Zechen und Bechern: Eine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens 9783896789792

»So lasset uns guter Dinge sein, fressen und saufen, denn morgen sind wir tot«, kann man schon in der Bibel lesen. Der M

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German Pages 160 [162] Year 2011

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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
TRINKEN‚ UM ZU ÜBERLEBEN
Vom Mangel und vom Überfluss: Das Trinkwasser
Säugetier Mensch: Die Trinkmilch
TRINKEN‚ UM ZU GENIESSEN
Genuss aus dem Orient: Der Kaffee
Genuss aus Asien: Der Tee
Genuss aus der Neuen Welt: Die (Trink-)Schokolade
Neue Abhängigkeiten: Trinken als ‚Versuchung‘
TRINKEN‚ UM SICH ZU BERAUSCHEN
Ein Erbe der Antike: Der Wein
Nordisches Volksgetränk: Der Most
Flüssiges Nahrungsmittel: Das Bier
Aus der Büchse der Pandora: Die Spirituosen
IM RAUSCH DER SINNE
„Trink, Brüderchen, trink!“: Die Geburt des Alkoholismus
Maßhalten: Die Temperenzbewegung
Trinkfeste Herren und züchtige Damen: Wer trinkt wo
Trinkkultur und Trinkkonsum: Versuch einer Bilanz
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
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Zechen und Bechern: Eine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens
 9783896789792

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Zechen und Bechern

[G E S C H I C H T E E R Z Ä H LT] Herausgegeben von Kai Brodersen, Uwe A. Oster, Thomas Scharff und Ute Schneider Bd. 1, Die Welt Homers, isbn 978-3-89678-319-6 Bd. 2, Hexenjagd in Deutschland, isbn 978-3-89678-320-2 Bd. 3, Der königliche Kaufmann oder wie man ein Königreich saniert, isbn 978-3-89678-324-0 Bd. 4, Zechen und Bechern. Eine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens, isbn 978-3-89678-323-3

Daniel Furrer

Zechen und Bechern Eine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens

[G E S C H I C H T E E R Z Ä H LT]

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Meiner Mutter gewidmet

]

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2006 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Titelbild: Trinkender Bacchusknabe, um 1623, Guido Reni (1575–1642), Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Foto: akg-images Layout: Petra Bachmann, Weinheim Gestaltung und Satz: Johannes Steil, Karlsruhe Printed in Germany www.primusverlag.de isbn-10: 3-89678-323-8 isbn-13: 978-3-89678-323-3

Inhalt 7 Einleitung

Trinken‚ um zu überleben 10 Vom Mangel und vom Überfluss: Das Trinkwasser

25 Säugetier Mensch: Die Trinkmilch

Trinken‚ um zu genießen 36 Genuss aus dem Orient: Der Kaffee

53 Genuss aus Asien: Der Tee

63 Genuss aus der Neuen Welt: Die (Trink-)Schokolade

71 Neue Abhängigkeiten: Trinken als ‚Versuchung‘

Trinken‚ um sich zu berauschen 80 Ein Erbe der Antike: Der Wein

94 Nordisches Volksgetränk: Der Most

102 Flüssiges Nahrungsmittel: Das Bier

113 Aus der Büchse der Pandora: Die Spirituosen

Im Rausch der Sinne 122 „Trink, Brüderchen, trink!“: Die Geburt des Alkoholismus

129 Maßhalten: Die Temperenzbewegung

139 Trinkfeste Herren und züchtige Damen: Wer trinkt wo

147 Trinkkultur und Trinkkonsum: Versuch einer Bilanz

154 Anmerkungen

157 Literatur

160 Bildnachweis

Einleitung

er Mensch hat es verstanden, Bedürfnisse wie Essen und Trinken aus dem Rahmen des Existenziellen herauszulösen und zu „kultivieren“. Das zeigt sich unter anderem bei der Milch: Die erste Nahrung, das erste Getränk, mit dem der Mensch in Kontakt kommt, ist die Muttermilch. Sie sichert dem Säuger homo sapiens in seinen ersten Lebensmonaten das Überleben. Dabei zeichnet sich der Mensch durch eine einzigartige Verhaltensweise vor den anderen Säugetieren aus: Er nimmt Milch selbst noch im Erwachsenenalter zu sich.

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Ebenso ungewöhnlich ist der Umgang mit einem anderen „Lebenssaft“: dem Wasser. Kein Lebewesen kommt ohne Wasser aus, der Mensch jedoch „veredelt“ oder ersetzt Wasser. Schon früh in der Menschheitsgeschichte wurde die berauschende Wirkung des Alkohols entdeckt – er wurde zum festen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Der Alkoholkonsum wurde sowohl in religiöse Zeremonien eingebunden als auch strengen sozialen Kontrollmechanismen unterworfen; schon der griechische Philosoph Platon (427–347 v. Chr.) lässt einen der Protagonisten im Symposion (Das Gastmahl) konstatieren, „daß die Trunkenheit ein schädliches Ding für die Menschheit ist“.1 Zur Zeit Platons waren die Genussmittel Kaffee, Tee und Trinkschokolade noch nicht bekannt. Sie fanden erst im Gefolge

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Einleitung

der Entdeckung Amerikas und der Kolonialisierung in Übersee in Europa Verbreitung. Die wahrscheinlich tief greifendste Veränderung im Trinkverhalten brachte eine revolutionäre Erfindung: das Verfahren der Destillation. Sie machte es möglich, den natürlichen Alkoholgehalt von Getränken deutlich zu erhöhen. Die Spirituosen – Branntwein, Schnaps, Rum, Whiskey & Co. – betraten die Bühne der Geschichte. Mit verheerenden Folgen: Der schnelle Rausch, der Rausch als Massenphänomen und die Alkoholsucht gehörten von nun an zu den Problemen der Gesellschaft. Die Sprache spiegelt diesen kulturellen Wandel; zahlreich sind die redensartlichen Wendungen für übermäßiges Trinken und die Folgen. Einen intus haben, Schlagseite haben, einen Affen haben, einen sitzen haben, einen auf der Latte haben, einen in der Krone haben – das sind nur ein paar Beispiele. „Kein anderes Redensarten-Feld zeigt so sehr die metaphorische Kraft der Volkssprache, einen solchen Reichtum von Anschauungsweisen, immer neue Ausdrucksmöglichkeiten und Weiterbildungen“2, so das Fazit des Sprachforschers Lutz Röhrich. Eine Kulturgeschichte des Trinkens ist kein absonderliches Unterfangen, sondern berührt zentrale Bereiche der Gesellschaft sowie der Politik und auch der Wirtschaft. Wer vermutet schon, dass Kaffee nach Erdöl das zweitwichtigste Welthandelsprodukt der Gegenwart ist? Das Thema scheint freilich unerschöpflich, jedenfalls kaum auf 160 Seiten erschöpfend zu behandeln – und so bitte ich die geneigten Leser um Verständnis dafür, dass die folgende kleine Kulturgeschichte des Trinkens und Betrinkens mit Mut zur Lücke geschrieben ist. Gleichwohl sucht sie einen Überblick zu bieten und enthält eine Fülle von Details und auch Kuriosa für eine hoffentlich unterhaltsame Lektüre.

Trinken‚ um zu überleben Ohne Wasser kann kein Leben entstehen, keine Kultur sich entwickeln. Wasser in ausreichender Menge und guter Qualität war von jeher Voraussetzung für die Gesundheit des Menschen.

Vom Mangel und vom Überfluss: Das Trinkwasser

asser ist der Anfang von allem, wusste bereits Thales (um 624–546 v. Chr.), einer der sieben Weisen. Richtig ist, dass Wasser für die Entstehung des ersten Lebens von entscheidender Bedeutung war, was heute noch sichtbar ist: Der menschliche Körper besteht zu drei Vierteln aus Wasser wie auch ein Großteil seines Lebensraums: 70 Prozent der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Das macht die Erde aus dem Weltall betrachtet zum „blauen Planeten“, einem einzigartigen Lebensraum, wie es ihn in unserem Sonnensystem

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nur einmal gibt. Wasser ist ein ganz besonderer Stoff, was angesichts seines großen Vorkommens immer wieder vergessen wird: Gebaut aus zwei Atomen Wasserstoff und einem Atom Sauerstoff, verändert es seinen Aggregatzustand je nach Temperatur. Bei null

Lebenselixier Wasser

Je nach geographischer Lage wird Wasser aus Grund-, Oberflächen- (Seen, Rieselanlagen) oder Regenwasser gewonnen. Bei Grundwasser unterscheidet man je nach Herkunft zwischen Quellwasser und Uferfiltrat. Die Qualität des Trinkwassers wird nach der sensorischen, chemischen und bakteriologischen Beschaffenheit bewertet.

Vo m M a n g e l u n d v o m Ü b e r fl u s s

Grad Celsius gefriert es zu Eis und geht bei 100 Grad Celsius in Wasserdampf über. Zwischen Gefrier- und Siedepunkt ist es flüssig. Wasser ist zudem nicht einfach gleich Wasser: Nur ein verschwindend geringer Teil der riesigen Wassermengen auf der Erde, knapp drei Prozent, sind Süßwasser. Davon ist der größte Anteil (69 Prozent) an den Eiskappen am Nord- und Südpol und in Gletschern der Gebirge gebunden. Doch was in Seen und Flüssen an Süßwasser bleibt und was der Regen an trinkbarem Nass bringt, ist theoretisch mehr als genug, um den Bedarf an Trinkwasser zu decken. Trinkwasser steht jedoch nicht überall auf der Welt in gleicher Menge zur Verfügung. Das hat die Geschichte der Menschheit zutiefst geprägt: Das „Wasserwesen“ Mensch ist auf eine regelmäßige Aufnahme von Wasser angewiesen. Sinkt der Wassergehalt zu sehr, gerät der menschliche Stoffwechsel durcheinander. Bereits bei einem Wasserdefizit von einem halben Prozent des Körpergewichts verspürt man Durst. Bei fünf Prozent tritt leichtes Fieber ein, bei acht Prozent bilden die Drüsen keinen Speichel mehr und die Haut färbt sich blau; bei zehn Prozent kann der Mensch nicht mehr laufen und bei zwölf Prozent schwebt er in Lebensgefahr. Die tägliche Aufnahme von Wasser ist für den Menschen deshalb unabdingbar. Das gibt Trinkwasser im Unterschied zu allen anderen Getränken eine Sonderstellung: Wasser ist lebensnotwendig. Wir müssen Wasser trinken, um nicht zu verdursten. Wasser hat den Gang der Geschichte nachhaltiger beeinflusst als jedes andere Getränk. An Orten, an denen Wasser knapp war, wo die Suche nach Trinkwasser zu einer langwierigen und zeitraubenden Angelegenheit wurde, ist in der Regel keine hochentwickelte Zivilisation entstanden. Die bedeutenden Hochkulturen – in Ägypten, Mesopotamien, China – bildeten sich alle in der Nähe wichtiger Flüsse heraus. Plakativ ge-

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sagt: ohne Wasser keine Kultur, ohne Wasser keine Macht. Rein mengenmäßig spielte die Bewässerung dabei die Hauptrolle, denn sie sicherte eine Landwirtschaft, die reiche und regelmäßige Ernten abwarf. Die Versorgung mit Trinkwasser war vom Umfang weniger wichtig, aber wenn sie zusammenbrach, wurde jeder noch so hoch technisierten Zivilisation wieder bewusst: Durst kommt vor Hunger.

Wasserversorgung in der Antike

Mit der Zivilisation tat sich ein Teufelskreis auf: Die ersten Hochkulturen waren Stadtkulturen; viele Menschen lebten auf engstem Raum zusammen. Zivilisationsmüll, Abfall und Fäkalien wurden bald zu einem Problem. Gewässer wurden verschmutzt, Trinkwasser ungenießbar oder mit gefährlichen Stoffen – Krankheitserregern, Giften, Schwermetallen – an-

Wasserleitungen beförderten frisches Wasser aus dem Umland direkt nach Rom. Die Leitungen verliefen zum größten Teil unter der Erde. Verliefen sie jedoch überirdisch, wie dieses Gemälde von Z. Diemer aus dem Jahr 1914 zeigt, so boten sie einen imposanten Anblick. Zeitgenossen zählten die Wasserleitungen deshalb auch zu den spektakulärsten Bauwerken Roms.

