben und den läbendigen brunnen weißt eb er zuo der artzny trit, mit dem ist got und ist imm nüt unmüglich, das thuot der gloub den er zuo got hat, für die krafft der matery, dann es stot geschriben, dem gloubenden ist nüt unmüglich. Das aber war sy, das der gloub an seel und an lyb gsund mach, finden wir clarlich in den geschichte der Aposteln […].“ (Gengenbach: Ware Practica 123,289–296). 212  Gengenbach: Ware Practica 121,231 f. 213  „Wo bliben do Alchibitius, Albumasar, Aristoteles und Plato, die do manchem groß glück zuo sagen, lang läben, groß reichtumb, dem andern unglück und den todt, unnd ist doch als lufft. Dann die kranckheiten kummen nit allwägen uß den anzeigungen oder inflüs­ sen deß gestirns, sunder vyl meer auß dem willen gots, do mit er die sinen zuo imm ziehen will. Auch kumpt die gesundheit allein von dem willen gots.“ (Gengenbach: Ware Practica 123,301–308). 214  „Witer so spricht Albumasar. Ein jeder der do got bit inn der stund so der Mon mit dem Trachhoupt Jupiter zuo gefügt wirt, was dann der selb bittet, das wird er gewärt. Wo blibt dann do der spruch Christi: Alles das ir den vatter bitten yn minem namen, wirt er eüch geben.“ (Gengenbach: Ware Practica 124,341–346).

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V. Zukunftsperspektive

Astralphänomene als Zeichen bevorstehender Strafe deuten und zu Buße und Umkehr mahnen.215 Daher treibe die zeitgenössische Astrologie die Gläubigen in teuflischer Weise von der einzig verlässlichen und absolut hinreichenden Quelle der Zukunftsschau, der Schriftoffenbarung, weg – allein Gott aber ken­ ne die Zukunft und beherrsche die Zeit.216 Bei Gengenbach und Luther bleibt das theologisch verwertbare Potential der Astrologie ungenutzt bzw. verkehrt sich ins Negative, wenn die Astrologen den Zeichencharakter der Astralphänomene bestreiten und die biblisch bezeugten Mahnzeichen Gottes zu gewöhnlichen Naturvorgängen herabwürdigen. Wie Luther oder auch Stifel ausführen, ist die durch die Planetenkonjunktion her­ vorgerufene Beunruhigung der Gewissen heilsam und selbst ein Zeichen der Endzeit 217 – die von der Mehrheit der Astrologen verfolgte Beschwichtigungs­ taktik trage teuflische Züge, da sie die Warnungen Gottes ignorieren lehre. An dem Umstand, dass die Astrologie und ihre Vertreter die nach Luther den Ster­ nen einzig verbleibende Bedeutungsebene als apokalyptische Zeichen völlig verkennen, wird ihre mangelnde göttliche Inspiration und ihre fehlende Geist­ begabung überdeutlich – zur Erkenntnis Gottes und seines Willens tragen sie nichts bei. Luther setzt dabei (wie auch viele andere reformatorische Flugschrif­ tenautoren) die Astrologen pauschal mit Endzeitgegnern gleich.218 In der ast­ rologisch begründeten Enteschatologisierung sieht Luther die größte Gefahr, die von einer fehlgeleiteten Astrologie ausgeht und sie zu einer teuflischen Kunst pervertieren lässt. Diese Einschätzung wird für Luther auch durch den ausufernden Deutungs­ anspruch der Astrologie bestätigt. Die einzige Bedeutungsebene, die den Ge­ 215  „Nun

ir ußerwelten hören ir wol was er [Fries] für propheten hat, dann wären sine propheten war, er wurd worlich diser coniunction warnämen, und got bitten, das sine jndicia nit so vyl fälten, und nit alle jar also umb lon got erzürnen, und die menschen betriegen. Als man das augenschinlich sicht, wie er gantz teütschland getröst hat von den würckungen der zuosamenfügungen inn dem Hornung deß. XXIIII. jars. das man dann leider inn dem XXI­ II. und auch jetz yn dem. XXIIII. gesehen hat, und ist noch nit rächt angefangen. […] Wärest du ein rächter stärnensäher, so ermanest du das volck zuo eir waren penitentz, welche ein rechte hinderstellerinn ist deß zorn gottes.“ (Gengenbach: Ware Practica 124,236–359). 216  „NUn ir ußerwelten in Christo will ich eüch bitten, das ir eüch nit wellen keren an solich unchristenlich aber glouben dyser warsager und Astrologi. Welche do wellen beharren by iren lugenhafftigen propheten und wychen von der helgen geschryfft und den mund göttlichen warheit. Dann der göttlich mund hat unß trewlich gewarnt vor dysen wyßsageren […]. Wir söllen nüt anders leren, unß niemand anderst hin keren, in niemandts glouben, dann allein söllen sine wort unser vergangens, gegenwürtigs und künfftigs sin. Er ist der ,der unß gnoug gewysaget het Luce am. XII. von den letsten tagen. […] Dann er ist der, der do verwandlet die zyt und das alter. Er ist der, der allen dingen sin zyt hat gesetzt, und imm sind kein zyt verborgen.“ (Gengenbach: Ware Practica 125,371–400). 217 Vgl. Stifel, oben 158. 218 Luthers Verdikt scheint (eingedenk der oben dargestellten Position von Seitz) sehr pauschal, deckt sich aber mit dem quantitativen Befund, der sich bei einer Durchsicht der Flugschriften ergibt: Die weit überwiegende Mehrheit der Astrologen wandte sich ausdrück­ lich gegen apokalyptisches Denken.

2.  Innere Kohärenz

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stirnen eigne, sei die Vorzeichenbedeutung. Diese aber fällt zweifellos in den theologischen Bereich, zumal die Astralzeichen für sich genommen nicht hin­ reichend klar sind. Nur die Häufung und die beschleunigte Frequenz der un­ gewöhnlichen Astralphänomene macht diese als Zeichen erkenntlich; aufgrund ihrer – bei isolierter Betrachtung – mangelnden Eindeutigkeit bedürfen sie der Bestätigung durch weitere apokalyptische Zeichen. Erst in der Zusammen­ schau mit anderen Zeichen erlangen die Astralzeichen ihre Evidenz – so haben innerhalb des biblisch verheißenen Zeichensets auch die Astralzeichen ihren Platz, für eine alleinige Begründung der Endzeitdiagnose aber reicht der astro­ logische Erkenntniswert nicht aus. Zwar sind die Astrologen gleichsam Spezia­ listen für die Observanz und Identifikation der Astralzeichen, doch die für apokalyptische Eindeutigkeit erforderliche Zusammenschau der verschiedenen Zeichen kann allein die Theologie sachgerecht leisten. Das einzige nach Luthers Meinung in sich eindeutige und allein hinreichende Zeichen, welches keinerlei flankierender Bestätigung bedarf und damit auch auf den Stellenwert der Teufelsvorstellungen in diesem Zusammenhang verweist, ist die Offenba­ rung des Antichrist: Diese ist einmalig, irreversibel und damit auch absolut eindeutig. Die Prävalenz des Revelationsschemas über die Astralzeichen be­ zeichnet das reformatorisch-theologische Proprium der Zukunftsschau, wel­ ches durch die Astrologie lediglich bestätigt, aber nicht in Zweifel gezogen werden könne. Die astrologiekritischen Flugschriftenautoren konstatieren jedoch einen zu­ mindest potentiellen Erkenntniswert astrologischer Tätigkeit, wenn sie die Gestirne als Kommunikationsmedien Gottes qualifizieren und daher zur Acht­ samkeit auf die Astralzeichen anhalten. Insbesondere die gegenwärtig zu beob­ achtenden Normalitätsdivergenzen müssten als Willensbekundungen Gottes aufgefasst werden, welche allerdings unbedingt einer theologischen Deutung bedürften. Diese z. B. von Luther und Gengenbach vorgetragene zeichentheo­ logische Bedeutsamkeit der Astralphänomene lässt allzu polare Schematisie­ rungen der Forschung, etwa wenn die frühreformatorische Debatte um Für und Wider der Astrologie auf den erkenntnistheoretischen Gegensatz visueller und non-visueller Wirklichkeitserfassungen zugespitzt wird, problematisch er­ scheinen 219 – die visuell-signifikatorische Qualität der Gestirnkonstellationen wird auch von den astrologiekritischen Flugschriftenautoren nicht bestritten, sondern vehement vertreten. Hingegen wird die Annahme einer Wirkmäch­ tigkeit der Gestirne, wie sie die astrologieaffinen Flugschriftenautoren postu­ lieren, strikt verworfen. Damit ist gleichzeitig eine genuin astrologische Prog­ nosekompetenz bestritten, welche von den verschiedenen siderischen Einflüs­ sen auf den Gang der Zukunft schließen zu können suggerierte. Mit der zeichentheologischen Reduktion des astrologischen Prognoseanspruchs über­ 219 

So etwa Robinson-Hammerstein: Battle 147, kritisch Talkenberger: Sintflut 315.

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V. Zukunftsperspektive

wiegt bei Luther und Gengenbach eindeutig der kritische Aspekt, wenngleich sie der Astrologie im Rahmen apokalyptischer Zeichendeutung ein partielles Recht belassen. c)  Antiastrologische Flugschriften Die Grenzen zwischen den astrologiekritischen und den antiastrologischen Flugschriften sind fließend. Die antiastrologischen Flugschriften sind im Duk­ tus deutlich polemischer und angriffslustiger; so ist zum einen die Heftigkeit der Kritik nochmals gesteigert, zum anderen richten sich die antiastrologischen Flugschriften als Gegenpraktiken direkt gegen die Astrologie und machen dies schon im Titel deutlich. Die neu entstehende Literaturgattung der „reformatorischen Gegenprak­ tik“220 formuliert die radikalste Form der Astrologiekritik: Sie übernimmt da­ bei das zumeist stereotype Schema astrologischer Praktiken 221 und bringt die astrologischen Termini gezielt in Gegensatz zu biblischen Topoi.222 Im Unter­ schied zu humanistischen Praktikenparodien zielten die reformatorischen Ge­ genpraktiken nicht auf Erheiterung; es ging ihnen nicht darum, süffisant ledig­ lich die Banalität der astrologischen Praktiken, sondern anklagend deren teufli­ sche Herkunft und Wirkintention zu erweisen.223 Derartige bibliozentrisch motivierte Gegenpraktiken werden in den frühen 1520er Jahren (gleich den Praktiken) zu einer erfolgreichen Textsorte, in der die herkömmliche Astrolo­ giekritik auf die Spitze getrieben wurde. So wird hier nicht nur die Wirkmäch­ tigkeit der Gestirne verworfen, sondern mitunter konnte sogar der Zeichencha­ rakter der Gestirne bestritten und alle Himmelserscheinungen für völlig bedeu­ 220  Die hier als „reformatorische Gegenpraktik“ bezeichnete Literaturgattung ist in der Forschung noch nicht einheitlich bestimmt: Leppin spricht von „Praktikenparodien“, deren Wurzeln im Humanismus liegen (Leppin: Jüngster Tag 177). Doch ist der Begriff der Parodie unzureichend, da es angebracht erscheint, zwischen beabsichtigter Erheiterung und Ernst­ haftigkeit zu unterscheiden. So spricht Pfister sinnigerweise von „Parodie“ und „christlicher Praktik“, da hier jeweils ein anderes Textverständnis maßgeblich ist und ganz andere litera­ rische Techniken zum Einsatz kommen (vgl. Pfister: Parodien 21). Der von Pfister verwen­ dete Begriff „christliche Praktik“ ist jedoch missverständlich, da sich auch astrologieaffine Flugschriftenautoren in ihrem Selbstverständnis als christliche Praktikenschreiber sehen konnten (vgl. z. B. Copp, Seitz, etc.) Daher wird in dieser Arbeit der Begriff der „reformat­ orischen Gegenpraktik“ verwendet, da er die unterlegte Ernsthaftigkeit und den antagonis­ tischen Charakter der reformatorisch-theologischen Praktiken hervorhebt. 221  Zur Normalform von Jahrespraktiken und -prognostiken vgl. Bauer: Sprüche 167– 173. Der Vorlagenbezug der Gegenpraktiken konnte im Detail mehr (wie z. B. bei Wilhlem, unten 320 ff.) oder weniger (vgl. z. B. Kettenbach: Practica, unten 319 ff.) stark ausge­ prägt sein. 222 Eine Gegenpraktik übernimt das Schema herkömmlicher astrologischer Praktiken, ersetzt aber die astrologischen Termini durch christlich-reformatorische (vgl. Talkenberger: Sintflut 306); bei den Gegenpraktiken handelt es sich mithin um ein auf biblische Aus­ sagen gestütztes Alternativkonzept zur stellaren Prognostik (vgl. Pfister: Parodien 168). 223 Vgl. Pfister: Parodien 135; Leppin: Jüngster Tag 191.

2.  Innere Kohärenz

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tungslos erklärt werden. Damit ist dann der Astrologie auch ihre letzte Erkenntnisgrundlage entzogen und jedweder Nutzen abgesprochen. An der oben dargestellten Gegenpraktik von Pastoris wurde die deutlich ge­ steigerte Aggressivität und Rigorosität in der Wendung gegen die Astrologie bereits greif bar. Für Luther war die Kritik der Astrologie stets nur ein Neben­ thema; er hat keine ausgewiesene Gegenpraktik verfasst und sich eher spora­ disch bei der Behandlung verschiedener Themen zur Astrologie geäußert. Zu­ dem vertrat er bei aller Astrologiekritik eine vergleichsweise moderate Haltung, wenn er die Ausübung astrologischer Interessen und Tätigkeiten in seiner nähe­ ren Umgebung dulden konnte, wenngleich er z. B. Melanchthon diesbezüglich auch belächeln mochte.224 Gengenbachs Astrologiekritik ist ebenfalls harsch, doch lässt sich für ihn die Astrologie unter bestimmten Prämissen mit dem christlichen Glauben verbinden, wenn er legitime und illegitime Astrologie dif­ ferenziert.225 Pastoris hingegen sieht die Astrologen, die er pauschal mit den Altgläubigen gleichsetzt, per se als Handlanger des Teufels, die es zu bekämpfen gelte.226 Die Verwerfung der Astrologie als Teufelslehre ist das Hauptthema seiner Gegen­ praktik; die konsequente Abkehr von der Astrologie ist ihm unabdingbare Vo­ raussetzung einer wahrhaft reformatorischen Gesinnung. Duldung oder gar prämissengebundene Akzeptanz und partielle Wertschätzung der Astrologie scheinen bei Pastoris ausgeschlossen – die Beschäftigung mit Astrologie sei brandgefährlich und dürfe keinesfalls verharmlost werden. Die Gegensätzlich­ keit von Astrologie und reformatorischer Theologie durchzieht die gesamte Flugschrift. Gezielt werden astrologische Termini aufgenommen und durch christliche ersetzt. Christus verdrängt die planetaren Jahresherrscher; im Ge­ gensatz zu Jupiter oder Mars regiere Christus nicht nur Jahresweise, sondern „alletzeyt“.227 Diese programmatische zeitliche Entgrenzung begegnet auch in vielen anderen antiastrologischen Flugschriften und bezeichnet einen für Ge­ genpraktiken charakteristischen Topos. Stilbildend in dieser Hinsicht wirkte wohl die von Kettenbach verfasste „Practica“ (1523), eine der ersten reformatorischen Gegenpraktiken. Der Titel formuliert die besagte zeitliche Unbegrenztheit der erneuerten Gottesregent­ schaft und beschreibt einen fundamentalen Herrschaftswechsel: Die Zeit der Astrologie sei abgelaufen, Gott selbst wende sich an die Gläubigen und mache astrologische Betrachtungen obsolet:

224 Vgl. Ludolphy: Luther und die Astrologie 101. Zu Luthers kritischer, aber duldender Haltung gegenüber Melenchthons astrologischen Interessen vgl. auch Jung: Melanchthon 137. 225 Vgl. Gengenbach: Ware Practica 117,40. 226 Vgl. Pastoris, oben 298. 227  Pastoris: Practica A1a.

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V. Zukunftsperspektive

„Ein Practica practiciert, auß / der heylgen Bibel, vff vil zukunfftig / jar, Selig syn die, die jr war nehmen, / vnd darnach richten, Die zeyt ist / hie, dz man solich practica mer / acht hab, dann der astrono= / mey, got will selber regirn / vber seyn volck.“228

Die Schrift allein müsse die Grundlage aller Lebensbereiche und damit auch der Zukunftsschau sein: „[…] so will ich auß derselben schrifft beschryben ein Practicam oder pronosticon vnd die Astronomey farn lassen […].“229 Ketten­ bach verwirft die Astrologie samt der postulierten Wirkmächtigkeit der Gestir­ ne grundsätzlich, auch eine etwaige Zeichenbedeutung der Gestirne wird nicht einmal erwähnt und scheint für Kettenbach ohne Belang zu sein. Die Gegenpraktik von Balthasar Wilhelm, „Practica oder Prenostication auff tzukunfftig tzeythe / auss der heyligen schrifft gerzogenn“ (wahrscheinlich 1524),230 bringt die Astrologie ebenfalls in unüberbrückbaren Gegensatz zum reformatorischen Glauben.231 Wilhelm zieht seine Gegenpraktik nicht „[…] auß der kunste Ptolomej / odder seynes gleichen / die nach der yrrenden ster­ nen / die man Planeten nennet / wirgkungen / nach geduncken / vngewisse sachen vr­ teylen. Sundern auß der heyligen geschrifft die nicht trigen noch felenn kann. Gene. 1. vnd nicht nach den tzeychen des hymels / vnd wirckungen der yrrenden menschen […].“232

Damit erteilt auch er der Existenz siderischer Einflüsse eine radikale Absage, wenngleich er eine mögliche Zeichenbedeutung zugesteht, die freilich allein durch die Schrift entschlüsselt werden könne.233 Die Astrologie als solche aber sei eine gottlose Kunst, die versuche, aus den Gestirnen sie Zukunft zu lesen – ein durch vielfache biblische Belege ausgewiesen schriftwidriges Verfahren.234 Was der Mensch über die Zukunft wissen solle, sei in den biblischen Prophetien 228 

Kettenbach: Practica 178. Kettenbach: Practica 183,21–184,1. 230  Zur Datierungsfrage vgl. Talkenberger: Sintflut 362, Anm.  81. 231  Zu Wilhelm siehe Talkenberger: Sintflut 360–364. 232  Wilhelm: Practica A2b. 233  „[…] darauss gewyslich folgt / das das gestirne nicht wircket vnd Regirt die zukunff­ tigen dinge / Sundern allein zeichen seynn / nicht aller vnd mancherley zukunfftiger sa­ chen / als dan dye Astrologi gemeint vnd gehalten / wie ytzt noch / Sundern der alleyn zu welchen sie got geordnet hat / vnd zu welchen sie got der herr ordnet vnd geordnet hat / kan nyemandts gewiss wissen / dan alleyn auß seynem goetlichen wort / Dan Gott wircket alleyn alle dinge / nach dem rathe seyns willens / yn allen. Ephese. 1.“ (Wilhelm: Practica A2bA3a). 234  „Darumb ab ich wol weyß vnnd abnemen kan / das bey euch als wol als bey vns / souil vnd mancherley Prenostication / von vilen hohengelerten furhanden / wie alle souil vnd mancherley sachen / auß regirunge vnd eynfluß des gestirns / auff gewisse zeyte vnd tage zukunfftig antzeygen vnd vrteylen / ist doch zubesorgen / das sie gewonliche alle / dye werck sie yhre sachen nicht aus goetlicher schrifft grunden / wie die gleyßner Matth. 12. die eusser­ lichen gestaltnis des hymels vnd gestirns / welchs got doch verpoten. Hiere. 10. Gal. 4. Col­ loss. 2. auffmercken vnnd vrteylen / derhalb sie auch der rechten zeychen vnd tzukunfftigen wirckungen felen.“ (Wilhelm: Practica A3a). 229 

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verschriftet; darüber Hinausgehendes ergründen zu wollen, sei wider das Gebot Gottes.235 In einer polemischen Kontrafaktur der astrologischen Konjunktionenlehre sieht Wilhelm in den „grossen Coniunctiones goetliches worts“236 die Zeichen der Endzeit abgebildet. Er benennt fünf Konjunktionen, aus denen klar hervor­ gehe, dass das letzte Strafgericht über den Antichrist und seine Handlanger kurz bevor stehe.237 Besondere Bedeutung kommt auch für ihn der erfolgten Offen­ barung des Antichrist zu, wenn er diese als Zeichen qualifiziert, welches in sich bereits hinreichend sei: „Dye funffte Coniunction vnd aller krefftigest / die alle ander bestetigt vnd erklertt ist / klare außgedruckt. Danielis. 9. vnd 11. Matt. 24. vnd 2. Tessa. 2. capitel / also / wan ir nun sehen werdt / den wusten grewel / das kindt der sunden vnd verderbnus / wer es liset der verstehe es alleynn das der stehet an der heiligen stat / vnd sich vberhebt / vber alles das got vnd gotsdinst heist / ym tempel sitzent als eyn got etc. als dan flyhe wer do kann.”238

Die Offenbarung des Antichrist wird Wilhelm zum evidentesten Zeichen, vor dessen Hintergrund er die Astrologie als teuflischen Irrweg kennzeichnet. Alle biblisch verheißenen und von Gott bereits gesandten Zeichen und Warnungen würden ausgeschlagen und von den Astrologen fehlgedeutet. Da sie ihr Augen­ merk nicht auf Gott richteten, würden sie dem Zorn Gottes nicht entgehen und ihre Strafe empfangen.239 Ein stark antiastrologischer Impetus begegnet auch in einer 1525 anonym erschienenen Flugschrift, die sich im Titel als Gegenpraktik vorstellt und Gott als einzigen wahren Astrologen in Gegensatz zu den irdischen setzt:

235 „Darumb habe ichs alwege darfur gehalten / vnd glaube noch / das noch nye keyn mensche / den sinne / rathe vnnd zukunfftigen willen des herren erkandt hab / odder wer wil in vntter weysen / wir christen aber haben christen sin / den woellen wir erfur tragen / vber das gebueret nyemands nicht weyter zuforschen / als christus selbs sagt Actu. 1. Matthei. 24. Euch geburet vnd gehoeret nicht zu / dye zeyt vnd stuende zu wissen […].“ (Wilhelm: Practica A3a). 236  Wilhelm: Practica A3a. 237  In der ersten Konjunktion benennt Wilhelm die klassichen Endzeitzeichen der Ver­ führung durch falsche Propheten, Kriege, Pest, Teuerung und Erdbeben, zunehmender Ver­ folgung der wahren Christen und irdischer Entzweiung, die allesamt erfüllt seien (vgl. Wilhelm: Practica A3a-A4a). In der zweiten Konjunktion sieht Wihlem die Ankündigung erfüllt, in der Endzeit werden Heuchler und Gleißner auftreten, die ihre Sünden unter Scheinheiligkeit verbergen und Wölfen im Schafspelz gleichen (vgl. A4a-A4b). In der dritten Konjunktion warnt Wilhelm davor, vom wahren Glauben abzufallen und den Teufelslehren anzuhängen, wie es für die Endzeit verheißen ist (vgl. A4b-B1a). In der vierten Konjunktion sieht er die verheißene Zersplitterung durch Sektierer verwirklicht (vgl. B1a). In der fünften Konjunktion schließlich nennt Wilhelm die Offenbarung des Antichrist als das wichtigste Zeichen der Endzeit (vgl. B1a). 238  Wilhelm: Practica B1a. 239 Vgl. Wilhelm: Practica B2a-B3b.

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V. Zukunftsperspektive

„Practica auff das M. D. vnd xxxj. Vnd all nachuolgende Jar / auß der kunst vnd ge­ schrifft der aller hoechsten Astrologi / Gott des himmlischen vatters / vnd Jesu Christi vnsers erloesers / den rechtglaubigen Christen (wider alle practicirer vnd sterngucker) […].“240

Der Gegner rechten Glaubens ist damit klar benannt: Die Astrologen konterka­ rierten die Alleinwirksamkeit Gottes, wenn sie die Gestirne als Einflussfaktoren qualifizieren und ihnen zuschreiben, was allein von Gott ausgehe. Mit dem schöpfungstheologischen Argument, die Fruchtbarkeit der Erde sei bereits vor der Erschaffung der Gestirne gegeben gewesen und könne daher nicht durch letztere beeinflusst sein, lehnt der Anonymus die Wirkmächtigkeit der Gestirne entschieden ab, betont hingegen ihren Zeichencharakter, der freilich allein auf Gott als Urheber verweise.241 Gott selbst verbiete, den Astrologen Aufmerk­ samkeit entgegenzubringen: „Darumb so ermant vns Got nun offt recht im gesatz / das wir nit auff die sterngucker sollen achten vnd warsager […].“242 Die astrologische Wirklichkeitsauffassung widerspreche der christlichen in funda­ mentaler Weise; apodiktisch wird die Kontroverse auf die Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und Astrologie zugespitzt: Rechte Christen erkennen al­ lein und ausschließlich Gott als Lenker der Welt – Astrologen können daher im Verständnis des Anonymus keine Christen sein: „So ich den hoechstenn meyster des gestirns [Gott] in seiner leer vnd schreiben recht erkund / find ich diß jars / vnd hinfürter biß zu end der welt / das die Sonn / Mars / vnd Mercurius regieren werdent / darneben gar nit achten / wz andere auß dem gestirn (die dann ich vor keyn Christen acht) speculieren woellen.“243

Die Erfahrung entlarve die Astrologie als „fabelwerck“, was der Verfasser am Beispiel metereologischer Vorhersagen verifiziert.244 Auch Wohlstand und er­ tragreiche Ernte haben nichts mit den Mondphasen, sondern mit Fleiß und Gesinnung zu tun.245 Die gegenwärtig zu beobachtenden Mondfinsternisse 240 

Practica A1b. am vierden tag schuff er liecht an dz firmament des himmels / eyn gros­ ses / das des tags wer / eyn kleynes der nacht / sonn vnd mon / die sollen sein in zeychen / vnd nit influentz in disse vnderste coerper haben / wie die Philosophi vnd vnsere practicirer biß­ her geschriben / wider disses dz Gott hie sagt / sie sollen sein zeychen / vnd die erde ee frucht­ bar ist gewesen dan dz gestirn geschaffen. Was sie aber nun zeygenn / das schafft er / vnd sie nit. Darumb sie dann nit vrsecher seind der vngewitter in dissen vndersten creaturen / es seien menschen oder frücht / sonder zeychen.“ (Practica A2a). 242  Practica A2a. 243  Practica A2b. 244 „Alle Practicirer haben bißher von dem newen vnnd vollen der zwoelff monaten dapffer / als ob es etwas wors vnd gewiß were / geschriben / in dem kalt / da warm / da naß / in dem feucht. Gott hat ir keynem gesagt / was der Mon halb oder gantz bedeut / ir keyner auch nit sein radtschleger gewest.“ (Practica B2a). 245  „On ir practicirn nimpt der Mon zu / so nimpt er auch wider ab / wie das dann gott geschaffen hat / vnnd gibt hew dem gethier vnd gekreut den menschen. Er ist der da waessert die berg /hiebei steet nitt / im vollen oder halben Mon) er ist der da erfult die erde mit wein 241  „Darnach

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entziehen sich jeder astrologischen Deutung; allein deren vermehrtes Auftreten lässt deren Vorzeichencharakter gewiss erscheinen. Für den Verfasser bleibt jed­ wede Bedeutung von Astralphänomenen dem Menschen ohne Rekurs auf die Auslegungsinstanz der Schrift komplett verschlossen, so sehr dieser sich auch in abenteuerlichen astrologischen Theoriebildungen um Erkenntnis bemühe246 – „Derhalben eyn yeder Christ setz sein hoffnung oder vertrawen nit in menschen kinder / in denen keyn heyl ist.“247 Die vorgestellten Gegenpraktiken unterscheiden sich in ihrer Rigorosität deutlich von den astrologiekritischen Flugschriften, wenn sie Astrologie und Christentum als Gegensätze inszenieren und eine Unterscheidung von legitimer und illegitimer Astrologie strikt ablehnen. In den Astrologen sehen sie die Hauptfeinde des wahren Glaubens, die es zu bekämpfen gelte. Doch können mitunter auch die Gegenpraktiken den Gestirnkonstellationen als Zeichen der Endzeit eine gewisse Bedeutung zuerkennen, jedoch ohne daraus (wie z. B. Gengenbach) einen partiellen Wert astrologischer Tätigkeit abzuleiten – inso­ fern besteht hinsichtlich der Zeichentheorie oftmals lediglich ein gradueller Unterschied zu den astrologiekritischen Flugschriften. Eine nochmalige quali­ tative Verschärfung erfährt die anitastrologische Stoßrichtung der Gegenprak­ tiken indes, wenn selbst eine etwaige Zeichenbedeutung ausdrücklich verwor­ fen und jedweder Erkenntniswert von Himmelsbetrachtungen bestritten wird. Ein Beispiel für diesen radikalsten Typ der reformatorischen Gegenpraktiken liefert Stefan Wacker,248 der sich Ende Januar 1524, gleichsam in letzter Minu­ te, gegen die Vorhersage der vermeintlich bevorstehenden zweiten Sinflut wen­ det und seine Stellungnahme dabei zu einer Generalabrechnung mit jeder Art von Astrologie ausweitet. Der Titel lautet: „Das kain sündfluß werd ausz der hailigen geschrifft probiert vnnd gezogen / zu trostung den schwach glaubigen damit sie sich mügen schützen wider die Astrologos […].“249 Die Astrologie gilt ihm als heidnische Menschenlehre, welche vom Teufel lanciert werde zum Ver­ vnnd brot / on alle aspectus / so der mensch morgens frü auß geet biß an abent an sein werck / far zu acker / sehe / arbeyt (in summa on sorg) es sei der Mon voll oder halb / so wür­ stu frucht haben zur zeit der ernd. Bistu aber faul / so hilfft keyn quartir / thu yeglichs zu seiner zeit in eym guten vertrawen / so wirstu nit verlassen / wie wir im xxxxj. psalmen ha­ ben.“ (Practica B2a-B2b). 246  „Wir haben diß Jar eyn finsterniß im Mon / was sie zeygt / weyß nyemant / darumb ists besser still daruon geschwigen / dann vnnütz ding geplapt / wie dann geschehen wirt von vilen sternguckern. Christus aber sagt also Lu. xxj. zu seinen Aposteln. Am end der welt werden zeychen sein in Sonne vnnd Mon etc. die werden anzeygen eyn schnelle zukunfft des menschen suns in wolcken / mit grosser gewalt zu scheyden die boeck von den schaffen. Der­ gleichen zeychen sind bißher vil gesehen worden / was sie bedeuten sagt dir Christus / vnd frag nit weiter / sunder heb auff dein haupt / vnd sihe / dein erloesung ist nahe […].“ (Practica B3b). 247  Practica B4b. 248 Zur Person Wackers, über den es kaum Informationen gibt, siehe Talkenberger: Sintflut 311 f.; Robinson-Hammerstein: Battle 146 f. 249  Wacker: kain Sündfluss A1b.

