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German Pages 258 [260] Year 1998
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil Band 64
Claus-Michael Ort
Zeichen und Zeit Probleme des literarischen Realismus
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Redaktion des Bandes: Georg Jäger
D 14 Philosophische Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II der Ludwig-MaximiliansUniversität München Die Arbeit ist durch ein Stipendium der Bayerischen Graduiertenförderung unterstützt worden. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme On, Claus-Michael: Zeichen und Zeit: Probleme des literarischen Realismus / Claus-Michael Ort. Tübingen : Niemeyer, 1998 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 64) ISBN 3-484-35064-4
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: LinsenSpektrum, Mössingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kampten Einband: Buchbinderei Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
Inhalt
1. Anmerkungen zur Selbstreferenz der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: >Realistische< Epistemologie und >historistisches Dispositiv
Realismusnegierter Verlust< 22 2. l .2. Rezeption und Produktion des Erstverschrifters: Konkurrenz von Erzählen und visueller Wahrnehmung 24 2. l .3. Zur bedrohten Kohärenz von Zeit und Raum in Hauke Haiens Binnen-Lebensgeschichte: Probleme des >Sehens< 31 2. l .4. Strategien der Semiose I: Die Temporalisierung semiotischer Beziehungen 37 2.1.5. Strategien der Semiose II: Deichbau und Verschriftung 43 2. l .6. Similare Ko-Präsenz und kontige Zeichenbildung: Ein Resümee 47 2.2. Similare Zeichenbildung zwischen Substitution und Tilgung von >RealitätMeretlein< in Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1879/80) 49 2.2.2. Probleme ikonischer Rezeption und Produktion: Die Funktion der Bilder in Theodor Storm: Aquis submersus (1876) 53 2.2.2. l. Re-motivierende Rezeption: Die Rahmenverschriftung 53 2.2.2.2. Zur Komplementarität von >Leben< und >TodHeilung< durch Zeichenbildung in Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz (1810} 68 2.2.4. Tod des Referenten statt Belebung von Bildern: Die historistische Problemlösung von Aquis submersus 83 2.2.5. Transformation und Substitution: Ein Resümee 91
3. Ko-Präsenz und Transformation - Absenz und Substitution. Probleme >realistischer< Zeichenbildung 3.1. Semiotische Motiviertheit und semiotische Funktionalität: Der Zielkonflikt realistischen Zeichenbildung 3.2. Verstöße gegen das Funktionalitätspostulat: Übermotiviertheit, Ko-Präsenzprobleme und Selbstwahrnehmung 3.3. Verstöße gegen das Motiviertheitspostulat: Funktionsdominanz und Absenzprobleme (Religiöser >Bildersturm< und Affektabwehr)
95 95 102 126
4. Das >historistische Dispositiv< und seine Strategien nicht-similarer Repräsentation 149 4.1. Innersemiotische Problemlösungen 150 4. l. l. Kontiguisierung I: Temporalisierung, Verräumlichung, Miniaturisierung 150 4. l .2. Die latente Similarität der Sprache: Ein exemplarischer Exkurs zur Funktion der Namen bei Fontäne 162 4.1.3. Kontiguisierung II: Rezeptive und produktive Syntagmatisierung (>WandernSeele macht ähnliche Zur Internalisierung des >Sehens< 205 5. Schluß: >Träume über Restenrealistischen< Epistemologie
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Literaturverzeichnis 1. Primärliteratur 2. Sekundärliteratur
231 235
Register
249
VI
l. Anmerkungen zur Selbstreferenz der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: >Realistische< Epistemologie und >historistisches Dispositiv
RealismusÄsthetizismus< zu rechnen. Man muß hinzufügen, daß der realistische Typus stets Systemreferenz impliziert (sonst wäre er als Literatur nicht mehr identifizierbar!), und daß der ästhetizistische Typus wohl kaum ohne eine Minimum an Umweltreferenz auskommen kann, da er sonst ausschließlich seinen Systemstatus kommunizieren müßte, [...]. (Plumpe 1985a, 256).
Damit verstärkt Plumpe einmal mehr den einseitigen Akzent der Forschung auf die Umweltreferenz der (deutschsprachigen) realistischem Literatur, deren explizite Selbstreferentialität nach wie vor nicht hinreichend untersucht worden ist (vgl. ähnlich auch Plumpe 1995, 107). Daß die Literatur des >Realismus< die Relation von Umwelt- oder Fremdreferenz und System- oder Selbstreferenz selbst rekurrent thematisiert und variantenreich problematisiert, also in ihre eigene Systemreferenz internalisiert, ist von der Forschung unter dem Stichwort der Bildlichkeit und Zeichenhaftigkeit des >Realismus< zwar durchaus abgehandelt worden, ohne aber auf einen residualen Bezug auf externe >Wirklichkeit< oder zumindest ein Postulat der literarischen Mimesis sozialer Praxis ganz zu verzichten.1 Daß sich die >realistische< Literatur sehr weitgehend als metasemiotisch erweist und Zeichenhaftigkeit, d.h. Zeichen und das Verhältnis zu ihren Referenten selbst >mise-en-abyme< und rekurrent thematisiert, ist etwa am Beispiel der Rahmenerzählung und des Genres des Künstlerromans oder der Künstlernovelle thematisiert worden, als indirekte, oft auch direkte Selbstreferenz des Realismus aber nicht erkannt worden. Die Entgegensetzung von Umwelt- und Systemreferenz bedürfte also der Präzisierung: Daß und v.a. wie die Literatur seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts externen Referentenbezug und Zeichen-Selbstbezug ihrerseits rekursiv thematisiert, mag als Indiz dafür interpretiert werden, daß ihr das Verhältnis beider 1
Es scheint, daß nach wie vor - wie schon bei Auerbach 1946 - der Anteil der Medien- und Zeichensysteme an der literarischen >Welterzeugung< gelegentlich unterschätzt wird (vgl. etwa Brinkmann 1957, Ohl 1968, Eisele 1977 und 1979, Turk 1983); selbst noch Geppert 1994 hält an >Wirklichkeit< als regulativer Idee< (9) fest und präferiert die an »>wahrer Repräsentation« interessierte »realistische SemiotikRealismusRealismus< transportieren, wenn sie über >Realität< bevorzugt als Referenten von mimetisch motivierter oder arbiträrer Repräsentation >redenRealität< auf die >Realität< von Zeichen reduzieren. Die textinterne Balance zwischen den Extremen nicht außenmotivierter, nur mehr selbstreferentieller Zeichen einerseits und nicht-zeichenhafter >ReaIität< andererseits scheint auf vielfältige Weise bedroht. Darüber hinaus ergibt sich eine metasemiotische Dimension des >Realismus< schon allein aus seiner Bevorzugung historischer Sujets bzw. von individueller und kollektiver Vergangenheit nicht nur im Genre des historischen Romans. Die epistemologischen Probleme, die die Texte des >Realismus< entlang der semiotischen Differenzachse >Zeichen - Referent< abhandeln, verschärfen sich, wenn diese mit einer temporalen Differenzachse >Gegenwart - Vergangenheit gekreuzt werden. Dabei zeigt sich, daß die literarische >Rede< über temporale Differenz notwendig an einen expliziten oder impliziten semiotischen Diskurs3 geknüpft ist: Vergangene >Realität< kann als solche, d.h. als absente >Realität< überhaupt nur explizit thematisiert werden, wenn zugleich ihr zeichenhafter Präsenzmodus, d.h. ihre je gegenwärtige Repräsentanz zumindest implizit thematisch wird. Wo Literatur also über absente, vergangene >Realität< redet und diese >Rede< selbst thematisiert, wandelt sich für sie das Problem der >Zeit< notwendigerweise zum Problem von >ZeichenRealität< referieren und diese im wörtlichen Sinne re-präsentieren. Die literarische Realitätskonzeption des >Realismus< zu rekonstrieren, heißt somit wesentlich dessen Zeichenkonzeption und damit auch seine Zeitkonzeption sowie die Beziehungen zwischen beiden zu untersuchen. Zwar verfehlt gerade die Einzelforschung zum historischen (oder besser: historisierenden) Erzählen oder zum Künstlerroman im 19. Jahrhundert diesen Zusammenhang meist aufgrund ihrer Genrefixiertheit; daß aber »in der Erzählkunst des sogenannten Realismus die Wirklichkeit erst recht eigentlich problematisch geworden ist« (Brinkmann 21966, Auch dies scheint bisher eher vernachlässigt worden zu sein: Lediglich Eisele 1977, 155 weist beiläufig auf ein »für den Realismus so eminent wichtigefs] Theorem der Visualität von Literatur« hin; zur Bilderangst im 19. Jahrhundert vgl. auch Bronfen 1994, u.a. 162207, zur »Krise der Bilder« in der »Kunst der Indices« Geppert 1994, 136-152, v.a, 143148. Um beide semantischen Achsen gruppieren sich nicht nur literaturinterne, sondern darüber hinaus auch (nicht-literarische) philosophisch-ästhetische, geschichtsphilosophische und geschichtstheoretische Diskurse sowie die entsprechenden theoretischen Äußerungen des >bürgerlichen< und programmatischen Realismus< selbst - seien sie nun epistemologischer oder poetologischer Art (vgl. im Überblick etwa Müller 1981, Plumpe 1985b sowie Plumpe 1996a und 1996b). Anstatt Literatur aber von vornherein auf ihren nichtliterarischen Kontext hin zu interpretieren, wird hier für getrennte semantische Rekonstruktion plädiert, um eine fruchtbare vergleichende Untersuchung der intertextuellen Relation beider überhaupt erst zu ermöglichen.