Vo m M a n g e l u n d v o m Ü b e r fl u s s

gereichert, die Krankheiten und Epidemien auslösen konnten. Typhus, Ruhr und Cholera, aber auch Bleivergiftungen waren typische Zivilisationskrankheiten. Die Geschichte des Trinkwassers ist deshalb auch eine Geschichte der Seuchen. Besonders hohen Risiken war das Leben in der Stadt unterworfen. Hier starben in der Summe mehr Menschen an Krankheiten oder Seuchen, die durch verschmutztes Trinkwasser übertragen worden waren, als in allen kriegerischen Konflikten zusammen. Im antiken Rom war man sich der Gefahren durch verseuchtes Trinkwasser bewusst und verstand es, die auftretenden Probleme in einer Weise zu lösen, wie es erst der modernen Industriegesellschaft wieder möglich sein sollte. Nachdem die Römer das Wasser jahrhundertelang aus dem Tiber, aus Schöpfbrunnen oder Quellen entnommen hatten, markierte das Jahr 312 v. Chr. einen entscheidenden Wendepunkt in der römischen Wasserversorgung. In diesem Jahr ließ der censor Appius Claudius Caecus die erste Wasserleitung Roms erbauen: Die Aqua Appia brachte Wasser von sehr guter Qualität aus den Quellen im Tal des Anio nach Rom, rund 73 000 Kubikmeter pro Tag. Beeindruckt von der technischen Meisterleistung der Wasserversorgung in Rom, schreibt bereits Plinius d. Ä. (ca. 23–79): Doch wer die Fülle des Wassers sieht, das so geschickt in die Stadt geleitet wird, um öffentlichen Zwecken zu dienen – Bä-

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dern, Häusern, Rinnsteinen, Vorstadtgärten und Villen; wer die hohen Aquädukte betrachtet, die erforderlich sind, um die richtige Beförderung zu garantieren; wer an die Berge

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denkt, die deshalb durchstoßen, und die Täler, die aufgefüllt werden mussten, der wird zugeben, dass der Erdkreis nichts Bewunderungswerteres aufzuweisen hat.1

Insgesamt wurden bis in das Jahr 226 n. Chr. elf Wasserleitun-

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gen gebaut, die alle Teile der Stadt mit Wasser versorgten. Man geht davon aus, dass Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. bereits ein Wasserdargebot von rund 600 000 Kubikmetern Frischwasser täglich zur Verfügung stand – bei damals rund einer Million Einwohner ergibt das die stattliche Pro-Kopf-Menge von 600 Litern.2 Zur Zeit der Plünderung Roms durch die Goten im Jahre 410 n. Chr. versorgten die elf Wasserleitungen, die teils unterirdisch und teils oberirdisch über Aquädukte geführt wurden, 1212 Brunnen, elf große kaiserliche Thermen und 926 öffentliche Bäder in der Weltstadt. Wasser war für die Bevölkerung kostenlos. Teuer bezahlt werden musste dagegen für die Konzession privater Anschlüsse – auch eine Wasserzuleitung zu Privathäusern mussten die jeweiligen Eigentümer selbst finanzieren. Die Mehrzahl der Römer holte sich das Wasser aus Becken oder Laufbrunnen, die so flächendeckend angelegt waren, dass sich der nächste Brunnen in der Regel in einem Umkreis von 200 bis 250 Metern fand. Wer das Wasser nicht selbst holen konnte oder wollte, der nahm die Dienstleistung eines so genannten aquarius, eines Wasserträgers, in Anspruch.

Trinkwasser im Mittelalter

Das Mittelalter konnte nicht an dieses hohe Niveau anknüpfen. Die Wasserversorgung funktionierte weitgehend über Schöpfoder Ziehbrunnen. Sie waren schachtartig in den Untergrund eingelassen und enthielten Sicker- oder Grundwasser. Von diesen Nutzbrunnen gab es Tausende in mittelalterlichen Städten. Sie bestimmten die Wasserversorgung – freilich in technisch abgeänderter Form – bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Während der Großen Pest in Europa im Jahr 1347/48 wurde eine Reihe dieser Schöpfbrunnen in aller Eile zum Schutz

Vo m M a n g e l u n d v o m Ü b e r fl u s s

vor vermeintlichen Brunnenvergiftern übermauert und mit einem schmalen Zugang versehen, der nachts verschlossen gehalten werden konnte. Als besonders gefährdet galten Schöpfbrunnen, die auf Straßen und öffentlichen Plätzen standen und für jedermann zugänglich waren. Die Angst vor einer Brunnenvergiftung als Quelle einer Epidemie ist alt. Der griechische Geschichtsschreiber Thukydides (ca. 455–400 v. Chr.) führte das Auftreten einer schweren Seuche in Attika auf sie zurück, und auch die Kreuzritter sahen die Ursachen für die nicht abreißen wollenden Epidemien im Heiligen Land in dem Brunnenwasser, das von den Sarazenen angeblich vergiftet worden sei. Im Jahr 1313 bezichtigte man in Frankreich die Aussätzigen der Brunnenvergiftung und verbrannte sie auf Befehl König Philipps des Schönen (1268–1314) im ganzen Land. Als man die Juden anklagte, die Brunnen zu vergiften, weil sie damit die gesamte Christenheit vernichten wollten, folgten auf die ersten Pesttoten im Jahr 1348 die Lynchmorde an Juden. Den Gegenbeweis vermochten die Verfolgten nicht anzutreten, denn für eine objektive Beurteilung der Wasserqualität fehlten sowohl maßgebende Kriterien als auch verlässliche Prüfmethoden.

Maßnahmen gegen Verunreinigungen des Trinkwassers

Systematische bakteriologische und chemische Analyseverfahren, wie sie heute gebräuchlich sind, waren in früheren Jahrhunderten noch unbekannt. Trinkwasser wurde nach Herkunft, äußerem Erscheinungsbild, Geschmack und Wirkung auf den Menschen unterschieden und in bestimmte Kategorien eingeteilt. In diesem Zusammenhang schrieb der sächsische Arzt Georgius Agricola (1494–1555), einer der bedeutendsten Natur-

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forscher der Frühen Neuzeit, in seinem vierbändigen Werk Über die Natur der Dinge, die aus der Erde hervorquellen (1545): Vier Sinne hat die Natur dem Menschen gegeben, mit denen man die Mischungen der Wässer aufnehmen und über sie ur-

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teilen kann, Gesicht, Geschmack, Geruch und Tastsinn. Die meisten nimmt man mit den Augen wahr, viele mit der Zunge, mit der Nase dagegen nur wenige, mit dem Tastsinn

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in der Regel nur die durch Einwirkung von Wärme und Hitze gekennzeichneten.3

Agricola gab daher einem Brunnen- oder Quellenprüfer den Rat, nicht nur das Wasser zu kosten, sondern auch den Bodensatz zu prüfen:

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Wenn sich nichts abgesetzt hat, dampft er das Wasser ab; wenn es verdampft ist, betrachtet, kostet, verbrennt, beriecht er das, was am Boden des Gefäßes sich gesetzt hat, und pflegt

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alles auf das Genaueste zu untersuchen.4

Als Trinkwasser nahm man mit Vorliebe kühles, sauerstoffreiches Wasser. Dabei wurde darauf geachtet, dass es aus Fließgewässern, also aus Quellen und Wasserläufen kam. Sofern das Wasser Trübungen aufwies, ließ es sich im Notfall je nach Art der Verunreinigung durch Belüften, durch Filtern oder einfach durch Stehenlassen in Absetzbecken reinigen. Im Orient geschah dies unter Zugabe von Mandelkernen. In den südlichen, wasserarmen Gebieten wurde das Regenwasser in Zisternen gesammelt und durch Sandfilter gelassen. Am sichersten war es, sich auf Erfahrungswerte zu verlassen. Eine erfrischende Quelle, ein sauberer Bach war den Ansässigen bekannt und gerne suchte man solche Orte auf oder siedelte sich in unmittelbarer Nähe an. Berggebiete ganz allgemein waren für ihren Reichtum und ihre Wasserqualität bekannt. „Doch beym Drey-

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schlatt da hat es das herrlichste Quellwasser; und wir in unserm Haus und Scheur aneinander hatten einen Brunnen, der nie gefror“5, wusste Ulrich Bräker (1735–1798), der weit über seine Heimat bekannte „arme Mann aus dem Toggenburg“, stolz zu verkünden. Aus bakteriell verunreinigtem Wasser lässt sich durch Abkochen oder durch Zugabe von Mitteln, die aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung und ihres Säuregehaltes eine keimtötende Wirkung besitzen, Trinkwasser machen. Der Nürnberger Arzt Hermann Schedel (gest. 1485) empfahl neben Abkochen die Zugabe von saurem Apfelwein oder Berberitzensirup sowie den Verzehr von Knoblauch, Zwiebeln oder mit Essig versetztem Lattich. Wer es sich leisten konnte, „neutralisierte“ das Wasser mit Wein. In München wie in anderen Städten war das Wasser bis weit ins 19. Jahrhundert derart schlecht, dass man Besucher vor dem Genuss warnte. Als Gottfried Keller (1819–1890) im April 1840 nach München kam, um Landschaftsmaler zu werden, wurde ihm gesagt, er solle sich ans Biertrinken halten, um dem Unterleibstyphus, der fast jeden Neuankömmling befalle, zu entgehen. Der trinkfreudige Zürcher befolgte diesen Rat nur allzu gern, erkrankte jedoch trotzdem bereits im August an „Schleimfieber“ (d. h. Typhus), dem er aber glücklicherweise nicht erlag. In den Städten, ob groß oder klein, war die Wasserversorgung wie die Abwässerbeseitigung ein elementares Problem. Im Mittelmeergebiet legte man lange Wasserleitungen, die klares (Berg-)Wasser zu den Städten brachten. Aber da das Grundwasser in der Regel verseucht war, blieben die Brunnen weiterhin gefährlich und „wassergeborene“ Krankheiten wie Typhus oder Cholera an der Tagesordnung. Eine Verbesserung habe, so meint der französische Historiker Pierre Chaunu (1923), das

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Teetrinken gebracht. Es habe einen Rückgang der Sterblichkeit zur Folge gehabt, weil für die Zubereitung von Tee das Wasser abgekocht werden musste und damit Infektionskeime abgetötet wurden. Der Breslauer Botaniker Ferdinand Cohn (1828–1898) erforschte die in verschmutzten Gewässern und in Abwässern auftretenden Organismen systematisch, unter anderem im Jahr 1852 während der Cholera-Epidemie in Breslau. Gesicherte Erkenntnis, dass Mikroorganismen Epidemien hervorrufen konnten, erlangte man jedoch erst mit den Experimenten, die Robert Koch (1843–1910) durchführte. Was früh im Zusammenhang mit anderen Seuchen erahnt worden war, erhielt nun eine klar fassbare Ursache: Mikroorganismen im Trinkwasser sind keine harmlose Zutat wie eine Made in einer Pflaume. Die Trinkwasserreinigung wurde in der Folge zu einem wichtigen Instrument gegen die Ausbreitung von Seuchen.

Fließendes Wasser: bequemer Direktanschluss

Während sich in hygienischer und seuchenprophylaktischer Hinsicht im späten 19. Jahrhundert eine eigentliche Revolution vollzog, fand man hinsichtlich des Komforts erst jetzt wieder den Anschluss an die Antike. Die Versorgung mit fließendem Wasser brach sich in den städtischen Zentren langsam Bahn. Die Entwicklung vollzog sich nicht überall mit dem gleichen Tempo. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ruhte in Paris die Wasserversorgung noch immer buchstäblich auf den Schultern der rund 20 000 Wasserträger. Bis zum Jahr 1848 waren rund 5300 Häuser an das rudimentäre städtische Wasserleitungsnetz angeschlossen. Es war eine Bequemlichkeit, die ihren Preis hatte und die sich nur die

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Wasss erträger in Paris

In Paris kauft man das Wasser“, berichtet der französische Schriftsteller Louis Sébastien Mercier (1740–1814) in seiner Pariser Stadtgeschichte. „Die öffentlichen Brunnen sind so selten und so schlecht instand gehalten, dass man auf das Flusswasser zurückgreift. Kein Bürgerhaus ist mit ausreichendem Wasser versorgt. Zwanzigtausend Wasserträger steigen von morgens bis abends mit zwei Eimern vom ersten bis zum siebten Stockwerk und manchmal noch höher; die Tracht Wasser kostet sechs Liards oder zwei Sols. Wenn der Wasserträger kräftig ist, macht er den Gang dreißigmal am Tag. Ist der Fluss trübe, trinkt man trübes Wasser. Man weiß nicht genau, was man da schluckt; aber man trinkt immerhin: Demjenigen, der es nicht gewöhnt ist, entkräftet das Seine-Wasser den Magen. Den Fremden bleibt fast nie die Unpässlichkeit einer leichten Diarrhö erspart; sie könnten sie aber vermeiden, wenn sie als Vorsichtsmaßnahme einen Esslöffel guten weißen Essigs jedem Schoppen Wasser beimengten.“

Wohlhabenderen leisten konnten. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte sich das „l’eau-à-l’étage“ in Paris durch. Die Versorgung mit fließendem Wasser brachte eine Verhaltensänderung mit sich: Das ehemals kostbare Nass wurde stärker verbraucht, weil es mit weniger Aufwand und geringeren Kosten zu bekommen war. Rasch wurde Wasser zu einem profanen Verbrauchsgut. Diese Entwicklung hat sich stetig gesteigert. Heute geht die moderne Industriegesellschaft mit Wasser äußerst verschwenderisch um: Zum Duschen, zum Waschen und zur Spülung der Toilette wird bedenkenlos Trinkwasser gebraucht, das in der Regel in Kläranlagen aufwendig gereinigt wird. Im Schnitt verbraucht ein Europäer zwischen 130 und 170 Liter Trinkwasser pro Tag. Der gedankenlose Verbrauch ist das Eine, die ge-

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dankenlose Verschmutzung das Andere. Besonders viel Wasser verbraucht die Landwirtschaft, die einen Großteil des Süßwassers für sich beansprucht und gleichzeitig mit einem immer noch zu hohen Einsatz von Pestiziden das Grundwasser verseucht. Von der Verschlechterung der Trinkwasserqualität hat vor allem die Mineralwasserbranche profitiert. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Ein Italiener trank 2003 im Jahr durchschnittlich 203, ein Franzose 149, ein Deutscher 129, ein Schweizer 110 und ein Brite 34 Liter Mineralwasser. Die Popularität der Mineralwässer ist ein globales Phänomen: Weltweit gibt es rund 3000 Marken, und die großen Nahrungsmittelkonzerne kämpfen verbissen darum, ihren Absatzmarkt stetig zu vergrößern. Minee ralwasser und andere Wässer

Die besonderen Anforderungen an Mineralwasser sind seine natürliche Reinheit und sein ernährungsphysiologischer Wert. Diese Kriterien müssen wissenschaftlich belegt und amtlich anerkannt sein. Sie hängen letztlich von der Art und Menge der gelösten Stoffe und die wiederum von der geologischen Eigenart der Quellregion ab. Ein weiteres Merkmal ist die Kohlensäure: In Deutschland wird allgemein stark kohlensäurehaltiges Mineralwasser (6–9 g Kohlensäure pro Liter) bevorzugt. Für Quellwasser gelten nicht so strenge Reinheitsanforderungen wie für Mineralwasser; ernährungsphysiologische Eigenschaften werden nicht berücksichtigt. Bei Tafelwasser handelt es sich um eine Art ,nachgemachtes‘ Mineralwasser: Normalem Trinkwasser werden Mineral- und Kochsalze zugegeben.

