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German Pages 337 [340] Year 2001
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 84
Johannes Ullmaier
Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne Hermeneutische und kategoriale Probleme
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung der VG Wort. Die Form der Seite 197 beruht nicht auf einem technischen Versehen. Redaktion des Bandes: Georg Jäger
Meinem Vater
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ullmaier, Johannes: Kulturwissenschaft im Zeichen der Moderne: hermeneutische und kategoriale Probleme / Johannes Ullmaier. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 84) ISBN 3-484-35084-9
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: LinsenSpektrum, Mössingen Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Vorwort
Die folgenden Studien haben ihren Anlaß in der literaturhistorisch-komparatistischen Beschäftigung mit den Programmen und Erscheinungen ästhetischer Simultaneität. Obschon der Sache nach nicht erst im Modernismus virulent, gewinnt der Versuch, das Gleichzeitige darzustellen bzw. dessen Eindruck zu erzeugen, mit Beginn des 20. Jahrhunderts medienübergreifend eine eigenwertige Qualität und entfaltet in der Folge einen vielgestaltigen, in seinen Filiationen allenthalben bis in die Gegenwart hineinreichenden Traditionszusammenhang. Im Zuge seiner Sichtung traten gleichwohl - neben vielerlei Detailproblemen - zunehmend auch zwei grundsätzliche, doch eben deshalb um so häufiger und handgreiflicher spürbare Desiderate ans Licht: zum einen das gestörte Verhältnis der hermeneutischen Theorie zu Erscheinungen des (Hyper-)Modemismus und der Neuen Medien sowie zum anderen Defizite in der kulturwissenschaftlichen Kategorialisierungstheorie und -praxis. Das Bemühen, den daraus resultierenden Schwierigkeiten abzuhelfen, barg indessen ein Dilemma. Denn so unerläßlich deren Lösung oder doch zumindest Linderung für den Fortgang der konkreten Untersuchung war, so unvermeidlich mußte jede Reflexion - indem sich, was am Simultaneitätsproblem akut wurde, bald als generelleren Problemzusammenhängen zugehörig auswies - in Bereiche führen, die nicht allein den Fragenkreis der Simultaneität beträchtlich überstiegen, sondern unversehens eigene, weitere Horizonte öffneten. Aus der Frage: >Wie ist dieses oder jenes simultanistische Zeugnis angemessen zu interpretieren?< wurde so die Frage: >Welches Selbstverständnis entspräche einer Kulturwissenschaft, die jüngere und jüngste ästhetische Entwicklungen entschieden in den Blick nehmen könnte, ohne darüber ihres bisherigen Gegenstandsbereichs und Reflexionsstandes verlustig zu gehen?Wie soll man mit der disparaten Vielfalt simultanistischer Hervorbringungen verschiedenster Phasen, Schulen und Kunstgattungen sowie diversen ästhetischen und philosophischen Simultaneitätsdefinitionen umgehen, ohne die vorhandenen Beziehungen dabei entweder systematisch zu simplifizieren oder jeden Überblick zu verlieren?< wurde notwendig die Frage: >Welche Möglichkeiten hat kulturwissenschaftliche Kategorienbildung überhaupt, der - vor allem angesichts moderner Gattungsauflösung und -diversifizierung - zunehmend virulenten Komplexität gegebener Sach- und Traditionszusammenhänge praktisch zu begegnen?Paradigma< auszuweisen. Vielmehr wird es gerade darum gehen müssen, die Allgemeinheitsstufen stets - so weit das möglich ist - genau zu situieren und damit einzugrenzen. Einzig so besteht die Chance, daß die Konkretheit der Ausgangsfragen sich der Allgemeinbetrachtung fruchtbar mitteilt und sie derart zur Bewältigung konkreter Schwierigkeiten - unter anderem mit der Simultaneität - befähigt. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem Lehrer Hans-Henrik Krummacher sowie allen, denen ich wertvolle Hinweise, Kritik und Ermunterung verdanke, namentlich Roger Behrens, Sigmar Berrisch, Christoph von Campenhausen, Lutz Danneberg, Ronald Dietrich, Annette Großer, Peter Heusler, Ralf Hofacker, Bernd Klöckener, Natalja Kyaw, Ernst Pöppel, Volker Reichelt, Thomas Seebohm, Stefan Trappen, Hans Ullmaier, Hansjörg Walther, Gottfried Willems und Viktor Zmegac.