312), bildet seit Richard Brinkmann (Wirklichkeit und Illusion, 1957) durchaus einen Gemeinplatz, dessen Geltung jedoch auf breiter Textkorpus-Basis nach wie vor nicht erhärtet worden ist. Ähnliches gilt letztlich auch für die Zeichenkonzeption des >RealismusRealitäts-Zeichen-< und >ZeitkonzeptionRealismus< selbst jedenfalls nicht genügend erforscht worden zu sein.5 Was Ulf Eisele als Desiderat der >Realismusforschung< formuliert, bedarf vor diesem Hintergrund also durchaus der Revision: [...] das Realismusproblem (wie seine versuchte Bewältigung) [muß] geradezu als Paradigma für die Schwierigkeiten gelten, die sich für die literaturwissenschaftliche Begriffsbildung generell ergeben. [Seine Bedeutung] rührt zweifellos wesentlich daher, daß sich so grundlegende Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Literatur und außerliterarischer Realität oder die von Synchronie und Diachronie hier nicht nur mit besonderer Deutlichkeit, sondern auch mit unabweisbarer Dringlichkeit stellen. (Eisele 1977, 149).
Als Problem der Beziehung von Literatur zur >außerliterarischen Realität< ist ein >Realismusproblem< keineswegs >dringlichProblem< der Forschung, wohl aber nach wie vor ihr Desiderat. Daran ändert schließlich auch die umfangreiche komparatistische Studie von Hans Vilmar Geppert (Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens [...], 1994) nichts, obwohl sich ihre Verbindung semiotischer mit narratologischen Deutungsperspektiven (vgl. dazu besonders 55-55) für die Realismusforschung zweifelsohne als innovativ erweist und sich u.a. an Texten von Fontäne (90ff.), an Kellers Der grüne Heinrich (263^4-80) und an Texten Raabes (591-655) bewährt. Die Präferenz für die Semiotik von Charles Sanders Peirce (geboren 1839, gestorben 1914) und ihre Begründung offenbart jedoch eine zeitliche und sachliche Nähe zwischen (semiotischer) Metasprache und (literarischer) Objektsprache, die - anstatt die Fragestellung etwa exemplarisch auf die literaturinterne Repräsentation der Beziehung von >Zeichen< und >Realität< zu beschränken - einer Ausweitung des Erkenntnisinteresses auf die Relation von >realistischer< Schreibweise und >Wahrheit< entgegenzukommen scheint: »Eine [...] nicht am bloßen Funktionieren von Zeichen, sondern an ihrer möglichen Wahrheit interessierte Semiotik kommt der Frage nach dem >Realismus< einer Literatur [...] Insbesondere Ohls vager >Symbolvorklassische Literatur< [...] mögliche Welten, die mimetische Literatur die wirkliche Welt, der >plurale Text< [...] mögliche Sprachen zum Gegenstand [hatte bzw. haben wird].« (144), kann jedenfalls solange nicht enttrivialisiert und respezifiziert werden, als der metasemiotische Charakter des >Realismus< verkannt wird.
sichtbar entgegen [...]« (77-78; vgl. auch Abschnitt 2.2. zur »Semiotik des Pragmatismus«, 38-55). Der »>Realismus< der Peirceschen Semiotik« (78) und ihr sechsstelliges Zeichenmodell< [...] stellt [...] Kategorien bereit, nach denen Realitätsbezüge z.B. von Literatur und deren Bedeutung für mögliche Interpretationen - >in the long run< für menschliches Handeln untersucht werden können. Genau diese weiten, vielfältigen und >vagen< Möglichkeiten allgemeiner Semiotik machen spezifische Zeichensprachen, etwa die realistischer Romane, erst sichtbar. (79).
Im Gegensatz dazu verfolgt die vorliegende Untersuchung - bei aller Vergleichbarkeit der semiotischen Ausrichtung - eine inverse Perspektive. Anstatt die Semiotik zu einer realistischen Semiotik< sensu Peirce narratologisch auszuweiten,6 beschränkt sie sich vielmehr dezidiert nicht nur auf eine Rekonstruktion des >Funktionierens von Zeichens sondern versucht insbesondere die je textintern dargestellte - funktionierende oder scheiternde - >Semiotik< herauszuarbeiten.7 Den literarischen >Realismus< selbst als ein »von seiner theoretischen Struktur her zu problematisierendes Denksystem« (Eisele 1977, 152) zu begreifen, heißt, die innerliterarisch transportierten Diskurse8 über >ZeichenRealität< und >Zeit< und ihrer Relationen zu untersuchen und das semantische Struktursyndrom aus semiotischer und temporaler Differenz je textintern zu analysieren. Hierzu soll das Folgende einen zwar selektiven aber exemplarischen Beitrag leisten.9 Mögen sich die beiden genannten Leitdifferenzen als analytische Ausgangspunkte von Textinterpretation zunächst auch unterkomplex ausnehmen, ihre je spezifischen Korrelationen und Semantisierungen, d.h. ihre jeweilige Ausstattung »[...] das Modell unendlicher Semiose, [...], das Moment der Praxis, der Kommunikation, der prozessualen Kontinuität und krisenhaften Erneuerung, der Zug zur wachsenden Selbstreflexion [...] und vieles mehr geben diesem Strom von Zeichen eine epische Struktur« (52-53). Daß die Zeichentheorie von Peirce als besonders gegenstandsadäquat gelten kann, da sie es aufgrund ihres »relationalen Zeichenbegriffs« (80) ermöglichte, »prinzipiell jedes literarische Phänomen semiotisch [zu untersuchen]« (81), erscheint wenig trennscharf: Bei flexiblem und nicht hypostasierendem Gebrauch gestattet dies auch jede anders strukturierte Semiotik. Unter >Diskurs< sei im folgenden »ein System des Denkens und Argumentierens« verstanden, »das von einer Textmenge abstrahiert ist und erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen charakterisiert ist« und »die Produktion von Wissen regelt« (Titzmann 1991, 406 und 407). Die >Regularitäten der Rede< sind »die diskursspezifischen epistemologischen Basisprämissen«, also u.a. »erkenntnistheoretische und ontologische Annahmen« (407). Dabei folge ich terminologisch und methodisch den Verfahren paradigmatischer und syntagmatischer Textanalyse, wie sie von Titzmann 1977 resümiert und weiterentwickelt worden sind, und in denen Propositionsanalyse und semantische Merkmalsanalyse zusammenwirken; ein pauschaler Hinweis auf Titzmann 1977, 91-179 und die Systematik bei Titzmann 1991, 397^02 muß in diesem Zusammenhang genügen. - Sachbezogene Selektivität kennzeichnet auch den Rekurs auf die z.T. umfängliche Einzelforschung zu Autoren und Texten: Forschungsüberblicke etwa zu Storm oder Fontäne schienen für das spezifische Erkenntnisinteresse der Untersuchung verzichtber.