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Mineralwässer und andere Getränke

In früheren Zeiten wurden Mineralwässer direkt an den Kurorten, die sehr häufig auch Badeorte waren, getrunken. Im 18. Jahrhundert begann man damit, die Qualität der Mineralwässer chemisch zu analysieren, um ihren medizinischen Nutzen fassen zu können. Wusste man einmal, welche Inhaltsstoffe die Wässer enthielten, war es ein kleiner Schritt, Mineralwasser auch auf künstlichem Weg herzustellen. Joseph Priestley (1733– 1804), dem bedeutenden englischen Chemiker, gelang es, Wasser mit Sauerstoff anzureichern. 1772 publizierte Priestley eine Schrift mit dem Titel Impregnating Water with Fixed Air. Das Sodawasser war erfunden, dessen kommerzielle Nutzung jeSchw w eppes und Malaria

Die Bezeichnung „Indian Tonic Water. Limonade, chininhaltig“ auf jedem Schweppes-Tonic-Water-Etikett weist auf Schweppes geniale Idee hin, die damals zur Malariaprophylaxe benutzte, aber lästige Chinintablette in etwas Limettensaft und Tonic Water aufzulösen. Die in Indien stationierten Kolonialoffiziere nahmen das Getränk begeistert an. Schon bald erwies sich das Getränk im ganzen Commonwealth als enormer Erfolg. Schweppes gelang es sogar königlicher Hoflieferant zu werden.

doch andere übernahmen. Johann Jacob Schweppe (1740– 1821) erfand 1765 einen Apparat, der normales Wasser zu Sprudel machte. 1783 gründete er zunächst in Genf, dann in der Drury Lane in London seine Fabrik zur Herstellung von Sodawasser. Heute gehört Schweppes wie Coca-Cola zu den meist verbreiteten Getränken in Europa und der Welt. Dass Mineralwasser direkt in den verschiedenen Badeor-

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Tr i n k e n ‚ u m z u ü b e r l e b e n

ten getrunken wurde, hatte eine einfache Bewandtnis: Das Abfüllen in Glasflaschen war lange Zeit die Ausnahme und nicht die Regel, der Transport über weite Strecken eine logistische Herausforderung. Wenn wir uns heute Getränke in ganz bestimmten Behältnissen vorstellen, die wir überall mitnehmen können, so vergessen wir darüber, dass die Verpackung eine junge Geschichte hat. Dies trifft in einem doppelten Sinn zu: Einerseits wird in der modernen Konsumgesellschaft eine Verpackung häufig nur einmal benutzt. Die Dose Cola oder die Kunststoffflasche (PET-Flasche bzw. die Polyethylenterephthalat-Flasche) landet einfach im Abfall. Andererseits hat erst die Industriegesellschaft die billige und massenhafte Verpackung möglich gemacht. Im Mittelalter, wo Fensterglas ein Luxus war, wäre die Trinkflasche aus Glas eine Sensation gewesen. Auch Cocaa -Cola: Ein Süßgetränk erobert die Welt

Coca-Cola ist zum Symbol des westlichen Lebensstils geworden. Um das koffein- und kohlensäurehaltige Süßgetränk ranken sich zahllose Legenden. John Stith Pemberton (1831– 1888), ein Pharmazeut aus Atlanta, braute aus Wein, Kolanüssen, Damiana und einem Extrakt aus den Blättern der Kokapflanze einen Sirup als Mittel gegen Müdigkeit, Kopfschmerzen und Depressionen, das er Pemberton’s French Wine

Coca nannte. Mit Sodawasser gemischt wurde der Sirup erstmals am 8. Mai 1886 als Medizin in Jacob’s Pharmacy in Atlanta für 5 Cent pro Glas verkauft. Zufälle, geschicktes Marketing, Zeitgeschmack und das wirtschaftliche und soziale Umfeld machten aus Coca Cola ein Volksgetränk. In Amerika verdankt Coca Cola seinen Siegeszug nicht zuletzt der Prohibition, die den Alkohol in den Untergrund verbannte. Den endgültigen Durchbruch brachte dann der Zweite Weltkrieg.

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der Wein wurde in Fässern gelagert. Erst Rohstoffknappheit führte dazu, dass Wein in Flaschen abgefüllt wurde: In England war nämlich Holz aufgrund des Raubbaus knapp geworden, und man verlegte sich darauf, den Wein in Flaschen einzukellern. Nur langsam machte man aus der Not eine Tugend: Glasflaschen sind relativ schwer und können leicht zerbrechen, der Transport war deshalb ein heikles Geschäft. Aber auf die Dauer setzte sich die Glasflasche nicht nur in England bei Wein und anderen Getränken durch, sondern auch im restlichen Europa. Dabei spielte die Ästhetik eine immer wichtigere Rolle. Das erklärt auch, warum das durchsichtige Weinglas im 16. Jahrhundert den irdenen Becher oder den Pokal aus Metall zu ersetzen begann. Man wollte sehen, was man trank, zumal die Farbe des Weines viel über seine Güte verraten konnte. Weil dem Mineralwasser die Farbe fehlte, musste es sich in anderer Form der Ästhetik unterwerfen. Die Flaschenform sollte in erster Linie zum Verkauf animieren: Der Inhalt hatte sich über die Verpackung zu verkaufen. Die grüne bauchige Perrier-Flasche bietet das klassische Beispiel, die Cola-Flasche die Vollendung dieser Marketingstrategie. „Mobiles“ Wasser hätten sich die Seeleute gewünscht. Auf langen Schifffahrten stellte die Versorgung mit Trinkwasser ein großes logistisches Problem dar, denn Meere sind eigentliche Wasserwüsten. „Water, water everywhere, nor any drop to drink“, schrieb Coleridge in the Rime of the Ancient Mariner.7 Auf hoher See zu verdursten ist nicht selten vorgekommen, und so war die Mitnahme von genügend Trinkwasser unabdingbar. Einige der großen portugiesischen Schiffe waren mit hölzernen Behältern ausgerüstet, die bei schlechtem Wetter leicht mit Regenwasser gefüllt werden konnten. Die meisten europäischen Schiffe benutzten jedoch Fässer zur Aufbewahrung ihres Wasservorrates. Wasser in Fässern neigt jedoch dazu, rasch schlecht

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zu werden. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchgeführten wissenschaftlichen Seeexpeditionen suchten die Trinkwasserversorgung mit Hilfe von Destillationsapparaten zu sichern. Durch die Filtration von Seewasser durch einen Sandoder Schotterfilter und eine nachträgliche chemische Behandlung mit Knochenasche, Silbernitrat oder pulverisierter Kreide schmeckte das Wasser jedoch so ekelhaft, dass sich die Leute weigerten, es zu trinken. James Lind (1716–1794), der große Pionier in der Bekämpfung von Skorbut, entwickelte schließlich einen Apparat, mit dem aus 256 Litern Seewasser in fünf Stunden 193 Liter Trinkwasser gewonnen werden konnten. James Cook führte auf seiner zweiten Reise um die Welt (1772–1775) eine verbesserte Version dieses Destillationsapparates mit sich. Aber selbst jetzt vermochte man damit nur einen geringen Teil des benötigten Trinkwassers zu produzieren. Erst mit dem Aufkommen der Dampfschiffe gelang es, Vorrichtungen einzubauen, die die geforderten Leistungen erbringen konnte. Seit 1881 gehörten sie auf englischen Schiffen zum Standard. Die Gewinnung und Verteilung von sauberem Trinkwasser ist in den Industriestaaten gesichert. Weltweit gesehen ist sauberes Trinkwasser hingegen bereits heute ein äußerst rares Gut. Dieser Trend wird sich verstärken. Es scheint sicher, dass künftige kriegerische Konflikte immer häufiger auch um Wasser geführt werden. Lebensspendendes Wasser zu besitzen bedeutet damals wie heute Macht.

Säugetier Mensch: Die Trinkmilch

ilch war als Nahrungsmittel zu allen Zeiten wichtig; in früheren Gesellschaften hatte sie regelrecht den Status eines Luxusgutes, sie galt als etwas Besonderes. So wurde Milch z. B. bei den ältesten Opferzeremonien der Römer anstelle von Wein verwendet. Im goldenen Zeitalter, das die römischen Dichter Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) und Horaz (65 v. Chr.–7 n. Chr.) besingen, im ersten Weltalter der Menschheit, in dem nach römischer Vorstellung noch überall Frieden und paradiesische Zustände

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herrschten, durchflossen Milch und Nektar das Land. Von einem „Land, in dem Milch und Honig fließt“, sprach auch Martin Luther (1483–1546) in seiner Bibelübersetzung – der Ausdruck wurde zu einer festen Redewendung. Heute ist dieser Traum wahr geworden, er hat sich jedoch mittlerweile zu einem Alptraum entwickelt: In den westlichen Industriestaaten fließen Ströme von Milch. Die weltweite Produktion belief sich im Jahr 2000 auf 484 895 Millionen Tonnen. In Deutschland liefert eine Kuh im Durchschnitt pro Jahr rund 6300 Liter, während es 1870 gerade einmal 1300 Liter waren. Das bevorzugte Milchtier der Armen war in früheren Zeiten im Übrigen nicht die Kuh, sondern die Ziege. Sie stellte weit weniger Ansprüche, und diese Genügsamkeit, gepaart mit einer bescheidenen Größe, machte die Ziege zur unentbehrli-

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chen Begleiterin aller großen Entdeckungsreisen. Robinson Crusoe lernte ihren Wert erst in der Not richtig schätzen: Es ging mir mit den Ziegen, wie es mit vielen Dingen zu gehen pflegt, ohne ihre ganze Nutzbarkeit zu kennen. Lange

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hatte ich deren zwei ohne Nutzen; nachher eine Herde, und begnügte mich, bloß von Zeit zu Zeit eine zu schlachten. Ein Zickelchen, das ich saugen sah, führte mich erst lange nach-

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her auf den Einfall, meine Ziegen zu melken. Seitdem erhielt ich täglich ein bis zwei Eimer Milch, und sie war eines meiner liebsten Lebensmittel.8

Milchkonsum gestern und heute

Der Milchverbrauch führt uns weit mehr als der Kaffee- oder Teekonsum eine Zäsur von epochaler Bedeutung vor Augen: Es ist der Wandel von der Konsum- zur Überflussgesellschaft. „Dem vormodernen Teufelskreis der Unterernährung steht der moderne Teufelskreis der Überernährung gegenüber“, so bringt es Wolfgang Reinhard in seiner lesenswerten Kulturgeschichte auf den Punkt.9 Doch was für die Ernährung gilt, ist in dieser eindeutigen Form für das Trinken nicht gültig. Wir trinken heute nicht mehr als früher, wir trinken anders. Der geschätzte durchschnittliche Jahresverbrauch von Milch im Deutschen Reich lag um 1870 pro Kopf bei 120 Litern. 2004 betrug der Milchkonsum in Deutschland gerade noch 67 Liter – dieser Trend ist auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten. Die Milch als Getränk hat wie das saubere Trinkwasser den Status des Besonderen verloren. Das ist paradox, denn Milch ist alles Andere als ein profanes Getränk. Milch begleitet uns seit den Anfängen unserer eigenen Existenz: Es ist die Mut-

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termilch, die uns nach unserer Geburt nährt. Konnte eine Mutter ihr Kind nicht selbst stillen, so war in früheren Zeiten das Überleben des Säuglings gefährdet, denn Kuhmilch ist in den ersten Lebensmonaten nur ein schlechter Ersatz. Die Muttermilch ist also Nahrung, ein „Lebens“-Mittel im eigentlichen Sinn des Wortes. Der Mensch ist in der Regel erst nach einer gewissen Zeit in der Lage, auch die Milch von Tieren zu verdauen. Diese Fähigkeit ist das Ergebnis einer einzigartigen Anpassung. Als einziges Säugetier hat sich der Mensch daran gewöhnt, nach der Stillzeit die Milch artfremder Tiere zu trinken. Dazu melkt der Mensch nicht nur Kühe, Ziegen und Schafe, sondern auch Pferde (Stutenmilch), Esel und Rentiere. In Asien werden zuMilch als Säuglingsnahrung

In den städtischen Oberschichten hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Einstellung zur Milch durchgesetzt, die der der Unterschichten diametral entgegengesetzt war. Hier galt die Milch als gesund, dort als ungesund. Ganz falsch ist beides nicht, denn es kann z. B. Tuberkulose durch infizierte Kühe übertragen werden. Schon den Zeitgenossen fiel die hohe Sterblichkeit von „künstlich“ ernährten Säuglingen auf. 1885 lag sie im Deutschen Reich siebenmal höher als beim natürlichen Stillen. Die Unterschiede in der Sterblichkeit waren beachtlich, weil man in bestimmten Gegenden das Stillen einschränkte oder ganz darauf verzichtete. Während in Norddeutschland 1910 drei Viertel der Säuglinge gestillt wurden, verzichtete man in Bayern mehrheitlich darauf. Anstelle der Muttermilch fütterte man die Säuglinge mit Mehl-, Kartoffelbrei und normaler Kuhmilch. Das Zuführen von Kuhmilch war keine einfache Sache, Darmerkrankungen waren die häufige Folge. Erst die Fortschritte in der modernen Kinderernährung brachten eine Verbesserung.