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V. Zukunftsperspektive

derben der Christenheit – doch bezeuge die Schrift ganz eindeutig die totale Nichtigkeit der Astrologie: „Wye er dann sagt durch den prophetnn / Jch wil verderben die weyßhait der weys­ sen / vnd den verstand der verstendigen hinweg werffen / Vnd Paulus auch sagt / hatt nit got die klughayt der welt zunichten gemacht / wa sind nun die Astrologi vnd boeß­ künstler / treten sy herfür. Ain forcht hond sy in die arm herd Christi / da kaine ist gepluet on alle maiestat der geschrift […] / nun aber das jr ding gar nicht seye / Woellen wirs mit der hailigen geschrifft zeugen / die dann daz lang versehen hatt.“250

Die Zukunft zu kennen gebühre dem Christen nur soweit, wie Gott ihm Ein­ blick gewährt habe in der Schrift; zudem habe Christus die Erkenntnis des Vaters gelehrt und sich nicht mit irgendwelchen Planetenkonjunktionen be­ schäftigt: „[…] glaub mir Cristo ist mer an der kantnus seines vatters / das jn die menschen erkan­ ten gelegen […] dann an den Coniunctionibus signorum / das ist ann der zusamen fue­ gung der zaichen des himels / So das den Hayden jheniges den Christen gebüren will / vnnd wenn es als guts ding wer ain Astrologum zu seyn / het vns Christus [das] nit verborgen.“251

Astrologische Zukunftsdeutung wird Wacker geradezu zum Ausdruck der Got­ tesferne: Die Heiden setzten ihr Vertrauen auf die Sterne, „Aber vmb vns Christen ist vil ain ander sach  /  wir wissen das got  /  vnd nit Visch / Boeck / Stier / regiert / vnd wir vns in seinen willen setzen woellen / jm allain glauben vnd trawen / machs mit vns wie er woelle / Er hat vns nu von Elementen der welt wie Paulus redt [vgl. Gal 4,3 ff.] erloest.“252

Diese christliche Freiheit gelte uneingeschränkt; die astrologische Praxis der Tagewahl aber verletze die Erhabenheit christlicher Freiheit und sündige wider das erste Gebot.253 Die Verwerfung der Astrologie geht bei Wacker auch mit einer Verwerfung der Zeichentheorie einher. Die große Konjunktion des Jahres 1524 sei völlig bedeutungslos, zumal diese Vorhersage eingedenk des Regenbogenbundes nicht schriftgemäß sei: „[…] frag nit nach was man Practicier vnd pronosticier / wann das thondt die hayden […] / was haben wir mit der grossen Coniunction Saturni vnd Jouis zu thon / was gat 250 

Wacker: kain Sündfluss A2b. Wacker: kain Sündfluss A3a-A3b. 252  Wacker: kain Sündfluss A4a. 253  „[…] so jr nun Christen auß gnaden worden seyndt / solt jr mit sollichen fablen nicht meer wie vor inn der haydenschafft zuthon haben / sonder nun euch der Christlichen freyha­ it gebrauchen / alle tag / monat etc. Was die vnderhaltung leybs betreffendt / vnd erhayschent ist / muß hie vnwar sein das sy sagen / jn abnemen das Mons bey kopffwee verbotten nicht scheren / har abschneyden vnnd dergleychen / hie main ich geben sy der Christlichen freyha­ it ain rure / hye acht ich sünden sy in das gebott gottes / gar schwerlich […].“ (Wacker: kain Sündfluss B1a). 251 

2.  Innere Kohärenz

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mich an der Visch vnd Bock deuettunge / geben für was sy woellen / gott ist yr aller herr / will hinfür sein geschoepff nicht mer mit wasser vertilgen […].“254

Mit dem Zurückweisen selbst des Zeichencharakters der Gestirne ist der Astro­ logie jedweder Erkenntniswert radikal bestritten. Die Astrologie sei aber nicht nur nichtig, sondern teuflisch, da sie von der gebotenen Konzentration auf die Schrift allein ablenke. So habe der Teufel mit dem astrologischen Schrifttum beinahe den Untergang der Christenheit erreicht: „[…] der teüffel hat gar vil mit mancherlay buechern zuwegen bracht / das schier das schiflein Petri mit vndergangenn ist […].“255 – weshalb Wacker rigoros zur Verbrennung astrolo­ gischer Literatur aufruft.256 Wackers Haltung zur Astrologie unterscheidet sich nicht nur in ihrer Rigo­ rosität von der Luthers und anderer Astrologiekritiker: Während diese den Himmelserscheinungen durchaus eine Bedeutsamkeit im Hinblick auf die Zu­ kunftsschau einräumen und sie als Vorzeichen in ihre apokalyptische Gesamt­ deutung einbeziehen, lehnt Wacker jede Bedeutung der Astralphänomene strikt ab. Die Haltung der reformatorischen Bewegungen ist also keineswegs homo­ gen, sondern – wie die vorgestellten Fallbeispiele erwiesen haben – von einer relativen Vielfalt geprägt.257 Ungeachtet der relativen Vielfalt der frühreforma­ torischen Positionen zur Astrologie überwiegen ganz eindeutig die astrologie­ kritischen bzw. antiastrologischen Flugschriften. Die bibliozentrisch begründe­ te Ablehnung der zeitgenössischen Astrologie eint alle diese Flugschriften, wo­ bei sowohl im polemischen Duktus als auch in der Einschätzung einer etwaigen zeichentheologischen Funktionalität der Astrologie deutliche Unterschiede er­ kennbar sind. In der Gesamtbetrachtung ist festzustellen, dass mit dem Auf­ kommen des reformatorischen Bibliozentrismus das bis dato mehrheitlich har­ monische Verhältnis zur Astrologie einer signifikanten Wandlung unterliegt und der Kampf um die Deutungshoheit über die Zukunft in neuartiger Schärfe auf bricht.258 Greif bar wird dieses prekäre Verhältnis zum einen, wenn astrolo­ 254 

Wacker: kain Sündfluss A4b. Wacker: kain Sündfluss B1a. 256  „Daher kumpts nun das vnns Paulus noch ain warnung für helt sprechent / Secht euch für das euch kainer berawbe durch die Philosophey oder menschliche satzunge / Nach den Elementen der welt vnd nit nach Christo / wo wir Christen wrren / vnd nit also / wider dz gebot gottes mit den hayden die nu sich vnnd nit Christum suchen zu schicken heten / wur­ den wyr leychtlich thun wie dann zu Epheso / da die Apostel predigeten geschach [vgl. Apg 19,19] / das man solliche bucher zuhauffen trieg die ausserthalb des glaubens sind geschriben vnd vor gott verdammlich vnd sy mit feür verbrent / das nit so vnzelich selen verfuert wurden […].“ (Wacker: kain Sündfluss B1a). 257  Dies muss gegen die generalisierende Auffassung von Robinson-Hammerstein festge­ stellt werden, vgl. Robinson-Hammerstein: Battle 147–149. 258 Trotz der relativen Bandbreite reformatorischer Positionen zur Astrologie fällt auf, dass die reformatorischen Flugschriftenautoren tendenziell eher und weitaus schärfer Kritik an der Astrologie üben als die altgläubigen Flugschriftenautoren. So vertreten nur wenige 255 

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V. Zukunftsperspektive

gieaffine Flugschriftenautoren wie z. B. Copp zunehmend in Bedrängnis gera­ ten und der Legitimationsdruck enorm ansteigt, wovon Copps Rechtferti­ gungsschrift beredtes Zeugnis gibt; 259 zum anderen bezeichnet die von den reformatorischen Gegenpraktiken formulierte radikale Astrologiekritik eine neue Qualität der Ablehnung. Die astrologiekritischen resp. antiastrologischen Flugschriften formulieren bei ihrer mehr oder weniger radikalen Astrologiekritik zum Teil genuin refor­ matorische Argumente, die auf der spezifisch reformatorischen Zukunftspers­ pektive gründen. Dabei lassen die reformatorisch-theologischen Argumente, die gegen die Astrologie in Stellung gebracht werden, auch eine spezifisch re­ formatorische Charakteristik des Teufels erkennen. 2.1.3  Astrologie als Betrug des Teufels Die Astrologie wird in vielen reformatorischen Flugschriften in umfassender Weise als Betrug des Teufels dargestellt: 260 Die astrologiekritischen Flugschrif­ ten sehen mindestens die zeitgenössische Praxis der Astrologie, die antiastrolo­ gischen gar die Astrologie in ihren Konstitutionsbedingungen als vom Teufel gestiftet. Diese Einschätzung wird in mehrerlei Hinsicht begründet: Zunächst ist das empirische Argument zu nennen: Ein wichtiger Pfeiler der Le­ gitimationsstrategien der astrologieaffinen Flugschriftenautoren ist das Heraus­ stellen hoher Erfolgsquoten und nachweisbarer Zuverlässigkeit ihrer Progno­ sen.261 Sie nehmen das empirische Argument für die Astrologie in Dienst und erklären etwaige Abweichungen mit der paränetischen Funktionalität der astro­ logischen Vorhersagen, aufgrund derer die Menschen ihr Verhalten mitunter besserten und Gott bewegten, angekündigtes Unheil abzuwenden. Die reformatorische Astrologiekritik hingegen dreht das empirische Argu­ ment um: Um dem Anspruch der Astrologen auf Prognosekompetenz entge­ genzutreten, wird häufig auf die Irrtümer der Astrologie und das Nichteintref­ fen vergangener Prognosen verweisen.262 Im Vergleich mit der Prognosekom­ reformatorische Flugschriftenautoren dezidiert astrologische Positionen, die Mehrheit ist der Astrologie gegenüber kritisch bis ablehnend (vgl. Talkenberger: Sintflut 319). 259  Vgl. zu Copp Talkenberger: Sintflut 316.383. 260  Vgl. dazu auch Pfister: Parodien 438. 261 Vgl. Seitz: Warnung des Sündtfluß A3a-A3b, zudem: „Dz bezeügt vns der hoch­ gelert Hartman / der in seiner practica gantz grundtlich vnd gnugsam vor verkundt. vnd die armen treulich warnet vor der grossen truebseligkait des armen Contz im land Wirtenberg. Jtem wie hat auch der wolbegrünt maister hans Haßfurter des aller großmechtigistnn etc. kaysers maximilians tod des vorignn jars in seiner practica getroffnn / auch nit minder des vergangnn jars wird nit der minst Fürst des Reychs on sondere belegerung stet seins lands vertriben etc. ist gnugsam an dem Wirtenberg begangen. Jtem wie gwislich treffent sy alle jar on fälens bey ainen punctnn die finsternuß vnd Comenten auch gar recht practicirt des aller durch leichtigisten großmechtigisten künig Philipsen tod auß dem Cometen des vj. jars.“ (Seitz: Warnung des Sündtfluß A4a-A4b). 262  Vgl. z. B. Gengenbach: Ware Practica 120,173–195.

2.  Innere Kohärenz

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petenz biblischen Offenbarungswissens werde die Kontingenz der Astrologie vollends ersichtlich.263 Doch versuche der Teufel mit beklagenswertem Erfolg, die Astrologie als zuverlässig erscheinen zu lassen; sie gilt der reformatorischen Astrologiekritik als Instrument des Teufels, die Menschen mit der Suggestion konkreter Zukunftsschau vom wahren Gotteswort abzubringen.264 Allerdings kann mitunter auch eingeräumt werden, dass manche Prognosen tatsächlich eingetroffen seien, doch wird dies nicht den astrologischen Erkenntnisprinzipi­ en, sondern entweder dem Zufall – oder gar dem Teufel zugeschrieben: Er sorge dafür, dass manche Prognosen eintreffen, um die Astrologie als seriöse und wahrhaftige Lehre erscheinen zu lassen.265 Neben dem empirischen begegnet immer wieder auch das paränetische Argument: Wie erwähnt, reklamieren viele Astrologen eine gesteigerte paränetische Funktionalität für ihre Vorhersagen, die ob ihrer Konkretheit stark handlungs­ leitend seien. Dagegen wird festgehalten: Rechte Christen bedürften keiner konkreten Schreckensszenarien als Menetekel zur moralisch-ethischen Verant­ wortlichkeit, im Gegenteil: Wer wahrhaft auf Gott vertraue, brauche nichts zu fürchten, weshalb Furcht niemals die Grundlage wahrhaft christlichen Han­ delns sein könne.266 Vor allem aber sei die paränetische Wirkung astrologischer Vorhersagen fatal, da sie die Gefahr der Pseudo-Rechtfertigung von sündhaftem Verhalten berge. Die Bereitschaft zur Sünde entstehe im Innerern des Menschen und nicht durch äußere Einflüsse, weshalb das Konstatieren von Gestirneinflüs­ sen die Verantwortlichkeit des Menschen für die Sünde eintrübe und folglich eine unzulässige Entlastung des Menschen bedeute.267 Die Ansprechbarkeit des Menschen auf die Sünde werde daher nicht von wechselnden Gestirnkonstella­ tionen hervorgebracht, sondern liege in seiner wesenseigenen Disposition zur Sünde begründet. So wird die Astrologie als Angebot des Teufels gedeutet, der Verantwortung für die eigene Sündhaftigkeit zu entfliehen. Damit verhindere der Teufel, dass die Menschen ihrer Erlösungsbedürftigkeit gewahr werden, deren Erkenntnis Voraussetzung für die Ankunft des Glaubens sei. Während das empirische und das paränetische Argument noch als allge­ mein-christliche Argumente gelten können, so formulieren die Flugschriften zudem spezifisch reformatorische Argumente, denen sie besonderes Gewicht beimessen: Ein genuin reformatorisches Argument ist das hermeneutische Argument von der Suffizienz der Schriftoffenbarung: In der Schrift sei alles, was der Mensch über die Zukunft wissen könne und solle, enthalten; darüber Hinaus­ gehendes, etwa die durch die Astrologen behauptete Zusatzoffenbarung der 263 

264 

Vgl. z. B. Gengenbach: Ware Practica 119,149–120,164. Vgl. z. B. Pastoris, oben 298 ff. vgl. auch z. B. Gengenbach: Ware Practica 121,

202 ff. 265 Vgl. Pfister: Parodien 454. 266  Vgl. z. B. WA 10,1.2; 109,29–110,11. 267 Vgl. Talkenberger: Bewegung 30 mit Belegen; Dies.: Sintflut 286.

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V. Zukunftsperspektive

Gestirne, sei nicht nur haltlos, sondern teuflisch, da suggeriert werde, die Schriftoffenbarung sei ergänzungsbedürftig und in sich nicht hinreichend. So gerieten reformatorisches Schriftprinzip und die Behauptung einer astrologi­ schen Zusatzoffenbarung in einen unüberbrückbaren Gegensatz. Es liegt mit­ hin in der Konsequenz der hermeneutischen Exklusivität des Schriftprinzips begründet, dass die reformatorische Astrologiekritik nicht nur überkommene Argumente z. B. patristischer Astrologiekritik 268 repetiert, sondern eine neuar­ tige Brisanz und Schärfe annimmt. Die Schrift sei eben nicht eine unter vielen (womöglich auch noch gleich- oder gar höherwertigen) Quellen der Zukunfts­ schau – sie sei die einzige Autorität, nach der es sich zu richten gelte; dabei stehe sie nicht neben, sondern gegen Autoritäten paganer Menschenlehren.269 Vor dem Hintergrund des Schriftprinzips bediene die Astrologie zudem eine unstatthafte Neugier, wenn zu ergründen versucht werde, was Gott nicht preis­ gegeben habe. Gott wolle seine Geheimnisse gewahrt wissen, daher stehe es dem Menschen nicht zu, über das in der Schrift Geoffenbarte hinaus Kenntnis­ se von Zukünftigem zu erlangen. Der astrologische Wissensdrang gilt als eitel und stehe in enger Beziehung zum Hochmut.270 Mit diesem Vorbehalt nehmen die Flugschriftenautoren einerseits überkom­ mene astrologiekritische Traditionslinien auf, verleihen ihnen andererseits aber auch eine spezifisch reformatorische Ausrichtung: Schon in z. B. Thomas von Aquins Lehre von der Divination reizt und befördert der Teufel den Hochmut des Menschen hinsichtlich der Zukunftsschau; dabei unterscheidet der Aquina­ te – ähnlich den astrologiekritischen Flugschriftenautoren – zwischen wahrer und falscher Astrologie.271 Neben der hermeneutischen Exklusivität des Schriftprinzips besteht der Unterschied zu reformatorischer Astrologiekritik aber vor allem in der Haltung zur Apokalyptik: In reformatorischer Lesart nimmt der Teufel die Astrologie vorrangig in Dienst, um die Endzeitgewissheit zweifelhaft werden zu lassen – diese apokalyptisch motivierte Astrologiekritik stellt ein eigenständiges Moment reformatorischer Argumentationsmuster dar und kann in den antiastrologischen Positionen der reformatorischen Flugschrif­ tenlandschaft weit über die traditionelle Astrologiekritik hinausgehende Aus­ formungen annehmen. Während die Astrologie genaue Auskünfte über die Zukunft erteilen zu kön­ nen beanspruchte, hielt sich die bibliozentrisch-apokalyptische Zukunftsschau – abgesehen von der Ankündigung des Endes an sich – in aller Regel mit exak­ ter Prognostik zurück.272 268  Zur patristischen Astrologiekritik und deren frühneuzeitlicher Rezeption siehe Pfister: Parodien 446 ff. 269  Vgl. dazu auch Talkenberger: Sintflut 314; Robinson-Hammerstein: Battle 149. 270  Vgl. dazu auch Pfister: Parodien 412 f., 432. 271  Vgl. z. B. Linsenmann: Die Magie bei Thomas von Aquin 331 ff. 272 Vgl. Leppin: Jüngster Tag 181. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt Stifel dar, vgl. oben 152.

2.  Innere Kohärenz

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Dieser signifikante Unterschied in der Konkretisierung der Zukunftsschau wird der Astrologie immer wieder zum Vorwurf gemacht und stattdessen Ver­ trauen in Gottes Vorsehung eingefordert. Die Astrologie aber sei zu dergestalti­ gem Gottvertrauen nicht willens und missachte den göttlichen Wissensvorbe­ halt, wenn sie fürwitzig die Grenze dessen, was Gott verborgen habe, über­ schreite. Diesen menschlichen Fürwitz zu reizen, sei das Werk des Teufels, der die Menschen mittels der Astrologie dazu verleite, sich über Gottes Willen hin­ wegzusetzen und sich so seinen Zorn zuzuziehen.273 Der Teufel stelle mit der Astrologie vermeintliches Zukunftswissen zur Verfügung und kolportiere da­ mit implizit die Insuffizienz der Schriftoffenbarung, wenn er die Gestirne als Ergänzungsoffenbarung erscheinen lässt, ohne die Gott nicht vollgültig erkenn­ bar sei. Damit ordnet sich das Angebot der Astrologie ein in die reformatori­ scherseits immer wieder konstatierte Strategie des Teufels, die Schrift als exklu­ siven normativen Referenzhorizont zu entwerten und die Gläubigen an falsche Offenbarungsquellen zu verweisen. Das neben dem hermeneutischen gewichtigste astrologiekritische Argument ist das Prädominanz-Agrument, welches in seiner konkreten Ausgestaltung eben­ falls ein spezifisch reformatorisches Gepräge erhält: Der Astrologie wird vorge­ worfen, dass sie (entgegen den anderslautenden Beteuerungen ihrer Befürwor­ ter) letztlich ein auf mechanistischen Kausalitäten beruhendes Weltbild vertre­ te, welches in der Konsequenz die Prädominanz Gottes über die natürlichen Abläufe in der Praxis quasi ausschloss.274 Das deterministische Weltverständnis, welches den Astrologen zugeschrieben wurde, schmälere die Alleinwirksam­ keit Gottes und schien mit einem bibliozentrischen Weltverständnis unverein­ bar. Die zumindest latent theologieunabhängige Zunkuftsdeutung der Astrolo­ gie wurde als Verstoß gegen das erste Gebot betrachtet: 275 Das naturwissen­ schaftliche Kausalitätsschema, auf welches sich die Astrologie berief, kam tendenziell ohne eine den natürlichen Abläufen beigelegte Bedeutung durch Gott aus und stand der Anerkennung Gottes als des einigen Herrn damit scheinbar entgegen.276 Der gubernator-Gedanke, der auch den astrologieaffinen Flugschriftenauto­ ren zur Legitimation dienen konnte,277 wurde von der reformatorischen Astro­ logiekritik gegen immanent-kausale Welterklärungsmuster in Stellung ge­ bracht: Zum einen, wenn Gott die Durchbrechung der Naturgesetze wirkt und damit naturwissenschaftlich orientierte Erklärungmuster grundsätzlich in 273 

Vgl. z. B. Pastoris, oben 298 ff. für ein quasi-deterministisches Welt- und Menschenverständnis stehen die Ausführungen von Seitz, vgl. Seitz, oben 305 f. 275 Vgl. Ludolphy: Luther und die Astrologie 105. Vgl. auch z. B. Wacker: kain Sündfluss B1a. 276  Vgl. dazu auch Leppin: Jüngster Tag 190 f. 277  Vgl. oben 310. 274 Beispielhaft

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V. Zukunftsperspektive

Zweifel gezogen sind, zum anderen aber auch, wenn Gott die natürlichen Ab­ läufe geschehen lässt und eben diese Zulassung seine Superiorität erweist – in jedem Fall könne die Bedeutung von Astralphänomenen nicht von ihrer schein­ baren Eigendynamik, sondern allein von Gott her erschlossen werden. Gegen den Verdacht der Verabsolutierung von Astralwirkungen stellen die astrologiekritischen Flugschriftenautoren die Lehre von der Willensfreiheit he­ raus – diejenige des Menschen, vor allem aber diejenige Gottes, der in seiner Souveränität und Freiheit nicht durch sogenannte „zweite Ursachen“, die Wirkmächtigkeit der Sterne, eingeschränkt sei.278 Zukünftige Ereignisse müssten daher nicht auf den Einfluss der Sterne und Planteten, sondern auf den Willen Gottes zurückgeführt werden, der allein den Menschen im Blick habe und dabei sein Handeln nicht „zweiten Ursachen“ unterwerfe – die Anordnung der Gestirne stehe „[…] inn dem gewalt gottes, welcher allein das gantz firma­ ment richt nach den sünden und der buoß.“279 In diesem Zusammenhang begegnet auch das reformatorische Theologume­ non von der Unmittelbarkeit der Beziehung von Gott und Mensch wieder: Gott tue seinen Willen direkt und jedermann kund; dabei binde sich Gott we­ der an klerikale Mittlerinstanzen noch an stellare Zweitursachen. Die Sterne seien eben nicht, wie z. B. bei Seitz,280 „Amtleute Gottes“, von ihm mit gewis­ sen Befugnissen ausgestattet zur Erledigung seiner Geschäfte. Weder bedürfe die Schriftoffenbarung etwaiger Zusätze oder Ergänzungen, noch benötige der Gemeine Mann irgendein astrologisches Spezialwissen, um Gottes Willen ent­ schlüsseln zu können: Gott wende sich in der Schrift vollgültig und unmittelbar an alle Gläubigen.281 Durch die mechanistische Kausalitätsgläubigkeit der Ast­ rologen sehen die astrologiekritischen Flugschriftenautoren Theorie und Praxis der Offenbarung durch Gott negiert.282 Die direkten Zuwendungen zum Men­ schen und die an ihn gerichteten Willensbekundungen Gottes bezeichnen un­ aufgebbare Axiome reformatorisch-theologischen Welt- und Wirklichkeits­ verständnisses und reichen in den Kern reformatorischer Glaubensidentität. Wie hochgradig gefährdet die lebendige Beziehung von Gott und Mensch erschien, spiegelt sich auch in dem Vorwurf, die astrologischen Theoreme ent­ werteten massiv die Macht des Gebets. Z. B. die astrologische Tagewahl oder die genaue Berechnung günstiger Gebetszeiten suggeriere, der Beeinflussung durch die Gestirne komme größere Wirkmächtigkeit zu als Gottes umfassender 278 

Zu der Qualifikation der Gestirne als Zeitursachen vgl. Zambelli: Geschichte 345 f. Gengenbach: Ware Practica 117,34–37. 280 Vgl. Seitz, oben 305 f. 281  Vgl. z. B. den Titel von Kettenbachs Gegenpraktik: „Die zeyt ist / hie, dz man solich [schriftgegründeter, christlicher] practica mer / acht hab, dann der astrono= / mey, got will selber regirn / vber seyn volck.“ (Kettenbach: Practica 176). 282 Vgl. die Kontrovese zwischen dem Astrologen Fries und Gengenbach, vgl. oben 312 ff. 279 

2.  Innere Kohärenz

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Gnadenzusage an den ehrlichen Beter.283 Der direkten Ansprache Gottes durch den Beter und der bedingungslosen Zuwendung Gottes zum Beter werden si­ derische Einflüsse zwischengeschaltet, womit in der Konsequenz eine scharfe Alternative verbunden ist: Entweder kommt dem Einfluss der Gestirne eine gewisse Notwendigkeit zu, dann wird Gottes Souveränität und Freiheit sideri­ schen Einflüssen untergeordnet und dem Gebet tendenziell die Relevanz abge­ sprochen, oder aber die siderischen Einflüsse sind nicht existent oder lediglich kontingent, was wiederum die Prognosefähigkeit der Astrologie grundsätzlich zweifelhaft werden ließe.284 Wie bereits dargelegt, fand die allgemeinreformatorisch herausgestellte neue Unmittelbarkeit zu Gott ihre komplementäre Entsprechung in einer neuen Un­ mittelbarkeit zum Teufel: 285 Auch der Teufel handelt mit den Menschen auf ganz direkte Weise, weshalb auch bei der Abwehr des Teufels jeder Christ selbst verantwortlich ist – wie der Glaube an Gott ist auch der Teufelskampf unver­ tretbar. Diese Unmittelbarkeit zum Teufel wird in ihrer Radikalität jedoch in dem Maße abgeschwächt, je mehr Einfluss den Gestirnen zugeschrieben wird. Bei seiner Einflussnahme auf den Menschen bindet sich aber auch der Teufel nicht an Gestirnkonstellationen – der Erfolg des Teufels beim Angriff auf den Menschen hänge nicht von den Sternen ab, sondern von der Glaubensstärke der Menschen und dem Zuspruch Gottes. So werden sowohl Gott als auch der Teu­ fel als sich mitteilende Gegenüber des Menschen und die lebendige Beziehung, die sie zu den Menschen pflegen, von der astrologisch-naturalistischen Kausali­ tätsgläubigkeit in fataler Weise verkannt. Dies musste insbesondere mit dem reformatorischen Zeitverständnis kollidie­ ren, da gerade die reformatorischen Bewegungen das Eingreifen Gottes wie das des Teufels in der eigenen Gegenwart sich ereignen sehen. Genau jetzt greife Gott zum Heil der Menschen ein und verändere den Lauf der Welt und der Geschichte. Auch der Teufel greift zur Verteidigung seines Reiches spürbar in die Geschicke der Welt ein, ist ebenfalls ein handelnder Akteur – freilich nur innerhalb des Spielraums, den Gott ihm gewähre. Die reformatorischen Topoi von der Wiederentdeckung der Offenbarung und der Provokation des Teufels zeugen von einer direkten Begegnung der Gläubigen mit Gott und Teufel in der unmittelbaren Gegenwart. Die Astrologie und ihr quasi-deterministisches Weltverständnis aber lasse Gott als bloßes Postulat erscheinen und stehe damit im Dienste des Teufels, der so einen Keil zwischen die lebendige Beziehung von Gott und Mensch treiben 283 

Vgl. z. B. Gengenbach: Ware Practica 124,341–346. dazu Leppin: Jüngster Tag 195. In den Flugschriften der frühen Reformations­ zeit schwingt diese Alternative oft nur implizit mit, ohne in dieser Konsequenz artikuliert zu werden. Die grundsätzliche Konkurrenz von astrologischer Praxis und Gebetspraxis ist in der reformartorischen Astrologiekritk jedoch allerorten zu spüren. 285  Vgl. oben 254 ff. 284  Vgl.

332

V. Zukunftsperspektive

wolle. Durch das Herausstellen siderischer Einflüsse wolle der Teufel das Heils­ handeln Gottes wie sein eigenes Unheilshandeln herunterspielen und so die von ihm selbst ausgehende Bedrohung verharmlosen. Weder Gott noch der Teufel seien jedoch bei der Umsetzung ihres Handelns auf begünstigende Gestirnkon­ stellationen angewiesen. Durch die alleinige Aufmerksamkeit auf mechanistische Kausalitäten und die Zwischenschaltung von Zweitursachen werde Gott tendenziell von der Welt und den Menschen abgerückt; doch sei sein Eingreifen kein universalgeschicht­ licher Sonderfall, der mithin mit dem gegenwärtigen Leben des Einzelnen nichts zu tun habe, sondern im Gegenteil in der unmittelbaren Gegenwart ganz dirket erfahrbar. Das Eingeifen Gottes wie des Teufels dürfe also nicht (wie es den Astrologen unterstellt wurde) als bloße Potentialität abgetan, sondern müs­ se als gegenwärtig sich vollziehende Realität angesehen werden. Durch dieses gegenwärtig sich ereignende Eingreifen Gottes wie des Teufels ist der Progno­ seanspruch der Astrologie grundlegend dasavouiert. Zwar gebe es natürliche Gesetzmäßigkeiten, nach denen Gestirnkonstellationen berechnet werden könnten, doch stehe das Naturgesetz unter dem grundsätzlichen Vorbehalt des jederzeit möglichen Eingreifens Gottes. Wenn Gott aber jederzeit in den natür­ lichen Ablauf eingreifen und ihn abändern kann, ist der Erkenntniswert des naturalistischen Kausalitätsprinzips hinsichtlich der Zukunftsschau stark relati­ viert bzw. gänzlich hinfällig. So besitzt das Zugeständnis normalerweise gelten­ der Kausalitäten nur ein sehr begrenztes Ausmaß, „[…] insofern die beständige Möglichkeit der Durchbrechung der Kausalität durch Gott die Zulassung des Wirkens eben dieser Kausalität durch Gott zu einem je aktuellen Ereignis macht und so die Berechenbarkeit der Welt durch naturwissenschaftliche Mo­ delle ganz grundsätzlich in Frage stellt.“286

Zu einem genuin reformatorischen Argument wird dieser Vorbehalt des göttli­ chen Eingreifens, wenn es vor dem Hintergrund der reformatorischen Endzeit­ gewissheit eine zeitbezogene Zuspitzung erfährt: Die Prädominanz Gottes über die Naturgesetzmäßigkeiten gelte insbesondere für die Endzeit, für die ja die Durchbrechung der Regularitäten biblisch angekündigt ist – mit der heilsge­ schichtlichen Verortung der reformatorischen Gegenwart als Endzeit musste also auch die astrologische Prognosekompetenz obsolet werden. Dies liegt zum einen an der oben erwähnten apokalyptischen Zeichentheo­ rie, die aus Lk 21,25 abgeleitet wurde: Die Astralzeichen, die das Ende ankün­ digen sollen, müssen ja auch für die Menschen als solche erkennbar sein und also über die gewöhnlichen Abläufe und Regularitäten hinausgehen.287 Für den Zeichencharakter ist daher die Durchbrechung der Regularitäten konstitutiv; 288 286 

Leppin: Jüngster Tag 194 f. Vgl. auch Leppin: Jüngster Tag 198. 288  Auch die Häufung und Beschleunigung kann den Astralphänomenen Zeichencharak­ 287 

2.  Innere Kohärenz

333

allein die Normalitätsdifferenz verleihe den Gestirnen eine Zeichenbedeutung, indem Gott sie in seinem intentionalen Handeln als Verweissystem in Dienst nehme. Wenn aber die Regularitäten, auf denen die astrologischen Vorhersagen beruhten, außer Kraft gesetzt werden, ist der Astrologie ihre Erkenntnisgrund­ lage genommen; sie kann nur noch die Abweichung bemessen, aber keine Pro­ gnosen mehr stellen. Zum anderen implziert die Endzeitdiagnose die Erwartung einer eminenten Veränderung der Welt eben durch das Ende der Welt, so dass vor dem Hinter­ grund der reformatorischen Selbstverortung inmitten der bereits angebroche­ nen Endzeit der Glaube an Regularitäten schwer erschüttert sein musste.289 Die durch die apokalyptische Erwartungshaltung der Weltveränderung bedingte umfassende Relativierung naturgesetzlicher Regularitäten verweist auf einen besonderen Zusammenhang von reformatorischer Apokalyptik und Astrologie­ kritik: Die reformatorische Endzeiterwartung trieb die Weltbildkonkurrenz zur naturwissenschaftlich orientierten Astrologie auf die Spitze und bezeichnet im Unterschied zur herkömmlichen Astrologiekritik die aus dem apokalyptischen Impetus der Weltveränderung hervorgehende Spezifik reformatorischer Astro­ logiekritik.290 Auf der Grundlage dieses apokalyptischen Arguments konnte man sogar das empirische Argument der Astrologen gelten lassen, ohne eine gegenwärtig ge­ gebene Relevanz der astrologischen Zukunftsschau konstatieren zu müssen: Selbst wenn also der Astrologie empirisch gesehen eine gewisse Aussagekraft zugestanden werden konnte, so musste sie doch, je näher es dem Ende zugeht, an Plausibilität und Zuverlässigkeit einbüßen. Wie an den angegangenen apo­ kalyptischen Astralzeichen ersichtlich sei, setzte Gott in der Endzeit die natür­ lichen Regularitäten außer Kraft – weshalb die Astrologen sie weder vorhersa­ gen noch deuten könnten.291 Zwar konnte die Astrologie (zumindest poten­ ziell) im Rahmen apokalyptischer Zeichenbeobachtung eine gewisse theologische Funktionalität, gleichsam als apokalyptische Warninstanz, behal­ ten, indem sie die astralen Vorzeichen als solche identifizieren helfen könne, ter verleihen, obschon die Phänomene an sich natürlichen Charakter tragen und aus der Vergangenheit bekannt sind, vgl. dazu Luther, oben 281 ff. z. B. in Bezug auf Sonnen- und Mondfinsternisse. 289  Vgl. auch Leppin: Jüngster Tag 198 f. 290 Das fehlende apokalyptische Bewusstsein der Altgläubigen könnte ein gewichtiger Grund dafür sein, dass sich das Verhältnis altgläubiger Theologie zur Astrologie oftmals deutlicher harmonischer darstellt und die altgläubige Astrologiekritik zumeist eher moderat ausfällt. 291 Vgl. Luther: „Auch wie viel tzeychen und wunder sind alleyn diße vier iar am hymel ersehen, alß sonnen, mond, sternen, regenbogen, und viel ander selltzame bilde? Lieber, laß es tzeychen seyn, und grosse tzeychen, die ettwas grosses bedeutten, wilche auch die stern­ meyster unnd fraw hulde nit mag sagen das sie auß naturlichem laufft sind komen, denn sie haben tzuvor nichts davon erkandt noch weyßsagt. […] Solcher hauffe tzeychen will etwas grossers bringen, denn alle vornunfft denckt.“ (WA 10,1.2; 105,1–12).

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V. Zukunftsperspektive

doch nehme ihre Prognosefähigkeit mindestens in dem Maße ab, in dem die Welt auf ihr Ende zuschreite. Bezüglich der Transparenz des göttlichen Wir­ kens kann die Astrologie mitunter den Wert einer theologischen Hilfswissen­ schaft erhalten, ein eigenständiger Deutungsanspruch über die künftigen Ge­ schicke der Menschheit ist ihr jedoch eindeutig bestritten. Zudem erlangten die Astralzeichen nur in der Zusammenschau mit weiteren Zeichen Klarheit und stellten lediglich einen kleinen Teilbereich des biblisch verheißenen Zeichensets dar – die Vorhersage anderer vom nahen Ende kündender Zeichen liege ohne­ hin außerhalb der astrologischen Kompetenz.292 Innerhalb der beanspruchten theologischen Deutungshoheit über die Zu­ kunft kam den reformatorischen Teufelsvorstellungen eine zentrale Bedeutung zu: Nicht die astrologischen Phänomene selbst, sondern die allein auf Bibelexe­ gese gründende theologische Bemessung der Teufelsmacht und die damit eng zusammenhängende Offenbarung des Antichrist gibt Auskunft über die Dauer der Zukunft und liefert zugleich das hintergründige Erklärungsmodell für die astrologischen Phänomene. Die fundamentalen Veränderungen im reformatori­ schen Zeitverständnis, die Interpretation der eigenen Zeit als Endzeit, hatte somit direkte Folgen für das Verhältnis zur Astrologie und wirkte sich als im­ plizite Astrologiekritik aus. Die reformatorische Spezifik der Zukunftsperspek­ tive, die Endzeitgewissheit, bedeutete gleichsam eine heilsgeschichtlich-eschato­ logisch begründete Verwerfung astrologischer Prognosekompetenz. Die Rolle des Teufels erhält in diesem Zusammenhang ebenfalls ein spezi­ fisch reformatorisches Gepräge: Er tritt auf als derjenige, der mit allen Mitteln die Endzeitdiagnose konterkarieren will. Als Endzeitleugner bediene er sich der Astrologie, deren Vertreter in der weitüberwiegenden Mehrheit das apokalyp­ tische Denken ablehnten. So benutzt z. B. bei Luther der Teufel die astrologi­ schen Lehren, um die Gläubigen die von Gott gesandten Zeichen der Endzeit als natürliche Phänomene missdeuten zu lassen. Damit pervertiert die Astrolo­ gie zum Instrument des Teufels, mittels dessen er die Gläubigen über die Zei­ chen der Zeit hinwegtäuschen wolle und sein Ziel der apokalyptischen Desen­ sibilisierung vorantreibe: Er versuche unter Indienstnahme der Astrologie die Zukunftsperspektive zu verlängern, um den Bekehrungsdruck abzuschwächen und ein falsches Sicherheitsgefühl zu kolportieren.293 Mit der astrologisch be­ gründeten Negation der Endzeiterwartung wolle der Teufel vor allem das ein­ zige in sich eindeutige apokalyptische Zeichen, die Offenbarung des Antichrist, 292  So

z. B. im Falle des „Papstesels“: „Szo wird auch keyn sternkundiger thuren sagen, das des hymels laufft habe vorkundiget das schrecklich thier, das die Tyber zu Rom tod auß­ warff fur kurtzen iaren. Wilchs hatte eyn esells kopff, eyn frawen brust und bauch, eyn Elephant fuß an der rechten hand, unnd fischschuepen an den beynen, unnd eyn trachenk­ opff am hyndersten etc., darynn das Bapstum bedeuttet ist, der grosse gottis tzorn und straf­ fe.“ (WA 10,1.2; 105,6–11). 293  Vgl. oben 282 ff.

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zweifelhaft erscheinen lassen bzw. es gänzlich verwerfen. In reformatorischer Wahrnehmung ist es das primäre Bestreben des Teufels, die Gläubigen über die wahre heilsgeschichtliche Situation zu täuschen und das letzte Gnadenangebot Gottes ins Leere laufen zu lassen.

2.2  Rasante Zukunft: Die Verzeitlichung der Apokalypse Mit dem massiven Hervortreten der reformatorischen Apokalyptik ging ein fundamentaler Wandel des Zeitbewusstseins einher. Insbesondere im Medium der Flugschriften artikuliert sich eine neue, spezifisch reformatorische Zeiter­ fahrung und -wahrnehmung, die mit derjenigen der Altgläubigen in scharfe Konkurrenz trat. Bei aller binnenreformatorischen Unterschiedlichkeit lässt sich dabei eine innere Kohärenz des reformatorischen Zeitbewusstseins kontu­ rieren, auf deren Grundlage sich das moderne Zeitverständnis im Sinne einer Linearität und Beschleunigungserfahrung herausbildete. Die Reformation wird so zum Ausgangspunkt eines genuin neuzeitlichen Verständnisses von Zeit – ein Umstand, der in seiner Bedeutung für die Ent­ wicklung der modernen Zeitwahrnehmung oftmals unterschlagen wird, wenn in diesem Zusammenhang vor allem auf Renaissance und Humanismus als den entscheidenden Etappen auf dem Weg zur Moderne verwiesen wird.294 Gegen Behauptungen wie etwa die Wendorffs, dass „aus dem theologischen Gehalt des Luthertums keine wesentlichen Impulse für ein Zeitbewußtsein im Sinne […] linearen und gerichteten Zeitsinns […]“295 hervorgegangen seien, bleibt festzu­ halten, dass gerade in dem theologischen Gehalt der reformatorischen Bewe­ gungen (insbesondere der Apokalyptik) die Wurzeln des modernen Zeitemp­ findens liegen: Die gewandelte Zeiterfahrung hängt dabei untrennbar mit der spezifischen Charakteristik der reformatorischen Teufelsvorstellungen zusam­ men – die Reflexionsgestalt des Teufels wird zum Konstituens einer neuen, spezifisch reformatorischen Zeiterfahrung, welche späterhin in säkularisierter Form in ein modernes Zeitbewusstsein mündet. 294  In einschlägigen Überblicksdarstellungen zum Zeitbewusstsein bleibt die Reformati­ on entweder gänzlich unbeachtet (siehe z. B. LeGoff: Geschichte und Gedächtnis 38 ff.) oder wird einem (spät-)mittelalterlichen Zeitbewusstsein zugerechnet und damit in gezielten Kontrast zur Moderne gerückt: Wendorff beispielsweise sieht sich die Umwertung des Zeit­ bewusstseins in der Renaissance vollziehen und betont ausdrücklich, dass die Reformation – namentlich Luther – einem mittelalterlichen Verständnis verhaftet bleibe (vgl. z. B. Wendorff: Zeit und Kultur 151 ff.; besonders 167: „Er [Luther] wollte nicht ‚modern sein‘ wie die Renaissance […]. Man muß sich diese Situation kurz vergegenwärtigen, um zu verste­ hen, daß durch Luther zunächst keine renaissancehafte Umwertung des Zeitbewusstseins erfolgt, daß vielmehr mittelalterliche Denkkategorien in ihm weiterleben.“). Die Bedeutung des reformatorischen Beitrags zur Entwicklung des modernen Zeitbewusstseins ist erst von Goertz angemessen gewürdigt worden (siehe Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neu­ zeit). 295  Wendorff: Zeit und Kultur 169.