mit semantischen Merkmalen, erweisen sich in den folgenden Abschnitten als durchaus intrikat. Insbesondere die unterschiedliche Verteilung der Semantik von >Leben -versus- Tod< auf beide Differenzachsen wird sich als signifikant herausstellen, da sie beide Achsen jeweils zu semantischen Oppositionen verschärft (konträr: >Tod -versus [vs]- Leben< oder kontradiktorisch: >Nicht-Leben -vs- LebenVergangenheit< und >Gegenwart< bzw. von >Zeichen< und >Realität< sicherstellt. Darüber hinaus erweist sich eine interne Subkategorisierung der semiotischen Differenzachse als fruchtbar, die eine dritte, innersemiotische Differenzachse eröffnet und außerdem von der Realismusforschung immer wieder postuliert, aber kaum textintem konkretisiert worden ist: Die Unterscheidung von Similarität und Kontiguität als implizite (seltener explizite) Unterscheidung der Texte selbst. Eine generelle Präferenz des >Realismus< für >SpurenIndizien< und ihren Zusammenhang, also für metonymische, auf Kontiguität beruhende Zeichenbildung ist seit Roman Jakobson (Über den Realismus in der Kunst, 1921, 385-387) gelegentlich konstatiert worden,10 ohne daß Jakobsons Andeutungen näher zu präzisiert worden wären: Das Primat des metaphorischen Prozesses in den literarischen Schulen der Romantik und des Symbolismus ist schon mehrfach anerkannt worden. Dagegen wurde noch ungenügend auf die tonangebende Rolle der Metonymie für die sogenannte >realistische< Literaturrichtung verwiesen, [...]. Den Prinzipien der Kontiguitätsrelation folgend, geht der realistische Autor nach den Regeln der Metonymie von der Handlung zum Hintergrund und von den Personen zur räumlichen und zeitlichen Darstellung über. Er setzt gerne Teile fürs Ganze. (Jakobson 1956, 329; ähnlich 333).
Zwar sind die »engen Bande zwischen Realismus und Metonymie« inzwischen nicht mehr »unbemerkt« geblieben (wie noch Jakobson 1956, 333 bedauert), die Pauschalität von Jakobsons Hypothesen wird seither jedoch allenfalls noch von terminologischer Vagheit übertroffen. Das >Metonymische< fungiert - wenn es überhaupt vom >Metaphorischen< explizit unterschieden wird - selbst meist nur als Metapher für einen kontigen »Zusammenhang der Dinge« (z.B. bei Ohl 1968: 244ff. oder Gebhard 1984: 447ff. zu Fontäne; Gebhard verwendet fast nur den Terminus >Metaphermetonymischem Animismusmetonymische< Repräsentation als einen epistemologischen Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts (78), der sich in der Kunstwissenschaft, in der Philologie, Rechts- und Kriminalwissenschaft (Spuren, Indizien, Daktyloskopie) ebenso wie in Medizin, Anatomie und Psychologie/Psychoanalyse (Symptome) und 10
Vgl. auch Jakobson 1956 sowie Zeller 1980: 86, 89 und Geppert 1994, 122-123, 139143 zum »indexikalischen Realismus«. 1 ' Eisele 1979, 26 sieht eine »Affinität« zwischen »detektivischem Genre und realistischer Literatur(konzeption)«, die implizit auf der Präferenz für >kontige< (An-)Zeichen und deren Dechiffrierung beruht; zur »Kriminalgeschichte als pragmatischem Paradigma siehe auch Geppert 1994, 185-203.
nicht zuletzt an der interdisziplinären Konjunktur der >Physiognomik< ablesen läßt. Ginzburg führt das Indizienparadigma (108) auf die »rhetorischen Figuren [...] [der] prosaischen Achse der Metonymie« zurück: »der Teil für das Ganze, die Wirkung für die Ursache« (88-89), und interpretiert es als spezifisch schriftkulturelle Errungenschaft (94ff.), die sich in die einzelnen Fachwissenschaften hinein verästelt und etwa in der anatomischen Medizin einen frühen Vorläufer findet.12 Die weitreichenden historischen Thesen Ginzburgs sollen hier keiner näheren Überprüfung unterzogen werden, ihre Konvergenz zu einschlägigen Interpretationen des deutschen >Realismus< ist jedoch unverkennbar und sollte die Literaturwissenschaft zumindest zu einer diskursgeschichtlichen Erweiterung ihrer Perspektive auf den >Realismus< anregen können: Wenn die Forderung nach systematischer Erkenntnis auch immer anmaßender zu werden scheint, sollte deshalb die Idee von einer Totalität noch nicht aufgegeben werden. [...] die Existenz eines tiefen Zusammenhangs, der die Phänomene der Oberfläche erklärt, sollte man gerade dann betonen, wenn man behauptet, daß eine direkte Erkenntnis dieses Zusammenhanges unmöglich ist. Wenn auch die Realität >undurchsichtig< ist, so gibt es doch besondere Bereiche - Spuren-Indizien -, die sich entziffern lassen. Diese Idee, die den Kem des [...] Indizienparadigmas ausmacht, hat sich in den verschiedensten Bereichen der Erkenntnis durchgesetzt und die Humanwissenschaften tiefgreifend geformt. (Ginzburg 1988, 115; Hervorhebung im Original).
Hayden White schließlich unterscheidet in seiner Metahistory (1973; dt. 1991) vier Formen des >Realismus< in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und bestimmt sie als Typen >historischer Einbildungskraft mittels einer »Theorie der Tropen« (50-57), die zu vier aufeinanderfolgenden historiographischen >Stilen< führt: Die Theorie der Tropen bietet eine Möglichkeit zur Beschreibung der vorherrschenden Formen des Geschichtsdenkens, wie es im Europa des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm. Grundlage für eine allgemeine Theorie der poetischen Sprache, erlaubt sie überdies, die Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft in jenem Zeitabschnitt als geschlossene Kreisbewegung zu charakterisieren. Denn jede der Darstellungsweisen läßt sich als eine Phase oder ein Moment in einer Diskurstradition begreifen, die vom Metaphorischen ausgeht und sich über metonymische und synekdochische Deutungsmuster zu einem ironischen Verständnis der irreduziblen Relativität allen Wissens fortentwickelt. (57) und: Anhand der Tropen der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie - den Grundtypen sprachlicher Vorstrukturierung - habe ich die Denkweisen erörtert, in deren Zeichen Historiker implizit oder explizit ihre Erklärungsstrategien auf den Ebenen der formalen Schlußfolgerung, der narrativen Modellierung und der ideologischen Implikation rechtfertigen. (551).