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Die Milch ist Nahrung und Getränk – Lebensquell. Die Darstellung der stillenden Mutter war in der Kunst sehr beliebt. Auguste Renoir portraitierte 1886 seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau beim Stillen ihres Erstgeborenen Pierre.

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dem Wasserbüffel gemolken, und im arabischen Raum wird die Milch von Kamelen konsumiert. Milch ist allerdings nicht für jeden ein ideales Lebensmittel bzw. Getränk. Viele Menschen leiden an einer Milchunverträglichkeit, die sich darin manifestiert, dass Milchbestandteile im Körper nicht hinreichend aufgespalten werden können. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Fähigkeit, den in der Milch enthaltenen Milchzucker (Lactose) als Erwachsener verdauen zu können, genetisch eine recht junge Entwicklung (ca. 8000 Jahre alt) ist, die sich vermutlich im Zusammenhang mit der Viehhaltung entwickelte. Die Anlage des Menschen, Milch zu trinken und sie zu verdauen, ist also einerseits einer körperlichen und andererseits einer kulturellen Anpassung zu verdanken.

Milchbruder, Milchschwester

Während heute der Begriff der Blutsbrüderschaft noch geläufig ist, ist die Bezeichnung Milchbruder bzw. Milchschwester in Vergessenheit geraten. Johann Christoph Adelungs Kritisches Wörterbuch aus dem Jahr 1801 definiert die beiden Begriffe folgendermaßen: „1) Ein Bruder der Muttermilch nach, derjenige, welcher mit einer andern Person einerley Brüste gesogen hat, mit ihr von einer Amme gesäuget worden; Collactaneus. Die Milchschwester, eine solche Person weiblichen Geschlechtes. 2) Im gemeinen Scherze auch eine Person männlichen Geschlechtes, welche gern Milchspeisen isset; ein Milchbart, Milchmaul.“ Heutzutage versteht man unter einem Milchbart, Milchgesicht oder -bubi einen unreifen Jüngling.

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Haltbare Milch — Kampf den Keimen

Mit dem Genuss von roher Milch oder unbehandelten Milchprodukten können eine Reihe von ansteckenden Krankheiten übertragen werden wie die Salmonellose, die Listeriose oder die Darmtuberkulose. Diese Gefahren wurden erst durch das Verfahren der Pasteurisierung gebannt. Louis Pasteur (1822–1895) erkannte, dass sich durch kurzzeitige Erhitzung die meisten Mikroorganismen abtöten lassen. Bei Lebensmitteln wird die Haltbarkeit dadurch sogar gesteigert. Die Pasteurisierung von Milch wurde 1886 von Franz von Soxhlet (1848–1926) vorgeschlagen. Im großen Stil umgesetzt wurde sie jedoch erst im 20. Jahrhundert. Die so genannte ultra hoch erhitzte Milch (UHT-Milch; auch H-Milch genannt) – für wenige Sekunden wird eine Temperatur von 130 bis 150 Grad Celsius erzielt – wird nachträglich noch mit Vitaminen angereichert und erfreut sich heute steigender Beliebtheit. Sie drängt die weniger stark erhitzte und weniger lang haltbare Milch (pasteurisierte Milch; Frischmilch) immer mehr zurück.

Kondensmilch — konzentriert und haltbar

Spricht man von der Pasteurisierung, so muss man auch die Kondensmilch (Dosenmilch) erwähnen. Das Verfahren, Milch in eine „konzentrierte“ und haltbare Form zu bringen, gelang erstmals 1856 in den USA. Dabei wurde die Milch zur Keimabtötung während zehn bis zwanzig Minuten erhitzt und anschließend bei Unterdruck eingedickt. Ohne geeignete Kühlvorrichtungen – der Kühlschrank fand erst in den 1930er Jahren zunächst in den amerikanischen und später in den europäischen Haushalten größere Verbreitung – hatte diese Milch den Vorteil, lange haltbar zu sein. Das Militär erkannte dies rasch: Die

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Kondensmilch feierte im Amerikanischen Sezessionskrieg ihren Siegeszug. Im zivilen Bereich stand sie am Anfang einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte: Justus von Liebig (1803–1873) hatte 1865 die Muttermilch vollständig analysiert; Henri Nestlé (1814–1890) nutzte die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Er entwickelte in Vevey das so genannte „Kindermehl“. Heute würde man von Milchpulver bzw. Trockenmilch sprechen. „Ein Esslöffel voll Mehl mit sechs Esslöffeln voll Wasser“10 seines Produkts sollte die Muttermilch ersetzen können. Mit einer genialen Verkaufsstrategie stellte sich der Erfolg des neuen Nahrungsersatzes bald ein. Nestlé wandte sich direkt an Ärzte und Apotheker. Er wollte sie nicht nur von der Qualität seines Kindermehls überzeugen, sondern er beteiligte sie auch großzügig am Gewinn. Der Pionier der Säuglingsernährung war auch ein gewiefter Verkäufer, der sich neue Vertriebskanäle zu erschließen wusste. 1873, sechs Jahre, nachdem er seinen Betrieb gegründet hatte, verkaufte Henri Nestlé bereits 500 000 Büchsen Kindermehl in aller Herren Länder. Nestlés Konkurrenz, die Anglo-Swiss Condensed Milk Company, war nicht weniger erfolgreich. Das von zwei Amerikanern 1866 in Cham (Zug) gegründete Unternehmen machte sein Geld mit Kondensmilch. Der Wettbewerb war äußerst hart, und so machte man schließlich aus der Not eine Tugend: 1905 fusionierte man mit Nestlé. Der Grundstein für ein Weltimperium war gelegt. Beide Unternehmen hatten ihren Aufstieg technisch veränderten Milchprodukten sowie der Fähigkeit, einen neuen Markt zu erobern, zuzuschreiben. Vor Kondensmilch und Trockenmilch wurden jedoch auch schon andere technisch veränderte Lebensmittel, so genanntes Design-Food, entwickelt. Den Auftakt machte hydrolytisch aus Stärke gewonnener Zucker (1811), gefolgt von löslichem Ka-

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kaopulver (1828), walzengetrocknetem Milchpulver (1855), Liebigs Fleischextrakt (1862), Margarine (1869), Milchschokolade (1876) und Cornflakes (1876). All diesen Produkten ist eines gemeinsam: der technische Eingriff des Menschen. Die Massenproduktion, wie sie in der Textil- oder Metallindustrie durch die Industrielle Revolution schon eingeleitet war, wurde zügig auf die Nahrungs- und Getränkemittelindustrie übertragen. Um mit Marx zu sprechen, fand nicht nur eine Entfremdung des Menschen von seinen Produktionsgütern, sondern auch von der Nahrung statt. Diese Entwicklung hält bis heute an.

Milchkonsum in der vorindustriellen Zeit

Milch hatte eine Vorreiterrolle bei den technisch veränderten Nahrungsmitteln und Getränken. Milch und Milchprodukte gehörten in der vorindustriellen Gesellschaft wie das Brot zur Grundlage einer einfachen Ernährung. Um Unruhen und Hungerrevolten zu vermeiden, kümmerte sich der Staat um eine gesicherte Versorgung mit Milch. Im Kanton Luzern war die Obrigkeit darum besorgt, den städtischen Markt jederzeit mit genügend Milch, Rahm, Butter, Käse und Zieger (Quark) zu versorgen. Senne in der unmittelbaren Umgebung der Stadt riefen die Milch in den Straßen aus oder überließen den Verkauf am Wochenmarkt dem Grempler (Kleinhändler). Damit sich auch ärmere Leute zu erschwinglichen Preisen eindecken konnten, war das Aufkaufen von Milch zum Zweck des preissteigernden Zwischenhandels untersagt. Am Wochenmarkt wurde zudem Sauermilch angeboten, die im Ruf stand, ein exzellentes Stärkungsmittel bei strenger Arbeit zu sein. Halb entrahmte Milch verwendete man in der Stadt und auf dem Land für die Zubereitung von Mus (Brei), ganz entrahmte Buttermilch war als durststillendes Getränk beliebt.

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Die Bedeutung der Milch in der vorindustriellen Gesellschaft wird in der Institution der städtischen Milch- oder Mushäuser, die der Beherbergung ärmerer Leute dienten, sichtbar. Sie leiteten ihren Namen von der Vorschrift her, dass sie ihren Gästen nur Milch und Mus vorsetzen durften. Den Gastwirten waren die Milchhäuser ein Dorn im Auge, da sie in ihnen eine unliebsame Konkurrenz erblickten, die Obrigkeit hingegen schützte sie aus sozialen Gründen.

Milch und Kaffee

Im 18. und 19. Jahrhundert erfreute sich der Milchkaffee einer großen Beliebtheit. Vorwitzig lässt Lawrence Sterne (1713– 1768) seinen Protagonisten in Tristram Shandy sagen: „Ich hatte meine zwei Tassen Milchkaffee getrunken (was, nebenbei gesagt, ein vortreffliches Getränk ist, nur muss Milch und Kaffee zusammen gekocht werden, denn sonst ist es weiter nichts als Kaffee mit Milch).“11 Besonders beliebt war der Milchkaffee im bäuerlichen Umfeld, wo man auf den Geschmack kam: Die Milchsuppe als Frühstück wurde vom dünnen Kaffee abgelöst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das, einem Bericht des Niederösterreichischen Bauernbündlers zufolge, in weiten Teilen Österreichs der Fall. Der Milchverbrauch auf dem Land nahm dadurch ebenso rasch ab, wie er in den Städten zunahm. Dieser Trend war nicht nur in Österreich zu beobachten. Massiv verbesserte Transportmöglichkeiten und riesige Fortschritte in der Lebensmittelindustrie sicherten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Versorgung der Städte in weiten Teilen Europas mit frischen Lebensmitteln. Das Trinken von frischer Milch gehörte jetzt zum guten Ton in der Stadt und galt als gesund.

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Der Kaffee etablierte sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa. Die Rokoko-Dame auf dem Stich von L.-M. Bonnet (1774) gießt den heißen Kaffee in eine flache Schale, um ihn abgekühlt trinken zu können. Der abgespreizte Finger ist dabei eine Geste der Eleganz.

Trinken‚ um zu genießen Mit der Einführung von Kaffee, Tee und Schokolade veränderte sich in Europa nicht nur das Trinkverhalten. Es entstanden auch neue gesellschaftliche Gepflogenheiten wie das Treffen im Kaffeehaus oder zum

Five-o’Clock-Tea.

Genuss aus dem Orient: Der Kaffee

ls der englische Mediziner William Harvey 1628 die bahnbrechende Entdeckung des vollständigen Blutkreislaufes im Menschen machte, spotteten einige Kollegen, die ihn als leidenschaftlichen Kaffeetrinker kannten, er habe diese Entdeckung nur machen können, weil der ständige Genuss von Kaffee sein Blut in Wallung versetzt habe und ihm das Hin- und Herfließen dadurch erst aufgefallen sei. Regt Kaffeegenuss wirklich die Beobachtungsgabe und die Kreativität an? Man könnte es meinen, denn neben William Harvey gehörten Geistesgrößen

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wie Honoré de Balzac (1799–1850), Friedrich Schiller (1759– 1805), Ludwig van Beethoven (1770–1827) oder Johann Sebastian Bach (1685–1750) zu den größten Kaffeetrinkern. Doch keine Regel ohne Ausnahme: Goethe schrieb dem Getränk aus dem Orient einen schlechten Einfluss zu. In geradezu asketischer Manier entsagte er dem Kaffeegenuss Ende 1778 und halbierte darüber hinaus seinen Weinkonsum. Was seine Biographen in der Regel verschweigen: Diese Abstinenz war nicht von Dauer – auch Goethe erlag wieder dem Kaffeegenuss. Zur Zeit Goethes und Balzacs erlebte der Kaffee als Genussmittel einen ersten Boom. Wie viele Tassen der Einzelne damals im Schnitt konsumierte, weiß man freilich nicht. Guter Kaffee war in der Regel teuer. Um 1770 konnte man mit einem Gulden ein Pfund Kaffee, ein halbes Pfund Tee, zehn Pfund

Genuss aus dem Orient

Schweinefleisch, sechs Pfund Butter oder zwei Pfund Zucker kaufen, wie aus der minutiösen Buchführung von Goethes Vater, Johann Caspar Goethe (1710–1782), hervorgeht. Ein einfacher Bauarbeiter musste dafür drei Tage arbeiten.