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V. Zukunftsperspektive

2.2.1  Rekurrent-präsentische versus singulär-futurische Zeit Um das reformatorische Zeitverständnis konturieren zu können, bedarf es zu­ nächst einiger allgemeiner Überlegungen zum überkommenen Zeitverständnis, von welchem sich die neuartige Wahrnehmung von Zeit explizit abgrenzte. In der Forschungsliteratur wurden immer wieder Versuche unternommen, unterschiedliche Formen des Zeitbewusstseins zu beschreiben und historisch voneinander abzugrenzen. Idealtypisch unterschied z. B. Rammstedt vier un­ terschiedliche Zeitvorstellungen, die bei phasenweiser Gleichzeitigkeit in grö­ ßerem Rahmen betrachtet geschichtlich nacheinander dominant werden: Oc­ casionale, zyklische und lineare (mit geschlossener oder offener Zukunft) Zeit­ vorstellungen.296 Gegenüber solchen Schematisierungen ist zu Recht auf deren zweifelhafte Vereinfachung und empirische Fragwürdigkeit hingewiesen wor­ den, da sich die unterschiedenen Formen überlagern und keine eindeutig be­ stimmbare Folge darstellen. Z. B. existieren zyklische und lineare Zeitvorstel­ lungen immer nebeneinander, wenn auch in unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen.297 Derartige Vorbehalte wurden auch gegenüber mentalitätengeschichtlichen Studien zum mittelalterlichen Zeitbewusstsein geltend gemacht. Z. B. LeGoff beschreibt das Mittelalter als eine Zeit des fundamentalen Übergangs, wenn sich ein signifikanter Wandel vom zyklischen hin zu einem linearen Zeitbe­ wusstsein vollziehe. Aufgrund einer gestiegenen Sensibilität gegenüber dem Faktor Zeit, insbesondere dessen ökonomischer Bedeutung, geriete die linear konzipierte „Zeit der Kaufleute“ mit der zyklisch bestimmten „Zeit der Kir­ che“ zunehmend in einen spannungsgeladenen Gegensatz.298 Die Konstruktion einer starren Dichotomie von zyklischen und linearen Zeitvorstellungen ist in der Forschung kritisiert und als „Scheinalternative“299

296  Nach

Rammstedt entfalten sich diese Formen des Zeitbewusstseins gleichsam evolu­ tionär in Abhängigkeit von der Gesellschaftsstruktur. Während das occasionale Zeitbewusst­ sein überwiegend zwischen Jetzt und Nicht-Jetzt unterscheidet und Vergangenheit und Zu­ kunft lediglich als Nicht-Gegenwärtiges verschmelzen, differenziert das zyklische Zeitbe­ wusstsein in sich wiederholender Art und Weise zwischen Vorher und Nachher, wobei Vergangenheit und Zukunft dieselbe Struktur aufweisen: die Erinnerung an die Vergangen­ heit ist gleichbedeutend mit der Vorhersage für die Zukunft, Erfahrungsraum und Erwar­ tungshorizont sind deckungsgleich. Im linearen Zeitbewusstsein dagegen wird die Kreisbe­ wegung der Zeit durch eine irreversible Linie ersetzt, auf der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander treten. Diese Linearität kann entweder auf eine geschlossene Zukunft zulaufen, die mit einem Geschichtstelos verbunden ist, oder mit offenem Zukunftshorizont gedacht sein, in dem Ziel und Ausgang ungewiss bleiben. (siehe Rammstedt: Alltagsbe­ wusstsein von Zeit 47–63) Ein leicht modifiziertes Modell findet sich z. B. bei Albert: Zeit 233 ff. 297 Vgl. Rosa: Beschleunigung 27. 298 Siehe LeGoff: Zeit der Kirche, Zeit der Händler im Mittelalter. 299  Koselleck: Zeitschichten 26.

2.  Innere Kohärenz

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gekennzeichnet worden.300 So hat Koselleck betont, dass stets mehrere Zeit­ schichten gleichzeitig existieren und sich wechselseitig durchdringen.301 Die Verwobenheit unterschiedlicher Zeitqualitäten und -schichten wird demnach bei Überlegungen zum Zeitverständnis stets zu beachten und das historische Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitvorstellungen zu betonen sein: „keine Zeitvorstellung [existiert] völlig isoliert und gänzlich ge­ trennt von anderen Zeitvorstellungen.“302 Insbesondere das Mittelalter kannte ein großes Spektrum nebeneinander existierender Zeitvorstellungen,303 sodass die relative Vielfalt zum Signum die­ ser Epoche wird. Als dominierende Zeitvorstellungen werden in der Forschung jedoch zyklische Zeitvorstellungen hervorgehoben, welche auf naturalen Rhythmen und der Regelmäßigkeit wiederkehrender Phänomene basieren und die Welt nicht in den Kategorien von Veränderung und Entwicklung wahrneh­ men.304 Das Moment des Rekurrenten, des Rückbezugs auf Gegebenes und 300  Zu verschiedenen Momenten der Kritik vgl. Kortüm: Menschen und Mentalitäten 237 ff. Der von LeGoff konstruierte Antagonismus von zyklischer und linearer Zeitvorstel­ lung verkenne die Komplexität und Überlagerung von Mentalitäten: „Der mittelalterliche Kaufmann war nicht nur Kaufmann, sondern immer gleichzeitig auch Christ. Eine Orien­ tierung an zyklisch geprägter christlicher Zeitvorstellung, also die Orientierung am Kir­ chenjahr mit seinen immer wiederkehrenden Höhepunkten einer reichen Festkultur war durchaus vereinbar mit dem linear ausgerichteten Gewinnstreben des Kaufmanns.“ (Kortüm: Menschen und Mentalitäten 237). Zudem ist die generelle Charakterisierung der christlichen Zeitvorstellung als zyklisch differenzierungsbedürftig, da neben der Zyklizität z. B. des Kirchenjahres auch die umfassende Konzeption der christlichen Heilsgeschichte, welche (im Unterschied zum antiken Denken) mit Anfang und Ziel linearem Verständnis entspricht, zu beachten ist (vgl. Kortüm: Menschen und Mentalitäten 237 f.) 301  Historische Phänomene weisen nach Koselleck drei Zeitqualitäten auf: die Einmalig­ keit, eine Wiederholungsstruktur, und beide eingebettet in lange Kontinuitäten. Deren Ver­ wobenheit verdeutlicht folgendes Beispiel: Das Eintreffen eines Briefs mit der Nachricht vom Tod eines Verwandten ist ein einmaliges Ereignis. Der Erhalt des Briefs jedoch wird nur durch die regelhafte Postaustragung ermöglicht, welche ein rekurrenter Vorgang ist. Einma­ ligkeit und Wiederholung sind Teil einer Geschichte. Zudem besitzt die Institution der Post eine übergenerationelle Zeitstruktur der langen Dauer, die nicht mehr an die Person des Briefträgers gebunden ist (vgl. Koselleck: Zeitschichten 21 ff.). 302  Albert: Zeit 233, der gleichwohl an oben dargestellten Schematisierungen festhält und deren grundsätzlichen heuristischen Wert herausstellt. 303 Vgl. Gurjewitsch: Weltbild 98. 304  Vgl. z. B. Gurjewitsch: „In der Natur gab es keine Entwicklung; auf jeden Fall war sie den Menschen dieser Gesellschaft verborgen. Sie sahen in der Natur nur eine regelmäßige Wiederholung, ohne imstande zu sein, die Tyrannei ihrer rhythmischen Kreisbewegung zu überwinden; und diese ewige Wiederkehr musste in den Mittelpunkt des geistigen Lebens im Altertum und Mittelalter rücken. Nicht die Veränderung, sondern die Wiederholung war das bestimmende Moment dieses Bewusstseins und Verhaltens. Das Einmalige, niemals vor­ her Gesehene besaß für sie keinen selbständigen Wert – eine echte Realität konnten nur Akte erlangen, die von der Tradition geheiligt waren und sich ständig wiederholten.“ (vgl. Gurjewitsch: Weltbild 102). Insgesamt lässt sich eine „Unfähigkeit des mittelalterlichen Men­ schen, Welt und Gesellschaft in ihrer Entwicklung zu sehen […]“, beobachten (Gurjewitsch: Weltbild 160). Auch Schäufele sieht das Mittelalter von zyklischem Geschichtsden­ ken geprägt: „Demnach war die Geschichte ein beständiges Auf und Ab ohne letztes Ziel,

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V. Zukunftsperspektive

Bekanntes überlagert den Sinn für historische Einmaligkeit, Veränderung oder Entwicklung, sodass nicht klar zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zu­ kunft unterschieden wird und diese letztlich als strukturgleich erscheinen: Künftiges entspreche Vorgängigem, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont konvergieren.305 Gurjewitsch sieht das Mittelalter daher von „Atemporalität“ und „Dekonkretisierung“ der Zeit geprägt: „Der Mensch empfand sich nicht als in der Zeit existierend; existieren bedeutete für ihn verweilen, nicht aber, sich in einem Prozess des Werdens befinden.“306 Grundsätzlich lässt sich ein Zug zur Entzeitlichung beobachten, wenn z. B. einzelne geschichtliche Ereignisse aufgrund des fehlenden Verständnisses für die Andersartigkeit von Epochen unmittelbar mit der Gegenwart verglichen werden konnten.307 Diese statische Zeiterfahrung kennzeichnet auch das mittelalterliche Geschichtsbewusstsein insgesamt: „Im Ergebnis blieb sogar das Geschichtsbewusstsein, soweit man in Bezug auf das Mittelalter davon sprechen kann, im Grunde genommen antihis­ torisch.“308 Das Empfinden historischer Progressionslosigkeit hat unter anderem auch theologische Wurzeln, die sich insbesondere im Aufschwung der Scholastik manifestieren.309 Die Erkenntnisprämissen und -interessen der Scholastik sind vom Prinzip her ungeschichtlich und beförderten die Überlagerung des histo­ rischen Denkens vom Moment des zeitunabhängig Wissenswerten. Die Unge­ schichtlichkeit der Scholastik gründet auf einem präsentischen Zeitverständnis: „Die Scholastiker zielten darauf, einen theologischen Ewigkeitsraum zu errichten und versuchten dies auf dar Basis der Externalisierung von Zeit als historischer Größe zu bestimmt vom kreisläufig wechselnden Geschick von Einzelnen, Völkern und Staaten.“ (Schäufele: „Pessimismus“ 23). Zur Rezeption des zyklischen Geschichtsdenkens im Mit­ telalter siehe Schäufele: „Pessimismus“ 23–28. Vgl. zur Dominanz zyklischer Zeitvorstel­ lungen im Mittelalter auch Albert: Zeit 234. 305  Zu den Begrifflichkeiten siehe Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshori­ zont‘ 349–375. 306  Gurjewitsch: Weltbild 161. Das Zeitverständnis war generell nicht zukunftsorien­ tiert, sondern rückwärtsgewandt: „Den Menschen des Mittelalters ist die Zeit nicht gleich­ gültig, doch sie sind wenig empfänglich für Veränderungen und Entwicklung. Stabilität, Traditionsgebundenheit, Wiederholbarkeit – in diesen Kategorien bewegte sich ihr Bewusst­ sein […].“ (Gurjewitsch: Weltbild 179). 307 Vgl. Goetz: Art. „Geschichtsschreibung, Geschichtsdenken“ 379. Koselleck exem­ plifiziert diesen Umstand am Beispiel eines Gemäldes von Albrecht Altdorfer: Die dargestell­ te Alexanderschlacht wird durch zeitgenössische Adaptionen unmittelbar in die Gegenwart hineingeholt und dadurch entzeitlicht: „Eine zeitliche Differenz wurde nicht etwa willkür­ lich eliminiert, sie trat als solche gar nicht in Erscheinung. […] Seine [Altdorfers] Schlacht ist nicht nur gleichsam zeitgenössisch, sie scheint ebenso zeitlos zu sein.“ (Koselleck: Vergan­ gene Zukunft 18). 308  Gurjewitsch: Weltbild 157. Gleichwohl wurde in der Mediävistik auch das ansatz­ weise Vorhandensein von Geschichtsbewusstsein herausgearbeitet, siehe z. B. Goetz: Ge­ schichte als Argument; ders.: Gegenwart der Vergangenheit. 309  Zur Scholastik als zeitunabhängiges Denken vgl. Wendorff: Zeit und Kultur 123 ff.; Sandl: Medialität 100 ff.

2.  Innere Kohärenz

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machen. […] Zeit war nur als Produkt von Erkenntnisoperationen denkbar, die auf Präsenz zielten, und nicht als das Außen der Erkenntnisbildung, das sie relativiert und historisiert hätte. Die Zukunft blieb ebenso wie die Vergangenheit eine Leerstelle in­ nerhalb dieses Systems.“310

In dieser Zeitlosigkeit der Scholastik war ein Sinn für geschichtliche Verände­ rung nicht angelegt.311 Das (spät-)mittelalterliche rekurrent-präsentische Zeit­ verständnis erwartete mithin von der Zukunft nichts Neues: „Bis ins späte Mittelalter hinein herrschte das Bewusstsein vor, alles, was sich im Laufe der Zeit ereignete, läge dem Menschen in immerwährender Präsenz vor Augen. […] Unter der Sonne konnte nichts Neues mehr geschehen, das eine war dem anderen, wenn nicht gleich, so doch ähnlich. Alles lag offen zutage, selbst wenn es sich nach und nach ereignet hatte.“312

Wenngleich also die Forschung das mittelalterliche Zeitverständnis durch die dominierenden Merkmale der Zyklizität, Rekurrenz und Präsenz gekennzeich­ net sieht, so lassen sich zugleich (vor allem im Spätmittelalter) deutliche Ten­ denzen zur Diversifizierung der Zeitvorstellungen beobachten. Neben den zy­ klischen Zeitvorstellungen begannen sich zudem lineare Zeitvorstellungen aus­ zubilden, welche auf einem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheidenden Zeitpfeil basieren. Entscheidende erste Impulse für ein linea­ res Zeitverständnis lieferte das Christentum, insbesondere Augustinus.313 Ge­ gen die Vorstellung einer zyklischen Wiederholung wurde einzelnen Ereignis­ sen ein Einmaligkeitscharakter zugesprochen.314 Durch das christliche Telos

310 

Sandl: Luther 387. Sandl sieht im präsentischen Zeitverständnis darüberhinaus eine Entsprechung von theologischen Erkenntnis- und architektonischen Gestaltungsoperatio­ nen, welche in der temporalen Strukturgleichheit von Scholastik und Gotik augenfällig werden: „Die göttliche Präsenz stiftete eine Gemeinsamkeit der Formationsprinzipien, die vor allem in einer gemeinsamen Zeitvorstellung Ausdruck fand. Wollte die Gotik einen Ewigkeitsraum errichten, so war es der Wille der Scholastiker, diesen Ewigkeitsraum in eine intellektuelle Form zu gießen. Der scholastische Rationalismus produzierte Sinn mit ande­ ren Worten in einer Zeitform, die der gotische Kirchenraum sinnlich wahrnehmbar mach­ te.[…] Wie die Architektur war damit auch die Theologie eine Art mediale Apparatur, Präsenz zu erzeugen, Veränderliches auf eine zeitlose Form zu bringen […].“ (Sandl: Medi­ alität 111 f.). 311 Vgl. Sandl: Medialität 113. Zur generell ausgeschlossenen Historizität innerhalb des mittelalterlichen ästhetischen Dispositivs vgl. Sandl: Medialität 102. 312  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 4. 313 Vgl. Gurjewitsch: Weltbild 116 ff. Durch den Gedanken der Heilsgeschichte und den Bemühungen, die eigene Gegenwart hier zu verorten, stellte sich dem zyklischen ein linearer Zeitbegriff gegenüber, vgl. Sprandel: Art. „Zeit“ Sp.  513. Vgl. zur Linearität christ­ licher Zeitvorstellungen auch Maier: Unumkehrbar und unwiederholbar 25 ff. 314 Vor allem Christi Erlösertat wurde als unhintergehbares, singuläres Ereignis mit heilsgeschichtlichem Charakter verstanden, welche die Zeit „quantitativ und qualitativ streng in zwei Hauptepochen [teilt]: vor Christi Geburt und nach Christi Geburt.“ (Gurjewitsch: Weltbild 114 f.).

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V. Zukunftsperspektive

erhält die Zeit eine historische Dimension; Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit machen die Zeit vektorartig.315 Dennoch tritt im Mittelalter das Bewusstsein für die heilsgeschichtliche Li­ nearität als zwar biblisch grundgelegtes, gleichwohl aber in der zeitgenössischen Lebenswelt abstraktes Konstrukt in den Hintergrund.316 Zwar war die apoka­ lyptische Zukunft in ihrem Eintreten gewiss, doch schienen deren biblisch an­ gekündigte Vorbedingungen noch nicht erfüllt. Die römische Kirche galt als Garant der Stabilität und der relativen Ferne des Jüngsten Gerichts; alle Bestre­ bungen, die Gegenwart an die Apokalypse heranzurücken, wurden mit dem Häresieverdacht belegt. Wenngleich das Vertrauen in die offizielle Kirchlich­ keit im Spätmittelalter vielerorts bereits zu schwinden begann, wähnte man sich in einer heilsgeschichtlichen Zwischenzeit zwischen der Erlösertat Christi und dem noch fernen Ende der Welt – die lineare Entwicklung schien verlangsamt, bewegungslos, erstarrt. Befördert wurde die lineare Konzeption von Zeit schließlich vor allem von profanen Entwicklungen. Neben den technischen Errungenschaften zur Zeit­ messung und -einteilung wurden hier besonders ökonomische Wandlungspro­ zesse hervorgehoben.317 Korrelierend mit der eigentümlichen Simultaneität von zyklischen und linearen Zeitkonzeptionen treten auch die Zeitrhythmen, welche die Lebenswelt der Zeitgenossen bestimmten, zunehmend in sozialer Differenzierung auf.318 Die Vielfalt sozialer und funktionaler Zeitrhythmen 315  „Das christliche Zeitverständnis misst sowohl der Vergangenheit, da sich die neutes­ tamentarische Erlösung schon verwirklichte, als auch der Zukunft, die Lohn und Vergeltung in sich trägt, Bedeutung bei. Gerade das Vorhandensein dieser Stützpunkte in der Zeit ‚rich­ tet‘ diese mit ungewöhnlicher Kraft auf, ‚zieht‘ sie zu einer Linie ‚auseinander‘ und schafft damit eine gespannte Zeitverbindung, vermittelt der Geschichte einen gut aufgebauten und (im Rahmen dieser Weltanschauung) einzig möglichen immanenten Plan ihrer Entfaltung.“ (Gurjewitsch: Weltbild 115). 316 Vgl. LeGoff: Zeit der Kirche, Zeit der Händler im Mittelalter 397 f. 317 Siehe LeGoff: Zeit der Kirche, Zeit der Händler im Mittelalter; Hohn: Die Zerstö­ rung der Zeit. Zur Bedeutung der Städte, des Handels und des Marktes für die Entwicklung linearer Vorstellungen siehe auch Albert: Zeit 297 ff. 318 Vgl. Albert: Zeit 294: „Neben den beiden Zeitmustern [der zyklischen und der li­ nearen Zeit] entwickelten sich zunehmend Eigenzeiten unterschiedlicher Teile der Gesell­ schaft. Ein Beispiel dafür sind die Eigenzeiten der Krone, die sich in Form von Terminen für die Abgabe von Feudalrenten, Steuern und Zwangszinsen im mittelalterlichen Agrarkalen­ der niederschlugen. Die Zeit gewann an Komplexität und Vielschichtigkeit und wurde zu­ nehmend sozial differenziert. Die engen sozialen Bindungen und der geringe Grad an Indi­ vidualisierung erlaubten es allerdings noch, die unterschiedlichen Zeitebenen recht stabil aneinander zu koppeln und sie in soziale Kontexte einzubetten.“ Vgl. zur sozialen und funk­ tionalen Differenzierung der Zeit im Mittelalter auch Gurjewitsch: „[…] in der Gesellschaft existiert stets nicht eine bestimmte einheitliche ‚monolithische‘ Zeit, sondern ein ganzes Spektrum sozialer Rhythmen, welche durch die Gesetzmäßigkeiten der unterschiedlichen Prozesse und durch die Natur der einzelnen Kollektive bedingt sind.“ (Gurjewitsch: Welt­ bild 172). Gleichzeitig gilt aber: „Die Gesellschaft kann nicht existieren, ohne eine bestimm­ te Stufe der Koordination einer Vielzahl sozialer Rhythmen erreicht zu haben. Daher kann

2.  Innere Kohärenz

341

wurde letztlich jedoch von der Kirche mit vielfältigen Reglementierungen ko­ ordiniert und kontrolliert.319 Die (hier nur in aller Kürze mögliche) Skizze der mittelalterlichen Zeitvorstel­ lungen lässt viele Fragen offen, gleichwohl eines deutlich erkennen: Insbeson­ dere die spätmittelalterliche Vielfalt und Simultaneität unterschiedlicher Zeit­ vorstellungen lässt allzu vereinheitlichende, die Verwobenheit der Zeitschichten allzu kontrastierende Zuschreibungen problematisch erscheinen.320 Im Rah­ men der vorliegenden Untersuchung kann es daher nicht um die vermeintlich „tatsächliche“ Ausgestaltung der (spät-)mittelalterlichen Zeitvorstellung gehen, sondern allein um das, was sich aus der Perspektive der reformatorischen Flug­ schriftenautoren als überkommene Zeitvorstellung darstellte und zu der man sich in gezielten Kontrast setzte. Auf dieser Betrachtungsebene allerdings, der Wahrnehmungsebene der Zeitgenossen, fügen sich die vielschichtigen und komplex miteinander verwobenen mittelalterlichen Zeitvorstellungen zu einer vermeintlichen Einheit – freilich einer reformatorischerseits konstruierten Ein­ heit, welche aber gerade aufgrund ihres Konstruktcharakters einen differenzier­ ten Blick auf das reformatorische Zeitverständnis ermöglicht, wenn hinter der polemischen Kontrastierung die Konstitutionsbedingungen und -mechanismen reformatorischer Zeitwahrnehmung aufscheinen und auf einen fundamentalen Wandel des Zeitverständnisses verweisen. man von einer dominierenden sozialen Zeit in der Gesellschaft sprechen.“ (Gurjewitsch: Weltbild 172). 319 Vgl. Gurjewitsch: Weltbild 172: „Im Mittelalter hielt die Kirche die soziale Zeit unter ihrer Kontrolle, und der Klerus legte den gesamten Verlauf der Zeit der Feudalgesell­ schaft fest und richtete sie aus, indem er ihren Rhythmus regulierte. Jegliche Versuche, aus der kirchlichen Zeitkontrolle zu entfliehen, wurden konsequent unterbunden. Die Kirche verbot, an Feiertagen zu arbeiten […]. Die Kirche bestimmte die Art und Zusammenstellung der Nahrung, die man in diesen und jenen Zeitabschnitten zu sich nehmen durfte, und be­ strafte die Verletzungen der Fastenzeit streng; sie mischte sich sogar in das Sexualleben ein und schrieb vor, wann der Geschlechtsakt erlaubt und wann er sündhaft sei.“ Die soziale Differenzierung der Zeit darf jedoch nicht in dem Sinne missverstanden werden, als zykli­ sche Zeitvorstellungen, z. B. Agrarzeiten, für die Ungebildeten, lineare Zeitvorstellungen hingegen für eine schmale homogene Schicht von Intellektuellen bestimmend waren. Zyk­ lische Zeitvorstellungen blieben auch in den wissenschaftlichen Kreisen der Zeit von hoher Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Astrologie, deren Zeitverständnis im Kern zyk­ lisch geprägt ist. Zudem begegnet ein zyklisch dominiertes Zeitverständnis auch in der Renaissance, wenn breite Gelehrtenkreise die antiken Vorstellungen von einer zyklischen Wiederkehr aufgreifen (vgl. z. B. Albert: Zeit 262: In der Renaissance „gelangten zyklische Zeitvorstellungen vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der griechischen An­ tike zu besonderer Bedeutung und wurden vielfältig insbesondere in den geistigen Eliten reflektiert […].“ 320  In Ergänzung zur vorliegenden Literatur wären sicherlich weitere Forschungen mit verfeinertem methodischem und terminologischem Fundament wünschenswert, um die Komplexität mittelalterlicher Zeitvorstellungen wissenschaftlich tiefer durchdringen und er­ fassen zu können.

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V. Zukunftsperspektive

Die empfundene Gegensätzlichkeit zum überkommen Zeitempfinden wird in den reformatorischen Flugschriften explizit herausgestellt und als Divergenz­ merkmal eigens benannt: Gegen das statische Zeitverständnis der Altgläubigen, welches eher einem Verharren und Verweilen in der Zeit gleichkomme, setzen die reformatorischen Flugschriftenautoren eine neue und radikale Zukunftsori­ entierung auf den Jüngsten Tag hin. In vielfältigen Wendungen wird das alt­ gläubige Zeitverständnis angegriffen: Die Altgläubigen definierten sich vom Anfang her und pflegten ein rückwärtsgewandtes Zeitbewusstsein, wenn sie nach der Stiftung und Konstituierung der Kirche jede nachfolgende Entwick­ lung und Veränderung leugneten und der trügerischen Gewissheit anhingen: „nachdem die veter gestorben sind, bleybt alle ding wie von anfang.“321 Dem die Altgläubigen prägenden Credo der entwicklungslosen, verharrenden Zeit: „ia es bleybt noch wol, wie es bißher blieben ist“322 fehle in fataler Weise das Bewusstsein für das Voranschreiten der Heilsgeschichte, welche mit der refor­ matorischen Offenbarung von Teufel und Antichrist ein ganz neues Stadium erreicht habe – die Nähe des Endes werde völlig verkannt, wenn die Altgläubi­ gen „den iungsten tag ubir tausent iar werffen, wenn er die nehste nacht her­ nach komen soll.“323 In der Eigenlogik der Zeitkonzeption der Altgläubigen sei die Erkenntnis über die grundlegende Neuheit der eigenen Zeit gleichsam sys­ temimmanent ausgeschlossen, wenn sie sprächen: „was geschicht dann yetzund dz vor auch nitt solichs geschehen sey?“324 – ein Umstand, der das überkom­ mene Zeitverständnis grundsätzlich als teuflisch ausweise, wenn die biblischen Ankündigungen über die teuflischen Prediger, welche die Gläubigen über die wahre heilsgeschichtliche Situation hinwegtäuschten, in den Altgläubigen ver­ wirklicht seien: „Aber in dißen menschen würt erfüllt werden der spruch des herren von dem end der welt […].“325 Das den Altgläubigen zugeschriebene Zeitverständnis weist aus reformatori­ scher Perspektive eindeutig die Merkmale eines rekurrent-präsentischen Zeit­ verständnisses auf: Ohne Sinn für historischen Wandel und Veränderung werde zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht hinreichend klar unterschieden, wenn die heilsgeschichtliche Fortentwicklung in fataler Weise unerkannt bleibe. Dagegen wird in pointierter Abgrenzung ein singulär-futurisches Zeitbe­ wusstsein gesetzt: Zum einen wird das Moment der Einmaligkeit und Andersar­ tigkeit der eigenen Gegenwart betont, wodurch das Statische und Gleichblei­ bende durch eine vektorhafte Zeitschiene ersetzt scheint, auf der Vergangenheit und Gegenwart auseinandertreten und in heilsgeschichtlicher Hinsicht eindeu­ tig voneinander unterschieden werden. Zum anderen richtet sich das Zeitbe­ 321 

WA 10, I, 2; 98,1 f. WA 10,1.2; 98,8. 323  WA 10,1.2; 98,16 f. 324  Stifel: Euangelium F3a. 325  Stifel: Euangelium F3a. 322 

2.  Innere Kohärenz

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wusstsein auf die Zukunft aus: Auch wenn die Zukunft lediglich als Ankunft des biblisch Prophezeiten erwartet wird und insofern von der modernen Zukunfts­ erwartung deutlich zu unterscheiden ist, so liegt der neue Akzent gegenüber den Altgläubigen dennoch im erwarteten Eintritt in eine ganz neue Phase der Heils­ geschichte, welche grundlegende Veränderungen mit sich bringen werde. Die Neukonstitution eines singulär-futurischen Zeitverständnisses kann da­ bei als ein reformatorisches Kohärenzmerkmal gelten: Auch die spiritualisti­ schen Richtungen der reformatorischen Bewegungen stehen für ein neues vek­ torhaftes Zeitbewusstsein, wie Goertz es in Bezug auf Müntzer herausgestellt hat. Goertz verdeutlicht dies an der Wandlung der Vorstellung von den vier Weltreichen, deren Abfolge man sich in traditionellem Verständnis nicht auf einem Zeitpfeil als voranschreitende Veränderung, sondern als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannende Statue vorstellte.326 Die Art und Wei­ se, wie Müntzer diese Vorstellung aufgriff und modifizierte, ist Goertz Beleg für das neue Zeitverständnis: Müntzer erweitere die Weltreiche um ein fünftes und erläutert deren bevorstehenden Zusammenbruch als vom Inneren des Menschen ausgehenden Veränderungsdruck auf die äußeren Verhältnisse.327 Auf der Grundlage des apokalyptischen Impetus Müntzers mit dem Ziel einer endzeitlichen Wandlung der Welt und der grundsätzlichen Annahme einer Ver­ änderbarkeit eben dieser, vollziehe sich dieser Veränderungsprozess, gemäß des Goertzschen Verständnisses von innerer und äußerer Ordnung bei Müntzer, von innen nach außen, habe im Ergebnis eine grundlegende Veränderung zur Folge und eröffne eine ganz neue Zeit. Müntzer konfrontiere so „das statische Zeitverständnis, die Präsenz des Immergleichen, mit dem Bewusstsein von ei­ ner sich pfeilähnlich entwickelnden Zeit“328 , wenn er in seiner Gegenwart die Statue der Weltreiche zerfallen und etwas ganz Neues entstehen sieht: „Die Statue ist noch Symbol oder Metapher für das präsentische Geschichtsverständnis, um so deutlicher kann sich das teleologisch konzipierte Geschichtsverständnis von ihm abheben. Sobald die Vorstellung von einem Ende der Welt und einem neuen Anfang, vom Abbruch einer alten und dem Anfang einer neuen Geschichte, Macht in den Köp­ fen der Menschen erlangt, verändert sich das Zeitbewusstsein. Jetzt stellt sich das Gefühl ein, dass die Zeit sich beschleunigt, auf das Ende zurast und auf einmal etwas ganz Neues bringen wird, das jeden ergreift und mitreißt, auch jeden zum Handeln bewegt. Die Zeit wird zum Vektor.“329 326 Vgl.

Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 4 f. „Die ‚voranderung der weldt‘, die Gott ‚in den letzten tagen anrichten will‘, vollzieht sich in dem Geschehen, in dem der Geist Gottes die Menschen erfasst und aus ihnen hervor­ bricht. So korrespondiert in dieser begrifflichen Vorstellung der mystische Läuterungs- und Heilsprozeß mit apokalyptischer Erwartung, ja, beide verschmelzen miteinander. Die Verän­ derung im Innern des Menschen und die Veränderung der Welt: das ist ein und derselbe Akt.“ (Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 8). 328  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 8. 329  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 8. 327 

344

V. Zukunftsperspektive

Das apokalyptische Zeitverständnis mit der impliziten Annahme der Andersar­ tigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurde dabei gezielt gegen das traditionelle kirchliche Zeitverständnis in Stellung gebracht. Vordem schien die Zukunft immer schon in der Kirche aufgehoben: „Das Reich Gottes, die civitas Dei, war bereits in der Kirche präsent, und es gab keine auf ein anderes Ende, von dem noch Neues hätte erwartet werden können, zulaufende Zeit.“330 Innerhalb dieses statischen Zeitverständnisses wirkte das ausbleibende Weltende als ein Integrationsfaktor der römischen Kirche331 – die reformatorische Apoka­ lyptik jedoch zerstörte das traditionale Zeitverständnis von dessen innerer Vor­ aussetzung her: 332 „Aus dem Gedanken an das Ende der Welt und an eine Zu­ kunft, die nicht, wie bei Augustin, immer schon in der Kirche aufgehoben ist, entwickelte sich das Bewusstsein, in eine neue Zeit eingetreten zu sein.“333 Wie bereits erwähnt, wurde im Sinne eines hermeneutischen Zirkelschlusses gerade die herausgestellte Divergenz zum altgläubigen Zeitverständnis in der inneren Logik der reformatorischen Endzeiterwartung zum rekursiven Bestäti­ gungsmoment für den eigenen exegetischen Zugriff. In dem Umstand, dass die Altgläubigen die entscheidende heilsgeschichtliche Neuheit der zeitgenössi­ schen Gegenwart leugneten, sehen die reformatorischen Flugschriftenautoren die biblische Prophetie durch den von ihnen neuartig offengelegten Ge­ schichtsverlauf verifiziert und das eigene Geschichtsverständnis auf der Basis des reformatorischen Minoritätsarguments abgesichert.334 Das den Altgläubi­ gen zugeschriebene Zeitbewusstsein der Präsenz des Immergleichen wird von den reformatorischen Flugschriftenautoren als in der Schrift angekündigte Endzeitignoranz gedeutet, wobei der herausgestellten fundamentalen Diver­ genz im Zeitbewusstsein geradezu eine Beweisfunktion zukommt. 330 

Goertz: Dran 163. Zukunft als mögliches Ende der Welt ist somit als für die Kirche konstitutiv in die Zeit hineingenommen worden, sie liegt nicht in einem linearen Sinne am Ende der Zeit: vielmehr kann das Ende der Zeit nur erfahren werden, weil es immer schon in der Kirche aufgehoben ist. Solange blieb die Geschichte der Kirche die Geschichte des Heils.“ (Koselleck: Vergangene Zukunft 22 f.). „Das ausbleibende Weltende hatte die Kirche konstituiert und in eins damit eine statische Zeit, die als Tradition erfahrbar ist.“ (Koselleck: Vergange­ ne Zukunft 33). 332 „Aber in dem Augenblick, da die Figuren der Johannes-Apokalypse auf konkrete Ereignisse oder Instanzen appliziert werden, wirkt sich die Eschatologie desintegrierend aus. Das Weltende ist nur solange ein Integrationsfaktor, als es in einem geschichtlich-politischen Sinne unbestimmbar bleibt. […] Diese Tradition wurde von der Reformation in ihrer inne­ ren Voraussetzung zerstört.“ (Koselleck: Vergangene Zukunft 22 f.) 333  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 9. So entstehe ein neues, modern anmutendes Zeitbewusstsein: „so noch nicht dagewesen, ganz neu. Der Mensch gewinnt eine andere Einstellung zu sich selbst, zu den Institutionen und Ordnungen, zusammenge­ fasst zu Gott und der Welt. Er steht anders vor Gott und anders in der Zeit.“ (Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 8 f.). 334  Zum reformatorischen Minoritätsargument und dessen rekursiver Bestätigungsfunk­ tion vgl. oben 63. 331  „Die

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Die Auseinandersetzungen um das rechte Zeitbewusstsein werden in den Flugschriften gleich an mehreren Fronten geführt. Über die prozesshafte Ent­ wicklung der als Verquickung von teuflischer Erfolgsgeschichte und Bestand der wahren Kirche gedeutete Vergangenheitsbetrachtung und das Empfinden der grundlegenden Neuheit der reformatorischen Gegenwart als Endzeit wurde in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich gehandelt; an dieser Stelle soll lediglich noch auf zwei weitere Gedankenkreise hingewiesen werden, welche das gewandelte Zeitverständnis verdeutlichen helfen sollen. Gegenüber der altgläubigen Theologie wurde eine besondere Zukunftsori­ entierung mit den Gedanken der Prozesshaftigkeit und der Singularität von geschichtlichen Ereignissen vertreten. Der stark in die Zukunft gerichtete Blickwinkel der reformatorischen Bewegungen lässt sich am Beispiel des Kir­ chenverständnisses verdeutlichen: In reformatorischem Verständnis verwirk­ licht sich Kirche prozesshaft in Hinblick auf Gottes Zukunft, wohingegen die römische Kirche sich von ihrem Selbstverständnis von ihrer Stiftung durch Christus, von ihrem Anfang her definiert und die Orientierung auf Gottes Zu­ kunft hin nicht in gleicher Weise mit den reformatorischen Bewegungen teilt.335 Dabei wird, wie anhand der historischen Aufzeigung der gestuften Erfolgsgeschichte des Teufels oder der punktuell erfolgten Offenbarung des Antichrist deutlich wird, die fortlaufende Entwicklung und Singularität histo­ rischer Ereignisse besonders herausgestellt. Das Insistieren auf der Einmaligkeit von historischen Ereignissen begegnet in den reformatorischen Flugschriften in verschiedenen Kontexten und steht bei­ spielsweise auch hinter der vehementen Kritik der reformatorischen Flugschrif­ ten an dem altgläubigen Messeverständnis. Die Erlösertat Christi sei ein histo­ risches Ereignis, singulär und irreversibel. Ungeachtet der binnenreformatori­ schen Differenzen, die insbesondere in der Abendmahlsfrage zutage traten, konvergieren die unterschiedlichen reformatorischen Ansätze in dem einen Punkt der Nichtwiederholbarkeit des Opfergeschehens. Zu glauben, das Opfer­ geschehen in der Messe wiederholen zu können, mache zum einen den göttli­ chen Gnadenzuspruch durch Menschen verfügbar, zum anderen werde die His­ torizität und der Einmaligkeitscharakter verkannt und damit suggeriert, das bereits ergangene Opfer sei nicht hinreichend. In Christus habe sich Gott „[…] ain mal für uns geopffert und da aller welt sünd auß gesoffen unnd uns errettet von dem todt, sünd hell unnd Teuffel, das hinfüro kain opffer meer not ist […].“336 Die altgläubige Messepraxis sei eine „greüliche grosse Antichristliche gotßlesterung“337 und geschehe auf Betreiben des Teufels,338 der die Menschen 335 Vgl.