VI
Inhalt
1.
Einleitung
1
1.1.
Zur Fragestellung
1
Kulturwissenschaften und Kulturwissenschaft 1 - Hermeneutik der Moderne 3 Hermeneutiktheoretische Defizite im Umgang mit Phänomenen des (Hyper-)Modernismus und der Neuen Medien 4 - Fragen der ersten Hauptuntersuchung 5 - Das Thematischwerden kategorialer Komplexität im Zuge der Moderne 6 - Fragen der zweiten Hauptuntersuchung 7 1. 2. Einige Struktureigenheiten und Probleme aktueller Kulturwissenschaftsausdifferenzierung und ihre Rolle als pragmatische Determinanten methodologischer Intervention
9
>Zeit der Krise« 9 - Relevanzverlust der Gegenstände 9 - Relevanzverlust überkommener Darstellungsformen 11 - Wahrheit und Institution 13 - Wahrheit und Innovation 16 - Wahrheit und Profil 20 - Stil 21 - Terminologie 21 - Terminologischer Szientismus 23 - Spleen 24 - Holismus 25 - Wahrheit und M(eth)ode 26 - Konstruktion des Überwundenen 27 - Theorie als Praxis 29 - Performativer Widerspruch und >Sonntagsrede< 33
2.
Leitende Allgemeingesichtspunkte und heuristische Konventionen
2.1.
Irreduzibilität des Wertbezuges
...
39 39
Die Unvermeidbaikeit der Möglichkeit formalen Regresses in Zweck- und Wertbegründungen: allgemein und in den Wissenschaften 39 - Lokale Verbindlichkeit 40 - Die Vielschichtigkeit kulturwissenschaftlicher Wertinvolvierung 42 - Desiderat und Problematik einer allgemeinen Zweck- und Werttheorie 44 - Einige Basisunterscheidungen 44 - Wertkriterien wissenschaftlichen Vollzugs und deren Konstelliemng 47 2.2.
Evolutionäre Konstitutionsverhältnisse
49
Der Entwicklungsaspekt im wissenschaftlich Sinnvollen und Möglichen: >Selbstzeugungs-< und Rückkopplungseffekte 49 - Zwei evolutionstheoretische Termini: Emergenz und System 50 2.3.
Probleme der Kategoralisierung und Kategorienexplikation
52
Notwendigkeit und praktische Erfordernisse kulturwissenschaftlicher Kategorialisierung 52 - Gängige Aufgaben kategorialer Differenzierung 53 - Gegenstand und vn
(Äquivalenz-)Klasse 53 - Zum Status der mathematischen Adaptionen für den kulturwissenschaftlichen Vollzug 54 - Basalformen und -implikationen der Äquivalenzklassendifferenzierung 54 - Kreuzproduktbildung und Dimensionsvorstellung 56 - Lokale Dimensionsreduktion 58 - Explikation historisch-konkreter Äquivalenzklassenzuordnungen 60 - Der Scheingegensatz zwischen Historie und Systematik hinsichtlich historischer Explikationen 62 - Probleme und Möglichkeiten kriterienübergreifender metrischer Ordnungen 63 - Vernetzte lokale Karten als Strukturpendant historischer Explikation 66 2.4.
Heuristische ontologische Basiskonventionen
71
Die heuristische Vier-Welten-Teilung 71 - Die materielle Welt (Wl) 72 - Die innere Welt (W2) 73 - Die ideale Welt (W3) und ihre Spezifikationen 74 - Die Zwecke- und Wertewelt (W4) 78 - Sonderkonventionen und Realzeitspezifikationen 78 - Konventionen der Verknüpfung: Trägerschaft und Anzeichen- bzw. Spurverhältnis 79 - Materielle Trägerschaft 80 - Innere Repräsentation 81 - Ideale Repräsentation 82 - Zweck bzw. Wertdispositionen 84 - Materielle Anzeichen 84 - Anzeichen von Unbewußtem am Bewußtsein 85 - Allgemeinbegriffsidealitäten und Exemplifikationen 85 Klammeikonventionen und Konventionen hinsichtlich der Beziehung gleichgeordneter Elemente 86 - Übersicht zur Kurzschreibweise 88
3.
Erste Hauptuntersuchung: Hermeneutik der Moderne
89
3.1.