Der Ursprung des Kaffees

Die Stammpflanze des Kaffeebaums (Coffea arabica L.) wird in den bergigen tropischen Regenwäldern der südäthiopischen Provinzen Gomara (Kaffa) und Enarea vermutet. Von hier aus ist die Kaffeepflanze etwa im späten 14. Jahrhundert im Zuge kriegerischer Überfälle ins klimatisch ähnliche Hochland Südjemens gelangt und dort erstmals in Gärten angebaut worden. In Aden soll um 1420 Kaffee aus gerösteten Samen zubereitet worden sein. Der arabische Chronist Abd-al Kadir Ibn Mohammed el Asari behauptet jedenfalls, 1587 sei das Heißgetränk in Aden und Mekka bereits gut 100 Jahre getrunken worden. Wahrheit oder Legende? Das ist heute nicht mehr mit Gewissheit zu sagen, denn die Anfänge des Kaffeegenusses verlieren sich im Gestrüpp widerspruchsvoller orientalischer Legenden. Sicher ist, dass das Heißgetränk sich im Osmanischen Reich bald größter Beliebtheit erfreute. Im Jahr 1517 nahmen die Osmanen Kairo ein, und im selben Jahr unterstanden Mekka und Medina formell der Hohen Pforte. Mit der Ausdehnung des Osmanischen Weltreiches bis weit nach Europa, breitete sich der Kaffee sowohl durch die Türken als auch durch Mittler zwischen Orient und Okzident wie z. B. Ragusa (Dubrovnik, Kroatien) oder Venedig aus. Als Konkurrent Venedigs unterhielt Ragusa im 16. Jahrhundert etwa 180 Schiffe, die alle Küsten des Mittelmeers ansteuerten und auch Rohkaffee transportierten. Die Kenntnis des Kaffees und seiner Zubereitung gelangten bis nach Bagdad und Ormuz.

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Kaffeehäuser im Osmanischen Reich

Im Jahr 1530 entstand das erste Kaffeehaus in Damaskus, zwei Jahre später in Aleppo, 1554 in Istanbul, wo unter Sultan Suleiman dem Großen (1495–1566) zwei Kaffeehändler aus Aleppo und Damaskus erste öffentliche Kaffeestuben einrichteten. Um 1600 wurde der ‚Türkentrank‘ im ganzen Osmanischen Reich getrunken. In mehr als 200 städtischen Siedlungen die-

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ses riesigen Reiches dürften Kaffeeschenken bestanden haben – und hier lernten ihn nach und nach, an ganz verschiedenen Orten unabhängig voneinander, die Reisenden kennen, die

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die Kunde ab 1582 nach Süd-, West- und Mitteleuropa trugen.1

Der Kaffeegenuss erfreute sich immer größerer Beliebtheit und wurde geradezu unersetzlich, wie ein christlicher Gefangener im 16. Jahrhundert berichtete: „Und meinen die Türken, wenn sie einen Tag diesen Trank [den Kaffee] nit trinken, so müssten sie krank werden.“2 Anfänglich waren die Kaffeestuben nur in oder bei Moscheen zu finden. Sie entwickelten sich rasch zu einem beliebten Treffpunkt, um Geschäfte zu machen, Freunde zu treffen, die Zeit mit Rauchen, Brett- und Glücksspiel zu verbringen oder Tanz- und Musikdarbietungen zu verfolgen. Der französische Reisende Jean de Thévenot (1633–1667) beschrieb die Kaffeeschenken Istanbuls: Es gibt verschiedene öffentliche Kaffeehäuser, wo man Kaffee

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[cahvé] in großen Kesseln kocht. Dorthin kann jedermann gehen, ohne Unterschied der Religion und des Standes, und es ist nicht unschicklich, dort hineinzugehen, auch wenn es nur zur Unterhaltung ist; es gibt sogar draußen gemauerte Bänke,

Genuss aus dem Orient

die mit geflochtenen Matten bedeckt sind und auf denen diejenigen sitzen, die den Vorübergehenden zuschauen und an der Luft sein wollen. Gewöhnlich gibt es in den Kaffeehäusern auch Musikanten mit Flöten und Saiteninstrumenten, die von Kaffeehausbesitzern dazu angestellt werden,

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tagsüber mit Musik und Gesang die Leute anzulocken.3

Die neuen Einrichtungen stießen nicht überall auf Zustimmung. Die Imame (Vorbeter) klagten öffentlich darüber, dass ihre Moscheen weniger besucht würden. Die neue Mode ließ sich jedoch nicht aufhalten. Selbst Mitglieder des Serails, die Paschas, und andere hohe Mitglieder des Sultanhofes suchten die Kaffeehäuser regelmäßig auf. Das strikte Verbot des Weintrinkens durch Sultan Murad III. (1574–1595) beseitigte schließlich die letzten Widerstände gegen das Kaffeetrinken, denn die nüchtern haltende braune Bohne sollte fortan bei den Muslimen den berauschenden Alkohol ersetzen.

Die Ausbreitung des Kaffees in Europa

Dass der Kaffee in Europa bekannt wurde, war nicht nur das Verdienst von Kaufleuten, die ein gutes Geschäft witterten. Die wissenschaftliche Neugierde spielte ebenfalls eine Rolle. Der aus Venedig stammende Botaniker Prospero Alpino (1553– 1617) besuchte mit einem venezianischen Gesandten 1580 Kairo und lieferte in einer Beschreibung der ägyptischen Pflanzenwelt die erste bildliche Darstellung des Kaffeebaums. Sein Landsmann, der italienische Humanist Bartholomeo Belli, übersandte 1596 erste Kaffeesamen an einen Berufskollegen und der Augsburger Stadtphysikus Leonhart Rauwolf, der in Italien und Frankreich studiert hatte, bereiste von 1573 bis 1576 den Orient und „suchte überall die raresten Kräuter […] mit viller

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Mühe und Gefahr zusammen“.4 In Aleppo lernte er den Kaffee kennen. Nach bisheriger Kenntnis beschrieb er als erster Europäer das Getränk, den öffentlichen Ausschank und die Grundsubstanz, die Kaffeebohne. Im 17. Jahrhundert importierten die Venezianer größere Mengen Kaffeebohnen nach Italien, das Kaffeetrinken nahm erstmals einen gewissen Umfang an. 1647 entstand in Venedig unter den Arkaden des Markusplatzes das erste bekannte europäische Kaffeehaus. In Frankreich kam das Kaffeetrinken zunächst in Marseille und Lyon (ca. 1671) in Mode, stieß aber auch am Hof Ludwigs XIV. auf Interesse. Denn hier residierte Soliman Aga, der Gesandte des osmanischen Sultans Mohammed IV. Bei den prunkvollen Empfängen in seinem im türkischen Stil eingerichteten Pariser Palast bot er seinen Gästen durch Sklavinnen Kaffee zum Probieren an. Ab 1672 finden sich in Paris die ersten Kaffeehäuser. Paris folgte damit einem Trend. Erste Kaffeehäuser entstanden 1650 in Oxford, 1652 in London, 1672 in Amsterdam und Den Haag. Durch die Türkenkriege gelangte das neue Genussmittel dann donauaufwärts bis nach Wien, wo 1685 das erste der vielen später so berühmten österreichischen Kaffeehäuser seine Türen öffnete. Von hier kam der Kaffee nach Südund Mitteldeutschland, wo ebenfalls öffentliche Kaffeewirtschaften entstanden. Zu einem Zentrum des neuen Genussmittelkonsums wurde Leipzig; 1694 entstand hier in der Fleischergasse das berühmte Kaffeehaus Zum arabischen Caffee-Baum. Am Hof des brandenburgischen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. in Berlin hatte man schon 1675 den Kaffee als Exotikum bewundert, aber der regelmäßige Kaffeegenuss ist dort wie in vielen anderen deutschen Städten erst nach 1700 nachweisbar. In der Regierungszeit Friedrichs II. (1740–1786) zählte man in Berlin ein gutes Dutzend Kaffeehäuser.

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Die englischen coffee houses waren nicht selten exklusive Clubs, die nur Mitgliedern Einlass gewährten. In Oxford gründeten Studenten den Oxford Coffee Club, aus dem die Royal Society hervorging. Klubcharakter hatte auch das 1755 eröffnete Berliner Kaffeehaus, dessen erklärte Absicht wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntniszuwachs lautete. Nach osmanischem Vorbild gab es in Europa einen Straßenverkauf für das einfache Volk. In Frankreich übernahmen die Limonadenverkäufer das Rösten und Mahlen des Kaffees und nannten sich fortan caffétiers-limonadiers, während die Kolonialwarenhändler nur die grünen Kaffeebohnen importieren durften. In Danzig öffneten im Jahr 1650, in Bremen 1673 und in Hamburg 1677 der erste Kaffeeausschank seine Tore. Zur gleichen Zeit fanden auch die anderen exotischen Heißgetränke Tee und Schokolade als neue Mode überall in den tonangebenden Gesellschaftskreisen Eingang.

Das Kaffeehaus als Treffpunkt

Private als auch öffentliche Kaffeestuben waren beliebte Stätten der Kommunikation und eigentliche Informationsbörsen. Hier wurden literarische Fragen erörtert, ärztliche und rechtliche Konsultationen erteilt, Preislisten aller Art oder Notizen zu Auktionen bekannt gegeben sowie Versicherungen und Geschäfte abgeschlossen. Ein Arbeitstag begann und endete nicht selten in einem Kaffeehaus. Tatsache ist, dass sich die Anfänge der heute weltweit agierenden Versicherung Lloyd in ein Kaffeehaus zurück verfolgen lassen. In den Kaffeestuben wurde ebenfalls politisiert und orientiert. Um Gäste anzuziehen und zum Verweilen zu bewegen, verfügten die Kaffeehäuser in der Regel über ein reiches Angebot an Tageszeitungen und Zeitschriften. Es ist sicher kein Zu-

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Cafés waren beliebte Treffpunkte. In England nannte man Kaffeehäuser liebevoll-spöttisch Penny-Universities, weil das Eintrittsgeld einen Penny betrug, der Wert der Informationen jedoch dem an der Universität gelehrten Wissen ebenbürtig schien. Stich von Fortier, um 1789

fall, dass die Cafés in der Französischen Revolution im Ruf standen, Brutstätten des politischen Aufruhrs zu sein. Das 18. Jahrhundert kann als das Goldene Zeitalter der französischen Cafés gelten. Um 1715 gab es in der französischen Metropole rund 300 Cafés, wobei sich ihre Zahl bis zur Jahrhundertwende verdreifachte. Die „großen Kaffeehäuser“ zeichneten sich durch das entsprechende Mobiliar aus: Der Sizilianer Procopio Francesco di Cotelli gründete 1686 nahe der Comédie française sein berühmtes Café Procope, in dem die großen Literaten der Revolutionszeit wie z. B. Voltaire, Rousseau oder Diderot zu verkehren pflegten. Aus dem ehemaligen Badehaus machte er ein Luxuscafé mit marmornen Tischen und Spiegeln an den Wänden. Eine solch prunkvolle Ausstattung wurde jetzt zum Vorbild für andere Cafés: Während und nach dem Wiener Kongress, besonders aber nach 1850, entstanden ausgesprochene Luxuscafés in ganz Europa. Als deren Inbegriff

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galt das 1824 eröffnete Silberne Kaffeehaus in Wien. Einige Historiker sehen in den Luxuscafés die Anfänge der bürgerlichen Freizeitkultur, da hier frühere Standesunterschiede und die übliche Tageseinteilung erstmals durchbrochen worden seien. Das gemeine Volk fand sich gern in den „kleinen Kaffeewirtschaften“ ein, die jedoch keinen guten Ruf hatten: Glücksspiel und Prostitution, das zeigen zeitgenössische Stiche, waren dort zu finden. In den großen Kaffeehäusern schenkte der caffétier (Kaffeeschenk, Kaffeesieder genannt) gemäß seinen Handelsprivilegien außer Kaffee auch Tee und Schokolade aus, dazu durfte er Schnäpse und Liköre neben ausländischen Bieren, kostbare Weine neben feinem japanischem und chinesischem Porzellan sowie Rauch- und Schnupftabak anbieten. Zur Unterhaltung Frauen in Cafés

Cafés galten als Spielhöllen, Stätten des Vergnügens und der Prostitution. Frauen wurden deshalb in Cafés nicht gern gesehen. Trotzdem bedienten meistens „Kaffeemädchen“ in den Kaffeehäusern, die manchen Verdächtigungen ausgesetzt waren. So sollen nach einem Frauenzimmer-Lexikon aus dem Jahr 1715 in Leipzig von den Stadtknechten allerhand „gemeine Weiber“ und zwielichtiges Gesindel aus den einfachen Kaffeeschenken herausgeholt worden sein. Nicht viel anders lautet die Klage eines englischen Gastes, der den Cafébesitzern den Vorwurf machte, Animierdamen anzustellen, um den Umsatz zu steigern.

und zum Bleiben luden Schachspiel, Billardtische oder eine Tafel zum gemeinsamen Speisen ein. Dazu konnten Übernachtungsmöglichkeiten kommen, ein Ausspann für die Pferde und Spezialräume für Dienstboten und Fuhrknechte. Der Schritt vom ein-

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fachen Kaffeeausschank zum feinen Restaurant oder Hotel war vollzogen. Diese Kombination von Café und Speisegaststätte – das Speiserestaurant – verbreitete sich nach 1789 zunächst in Frankreich. In Wien durften die Kaffeewirte ab 1811 zweimal am Tag kleine warme Speisen anbieten (1811–1813 gab es aufgrund der Kontinentalsperre, einer von Napoleon verhängten Wirtschaftsblockade, die die Einfuhr von Kaffee und anderen Kolonialwaren verhinderte, überhaupt keinen Bohnenkaffee).