Schilling: Die Wiederentdeckung des Evangeliums 142. WA 15; 766,19–21. 337  WA 15; 774,26. 338  „Ich glaub, der teuffel hab den Canon selb gemacht, wie mügen groesser uneer Gottes erdacht werden?“ (WA 15; 768,22 f.) 336 

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V. Zukunftsperspektive

durch die vermeintliche Wiederholung des Opfers in der Messe eine unver­ gleichliche Sünde begehen lasse: „[…] da opffert man die mesß teglig mehr denn viel hundert thausent mal ynn aller welt, wilcher sunde keyn mag gleych seyn […].“339 Neben den Auseinandersetzungen um das rechte Messeverständnis340 be­ gegnet die reformatorische Betonung der singulär-futurischen Zeitkonzeption in den Flugschriften auch in den Auseinandersetzungen mit der Astrologie. Die Astrologie, die von naturgesetzlichen Vorstellungen und regelmäßig wieder­ kehrenden Planetenkonstellationen ausging, gehört ihrem Wesen nach zu ei­ nem zyklischen Weltbild, welches mit der heilsgeschichtlich-linearen Zeitkon­ zeption in einen grundsätzlichen Widerspruch geriet.341 Diese prinzipielle Un­ vereinbarkeit der astrologischen Erkenntnisprinzipien und der ihnen zugrundeliegenden Zeitkonzeption mit der Teleologie und Irreversibilität der von Gott verfügten Heilsgeschichte musste sich insbesondere in der Endzeit nochmalig zuspitzen, da deren Qualität mit nichts vergleichbar sei und unter ganz eigenen Vorzeichen stehe. So müsse gerade hier mit einer Durchbrechung der naturgesetzlichen Regularitäten gerechnet werden, welche für die unmit­ telbare Endzeit biblisch angekündigt sei. Damit sind die zyklischen Prinzipien der Wiederholung und Regelmäßigkeit als Prognosegrundlage gleichsam spä­ testens in der Endzeit desavouiert – das zyklische Weltbild scheint vielen refor­ matorischen Flugschriftenautoren nicht mehr Zeit-gemäß, da es die grundle­ genden Veränderungen und den Eintritt in eine ganz neue, unvergleichliche Phase der Heilsgeschichte verkenne, zu deren sie konstituierenden Charakteris­ tika es gleichsam per definitionem gehöre, naturgesetzliche Regularitäten und das darauf basierende astrologische Zyklizitätsdenken zu durchbrechen oder 339  WA 10,1.2; 96,18 f. Vgl. auch: „Aber diß volck [die „Pfaffen“ und Mönche] macht auß der mesß eyn opffer und gutt werck, thutt das teglich unnd untzehlich, wilchs doch ist die aller grewlichst vorkerung, die von der sonnen beschienen ist.“ (WA 10,1.2; 119,13–16); „[…] alle todtschleg, diebstal, mord unnd eebruch nitt also schedlich seyn als diser grewel der Papisten Mess […].“ (WA 15; 774,20 f.). Zum teuflischen Charakter des Wiederholungsge­ dankens in der römischen Messe siehe auch z. B. Osiander: Grund und Ursach: 210 ff. 340 Das Messeverständnis ist allerdings auch ein Beispiel dafür, wie verwoben zyk­ lisch-präsentisches und singulär-futurisches Zeitverständnis sein können; man denke z. B. an das Theologumenon der Realpräsenz. 341 Vgl. Pomian, der astrologische Geschichtstheorie und christliche Heilsgeschichte zwar beide als „theology of history“ (Pomian: Astrology as a Naturalistic Theology of His­ tory 30) bezeichnet, da sie die Geschichtshermeneutik außerhalb der menschlich-irdischen Sphäre verankern, doch seien die christlich-heilsgeschichtlichen Annahmen der Linearität, Zielgerichtetheit und Unwiederholbarkeit unvereinbar mit den zyklisch basierten Vorstel­ lungen der Astrologie (vgl. Pomian: Astrology as a Naturalistic Theology of History 32). Die astrologische Geschichtsdeutung beruhe zwar auf Kausalitätsannahmen, sei aber im Un­ terschied zur christlich-linearen Zeitkonzeption nicht teleologisch ausgerichtet (vgl. Pomian: Astrology as a Naturalistic Theology of History 38 f.). Vgl. zum Widerspruch von zyk­ lisch-astrologischer und linear-christlicher Zeitkonzeption auch Pfister: Parodien 419 und Talkenberger: Sintflut 280 f.

2.  Innere Kohärenz

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zumindest unter einen grundsätzlichen Vorbehalt zu stellen. Die oben beschrie­ bene heilsgeschichtlich-apokalyptische Relativierung astrologischer Erkennt­ nisprinzipien 342 weist daher auch auf einen tiefliegenden Unterschied in der generellen Konzeption von Zeit: Zyklisches Denken wird aus heilsgeschicht­ lich-apokalyptischer Perspektive heraus für obsolet erklärt und von einer singu­ lär-futurischen Zeitkonzeption überlagert.343 So zeigt sich an mehreren Fronten eine deutliche Akzentverschiebung und eine reformatorische Spezifik im Zeitbewusstsein, welche in den zeitgenössi­ schen Auseinandersetzungen pointiert und überspitzt deutlich wird. Die pole­ mische Gegenüberstellung von überkommenem rekurrent-präsentischen und reformatorischem singulär-futurischen Zeitbewusstsein schuf eine wichtige Ba­ sis, auf welcher sich das die Moderne prägende Linearitätskonzept entfalten soll­ te. Auf bauend auf den bereits im Verlauf des Mittelalters herausgebildeten An­ sätzen eines linearen Zeitbewusstseins erhielt die Linearitätskonzeption durch die reformatorische Apokalyptik einen entscheidenden Bedeutungsschub und eine ganz neue Dynamik. Apokalyptische Erwartungen sind vom Wesen her linear-futurisch konzi­ piert 344 und grenzen vektorhaft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von­ einander ab.345 Eine derartige Unterscheidung der drei zeitlichen Dimensionen wurde insbesondere in der frühen Reformationszeit in zum Teil apodiktischer Weise vorgenommen: Die reformatorischen Zeitgenossen vollziehen in ihrem Selbstverständnis einen klaren Bruch mit der teuflisch korrumpierten Vergan­ genheit und sehen sich in eine neue Zeit eingetreten, deren grundstürzende Andersartigkeit den Rahmen zyklischer Zeitvorstellungen durchbrach. An die Stelle der traditionalen „Präsenz des Immergleichen“ trat ein neues Bewusstsein von der eigenen Geschichtlichkeit im Wandel der Zeiten, welches nicht durch regelhafte Wiederholbarkeit, sondern durch Einmaligkeit und Unhintergehbar­ keit gekennzeichnet war. Das durch die reformatorischen Bewegungen erstreb­ te Neue wurde zwar im Sinne des historischen Legitimationsgestus als das ­w iederhergestellte Alte deklariert und scheint insofern durchaus noch mit zyk­ 342 

Vgl. oben 332 ff. konnte es auch zu Integrationsbemühungen kommen, wie z. B. die oben beschriebene Sintflutdebatte erweist. Zur Verbindung von astrologischem und linearem Zeitverständnis in der Sintflutprognose vgl. Hamel: Qualität der Zeit 124. 344  Vgl. Wendorff: „Im linearen Geschichtsdenken […] ist alles einmalig, unwiederhol­ bar und damit von letztem Ernst. Diese Linie hat […] eine Gerichtetheit in die Zukunft, die in der Apokalyptik stärker als je hervortrat.“ (Wendorff: Zeit und Kultur 38). Apokalypti­ sche Zeit ist auf Zukunft und das Ende der Welt gerichtete Zeit, vgl. Goertz: Dran 163. 345  Vgl. zum Zusammenhang von Linearität und Abgrenzung der drei zeitlichen Dimen­ sionen Gurjewitsch: „Eine völlig klare Abgrenzung zwischen dem Vergangenen, Gegenwär­ tigen und Zukünftigen wird erst dann möglich, wenn die lineare Wahrnehmung der Zeit, verknüpft mit den Ideen ihrer Irreversibilität, zum dominierenden Faktor im gesellschaftli­ chen Bewusstsein wird.“ (Gurjewitsch: Weltbild 32). 343  Allerdings

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V. Zukunftsperspektive

lischem Denken vereinbar,346 dennoch liegt der Akzent deutlich auf dem Fort­ schreiten des göttlichen Heilsplanes, der durch gewisse Abfolgen gekennzeich­ net sei und nunmehr der Erfüllung entgegen strebe. Auch wenn zyklische Zeit­ vorstellungen präsent blieben, so war mit dem massiven Hervortreten der apokalyptischen Erwartungen in der frühen Reformationszeit eine Wandlung erfolgt hin zu einer linear dominierten Zeitvorstellung mit geschlossener Zu­ kunft, die im Unterschied zur mittelalterlich-spätmittelalterlichen Simultanei­ tät verschiedener Zeitkonzeptionen nicht mehr integrierbar war, sondern mit der überkommenen Zeitwahrnehmung in einen unüberbrückbaren Gegensatz trat. Der reformatorische Auf bruch war insofern auch ein entschiedener Protest gegen die oben erwähnte Zeithoheit der römischen Kirche: sowohl im Alltäg­ lichen, wenn im Rahmen des reformatorischen Antiklerikalismus z. B. Kloster­ zeiten, Fastentage etc. verworfen wurden, wie auch im Heilsgeschichtlichen, wenn im Rahmen der reformatorischen Apokalyptik die Zeithoheit der römi­ schen Kirche insgesamt gebrochen wurde.347 Die im Verlauf des Mittelalters ausgebildeten sozial und funktional differen­ ten Zeitrhythmen blieben de facto zwar bestehen bzw. differenzierten sich wei­ ter aus, im eschatologischen Denken der reformatorischen Flugschriftenautoren jedoch überlagerte die Aktualisierung des heilsgeschichtlichen Gesamtrahmens der Zeit durch die angebrochene Apokalypse alle zuvor in Geltung stehenden Unterschiede: Die bereits erfolgte Offenbarung des Antichrist als einmaliger Akt stellte ausnahmslos jeden in eine ganz neue heilsgeschichtliche Zeit hinein, deren spezifische Qualität und Dramatik es nun zu erkennen gelte. Vor dem Hintergrund der eschatologischen Reaktivierung des linear-heilsgeschichtli­ chen Bewusstseins verloren die sozialen und funktionalen Eigenzeiten gesell­ schaftlicher Teilgruppen schlagartig an Bedeutung und würden inmitten des apokalyptischen Szenarios in Kürze hinfällig geworden sein. Diverse reformat­ orische Flugschriftenautoren rufen ihre Rezipienten auf, unabhängig von sozi­ alen Merkmalen wie Stand, Rang, Beruf, Bildung oder Geschlecht mit ihren jeweils eigenen Zeitrhythmen die Zeichen der (Heils-)Zeit insgesamt zu erken­ nen und sich entsprechend zu positionieren.348 In diesem Sinne betrieben die Flugschriftenautoren eine umfassende heilsgeschichtliche Vereinheitlichung der Zeit, wenn sie soziale und funktionale Differenzierungen im apokalyptischen Sog nivelliert sehen. Diese theologisch-eschatologische Synchronisierung diffe­ renter Zeitrhythmen leistete einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung der li­ nearen Zeitvorstellung mit den ihr inhärenten Merkmalen einer „letzten Ernst­ haftigkeit“349 und einem allgemeinen Geltungsanspruch. Neben die wirtschaft­ lichen Erfordernisse und technischen Fortschritte, welche die Durchsetzung der 346 Vgl.

Schäufele: Pessimismus 39 f. Vgl. zur Zeithoheit der Kirche im Mittelalter vgl. Gurjewitsch: Weltbild 172. 348  Siehe dazu oben 264 ff. 349 Vgl. Wendorff: Zeit und Kultur 38. 347 

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linearen Zeitkonzeption beförderten, tritt also eine theologische Neuinterpre­ tation des Zeitverständnisses, deren Bedeutung es in diesem Zusammenhang neu zu betonen gilt. Mit der Vorstellung der grundlegenden Andersartigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist ein erster in die Moderne weisender Aspekt des reformatorischen Zeitbewusstseins benannt. Im Unterschied zur Moderne war der zeitliche und optionelle Zukunftshorizont in der Reformationszeit jedoch in apokalyptischer Begrenzung gedacht: Apokalyptische Zukunft war die An­ kunft des Vorherbestimmten; die Zukunftserwartung blieb geschlossen sowohl im Hinblick auf die Dauer wie im Hinblick auf das potentiell Mögliche. 2.2.2  Zeitverkürzungserwartung und Beschleunigungserfahrung Die reformatorische Endzeiterwartung veränderte nicht allein die Zeitkonzep­ tion und die Ausrichtung der Zeit auf die Zukunft, sondern auch die Zeiterfah­ rung in fundamentaler Weise: Gurjewitsch sieht den mittelalterlichen Umgang mit Zeit durch eine „epische Gemächlichkeit“350 gekennzeichnet, Zeit sei „in der mittelalterlichen Gesellschaft eine langsam fließende, gemächliche, lang­ währende Zeit. Sie wird nicht gespart.“351 Gegen die gleichbleibende, dahin­ fließende Zeit erfuhren die reformatorischen Bewegungen ihre Zeit als signifi­ kant beschleunigte Zeit, als Zeit, die in immer schnellerer Entwicklung auf ihr Ende zurast. Das massiv hervortretende apokalyptische Zeitverständnis wandel­ te die vorhandene Zeit in verbleibende Zeit: Die Zeit, die noch bis zum Jüngs­ ten Tag verblieb, glich einer letzten Frist, die schnell ablief. Die Wandlung in der Wahrnehmung von Zeit durch die reformatorischen Bewegungen lässt sich geschichtswissenschaftlich in einen größeren Rahmen einordnen, der insbesondere während des Zeitraumes von 1500–1800 grundle­ gende Veränderungen des Zeitempfindens registriert. So charakterisiert Rein­ hart Koselleck die Frühe Neuzeit als einen Prozess, in dem sich ein neues Be­ wusstsein von Zeit herauszubilden begann. Er beschreibt diesen Prozess als „Verzeitlichung der Geschichte“, an dessen Ende eine die Neuzeit prägende Beschleunigungserfahrung stehe.352 Im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution kam es durch technische Errungenschaften zu einer „Denaturalisie­ rung“ der Zeiterfahrung als Indikator einer spezifisch neuzeitlichen Geschich­

350 

Gurjewitsch: Weltbild 174. Gurjewitsch: Weltbild 171. 352  „Um meine These zugespitzt zu formulieren, so handelt es sich in diesen Jahrhunder­ ten [1500–1800] um eine Verzeitlichung der Geschichte, an deren Ende jene eigentümliche Art von der Beschleunigung steht, die unsere Moderne kennzeichnet.“ (Koselleck: Vergan­ gene Zukunft 19). Zum „Verzeitlichungsmodell der Moderne“ und der Kritik daran siehe Jung: Das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit. 351 

350

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te,353 in der die Erfahrung der Beschleunigung das eigentlich moderne Element darstellt: „Veränderung, mutatio rerum, ist für alle Geschichten aussagbar. Modern dagegen ist jene Veränderung, die eine neue Zeiterfahrung hervorruft: dass sich nämlich alles schneller ändert, als man bisher erwarten konnte oder früher erfahren hatte. Es kommt durch die kürzeren Zeitspannen eine Unbekanntheitskomponente in den Alltag der Betroffenen, die aus keiner bisherigen Erfahrung ableitbar ist: das zeichnet die Erfah­ rung der Beschleunigung aus.“354

Dabei sei die Beschleunigung als geschichtliche Erwartungskategorie auch vor­ dem vorhanden und werde seit dem 16. Jahrhundert durch neue Erwartungsge­ halte angereichert, doch entwickle sie sich erst mit der Industriellen Revolution zu einem gesättigten Erfahrungsbegriff.355 Die Anfänge dieser Entwicklung erkennt Koselleck in apokalyptischen Vor­ stellungen: Bereits die ältere Apokalyptik impliziere Zeitverkürzungsannah­ men, gleichsam als Vorformulierung späterhin als Säkularisat auftretender Be­ schleunigungserfahrungen,356 und fungiert daher als „Anlaufzeit, die erst nach dem Überschreiten der Schwelle in eine neue Dimension der Zeiterfahrung führte.“357 Den auf Mk 13,20 und Mt 24,22 gründenden apokalyptischen Er­ wartungen, Gott werde seinen Auserwählten die Tage verkürzen als Vorzeichen des Weltendes, sei bereits eine Vorstellung von Zeitknappheit inhärent, welche jedoch mit modernen Beschleunigungserfahrungen in Kontext und Inhalt nicht vergleichbar sei. Die vorneuzeitliche apokalyptische Zeitverkürzungsvor­ stellung meine eine naturale Zeitverkürzung im Sinne einer Beschleunigung der Naturzeit selber: „Einmal wird die Zeit selber beschleunigt, indem die Zeitphasen, die der Natur ent­ lehnt sind – Jahre, Monate, und Tage zumindest –, zusammengedrängt werden. Es handelt sich um eine von Gott gewollte Verwandlung der Naturzeit, deren gleichmäßi­ ge Rhythmen sich verkürzen, bevor das Jüngste Gericht eintritt.“358

Modern dagegen und von der Apokalyptik klar zu unterscheiden sei das Emp­ finden beschleunigter Abfolgen innergeschichtlicher Fortschritte bei konstant verlaufender Naturzeit: „Die Naturzeit selbst bleibt sich zwar gleich, aber der von den Menschen geschaffene Inhalt der Zeit wird beschleunigt verwirk­ licht.“359 Damit liegen nach Koselleck ungeachtet der semantischen Ähnlichkeit „zwei verschiedene, ja einander widersprechende Befunde“ vor.360 353 

Koselleck: Beschleunigung 153. Koselleck: Beschleunigung 164. 355 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 153. 356 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 153. 357  Koselleck: Beschleunigung 157. 358  Koselleck: Zeitverkürzung 178. 359  Koselleck: Zeitverkürzung 178. 360  Koselleck: Zeitverkürzung 178 f. 354 

2.  Innere Kohärenz

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Kosellecks Kronzeuge für die vormoderne Zeitverkürzungserwartung ist Luther, wobei er allerdings von der korrekturbedürftigen Annahme ausgeht, dass Luther im Gegensatz zu seinen theologischen Schriften lediglich in seinen Tischreden apokalyptische Erwartungen formuliere.361 Die schmale Quellen­ basis Kosellecks (er selbst spricht von einer „modellhaft verkürzten Position“362 ) ist bereits von Goertz moniert worden 363 und bedarf einer Erweiterung und Überprüfung. Inwiefern gerade den frühreformatorischen Flugschriften im Zusammenhang mit der „Verzeitlichung der Geschichte“ besondere Bedeutung beizumessen ist, wird im Folgenden zu zeigen sein. Das apokalyptische Empfinden der eigenen Gegenwart als ablaufender, be­ fristeter Zeit war eine spezifisch reformatorische Zeiterfahrung, die aus dem biblischen Topos einer durch Gott verkürzten Zeit erwuchs: In vielfachen Wendungen begegnet in den reformatorischen Flugschriften die Erwartung, dass Gott aufgrund der Nöte und Bedrängnisse, welche sich in einem geschicht­ lichen Prozess gesteigert haben und in der Gegenwart kulminierten, zum Ein­ greifen gezwungen sei, indem er die Geschichtszeit an sich verkürzt und das Weltende schneller herbeiführt. Das aktuelle Maß der Machtfülle und Aktivität des Teufels sei so gewaltig, dass Gott seine Auserwählten schützen müsse, wolle er sie nicht sämtlich dem Teufel preisgeben. Das Maß des erträglichen Leids sei z. B. nach Osiander gewisslich erreicht, doch werde Gott nicht zulassen, dass es überschritten wird: Aus dem Buch Hiob könne jeder lernen, „[…] was sich ain recht christgelaubig mensch leyden muß, biß Got seinen glauben wie das golt im feuer probiert, und doch die ver­ uechung nymmer groesser wirt, dann er mag ertragen […].“364 Der gegenwär­ tige antichristliche geistliche Missbrauch und die totale Verkehrung von Gott und Teufel lassen auch Luther das Weltende in kürzester Frist erwarten 365 – das reformatorische Kohärenzmerkmal der Konstatierung einer gegenwärtig kul­ minierenden Teufelsmacht wird zum untrüglichen Indikator für die unmittel­ bare Nähe des Endes und hat damit direkte Auswirkungen auf die Zukunfts­ perspektive und die Zeiterfahrung. 361 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 170. Dass Luther auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit vielfach eindringlich apokalyptische Vorstellungen artikuliert, ist bereits hinrei­ chend deutlich geworden, vgl. z. B. oben 276 ff. 362 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 171. 363 Vgl. Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 16. 364  Osiander: Grund und Ursach 236,26–28. 365  Er glaube fest daran, „[…] das Christus musse bald komen, denn solch sunde sind tzu groß, der hymell kan sie nit lenger ansehen, sie reytzen unnd trotzen dem iungsten tage tzu seher, er muß ubir sie fallen, ehe es lang wirtt […]. Aber gottis dienst, gotis wort, gottis sacrament, gottis kinder und alles was gottis ist vorstoren, vortilgen, vordammen, vorlestern, und den teuffel an seyne statt setzen, anbeten unnd ehren, seyne lugen fur gottis wortt hall­ ten, das wirt der sachen eyn ende machen, da ist myr keyn tzweyffel an, ehe man sich umb­ sihet.“ (WA 10,1.2; 97,16–26).

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Die gegenwärtige Teufelsmacht gefährdet nach Cronberg die Seligkeit sogar der Auserwählten, so dass Gott sich auf seine barmherzigen Verheißungen be­ sinnen und die in der Schrift angekündigte Verkürzung der Tage nunmehr verfügen werde: „Und wo solich grausam yrrung durch die hohe guetigkeit gottes nit verkürtzt würde, so moechten wenig menschen selig werden. Aber gott verspricht an gemeltem ort [Mt 24,22], das die zeyt oder die tag verkürtzt werden umb der ußerwelten willen. Welicher christ wolt nu daran zweyfelen, das soliche gnadreiche erloesung und verkürtzung durch etwas anders geschehen moeg, dann eynig und allein durch das wort gottes? wie auch die heylig geschrifft (das ist der mundt gottes) klarlich ußdrukt, und bey dißen unseren zeyten erfüllet […].“366

Jede Verzögerung der Zeitverkürzung diene daher dem Teufel, der durch die Bevollmächtigung des Antichrist alles versuche, das Gericht weiter hinauszu­ schieben: „Der anthicrist ist ein solch verfurisch, schedlich und gotteslesterlich ding, […] der in letzten zeiten aus hochstem betrug und grymmigen zorn des teufels, der das letzst ge­ richt förcht und mit verhinderung unser seligkeit gern lenger auffziehen wolt, in die welt eingefurt und auffgericht solt werden.“367

Auch Müntzer als Protagonist spiritualistischer Richtungen der reformatori­ schen Bewegungen sieht die wahre Kirche am Rande ihrer Leidensfähigkeit angelangt, wenn er konstatiert, „[…] das dye christliche kyrche alßo seher zcur­ knurschet ist, das sie Goth nicht kunde hefftiger plagen, er wollte sie dann gar auslesschen […].“368 Gott aber lege den Menschen nicht mehr auf, als sie ertra­ gen können, wenngleich der Mensch allzu rasch meine, dieses Maß sei bereits erreicht. Doch habe sich die Teufelsaktivität mit der Wiederentdeckung der Geistoffenbarungen nochmals potenziert, wenn der Teufel mittels seiner obrig­ keitlichen Handlanger das Leiden ins Unerträgliche steigen lasse, so dass die Zeitverkürzung die einzige Möglichkeit der Rettung darstelle: „Wie bey unsern zeyten nu Gott seyn liecht in die welt schickt, wirt beweyset der gott­ losen unsinnigen menschen regiment und oeberkeyt, nach allem mutwillen mit allem eusserlichem toben und wuetten auffs aller hoechst wider Got und alle seyne gesalbten, Psal. 2 [Ps 2,1–3], 1. Johan. 2 [1 Joh 2,16–20], das auch yetzt etlich erst recht anfangen, ir volck zu stoecken, ploechen, schinden und schaben, und bedrawen darzu die gantzen christenheyt, und peynigen und Toedten schmalich die iren unnd frembden auffs aller­ scherpffst, das auch Got nach dem ringen der außerwelten den yammer nit lenger wirt 366  Cronberg: Strassburg 108 f. Zur Verkürzung der Tage vgl. auch Luther: „Denn Gott dise tage verkürtzen wirdt / sonst wurde kain mensch saelig. Vnd gleych yetzt hoffen wir das dieselbige zeytt nahend vorhanden sey.“ (Luther: Offenbarung des Endtchrists G3b). Vgl. auch WA 15; 753,33–35. Es sei evident, dass das antichristliche Regiment „nicht lang mehr stehen kan.“ (WA 15; 754,14). Vgl. auch Osiander: Ratschlag: 352,16–24; Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a. 367  Osiander: Ratschlag 352,9–14. 368  MSB 503,27–29.

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kuennen und muegen ansehen, und die tag muß er seynen außerwelten verkuertzen, Mat. am 24. [Mt 24,22]. Sonst wuerden die leuet durch keyn recht betrachten die menschwerdung Christi annemen, es wuerden eyttel heyden und teuefel drauß, vil er­ ger secten, denn vorm anfang. Darumb sagt Paulus, 1. Cor. 10 [1 Kor 10,13], das Got seinen geliebten also gantz trew ist, das er in nicht mehr aufflegt, denn sie tragen mue­ gen. Wiewol die natur stets gedenckt, das ir zu vill auffgelegt wirt.“369

Die apokalyptische Zeitverkürzungserwartung tritt in den Flugschriften viel­ fach zutage und kann mithin als ein inneres reformatorisches Kohärenzmerk­ mal gelten. Im Unterschied zu den von Koselleck benannten apokalyptischen Zeitverkürzungserwartungen, welche durch die konkrete Vorstellung einer Verkürzung der Naturzeitrhythmen ( Jahre, Monate, Tage) gekennzeichnet sei­ en,370 wird in den reformatorischen Flugschriften jedoch nicht eine Verkürzung der Naturzeitrhythmen, sondern allein eine Verkürzung der Zeit selber im Sin­ ne ihres abrupten Abbrechens erwartet. So rechnet z. B. Luther nicht mit einer Verdichtung der Naturzeitintervalle – Jahreszeitenwechsel sowie Tag-NachtRhythmen bleiben bestehen bis zum Jüngsten Tag, wenngleich sich ungewöhn­ liche Phänomene wie z. B. Sonnenfinsternisse vor dem Ende häuften, um als apokalyptische Zeichen erkennbar zu sein.371 Die Vorstellung der Verkürzung der Tage bezieht sich also nicht auf schnellere Mond- und Sonnenumläufe, son­ dern auf die Auf hebung der gesamten Geschichtszeit und deren Eingang in die göttliche Ewigkeit. Dieses Verständnis der Zeitverkürzung nicht als Beschleu­ nigung der Naturzeit, sondern als deren Abbruch wird auch deutlich, wenn Luther die künftige Zeitverkürzung in historischer Parallele zum Auftreten Christi sieht, der bei seiner ersten Ankunft die Leidenszeit der Juden verkürzt habe und nunmehr bei seiner bevorstehenden Wiederkunft den zeitgenössi­ schen Gläubigen ebenfalls die Leidenszeit verkürzen werde, freilich mit dem Unterschied, dass die Zeit danach keinen weiteren Fortgang mehr nehme: „Aber wie yhenis mal bey den Juden die tage verkurtzt sind worden, als Chris­ tus sagt, so mussen sie ytzt auch verkurtzt werden umb der ausserwelten wil­ len.“372 Mit diesem Befund liegt bereits eine gewisse Transformation älterer apokalyptischer Zeitverkürzungserwartungen vor, wie sie z. B. in der antiken tiburtinischen Sybille artikuliert werden.373

369 

MSB 283,10–284,4. Vgl. oben 350 (Koselleck: Zeitverkürzung 178). 371  „[…] tag und nacht muß bleyben biß an das ende, wie gott verheyssen hatt Gen 8. Alßo lange die erden stett, sollen die frucht und erndt, frost und hitze, sommer und winter, nacht und tag nit auff horen, drumb muß ditz tzeychen geschehen on hynderniß des tags und der nacht, und muß doch fur dem iungsten tag geschehen, weyl es eyn vorgehend tzeychen ist […].“ (WA 10,1.2; 98,25–99,4). 372  WA 15; 753,33–35. 373  Vgl. dazu Koselleck: Zeitverkürzung 177. 370 

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V. Zukunftsperspektive

Mit der Erwartung des göttlichen Zeitverkürzungsentscheids schien der Jüngste Tag unmittelbar bevorstehend.374 Vor dem Hintergrund des Anbruchs des apokalyptischen Szenarios ergab sich in der Wahrnehmung der reformato­ rischen Flugschriftenautoren ein akuter Zeitnotstand – nicht mittelalterliche Gemächlichkeit im Bewusstsein vorhandener Zeit, sondern Eile schien gebo­ ten, es galt, keine Zeit mehr zu verlieren. Zeit wurde zu einem knappen und ungemein wertvollen Gut, welches insbesondere im Hinblick auf die Herstel­ lung der Öffentlichkeit des wiederentdeckten Evangeliums unbedingt gewis­ senhaft genutzt werden musste, um noch möglichst viele Gläubige aus den Fän­ gen des Teufels zu erretten. Die Erwartung der Zeitverknappung äußert sich denn auch in den eindringlichen Forderungen der Flugschriftenautoren, jetzt auf die Seite des Evangeliums zu treten – für Zögerlichkeiten bliebe keine Zeit mehr.375 Angesichts der bevorstehenden apokalyptischen Zeitverkürzung wan­ delte sich die reformatorische Gegenwart zu einer letzten Bewährungs- resp. Bekehrungsfrist, mit der eine gesteigerte Persuasionsvirulenz für die mediale Tätigkeit der Flugschriftenautoren gegeben war – so will z. B. Osiander „kayn muehe und arbait sparen, auf daß wir doch ettlich in dysen gefaerlichen letsten zeiten erretten […].“376 Auch für Müntzer ergibt sich vor dem Hintergrund seiner apokalyptischen Erwartungen ein ganz neuer Zeit- und Handlungsdruck, worauf Goertz zu Recht hingewiesen hat.377 Müntzer sei im Vergleich zu Luther der noch über­ zeugendere Kronzeuge für die apokalyptische Beschleunigungserfahrung, die hier eine noch radikalere Ausprägung erhalte, die Koselleck übersehen habe.378 Goertz’ Ausführungen können jedoch dahingehend präzisiert werden, dass der Umstand, dass man sich angesichts des nahenden Weltendes zur Eile gezwun­ 374  Oben wurde die in den Flugschriften artikulierte Naherwartung bereits ausführlich dargelegt, vgl. oben 234 ff. Wendungen wie „ynn kuertz“ etc. begegnen in den Flugschrif­ ten immer wieder: „Und will darnach ynn kuertz, so ich diss meyn wort eyn zeytlang hab lassen ausschreyen, mit ernst komen, meyn lieben getrawen meynes erbs teylhafftig zu ma­ chen, und die meyneydigen, so von myr gewichen, werffen ynn die ewige verdamnis. Dar­ nach, meyn lieben getrawen, hab sich menniglich one entschuldigung zu richten, mit steter auffsehung meyner zukunfft, denn yhr wisst weder stunde nach tag.“ (Herman: Mandat 283,41–284,6). Vgl. auch Osiander: „[…] unser heyl ist neher, weder wir glauben.“ (Osiander: Vorrede 91,6 f.). Brunfels: „Gott woell eüch gnade und bestendigkeit geben, das ir also verharrent bitz in das ende [Mk 13,13]. Dann die zeyte nahet sich.“ (Brunfels, Anstoß 294,10–12); Osiander: Ratschlag 352,17–24. 375  Siehe oben 264 ff. 376  Osiander: Grund und Ursach 199,4 f. 377 Vgl. Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 14: „Müntzer will sagen: Es ist allerhöchste Zeit, nun endlich zu handeln, um im letzten ‚Streyth des Herren‘ mitzukämp­ fen. Ein Aufschub ist nicht möglich; es ‚ist hoch zeyth‘, d. h. es bleibt keine Zeit mehr. Dieser Streit steht nicht bevor, er ist schon ausgebrochen. Das Reich Gottes wird nicht erst noch kommen, sondern hat schon begonnen. Die Gegenwart wird in die Zukunft hineingerissen, die mit dem Heilsprozess im Innern des Menschen bereits eingesetzt hat.“ 378 Vgl. Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 13 f.