Allgemeine Konstitutionsverhältnisse
89
3.1.1. Vorhermeneutische Basiskomponenten: Realgegebenheit im Bewußtsein 90 Funktionsaspekt und >Wertbrechung< 92 - Materielle Konkretion 93 - 3.1.2. Übergang zur Hermeneutik: Anzeichen fremder Intentionalität 96 - Fremdintendierte Strukturen 97 - Exemplifikation 98 - Repräsentation 99 - Der vorgeschaltete Medialaspekt 103 Aspekt- und ganzheitsbezogene Anzeichen- und ExemplifikationsVerhältnisse 105 Außenanschlüsse 106 - 3.1.3. Übergang zur historisch-intentionalitätsgebundenen Hermeneutik: Das realsituierte Urheberbewußtsein als heuristisches Regulativ 107 Urheberintendierte Substrate 112 - Bewußte und unbewußte Urhebermotivationen 117 - Die Vielgestaltigkeit möglicher Urheberschaft 119 3.2.
Zum Kembestand der klassischen Hermeneutik
122
3.2.1. Die Vaporisierung des allgemeinen Verstehensbegriffes 122 - Zum Status der Kanones 125 - 3.2.2. Erster Kanon: Allgemeine Definition, Gegenstandsbezogener Geltungsbereich, Konzessionen ans >inferreDen Autor verstehen«: >Nacherleben authentischer Selbstaussprache«, Bewußtseinskunst, Explikation des Schaffensaktes, Genieästhetische Beschränkungen, Personaleinheitliche Autorschaft und Moderne, >Verstehen wie die Zeitgenossen« 134 - >Den Autor besser verstehen als dieser sich selbst«: Emendatio, Explikation des Impliziten, allgemeine Differenz von Explikat und Explikandum, >Wahrheit«, >Es-Selbst-Genauso-Machen-Können«, Explikation von Unbewußtem und Intentionstranszendentem 142 - Das Prinzip >non liquet« und die >Hermeneutik der Vieldeutigkeit«: Unbestimmtheit, Polyfunktionalität, Mehrdeutigkeit, Unkonkretheit, Ambiguität, Die zweifache Approximativität des Verstehens, Deutungsoffenheit, Bedeutungskonstanz und materiale Persistenz, Ambivalenz 153 - Kanontranszendente Explikation und Applikation 168 - Die evolutionäre und werthafte Fundierung kulturwissenschaftlichen Vollzugs 175 - 3.2.3. Zweiter Kanon 181 - Konstitutions- und Emergenzaspekte des Verstehensvollzugs 182 - Das >Unnennbar-Indivi-
VIII
duelle< 183 - Konstitutionsmomente des Verstehensaktes: Konventìonskenntnis, Weltwissen, Interesse 186 - Zur Theorie des Verstehensaktes: Zirkel und Evolution 188 >Teil und Ganzes< 190 - Der zweite Kanon als Verstehensregulativ und seine modernismusverträgliche Fassung 193 - Skopus 196 3.3.
Topische Gesichtspunkte ästhetischer Hermeneutik sowie einer Spezialhermeneutik des Modemismus
199
Schema 1: (ästhetischer) Erfahningsgegenstand, Dokumentation, Latenzform und Notation 201 - Schema 2: Titel/Autor(-name) 202 - Schema 3: Text 203 - Schema 4: Bild 205 - Schema 5: Photo 207 - Schema 6: Photomontage 207 - Schema 7: Collage (allgemein) 207 - Schema 8: Comic 208 - Schema 9: Stummfilm 208 - Schema 10: Tonfilm 209 - Schema 11: (Instnimental-)Musik 210 - Schema 12: (Studio-)Schallplatte 211 - Schema 13: Cyberspace 212
4.
4.1.
Zweite Hauptuntersuchung: Probleme kulturwissenschaftlicher Kategorialisierung und Modellbildung
213
Differenzen im Status kulturwissenschaftlicher Explikationen
213
Individualisierende Deskription, Allgemeinaussage, Norm, Prognose und Naturgesetz 213 - Diachronie und Synchronie 218 - Historische Erklärung: Gegebenes und Gesuchtes, notwendige und hinreichende Konstitutionsbedingungen, Holistische Reduktionen, Historische Nähebeziehungen 219 - Zur Historizität kulturwissenschaftlicher Explikationen 225 4.2.
Elementare kategoriale Differenzierungen
227
>Positive< und >negative< Kategorien 228 - Sachbezogene und holistische Binarität 230 - Sachbezogene und binaristische Diskretheit 231 - >Dialektik< 233 - Zur Differenz von falscher und holistischer Zuschreibung 234 - Hierarchisierung und gleichgeordnetes Kreuzprodukt 238 4.3.