Woran Whites Ansatz jedoch krankt, erschwert zugleich auch seine vergleichende Übertragung auf literarische Textkorpora, etwa des historisierenden Genres.13 Seine 12
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103: Sie ist zur Entwicklung einer Art Nekro-Semiotik verpflichtet, da sie aus Toten deren vergangenen Lebens-Zustand zu erschließen hat; zu Krankheit, Verbrechen und Semiotik siehe schon Sebeok/Umiker-Sebeok 1982, 63-92 sowie generell Wetzel 1989: 81, 92. Zu Hayden White im Kontext der anglo-amerikanischen Forschung über narrative Strukturen in der Historiographie vgl. ausführlich den Forschungsbericht von Scholz Williams 1989. >(Prä-)Narrative< und rhetorische Muster< der Geschichtsdarstellung in Wissen-
Terminologie (erweitert um >RomanzeKomödieTragödieSatireMetapherMetonymieSynekdoche< und >Ironie< zu erarbeiten, die die vage Terminologie zu systematisieren und sie dann auch anhand nicht-historiographischer Diskurse zu konkretisieren erlaubte. Ob also Jakobsons keineswegs so dichotomisch formulierte historische Hypothesen korpusanalytisch zu verifizieren sein werden, läßt sich nur dann entscheiden, wenn eine operationalisierbare semantische Konzeption von >Metapher< und >Metonymie< und d.h.: von Similarität und Kontiguität vorliegt und die rhetorische Tropentheorie innerhalb einer Theorie semantischer Merkmale (Seme) reformuliert worden ist.15 Wenn also im folgenden synekdochische (Teil-Ganzes-)Beziehungen und metonymische Beziehungen (z.B. räumliche, temporale, kausale Beziehungen) als Kontiguitätsrelationen den auf Similarität beruhenden metaphorischen Beziehungen entgegengesetzt werden, entspricht dies nach wie vor Jakobson 1956 (325327), der Kontiguität als linear syntagmatischen (>KombinationSelektionRealismus< similare, auf Ähnlichkeit beruhende Motiviertheit einerseits und kontige Repräsentation mit nicht-similarer (kausaler oder synekdochischer) Motiviertheit andererseits die zeitlichen Beziehungen zwischen der Ko-präsenz von >Zeichen< und >Referent< und der Absenz des >Referenten< auf unterschiedlich Weise (Abschnitt 3.). Um die je textintem thematisierte Semiotik zu rekonstruieren, genügen jedenfalls die bisher erläuterten semantischen Basisdifferenzen und ihre Implischaft und Literatur arbeitet dagegen Jauß 1982, 324-359 (»Der Gebrauch der Fiktion in der Anschauung und Darstellung von Geschichte«) für L. v. Ranke und J. P. Hebel exemplarisch und vergleichend heraus, ohne sich allerdings auf Erzähl- oder auf Tropentheorie näher einzulassen. White versteht »Ironie, Metonymie und Synekdoche [als] Formen der Metapher« (51), ordnet jedoch an späterer Stelle (55) Metapher, Metonymie und Synekdoche auf derselben Ebene als alternative Tropen an und weist schließlich in seiner >tropentheoretischen< Forschungsdiskussion (573-576, Anmerkung 13) Jakobsons Unterscheidung von >Metapher< und >Metonymie< zurück, ohne jedoch zu einer systematischen Unterscheidung von Similarität und Kontiguität zu gelangen (576). Im Sinne der Strukturellen Semantik von Greimas 1966; vgl. besonders Bak 1994, 97-105 über »Isotopiesemantik und Metaphern«; terminologische Unterscheidungen zur Metapher bieten Birus/Fuchs 1988.
kationen, da diese bei der Analyse der jeweils literarisch dargestellten Zeichenbeziehungen bereits ein Komplexitätsniveau produzieren, das spezifisch genug bleibt, um semantisch zu differenzieren und abstrakt genug scheint, um heterogene Varianten integrieren und generalisieren zu können.16 Die variablen Korrelationen der zwei bzw. drei Basisdifferenzen bilden ein semantisches Feld, das die um die temporale und die semiotische Differenz zentrierten innerliterarischen Diskurse besetzen und innerhalb dessen eine literarische realistische EpistemologieRealität< - konkretisiert werden könnte. Was jeweils inhaltlich unter literarischem >Realismus< verstanden werden soll, kann also nur auf der empirischen Basis der Realitätskonzeption der Texte selbst bestimmt werden. Die semantischen Strukturen, mittels derer die >realistische< Literatur präsente und vergangene >Realität< konstruiert und deren sprachliche wie non-verbale Repräsentationsmodi selbst intern thematisiert, in Beziehung setzt und bewertet, erweisen - wie zu zeigen sein wird - den fremdreferentiellen >Realitätsbezug< dieser Literatur von vornherein als indirekte Selbstreferentialität: Insofern der >Realismus< die Differenz von Zeichen und Realität selbst internalisiert und deren Beziehungen in allen Variationen - von Motiviertheit bis Arbitrarität, ja Disparatheit - durchspielt, sind seine primären Realitäten ganz wesentlich semiotische. Besonderes Interesse gilt im folgenden also v.a. Erzähltexten, die die Bedingungen sprachlicher (mündlich oder schriftlich erzählender, selbst literarischer) Konstruktion von Wirklichkeit reflektieren oder aber konkurrierende visuelle Medien thematisieren, wobei sowohl figureninterne imaginäre Bilder (Träume, Halluzinationen) als auch äußere, ikonische Zeichen - nicht nur solche der bildenden Kunst - gemeint sind. Dabei geraten zugleich auch die psychologischem und >phantastischen< Grenzen der Realitätskonzeption des literarischen >Realismus< in den Blick. Darüber hinaus wird zum einen nach den Regeln zu fragen sein, denen die Produktion und Rezeption solcher Zeichen jeweils unterliegen und zum anderen generell nach der Funktion sprachlicher Kommunikation und nach den Wirkungen, die diese Literatur jeweils visueller Wahrnehmung zuschreibt. In diesem Zusammenhang wird sich schließlich die auffällige Tendenz zu Rahmen- und Rückblickserzählungen als interpretationsbedürftig erweisen, die Vergangenheiten >erinnem< bzw. verlorene (>toteReferentSignifikat< und >Signifikant< änderte zwar an den textanalytischen Befunden nichts, führte aber zu einem schwerlich reinterpretierbaren Überschuß an begrifflicher Differenzierung und erhöhte zugleich die Gefahr der Konfusion von Meta- und Objektebene; da >Referent< und >Zeichen< im folgenden nicht als theoretische und metasprachliche Termini gebraucht werden, sollte ihre quasi objektsprachliche Verwendung ohne solche Konfusion möglich sein. Thematisierte (absente oder präsente) >Referenten< sind ebenso Elemente der je textintem dargestellten >Welt< wie ihre textintern thematisierte, je similare oder kontige Repräsentation. Womit ich - wie schon Pfeiffer 1990 am Beispiel Fontanes - dem Sprachgebrauch von Eisele 1977, 163 und 1979, 19 folge. Zu Eiseies Ansatz siehe auch Plumpe 1996b, 54-57.