2.  Innere Kohärenz

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gen sieht, im eigentlichen Sinne noch keine Beschleunigungserfahrung, son­ dern lediglich eine wahrgenommene Dringlichkeit der Herstellung von Be­ schleunigung darstellt. Der Begriff der Beschleunigung impliziert das Moment einer exponentiellen Steigerung von Geschwindigkeit: Ereignisse überstürzen sich, alles vollzieht sich in kürzeren Abständen.379 Koselleck unterscheidet dabei zwei verschiedene Varianten der Beschleunigungserfahrung: Einmal eine primär im politischen Verfassungsleben registrierbare Beschleunigungerfahrung, welche in der Ge­ schichte immer wieder auftritt und sich vom Vergleich mit Altbekanntem her­ leitet, das sich lediglich in kürzerer Zeit ereigne.380 Hiervon müsse zweitens die Beschleunigungerfahrung als Resultat der technisch-industriellen Fortschritte unterschieden werden, welche auf der Kontrastfolie der Vergangenheit die Neuheitserfahrung der Gegenwart erst begründe.381 Beide Beschleunigungs­ typen, sowohl die Herleitung von Altbekanntem als auch die technisch beding­ te Neuheitserfahrung, sind bereits in der frühen Reformationszeit erkennbar, blenden sich ineinander und konstituieren ein umfassend begründetes Be­ schleunigungsempfinden. Der erste Beschleunigungstypus begegnet z. B. im Hinblick auf die Astral­ phänomene. Vielfach wird in den Flugschriften festgestellt, dass sich die unge­ wöhnlichen Astralphänomene in der jüngeren Vergangenheit in geschichtlich einzigartiger Weise akkumulierten: Z. B. die anonyme „Practica“ stellt eine außerordentliche Häufung fest und deutet diese – in Verbindung mit einem astrologiekritischen Seitenhieb – als Zeichen des Weltendes: „Wir haben diß Jar eyn finsterniß im Mon / was sie zeygt / weyß nyemant / darumb ists besser still daruon geschwigen / dann vnnütz ding geplapt / wie dann geschehen wirt von vilen sternguckern. Christus aber sagt also Lu. xxj. [LK 21,25] zu seinen Aposteln. Am end der welt werden zeychen sein in Sonne vnnd Mon etc. die werden anzeygen eyn schnelle zukunfft des menschen suns in wolcken / mit grosser gewalt zu scheyden die boeck von den schaffen. Dergleichen zeychen sind bißher vil gesehen worden / was sie bedeuten sagt dir Christus / vnd frag nit weiter / sunder heb auff dein haupt / vnd sihe / dein erloesung ist nahe […].“382 379  Zum Begriff der Beschleunigung vgl. Koselleck, der ihn als spezifische Variante des Fortschritts, der jedoch auch gleichmäßig verlaufen kann, kennzeichnet: „Einen Fortschritt kann es, theoretisch gesehen, auch geben, wenn er gleichmäßig verläuft, so daß die bloße Geschwindigkeit einer Veränderung oder Verbesserung kein zusätzliches Kriterium dafür liefert, dass sich überhaupt etwas fortschreitend ändert. Der Anstieg der Produktion kann z. B. in den gleichen Zeitabständen immer der gleiche bleiben. Erst wenn die Produktivität gesteigert wird, kommt es zu einer Beschleunigung der Produktion.“ (Koselleck: Be­ schleunigung 163). Weiterhin: „Erst wenn sich die Raten, die in gleichen Zeitabständen der natürlichen Chronologie gemessen werden, in geometrischer und nicht mehr in arithmeti­ scher Reihe steigern, lässt sich demnach so etwas wie Beschleunigung registrieren.“ (Koselleck: Beschleunigung 163 f.). 380 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 167. 381 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 167. 382  Practica B3b.

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V. Zukunftsperspektive

Diese „schnelle zukunfft des menschen suns“ wird auch von Copp erwartet, der aus dem enormen Veränderungsgrad gegenüber dem Altbekannten ein Be­ schleunigungsempfinden ableitet, welches den Jüngsten Tag heranrasen sieht.383 Die Wahrnehmung einer dramatisch erhöhten Frequenz der als apokalypti­ sche Zeichen gedeuteten Astralphänomene begegnet (wie oben ausführlich dar­ gestellt) auch bei Luther.384 Z. B. Sonnen- und Mondfinsternisse sowie Stern­ schnuppen mehrten sich und träten in noch nie dagewesener Häufung auf, was das Empfinden einer signifikanten Beschleunigung im Vergleich zu vergange­ nen Zeiten hervorrief.385 Nicht das Erscheinen an sich, sondern allein die Be­ schleunigung des Erscheinens der Astralzeichen mache dabei die Einzigartig­ keit und Andersartigkeit der Gegenwart im Vergleich mit der Vergangenheit aus.386 Diese Akzelerationswahrnehmung macht Luther auch an weiteren As­ pekten fest: Neben der direkten Einflussnahme der Menschen entzogenen Na­ turphänomenen wie z. B. Stürmen und Fluten oder Missbildungen bezieht er auch menschenverursachte Katastrophen wie z. B. Teuerungen und Kriege in seine Beschleunigungsdiagnose ein – alle diese Ereignisse und Vorgänge seinen altbekannt, doch beschleunigten sie sich in dramatischer Weise. Damit korrelie­ rend registriert er im Vergleich mit der Vergangenheit eine exorbitante Zunah­ me geistlicher Missbräuche, die Eingang in die kirchliche Praxis gefunden und mithin den moralischen Depravationsprozess insgesamt beschleunigt hätten.387 Aufschlussreich sind aber vor allem Luthers auf den weltlichen Bereich bezo­ genen Beschleunigungsargumente. Koselleck hat bereits darauf hingewiesen, dass Luther in den 1520er Jahren die politischen Ereignisse eines ganzen Jahr­ hunderts in einem Jahrzehnt zusammengedrängt glaubte.388 Die wahrgenom­ 383 Vgl. Copp: Urtayl A4b: Copp stellt fest, dass in den vergangenen „[…] zway jaren mer seltzsamer ding verlauffen seynd, Dann vor hin in vil hundert jaren […]. Jch hab aber sorg es sey biß her eyn Taw gewest vnd der platzregen sey noch da vornen / Got woel das nit ein hagel drauß wird / Dann mich verursacht die weißsagung Christi / neben des himels eyn­ fluß / das ich warlich argkwonnen mueß es sey der jungste tag nit weyt.“ 384  Vgl. oben 281 ff. 385  WA 10,1.2; 100,9–16 386  Vgl. WA 10,1.2; 101,4–8: „[…] drumb wenn die sternn fallen, odder sonn und mond den scheyn vorlieren, ßo wisse, das es tzeychen sind, das Euangelium leugt dyr nicht; weyl aber diße iare, viel und nah auff eynander geschehen, und doch nichts ßonderlichs folget, hastu tzu dencken, das es werden diße tzeychen seyn des iungsten tages […].“ Vgl. auch WA 10,1.2; 104,15–19: „Szo gehen sie [die Zeichen] doch itzt mit dem hauffen semptlich daher, und nicht selden, ßondernn viel und offt, denn unßer tzeytt die sihet tzugleych Sonn unnd Monscheyn vorlieren, sterne fallen, menschen bange werden, grosse wind unnd wasser brau­ ßen, und was mehr gesagt ist. Es kompt alle auff eynen hauffen.“ 387 Vgl. oben 279 f. Diese Einschätzung ist in den reformatorischen Flugschriften weit verbreitet, vgl. z. B. Brunfels: „Und ist wol zu vermeynen, es werde sich der schimpf erst basß [erst richtig] heben, als nye ist gesein, von anbegynne der welte. Christus sprichts [Mt 24,9]. Es haben doch alle laster überhant genummen, und allermeyst in der geystlicheit, daz es auch nit hoeher moecht kummen […]“ (Brunfels, Anstoss 308,1–5). 388 Vgl. Koselleck: Zeitverkürzung 187; Ders.: Vergangene Zukunft 21.

2.  Innere Kohärenz

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mene enorme Beschleunigung ganz konkreter geschichtlicher Ereignissequen­ zen war ihm Beleg dafür, dass das Weltende mit verkürzten Zeitrhythmen her­ einbrach. In der Adventspostille von 1522 konstatiert Luther dasselbe Phänomen in langfristigerer Perspektive, wenn er den Beschleunigungszeitraum auf das gesamte vergangene Jahrhundert ausdehnt.389 Dies ist selbstredend eine subjek­ tive Einschätzung, zugleich aber auch Ausdruck der Erfahrung zunehmender Verdichtung politischer Prozesse und Strukturen, wie sie sich im frühen 16. Jahrhundert vollzog. Damit verweist Luther auf empirisch registrierbare Kon­ flikte und Konstellationen, deren beschleunigte Abfolge auf das nahe Weltende hindeute. Diese innergeschichtliche Argumentationsebene beschränkt sich aber nicht nur auf Momente des politischen Verfassungslebens, sondern darüber hi­ naus bezieht er sich auch auf weitere Kategorien: Seine Feststellung, „das itzt eyn knab von tzwentzig iaren mehr kan, den tzuvor tzwentzig Doctores kundt haben“, bleibt zunächst ebenfalls ein rein sub­ jektiver Eindruck über gesteigerte Gelehrsamkeit, gewinnt aber vor dem Hin­ tergrund des Aufschwungs der Wissenschaften und neuer Bildungsmöglichkei­ ten an allgemeingültiger Evidenz, genauso wie die von ihm angeführten zu­ nehmend weltumspannenden Handelsaktivitäten, die im frühen 16. Jahrhundert ungeahnte Möglichkeiten und Erfahrungen erschlossen.390 Hinzu kommt die stete Ausdifferenzierung des Handwerks und der Waren- und Finanzwirtschaft, welche zusammengenommen die Beschleunigungserfahrung multidimensional begründen. Diese Argumentationsstränge beruhen in ihrem Kern jedoch noch auf einer Beschleunigungserfahrung der graduellen Unterschiede, welche dem ersten von Koselleck benannten Beschleunigungstyp entspricht, wenn hier le­ diglich eine schnellere Entwicklung von an sich Altbekanntem beschrieben ist. Anders verhält es sich, wenn Luther selbst ausdrücklich von „newen fund[en]“391 spricht, die eine auf technischen Fortschritten basierende grund­ legende Neuheitserfahrung evozieren und damit den modernen Typus der Be­ schleunigungserfahrung abbilden. Er zählt darunter zum einen militärtechni­ sche Errungenschaften wie „buchßen und ander kriegshendell“392 , die eine veränderte Art der Kriegsführung ermöglichten mit bis dato ungekannten zer­ störerischen Folgeerscheinungen.393 Zum anderen bezieht er sich auf das „buchdrucken“394, das den Zeitgenossen ebenfalls völlig neuartige Erfahrungs­ gehalte erschloss, indem es analogielose Dimensionen der technischen Verviel­ fältigung und des Vertriebs eröffnete und damit den Informationsaustausch 389 

Vgl. WA 10,1.2; 95,19–21. Vgl. oben 278. 391  WA 10,1.2; 96,11. 392  WA 10,1.2; 96,12. 393  Vgl. WA 10,1.2; 108,15–18: „[…] es bekennet auch yderman, das itziger kriegen art alßo gethan ist, das, ßo vortzeytten geweßen sind, kinder geachtet werden, ßo gar ists auffs aller grewlichst und hohist mit geschutz, harnisch und runstung komen.“ 394  WA 10,1.2; 96,11. 390 

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V. Zukunftsperspektive

durch räumliche und zeitliche Entgrenzung enorm beschleunigte.395 Dies gilt nicht allein bezüglich der typographisch ermöglichten produktionsbezogenen Multiplikationseffekte, sondern auch hinsichtlich der enorm beschleunigten dispersen Rezeptionsprozesse: „Der Eindruck einer größeren Geschwindigkeit des typographischen Informationsum­ schlags rührt letztlich nicht nur aus der Aktivität der Drucker und Produktivität ihrer Werkzeuge und Maschinen her. Er setzt sich vor allem deshalb in der frühen Neuzeit so rasch durch, weil ein Effekt hinzutritt, den man heute als ‚Parallelverarbeitung‘ be­ zeichnet: Eben weil die Druckereien eine Vielzahl von identischen Informationen pro­ duzieren, deshalb können auch viele ‚Benutzer‘ zugleich anfangen, mit diesen Informa­ tionen zu arbeiten. Die Simultaneität der Rezeption und Nutzung, also eine Aktivität der Leser und Käufer der Bücher, wird als beschleunigendes Moment wahrgenommen und dem ‚Truckwerk‘ zugeschrieben.“396

Durch das Entstehen einer reformatorischen Öffentlichkeit wuchsen der zeitge­ nössischen Beschleunigungswahrnehmung neue Erfahrungsgehalte zu, welche auf der Basis technischer Entwicklungen den Rahmen des bislang Bekannten sprengten. In ihrer publizistischen Funktion als aktuelle Berichterstatter über die Reformationsereignisse stehen insbesondere die Flugschriften paradigma­ tisch für einen Wandel der zeitgenössischen Aufmerksamkeitsstrukturen, wel­ che sich auf einen „Wahrnehmungsmodus des Aktuellen“ umstellten: Aufgrund der ernorm erhöhten Veränderungsgeschwindigkeit und der publizistisch ver­ mittelten permanenten Neuigkeiten lösten sich die zeitgenössischen Gegenwar­ ten in immer rascherer Folge ab.397 Die Gattung der Flugschriften wird mithin einerseits zur Artikulationsplatt­ form der neuartigen Akzelerationserfahrung, wenn die Autoren zum einen von den Beschleunigungsprozessen berichten. Darüber hinaus aber wird das Medi­ um der Flugschrift auch in sich zum eigentlichen Träger eben dieser Akzelera­ tionserfahrung, indem es selbst einen integralen Bestandteil des durch es kom­ 395 

Vgl. dazu Giesecke: „Gerade diese Beschleunigung des Informationsaustausches wur­ de von den Zeitgenossen intensiv erlebt […]“ (Giesecke: Entdeckung 203). 396  Giesecke: Buchdruck 158. 397 Vgl. Sandl, der den Thesenanschlag Luthers als Startschuss einer Beschleunigungs­ empfindung beschreibt: „Der Thesenanschlag und die ihm folgenden Auseinandersetzungen hatten die Einheit und Gleichförmigkeit der Zeit gesprengt und einen Riss zwischen der Vergangenheit der theologischen Überlieferung und der reformatorischen Gegenwart des Gotteswortes verursacht. Ob man Luthers Ablasskritik emphatisch begrüßte, ihre Folgen abwartend beobachtete oder sie rundweg ablehnte, als Traditionsbruch zeitigte sie eine Wir­ kung, die sich auf allen Seiten als Beschleunigungserfahrung artikulierte. Tatsächlich über­ schlugen sich seit 1518 buchstäblich die Ereignisse, und nicht nur die Beobachter, sondern auch alle Beteiligten wurden davon überrascht und mitgerissen. Plötzlichkeit und Unerwar­ tetheit wurden zum Signum der frühen Reformation, so dass sich Aufmerksamkeitsstruktu­ ren wandelten und Wahrnehmungs- und Beobachtungsweisen auf das Prinzip des Aktuellen umgestellt wurden. Zum Wahrnehmungsmodus des Aktuellen gehörte der Überraschungs­ effekt, der sich in der Art und Weise manifestierte, wie Informationen vermittelt wurden, den Rezipienten ergriffen und überwältigten.“ (Sandl: Medialität 285 f.).

2.  Innere Kohärenz

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munizierten Beschleunigungsphänomens darstellt. Damit bildet die aus den Flugschriften erhobene Beschleunigungserfahrung ein augenfälliges Beispiel für die „Medialität des Historischen“398 , wenn das Medium selbst die Akzelera­ tionswahrnehmung zu einem wesentlichen Teil präformiert. Die geschilderten Aspekte machen das reformatorische Empfinden einer um­ fassenden Bewegung, Vermehrung und Beschleunigung aller Dinge deutlich, wobei beide von Koselleck konturierten Beschleunigungstypen in Kombinati­ on auftreten. Der Vergleich mit Altbekanntem wie auch die technisch basierte Neuheitserfahrung führen insbesondere in ihrer Zusammenschau zur gleichen Konsequenz: Dem unmittelbaren Bevorstehen des Jüngsten Tages, dessen be­ schleunigtes Herannahen in der reformatorischen Zeitwahrnehmung der zeit­ genössischen Gegenwart ihren heilsgeschichtlich unikalen Charakter verlieh. Koselleck unterscheidet an anderer Stelle hinsichtlich der Kategorie der Be­ schleunigung weiterhin zwischen Erwartung und Erfahrung; erstere bestimme die apokalyptischen Zeitverkürzungsvorstellungen,399 letztere die neuzeitli­ chen Akzelerationswahrnehmungen: „Geschichtliche Beschleunigung kann registriert werden in zwei möglichen Fällen: Erstens kann sie als Zeitverkürzung aus Zielerwartungen abgeleitet werden: dann blei­ ben Beschleunigungsprozesse als Postulat immer möglich und können unbeschadet ih­ rer Erfüllbarkeit stets aufs neue beschworen werden. In diesem Falle handelt es sich um einen jederzeit wiederholbaren Erwartungsbegriff. Rein subjektiv lassen sich daraus Verlangsamungen, Verzögerungen oder Verspätungen ableiten – Kategorien der Wünschbarkeiten oder enttäuschter Hoffnungen. Zweitens kann die Beschleunigung aus dem Vergleich mit vergangenen Ereigniszusammenhängen abgeleitet werden: So bleiben sie empirisch überprüf bar […]. Dann handelt es sich um einen reinen Erfah­ rungsbegriff.“400

Beide Kategorien vermischen sich jedoch bereits in der frühen Reformations­ zeit, wobei hier vorrangig die Erwartungshaltung dominiert, welche die Inhal­ te der Erwartung „rein subjektiv“ applizierbar macht. Als Beispiel hierfür kann die in den Flugschriften konstatierte Beschleunigung der Astralzeichenfrequenz dienen: Inwieweit hier die Wahrnehmung geschichtlicher Sachverhalte von der apokalyptischen Erwartungshaltung geprägt und überformt ist, wird deutlich, wenn die von den reformatorischen Flugschriftenautoren diagnostizierte expo­ nentielle Zunahme von z. B. Sonnenfinsternissen und anderen Astralphänome­ nen in der wissenschaftlichen Retrospektive nicht objektivierbar ist und damit der reformatorische Befund eindeutig von der Erwartungshaltung evoziert wurde.401 398 

Crivellari u. a.: Medialität und Geschichte 31. mag die Zeitverkürzung als einen Begriff religiöser Erfahrung definieren, sei­ nen Sinn bezieht er aber aus der Erwartung.“ (Koselleck: Beschleunigung 169). 400  Koselleck: Beschleunigung 175. 401  Vgl. oben 283. 399  „Man

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V. Zukunftsperspektive

Die Suggestivkraft der apokalyptischen Zeitverkürzungserwartung kann auch für weitere reformatorische Begründungmomente in Anschlag gebracht werden. So sind z. B. Luthers geistig-moralische Einlassungen – auch wenn sie sicherlich einem weitverbreiteten Zeitgeist entsprechen – letztlich von einem rein subjektiven Beurteilungsmaßstab her formuliert und können gleichsam be­ liebig auf die Geschichte appliziert werden. Gleichwohl können aber seine auf die weltliche Sphäre bezogenen Begrün­ dungsmomente für die Beschleunigungswahrnehmung auch empirische Gel­ tung beanspruchen. Mit ihnen sind gesellschaftliche und technische Verände­ rungsprozesse angesprochen, die bereits im frühen 16. Jahrhundert eine Be­ schleunigungserfahrung unter den Zeitgenossen wachriefen, die nicht mehr mit Altbekanntem der Vergangenheit vergleichbar war. Wenngleich sich die Veränderungsgeschwindigkeit im Verlauf der Frühen Neuzeit bis zur Industri­ ellen Revolution weiter exponentiell steigern sollte, so ist schon in den 1520er Jahren eine Neuheitserfahrung gegeben, die nicht nur auf vereinzelt-subjekti­ ver zeitgenössischer Wahrnehmung, sondern auf empirisch überprüf baren Ver­ änderungsprozessen gründet. Nach Koselleck hatten die apokalyptischen Erwartungen ihren Richtpunkt außerhalb der Zeit selber,402 wenn sie die Zeitverkürzung resp. eine etwaige Verzögerung nicht aus innergeschichtlichen, empirisch überprüf baren Begrün­ dungsmomenten, sondern gleichsam aus metaphysischen Spekulationen ableiten: „Wir sehen uns also zwei relationalen Zeitbestimmungen im Umkreis der Apokalyptik gegenüber [Zeitverkürzung und Verzögerung], die geschichtliche Ereignisse wohl zu deuten erlaubten, deren Deutungsraster aber nicht primär aus den zeitlichen Strukturen dieser Ereignisse selbst abgelesen werden konnte.“403

Die apokalyptische Zeitverkürzungserwartung bezeichne daher nicht etwa eine geschichtliche Verkürzung der Zeitabläufe, sondern die Verkürzung der Ge­ schichtszeit selbst im Sinne eines vorgezogenen Endes,404 was sich erst auf der innergeschichtlichen Grundlage neuzeitlicher Erfahrungsgehalte ändere: „Aus der Zeitverkürzung, die früher von außen her der Geschichte ein früheres Ende setzt, wird jetzt eine Beschleunigung bestimmbarer Erfahrungssektoren, die in der Ge­ schichte selber registriert wird. Neu dabei ist, dass nicht mehr das Ende schneller her­ beikommt, sondern dass gemessen an den langsamen Fortschritten der vergangenen Jahrhunderte die gegenwärtigen Fortschritte sich immer rascher einstellen.“405

Kosellecks mitunter allzu kontrastierende Überlegungen bezüglich apokalypti­ scher Zeitverkürzungserwartung und moderner Beschleunigungserfahrung sind jedoch im Lichte der reformatorischen Endzeitdiagnose zu relativieren: 402 Vgl.

Koselleck: Beschleunigung 169. Koselleck: Beschleunigung 169 f. 404 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 170. 405  Koselleck: Beschleunigung 171. 403 

2.  Innere Kohärenz

361

Wie gezeigt werden konnte, finden sich bereits in der frühen Reformationszeit Spuren beider angesprochener Richtpunkte der Beschleunigungsbestimmung, wenn die außergeschichtliche Erwartungshaltung auch an innergeschichtliche Erfahrungsgehalte gekoppelt wird und innerhalb der reformatorischen Endzeit­ logik die Verkürzung empirischer Zeitabläufe als maßgebliche Begründung der apokalyptischen Zeitverkürzung fungiert. Dennoch bleiben wesentliche Unterschiede zur modernen Beschleunigungs­ erfahrung bestehen, welche im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit eine grundlegende Transformation erfuhr und im Zuge eines Säkularisierungspro­ zesses die Zeitwahrnehmung nachhaltig veränderte. Neben einer grundsätzli­ chen Intensivierung der Beschleunigungserfahrung kam es vor allem zu deren zunehmender Emanzipation von apokalyptischen Implikationen.406 Ein we­ sentliches Merkmal dieses Vorgangs ist nach Koselleck der schleichende Wech­ sel des Subjekts der Beschleunigung: Wird diese am Beginn der Frühen Neuzeit noch Gott als Souverän der Zeitverkürzung anheimgestellt, so werde sie später­ hin zur Aufgabe des Menschen, womit eine grundsätzliche Änderung im Argu­ mentationshaushalt vorgenommen sei.407 Die fehlende menschliche Verfügbar­ keit über die Beschleunigung im Rahmen der apokalyptischen Zeitverkür­ zungserwartung wird zum Unterscheidungskriterium zum modernen Zeitverständnis: „Die Zeitverkürzung war jederzeit auf die Geschichte an­ wendbar, sie selber aber eine außerhistorische, übergeschichtliche Vorgabe, über die der Mensch selber nicht befinden konnte.“408 Gleichwohl ist der Mensch innerhalb der reformatorischen Endzeitlogik in einer gewissen Hinsicht durchaus zur Mitwirkung am apokalyptischen Szenario aufgerufen: Einmal, wenn er (vorwiegend im Rahmen der bibliozentrischen Richtungen) angehalten ist, in beschleunigter Weise die neue Öffentlichkeit der Offenbarung herzustellen, was zum schriftstellerischen Movens vieler Flug­ schriftenautoren wurde. Vor dem Hintergrund der Vorstellung von der endzeit­ lichen Provokation des Teufels glaubte man, Einfluss auf die Beschleunigung des Endes nehmen zu können, indem man diese Provokation gezielt beförderte: Je mehr der Teufel in der Folge wüte, desto eher werde Gott den Jüngsten Tag 406 In der Folgezeit habe sich das Empfinden der Zeitverkürzung deutlich gesteigert, ohne dass man sich noch auf die Apokalypse berufen hätte (Koselleck: Beschleunigung 171). Insbesondere die Errungenschaften im Kontext der Naturwissenschaften werden nach Koselleck zu einem theologieunabhängigen eigenständigen Erfahrungskern der Zeitverkür­ zung: „Als Gesamttendenz lässt sich für den Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert festhalten: Die zunächst christlich stimulierten und utopisch angereicherten Hoffnungen und Erwartungen, die sich an die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen anschlos­ sen, wurden zunehmend von naturwissenschaftlichen Erfahrungssätzen eingeholt.“ (Koselleck: Beschleunigung 171). 407 Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft 22. 408  Koselleck: Zeitverkürzung 188. Ähnlich Schilling: „Dabei verstand sich solche evan­ gelische Wahrnehmung der Zeit nicht als Herrin der Zeit, die also auch das Ende nicht be­ schleunigt, sondern Gott anheim stellt.“ (Schilling: Wiederentdeckung des Evangeliums 142).

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V. Zukunftsperspektive

herbeiführen.409 Zwar erwartet man die apokalyptische Zeitverkürzung von Gott, doch sorgt der Mensch z. B. durch die gesteigerte Publikationstätigkeit auch selbst für innergeschichtliche Beschleunigungsprozesse. In anderer Hinsicht fühlt sich beispielsweise Müntzer befähigt, das apokalyp­ tische Szenario durch innerweltlichen Aktionismus beschleunigt zu verwirkli­ chen.410 Die Dimensionen der Beschleunigung resp. Verzögerung des Welten­ des werden mithin in gewisser Hinsicht auch als Reaktionskategorien Gottes verstanden: Er reagiere auf das menschliche Verhalten, indem er das Ende schneller herbeiführt oder noch hinauszögert. In der Vorstellung der reformat­ orischen Flugschriftenautoren finden sich damit Ansätze einer menschlichen Gestaltungskraft im Sinne einer Mitwirkung, jedoch nicht einer Verfügung: Gott bleibe der Souverän der Entscheidung, binde sich aber dabei auch an den Menschen. Gleichwohl gründet die von Gott erwartete Zeitverkürzung grund­ sätzlich auf einem außergeschichtlichen Telos, das im Verlauf der Frühen Neu­ zeit mehr und mehr in den Hintergrund trat und sich mithin das Handlungs­ subjekt der Beschleunigung tendenziell von Gott zum Menschen verlagerte. Ein weiterer bedeutender Unterschied von reformatorischer und moderner Beschleunigungserfahrung liegt in der Ausgestaltung des Zukunftshorizonts. Die Reformation war ein „Unterfangen ohne Zukunft“411, ihre innerge­ schichtliche Zukunftsperspektive apokalyptisch begrenzt. Zwar begegnen im Kontext der Beschleunigungserfahrung Ansätze des modernen Fortschrittemp­ findens, doch wird der Fortschritt zum einen eher als Anmaßung gesehen und ist damit tendenziell negativ konnotiert als dekadente Entartung, zum anderen schien der denkbar höchste Fortschrittsstand bereits erreicht, weshalb eine et­ waige Verlängerung dieser Entwicklung in die Zukunft hinein weder erstre­ benswert noch möglich schien412 – „Luther erwartet von der Reformation kei­ nen anderen Fortschritt als das Wüten des Teufels […].“413 Nach der erfolgten Offenbarung des Antichrist und dem damit gegebenen irreversiblen Anbruch des apokalyptischen Szenarios konnte es keine weitere geschichtliche Entwick­ lung mehr geben,414 die Zukunftsperspektive war geschlossen und in ihrem Ablauf mehr oder weniger festgelegt. Auf der Basis des biblischen Offenba­ rungswissens waren die künftigen Ereignisse, wenn nicht im Einzelnen, so doch in ihrer Gesamtheit und Grundtendenz bekannt – das Theologumenon von der in der Bibel manifest gewordenen Providenz Gottes machte die Zu­ kunft grundsätzlich vorher- und auf der Grundlage der reformatorischen Öf­ fentlichkeit nunmehr auch für jeden einsehbar. 409 

Vgl. z. B. Speratus: Offenbarung des Endtchrists (Vorwort zur Übers.) A3a. Siehe oben 182 ff. 411  Sandl: Luther 378. 412  Vgl. z. B. Luther, oben 278. 413  Oberman: Luther 282. 414 Vgl. Leppin: Luthers Antichristverständnis 61. 410 

2.  Innere Kohärenz

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Im Gegensatz zu den durch die biblischen Prophetien abgesteckten und end­ zeitlich limitierten Potentialitäten der Zukunft zeichnet sich der moderne Zu­ kunftshorizont durch seine Unbekanntheitskomponente aus: 415 Die neuzeitli­ chen Annahmen der Unvorhersehbarkeit und der prinzipiellen Offenheit der Zukunft markieren deutliche Unterschiede im Kontext der Beschleunigungser­ fahrungen, welche die Frühmodernität der reformatorischen Akzelerationsbe­ funde erweisen. Gleichwohl lieferte die reformatorische Zeitverkürzungserwartung und Be­ schleunigungserfahrung entscheidende Impulse für die Genese des modernen Zeitempfindens – ein Umstand, den es gegen z. B. Wendorff416 und allzu rück­ wärtsgewandte Interpretationen der Reformation neu zu betonen gilt. Goertz konstatiert daher zurecht, „dass das Zeitverständnis der Neuzeit nicht in Re­ nais­sance und Humanismus, den anerkannten Vorboten der Moderne, sondern in der spätmittelalterlichen Apokalyptik wurzelte […].“417 In diesem Zusammenhang korrigiert er Koselleck, der die Beschleunigungs­ erfahrung erst am Ende des Vorgangs der Verzeitlichung der Geschichte veror­ tete: 418 „Die Beschleunigung der Zeit steht genaugenommen nicht erst am Ende, sondern schon am Anfang dieser Geschichte […].“419 Diese Aussage wiederum muss weiter präzisiert werden: Nicht das Beschleunigungsempfinden an sich, welches Goertz lediglich aus dem apokalyptischen Zeitnotstand ableitet und damit allein die zeitgenössisch empfundene Dringlichkeit von Beschleuni­ gung zur modernen Beschleunigunserfahrung erhebt, bezeichnet das eigentlich moderne Moment im Umfeld der Reformation; derartige Beschleunigungs­ wahrnehmungen im Zuge apokalyptischer Zeitverkürzungserwartungen gab es auch schon z. B. zu Zeiten der tiburtinischen Sybille420 und traten im Verlauf der Geschichte immer wieder auf. Das reformatorisch Neue liegt indes vor allem in der Begründung der Be­ schleunigungsempfindung: Die reformatorische Zeitverkürzungsvorstellung manifestierte sich nicht allein in reinen Erwartungshaltungen, etwa im Sinne einer Verkürzung der Naturzeitrhythmen, sondern gewann als innergeschicht­ lich registrierte und an spezifischen Neuheitserfahrungen verifizierte Be­ schleunigungserfahrung von verkürzten Zeitabläufen ihre zeitgenössische Plausibilität. Vor dem Hintergrund des akuten Zeitnotstandes im Gefolge der 415 Zur modernen Unvorhersehbarkeit der Zukunft vgl. Koselleck: Beschleunigung 152; Ders.: Vergangene Zukunft 34. 416  Vgl. oben 335; siehe Wendorff: Zeit und Kultur 167 ff. 417  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 3. 418  „Um meine These zugespitzt zu formulieren, so handelt es sich in diesen Jahrhunder­ ten [1500–1800] um eine Verzeitlichung der Geschichte, an deren Ende jene eigentümliche Art von der Beschleunigung steht, die unsere Moderne kennzeichnet.“ (Koselleck: Vergan­ gene Zukunft 19). 419  Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 18. 420  Vgl. dazu Koselleck: Zeitverkürzung 177.

364

V. Zukunftsperspektive

Zeitverkürzungserwartung entsteht ein umfassendes Beschleunigungsempfin­ den, welches von den reformatorischen Zeitgenossen selbst mehrdimensional begründet wird und sowohl auf Erwartungshaltungen wie auf Erfahrungsge­ halte bezogen ist. Damit ist bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine gewisse Synthese der von Koselleck ausgemachten scheinbar widersprüchlichen apoka­ lyptischen und modernen Beschleunigungsempfinden gegeben. Im neuartigen Rekurs auf eine innergeschichtliche Argumentationsebene, welche im refor­ matorischen Konnex noch mit der apokalyptischen Zeitverkürzungserwartung konvergierte und sich erst späterhin von apokalyptischen Konnotationen löste, liegt daher das nachhaltig in die Moderne weisende Element des reformatori­ schen Zeitverständnisses. Im oben ausgeführten Sinne kann daher das auf Ko­ sellecks Verzeitlichungsthese auf bauende Goertzsche Diktum nur unterstrichen werden: „Die Verzeitlichung der Geschichte: Das ist der moderne Zug im apo­ kalyptischen Saeculum.“421 Die Verzeitlichung der Geschichte begann in der Gedankenwelt der frühen Reformationszeit als Verzeitlichung der Apokalypse. Mit diesem Befund ist gleichzeitig eine konfessionelle Einschränkung verbunden, welche jedoch den Stellenwert der Teufelsvorstellungen in diesem Zusammenhang nochmalig he­ rausstellt. Die neue Zeitwahrnehmung ist untrennbar mit der spezifischen Charakteristik der reformatorischen Teufelsvorstellungen verbunden: Erst die reformatorisch gegen die Tradition neuartig vorgenommene Bemessung der Teufelsmacht und -aktivität rufen die Zeitverkürzungserwartung und das Be­ schleunigungsempfinden hervor – die Offenbarung des Teufels setzt das apoka­ lyptische Szenario in Gang und wirkt damit direkt auf das Zeitempfinden ein. Wenn auch die Modalitäten und innerweltlichen Konsequenzen der anstehen­ den Vernichtung des Teufels binnenreformatorisch durchaus verschiedenartig ausgestaltet sein mochten, so ist doch die Wahrnehmung eines apokalyptischen Beschleunigungsschubs ein Merkmal einer inneren reformatorischen Kohä­ renz, welche das gewandelte Verständnis des Teufels als endzeitlich offenbarten und provozierten Teufel zur zentralen Grundlage hat. Der Paradigmenwechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen bringt in dezidierter Abgrenzung zur alt­ gläubigen Zeitwahrnehmung eine neue Temporalstruktur hervor, welche in singulär-futurischer Ausrichtung und innergeschichtlich verdichteten Abläufen die Zeit auf das Ereignis ihrer Auf hebung zurasen sieht. Diese Verzeitlichung der Apokalypse stellt im frühen 16. Jahrhundert noch ein reformatorisches Sondergut im Vergleich mit dem altgläubigen zeitgenössischen Umfeld dar, das gleichwohl den Nährboden bildete, auf dem in gewandelter Gestalt das moder­ ne Zeitempfinden erwachsen sollte und der grundlegende Vorgang der Verzeit­ lichung der Geschichte seinen Ausgang nahm.

421 

Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 18.

VI. Zusammenfassung Über den Stellenwert und die geschichtswissenschaftliche Interpretation der Apokalyptik im 16. Jahrhundert wurde und wird in der Forschung angeregt und kontrovers diskutiert. Sowohl die Bedeutung für einzelne Autoren oder für bestimmte Reformationszweige sowie für die gesamtgesellschaftliche Befind­ lichkeit ist nach wie vor umstritten. Wurde diese Bedeutung (vor allem in der älteren Literatur) oftmals eingeschränkt und nicht dem Kernbestand reformat­ orisch-theologischer Identität zugeschrieben,1 wird zunehmend die grundle­ gende Prägung des gesamten Zeitalters durch apokalyptische Vorstellungen hervorgehoben.2 Für eine umfassende Durchdringung des 16. Jahrhunderts von apokalypti­ schen Vorstellungen sind verschiedene Begriffe geprägt worden: Schon Peuckert sprach von einem „apokalyptischen Saeculum“3 ; daran anknüpfend prägte Kaufmann den Begriff des „apokalyptischen Codes“: „Die Apokalyptik ist ein kultureller Code, in dem wesentliche Grundannahmen, Leitvorstellungen, mentale Gehalte der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts gespeichert sind.“4 Er vergleicht den apokalyptischen kulturellen Code des 16. Jahrhunderts mit ei­ nem gegenwärtigen sexualistischen und elektronischen Code,5 wobei die Geltung derartiger Codes „nicht auf diskursivem Aushandeln, Übereinkunft oder Erinnerung, sondern auf Gewohnheit und Selbstverständlichkeit“ beru­ 1  Vor

allem Oberman hatte Luther und die Reformation apokalyptisch gedeutet (siehe Oberman: Luther). Zu kritischen Einwänden gegen die Deutung des 16. Jahrhunderts als eines apokalyptischen Zeitalters und insbesondere Luthers als Apokalyptiker siehe Schulze: Nachwort 305. Z. B. Lohse hat die Obermansche Deutung zurückgewiesen und die Mei­ nung vertreten, „daß Luther noch mit einer längeren geschichtlichen Entwicklung gerechnet hat.“ (vgl. Lohse: Luthers Theologie 353 mit Verweisen). Auch kann auf die im Zuge der Reformation intensivierten vielfältigen Institutionalisierungstendenzen hingewiesen wer­ den, welche mit einer apokalyptischen Mentalität schwerlich zur Deckung zu bringen sind (vgl. Kaufmann: Apokalyptische Deutung 413). 2 Zur Bedeutung der Apokalyptik als bestimmender Vorstellungswelt vgl. Goertz: Dran 153: „Von dieser Endzeitstimmung waren nicht nur Schwärmer und Revolutionäre ergriffen worden, sie war auch keine marginale Stimmung, sondern die Grundstimmung eines Zeitalters, das den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markierte.“ Vgl. auch Sandl: Luther 378; Kaufmann: Apokalyptische Deutung 414 ff. 3 Siehe Peuckert: Die große Wende. 4  Kaufmann: Apokalyptische Deutung 414. 5 Vgl. Kaufmann: Apokalyptische Deutung 414.