Das Kaffeehaus als Veranstaltungsort

An viele Cafés gliederte sich ein besonderer Saal an, der manchmal der einzige öffentliche Versammlungsort war. Hier wurden Bälle, Konzerte, Theateraufführungen, Ausstellungen und Auktionen veranstaltet. Das Kaffeehaus wurde zum Treffpunkt der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft. Gefördert wurde dies durch die enorme Vielseitigkeit der Darbietungen, wozu auch die Musik gehörte. Eine Gesetzesänderung, die das öffentliche Singen in Cafés gestattete, fiel im sangesfreudigen Paris auf fruchtbaren Boden. Innerhalb kurzer Zeit engagierten nicht wenige caffétiers Sänger, Sängerinnen und Musikanten und machten aus ihrem Kaffeehaus ein café chantant bzw. ein café-concert. Nicht nur in Cafés wurde jedoch gesungen und musiziert, der Kaffeekonsum selbst wurde besungen: Johann Sebastian Bach (1685–1750) komponierte eine scherzhafte Kantate: „Schweigt stille, plaudert nicht“ – die so genannte Kaffeekantate.

Kaffee für jedermann

Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts breitete sich die Sitte des Kaffeetrinkens regional wie nach Sozialschichten ganz verschie-

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Das Kaffeekränzchen

Musik-, Spiel- und Kartenkränzchen waren beliebt, und bald folgten so genannte Kaffeekränzchen. Diese lassen sich schon kurz nach 1700 in Hamburg und Leipzig nachweisen und wurden im Unterschied zu den bisherigen „Kränzchen“ vorrangig von Damen gegeben und besucht. 1715 steht im Frauenzimmerlexikon unter dem Stichwort „Caffe-Cräntzgen“: „Ist eine tägliche oder wöchentliche Zusammenkunfft und Versammlung einiger vertrauter Frauenzimmer […] worbey sie sich mit Caffee trincken und L’Ombre-Spiel divertieren und ergötzen.“5 Das Kaffeekränzchen eröffnete den Frauen die Möglichkeit, in ihren eigenen vier Wänden Kaffee zu konsumieren und sich mit der Nachbarin oder Freundin häufiger als vorher zum Gespräch zu treffen. Es war die weibliche Antwort auf den obligaten Gang des Ehemanns ins Wirtshaus, der ihnen selbst verwehrt war.

den aus. Während auf dem Lande eine Verbreitung erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, pflegte man in städtischen Bürgerhäusern Norddeutschlands und Sachsens schon nach 1715 Kaffee zu trinken. Örtlich unterschiedliche Preise, staatliche Verbote, der unterschiedlich ausgeprägte Wille zur Nachahmung sowie voneinander abweichende Esssitten bestimmten dabei das Tempo der Rezeption. Das neue Heißgetränk konnte sich bei den sozialen Unterschichten in Nord- und Mitteldeutschland offenbar schneller durchsetzen, „da es beim Frühstück z. B. die wenig geliebte Biersuppe und auch den berauschenden Branntwein ersetzte sowie zum Brot mit Aufstrich passte. Große Teile Süddeutschlands blieben dagegen zunächst weitgehend kaffeelos, weil die beliebten Alltagsgetränke Wein und Most sowie die weit verbreiteten Mehlspeisen einer schnellen Aufnahme entgegenstanden. Die Einführung des Kaffeetrin-

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kens bedeutete überall eine Neugestaltung der Mahlzeitenordnungen und einen Eingriff in die traditionelle Land- und Hauswirtschaft.“6 Vor allem bei den Arbeitern diente der Kaffee als neues Heißgetränk dazu, die langen und monotonen Arbeitszeiten zu unterbrechen. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert: Die obligate gemeinsame Kaffeepause strukturiert heute vielerorts den Arbeitsalltag und spielt vor allem auch im Leben der Geschäftswelt eine wichtige Rolle. Sicherlich machte man sich dabei eine Grundeigenschaft des Kaffees zunutze: Er gilt als „großer Ernüchterer“, seine Inhaltsstoffe sollen die „geistige Tätigkeit“ anregen.7 Damit schien er das ideale Getränk für eine veränderte Arbeitswelt, für den neuen, bürgerlichen Menschen zu sein. Zunächst soll auf die Veränderung der althergebrachten Ess- und Trinkgewohnheiten eingegangen werden, die überall mit der Einführung des Kaffeetrinkens im privaten Bereich langsam aber sicher einsetzte. Kaffee wurde bei den ärmeren Schichten häufig in verdünnter Form getrunken. Im Volksmund wurde dieser Kaffee als „schlapp“ bezeichnet, weil der Bohnenkaffee mit viel Wasser oder Milch verdünnt wurde. Daneben waren im 19. Jahrhundert eine Vielzahl weiterer Bezeichnungen gebräuchlich, wie die Sprachforscher Jacob und Wilhelm Grimm feststellten: „Kaffeepansch“, „Plempel“, „Latsch“, „Lutsche“, „Lurke“, „Lorke“, „Hutzelwasser“, und besonders in Leipzig der Begriff „Blümchenkaffee“, bei dem man das Blumenmuster auf dem Boden der Tasse gut erkennen konnte. Nicht nur in der Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks spiegelt sich die Aufnahme des Kaffees in den Unterschichten, auch in den unterschiedlichen Rezepten. So wurde beispielsweise über in Fett getauchte Brotbrocken oder Brötchen warme Milch und Kaffee gegossen. Dieses „Kaffeemus“ diente auch als Mit-

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tagsmahlzeit und wurde mit dem Löffel gegessen. Mit einer gewissen Verwunderung konstatierte der französische Schriftsteller und Abgeordnete Louis Sébastien Mercier, dass Milchkaffee vor allem bei den Arbeitern als eine Art „Energy-Drink“ Einzug gehalten hatte: Im Übrigen hat sich die Gewohnheit, Milchkaffee zu trinken,

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fest eingebürgert und ist im Volke bereits derart weit verbreitet, dass man das Getränk mittlerweile ohne weiteres als das eigentliche Arbeiterfrühstück bezeichnen kann. Die Arbeiter halten das Getränk für billiger, kräftigender und wohlschmeckender als alle andere Frühstückskost. Daher trinken sie es denn auch in fast unglaublichen Mengen. Sie sagen, dass es fast immer bis zum Abend vorhalte. So nehmen sie denn nur noch zwei Mahlzeiten zu sich, das große Frühstück und

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abends die Petersilienschnitte […]8

Ersatz der Kaffeebohne

Vom Milchkaffee war es nur noch ein kleiner Schritt zum „Ersatzkaffee“, dem „Surrogat“, wie man schon im 18. Jahrhundert sagte. Wenn es darum ging, Kaffee ohne Kaffeebohnen zu machen, waren die Menschen erfinderisch. Neben Nüssen, Eicheln, Bucheckern und Kastanien wurden gelbe Möhren, Reis, Erdmandeln und Rüben als geeigneter Ersatz angepriesen. Eine Lawine war losgetreten: Um 1900 gab es in Deutschland sage und schreibe 420 eingetragene Warenbezeichnungen für Kaffeesurrogate. Der größten Beliebtheit erfreute sich jedoch der Zichorienkaffee. Schon im 17. Jahrhundert hatten die Holländer getrocknete Wurzeln der Zichorie geröstet und als Kaffeeersatz verwendet oder das im Mörser zerstampfte braune Pulver dazu gebraucht, den teuren echten Kaffee zu strecken. Dass die-

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Der S taat verdient mit

Die Besteuerung alkoholischer Getränke hat sich im Laufe der Zeit zu einer Haupteinnahmequelle des modernen Staates entwickelt. Vereinfachend gesagt: Ohne gesunden Durst kein modernes Staatswesen. Schon im Mittelalter waren Getränkesteuern sehr beliebt. So ermöglichte die Weinakzise, die in der Regel weit mehr als die Hälfte der Einnahmen einer Stadt ausmachte, die Finanzierung der Ummauerung. Besteuert wurden aber auch Genussmittel wie z. B. Kaffee. In Frankreich profitierte die Obrigkeit vom wachsenden Kaffeekonsum: Ludwig XIV. (1638–1715) bewilligt 1692 das erste Kaffeemonopol in Frankreich. Ganz anders Preußen, wo Friedrich II. (1712–1786) den Kaffee zu einem Luxusgetränk machte, indem er den Import von Kaffee hoch besteuerte. Dadurch förderte er den Ersatzkaffee und den Konsum von Bier. Gleichzeitig setzte ein blühender Schmuggel ein.

ser Ersatzkaffee letzten Endes von allen getrunken wurde, dafür sorgte Napoleons Kontinentalsperre (1806–1814), die die Zichorienproduktion in ungeahnte Höhe schnellen ließ. Selbst nach Napoleons Sturz blieb der Zichorienkaffee in Frankreich, Belgien und Deutschland sehr beliebt und ein unentbehrlicher Zusatz zum Bohnenkaffee. Der Boom erklärt sich aber nicht allein aufgrund des günstigeren Verkaufspreises, sondern auch aufgrund geschmacklicher Vorzüge. Die geröstete Zichorienwurzel enthält wegen ihres höheren Zuckeranteils mehr Geschmacksstoffe, die vor allem beim café au lait, dem Milchkaffee, zum Tragen kommen. Zichorienkaffee muss dem echten Kaffee geschmacklich also keineswegs unterlegen sein. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Für das Jahr 1913 gehen Schätzungen für das Deutsche Reich von einem

Genuss aus dem Orient

Pro-Kopf-Verbrauch von 3 Kilogramm Ersatzkaffee gegenüber 1,7 Kilogramm Bohnenkaffee aus. Zum Vergleich: 1989 wurden in der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung pro Kopf und Jahr 189 Liter Bohnenkaffee und nur noch 8 Liter Ersatzkaffee getrunken. Da diese Statistiken im einen Fall mit Angaben in Kilogramm und im andern mit Angaben in Litern hantiert, ist der direkte Vergleich nicht möglich. Aber der höhere Stellenwert des Ersatzkaffees in früheren Zeiten ist eklatant. Die globalen Produktionszahlen vermitteln ein eindeutiges Bild: Um 1900 belief sich die weltweite Zichorienwurzelproduktion auf 314 000 Tonnen. Belgien produzierte mit 120 000 Tonnen den Hauptanteil, das Deutsche Reich und Frankreich je 50 000 Tonnen und Österreich-Ungarn 45 000 Tonnen. Angesichts dieser Zahlen gilt es eine Tatsache hervorzuheben, die in der großen Fülle der Literatur zum Thema Kaffee nur selten eine Erwähnung findet: Die Dominanz des echten Kaffees ist ein zeitlich junges Phänomen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte der echte Kaffee zu seinem eigentlichen Siegeszug ansetzen, erst jetzt wurde Kaffee zu einem echten Alltagsgetränk der modernen Wohlstandsgesellschaft. Der Ersatzkaffee dominierte jedoch rund 150 Jahre – von Napoleons Kontinentalsperre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Kaffeegenuss — gesund oder ungesund?

Die große Beliebtheit, der sich der Ersatzkaffee erfreute, hatte auch etwas mit den negativen gesundheitlichen Auswirkungen zu tun, die man dem echten Kaffee zuschrieb. Einerseits pries man Kaffee als „großen Ernüchterer“, galt er doch schon Mitte des 17. Jahrhunderts als Heilmittel gegen Trunkenheit, andererseits warf man ihm vor, Nerven und Magen zu schädigen. „Kaffee und Tee sind extrem schädlich für Menschen, die über

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schwache Nerven verfügen“, äußert der Erweckungsprediger und Vater der methodistischen Kirche, John Wesley (1703– 1791) im Jahr 1747. Der Kaffee bewirke ein „künstlich erhöhtes Leben“, behauptet Samuel Hahnemann (1755–1843) in seinem Büchlein Wirkungen des Kaffees (1803), denn „die Gegenwart des Geistes, die Aufmerksamkeit, das Mitgefühl wird wacher als im gesunden natürlichen Zustand“.9 Aber, so fährt der Begründer der Homöopathie fort, diese Wirkungen seien ungesund, weil sie den Menschen aus seinem natürlichen Rhythmus bringen würden. Jahre später konstatierte Hahnemann: Der Kaffee besitzt größtentheils die Nachtheile für die Ge-

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sundheit des Leibes und der Seele, die ich in meinem Büchelchen (Wirkungen des Kaffees, Leipzig 1803) angegeben habe; er ist aber dem größten Theile der sogenannten gebildeten Nationen dergestalt zur Gewohnheit und zum Bedürfnisse geworden, dass er so wenig leicht, als Vorurtheil und Aberglauben, auszurotten seyn wird, wenn nicht der homöopathische Arzt bei der Kur langwieriger Krankheiten auf

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einem allgemeinen, unbedingten Verbote besteht.10

Die wissenschaftliche Grundlage, auf die Hahnemann sein Urteil stützte, war äußerst dünn. Der wichtigste Wirkstoff des Kaffees, das Coffein, wurde nämlich erst 1820 von Ferdinand Runge (1794–1867) entdeckt. Tausende von wissenschaftlichen Studien folgten. Dabei verlor der Kaffee einiges „von seinem längere Zeit ganz guten Ruf. Neben den Schlafstörungen fallen besonders Gallenkoliken und Magengeschwüre sowie eine Verstärkung der Herzinfarktanfälligkeit ins Gewicht“11, so ein vorläufiges Fazit. Dass der schon sehr früh geäußerte Vorwurf, der Genuss von Kaffee verursache Impotenz oder gar Sterilität, bisher keine Bestätigung fand, mag dabei immerhin beruhigen.