zumindest bedrohte Realität zeichenhaft repräsentieren. Eine der latenten epistemologischen Aporien des >Realismus< gewinnt vor diesem Hintergrund an Kontur, deren Verschleierung er sich variantenreich, zur Jahrhundertwende allerdings zusehends erfolgloser widmet: Sprachliche wie ikonische Mimesis von Wirklichkeit droht eben diese zu ersetzen, die >Zeichen< für >Realität< gehen in der >Realität< der >Zeichen< auf. Die manifesten und latenten >Probleme< die im Rahmen dieser abstrahierbaren >Epistemologie< bei der Verknüpfung von semiotischer und temporaler Achse, also für die >Zeichenkonzeption< und für die >Zeitkonzeption< der erzählenden Literatur zwischen etwa 1850 und 1900 auftreten, erweisen sich schließlich nur mehr bedingt innerhalb dieser >Epistemologie< als >lösbar< oder zumindest eliminierbar.18 Wenn dieses Problempotential mit seinen synchronischen und diachronischen, literarischen und nicht-literarischen Anschlußstellen im folgenden als >historistisches DispositivRealitätVergangenheit< semiotisch re-präsentiert werden, betrifft nicht nur die erzählende (oder gar nur die historisierende) Literatur, sondern ordnet sich in ein Dispositiv des 19. Jahrhunderts ein, in welchem sich »Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen« (Foucault 1978: 119) zu semiotischen »Strategien« verbinden, »die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.« (123). Zweifellos gehört die Konstruktion von >Geschichte< zu den bevorzugten Wissensformen des historistischen 19. Jahrhunderts.20 Von einem >historistischen Dispositiv< bzw. >Habitus< oder gar von literarischem Historismus< zu reden, bedarf gleichwohl der näheren Begründung, findet der Begriff des >Historismus< doch in der Literaturwissenschaft kaum und allenfalls dann metaphorische und pejorative Verwendung, wenn das Genre historisches Erzählen/historischer Roman< insgesamt, besonders aber jenes Teilkorpus von Texten gemeint ist, das als >Professorenroman< (J. V. von Scheffel, Gustav Freytag, W. H. Riehl, Felix Dahn, Ge-
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Zum >ProblemProblem< einen manifesten oder latenten logischen Widerspruch zwischen expliziten oder nur implizierten Propositionen eines Textes oder Textkorpus versteht (433), der eliminiert oder unterdrückt, aber auch durch >Strukturwandel< gelöst werden kann (433—435). Das Konzept des >Dispositivs< bei Foucault rekonstruiert systematisch Meyer 1992: 400402; zu überlegen wäre, inwieweit >Dispositiv< als Vermittlungsbegriff zwischen semiotischen und sozialen Systemen ähnliches leistet wie Bourdieus >Habitusrealistische< und historisierende Literatur Baßler/ Brecht/Niefanger/Wunberg 1996, 15-101.
org Ebers, Ernst Eckstein u.a.) bezeichnet wird.21 In beiden Fällen ist damit aber implizit oder explizit - eine synchronische Beziehung von Literatur zu ihrem historischen Kontext postuliert (sei es dem des geschichtswissenschaftlichen >Historismus< oder dem des >Historismus< als Stil in Architektur und Malerei), die entweder nicht näher spezifiziert wird oder sich als unmittelbare Zurechnung von Literatur und anderen symbolischen Formen< (sensu Bourdieu 1974) auf politische Ereignisse erweist. Insbesondere die öffentliche, repräsentative Kultur des Kaiserreichs, in der die Produktion und Rezeption symbolischer - nicht nur literarischer Gebrauchsformen etwa an nationale Festtage gebunden ist und in politischen Feierstunden, Festzügen, Festspiel-Aufführungen und Denkmalsenthüllungen22 sozial organisiert und institutionalisiert wird, bietet zahlreiche Beispiele für derartige soziale Funktionskoppelungen symbolischer FormenMentalität< des wilhelminischen Kaiserreichs23 mehrfach beschrieben worden ist. Als semiotische Sedimentierungen periodisieren und kalendarisieren solche symbolische Formen< nicht nur historische Zeit und vergegenwärtigten >Vergangenheit< für die politische Öffentlichkeit, sondern indizieren darüber hinaus eine breite Tendenz zur Selbsthistorisierung Preußens und des Kaiserreiches, für die inzwischen umfangreiche literarische wie nicht-literarische Quellen beigebracht worden sind.24 Nationales >Fest< und nationales >Denkmal< wirken eng zusammen und verbinden die Er21
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So z.B. bei Nussberger/Kohlschmidt 1958, §16., 663-664 und Martini 1962, 443^149 (»Historischer Roman und bürgerlicher Historismus«, 443-446, »Der historischarchäologische Roman«, 448-449) oder Müller 1951 zum literarischen Historismus< von Georg Ebers; auch noch Geppert 1976, 103-106 propagiert den >anderen< historischen Roman vor dem Hintergrund des abgewerteten üblichen Scottscher, Hauffscher und Dahnscher Prägung; ins andere, apologetische Extrem verfällt dagegen Paret 1990, 155-174 zu Joseph Victor von Scheffel. Unsicher bleibt Müller-Seidel 1975, der zwar im »Historismus [...] eine der beherrschenden Denkformen des Jahrhunderts« (65) erblickt und die Rekonstruktion des »Zusammenhang^] zwischen Historismus und Realismus« (60) als Desiderat bezeichnet, Fontäne aber dem >Banne des Historismus< doch weitgehend entzogen sehen möchte (88). Zum Zusammenhang des »Erzählproblem[s] des historischen Romans mit dem Problem von Repräsentation im Historismus überhaupt« siehe Baßler/Brecht/Niefanger/Wunberg 1996, 56-67, hier 63. Zu den deutschen Festspielen zwischen 1813 und 1913 und ihren Inszenierungen des Nationalen siehe v.a. Sprengel 1991 sowie Dömer 1996 zur medialen Präsenz des Hermannsmythos; zur Festkultur des 19. Jahrhunderts vgl. Düding/Friedemann/Münch 1988, zur Ikonologie des Festzuges etwa Tenfelde 1982, zum Nationaldenkmal des 19. Jahrhunderts Nipperdey 1968 und zum politischen Totenkult der Kriegerdenkmäler im 19. und 20. Jahrhundert die Beiträge in Koselleck/Jeismann 1994. Z.B. von Doerry 1986 am Beispiel autobiographischer Texte des 19. Jahrhunderts, von Köster 1991 zum >Gründungsmythos< des Kaiserreichs und seiner Repräsentationskultur oder Schumann 1991 am Beispiel der Romantik-Rezeption in der wilhelminischen Literaturgeschichtsschreibung; zu >Mentalität< als Wissensform im literaturwissenschaftlichen Kontext siehe auch kritisch Ort 1992, 415. Für die Literatur v.a. von Wülfing/Bruns/Parr 1991 zur »historischen Mythologie der Deutschen 1798-1918« und Link/Wülfing (Hg.) 1991 zu nationalen Mythen und Symbolen< oder für die ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Textsorte der Firmenfestschrift anläßlich von festlichen Gründungsjubiläen eingehend Linder 1991, v.a. 237-244.