366

VI. Zusammenfassung

he.6 Aufgrund der ubiquitären Präsenz eines apokalyptischen Codes im 16. Jahrhundert sei dieser auf der Ebene der Mentalitäten angesiedelt, wenngleich er freilich anlassbezogen aktualisiert wurde und also einer beträchtlichen histo­ rischen Dynamik unterlag.7 Gegenüber derart weitgreifenden Begriffsbildungen scheinen jedoch Ein­ schränkungen angebracht: Anders als z. B. bei einem „sexualistischen“ oder „elektronischen Code“ der Gegenwart waren die apokalyptischen Vorstellungs­ komplexe unter den Zeitgenossen hochgradig umstritten, und zwar nicht allein was die spezifische „Farbgebung“, sondern auch die „Grundierung“ anbelangt: Insbesondere die hier untersuchten reformatorischen Flugschriften verdeutli­ chen das enorme zeitgenössische Kontroverspotenzial der Apokalyptik, wobei sich die Frontstellungen, die in der Frühphase der Reformation sichtbar wer­ den, unter den Bedingungen des Konfessionalisierungsprozesses fortschreiben und verstetigen. Die reformatorischen Bewegungen grenzen sich in ihrem Selbstverständnis zum einen scharf von den Altgläubigen ab, indem die Erkenntnis des bereits angebrochenen apokalyptischen Szenarios als Divergenzmerkmal eigens be­ nannt wird. Im Rahmen dieses von den Flugschriftenautoren selbst herausge­ stellten Gegensatzes kann das apokalyptische Bewusstsein geradezu zum Kardi­ nalkriterium wahrhaft christlicher Gesinnung werden, wohingegen das man­ gelnde Endzeitbewusstsein der Altgläubigen als Ausdruck teuflischer Verblendung gedeutet wurde. Schon die Zeitgenossen (reformatorische wie altgläubige) heben hervor, dass auf der Basis des römischen successio-Gedan­ kens im Rahmen des historischen Legitimationsgestus die apokalyptische Na­ herwartung gleichsam systemimmanent ausgeschlossen ist; abgesehen von der unhinterfragten Tatsache eines zu erwartenden Weltendes an sich war die rela­ tive Nähe oder Ferne des Jüngsten Tages hochgradig umstritten. Dies gilt zum anderen auch für die Auseinandersetzungen mit der Astrologie: Die astrologischen Erkenntnisprinzipien rekurrieren auf ein zyklisches Weltbild 6 „Diese kulturellen Codes bilden eine Art allgemeinverständlichen Deutungshori­ zont, in dem sich die Menschen einer Zeit bewegen können, oder, anders formuliert, so et­ was wie die mentale Ressource einer Gesellschaft, die in verschiedenen Situationen und Konstellationen von Einzelnen oder Gruppen in unterschiedlichen Intensitätsgraden und vielfältigen Mischformen aktiviert, verbraucht, und regeneriert werden kann. Im Unter­ schied zu sittlichen Normen oder Ideologemen eignet kulturellen Codes als solchen keine persuasive Verbindlichkeit; ihre Geltung beruht nicht auf diskursivem Aushandeln, Über­ einkunft oder Erinnerung, sondern auf Gewohnheit und Selbstverständlichkeit.“ (Kaufmann: Apokalyptische Deutung 414). 7 Vgl. Kaufmann: Apokalyptische Deutung 415. Bezüglich der Möglichkeiten apoka­ lyptischer Weltdeutung unterscheidet er zwischen „kulturellem Code“ bzw. „mentaler Res­ source“ und „geistigem Instrumentarium“: „Beides also, die ‚allgemeine apokalyptische Grundierung‘ und die ‚spezielle apokalyptische Farbgebung‘, der kulturelle Code und das geistige Instrumentarium Apokalyptik verdienen Interesse.“ (Kaufmann: Apokalyptische Deutung 415).

VI. Zusammenfassung

367

und waren mithin sowohl im Hinblick auf ihre Theoreme wie auf ihre prakti­ sche Prognosetätigkeit in aller Regel nicht apokalyptisch ausgerichtet.8 Die me­ chanistische Kausalitätsgläubigkeit der Astrologie hat nach den reformatori­ schen Flugschriftenautoren im Ergebnis eine apokalyptische Desensibilisierung zur Folge – genau diese heilsgeschichtliche Fehlleistung erweise ihre teuflische Herkunft und wird zum entscheidenden Movens der reformatorischen Astrolo­ giekritik: Selbst wenn der Astrologie oftmals ein partielles Recht im Rahmen apokalyptischer Zeichenidentifikation belassen werden konnte, so ließ die von den reformatorischen Zeitgenossen konstatierte Endzeitignoranz der zeitgenös­ sischen Astrologie den Konflikt um die Deutungshoheit über die Zukunft offen eskalieren. Die verschiedenen Fronten, an denen um die Apokalyptik gekämpft wurde, lässt die Rede von einer ubiquitär präsenten apokalyptischen Mentalität durch­ aus problematisch erscheinen. Die apokalyptische Grundierung gilt lediglich für ein bestimmtes Spektrum der Gesamtgesellschaft, nämlich die reformatori­ schen Bewegungen und deren spätere konfessionelle Verfestigungen, stieß aber ansonsten auf dezidierte Ablehnung und avanciert zu einem der zeitgenössisch umstrittensten Gegenstände. Eingedenk dieses Kontroverspotenzials erscheint die Rede von einer gesellschaftlichen Durchdringung mit einem „apokalypti­ schen Code“ überpointiert; zwar stellte die Apokalyptik ein verbreitetes Tradi­ tionsgut dar und gewann im 16. Jahrhundert unverkennbar weiter an zeitgenös­ sischer Plausibilität, wurde aber dennoch zu keinem Zeitpunkt zu einer gesamt­ gesellschaftlich dominanten Deutungsmatrix. So eignet der Apokalyptik eine konfessionelle Besonderheit, welche aber gerade aufgrund ihrer Exklusivität in den Kern spezifisch reformatorischer Identitätsstiftung ragt. Wie gezeigt wer­ den konnte, kommt dabei eine innere reformatorische Kohärenz zum Vor­ schein, welche apokalyptische Vorstellungen zum Proprium reformatorischen Zeitbewusstseins werden lassen. Im Kontext dieser Abgrenzung und Selbstvergewisserung erklärt sich die Be­ sonderheit reformatorischer Apokalyptik zudem nicht allein aus einem allge­ meinen Krisenbewusstsein; 9 zwar werden in der Apokalyptik offenkundig

8  Eine Ausnahme bildet die Sintflutprognose einiger weniger Flugschriftenautoren, wel­ che zwar einen breiten Diskurs auslöste, alsbald aber obsolet werden sollte, vgl. oben 303 ff. 9 So z. B. der sozialhistorisch orientierte Deutungsansatz von Lehmann, der die Apo­ kalyptik recht einsinnig auf die Krisenhaftigkeit der Zeit zurückführt (siehe Lehmann: End­ zeiterwartung). Kritisch dazu Leppin: Jüngster Tag 278 f., der neben einer generellen Un­ schärfe des Krisenbegriffs vor allem auf den unzulässigen Rückschluss von vermeintlich krisenhafter Realität auf deren textbasierte Deutung hinweist und die Interdependenz zwi­ schen beidem missachtet sieht. In diesem Zusammenhang kritisiert Leppin auch mentalitä­ tengeschichtliche Modelle, welche den Aufschwung der Apokalyptik auf der Grundlage ei­ ner kollektiven Angst erklären, die im Sinne einer Petitio principii wiederum das Phänomen der Apokalyptik verständlich mache (vgl. Leppin: Jüngster Tag 278, Amn. 51).

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VI. Zusammenfassung

Krisenerscheinungen der Zeit verarbeitet,10 doch geht sie nicht einfach in funk­ tionalistischer Krisenbewältigung auf (und wird auch nicht von dieser hervor­ gebracht!), sondern stellt eine eigene Produktivkraft historischer Sinngebung dar – zumal der Gehalt der Apokalyptik in theologischer Hinsicht über andere bereitstehende Deutungsmodelle zur Krisenbewältigung signifikant hinaus­ geht.11 Dieser „Überschuss“ der Apokalyptik z. B. gegenüber einer reinen Straf­ theologie lässt sich mit sozialhistorischen Ansätzen kaum abbilden,12 weshalb die genuine Eigenständigkeit theologischer Sinnproduktion bei der geschichts­ wissenschaftlichen Interpretation apokalyptischer Vorstellungen zu beachten bleibt und auf einen herausragenden Stellenwert der Teufelsvorstellungen in diesem Zusammenhang verweist. Die konfessionelle Besonderheit der reformatorischen Apokalyptik gründet auf einem fundamentalen Paradigmenwechsel innerhalb der Teufelsvorstellun­ gen und ist mithin vorrangig auf dieser Folie interpretierbar. Grundsätzlich wurden auch in der frühen Reformationszeit die traditionellen Bahnen der Teufelsvorstellungen fortgeschrieben, doch unterlagen die Muster, anhand de­ rer der Teufel identifiziert wurde, einem signifikanten Wandel. Dieser basierte auf einer neuen, in der Wahrnehmung der Zeitgenossen gezielt gegen die Tra­ dition wiederhergestellten hermeneutischen Erkenntnisgrundlage: Das Schrift­ prinzip als exklusiver normativer Referenzhorizont wurde emphatisch als Wie­ derentdeckung der Offenbarung gedeutet, durch welche der Teufel wieder neu erkenntlich werde.13 Vor diesem Hintergrund veränderte sich die Grundcharakteristik des Teufels in entscheidender Weise und ging mit weitreichenden Auswirkungen auf den 10  Etwa

wenn im Umfeld von innerweltlichen Krisen das apokalyptische Publikations­ volumen signifikant anschwillt und mithin durchaus als Seismograph gesellschaftlicher Spannungen und Indikator wirtschaftlicher Krisen gedeutet werden kann (vgl. z. B. Kaufmann: Apokalyptische Deutung 415). 11 Vgl. Leppin: „Es [Lehmanns sozialhistorisches Erklärungsmodell] wird weder dem Phänomen einer konfessionellen Besonderheit der Apokalyptik gerecht, noch vermag es aus­ reichend zu erklären, warum zur Krisenbewältigung auf ein apokalyptisches Deutungsmo­ dell zurückgegriffen wurde statt auf das ebenfalls hierfür zur Verfügung stehende straftheo­ logische.“ (Leppin: Jüngster Tag 278). 12 Vgl. Leppin, der gegen sozialhistorische Verengungen den theologischen Eigenwert der Apokalyptik hervorhebt: „Ist aber dieser Überschuss gegenüber der Straftheologie be­ nannt, bedeutet dies zugleich, daß die Stelle gefunden ist, an der Apokalyptik nicht einfach in Krisenbewältigung aufgeht oder aus dieser hervorgeht, sondern einen eigenen produkti­ ven Ansatz der Gegenwartsdeutung der Autoren bietet. Dazu aber darf nicht allein nach Korrelationen zu äußeren Entwicklungen gefragt werden, sondern es muß eine Erklärung des Phänomens in den darin transportierten Aussagen gesucht werden.“ (Leppin: Jüngster Tag 279). 13  Hinsichtlich der Enttarnung des Teufels gilt dies im Sinne einer inneren reformatori­ schen Kohärenz nicht nur für die bibliozentrischen, sondern auch für die spiritualistischen Richtungen der reformatorischen Bewegungen, da auch hier die Schrift ihre hermeneuti­ sche Funktion als alleinverlässliche Grundlage der Unterscheidung von Gott und Teufel resp. den von ihnen gesandten Geistoffenbarungen behält, vgl. oben 181 ff.

VI. Zusammenfassung

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Einzelnen einher: In reformatorischer Wahrnehmung wird allererst die beson­ dere Subtilität des Teufels als sein Kardinalcharakteristikum herausgestellt; die­ ses neuartig akzentuierte Merkmal war gleichsam die Bedingung der Möglich­ keit seines geschichtlichen Erfolges. Diverse Flugschriften sehen die Heimlich­ keit, mit welcher der Teufel unter schönem Schein als Engel des Lichts sein Unheilswerk verrichte, als seine herausragende Eigenschaft. Der subtile Teufel habe unter der Maske gut scheinender Verführung seine Erscheinungsweise der Gottes anzugleichen versucht und dabei derartigen Erfolg gehabt, dass in der Vergangenheit kaum noch in rechter Weise zwischen Gott und Teufel unter­ schieden werden konnte. So wird der Einfluss des Teufels nicht allein in den traditionellen Bereichen registriert, etwa außerhalb der Christenheit in den Heiden oder Türken bzw. in den öffentlich kenntlichen Abtrünnigen und Sündern innerhalb der christli­ chen Gesellschaft (z. B. Mörder, Ehebrecher, etc.), sondern er sei unbemerkt in die Mitte der Gesellschaft gerückt und habe das Zentrum der Christenheit, die hierarchische Spitze der Kirche, von Grund auf korrumpiert.14 Der Teufel sei nicht lediglich punktuell in die Kirche eingedrungen, indem er Einzelpersonen (vom Gemeinen Mann bis hin zu Päpsten) verstockt und seinem Willen dienst­ bar gemacht habe, sondern er habe mit den Konstitutionsbedingungen des Papsttums, insbesondere dessen angemaßter Überordnung über die Schrift, die Kirche strukturell von innen heraus verdorben. Die veränderte theologische und innerweltliche Identifizierung des Teufels und die Deutung der römischen Kirche nicht als Bollwerk gegen den Teufel, sondern als seine Schaltzentrale, ließ die überkommenen Strategien des Teufels­ kampfs nicht allein obsolet werden, sondern entlarvte diese darüber hinaus als zur Mehrung der Teufelsmacht dienliche Werkzeuge. Die von der römischen Kirche angebotenen Heilssicherungsinstrumente wurden scharf zurückgewie­ sen und eine neue Waffenlehre gegen den Teufel etabliert. Nicht geweihte Ge­ genstände oder Ähnliches, sondern allein die Schrift und das aus ihrem Ge­ brauch erwachsende rechte Gottvertrauen stelle hierfür das notwendige Rüst­ zeug bereit. Damit ist nicht allein die Praxis des Teufelskampfes verändert, sondern ganz grundsätzlich eine gewandelte Stellung des Einzelnen zum Teufel begründet, wenn dem reformatorischen Theologumenon der Unmittelbarkeit des Gläubi­ gen zu Gott eine neue Unmittelbarkeit zum Teufel korrespondiert. Der Teu­ felskampf sei unvertretbar – eine Delegation oder Kommendation an Klerus oder Heilige sei nicht möglich, jeder müsse sich in eigener Person dem Teufel stellen. Diese Individualisierung des Teufelskampfes ließ zunächst die Vulnera­ bilität des Einzelnen ansteigen – zumal in Umwertung der Tradition der Teufel nicht allein die Schwachen und Sünder, sondern allererst die wahren Christen 14 

Vgl. oben 206.

370

VI. Zusammenfassung

angehe und mithin jeder Christ coram diabolo wehrhaft und bekenntnisfähig sein müsse. Wenngleich stets versichert wird, dass der Teufel gegen rechtes Gottvertrauen ohnmächtig sei, so wird mit der gewandelten Identifikation der teuflischen Er­ scheinungsformen und der grundlegenden Neukonstitution des individuellen Verhältnisses zum Teufel eine neuartige Einschätzung der Bedrohungslage of­ fensichtlich: Vor dem Hintergrund der gewandelten Grundcharakteristik und Bemessung von Machtfülle und Aktivität erscheint der Teufel ungleich gewal­ tiger und mächtiger als in überkommener Wahrnehmung. Insbesondere die empfundene Verharmlosung des Teufels durch die Zeitgenossen – für die refor­ matorischen Flugschriftenautoren sowohl im Selbstverständnis der römischen Kirche als Schutzinstanz gegen den Teufel als auch in den außerhalb rechten Schriftverständnisses liegenden mannigfaltigen Erscheinungsformen des völki­ schen Aberglaubens manifest – wird als fataler Machterweis des Teufels gedeu­ tet und auf seine Kardinalstrategie zurückgeführt, als Engel des Lichts die Gläu­ bigen über die wahre heilsgeschichtliche Situation hinwegzutäuschen. Dieser Erkenntnis ordnen sich auch die reformatorischen Antichristvorstel­ lungen zu, wenn Machtfülle und Subtilität des Teufels hier in besonderer Wei­ se greif bar werden. Im Rahmen einer allgemeinen Antichrist-Typologie wur­ den in dieser Untersuchung vier unterschiedliche Formen von Antichristvor­ stellungen benannt, wobei als innere (bereits früh-)reformatorische Kohärenz zunächst die anhand distinkter theologischer Kriterien vorgenommene Anwen­ dung auf das institutionelle Papsttum, des Weiteren aber vor allem die Verzeit­ lichung der Teufels- durch die Antichristvorstellungen gelten kann, wenn der Teufel nicht mehr als gleichsam zeitenthobener Widersacher auftritt, sondern sich seine Aktivität durch die Bevollmächtigung des Antichrist bestimmbar in den heilsgeschichtlichen Ablauf einordnen lässt und die Teufelsvorstellung da­ durch eine eminent (end-)zeitbezogene Konkretisierung erfährt. Eine genuin reformatorische Innovation stellt in diesem Zusammenhang das „Revelations­ schema“ dar, nach welchem nicht bereits das Auftreten, sondern die erst jüngst erfolgte Offenbarung des Antichrist das endzeitliche Szenario in Gang setzt. Obschon etwaige innerweltlich-politiktheoretische Konsequenzen durchaus verschiedenartig ausgestaltet sein konnten,15 gehörte die Antichristprädikation zweifelsohne zur Kernsubstanz reformatorischer Identitätsbildung. Die zentrale Bedeutung der Apokalyptik für die reformatorischen Bewegun­ gen wird mithin erst vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels innerhalb der Teufelsvorstellungen verständlich: Die primär theologisch-exegetische Er­ kenntnis der kulminierenden Aktivität des provozierten Teufels hat als komple­ mentäre Entsprechung das Erstarken von Vorstellungskomplexen, welche die 15  Siehe

dazu Kaufmann: Apokalyptische Deutung; Ders.: Luther und die reformato­ rische Bewegung190; Goertz: Ende der Welt und Beginn der Neuzeit 12 ff.

VI. Zusammenfassung

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Erlösung von aller Teufelsmacht in Aussicht stellen – je bedrohlicher Teufel in Erscheinung tritt, umso intensiver rückt die Hoffnung auf das Ende seiner Herrschaft im apokalyptischen Szenario in den Mittelpunkt der zeitgenössi­ schen Erwartungshaltungen. Apokalyptik als Perspektive des bevorstehenden Endes ist daher in den reformatorischen Flugschriften – in Umwertung der Tradition – nicht in erster Linie mit Schrecken und Grauen, sondern mit freu­ diger Sehnsucht konnotiert. Fernab dualistischer Vorstellungen wird die Apo­ kalyptik zu einer pointierten Trostbotschaft und damit zur seelsorgerischen Konsequenz der reformatorischen Teufelsvorstellungen. Für die historische Selbstverortung der Zeitgenossen und die Herausbildung einer spezifisch reformatorischen „geschichtlichen Zeit“ tragen die Teufelsvor­ stellungen daher konstitutive Bedeutung – sowohl im Hinblick auf die Zeitdeutung, die Zeitkonzeption sowie die Zeiterfahrung. Bereits die Frühphase der Reformation lässt eine ganz eigene zeitgenössische Semantik geschichtlicher Zeiten erkennen. Dies betrifft zunächst die Vergan­ genheitsdeutung: Vor dem Hintergrund des gewandelten Verständnisses vom Teufel und seiner nunmehr erfolgten Enttarnung musste die Vergangenheits­ deutung radikal umgeschrieben werden als sukzessive Machterweiterung und Herrschaftssicherung des Teufels. Die Vergangenheit erscheint im Sinne einer Verfallsidee als umfassender Deprivationsprozess, in dem die Teufelsherrschaft das rechte Glaubensverständnis nahezu total pervertieren ließ. So wird die Ver­ gangenheit zur Erfolgsgeschichte des Teufels, wenngleich daneben auch der Fortbestand der wahren Kirche herausgestellt wurde. Die Vergangenheit in dieser Weise primär unter dem Signum der Teufels­ herrschaft zu betrachten, zog zugleich die Rechtmäßigkeit der Tradition grund­ sätzlich in Zweifel und war mit der radikalen Absage an die lehramtlichen An­ sprüche der römischen Kirche verbunden. Ihre apodiktische Traditionskritik setzte die reformatorischen Bewegungen einem enormen Legitimationsdruck aus – hatte doch das Konstatieren der Teufelsherrschaft nicht allein die fatale Fehlleitung des kirchlichen Hierarchiegebäudes, sondern auch das umfassende Irren vorgängiger Generationen rechtschaffener Gläubiger zur impliziten Kon­ sequenz. Um dem von den Altgläubigen immer wieder vorgebrachten Ein­ wand, Gott habe die Gläubigen nicht derart fatal irren lassen, begegnen zu können, wurde zunächst – gleichsam in formaler Hinsicht – das altgläubige Majoritäts- in ein reformatorisches Minoritätsargument umgewertet: Nicht der Mehrheitsglaube, sondern (wie ehedem zu urchristlichen Zeiten) das Gesetz der kleinen Zahl lasse auf den Wahrheitsgehalt der Lehre schließen. Das altgläubige Traditionsargument bildete das eigentliche Movens frühre­ formatorischer Vergangenheitsbetrachtung, welcher als historische Verifizie­ rung der reformatorischen Traditionskritik ein gehobener Stellenwert im Kon­ text des reformatorischen Legitimationsbedarfs zukam. Grundsätzlich verblie­ ben die reformatorischen Bewegungen bei ihrer Legitimationsstiftung im

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VI. Zusammenfassung

Rahmen des „historischen Legitimationsgestus“, wenn sie in Auseinanderset­ zung mit dem altgläubigen Traditionsargument gezielt den Anschluss an das rechtmäßige Alte suchten. Dabei wurden die überkommenen historischen Le­ gitimationsstrategien des „successio“- resp. „imitatio“-Gedankens durch einen reformatorischen „Wort-Gottes-Typ“ des historischen Legitimationsgestus er­ setzt, der zwar in gewisser Weise mit dem imitatio-Gedanken kombinierbar blieb, aber einen expliziten Gegenentwurf zum successio-Prinzip der Papstkir­ che darstellte. Die verschiedenen historischen Legitimationstypen geben dabei nicht allein Auskunft über ihre jeweilige Vergangenheitsdeutung, sondern sind zudem mit ihrem Gegenwartsverständnis und der abgeleiteten Zukunftsperspektive origi­ när verbunden. Die jeweilige Ausgestaltung der verschiedenen Legitimationsty­ pen verhält sich vor allem zu apokalyptischen Vorstellungen durchaus unter­ schiedlich: Im successio-Typ bleibt die von den biblischen Prophetien angekün­ digte und mithin der Apokalypse notwendig vorausgehende große Apostasie solange ausgeschlossen, wie sich der Geist im Lehramt tradiere – erst bei Abbruch des successio-Gedankens wird ein apokalyptisches Szenario möglich, sodass der successio-Typ von seinen Konstitutionsbedingungen her anti-apokalyptisch aus­ gerichtet ist. So gilt der successio-Gedanke seinen altgläubigen Vertretern als Garant der intakten Heilsgemeinschaft und wird beharrlich als Kardinalargu­ ment gegen das reformatorische Endzeitbewusstsein in Stellung gebracht. Im imitatio-Typ hingegen kann die Lebensführung als vom Teufel derart korrumpiert beurteilt werden, dass sie dem apokalyptischen Szenario entspre­ che; der große Abfall kann also potentiell in die Vergangenheit verlegt werden und der eigenen Gegenwart eine apokalyptische Signatur verleihen. Gleichwohl ist aber die Lebensführung prinzipiell wandelbar und eine tendenzielle Besse­ rung jederzeit möglich, sodass der imitatio-Gedanke zwar eine Potentialität, doch keine ausgewiesene Affinität zur Apokalyptik enthält. Der mit der Reformation entstehende Wort-Gottes-Typ war indes (zumin­ dest von seinen historischen Entstehungsbedingungen her) stark apokalyptisch ausgerichtet, wenn das zentrale Kontinuitätskriterium der Reinheit der Lehre von Teufel und Antichrist schon zersetzt und die endzeitliche Apostasie bereits geschichtlich verwirklicht schien. Für die spezifisch reformatorisch-apokalypti­ sche Ausrichtung ist dabei das „Revelationsschema“ von entscheidender Bedeu­ tung, vor dessen Hintergrund zwischen Auftreten und Offenbarung des Anti­ christ in eschatologischer Hinsicht unterschieden wurde. Die Neuformulierung des historischen Legitimationsgestus im Wort-Gottes-Typ machte im Verständ­ nis der reformatorischen Zeitgenossen die – nunmehr erfolgte – Offenbarung von Teufel und Antichrist überhaupt erst möglich und lässt also das apokalypti­ sche Szenario schon in der Vergangenheit beginnen. So bezieht sich auch die historische Legitimationsstiftung des Wort-Gottes-Typs selbstredend auf Altes und dessen Wiederherstellung, läutete aber im 16. Jahrhundert durch die apo­

VI. Zusammenfassung

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kalyptische Konnotation eine ganz neue Zeit ein und wies gerade durch die in modifizierter Weise vorgenommene Rückbesinnung auf die Vergangenheit drängender denn je in die (apokalyptische) Zukunft. Unter diesen veränderten Vorzeichen wurde der Teufel zur zentralen Refle­ xionsgestalt der reformatorischen Vergangenheitsbetrachtung, wenn die Flug­ schriftenautoren gezielt die Aktivität des Teufels in der Geschichte offenzulegen suchen. In theologischer Hinsicht wandte man sich scharf gegen den Gradualis­ mus, welchen der Teufel als Strukturprinzip in die Kirche eingebracht und da­ mit die Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch (und Mensch und Teufel!) konterkariert habe. Dabei wird das Handeln des Teufels als Entwicklungsge­ schichte beschrieben, welche sich in verschiedenen Schüben und Stadien entfal­ tet habe, wobei die von den Flugschriftenautoren konstruierten „Phasenmodel­ le“ der teuflischen Machtentfaltung in Datierung und historischer Konkretisie­ rung durchaus differieren können. Diese neuartige, auf Prozesshaftigkeit angelegte Aneignung der Vergangen­ heit wird auch in der reformatorischen Spezifik der Antichristvorstellungen greif bar: Dadurch, dass die theologischen Antichristkriterien im Unterschied zu vorreformatorischen Antichristvorstellungen in institutioneller Hinsicht auf die Strukturen der geschichtlichen Papstkirche angewendet wurden und also der Antichrist bereits seit langem wirksam war, konnte seine in der Gegenwart kulminierende Machtentfaltung nur prozesshaft beschrieben werden. Dies wirkte sich entscheidend auf die Art und Weise der Vergangenheitsbetrachtung aus, wenn – freilich unter dem Primat theologischer Wahrheitssuche – gezielt auf historische Strukturen und Entwicklungen geachtet wird, um die Ausbrei­ tung des teuflischen Gradualismus nachzuzeichnen und plausibel zu machen. So ist mit dem Narrativ einer Entwicklungsgeschichte von Teufel und Antichrist der reformatorischen Vergangenheitsbetrachtung eine gesteigerte Sensibilität für historische Prozesshaftigkeit und Wandelbarkeit unterlegt und der generel­ len Wahrnehmung der Zeit (freilich im Sinne der Verfallsidee) eine progressive Struktur eingeschrieben. So unterschiedlich der historische Beginn der teuflischen Korrumption ver­ anschlagt werden konnte, so eindeutig bezeichnet für die reformatorischen Flugschriftenautoren die eigene Gegenwart das Ende dieses Prozesses. Die Machtentfaltung des Teufels habe einen historischen Höchststand erreicht, doch sei der Teufel durch die Wiederentdeckung der Offenbarung nunmehr enttarnt und sein Niedergang eingeleitet. Angegriffen und provoziert wehre sich der Teufel gegen den Untergang seiner Herrschaft; seine Aktivität kulminiere ein letztes Mal, doch seien dies lediglich Erscheinungen der Agonie des Teufels, dessen endgültige Vernichtung unmittelbar bevorstehe. Durch die Provokation des Teufels wird die reformatorische Gegenwart zur ambivalenten Leidens- und Heilszeit, in der die Nöte und Bedrängnisse nochmalig zunehmen, gleichwohl der Gewissheit der nahenden Erlösung keinen Abbruch mehr tun können.

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VI. Zusammenfassung

Damit ist ein einzigartiger heilsgeschichtlicher Wendepunkt markiert – die Revelation des Antichrist sei einmalig und unhintergehbar ergangen und un­ terscheidet die heilsgeschichtliche Qualität der eigenen Gegenwart grundsätz­ lich von allem Vorgängigen. Die reformatorischen Flugschriftenautoren sehen ihre Rezipienten mitten in das bereits angebrochene apokalyptische Szenario hineingestellt und zur Entscheidung gefordert: Die Selbstverantwortlichkeit in Glaubensbelangen steigt in dem Maße an wie der Gradualismus schwindet; ins­ besondere hinsichtlich der Enttarnung des Teufels sei – im Unterschied zu vor­ gängigen Generationen, die sich in gewisser Weise auf Verführung und Unwis­ senheit berufen könnten – in der Gegenwart keinerlei Entschuldung mehr mög­ lich – wer die Irrtümer und Verfehlungen der Vergangenheit nicht jetzt erkenne und hinter sich lasse, habe Teufelsknechtschaft und Heilsferne selbst zu verantworten. Damit stehe die eigene Gegenwart unter ganz eigenen Vorzei­ chen und weise eine völlig neue heilsgeschichtliche Qualität auf. Die Zeichen der Zeit in adäquater Weise zu erkennen und zu deuten erhielt durch das reformatorische Gegenwartsverständnis eine ganz neue Virulenz – und die Auseinandersetzungen um die rechte Deutung der Zukunft eine ganz neue Brisanz und Rigorosität. Die Zeichenbeobachtung und -identifikation avancierte einem zentralen Streitthema der frühen Reformationszeit, wenn sich reformatorische Theologie und Astrologie zunehmend unversöhnlich gegen­ überstanden und sich das angespannte Verhältnis alsbald zu einem grundsätzli­ chen Konflikt um die rechtmäßige Erschließung von Wirklichkeit auswuchs. Zwar ist das Verhältnis der frühreformatorischen Theologie zur Astrologie viel­ schichtig und reicht von astrologieaffinen über astrologiekritische bis hin zu antiastrologischen Ansätzen, doch überwiegt eindeutig der kritische Aspekt – insbesondere wenn die astrologische Prognosetätigkeit gegen das apokalypti­ sche Zeitverständnis gerichtet ist, wodurch die zeitgenössische astrologische Praxis zum Instrument des Teufels pervertiere, mittels derer er die Endzeiter­ wartung abschleife bzw. gänzlich verwerfe. In reformatorischer Wahrnehmung stand das mechanistische Kausalitätsschema als Erkenntnisgrundlage der Astro­ logie biblischem Offenbarungswissen entgegen, wodurch (in zeitgenössischem Verständnis) naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle unter einen grundsätz­ lichen Vorbehalt gestellt waren. Dies galt insbesondere für die Endzeit, welche gemäß der biblischen Prophezeiungen die Durchbrechung der naturgesetzli­ chen Regularitäten mit sich bringe. Je näher also der Jüngste Tag rücke, je we­ niger Aussagekraft könne astrologische Prognostik beanspruchen. Diese grund­ legende apokalyptische Relativierung astrologischer Prognosekompetenz ver­ weist im Kontext des Kampfes um die Deutungshoheit über die Zukunft auf einen tiefliegenden Unterschied in der Zeitkonzeption. In expliziter Abgrenzung vom der zeitgenössischen Umwelt zugeschriebenen rekurrent-präsentischen Zeitverständnis setzten die reformatorischen Flug­ schriftenautoren ein singulär-futurisches, wenn sie auf der Einmaligkeit (heils-)

VI. Zusammenfassung

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geschichtlicher Entwicklungen insistieren und sich der Blickwinkel auf das Kommende ausrichtete. Diese gewandelte Zeitwahrnehmung wird in den Flugschriften pointiert vertreten – in polemischer Kontrastierung wird das re­ formatorische Zeitempfinden gezielt gegen die Annahme einer „Präsenz des Immergleichen“ gewendet, womit sowohl die Zyklizität der Zeit als astrologi­ sche Berechungs- und Prognosegrundlage desavouiert ist wie auch die prinzipi­ elle Zeitenthobenheit scholastischer Erkenntnisaxiome. Dabei richtete das reformatorische singulär-futurische Zeitempfinden zwar den Blick in die Zukunft, doch rechnete es nicht mit ihr im Sinne einer dauer­ haften Perspektive. Der reformatorische Zukunftshorizont war geschlossen in Erwartung des zeitlich limitierten und in den grundsätzlichen Potentialitäten biblisch festgelegten apokalyptischen Ablaufszenarios. Wenngleich also der re­ formatorische Zukunftshorizont von dem durch prinzipielle Unbekanntheit und zeitliche Entgrenzung ausgezeichneten neuzeitlichen grundsätzlich unter­ schieden bleibt, so liefert die Apokalyptik doch starke Impulse für die Genese des modernen Zeitempfindens, die als genuin theologischer Beitrag zu ander­ weitigen profangeschichtlichen Entwicklungen hinzutritt und die Durchset­ zung des Linearitätskonzepts entscheidend beförderte. Die umfassende Wandlung des Zeitverständnisses durch die reformatorische Apokalyptik betraf zudem die Art und Weise, wie Zeit konkret erfahren wur­ de, in fundamentaler Weise. Apokalyptischen Vorstellungen ist gleichsam we­ senhaft eine Zeitverkürzungserwartung inhärent. Deren Adaption auf die eige­ ne Gegenwart ruft einen akuten Zeitnotstand hervor in Erwartung des nahen­ den Endes. Gegen das Bewusstsein vorhandener und gleichbleibender Zeit im rekurrent-präsentischen Verständnis ist dem reformatorischen singulär-futuri­ schen Zeitverständnis aufgrund der apokalyptischen Befristung ein Beschleuni­ gungsempfinden eingeschrieben, welches sich nicht allein vom altgläubigen Zeitempfinden abgrenzte, sondern zudem im Vergleich mit vorgängigen apo­ kalyptischen Vorstellungen ein eigenes Gepräge erhält. Das sich als Folge der Zeitverkürzungserwartung einstellende Beschleuni­ gungsempfinden war in der klassischen Apokalyptik noch als Beschleunigung der Naturzeit vorgestellt. Damit ist evident, dass die apokalyptische Naturzeit­ beschleunigung allein von der Erwartungshaltung evoziert und daher – in Ko­ selleckschem Sinne – als vormodern gekennzeichnet ist. Zudem sind vormoder­ ne apokalyptische Erwartungshaltungen gleichsam beliebig auf die Geschichte applizierbar, wenn sie in subjektiver Wahrnehmung zwar eine beschleunigte Abfolge von Ereignissequenzen erkennen mögen, aber der Vergleichsmaßstab der Beschleunigung im Grundsatz auf Altbekanntes bezogen bleibt. In der frü­ hen Reformationszeit hingegen ist die apokalyptische Erwartungshaltung auch an verifizierbare innergeschichtliche und sich wandelnde Erfahrungsgehalte ge­ koppelt, welche auf signifikanten technischen Innovationen – allen voran in der (Flugschriften-)Publizistik – basieren und mithin nicht lediglich graduelle Un­

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VI. Zusammenfassung

terschiede zu Vorgängigem, sondern genuine Neuheitserfahrungen bezeich­ nen. Der Rekurs auf innergeschichtliche Argumentationsebenen und Erfah­ rungsgehalte lässt einen neuartigen Beschleunigungstypus entstehen, der als Synthese von vormodernen apokalyptischen Erwartungshaltungen und neu­ zeitlich-technischen Neuheitserfahrungen in Erscheinung tritt und die mithin die „Verzeitlichung der Geschichte“ bereits in der frühen Reformationszeit be­ ginnen lässt. Diese reformatorische Verzeitlichung apokalyptischer Vorstellungen ist mit der spezifischen Medialität der Reformation originär verbunden. Die reforma­ torische Medientheorie zielte in theologischer Hinsicht auf eine neue Öffent­ lichkeit der Offenbarung, welche man insbesondere durch die Flugschriftenpu­ blizistik verwirklicht sah. Die Notwendigkeit einer neuen Offenbarungsöffent­ lichkeit ergibt sich dabei auch vom Paradigmenwechsel der Teufelsvorstellungen aus: Das Druckmedium wurde im Hinblick auf die Spezifik der reformatori­ schen Teufels- und Antichristvorstellungen theologisch aufgeladen, wenn die neuartige, aktualitätsbezogene und räumlich wie zeitlich entgrenzte mediale Leistungsfähigkeit zur entscheidenden Prämisse einer umfassenden Enttarnung von Teufel und Antichrist wird. Zudem machte die neue reformatorische Un­ mittelbarkeit zum Teufel und die Unvertretbarkeit des Teufelskampfes die druckgestützte Öffentlichkeit der Offenbarung zur unabdingbaren Grundlage der veränderten reformatorischen Teufelskampfstrategien – nur auf der Basis der Veröffentlichung der Offenbarung konnte die Gegenwart umfassend als Ent­ scheidungszeit stilisiert und die Individualisierung des Teufelskampfs ermög­ licht und eingefordert werden. Der reformatorische Teufelskampf war mithin primär ein druckgestützter Teufelskampf, der in technischer Hinsicht die enormen publizistischen Verviel­ fältigungs- und Distributionsmöglichkeiten und die daraus erwachsenden indi­ viduellen Partizipationschancen zur Voraussetzung hatte. So trugen die Teufels­ vorstellungen gleichsam als theologische Negativfolie der neuen Öffentlichkeit der Offenbarung entscheidend dazu bei, ein neuartiges Verhältnis zur Schrift­ lichkeit zu konstituieren. Indem der reformatorische Rezipient in theologischer Hinsicht als autarkes Subjekt konzipiert war, das ohne Vermittlerinstanzen un­ mittelbar anschlussfähig war an die Offenbarungsöffentlichkeit, erhält die au­ genfällige Rezipientenorientierung (insbesondere der Flugschriften) eine me­ dientheologische Begründung. Diese Rezipientenorientierung bildete das Fun­ dament der ausgeprägten reformatorischen Persuasionskultur und wirkte auch auf den medialen Duktus und die rhetorischen Strategien der Flugschriften ein: Gezielt wandte man in literarisch-rhetorischer Hinsicht etwa das antithetische Verfahren an, um die Enttarnung von Teufel und Antichrist möglichst vielen Zeitgenossen verständlich zu machen und Einstellungen wie Handlungen der Rezipienten massiv zu beeinflussen.