Genuss aus dem Orient

Die erste Reaktion in der Obrigkeit im Hinblick auf die Gefahren des Kaffees erfolgte in England aber nicht wegen medizinischer Bedenken. Karl II. (1630–1685) verfügte 1675 per Dekret die Schließung der Kaffeehäuser. Begründet war das königliche Verbot mit zwei Argumenten, einem ökonomischen und einem politischen. Erstens würden die Besucher in den Kaffeehäusern ihre Zeit verschwenden, und zweitens würden in den Kaffeehäusern „skandalöse Geschichten“ in Umlauf gebracht, die zur „Diffamierung der Regierung seiner Majestät“ beitragen und damit die Gefahr einer „Störung der Ruhe und der Ordnung im Reich“12 in sich bergen würden. Aufgrund massiver Proteste aus der Bevölkerung wurde das Dekret indes nach wenigen Tagen widerrufen. Auch auf dem europäischen Festland stand der Kaffee im Ruf, ein dekadentes Getränk zu sein. Nach dem Endes des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) erließen neben Preußen sowie den Kurfürstentümern Hannover und Sachsen zehn weitere kleinere deutsche Staaten Mandate zur Einschränkung des Kaffeekonsums.

Kaffeekonsum bis heute

Der Kaffeekonsum stieg im Laufe der Jahrhunderte immer stärker an. Konsumierte man im Deutschen Reich 1850 rund 0,69 Kilogramm Kaffee pro Kopf, so kletterte dieser Wert in der Bundesrepublik bis 2004 auf 6,4 Kilogramm. Kaffee wurde in Deutschland damit noch vor Bier zum beliebtesten Getränk. Der steigende Konsum ging mit einer wachsenden Kommerzialisierung und Globalisierung des Kaffeehandels einher. Im 19. Jahrhundert entstanden Kaffeeterminbörsen, und eine Hand voll Großhändler begannen den Markt zu beherrschen. Im 20. Jahrhundert operierte man mit Hedge-Funds, und der Handel mit Warenterminkontrakten wurde üblich. 1971 öffnete

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das erste Café der Coffee Company Starbucks in Seattle; Ende 2004 hatte der Konzern weltweit bereits über 5600 Filialen. Kaffee ist „big business“, wobei der Handel ein sehr ungleiches Geschäft geblieben ist. So ziehen die Produktionsländer den geringsten Profit aus dem weltweiten Kaffeehandel. Sie sind mehr oder weniger noch immer ein Spielball von Marktkräften, die sie nicht oder nur sehr wenig beeinflussen können. Immerhin gibt es einige Institutionen, die sich darum bemühen, die Produktionsländer wirtschaftlich gerecht zu behandeln und ihnen eine Bezahlung anbieten, die üblicherweise über dem Weltmarktpreis liegt (fair trade). 1973 wurde in den Niederlanden der erste weltweit fair gehandelte Kaffee verkauft. Andere Länder folgten dem Beispiel: In der Schweiz gründete man 1992 die Max-Havelaar-Stiftung, die neben Kaffee auch Bananen und Blumen zu fairen Preisen anbot und dank dem Entscheid der Großverteiler Migros und Coop, Max-Havelaar-Produkte in ihr Sortiment aufzunehmen, zu einem riesigen Erfolg wurde. In Deutschland agiert heute unter anderem die gepa (die Abkürzung steht für „Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt“) oder die El Puente GmbH. Die traditionelle Kolonialware Kaffee hat sich im Laufe der Zeit verändert. Neben dem klassischen Bohnenkaffee sind heute auch andere Verarbeitungsarten des Kaffees üblich geworden. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam in der Schweiz der Nescafé, ein pulverlöslicher Kaffee, auf den Markt, der sich zum meist getrunkenen Kaffee entwickelte. Dies verdankt er wohl nicht zuletzt seiner schnellen und unkomplizierten Zubereitung. Einen Schritt weiter ging man mit dem Fertigkaffee, der sich in Asien großer Beliebtheit erfreut. Der Trend ist eindeutig: Das Trinken muss schnell gehen. Es fehlt an Muße, an der nötigen Zeit zum Genießen – aus einem Genussmittel ist ein Fast Drink geworden.

Genuss aus Asien: Der Tee

eutsch Tee, Französisch thé, Englisch tea: Die drei Buchstaben bezeichnen eine uralte Kulturpflanze, die in China und Japan schon sehr früh geradezu Kultstatus hatte. In Europa gewann der Tee indes erst seit dem 17. Jahrhundert (auch wirtschaftlich) Gewicht. Streng genommen ist Tee ausschließlich der Aufguss der Teepflanze Camellia sinensis. Dieser Aufguss wird als Schwarztee bzw. Grüntee bezeichnet. Der deutsche Begriff „Tee“ geht auf den Min-Dialekt der südchinesischen Stadt Xiamen zurück, wo das entsprechende

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Schriftzeichen „te“ ausgesprochen wird. Aufgussgetränke aus anderen Pflanzen (Kräutertee oder Früchtetee) werden in der Umgangssprache häufig ebenfalls Tee genannt, korrekt müsste man sie aber als teeähnliche Getränke bezeichnen. Diese begriffliche Unschärfe wechselt in den europäischen Sprachen. In den romanischen Sprachen, im Spanischen oder Französischen etwa, bezeichnet té bzw. thé nur Schwarztee, alles andere heißt infusión bzw. infusion. In England wiederum, der Nation des Schwarztees, wird man höchstens gefragt, ob man den Tee white, mit Milch, oder black, ohne Milch, haben möchte. Heißgetränke in der Form von aufgegossenen Blättern anderer Pflanzen als des Teestrauchs, so genannte Kräutertees (z. B. Kamillen-, Linden-, Fenchel- oder Brennnesseltee) sind in Euro-

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Myth h os Tee

Mythen ranken sich um die Teepflanze: Ein buddhistischer Heiliger soll im frommen Eifer das Gelübde abgelegt haben, sich des Schlafs zu enthalten. Da er trotzdem einnickte, schnitt er sich zur Sühne die Augenlider ab und warf sie auf die Erde; aus ihnen erwuchs die den Schlaf verscheuchende Teestaude. Dieser Heilige lebte angeblich im 6. Jahrhundert. Der Tee wurde jedoch schon früher als Arznei benutzt. Bereits gegen Ende des 8. Jahrhunderts ist für China eine Teesteuer belegt; etwa um diese Zeit haben chinesische Bonzen den Strauch nach Japan verpflanzt, wo er bald ebenso wie in China verbreitet war.

pa sehr viel älter als der Schwarztee. Die Idee, mit dem Aufguss von Pflanzen Wasser geschmacklich zu verändern, muss länger bekannt sein. Dass man dadurch die Gesundheit auch positiv beeinflussen konnte, dürfte nicht verborgen geblieben sein. Dieses Wissen war vor allem in den Unterschichten verbreitet, denn sie konnten sich teure Ärzte nicht leisten. „Es ist eben so“, sagt Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr.–50 n. Chr.) in seinem Buch De Medicina (Über die Medizin), das zu den wichtigsten medizinischen Fachwerken der Antike zählt, „dass die Ärzte solch eine Krankheit behandeln, die unsere Bauern ohne all diese Heilmitteln auskurieren, indem sie einfach einen Tee aus Germander (auch Gamander; Teucrium) trinken“.13

Der Tee kommt nach Europa

Wie kam der Tee nach Europa? Wie konnte er sich einen Platz als Alltagsgetränk erobern? Portugiesen, Holländer und Engländer gründeten im asiatischen Raum Kolonien und brachten von dort den Tee nach Europa. „Die Einbürgerung erweist sich als lang-

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wierig und schwierig, müssen doch nicht nur die Blätter, sondern auch die Teekannen, die Porzellantassen und schließlich sogar der Geschmack an diesem exotischen Getränk importiert werden.“14 Mit dem Tee gelangte ein Stück chinesischer und japanischer Kultur nach Europa – eine wahre Asienbegeisterung wurde im 18. Jahrhundert ausgelöst. Im 16. Jahrhundert machten bereits die ersten europäischen Missionare und portugiesische Reisende auf das Teetrinken in China und Japan aufmerksam. „Das Getränk der Japaner ist ein Aufguss, der aus einer Pflanze gezogen wird, die chia genannt wird. Es wird erhitzt und ist ungeheuer gesund“15, schreibt der französische Pater Mattei in seiner Histoire des Indes (um 1558). Der Holländer Linschotten, Sekretär des Erzbischofs von Goa und Verfasser eines überaus erfolgreichen Reiseberichts (1596) staunte über das japanische Teezeremoniell und wunderte sich darüber, dass Kanne und Tassen einen ebenso hohen Stellenwert einnahmen wie Edelsteine in Europa. Tee wurde zunächst nur in kleinen Mengen nach Europa transportiert und diente vor allem medizinischen Zwecken. Die holländische Indienkompanie weist einen ersten Transport für das Jahr 1606 aus. Im Laufe der Zeit erfreute sich das Teetrinken in Holland steigender Beliebtheit. Die Wirtschaft reagierte: 1637 wies der Direktor der Indienkompanie seine Kapitäne an, auf jedem Schiff ein paar Kisten Tee mitzunehmen. In Frankreich, wo das exotische Getränk erstmals 1635 nachgewiesen ist, scheint das medizinische Interesse im Vordergrund gestanden zu haben. 1648 legte ein Kandidat der Medizin seine Dissertation über den Tee vor, die äußerst ungnädig aufgenommen wurde: „Lesen Sie sie, und sie haben etwas zu lachen!“16 Trotzdem ließen sich die ersten Teetrinker nicht beirren. Im Jahr 1657 rühmte eine weitere Doktorarbeit die Vor-

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züge des neuen Getränks – die Publikation dieser Arbeit wurde übrigens von einem begeisterten Teetrinker gefördert.

England — die Nation der Teetrinker

Samuel Pepys (1633–1703), berühmt durch sein mehrtausendseitiges Tagebuch, notiert am 25. September 1660, dass er an diesem Tag in der Taverne seines Freundes erstmals „ein chinesisches Getränk“17 zu sich genommen habe, das man als Tee bezeichne. Dass Pepys, ein regelmäßiger Besucher von Tavernen und Kaffeehäusern, Tee nicht früher erwähnt, weist darauf hin, dass er noch eine Exklusivität war. Tee war noch derart selten und also kostbar, dass die englische Ostindienkompanie 1660 dem englischen König Charles II. (1630–1685) zwei Pfund Tee zum Geschenk machte. Sechs Jahre später schenkte man ihm bereits 23 Pfund. Man beschloss, in den Handel mit Tee einzusteigen: 1669 erreichte eine Ladung von 146 Pfund Tee aus Bantam England. Richtig in Mode kam das Teetrinken am englischen Hof durch die Heirat Karls II. (1630–1685) mit der portugiesischen Prinzessin Katharina von Braganza im Jahr 1662. Sie brachte Bombay, einen zentralen Umschlagsplatz für den Teehandel, als Mitgift in die Ehe. Dass Tee bald Verbreitung fand, ist auch den Kaffeehäusern zu danken. Sie boten neben Kaffee immer häufiger auch Tee an, einige verlegten sich gar vollständig auf das exotische Getränk. Sehr erfolgreich und risikofreudig war Thomas Twining (1675), der 1706 Tom’s Coffeehouse in bester Lage (am Devereux Court in London, unweit der Strand-Straße) eröffnete. Die Lokalität war gut gewählt, denn wegen des großen Brandes von London im September 1666 befanden sich viele Herrenhäuser in nächster Umgebung des neuen Kaffeehauses. Rasch erwarb sich Twinings einen guten Ruf beim briti-