eignishaftigkeit zyklisch wiederkehrender Festtage mit dauerhafter symbolischer Repräsentation.25 Vereinzelt ist schließlich auch da pauschal von >Historismus< die Rede, wo dessen Überwindung für die Literatur des 20. Jahrhunderts eine negative diachronische Folie zu ihrer Interpretation abgibt (vgl. die Beiträge in Aspetsberger 1987 oder, wissenschaftsgeschichtlich konkretisiert, schon Köhn 1974/75). Die öffentlich repräsentativen Zeichensysteme für >Geschichte< und >Vergangenheit< im 19. Jahrhundert lassen nun im wesentlichen zwei Arten der Zurechnung auf Literatur zu: Entweder ordnet sich Literatur funktional den öffentlichen Anlässen zu und thematisiert sie entweder selbst (wie z.B. die Festspiele) oder verdankt ihnen zumindest ihre Entstehung, oder aber Literatur thematisiert ihrerseits die öffentlichen Zeichensysteme, also Festzüge, Gedenktage, Denkmale, wobei letzteres nicht an historische Romane oder Dramen gebunden ist.26 Je genauer sich außerdem erzählende Literatur auf identifizierbare und datierbare historische Personen und Ereignisse bezieht, desto größer erscheint ihr Beitrag zum imaginären, historischpolitischen Kalendarium einer Kultur und desto enger wird ihr intertextuell konkretisierbarer Nexus zum kulturellen (historischen) Wissen der Zeit. Was darüber hinaus eine Gesellschaft jeweils als >historisch< versteht, d.h. wie nah Historic jeweils an die >Gegenwart< heranrückt, bildet selbst wiederum eine historische Variable, über die v.a. die diachronische und quantitative Auswertung der Stoffwahl des historischen Erzählens Auskunft geben könnte.27 Die vielzitierte, verdienstvolle Korpusanalyse von Hartmut Eggert (1971) »zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850-1875« liefert hierzu wertvolles Material (zur selektiven Stoffverteilung zwischen 1850 und 1900: 89-114).28 Für diese Zwecke 25
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Besonders deutlich zeigt das etwa die multimediale Hochkonjunktur des KyffhäuserMythos, der die Rückkehr der Hohenstaufer-Kaiser Friedrich II. und später Friedrich I. Barbarossa verspricht: Sie reicht von der literarischen Stilisierung des Reichsgründers Wilhelm I. zu einem zweiten Barbarossa (vgl. den »greise[n] Imperator,/ Barbablanca, Triumphaler,/ Retter du des Vaterlands.« bei Dahn 1871, 585, Dahn 1888, 648, 649 und Dann 1891, 668 oder auch Wildenbruchs Festspiel Willehalm zum 100. Geburtstag Wilhelms I. 1897) bis zum Kyffhäuser-Denkmal (Einweihung 1897); dessen Errichtung zu Ehren Wilhelms I. wird von Sagenkränzen narrativ begleitet und re-motiviert (z.B. Wettig 1891) und fungiert überdies dauerhaft als symbolischer Kristallisationspunkt und sozialorganisatorischer Katalysator des deutschen Militarismus (zum Kyffhäuserbund als Dachorganisation der deutschen Kriegerverbände vgl. Rohkrämer 1990, 30); zur Vorgeschichte siehe Borst 1979, Flatz 1982 zu Wildenbruch sowie über die Stiftungslegenden des Kaiserreichs und den Kyffhäuser-Mythos als »irrationale, enthusiasmierende Wunschvorstellung« Jäger 1975, 99. Vgl. etwa zu Denkmälern und Gedenktagen bei Fontäne Wülfing 1991. Womit die typologische Abgrenzung von Historischem Roman< und >Zeitroman< ebenfalls fließend und historisch variabel wird (zur Problematik des >Zeitromans< im 19. Jahrhundert vgl. Worthmann 1974). - Wie >nah< Historic der jeweiligen >Gegenwart< kommen dürfe, war übrigens auch Gegenstand zeitgenössischer Diskussionen, so etwa im zehnjährigen Streit um das (die Reformation darstellende) Abschlußbild des Berliner weltgeschichtlichem Freskenzyklus von Wilhelm Kaulbach (1847-1865), vgl. Wagner 1989, 33 und 145-159. Kritisch auszuwerten wäre auch das umfangreiche Material vom 18. Jahrhundert bis zur >GegenwartGattungparatextuelleRealismus< stark rekurrente paratextuelle und intertextuelle Institutionalisierung, die mit anderen institutionalisierten > symbolischen Formen < verglichen werden kann. Leider scheint Eggerts Ansatz bisher in keiner Weise empirisch fortgeführt und um semantisch-textinterne Fragestellungen ergänzt worden zu sein, obwohl derartige Korpusauswertungen eine unverzichtbare, empirische, d.h. semiotisch-materielle Datenbasis für das bilden, was die Literaturgeschichte etwa zu einer >MentalitätenDenkgeschichte< oder auch zu einer >Diskursgeschichte< (sensu Link und Wülfing) beisteuern könnte.31
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schichte in deutscher Erzählung (21943) nach Epochen, Personen usf. bibliographiert hat; sein Vorwort zur Kriegsauflage bietet übrigens selbst ein Beispiel dafür, wie sehr die >Historizität< von Ereignissen ideologischer Disponierbarkeit unterliegt: »Wenn ich allerdings im Vorwort zur ersten Auflage dieses Buches geschrieben hatte, daß dieser Krieg [der l. Weltkrieg] für uns auch schon Historic geworden sei, so kann ich diese Behauptung heute nicht mehr aufrecht erhalten. Der Krieg von 1914-18 war nur das Vorspiel zu den großen Ereignissen, deren schaudernde und bewundernde Zeugen wir gegenwärtig sind. Eine neue Welt ist im Entstehen, aber noch hat sie ihre endgültige Form nicht gewonnen. Darum kann die Dichtung ihr heute auch noch gar nicht gerecht werden, so reich (zum mindesten quantitativ) die sogenannte Weltkriegsliteratur auch ist.« (VIII-IX). Das Bemühen Luthers, zeitgenössische Propagandaliteratur aus hochbewerteter >Geschichtsdichtung< auszugliedern, ohne die ideologisch geforderte >Geschichtlichkeit< der Gegenwart von 194'3 zu leugnen, ist unverkennbar. Nach Genette 1989 soll darunter »jenes Beiwerk [verstanden werden], durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser, [...] vor die Öffentlichkeit tritt.« (10) und: »Der Paratext besteht [...] empirisch aus einer vielgestaltigen Menge von Praktiken und Diskursen [...].« (10); vgl. zu Titeln und Untertiteln 58-102, Vorworten 157-280, zum historischen Roman und den fiktiven Vorworten Walter Scotts insbesondere 219 und 271275 aber auch Eggert 1971, 54-88 zu den >Vorreden< historischer Romane als >SelbstfunktionalisierungGattung< »nur die Teilmenge theoretisch denkbarer Texttypen« versteht, »die in der Kultur selbst unterschieden wurden und also nachweisbar Elemente des kulturellen Wissens waren.« (l 1.2., 406), während »Texttyp/-sorte [...] jede Klasse von Texten heißen [soll], die auf Grund von Kriterien gebildet worden ist, die am Einzeltext als erfüllt oder nicht-erfüllt nachgewiesen werden können. Texttypen sind theoretische Konstrukte; je nach der Wahl unserer Kriterien können wir im Prinzip beliebig viele Texttypologien aufbauen.« (11.1., 406). Präzisierend anzumerken ist dabei allerdings, daß Gattungszugehörigkeit ebenfalls am Einzeltext - wenn schon nicht textintern, so doch zumindest paratextuell - nachgewiesen werden können muß. >Denkgeschichte< im Sinne von Titzmann 1991, 411 und 408, als Geschichte von >DenksystemenRealität< [regeln]« (408), zu >Mentalität< vgl. ebd., 404. Zur Diskussion des wissenssoziologischen Hintergrundes von >Mentalität< und >Denksystem< vgl. nochmals Ort 1992.
Literarischen >Historismus< dagegen unabhängig von nicht-literarischem >Historismus< und textintem, d.h. texttypologisch definieren zu wollen, erweist sich darüber hinaus als ähnlich problematisch, wie die Versuche, einen eigenständigen Texttyp historisches Erzählen/historischer Roman< auf nicht-triviale Weise zu bestimmen. So bleibt der Versuch von Jeziorkowski 1979, >Literarität und Historismus< am Beispiel G. Kellers als textinterne Beziehung festzumachen, implizit trivial (vgl. den Abschnitt »Historismus in der Literatur«, 115-132): Ein formales Symptom für die historische Manier der erzählenden Literatur dieser Zeit ist nicht zu übersehen: eine ausgesprochene Vorliebe für die Rahmenerzählung, und zwar für solche Rahmenformen, die Vergangenes >einrahmenhistoristisches Geschichtsverständnis< als wenig trennscharf. Darüber hinaus verzichtet eine Vielzahl historischer Romane auf Rahmen-Binnen-Erzählsituationen, womit die Definition für historisches Erzählen zugleich als zu eng erscheint. Differenzierter gehen Schlaffer/Schlaffer 1975 in ihren Studien zum ästhetischen Historismus vor, wenn sie u.a. am Beispiel von Stifter und Hebbel - die temporale als semiotische Differenz verstehen, also nach den ästhetischen (bildhaften, dramatischen) Präsenzmodi der Vergegenwärtigung des Vergangenen fragen: Der Historismus wendet die zeitliche Struktur der Verhältnisse von Gegenwart und Vergangenheit ins Räumliche. Als >Betrachtung< und >Blick< charakterisieren Burckhardt und Dilthey das historische Denken. Sie vergleichen die Formen der Gegenwärtigkeit des Vergangenen im Bewußtsein mit der Anschauung von Bildern. [...]. Obwohl diese Ästhetisierung der Weltgeschichte zum Museum der wergangenen Kulturen< auch die Stagnation des bürgerlichen Denkens im 19. Jahrhundert bezeichnet, so ist sie dennoch durch die immanente Logik des historischen Bewußtseins ermöglicht und vorbereitet. (13).