Komplexe Kategorienkonstitution am Beispiel literarischer Gattungsbegriffe
242
4.3.1. Exposition des Problemfeldes am Beispiel des Lyrikbegriffes: Lampings Minimalkriterium 243 - Konfrontation mit der Historie 244 - Die >prinzipielle Überlegenheit historischer Zuschreibung< 246 - Zur Scheindifferenz von >essentialistischer< und >stipulativer< Definition 248 - Exemplarische Charakterisierung des >ahistorischunifizierenden Minimal-Diskretismus< 249 - Die Alternative kumulativer Begriffsbestimmung und ihre Grenzen 252 - Funktionsbezogene Allgemeindefinition und die Erstellung lokaler Karten 254 - 4.3.2. Konkretion einer metrischen Differenzierung am Beispiel der Aphorismusdefinition: Frickes Aphorismusbestimmung und ihre Problemfälle 259 - Modifikationen in der Fassung einzelner Kriterien 261 - Der aphoristische IdealpunktDas Aphoristische< und >der Aphorismus< 265 - Zur metrischen Konstellierung einer variablen Aphorismuskategorie 267 Zum Verhältnis der einzelnen Bestimmungsmerkmale 268
IX
4.4. Zur Modellierung komplexer Kategoriengeflechte am Beispiel der Erzähltheorie
271
Stanzeis Modell 272 - Dimensionsprobleme 273 - Zweimal doppelte Bestimmung: diskrete >graduelle< und abhängige >unabhängige< Merkmale 276 - Der diskret gedeutete Typenkreis 278 - Graduelle Deutungen des Typenkreises 280 - Modellbegriindung durch >dialektische Verschleifung< 282 - Allgemeine Konsequenzen: Aufgabe der Geschlossenheits- und der Erfiilltheitsdoktrin, Differenzierung möglicher Äquivalenzklassenauszeichnung, Verzicht auf globale Veranschaulichung zugunsten lokaler Erhellungen 284 - Heuristische Modellierung eines metrischen Raums zur Erzählperspektivik 286 - Exemplarische Erprobung I: die Ich-Erzählsituation 287 - Exemplarische Erprobung Π: >auktoriale< Formen 290 - Exemplarische Erprobung III: der >Weg< von der auktorialen zur personalen Sphäre 292 - Exemplarische Erprobung IV: Übertritt in die Bewußtseinssphäie 294 - Lokale Beugungen, fragile Fälle und Unmögliches 296 - Zur Frage der Darstellung 298
5.
Literatur
303
6.
Personenregister
321
X
1. Einleitung
1.1. Zur Fragestellung Kulturwissenschaften und Kulturwissenschaft Wenn von Kulturwissenschaft heute - anders als zu Heinrich Rickerts Zeiten - meist in Pluralform gehandelt wird, so scheinen Gegenstand und Zugangsmodus davon gleichermaßen affiziert: Aus >der Kultur< wurden >Kulturendie Methode< wurde zum >MethodenstreitAndersheit< akut wird, just der Allpräsenz eines de facto unifizierenden Sogs hin zum >globalen Dorf< geschuldet ist, sowie - in der Methode - insofern, als das, was sich als jeweils jüngste Kontroverse führt, der Sache nach oft alt, wenn nicht gar uralt ist, so steht die aktuelle Konjunktur der Rede von >Kulturwissenschaften< dennoch ganz im Zeichen des Pluralen - freilich um den Preis, daß dieser Terminus diffus bleibt. Dies Diffuse tritt hervor, sobald man fragt, worin der programmatische Schwerpunkt liegt. Besteht er - in der Übernahme dessen, was in der anglo-amerikanischen Welt - ebenfalls im Plural und vergleichbar diffus 1 - unter >Cultural Studies< firmiert? - in der Öffnung alter Disziplinen für die neuen Medien,2 sei es, daß man deren Inhalte und Formen nach bewährtem Muster analysiert, oder sei es, daß man seine Analysen selbst so rasch wie möglich und am besten hypertextuell und -medial ins Internet verlagert?3 - in der entschiedenen Integration von (Post-)Moderne und/oder Popkultur? - in der Stärkung postpatriarchaler und/oder postkolonialistischer Tendenzen? - in einer neuen wechselseitigen Erhellung der Künste