VI. Zusammenfassung

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Die publizistische Öffentlichkeitsoffensive gegen den subtilen Teufel schuf ganz neue, analogielose Erfahrungsgehalte hinsichtlich der Beschleunigung von Publikations- und Rezeptionsvorgängen. Die sich im Rahmen der grund­ legenden Neukonfiguration der reformatorischen Medialität einstellende Be­ schleunigungserfahrung korrelierte dabei in eigentümlicher Weise mit der re­ formatorischen Endzeitgewissheit: Der Buchdruck stellt zunächst das „letzte Geschenk Gottes“ dar, welches am Ende der Zeiten die Offenbarung noch ein­ mal allen Menschen zugänglich macht; gleichzeitig steht er zudem für den ge­ waltigen technischen Fortschritt, der als solcher in neuartiger Weise als Zeichen der Endzeit gedeutet wird. Die vom Druckmedium hervorgerufene innerwelt­ liche Beschleunigungserfahrung wird als eigenständiges Begründungsmoment in die reformatorische Endzeitdiagnose einbezogen und stellt damit ein eviden­ tes Beispiel für die über reine Aneignung von Wirklichkeit hinausgehende, Wirklichkeit mitkonstituierende „Medialität des Historischen“ dar. Insofern ist die mediale Gestaltungskraft der Flugschriften nicht nur in inhaltlicher Hin­ sicht, gleichsam als Träger und Multiplikator bestimmter Einstellungen, etwa in der bloßen Verkündigung der Endzeitdiagnose, gegeben, sondern die Flug­ schriften werden darüber hinaus in sich zum integralen Bestandteil eben dieser Diagnostik, wenn sie das Beschleunigungsempfinden nicht nur in funktiona­ lem Sinne transportieren, sondern zudem in genetischem Sinne als publizisti­ sches Phänomen selbst (mit-)evozieren. So sind reformatorische Medialität und reformatorisches Zeitverständnis eng miteinander verwoben, wenn die reformatorischen Zeitgenossen aus der eige­ nen Medialität auch ein neues Bewusstsein für die eigene Geschichtlichkeit entwickeln. Diese zeitgenössische Erkenntnis fügt sich ein in eine umfassendere Historisierungstendenz des reformatorischen Zeitverständnisses. Dies betrifft zum einen die historische Selbstverortung der reformatorischen Zeitgenossen. Die oben beschriebene reformatorische Neumodulation des Ho­ rizonts von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsper­ spektive bringt ein genuin reformatorisches Epochenbewusstsein hervor. Die Unterscheidung der drei zeitlichen Dimensionen wird explizit gegen das Zeit­ verständnis der Altgläubigen vorgenommen und die grundlegende Andersar­ tigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herausgestellt. Das Erleben der eigenen Gegenwart als fundamentalem Umbruch wird dabei allererst auf der Folie der Teufelsvorstellungen als komplementärer Kehrseite der Wiedergewinnung der Offenbarung entfaltet: Der dargestellte reformatori­ sche Paradigmenwechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen führt zu einer Un­ terscheidung verschiedener Zeiten des Teufels, in denen seine Machtfülle ver­ schiedene Konjunkturen aufwies und geschichtlich unterscheidbar in Erschei­ nung trat. Die geschichtlichen Manifestationen der teuflischen Macht werden als Verlaufs- und Entwicklungsgeschichte beschrieben, welche den geschichtli­ chen Zeiten ein jeweils spezifisches Eigengewicht verleiht. So tritt die reforma­

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VI. Zusammenfassung

torische Gegenwart als Zeit der Revelation von Teufel und Antichrist mit der teuflisch korrumpierten Vergangenheit in einen scharfen Kontrast; dieses Um­ bruchserleben der reformatorischen Zeitgenossen bedingt denn auch, wie Schulin mit Blick auf Luther zurecht feststellt, „eine stärkere Verfinsterung des Mittelalters als die seitens der Humanisten – was man bei der heute beliebten engen Aneinanderrückung von Spätmittelalter und Reformation wohl wieder neu betonen muß.“16 Im Unterschied zu Humanismus oder Renaissance, welche ebenfalls ein his­ torisches Dekadenzmodell als Kontrastfolie des eigenen Selbstverständnisses ausbilden, ist die reformatorisch radikalisierte Verdunkelungstendenz des Mit­ telalters vor allem als Konsequenz der Teufels- und Antichristvorstellungen zu verstehen, durch welche der historische Deprivationsprozess unüberbietbare metaphysische Qualitäten erhält. Gleichzeitig kulminiert das Umbruchserle­ ben, wenn vor dem Hintergrund des reformatorisch-apokalyptischen Revelati­ onsschemas der Ausgang aus der Zeit der Teufelsherrschaft allein gegenwärtig möglich wird und damit die Momente der Einmaligkeit und Irreversibilität historischer Prosesse besondere Nachdrücklichkeit entfalten. Die Historisierungstendenz der reformatorischen Zeitdeutung betrifft dabei nicht allein die Ebene der Erkenntnisse, sondern zudem die zeitgenössischen Modi der Erkenntnisbildung. Anders als z. B. in den scholastischen Erkenntnis­ theoremen, in denen eine Historizität des zu Erkennenden ausgeblendet war, erhielt das geschichtliche Geschehen in epistemischer Hinsicht einen neuen Aussage- und Stellenwert. Ausdrücklich gegen zeitenthobene Erkenntnisprin­ zipien kam es auf der Grundlage des reformatorischen Schriftprinzips zu einer verstärkten Einbeziehung der Historie in die Exegese17 – aufgrund der Ge­ schlossenheit des biblischen Interpretationshorizonts freilich allein im Rahmen einer wechselseitigen Bestätigung von Schrift und Historie gedacht: „Syhest du nun, wie die yetzige zeyt stympt mitt der geschrifft […].“18 Die zeitlose und ewige Wahrheit der Schrift könne nur unter (sich wandeln­ den!) geschichtlichen Bedingungen erkannt und angeeignet werden – hatte der Teufel (z. B. durch den Primatsanspruch des Papsttums) in der vorreformatori­ schen Vergangenheit der Aneignung der Wahrheit kaum zu überwindende Hindernisse in den Weg gestellt, so sei diese Aneignung durch die Rückbesin­ nung auf den normativen Referenzhorizont der Schrift und der Gewährleistung des Zugangs zu diesem wieder neu möglich geworden. Allerorten schienen verschiedene Zeichen von der (biblisch verheißenen) Besonderheit der eigenen Gegenwart zu künden, sodass Gegenwartsgeschehen, Naturbeobachtung und

16 

Schulin: Arbeit an der Geschichte 26. Siehe dazu z. B. Sandl: Interpretationswelten 34 ff. 18  Brunfels: Anstoss 307,26. 17 

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Schriftauslegung in eine neuartige Beziehung traten und im reformatorischen Konnex ein ausgeprägtes Endzeitbewusstsein hervorbrachen: „Der innovative, aktuelle Orientierung gewährleistende Aspekt war die Adaption dieser biblischen Texte auf die eigene Gegenwart, das heißt die Zusammenführung der bib­ lisch-textlichen Referenzebene mit dem in menschlicher und natürlicher Umwelt Be­ obachtbaren: Durch die biblischen Texte hindurch wurde die Gegenwart lesbar als Ver­ weissystem auf das Ende hin.“19

Diese reformatorische Kopplung von Historie und Exegese wird insbesondere im Rekurs auf innergeschichtliche Entwicklungen und Bedingungen greif bar, wenn z. B. technische Neuheiten wie der Buchdruck als neuartige Referenze­ bene den Erkenntniswert des Gegenwartsgeschehens signifikant anheben und die Exegese mit dem geschichtlichen Kontext verbanden. Insbesondere die Korrelation der reformatorischen Revelation von Teufel und Antichrist mit den Neuheitserfahrungen des Phänomens der Flugschriften­ publizistik brachte tendenziell modernitätsträchtige Verlaufsformen und Quali­ täten der Zeitlichkeit hervor, wenn sich das Bewusstsein für Prozesshaftigkeit, Wandelbarkeit, Andersartigkeit, Einmaligkeit, Irreversibilität und Beschleunigung (heils-) geschichtlicher Ereignisse und Strukturen schärft. Dadurch wächst der Gegen­ wart eine eigene Autorität gegenüber der Vergangenheit zu: Im Sinne einer Verzeitlichung treten aufgrund der Beschleunigungserfahrung Erwartungs­ horizont und Erfahrungsraum in neuartiger Weise auseinander und heben den Erkenntniswert der Gegenwart signifikant an. Vor allem die Flugschriften tru­ gen entscheidend dazu bei, dass sich aufgrund der analogielosen Beschleuni­ gungserfahrung von geschichtlichen Ereignissequenzen samt deren publizis­ tischer Auf bereitung ein „Überraschungseffekt“ einstellte, der den Erwar­ tungshorizont der Zeitgenossen stets aufs Neue durchbrach, indem sich ein „Wahrnehmungsmodus des Aktuellen“20 etablierte und die gegenwärtigen Ereignisse für die Zeitgenossen durch Plötzlichkeit und Unerwartetheit ausge­ zeichnet erscheinen: „In der Neuheit der im Flugblatt und Flugschrift feilgebotenen Informationen lösten sich Gegenwarten in einer bislang unbekannten Dynamik ab und produzierten immer wieder aufs Neue Vergangenheiten, so dass Erfahrungshorizonte reflexiv gemacht wer­ den mussten und letztlich, wenngleich im Modus ihres Obsoletwerdens, keine geringe­ re, sondern eine größere Bedeutung bekamen.“21

Die reformatorische Beschleunigungserfahrung verursachte gleichsam einen Riss in den Zeitvorstellungen und ließ die zeitgenössischen „Geschichtszeiten“ radikal auseinandertreten – es stellte sich das Gefühl ein, zwar zu, aber nicht in derselben Zeit zu leben: Die reformatorischen Flugschriftenautoren nahmen 19 

Leppin: Jüngster Tag 82. Sandl: Medialität 285. 21  Sandl: Medialität 286. 20 

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VI. Zusammenfassung

ihre Selbstverortung innerhalb des von den biblischen Prophetien verheißenen heilsgeschichtlichen Ablaufschemas entschieden anders vor als ihre altgläubigen Zeitgenossen – sie glaubten sich schlagartig an das Ende der Heilsgeschichte katapultiert, lebten damit gewissermaßen heilsgeschichtlich dramatisch später, und sahen sich von einem alle geschichtliche Erfahrung übersteigenden Be­ schleunigungssog erfasst. Insbesondere die von den Zeitgenossen selbst herausgestellte Gegensätzlich­ keit der Zeitvorstellungen wurde zum rekursiven Bestätigungsmoment der refor­m atorischen Endzeitdiagnose, wenn das von der Schrift für die Endzeit angekündigte mangelnde apokalyptische Bewusstsein der Vielen in der altgläu­ bigen Zeitvorstellung verwirklicht schien und den reformatorischen Flugschrif­ tenautoren als Ausweis nicht lediglich eines anderen oder obsoleten, sondern eines in fataler Weise vom Teufel fehlgeleiteten Zeitverständnisses galt. Die re­ formatorische Geschichtszeit entstand mithin aus einer „Produktivität der Dif­ ferenz“22 heraus, bei der die Divergenz zu zeitgenössischen Entwürfen ein kon­ stitutives Merkmal der spezifisch reformatorischen Zeitvorstellung darstellt und eben diese Gegensätzlichkeit in selbstreferentieller Weise für die reformatori­ sche Identitätsstiftung und Selbstvergewisserung in Dienst genommen wird. Im Modus der Abgrenzung entstanden (und weithin fortgeschrieben), war die re­ formatorische Geschichtszeit, im Unterschied zur bereits das Mittelalter in ge­ wissem Maße prägenden Diversifizierung und Simultaneität der Zeitvorstellun­ gen, nicht mehr integrierbar, der die zeitgenössischen Geschichtszeiten schei­ dende Riss nicht mehr zu kitten. Die reformatorische Apokalyptik sprengte die überkommene Gesamtheit mittelalterlicher Zeitvorstellungen, welche durchaus verschiedenartige Zeitwissen und -rhythmen umgreifen konnte, letztlich aber in einer relativen Einheit verbundenen blieb, radikal auf und verdeutlicht, dass insbesondere das 16. Jahrhundert von einer bis dato ungekannten „Pluritempo­ ralität“ gekennzeichnet war. Was für andere Bereiche von der Geschichtswissenschaft in jüngerer Zeit evident gemacht wurde, gilt damit ebenso für das Zeitverständnis: die Apoka­ lyptik muss als wesentliche Antriebskraft im Werdeprozess der Moderne ange­ sehen werden. Neben entscheidenden Einflüssen der Apokalyptik auf die Ent­ wicklung der Naturwissenschaften 23 oder auch der Politiktheorie24 ist vor allem die Bedeutung für die Genese des modernen Zeitverständnisses zu betonen, wenn insbesondere die reformatorische Apokalyptik starke Impulse im Sinne einer „Verzeitlichung der Geschichte“ bereitstellt. 22  Landwehr: Alte Zeiten, neue Zeiten 21. Landwehr empfiehlt in seinen Anregungen für eine künftige Zeit-Geschichtsforschung eine differenztheoretische Herangehensweise. Diese Ausrichtung kann insbesondere im Kontext der Reformation als fruchtbar bestätigt werden. 23 Siehe Fried: Aufstieg. 24 Siehe Kaufmann: Apokalyptische Deutung.

VI. Zusammenfassung

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Dabei bildet der Paradigmenwechsel innerhalb der Teufelsvorstellungen die entscheidende Grundlage, auf der sich die genuin reformatorische Ausgestal­ tung der Apokalyptik entfaltete. Die Einschränkung, dass der hier grundgeleg­ te Zug zur Verzeitlichung zunächst noch eine reformatorische Besonderheit des Zeitverständnisses darstellt, verdeutlicht indes den herausragenden Bedeutungs­ gehalt der Teufelsvorstellungen in diesem Zusammenhang – erst vor dem Hin­ tergrund des Paradigmenwechsels und der spezifischen Charakteristik der re­ formatorischen Teufelsvorstellungen wird die Herausbildung der neuartigen reformatorischen Geschichtszeit und ihrer Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftskonzeptionen in ihrer Eigenheit verständlich. Die Verzeitlichung des Teufels beschreibt mithin ein zentrales Element der zeitgenössischen Deutungsund Sinnformationen; dieser Bedeutungsgehalt und die Auswirkungen auf das reformatorische Zeitverständnis lassen sich geschichtswissenschaftlich mit rein sozialgeschichtlich orientierten Ansätzen nur sehr bedingt erfassen. Aus der Perspektive der Zeitgenossen jedoch beschreibt der Paradigmenwechsel inner­ halb der Teufelsvorstellungen die hintergründige Logik des Reformationsge­ schehens, welche dann freilich auch in den äußeren Verlaufsformen wirksam wird und konstiutiv mit diesen verbunden bleibt.25 Dabei muss natürlich zwi­ schen den konkreten Zielen und Erwartungen der Zeitgenossen und der ge­ schichtswissenschaftlichen Beschreibung der Folgewirkungen unterschieden werden, „denn es wäre falsch, Luther und den anderen Reformatoren die Her­ vorbringung der Neuzeit als Motiv für ihre Handlungen zuzuschreiben.“26 In diesem Sinne allerdings eröffnete die reformatorische Apokalyptik tatsächlich den Weg in eine neue Zeit – freilich anders, als die Zeitgenossen es erwartet hatten: 27 Sie rechneten mit der Endzeit, doch schlagen eben aus dieser Erwar­ tungshaltung und den sich verändernden Erfahrungsgehalten die Wurzeln des modernen Zeitverständnisses. Ob „der Reformation“ insgesamt eine eigene Epochenqualität zuzuschreiben ist, bleibt freilich eine offene Frage – derweil wird das in innerer Kohärenz entfaltete, spezifisch reformatorische Zeitverständnis in seiner Bedeutung für die Herausbildung der Moderne neu zu betonen sein. Zwar macht dieser auf die Sinnformationen und Wahrnehmungsmodi des historischen Zeitbewusstseins gerichtete Blickwinkel die Reformation nicht unbedingt auch aus übergreifen­ der Perspektive zu einer eigenen Epoche – auf jeden Fall aber zu einer entschei­ denden Station bei der Entwicklung des modernen Zeitbewusstseins, sodass der Reformation innerhalb einer „Geschichte historischer Zeiten“ ein prominenter Platz gebührt. 25 Vgl. zu den Begrenzungen der gängigen wirkungsgeschichtlichen Ansätze Sandl: Medialität 10 f. 26  Ehrenpreis / Lotz-Heumann: Reformation 18. 27 Vgl. Koselleck: Vergangene Zukunft 27.

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VI. Zusammenfassung

Die Teufelsvorstellungen werden gemeinhin den rückwärtsgewandten Ge­ halten der Reformation zugeschrieben, welche die Vormodernität der reforma­ torischen Denk- und Sinnformationen erweisen. Mit Blick auf die den spezi­ fisch reformatorischen Teufelsvorstellungen inhärente Neukonfiguration der zeitgenössischen Temporalstrukturen jedoch verkehrt sich der Befund, wenn gerade die Reflexionsgestalt des Teufels zum Konstituens einer neuen, in die Moderne weisenden Zeitwahrnehmung avanciert: Die Verzeitlichung des Teu­ fels bezeichnet mithin den modernen Zug der reformatorischen Geschichtszeit. So ‚unmodern‘ der Teufel der Neuzeit auch erscheinen mag – für ihre Genese kommt ihm eine Schlüsselstellung zu.

VII. Bibliographie 1. Quellen Wenn Textausgaben vorlagen, wurde nach diesen zitiert, andernfalls nach Köhlers Microfiche-Sammlung (vgl. Köhler: Microfiche-Sammlung). Wenn nach Microfi­ che-Sammlung zitiert wurde, wurden zur Vereinheitlichung durchgehend Großbuch­ staben und Ziffern sowie a bzw. b verwendet. Die Angabe Nr.DB steht für die Nummer der jeweiligen Flugschrift aus der zugehörigen Bibliographie der Flugschriften (vgl. Köhler: Bibliographie; bis Buchstabe S erschienen).

1.1 Editionen Bentzinger, Rudolf (Hg.): Die Wahrheit muss ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Re­ formation. Frankfurt a. M. 1983. Clemen, Otto (Hg.): Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation. 4 Bde. Leip­ zig 1907–1911. Enders, Ludwig (Hg.): Johann Eberlin von Günzburg, Ausgewählte Schriften (Flug­ schriften aus der Reformationszeit 11, 15, 18). 3 Bde. Halle a. S.  1896–1902. Franz, Günther (Hg.): Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausga­ be (QFRG 33). Gütersloh 1968 (Abk. MSB). Goedeke, Karl (Hg.): Pamphilus Gengenbach. Hannover 1856, ND Amsterdam 1966. Hamm, Berndt / Huber, Wolfgang (Hgg.): Lazarus Spengler. Schriften. Bd. 1: Schriften der Jahre 1509 bis Juni 1525 (QFRG 61). Gütersloh 1995. Hertzsch, Erich (Hg.): Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523–25 (Neudrucke deut­ scher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 325). 2 Bde. Halle a. S.  1956–57. Köhler, Hans Joachim (Hg.): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (1501–1530). 10 Bde. Microfiches und Registerbände. 1978–1987 (Abk. Köhler: Microfi­ che-Sammlung). Kück, Eduard (Hg.): Die Schriften Hartmuths von Cronberg (Flugschriften aus der Reformationszeit 14). Halle a. S.  1899. Kück, Eduard (Hg.): Judas Nazarei, Vom alten und neuen Gott, Glauben und Lehre (1521) (Flugschriften der Reformationszeit 12). Halle a. S.  1896. Laube, Adolf (Hg.): Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). 2 Bde. Berlin 1983. Laube, Adolf / Seiffert, Hans Werner (Hgg.): Flugschriften der Bauernkriegszeit. Berlin 1975. Müller, Gerhard (Hg.): Andreas Osiander d. Ä. Gesamtausgabe. Bd. 1: Schriften und Briefe 1522 bis März 1525. Gütersloh 1975. Raillard, Rudolf: Pamphilus Gengenbach und die Reformation. Heidelberg 1936.

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VII. Bibliographie

Schade, Oskar (Hg.): Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit. 3 Bde. Hannover 2 1863. Simon, Karl (Hg.): Deutsche Flugschriften zur Reformation (1520–1525). Stuttgart 1980. Stupperich, Robert (Hg.): Martini Buceri opera omnia, Ser. 1, Bd. 1: Frühschriften 1520–1524. Gütersloh 1960. Weimarer Ausgabe: Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883 ff. (Abk. WA).

1.2  Flugschriften (in der Reihenfolge der benutzten Abkürzungen): Absag oder Fehdschrift: Absag / oder vhed schrifft / Des Hellischen Fürstenn Luci­ fers / Doctor Martin Luther ietzt zu gesandt (1524). In: Clemen 3, 363–368; Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 11; Fiche 1105; Nr.  2810. Ain groszer Preis: Ain groszer Preis so der Fürst der Hellen genant Lucifer iezt den Gaistlichen als Bäpst Bischoff Cardinel und der gleichen zu weist und embeut (1521). In: Schade 2, 85–92 (und 300–305); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1392; Fiche 372; Nr.  1037. Ain neuer Sendbrief: Ain neuer Sendbrief von den bösen Gaistlichen Geschickt zu irem rechten Herren. Ain Antwort von irem Erbherrn. Fast lustig zu lesen (1521). In: Schade 2, 93–98 (und 305–307); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3490; Fiche 966; Nr.  2421. Ain schöner Dialogus: Ain schöner Dialogus von zwaien guten Gesellen genant Hans Toll und Claus Lamp sagent vom Antechrist und seinen Jungern (1521). In: Schade 2, 128–134 (und 325–327); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 4106; Fiche 264; Nr.  746. Botschaft aus der Hölle: Ain schöner Dialogus von Martino Luther und der ge­ schickten Botschaft aus der Hölle, die falsche Geistlichkeit und das Wort Gotts belan­ gend, ganz hübsch zu lesen (1523). In: Bentzinger: Dialoge 316–342 (und 342–352); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 4103; Fiche 377; Nr.  1048. Brunfels: Anstoss: Brunfels, Otto: Von dem evangelischen Anstoß. Wie und in was gestalt das evangelium oder wort Gottes uffrur mache (1523). In: Laube: Reformati­ onsbewegung 1, 294–312 (und 313–315); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 368; Fiche 1101; Nr.  2801. Copp: Urtayl: Copp, Johannes: „Was auff disz \ Dreyundzwayntzigest vnd zum tail vyer = \ vndzwantzigest jar. Des himels lauff künnftig sein/ \ Ausz weysz Doctoris Johannis Copp vrtayl“ (1522). Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 602; Fiche 1242; Nr.  3155. Copp: Practica Teutsch: Copp, Johannes: Practica Teutsch / was die Constellationes des xxiiij. Jars / bedeütten vnd erklaerung der propheceyen durch Doctorem / Johan­ nem Copp klaerlicher dann vor aim Jar beschriben (1523). Ex.: SSB Augsburg 4° Kult Flugschriften 123 (Nachweis bei Talkenberger: Sintflut 440). Cronberg: Christliche Schriften: Cronberg, Hartmuth von: Drey Christliche schrift / des Edlen vnd Ernuesten / Hartmudts vonn Cro- / nenberg. Die erst an Bapst Leo  /  des namens den tze-  /  henden.  /  Die ander an die ein-  /  woner tzu Cro­ nen- / berg. / Die dritte an die Bettel orden. / Die vierd an Jacoben Kobeln (1522). In: Kück: Cronberg 32–60; Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 624; Fiche 611; Nr.  1570.

1. Quellen

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Cronberg: Strassburg: Cronberg, Hartmuth von: Ein schrifft vnd Christlich ver | manung an die Strengen ve | sten Ersamen vnnd weisen | Meister vnnd Rath zu | Straßburgk (1523). In: Kück: Cronberg 108–116 (und XLII–XLIV); Köhler: Micro­ fiche-Sammlung: Nr.DB 629; Fiche 1387; Nr.  3669. Cronberg: Tzwen Brieff: Cronberg, Hartmuth von: Des Edeln vnd Ehrnvhesten Hart= | mudts von Cronberg tzwen | Brieff, Eyner an Romische Kayser= | liche Maiestat, vnd der ander an | Franciscus von Sickin= | gen seinen vettern, der | got­ lichen vnd Euangelischen ler vnd | warheit | vnd | gemeyner | Christenheit zu | furderung geschrieben (1521). In: Kück: Cronberg 1–8 (und XIV–XIX) (Brief an Karl V.), 9–17 (und XIX f.) (Brief an Sickingen); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 641; Fiche 337; Nr.  952. Eberlin: Andere Vermahnung: Eberlin von Günzburg, Johann: Die ander getrew vermanung Johannis Eberlin vonn Guentzburg, an den Rath der loblichen stadt Vlm, war zunhemen yn was vnsaeglichen schaden sie gefurt seint von den weltverfurern, den Muenchen, vnd wie man solchem vbel entrynnen moege, wilche auch and’n stedten seer nuetzlich seyn kan (1523). In: Enders 3, 1–40 (und 330–335); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 781; Fiche 52; Nr.  146. Eberlin: Bericht: Eberlin von Günzburg, Johann: Ain kurtzer gschrifftlicher bericht etlicher puncten halb Christlichs glauben, zugeschickt der hailgnn samlung außer­ welten Cristen zu Vlm in schwaben dadurch sy gemanedt werden nit abston vom Euangelj, etlicher entpoerung halb vnd eyntraeg si in vergangen Summer der teüfel zugericht hat, dauon auß vrsach nitt deütlich hye gesagt wird (1523). In: Enders 2, 171–192 (und 3, 328–330); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 797; Fiche 52; Nr.  147. Eberlin: Bundesgenossen: Eberlin von Günzburg, Johann: Ein klägliche Klag an den christlichen Römischen Kaiser Carolum von wegen Doktor Luthers und Ulrich von Hutten. Der erst [bis XV.] Bundsgenoß (1521). In: Enders 1, 1–170 (und 206–226); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 794; Fiche 1584–1585; Nr.  4092. Die ein­ zelnen Texte der 15 Bundesgenossen haben jeweils eigene Titelblätter und eigene Bogenzählung; zu den Zwischentiteln vgl. Enders 1; 15.23.35.45.55.67.79.89.107.12 1.133.143.153.163. Die einzelnen Bundesgenossen sind z. T. auch in Einzelausgaben erschienen, vgl. das Druckschriftenverzeichnis bei Peters 339 ff. Eberlin: Eheweib: Eberlin von Günzburg, Johann: Wie gar gfarlich sey. So ein Priester kein Eeweyb hat. wye vnchristlich vnd schedlich eym gemeynen nutz Die menschen seynd. Welche hyndern die Pfaffen am Eelichen stand (1522). In: Enders 2, 21–37 (und 3, 291–297); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 815; Fiche 363; Nr.  1022. Eberlin: Erfurt: Eberlin von Günzburg, Johann: Eyn Sermon zu den Christen yn Erffurd, gepredigt auff den Sontag der Creutzwochen, ynn wilcher alle Christen Brüderlich vermanet werden, zuschreyen vmb hilff vnd schirm wid’ so grosse vbel, so vns ains thails gegenwertig, ains tails gewißlich vorstendig. In wilchen nicht dann eyn Christlich gebet helffen mag (1524). In: Enders 3, 233–252 (und 370); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 807; Fiche 53; Nr.  149. Eberlin: Falschscheinende Geistliche: Eberlin von Günzburg, Johann: Wider die falschscheynende gaystlichen vnder dem Christlichnn hauffen, genant Barfusser oder Franciscaner orden Sonderlich vom titel Reformacio oder Obseruacio. Item wie souil ade licher leibe vnd seelen in Sannt Clara orden erbarmmlich verderben (1524). In: Enders 3, 41–88 (und 336–344); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 812; Fiche 49; Nr.  136.

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VII. Bibliographie

Eberlin: Geld: Eberlin von Günzburg, Johann: Mich wundert das kein gelt ihm land ist. Ein schimpflich doch vnschedlich gesprech dreyer Landtfarer, vber yetz gemelten tyttel (1524). In: Enders 3, 147–181 (und 350–367); Köhler: Microfiche-Samm­ lung: Nr.DB 804; Fiche 142; Nr.  388. Eberlin: Letztes Ausschreiben: Eberlin von Günzburg, Johann: Eyn new vnd das letzt außschreyben der xv. bundtgenossen (1521). In: Enders 1, 171–205 (und 226– 228); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 805; Fiche 171; Nr.  472. Eberlin: Schänder: Eberlin von Günzburg, Johann: Wider die schender der Creatu­ ren gottes, durch Weyhen, oder segnen, des Saltzs, Wasser, Palmen, kraut, wachsz, fewr ayer, Fladen etc.: nit zuuerachtung der Creatur, allain meldung d’gotslesterli­ chen betrueglichen falsch glaubigen yrrsalen (1525). In: Enders 2, 1–19 (und 3, 288– 291); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 814; Fiche 235; Nr.  658. Eberlin: Tröstliche Vermahnung: Eberlin von Günzburg, Johann: Ain fraintlich trostliche vormanung an alle frummen Christen, zu Augspurg Am Leech, Darinn auch angezaygt würt, wazu der Doc. Martini Luther von Gott gesandt sey (1522). In: Enders 2, 137–152 (und 3, 325 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 788; Fi­ che 233; Nr.  652. Eberlin Warnung: Eberlin von Günzburg, Johann: Ein getrewe warnung an die Christen, in der Burgawischen marck, sich auch fuero hin zu hueten vor aufrur, vnnd vor falschen predigernn (1526). In: Enders 3, 253–287 (und 370–374); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 791; Fiche 602; Nr.  1559. Eberlin: Zuschreiben: Eberlin von Günzburg, Johann: Eyn freundtlichs zuschreyben an alle stendt teutscher nation, daryn sie vermanet werden, nit widerstandt zuthun den geystlichen so auß klostern oder pfaffenstandt gehen woellen (1524). In: Enders 3, 125–145 (und 348 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 789; Fiche 343; Nr.  965. Eberlin: Zweierlei Reich: Eberlin von Günzburg, Johann: Ein kostliche predig von zweyerley reich, von des Teüfels reich, vnd Christi reich von der goettlichen fürse­ hung (1524). In: Enders 3, 89–95 (und 344 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB796; Fiche 1185; Nr.  2972. Ein Dialogus: Ein Dialogus oder Gespräch zwischen einem Vater und Sohn die Lehre Luthers und sonst anderer Sachen des christlichen Glaubens belangend (1523). In: Clemen 1, 21–47 (und 48–50); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 701; Fiche 266; Nr.  748. Ein gesprech: „Ein gesprech auff das kurtzt zwuschen eynem Christen vnd Juden“ (1524). In: Clemen 1, 375–422; Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1329; Fiche 621; Nr.  1608. Ein Sendbrief von einem jungen Studenten: Ein Sendbrief von einem jungen Stu­ denten zu Wittenberg an seine Eltern im Schwabenland von wegen der Lutherischen Lehr zugeschrieben (1523). In: Clemen 1, 9–18 (und 3–8.19 f.); Köhler: Microfi­ che-Sammlung: Nr.DB 4187; Fiche 67; Nr.  176. Frag und Antwort von zweien Brüdern: Ein Frag und Antwort von zweien Brü­ dern, was für ein seltsames Tier zu Nürnberg gewesen im Reichstag nächst vergan­ gen, geschickt von Rom zu beschauen das deutsch Land (1524). In: Clemen 1, 175– 182 (und 171–174; 183 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1176; Fiche 266, Nr.  750.