Anstatt, wie Jeziorkowski, die Metaphorik von >Rahmen< und >Bild< auf RahmenBinnen-Erzählungen anzuwenden, akzentuieren Schlaffer/Schlaffer Verräumlichung und Visualisierung als zeichenhafte Präsenzmodi von Vergangenheit im literarischen und im >historistischen< Diskurs. Auch diese semiotische Strategie erweist sich jedoch nur als eine unter mehreren, mit denen die Literatur (nicht nur die im engeren Sinn historisierende) die Repräsentanz von >Vergangenheit< (nicht nur der kollektiven) thematisiert und problematisiert. Darüber hinaus zeigt sich, daß Schlaffer/Schlaffers Bestimmung auf intertextuellen Beziehungen beruht, die die Metaphorik der historistischen Geschichtswissenschaft mit der Literatur des Zeitraumes verbinden. Sowohl Jeziorkowskis als auch Schlaffer/Schlaffers Definitionen eines literarischen oder ästhetischen Historismus, so ist festzuhalten, überschreiten zwar die Grenzen des historischen Erzählens, sind aber zugleich immer noch zu eng, um etwa Literatur strukturell oder gar funktional mit dem semiotischen und sozialen Kontext des Historismus im weitesten Sinn zu verknüpfen. 13
Auch die Versuche, historisches Erzählen selbst nicht nur als historische >GattungTexttyp< zu definieren, ohne auf genetische Pseudoerklärungen - den Gemeinplatz vom >Gattungsbegründer< Walter Scott32 - oder auf implizite Wertungen zurückzugreifen, scheinen zum Scheitern verurteilt. Anstatt einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die literaturwissenschaftliche Karriere des historisierenden Erzählens als Texttyp geben zu wollen - verwiesen sei auf die selektiven aber systematischen >Anmerkungen zu einem umstrittenen Genre< bei Sottong 1992 (9-19) -, erscheint es sinnvoller, texttypologische Definitionsversuche exemplarisch anhand dreier unterschiedlich systematischer Vorschläge zu problematisieren. Einen extrem weit gefaßten Versuch unternimmt zunächst Schiffeis 1975, der unter >Historischem Erzählen< alle Texte epischer Erzählweise [versteht], die Geschichte und Geschichtlichkeit überhaupt thematisieren oder als bestimmenden Inhalt aufweisen, also auch solche, die den letzterreichten Zustand des Kontinuums menschlicher, sozialer und staatlicher Handlungen in der Zeit, also die Gegenwart [...] enthalten. (177-178).
Als Minimalkriterium für historisches Erzählen reichte demnach hin, wenn >Geschichte< als solche - also eine als >Geschichte< interpretierte temporale Distanz zur jeweiligen >Gegenwart< - thematisiert wird, womit sich das definitorisch einzugrenzende Korpus massiv ausweitete. Als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, von historischem Erzählen zu sprechen, geht dieses >ReflexionsReferenzReflexionsinsuffizienten< Historismus (29) zuschreibt; die Konjunktur des deutschsprachigen historischen Erzählens< im 19. Jahrhundert mit der Konjunktur der Scott-Rezeption erklären zu wollen, verkennt jedenfalls die Erklärungsbedürftigkeit beider konkomitanter Phänomene, die allenfalls einen Funktionswandel von >Geschichte< als Thema der Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert anzeigen. Wie außerdem Gast 1972, 7-9 resümierend betont, hat Scott selbst auf deutschsprachige Autoren des späten 18. Jahrhunderts - Benedikte Naubert und Leonhard Wächter (d.i. Veit Weber) - zurückgegriffen; siehe dazu auch eingehend Meyer 1973. Für das >Geschichtsdrama< vgl. übrigens ähnlich Wünsch 1990b, die temporales DistanzKriterium und Reflexions-Kriterium korreliert (130-131).
vereinfacht und auf ihren Kern reduziert - im wesentlichen derjenigen von Müller 1988 entspricht; sie verbindet das triviale temporale Distanzkriterium (15: »die dargestellten Ereignisse eines historischen Romans müssen trivialerweise in der Vergangenheit situiert sein, [...].«) mit einer textinternen (inhaltliches >DifferenzKompatibilitätsPlausibilitätsUnterschied< von dargestellter und zeitgenössischer >Welt< und präzisieren damit Müllers bloßes >ReferenzReferenz< auf das jeweilige >kulturelle Wissen< der Zeit des Textes über die je dargestellte vergangene >EpocheReflexionsWelt< darstellen, deren Unterschied sich inhaltlich als relevant und wissenskompatibel erweist und darüber hinaus entweder diese zeitliche und inhaltliche Differenz selbst oder eine andere, je textintern nachweisbare, zeitliche Distanz explizit oder implizit als >Geschichte< thematisieren. Da, wie Sottong ausführt, schon die temporale Distanz zwischen dargestellter >Welt< und der Gegenwart des Textes als >historische< Differenz eine kulturelle und historische Variable bildet (15), ergibt sich jedoch ein impliziter Zirkel: Was eine Kultur als Gegenwatt oder historische Vergangenheit definiert oder von ihr als solche jeweils »empfunden wird« (Sottong 1992, 15), läßt sich nicht durch den bloßen diachronischen Abstand ermitteln, sondern wird u.a. gerade von demjenigen (literarischen) Textkorpus selbst >definiertGegenwart< mit >Vergangenheit< relationiert. Daß historisches Erzählen außerdem eine solche Differenz selbst auch noch intern als >GeschichteWandelFortschritt< oder >Verlust< zu thematisieren habe (>Reflexionsdefiniert< sie selbst rekursiv als >Rede< über >GeschichteRedegegenstand< konstituieren. Historisches Erzählen erweist sich somit als eine Durchschnittsmenge von Texten, die dieser interne Diskurs mit der paratextuellen Selbstklassifikation als historische >Gattung< bildet. Nicht alle der >Gattung< zuzurechnenden Texte reflektieren intern ihrerseits Zeitdifferenzen als geschichtliche, und nicht alle explizit oder implizit geschichtstheoretischen Texte klassifizieren sich selbst als historisches Genre bzw. stellen eine relativ zu ihrer >Gegenwart< vergangene Welt dar. Wenn also, so ist weiterhin zu resümieren, die Grenze zwischen trivialen (d.h. latent tautologischen) und extrem voraussetzungsreichen, weil wissenskontextuellen Defini-
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tionen derart diffus ist, dann stellt sich die Frage nach dem Wert solcher Bestimmungen, die texttypologische, d.h. textinteme sein wollen, dafür aber die für sie gerade konstitutiven literaturextemen Wissensreferenzen zu Randbedingungen herunterstufen. Derartige Definitionsversuche - deren heuristischer Wert gar nicht bezweifelt werden soll - zeigen deutlich, daß historisches Erzählen als Texttyp selbst weder theoretisch noch empirisch eine kontextuell fruchtbar zurechenbare Kategorisierung bildet, sondern sich in seine para- und intertexuellen Außenreferenzen (als historisch vorgegebene >GattungGattungstheorie< im weitesten Sinn gezogen,35 dann rücken u.a. - mit Wülfing/Bruns/Parr 1991 (2) - andere »Fragen in den Vordergrund: In welchen diskursiven Formationen wird im 19. Jahrhundert >Wissen< organisiert? Unter welchen sozialgeschichtlichen und politischen Rahmenbedingungen geschieht dies und welche spezifische Rolle spielt dabei [...] literarische Praxis selbst?«. Wenn nach Titzmann 1991 (407) aber die »Produktion von Wissen« von Diskursen geregelt wird, deren Literatur sich bedienen und die sie in sich integrieren kann (407), dann kann - bei aller unvermeidlichen Vorläufigkeit und Verkürzung - unter literarischem Historismus< ein solcher Diskurs verstanden werden, der sich nicht auf Texte des historischen Erzählens im traditionellen Sinn beschränkt und selbst auch nicht notwendig an Texte gebunden ist, die sich selbst para- und/oder intertextuell als historisierende klassifizieren, der aber gleichwohl die text- und korpusspezifischen Bedingungen solch rekurrenter Klassifikation bildet. Allzu oft reproduziert die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem historischen Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darüber hinaus methodische Schwächen und thematische Obsessionen der Realismusforschung, was angesichts der zähen Kanonfixierung dieser Forschung nicht verwundern kann. Vielfach scheint das Bemühen, historisches Erzählen als eigenständiges Genre zu definieren, lediglich die Funktion zu erfüllen, es damit zugleich von der übrigen (zumeist höher bewerteten) Erzählliteratur des >Realismus< abzusondern, um es dann umso unbekümmerter als Quellenmaterial für sozial- oder ideologiegeschichtliche Fragestellungen heranzuziehen. Da jedoch aus genre-immanenten Definitionsversuchen keine Kriterien gewonnen werden können, die eine nicht-kurzschlüssige Zurech34
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Eine solche Auflösung der Gattungstheorie im weitesten Sinn kündigt sich seit längerem sowohl von soziologischer wie von semiotischer Seite an, so schon bei Voßkamp 1977, der >Gattungen< als »literarisch-soziale Institutionen« (30) definiert, die in funktionale Außen- und semantische Innnenreferenzen zerfallen oder bei Schnur-Wellpott 1983, die allerdings keine fruchtbaren Alternativen anbieten kann, sondern Typenbildung als Abstraktion in bloße Differenz-Serien von >ecriture< auflösen möchte (229-238). Ohne hier auf die Probleme des Foucaultschen Diskursbegriffs und seiner literaturwissenschaftlichen Adaption im einzelnen eingehen zu wollen (vgl. aber die systematischen Vorschläge von Meyer 1992), sollte aus Foucaults Archäologie des Wissens (Foucault 1981) für die Literaturwissenschaft zumindest die theoretische Skepsis gegenüber den tradierten Einheiten wie >AutorenWerken< und >Gattungen< (33^47) resultieren, anstatt immer wieder von neuem gattungstheoretische Dilemmata (wie die oben skizzierten) zu reproduzieren.
nung von Textbefunden auf literarische oder nicht-literarische Diskurse oder auf soziale Handlungskontexte kontrollieren und begrenzen könnten, scheinen beide Tendenzen einander zu bedingen: Solange breiter abgesicherte und differenzierte textanalytische Befunde auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus fehlen, ergänzen sich Genre-Immanenz und voreilig postulierte Fremdreferenz auf Außerliterarisches wechselseitig. Zwischen einer vorschnellen Zurechnung auf politische Ereignisse ebenso wie auf sozial-, mentalitäten- und ideologiegeschichtliche Strukturen historisches Erzählen als Dokument für außerliterarische, z.T. auch nicht-diskursive Phänomene - und genre-immanenten Interpretationen, die historisches Erzählen als spezifische narrative Struktur definieren36 - erstreckt sich nach wie vor weitgehend Niemandsland. Die vorliegende Arbeit wird beide Tendenzen zu unterlaufen versuchen und dabei eine dezidiert andere Perspektive einnehmen. Sie wird zum einen die Interpretation der literarischen Konstruktionen und Kodierungen von >GeschichteVergangenheitZeit< überhaupt aus der einengenden Fixierung auf ein Genre historisches Erzählen< befreien, stattdessen strukturell tiefer ansetzen und auf einer exemplarischen, genreübergreifenden Textbasis versuchen, die literarischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts für historisches Erzählen, also Strukturen und Probleme der literarischen Repräsentation von >Vergangenheit< zu untersuchen. Sie wird sich zum anderen einer vorschnell erklärenden oder analogisierenden Zurechnung ihrer textanalytischen Ergebnisse auf außerliterarische Faktoren konsequent entziehen, um zunächst die textkorpusinternen, strukturellen Anschlußbedingungen solcher Zurechnungen zu klären. Sie wird versuchen, einige der zentralen >Probleme< im Umgang mit >ZeitVergangenheit und >Geschichte< herauszuarbeiten, die nicht nur das historische Erzählen auszeichnen, sondern die für die erzählende Literatur des deutschsprachigen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt signifikant scheinen. Erst im Kontext einer >historistischen Episteme< der Literatur des >Realismus< könnte zukünftig das in diesem Zeitraum quantitativ auffallend stark vertretene historische Erzählen im engeren Sinn als erfolgreicher Modus der literarischen Selbstklassifikation reinterpretiert und nach seinen Funktionen im literarischen Diskurs gefragt werden. Vorerst erscheint es mithin fruchtbarer, zunächst literaturintem kontextuell anschließbare Text- und Textkorpusanalysen zu erstellen und die Frage nach dem Modus ihrer intertextuellen bzw. interdiskursiven wie sozialen Zurechnung nicht voreilig und kurzschlüssig zu beantworten (zur Problematik Ort 1992). Solange das wissenssoziologische Verknüpfungsproblem einer Literaturgeschichte als Sozialgeschichte und als Diskursgeschichte mehr metaphorisch eliminierbar, denn theoretisch befriedigend lösbar scheint, sind - Jörg Schönert folgend - »>Parallelaktionen< perspektivenreicher Interpretation« (Schönert 1992, 347) oder noch bescheidener: textanalytische >Datenerhebung< auf Textkorpusebene als eine der Voraussetzungen
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Wie Kebbel 1992 zur >Poetik des historischen RomansParadox< aus >Geschichte< und >Fiktion< begreift. 17
späterer Kontext-Zurechnung vorzuziehen.37 Damit kompliziert sich zugleich das Problem der weiterführenden Interpretation text(korpus)analytischer Befunde auf fruchtbare Weise; die Frage nach ihrer außerliterarischen Aussagequalität bzw. ihrer Korrelierbarkeit mit diachronischen oder synchronischen, literarischen wie nicht-literarischen, semiotischen oder sozialen Kontexten stellt sich auf andere Weise und sehr viel später.38 Dennoch wird im folgenden vereinzelt und hypothetisch aufgezeigt werden, welche literatur- und diskursgeschichtlichen Folgerungen synchroniser! wie diachronisch aus den erarbeiteten Textbefunden gezogen werden können. Um das quantitativ gehäufte Auftreten historisierenden Erzählens in der Literatur des >Realismus< überhaupt (re-)interpretieren und nicht nur (kurzschlüssig) auf literaturexteme soziale oder diskursive Kontexte zurechnen zu können, bedarf es eines literaturinternen Kontextes, der im folgenden als jener Diskurs exemplarisch rekonstruiert werden soll, der den Umgang der Literatur des >Realismus< mit >GeschichteVergangenheit< und >Zeit< semantisch organisiert - und zwar nicht nur in Texten des im tradierten Sinne historischen Erzählens. Dabei wird sowohl nach den je textintemen semantischen Strukturen und Funktionen temporaler Differenz als auch nach der je textinternen >SemiotikReferenten< und (dargestelltem) >Zeichen< zu fragen sein: Wie thematisiert diese Literatur also kollektive und individuelle Vergangenheiten Vergessen< und >Erinnemabsenter< Realität und >präsenten< Zeichen für diese >Realität