1. Quellen

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Gengenbach: Bürger: Gengenbach, Pamphilus: Der Ewangelisch Burger (1523). In: Goedeke 198–213 (und 512 f., 629); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1268; Fiche 243; Nr.  672. Gengenbach: Ware Practica: Gengenbach, Pamphilus: Eine Christliche und ware Practica wider ein unchristenliche gotzlesterige unware practica. Welche ein Bomo­ lochischer stärnensäher hat lassen ußgon uff das M.CCCCC.XXIIII jar. Inn der, er nit allein die menschen, sunder auch Gott, sine Propheten und die helge geschryfft gelestert und geschmächt hat. (1525). In: Raillard 116–127. Gesprechbiechlin neüw Karsthans: Bucer, Martin [?]: Gesprechbiechlin neüw Karsthans (1521). In: Stupperich 1,1; 406–444 (und 392–396); Köhler: Microfi­ che-Sammlung: Nr.DB 379; Fiche 172; Nr.  475. Grumbach: Ein christenliche Schrift: Grumbach, Argula von (geb. von Stauf ): Ein Christennliche schrifft einer erbarn frawen vom Adel / darinn sie alle Christenliche stendt vnd obrikeiten ermant / Bey der warheit vnd dem wort gottes zupleiben / vnd solchs auß Christlicher pflicht zum ernstlichsten zu handthaben (1523). In: Laube: Reformationsbewegung 2, 918–923 (und 923–926); Köhler: Microfiche-Samm­ lung: Nr.DB 1420; Fiche 751; Nr.  1922. Herman: Mandat: Herman, Nikolaus: Eyn Mandat Jhe=||su Christi | an alle seyne || getrewen Christen (1524). In: Laube: Bauernkriegszeit 276–284 (und 595 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1543; Fiche 854; Nr.  2142. Karlstadt: Berichtigung dieser Red: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: Berich­ tung dysser red. Das reich gotis / leydet gewaldt / vnd die gewaldtige nhemen oder rauben das selbig (1521). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1857; Fiche 1193; Nr.  2995. Karlstadt: Glaub und Unglaub: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: WIe sich der gelaub vnd vnglaub gegen dem liecht vnd finsternus / gegen warheit vnd lügen / ge­ gen got vnd dem teufel halten (1524). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1972; Fiche 48; Nr.  134. Karlstadt: Ob Got ein Ursach sei: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: Op Got ein vrsach sey des Teuffelischen falhs (1524). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1895; Fiche 107; Nr.  278. Karlstadt: Ob man gemach: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: Ob man gemach faren / vnd des ergernüssen der schwachen verschonen soll / in sachen so gottis willen angehn (1524). In: Hertzsch 1, 73–97 (und 102–104); Köhler: Microfiche-Samm­ lung: Nr.DB 1896; Fiche 46; Nr.  128. Karlstadt: Von abtuhung der Bylder: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: Von abtuhung der Bylder / Vnd das keyn Betdler vnther den Christen seyn soll (1522). In: Simon 231–279 (und 227–230); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1927; Fiche 1906; Nr.  4883. Karlstadt: Von Engeln und Teufeln: Bodenstein von Karlstadt, Andreas: Von En­ gelen vnd Teüffelen ein Sermon (1524). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1951; Fiche 104; Nr.  269. Kettenbach: Altmütterlein: Kettenbach, Heinrich von: Eyn gesprech Bruder Hain­ rich von / Kettenbach mit aim frommen alte mut / terlin von Vlm von etlichen zufel­ len / vnd anfechtung des altmuterlin auf / wellyche anttwurt gegeben von Bru / Hain­ rich. / Dasselb altmueterlin hat begert jr anzuschreiben, des / sy gewert ist worden von obgemeltem bruder, / Darnach weytter kommen in ander mensch / en hend zulesen, vnd yetzund zulettst / in den druck, als man sagt. / Zu Eer gott (1523). In: Clemen 2,

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VII. Bibliographie

55–75 (und 52–54, 76–78); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2008; Fiche 266; Nr.  749. Kettenbach: Ein neu Apologia: Kettenbach, Heinrich von: Ein new Apologia vnnd ver- / antworttung Martini Lut- / thers wyder der Papisten / Mortgeschrey, die ze­ hen / klage wyder jn vsz / blasieniren so / wyt die / Christenn- / heyt ist, dann / sy to­ ben vnnd wuet- / tendt recht wie die vnsin / nige hundt thondt (1523). In: Clemen 2, 158–172 (und 153–157, 175, 233–235); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2011; Fiche 13; Nr.  54. Kettenbach: Fasten: Kettenbach, Heinrich von: Ein nützli- / che Predig Zu allen christen / Von dem vasten, vnd feyren / geprediget worden, Von / bruder Hainrich ket- / tenbach barfusser / obseruantz / zu Vlm / in jrem Con / uent Auff den / ersten Sontag der / vasten, Jn volstreckung / seiner materi, Der zehen gebot (1522). In: Clemen 2, 11–24 (und 5–10, 25 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2014; Fiche 43; Nr.  112. Kettenbach: Kirche: Kettenbach, Heinrich von: Ain sermon oder predig von der Christ- / lichen kirchen, welches doch sey die hailig Christlich / kirch, dauon vnser glaub sagt, ainem yeden / Christenmenschen gut vnd nutzlich zu wissen (1522). In: Clemen 2, 80–102 (und 79, 103); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr. DB 2023; Fiche 393; Nr.  1066. Kettenbach: Küchenprediger: Kettenbach, Heinrich von: Ein Sermon wider des bap- / sts kuchen prediger zu Vlm, die dann gepre- / digett vnd gelogen haben, der Bapst vnd / prelaten mügen das Euangelium ver- / wandeln oder veraendern, vnd son- / derlych wider Petter Nestler, / der die leut auch leeret. sy sol- / len glauwben, Was der / Bapst vnnd Prelatt- / en glawben, wer / Christ ist, merck / eben auff die / nachfolgend / sprüch (1523). In: Clemen 2, 32–50 (und 27–31, 51); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2028; Fiche 271; Nr.  773. Kettenbach: Practica: Kettenbach, Heinrich von: Ein Practica practiciert, ausz / der heylgen Bibel, vff vil zukunfftig / jar, Selig syn die, die jr war nemen, / vnd darnach richten, Die zeyt ist / hie, dz man solich practica mer / acht hab, dann der astro­ no- / mey, got will selber regirn / vber seyn volck (1523). In: Clemen 2, 183–200 (und 76–182, 201); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2017; Fiche 1090; Nr.  2764. Kettenbach: Ulm: Kettenbach, Heinrich von: Ein Sermon bruoder Heinrichs vonn / Kettenbach zu der loblichen statt Vlm / zu eynem valete: das ist zu der letze. In / welcher gemelt werdenn vil artickel / die er wider die papisten geprediget / hat. in schrifft gegrünt vnnd be-/ wert Aber hye kurtzlich wi-/derumm gemelt. Hat doch / dyse predigung vff der Canceln nit gethan: / verhyndert von pa / pisten Aber eymm erbern studen- / ten von vlm / geschenkt (1523). In: Clemen 2, 107–123 (und 104–106, 124 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2032; Fiche 16; Nr.  68. Kettenbach: Vergleichung: Kettenbach, Heinrich von: Verglychung des aller hei­ ligsten / herrn vnd vatter des Bapsts, ge- / gen dem seltzem fremden gast in / der Christenheyt genant Jesus, / der in kurtzer zeyt widerumb in / teutschlandt ist kom­ men, vnd je- / zundt wid’ wil in Egipten landt / als ein verachter bey vnns (1523). In: Clemen 2, 131–149 (und 126–130, 150–152); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2035; Fiche 317; Nr.  904. Kettenbach: Vermahnung: Kettenbach, Heinrich von: Ain vermanung Junck / er Frantzen von Sickingen zu sey =/ nem hoer als er wolt ziehen wider / den bischoff vonn Tryer auß / byllicher sach vnnd raitzung / Welch vermanung in der / hailigen­

1. Quellen

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schrift gegrün / det ist, ist etwaz an / derst gehandelt / vnd boßhaitt / volbracht in / dem kryeg. Da ist / Juncker Frantz vnschuldig an (1523). In: Clemen 2, 203–212 (und 202.213); Köhler: Microfiche-Sammlung Nr.DB 2040; Fiche 210; Nr.  597. Linck: Von Arbteit und Betteln: Linck, Wenzeslaus: Von Arbeyt vnd Bet =||teln, wie man solle || der faulheyt vorkommen / vnd yeder =||man zu Arbeyt ziehen (1523). In: Laube: Reformationsbewegung 2, 1086–1106 (und 1107 f.); Köhler: Microfiche-Sammlung Nr.DB 2212; Fiche 15; Nr.  65. Luther: Offenbarung des Endtchrists: Luther, Martin: Offenbarung des Endt­ christs / auß dem Propheten Daniel / wider Catharinum (1524). Übers. v. Paulus Spe­ ratus. In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 2598; Fiche 580–581; Nr.  1511. WA: Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Weimar 1883 ff. – WA 6; 202–276: Von den guten werckenn (1520). – WA 6; 285–324: Von dem Bapstum zu Rome widder den hochberumpten Romanis­ ten zu Leiptzck (1520). – WA 6; 404–469: An den Christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung (1520). – WA 7; 161–182: Warumb des Bapsts und seyner Jungernn bucher von Doct. Martino Luther vorbrant seynn (1520). – WA 7; 784–791: Troestung fuer eine Person in hohen anfechtungen (1521). – WA 8; 138–185: Von der Beicht, ob die der Bapst macht habe zu gepieten (1521). – WA 8; 340–397: Euangelium Von den tzehen aussetzigen vordeutscht und auszgelegtt (1521). – WA 8; 482–563: Vom mißbrauch der Messen (1521). – WA 8; 676–687: Eyn trew vormanung Martini Luther tzu allen Christen, sich tzu vorhuten fur auffruhr unnd emporung (1522). – WA 9; 701–715: Passional Christi und Antichristi (1521). – WA 10,1.2; 93–120: Euangelium am andern sontag ym Abvent. Luce 21 (1522) (Aus­ zug aus der Adventspostille). – WA 10,2; 11–41: Von beider Gestalt des Sakraments (1522). – WA 10,2; 72–92: Von Menschenlehre zu meiden (1522). – WA 10,2; 227–262: Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch (1522). – WA 10,3; 1–64: Acht Sermon D. M. Luthers von jm geprediget zu Wittemberg in der Fasten. Darinn kürtzlich begriffen von den messen, bildnüssen, beyderley gestalt des Sacraments, von den speysen und heymlichen beycht etc. (Predigten des Jahres 1522, Nr.  1–8). – WA 10,3; 257–268: Predigt am 8. Sonntage nach Trinitatis (Predigten des Jahres 1522, Nr.  43). – WA 10,3; 352–361: Sermon zu St. Michael zu Erfurt getan vom Glauben und Werken (Predigten des Jahres 1522, Nr.  52). – WA 11; 245–281: Von welltlicher Uberkeytt, wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey (1523). – WA 15; 27–53: An die Burgermeyster und Radherrn allerley stedte ynn Deutschen landen (1524). – WA 15; 210–221: Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen von dem auffrurischen geyst (1524). – WA 15; 741–758: Auff das vier und zwentzigst Capittel Matthei, von des Judischen reichs und der welt ende (Predigten des Jahres 1524, Nr.  58).

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VII. Bibliographie

– WA 15; 760–774: Ein Sermon von der höchsten Gotteslästerung, die die Papisten täglich brauchen, so sie lesen den antichristlichen Canon in ihren Messen (Predigten des Jahres 1524, Nr.  59). – WA 17,1; 354–372: Das Euangelion am achten Sontag nach Trinitatis (Predigten des Jahres 1525, Nr.  52). – WA 18; 134–214: Das ander teyl widder die hymlischen propheten vom Sacrament (1525). – WA 18; 357–361: Widder die stürmenden bawren (1525). – WA 18; 547–550: Sendschreiben an die Christen zu Antwerpen (1525). Marschalck: Marschalck, Haug: Von dem weytersch- ||allen Namen Luth- ||er / Waß er bedeüt || vnd wie er wirt || mißbraucht. || Er heist nit der trueber. || vil mer der lauterer. || Er heist auch nit der lotter || vil mer der bewerer (1523). In: Laube: Re­ formationsbewegung 1,563–566 (und 566–568); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr. DB 3232; Fiche 1346; Nr.  3541. Melanchthon / Luther: Deutung: Melanchthon, Philipp / Luther, Martin: Deutung der zwo greulichen Figuren, Papstesels zu Rom und Mönchkalbs zu Freiberg (1523). In: WA 11; 369–385 (und 357–368); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3273; Fiche 1531; Nr.  3984. MSB: Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe, herausgege­ ben von Günther Franz (QFRG 33). Gütersloh 1968 (Abk. MSB). – MSB 218–224: Müntzer, Thomas: Von dem getichten glawben // auff nechst Protes­ tation außgangen (1524). In: Franz 218–224 (und 217); Köhler: Microfiche-Samm­ lung: Nr.DB 3391; Fiche 321; Nr.  907. – MSB 225–240: Müntzer, Thomas: Protestation odder empietung Tome / Muentzers von Stolberg am Hartzs seelwarters zu / Alstedt seine lere betreffende / vnnd tzum anfang von dem / rechten Christen glawben / vnnd der tewffe (1524). In: Franz 225– 240; Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3390; Fiche 321; Nr.  908. – MSB 242–263: Müntzer, Thomas: Außlegung des andern vnter // schyds Danielis deß pro // pheten gepredigt auffm schlos zu // Alstet vor den tetigen thewren // Herzcogen und vorstehern zu // Sachsen durch Thomas // Muentzer diener des // wordt gottes (1524). In: Franz 242–263 (und 241); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3381; Fiche 321; Nr.  906. – MSB 267–319: Müntzer, Thomas: Außgetrückte emplös- // sung des falschen Glau­ bens der ungetrewen // welt / durchs gezeuegnus des Euange // lions Luce / vorgetra­ gen der elen // den erbermlichen Christen- // heyt / zur innerung // jres irsals. // Ezechie am 8. Cap. // Lieben gesellen last vns auch das loch weytter machen // auff das alle wellt sehen vnnd greyffen mueg / wer vnser // grosse Hansen sind / die Got also lesterlich zum gemalten // mendleyn gemacht haben. // Jere. am 23. Cap. // Thomas Muntzer // mit dem hammer (1524). In: Franz 267–319 (und 265 f.). – MSB 322–343: Müntzer, Thomas: Hoch verursachte Schutzrede // und antwort / wi­ der das Gaistloße Sanfft // lebende fleysch zu Wittenberg / welches // mit verkaerter weyße / durch den // Diepstal der heiligen schrift // die erbermdliche Chri // sten­ heit / also gantz // jaemerlichen // besudelt // hat. / Thomas Müntzer // Alsted­ ter. / Auß der hoelen Helie / welches ernst nie- // mant verschonet (1524). In: Franz 322–343 (und 321); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3386; Fiche 286; Nr.  822. – MSB 495–505: Müntzer, Thomas: Der Bemen sache betreffende protestation (1521). In: Franz 495–505 (erweiterte dt. Fassung).

1. Quellen

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Nazarei: Nazarei, Judas (Pseud.): Vom alten vnd neüen Gott, glauben, vnd Ler (1521). In: Kück: Nazarei 1–68; Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3436; Fiche 625; Nr.  1621. Osiander: Grund und Ursach: Osiander, Andreas d. Ä: Grundt und ursach auß der heiligen schrifft, wie und warumb die eerwirdigen herren baider pfarkirchen, S. Se­ balt und S. Laurentzen, pröbst zu Nürmberg, die mißpreüch bey der heyligen messz, jartaeg, geweycht saltz und wasser sampt ettlichen andern ceremonien abgestelt, und­ terlassen und geendert haben (1524). In: Müller 1, 193–254 (und 175–193); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3623; Fiche 1104–1105; Nr.  2809. Osiander: Ratschlag: Osiander, Andreas d. Ä: Ein ratschlag aus der heyligen schrifft, wie und wes man sich in diesen ferlichen zeiten, in denen sich manigerley zwitracht des götlichen worts halben erhaben, halten und trosten soll, einem erbarn weysen rat zu Nurmberg durch ire prediger Dominicum Sleupner bey sant Sebald, Andrean Osiander bey sant Lorentz, Thoman Venatorion im Neuen Spital beschryben und uberantwurt (1524). In: Müller 1, 319–371,381 f.,384–386 (und 299–319); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3633; Fiche 149; Nr.  409. Osiander: Sendbrief: Osiander, Andreas d. Ä: Eyn sendbrieff an eyn christlich ge­ mayn, nützlich zu lesen (1523). In: Müller 1, 95–99 (und 93 f.); Köhler: Microfi­ che-Sammlung: Nr.DB 3641; Fiche 555; Nr.  1418. Osiander: Vorrede: Osiander, Andreas d. Ä: Vorrede zum Sendbrief Argulas von Grumbach (1523). In: Müller 1, 91 f. (und 88–91); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 1429; Fiche 49; Nr.  135. Osiander: Zollpfennig: Osiander, Andreas d. Ä: Eyn Schöne | fast || nützliche Ser­ mon | vber das || Euangelion. Matthei am. xvij. || Do Christus den Zol=| pfenning bezalet (1525). In: Laube: Bauernkriegszeit 293–308 (und 597); Köhler: Microfi­ che-Sammlung: Nr.DB 3638; Fiche 1187; Nr.  2982. Pastoris: Practica: Pastoris, Heinrich: Practica Teütsch von || vergangen/ vnd zue­ künfftigen ding=||en/ Auss der heyligen gschrifft || gegründt vnd gezogen. Auf || das. 1524. Jar. || Christus Jesus || eyn Herr vnnd Meyster diß Jar || vnd alletzeyt. Mathei am .xxiij. (1523). Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3675; Fiche 831; Nr.  2082. Practica: Practica auff das M.D. vnd xxvj. vnd all nachuolgende Jar/ auß || der kunst vnd geschrifft der allerhoechsten Astrologi/ Gott des himmli=||schen vatters/ vnd Jesu Christi vnsers erloesers/ den rechtglaubigen || Christen (wider alle practicirer vnd sterngucker) fast troestlich. || Esaie am lxvj. || der himmel ist mein stul/ vnd die erd mein fußschemel (1525). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3776; Fiche 1435; Nr.  3810. Rhegius: Ernstliche erbietung: Rhegius, Urbanus: Ernstliche erbietung der Euan­ gelischen Prediger an den gaystlichen Stand / die yetzigen leer betreffend (1524). In: Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3899; Fiche 362; Nr.  1018. Rychsner: Unterweisung: Rychsner, Utz: Ain schoene vnderweysung / || wie vnd wir in Christo alle gebrueder || vnd schwester seyen / dabey angezaigt || nicht allain die weltlichen / wie sy es || nennen / sonder auch die gaistlichen || zustraffen / wa sy anders in den leybe || dessen haubt Christus ist woellen sein || auff die geschrift gotes gegründt || vnd darauß gezogen / zu nutz || allen die das goetlich wort || lie­ ben seindt (1524). In: Laube: Reformationsbewegung 1, 422–439 (und 439–442); Köhler: Microfiche-Sammlung: Nr.DB 3984; Fiche 737; Nr.  1881.

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VII. Bibliographie

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Register Sachen Aberglaube  225, 258, 370 Abgötterei  81, 83, 84, 137 Absolutheitsanspruch  242, 265 Agitation  18, 20 Alt und Neu  78, 81, 83, 89, 102, 109, 136–138, 141, 146, Altersargument  136–138, 141 Andersartigkeit  14, 149, 338, 347, 349, 356, 379 Antichrist passim Antichristvorstellungen  104, 194, 205, 235 f., 239 f., 244–247, 249 f., 370, 373, 376, 378 – enteschatologisierter kriterienhafter Typ 240 – eschatologischer biographischpersona ­ler Typ  240 – Revelations-Typ  244 f., 248 f., 251 – semieschatologischer Vorläufer-Typ  240 Antiklerikalismus  108, 130, 162, 206, 348, 396 Antithetik  49, 67 f., 71, 147, 211–214 Apokalypse  90, 335, 340, 344, 348, 361, 364, 372 Apokalyptik passim – apokalyptischer Code 367 – apokalyptisches Szenario  167, 253, 284–287, 348, 354, 361 f., 364, 366, 371 f., 374 Apostasie  143, 150, 372 Apostelzeit  87, 95, 114–118, 120, 124, 134, 139, 150, 154 f., 159, 161, 163, 190, 269 f. Arche  168, 174 Astralphänomen  282 f., 293, 311 f., 316 f., 323, 325, 330, 332, 355 f.

Astrologie passim – antiastrologische (Flugschriften) 276, 304, 318 f., 321, 325 f., 328, 374 – astrologieaffine (Flugschriften) 276, 304, 307, 310–312, 317 f., 326, 329, 374 – astrologiekritische (Flugschriften) 276, 301, 304, 311 f., 317 f., 323, 326, 328–330, 374 Astrologiekritik  302, 304, 312, 318 f., 325–328, 333 f. Aufruhr  61, 169 f., 190, 216 f., 220–222, 227 f. Bauernkrieg  3, 24, 32, 39 f., 55, 169, 189 f., 217, 220–223, 227, 271 Beschleunigungserfahrung  12, 335, 349 f., 354 f., 357–362, 377, 379 Bibliozentrik 135 Bildungspflicht  261 f. Chroniken 278 Dauer, lange  62, 64, 137–141, 159, 337 Delegierung 254 Denaturalisierung 349 Deprivationsprozess  371, 378 Drucker  23, 25, 35, 37, 97, 193, 268, 358 Dualismus  133, 141, 145 Einmaligkeit  270, 338 f., 342, 345, 347, 374, 378 f. Ekklesiologie 135 Epochenbewusstsein  13, 149, 151, 377 Erfahrungsraum  336, 338, 379 Erwartungshorizont  301, 338

408

Register

Flugschriften passim – Definition  17 f., 21, 23 – Produktion 22–25, 52 – Rezeption  22, 28, 31–41, 44, 52–56 Feindbild  1, 157, 225, 238 Fortschritt  12, 278, 286, 348, 350, 355, 357, 360, 362, 377 Frauen  22, 235, 238 Freiheit  40, 168, 222, 324, 330 f. – Meinungsfreiheit 37 – Willensfreiheit 330 Frühe Neuzeit  4, 8, 255, 349, 358, 360 f. Frühreformation  13, 28, 59 Furchtappell 267 Geistbegabung  58, 180, 196, 197, 199, 201, 235, 255 – , der Apostelzeit  116, 270 – , der Laien  155, 234 Geistoffenbarungen  149 f., 181 f., 196, 210, 352, 368 Geisttheologie  132, 175 Geschichtszeit  10, 15, 351, 353, 379–382 Gesichte  149, 179–181, 186, 197 f., 200, 210 Gewaltgebrauch  163, 217, 221 Gottlosigkeit  116, 183, 217, 221 Gradualismus  71, 98, 198–203, 211, 253 f., 256 f., 373 f. Handlungsorientierung 267 Häresie  121, 154, 223 f., 251 – Häresiebegriff 239, 247 – Häresieverdacht 340 Heiden  69, 96, 99, 102, 164 f., 324, 369 – Heidentum 62, 138 Heiligenverehrung  255 f. Heilsgemeinschaft  61, 65, 170, 227, 265 f., 372 Heilsgeschichte  81, 95, 110, 148 f., 151, 227, 280, 337, 339, 342, 346, 380 Heilsgewissheit  48, 178, 220 Heilssicherheit  178, 255, 272, 288 Heilszeit  19, 167, 199, 272, 373 Hermeneutik  149 f. Historiographie  57, 82, 136, 148, 281 Historisierung  8, 147 – Historisierungstendenz 377 f.

Humanismus  4, 89, 135, 318, 335, 363, 378 – Revolution 232 – Erinnerungsrevolution 124 –, Industrielle  349 f., 360 Irreversibilität  346 f., 378 f. Jahresherrscher  297, 319 Jerusalem, das neue  156 Juden  29, 62, 81, 83 f., 99, 102 f., 105, 109, 125, 138, 157, 159, 164, 166 f., 170–172, 206, 229, 232, 238, 248, 283, 314, 353 Jüngster Tag  157, 159, 167, 240, 262, 275, 280 f., 287, 293, 296 f., 300, 342, 353, 356, 359, 361, 366 Katharer  112, 132 f., 145 Kausalitätsgläubigkeit  330, 367 Kausalitätsschema  304, 329, 374 Kirche –, unsichtbare  66 f., 133 – Urkirche  58, 111, 114, 121–124, 130–132, 134–136, 141, 270 Kirchenväter  76, 147 Klerus  98 f., 103–105, 108, 130, 157, 168 f., 176, 200, 254, 257, 289, 294, 341, 369 – Kleruskritik 97 Kommendation  254, 369 Konfessionalisierungsparadigma  5 f. Konfessionalisierungsprozess 366 Kontemplation 268 Kontinuitätsidee  110–112, 129, 132, 136 Korrumption  206, 373 Laien  22, 47, 155, 161, 168, 187, 199, 200, 212, 234 Leidenstheologie  132, 175 Leidenszeit  271 f., 353, 373 Leiderfahrung  175, 177–179, 271 Legitimationsgestus, historischer  110, 112 f., 123, 128, 131 f., 135 f., 147, 161–163, 243, 249, 270, 347, 366, 372 – imitatio-Typ  112, 132, 135, 150, 162 f., 372 – successio-Typ  112, 128, 132, 141, 249, 372

409 – Wort-Gottes-Typ  112, 131 f., 135, 161–163, 243, 372 Majoritätsargument  64, 371 Medialität  15 f., 43 f., 49 f., 54, 359, 376 f. Medientheorie 46 –, reformatorische  44, 48, 376 –, theologische  47, 54, 201 Meinungsbildung  18 f., 26 f., 32, 146 Messias  84, 157, 167 Messeverständnis  345 f. Minoritätsargument  63, 277, 281, 344, 371 Moderne  1, 3–5, 7, 13, 46 f., 335, 347, 349 f., 363 f., 380–382 Modernität  5, 7, 363, 379, 382 Mondfinsternis  234, 282 f., 289, 302, 322, 333, 356 Naturzeit  8 f., 350, 353, 363, 375 Netzwerk, publizistisches  268 Öffentlichkeit  22, 26, 45, 53, 170, 228, 354 –, bürgerliche  27 –, druckgestützte  25, 27, 51, 376, –, gesamte  18, 21, 33 –, reformatorische  26 f., 47 f., 54, 358 Offenbarungsöffentlichkeit  47 f., 376, 361, 376 Papst-Antichrist-Identität  163, 212, 246, 279 Persuasion 20 – Persuasionskraft 259 – Persuasionskultur  146, 265, 268, 376 – Persuasionsvirulenz 354 – Persuasionsziel  35, 37, 80, 264 Planeten  283, 285 f., 289 f., 292, 304–306, 314, 320, 346 – Planetenkonjunktion  286, 289, 292, 295, 299, 302 f., 306, 316, 324 – Planeteneinflüsse 297 Pluritemporalität 9 Polemik  3, 135 f., 175, 241 Präsenz des Immergleichen  343 f., 347, 375 Priestertum aller Gläubigen  46 f., 199, 201, 262 f.

Primatsanspruch  86, 118, 122, 378 Prognostik  11, 17, 301, 304, 309–311, 318, 328, 374 Propaganda  18, 20, 53 Prophetien, biblische  148, 157, 297, 313, 320, 363, 372, 380 Propheten, falsche  73–77, 106, 114, 177, 229, 274, 293, 321 Prozesshaftigkeit  13, 104, 120, 123, 345, 373, 379 Referenzhorizont, historischer  121, 124, 155 Referenzhorizont, normativer  70 f., 74, 111, 131, 134, 252, 329, 368, 378 Reformation passim Regularitäten, naturgesetzliche  282, 311, 333, 346 Renaissance  4, 335, 341, 378 Revelation von Teufel/Antichrist  374, 378 f. Revelationsschema  244 f., 250, 317, 372 Sakramentalien 257 Sakramente  133 f. Satanologie 142 Sattelzeit 4–6 Scheinheiligkeit  158 f., 164, 185, 204 f., 207, 210, 215, 222, 245, 321 Scholastik  104, 255, 338 f. Schönheit 181 Schrift –, Klarheit der  46, 48, 72 – Schriftprinzip  46–48, 51, 71 f., 75, 147–149, 151, 180, 196–198, 201 f., 295, 328, 378 Sendungsbewusstsein  192, 228 siderische Einflüsse  302, 305, 311, 320, 331 f. Simultaneität (der Zeitvorstellungen)  10, 272, 340 f., 380 Sintflut  158, 174, 253, 286, 289 f., 292, 295, 299, 303, 306–309, 347, 367 sola scriptura  27, 47, 51, 53, 71 f., 179, 182, 202, 252 Sonnenfinsternis  234, 281, 283, 289, 302, 333, 353, 356, 359 Spätmittelalter  2, 5–7, 53, 198 f., 211, 255, 339–341, 348, 363, 378

410

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Spiritualismus 150 Stellvertretung  177, 254 Sternschnuppen  234, 283 Sukzession  58, 112 f., 132, 147 Sybille, tiburtinische  353, 363 Tagewahl 303 Teleologie 346 Teufel passim – diabolos 113, 209 – Engel des Lichts  116, 178, 181 f., 184, 187, 192, 204 f., 207, 211, 222, 231, 235, 251, 257, 369 f. – Luzifer 81 f., 117 – Satan  1, 14, 91, 101, 141, 175, 191, 206–209, 216, 223, 255, 228, 237, 259, 269, 272 – Teufel, subtiler  206, 258 – Teufels, Provokation des  194, 215, 220, 233, 259, 331, 361, 373 – Teufelsangst  255, 259, 263 – Verhältnis von Teufel und Antichrist  90, 236 f. Teufelskampf  114, 217, 220, 254, 263, 331, 369 –, druckgestützter  376 –, haptischer  220 –, Strategien  259, 263 f., 376 – Teufelskampfs, Individualisierung des  254, 259, 268, 369, 376 – Teufelskampfs, Unvertretbarkeit des  194, 253, 254, 259, 261, 268, 376 Tradition passim – Traditionsargument  57–61, 63–66, 78, 80, 84, 102, 137, 140 f., 147, 164, 371 f. – Traditionskritik  76, 147, 371 – Traditionsprinzip  58 f., 67, 72, 78, 124, 147, 149, 151, 155, 196 f. Träume  179–181, 186, 197 f., 200, 210 Türken  62, 99, 109, 164, 206, 238, 245, 247, 249, 369 Umbruch  5–7, 12 f., 46, 53, 55, 92, 118, 199, 377 f. Unmittelbarkeit  48, 100, 198–203, 254–256, 330 f., 369, 373

Unterscheidung –, von Gott und Teufel  178, 207 f., 211 f. – Unterscheidungslehre 54, 211 Unvertretbarkeit des Glaubens  179, 253 Verfallsidee  78, 111 f., 115, 117, 121 f., 129–135, 143, 150, 371, 373 Verzeitlichung  13, 239, 250, 335, 349, 351, 363 f., 376, 379–382 Verzögerung  352, 359 f., 362 Vulnerabilität  259, 369 Waldenser  112, 132 f. Wandelbarkeit  13, 70, 151, 373, 379 Weihe  132, 176, 257 f., 268 Weltzeitalter  116, 186 Wende, hermeneutische  71 Wiederholung (als Zeitstruktur)  123, 337, 339, 346 Zeichen passim –, der Endzeit  22, 50, 157, 167 f., 234, 253, 255, 279, 282, 321, 323 – Zeichenidentifikation  252, 312, 367 – Zeichenignoranz 277 Zeit passim – (Zeit), lineare  12, 46, 335–337, 339–341, 344, 346–349, 375 – (Zeit), rekurrent-präsentische 336, 339, 342, 347, 374 f. – (Zeit), singulär-futurische  336, 342 f., 346 f., 364, 374 f. – (Zeit), zyklische  12, 336–341, 346–348, 366 Zeitdeutung  12, 148, 378 Zeiterfahrung  12 f., 54, 335, 338, 349–351, 371 Zeitkonzeption  12, 280, 340, 342, 346–349, 371, 374 Zeitrhythmen  12, 340, 348, 353, 357, 363 Zeitverkürzungserwartung  349, 351, 353, 360, 363 f., 375 Zensur  36 f. Zweitursachen (stellare)  330, 332

Register

411

Personen Adso von Montier-en-Der  239 Ambrosius von Mailand  70, 128 Arius 85 Athanasius von Alexandria  86, 125 Augustinus von Hippo  70, 72, 75 f., 102, 110, 128, 339, 344

Gengenbach, Pamphilus  51, 55, 73, 97–100, 118, 201, 256, 312–319, 323, 326 f., 330 f. Gerson, Johannes  125, 128, 284 Grumbach, Argula von (geb. von Stauf )  63, 235

Biel, Gabriel  127 Bodenstein von Karlstadt, Andreas  33, 37, 79, 150, 197, 202–206, 213 f., 216–218, 223 f., 229, 258 f., 268, 271 Bonaventura 128 Bonifatius III.  86, 118, 130 Brunfels, Otto  52, 209, 220, 222, 228 f., 231, 234, 252, 267, 271, 354, 356, 378 Bucer, Martin  247

Heinrich VIII. von England  61 f. Herman, Nikolaus  73, 76 f., 354 Hieronymus von Prag  125 f., 128 Hus, Jan/Johannes  125–128 Hutten, Ulrich von  130, 247

Copp, Johannes  55, 290–297, 304 f., 307–309, 312, 318, 326, 356 Cronberg, Hartmuth von  36, 52, 75–77, 117, 142 f., 145, 195 f., 215 f., 231, 237, 245, 251, 260, 263, 266 f., 273 f., 352 Cyprian von Karthago  70, 128 Dominikus 128 Eberlin von Günzburg, Johann  21 f., 28 f., 33, 35 f., 50–52, 59, 71, 75, 77, 79, 105–110, 114, 119, 124–128, 130, 133, 140–142, 144, 149, 195 f., 203 f., 206, 209 f., 215 f., 218–221, 233, 226 f., 229, 231, 234 f., 238, 242, 253, 256–258, 260–262, 265, 267–271, 273 f. Erasmus von Rottendam  3, 125, 227 Flacius, Matthias (Illyricus)  112, 129, 136 Flavius Josephus  82 Franck, Sebastian  150 Franziscus  108, 128, 142 Freiermut, Hans Heinrich (Pseud.?)  196 Friedrich I. (Barbarossa)  126 Friedrich II. (röm.–dt. Kaiser)  126

Kettenbach, Heinrich von  28 f., 33, 36, 59–61, 66 f., 74, 79, 101–105, 119, 124–126, 128, 133, 140 f., 143 f., 206, 208, 213, 219, 221, 227, 229, 232, 234, 236, 238, 241–245, 248, 250, 255–257, 267, 318–320, 330 Konstantin I. (röm. Kaiser)  85, 91, 94 f., 118, 128, 131 Konstantin IV. (Byzanz)  119Linck, Wenzeslaus  204, 207 Ludwig IV. (der Bayer)  126 Luther, Martin passim Marschalck, Haug  126, 227, 231, 245 Melanchthon, Philipp  285, 304, 319 Müntzer, Thomas  115–117, 132, 135, 149 f., 152, 174–194, 196–199, 201 f., 204, 210–212, 216–218, 220, 222, 224 f., 228–231, 235, 248, 252, 263, 268–270, 272, 343, 352, 354, 362 Nazarei, Judas (Pseud.)  33, 60, 63, 70, 72, 79–89, 118 f., 121 f., 125 f., 130, 133 f., 137, 140, 144, 146, 148 f., 151 Ockham, Wilhelm  125, 127 Osiander, Andreas d. Ä.  22, 36, 51 f., 68–70, 72, 89–97, 117–119, 122 f., 130 f., 149, 195, 221, 230, 234 f., 237, 242 f., 245, 252, 254, 258, 272 f., 346, 351 f., 354

412

Register

Pastoris, Heinrich  297–301, 319, 327, 329 Phokas  86, 118 Reuchlin, Johannes  125 Rhegius, Urbanus  22, 242 f., 251, 263, 265 f. Rychsner, Utz  63, 74, 144, 242 Sabinianus (Papst)  100 Scotus, Johannes Duns  127 Seitz, Alexander  304–312, 316, 318, 326, 329 f. Sickingen, Franz von  101, 247 Sigismund von Luxemburg  126 Sonnentaller, Johann  119, 135, 204, 245 Spengler, Lazarus  22, 60, 62 f., 70, 72, 77, 138, 140, 151, 203, 233, 260, 263–265

Speratus, Paulus  53, 212, 229, 233, 246, 271, 352, 362 Staupitz, Johann von  128 Stifel, Michael  124, 152–174, 193 f., 198 f., 205 f., 208–210, 218 f., 222 f., 227–229, 234–237, 242–253, 255 f., 261, 265, 270 f., 316, 328, 342 Tauler, Johannes  128 Thomas von Aquin  328 Titus Livius  82 Valla, Lorenzo  130 Wacker, Stefan  323–325, 329 Wilhelm, Balthasar  320 f. Wyclif, John  125, 128, 239 Zell, Matthäus  271, 274