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schen Adel, der sich ein Getränk leisten konnte, für das umgerechnet in heutige Währung rund 250 Euro pro 100 Gramm bezahlt werden musste. In Holland kostete Tee 1682 je nach Güteklasse bis zu 150 Gulden pro Pfund. Um dieselbe Zeit lag der Gesellenlohn in größeren Städten der Niederländischen Republik bei gut einem Gulden. Bis 1717 kaufte Thomas Twinings drei weitere Gebäude, die an seinen Laden anstießen. Über die Tür hängte er einen goldenen Löwen, der sein Firmenemblem werden sollte. Twinings setzte bald komplett auf den Verkauf von Teeprodukten, was die richtige Entscheidung war, denn die weitere Entwicklung gab ihm Recht. In wenigen Jahrzehnten wurde England zu einer Nation von Teetrinkern. Besonders populär wurde die Einnahme des Getränks am späten Nachmittag, wie es die Herzogin von Bedford tat. Sie hatte die Angewohnheit, nur wenig zu Mittag zu speisen, und hatte deshalb schon um fünf Uhr wieder Hunger – der Five-o’Clock-Tea entstand auf diese Weise. Im 18. Jahrhundert hat England sich zu einer Nation von Teetrinkern entwickelt. Schätzungen gehen davon aus, dass 1765 gut 90 von 100 englischen Familien zweimal pro Tag Tee tranken. Im 19. Jahrhundert klagt Arthur Young (1741–1820), dass für Tee und Zucker so viel Geld ausgegeben werde, dass man damit vier Millionen Menschen mit Brot ernähren könne. Im Jahr 1790 belief sich der Pro-Kopf-Verbrauch in Großbritannien auf ein Kilogramm Tee. Die Briten nahmen damit den Spitzenplatz in Europa ein, die Niederländische Republik stand dagegen beim Kaffeekonsum mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 2240 Gramm eindeutig an der Spitze. Die erfolgreiche Verbreitung des Tees war zu einem beachtlichen Teil den Frauen zu verdanken. Anstand und Sitte machte es ihnen so gut wie unmöglich, in einem öffentlichen Kaffeehaus einzukehren. Es kam deshalb sehr häufig vor, dass

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Das Teetrinken in der Kritik

Der Anstieg des Teekonsums rief die Moralisten auf den Plan. Sie glaubten nicht nur die Gesundheit der unteren Klassen gefährdet, sondern sahen im wachsenden Teekonsum auch ein Zeichen für die steigenden Ausgaben für Luxusgüter, die das Wohl der Nation gefährdeten. Unter den vehementen Kritikern fand sich Jonas Hanway (1712–1786), der in einem kurzen Aufsatz (1757) das Teetrinken entrüstet als „epidemische Krankheit“ anprangerte: „Man kann Arbeiter beobachten, die die Straße reparieren und dabei Tee trinken. Ja, Tee wird sogar in Tassen an Heuwender ausgeschenkt.“18

die Damen in Kutschen vorfuhren und sich den Tee bringen ließen. Mode wurde es zudem, die raffinierten Teegärten zu besuchen, die an die Stelle der öffentlichen Vergnügungsgärten getreten waren. Sie luden zum Spazieren, Tanzen und insbesondere zum Musikhören ein. Die berühmtesten waren die Vauxhall- und die Ranelagh-Gärten. Diese Konkurrenz machte den Kaffeehäusern bald zu schaffen.

Der Teehandel

Im 18. Jahrhundert wurde London zum wichtigsten Umschlagplatz des Weltteehandels. Riesige Auktionshäuser verkauften Tee an Firmen, die ihn verpackten und unter ihrem Namen vermarkteten. Die Auktion als Verkaufsmethode hatte sich bereits für andere Güter bewährt, ehe der Tee überhaupt auf den europäischen Markt kam. Durch Auktionen ließ sich leicht feststellen, welche Güter der Markt zu welchen Preisen aufzunehmen bereit war. Wie beherrschend die Frage nach Qualität und Preis war, lässt sich am Beispiel Thomas Liptons (1850–1931) zeigen:

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Lipton war ein Revolutionär der Teevermarktung. Er lieferte seit 1889 den Tee, der zuvor lose verkauft worden war, in haushaltsgerechten kleinen Päckchen an den Einzelhandel. Mit Liptons Packungen wurde der Tee zum Markenartikel. Er prüfte auch das Wasser in den verschiedenen Städten und behauptete, Tee, den er in den Handel brächte, sei genau auf das Wasser der betreffenden Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb der Transport von Stadt abgestimmt. Tee hauptsächlich eine Sache Muskelkraft. Jeder Den Teehandel kontrollierten menschlicher dieser im Jahr 1908 fotografierdie niederländische und die britische ten Träger schleppte etwa 130 Kilogramm Teeziegel über die Ostindienkompanie. Beide Handels- Berge von Sichuan nach Tibet. kompanien waren auf den Import von Tee aus China angewiesen. Hier war der Hafen Kanton am Perlfluss in Südchina vom kaiserlichen Hof 1759 als einziger Ausfuhrhafen bestimmt worden, der er bis 1842 blieb. Im chinesischen Teehandel mischten zu Beginn alle europäischen Großmächte mit, letztendlich setzte sich die britische Ostindienkompanie durch. Das war nicht nur für England und China von Bedeutung, sondern strahlte indirekt bis in die künftigen Vereinigten Staaten aus: Die so genannte Boston Tea Party (1773) wurde zur Initialzündung der Amerikanischen Revolution; Tee machte im wahrsten Sinn des Wortes Weltgeschichte. Die Boston Tea Party zeigt auch, dass die Welt bereits in einem beachtlichen Ausmaß vernetzt war. Mit einem Teeboykott wollte man das Mutterland England empfindlich treffen: Tee, ein Produkt, das vorab aus China kam, wurde damit in den nordamerikanischen Kolonien zu einem politischen und wirtschaftlichen Druckmittel.

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Die B oston Tea Party

Im Dezember 1773 lagen drei Teeschiffe der britischen East India Company im Hafen von Boston vor Anker. Im Schutz der Dunkelheit begaben sich 50 als Indianer verkleidete Kolonisten zum Kai, enterten die drei Schiffe und warfen die insgesamt 342 Kisten Tee ins Hafenbecken. Immer höhere Steuern – erhöht wurde etwa die Teesteuer – und Zölle, die den britischen Kolonien auferlegt wurden, sowie die Forderung der Kolonisten nach größerer politischer Autonomie hatten zu Konflikten zwischen den Kolonisten und dem britischen Mutterland geführt. Mit der

Boston Tea Party erreichte der Streit eine neue Dimension. Die weitere Eskalation des Konflikts führte 1775 zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs.

Im 20. Jahrhundert geriet die Vermarktung des Tees, der aus den Tee anbauenden Ländern (Indien, China, Sri Lanka/ Ceylon, Kenia, Indonesien, Türkei) importiert wurde, in die Hände einiger weniger weltweit agierender Firmen. Besonderes Gewicht hat darunter der englisch-niederländische UnileverKonzern, der etwa das traditionsreiche Teeunternehmen Lipton und Brooke Bond (PG Tips) erwarb.

Bone china — feine Porzellanware

Mit der zunehmenden Verbreitung des Tees blühte auch der Handel mit Porzellan auf. Kaffee und Schokolade wurden zwar auch in Porzellangeschirr serviert, aber Teegeschirr wurde deutlich mehr ge- bzw. verkauft. Chinesisches Porzellan wurde in derart großen Mengen nach Europa transportiert, dass man im Umkehrschluss wohl sagen kann: Die Nachfrage nach Porzellan steigerte die Nachfrage nach Tee. Dabei spielte das Status-

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denken eine Schlüsselrolle: Tee zu trinken war das Eine, ihn in erlesenem kostbaren Porzellan zu genießen das Andere. Dass der Transport des Porzellans logistische Vorteile brachte, war ein willkommener Nebeneffekt: Für die Verschiffung des leichten Tees benötigte man sehr viel Ballast, schätzungsweise etwa ein Viertel der Teeladung. Dazu eignete sich das schwere Porzellan bestens, denn es ließ sich als unverderbliche Ware im untersten – feuchten – Rumpfbereich der Schiffe, den Bilgen, stapeln und beeinträchtigte während der Überfahrt nicht das empfindliche Teearoma. Porzellan war damit nicht nur eine echte Alternative zu herkömmlichen Ballastmaterialien, der „Ballast“ wurde selbst zu einer äußerst lukrativen Handelsware. Mit Einführung auf dem europäischen Markt veränderte sich zudem das Aussehen des Teegeschirrs: Die Teetasse mit Henkel stellt eine europäische Erfindung des 18. Jahrhunderts dar.

Die Teezeremonie

In der chinesischen oder japanischen Teezeremonie ist jeder einzelne Schritt und jede einzelne Handbewegung von sparsamer Ästhetik und genau vorgegeben. In der Kultur des japanischen Zen ist die Kunst des Teetrinkens sogar zu einem der zentralen Wege des rechten Leben kultiviert worden. Chadô, der „Weg des Tees“, lehrt die Menschen, „die Geringfügigkeit dessen zu verspüren, das sie an sich selbst für so wichtig halten“ und stattdessen „zu erkennen, wie wichtig scheinbar kleine Dinge an anderen sein können“. Der Grundgedanke der Teezeremonie ist einfach: Gastgeber und Gäste treffen sich an einem ruhigen Ort und verrichten miteinander die elementarsten Tätigkeiten des menschlichen Lebens. Daraus erwächst eine neue Aufmerksamkeit füreinander und für die Dinge der Umgebung.

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Teekonsum in Europa und weltweit

Im 18. Jahrhundert war in Europa nach England die Niederländische Republik der wichtigste Konsument von Tee. Frankreich konsumierte im besten Fall ein Zehntel des eigenen Imports; Deutschland bevorzugte Kaffee und in Spanien blieb der Tee ohne Chance. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeigte sich kein grundsätzlich anderes Bild: Großbritannien führt die Rangliste des Pro-Kopf-Verbrauchs pro Jahr mit weitem Abstand an, gefolgt von den Niederlanden und Deutschland. „Der weltweite Teeverbrauch, inklusive der Kräuter- und Früchtetees, wird auf mehr als 1000 Milliarden Liter im Jahr geschätzt, was bedeutet, dass auf jeden Erdenbewohner etwa 190 Liter pro Jahr entfallen.“20 Weltweit gesehen ist Tee nach Wasser das meistkonsumierte Getränk. Den heute weltweit größten Teeverbrauch pro Kopf hat Paraguay: Durchschnittlich trinkt jeder Bewohner von Paraguay pro Tag 14,6 Tassen Tee, was einem Konsum von 11,7 Kilogramm Tee im Jahr entspricht. Der Teebeutel – eine zufällige Erfindung

Die ,Erfindung‘ des Teebeutel geht auf den amerikanischen Teehändler Thomas Sullivan zurück. Dieser füllte die Teeblätter, um das Gewichtsproblem beim Versand in großen und teuren Blechdosen zu umgehen, 1904 oder 1908 in kleine, platzsparende Seidenbeuteln ab. Seine Kunden tauchten die kleinen Beutel ganz in Wasser ein, im Glauben, Sullivan habe dies so vorgesehen. Auf diese Weise sparten sie sich das Abseihen und Umfüllen des Tees in eine zweite Kanne.

Genuss aus der Neuen Welt: Die (Trink-)Schokolade

is Mitte des 19. Jahrhunderts konsumierte man Schokolade fast ausschließlich in flüssiger Form als teures und äußerst begehrtes Getränk. Als der italienische Abenteurer Giacomo Casanova (1725–1798) im November 1767 nach Spanien aufbrach, staunte er darüber, dass seine von ihm so sehr geliebte Trinkschokolade „überall und zu allen Stunden angeboten“21 wurde. Dass in Spanien die Trinkschokolade seit dem 17. Jahrhundert derart verbreitet war, kam nicht von ungefähr: Die Wiege der Kakao-Kultur liegt in Spanisch-Amerika. Bei den

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Mayas und Azteken hatten die Kakaobohnen einen hohen symbolischen und materiellen Wert, sie dienten neben Goldstaub als Zahlungsmittel. Bei religiösen und kriegerischen Riten wurden die Bohnen zu einem Getränk verarbeitet. Christoph Kolumbus erwähnt die Kakaobohnen, als er 1502 auf seiner vierten Reise vor Honduras auf ein Boot der Maya aus Yucatan stieß. Das Getränk schließlich lernten die Konquistadoren während der blutigen Eroberung des Aztekenreichs kennen. Der spanische Eroberer Hernán Cortés (1485–1547) und seine Männer hatten die Gelegenheit, einem Bankett des Aztekenherrschers Montezuma II. beizuwohnen. Bei dieser Gelegenheit wurde Schokolade als Getränk gereicht – ein neues Genussmittel war entdeckt. Die Trinkschokolade war das Getränk einer

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Elite – ihr Konsum schien auch den Eroberern ein entsprechendes Prestige zu vermitteln.

Die Auswirkungen der Schokolade

Zudem versprach die Trinkschokolade positive Auswirkungen auf das Sexualleben. Schon der spanische Arzt und Botaniker Francisco Hernández, der Mexiko 1572 besuchte und systematisch die neue Pflanzenwelt erforschte, stufte die Trinkschokolade als Aphrodisiakum ein. Es kam der scheinbar enorme Nutzen als Heilmittel hinzu: Der Engländer Thomas Gage, der sich ein gutes Jahrzehnt in Neu-Spanien aufhielt und dessen Reisebericht 1648 der Öffentlichkeit vorlag, verkündete, er verdanke sein körperliches Wohlbefinden, seine geistige Leistungsfähigkeit und seine stabile Gesundheit während seines Aufenthalts in Übersee allein der Trinkschokolade. Aus welchen Gründen auch immer, die Spanier kamen auf den Geschmack. Der italienische Handelsreisende Francesco Carletti (1574–1636), der mit seinem Vater Antonio Carletti auf einer seiner ausgedehnten Handelsreisen 1594 nach NeuSpanien gelangte, notierte: Hauptsächlich wird er [der Kakao] zur Zubereitung eines be-

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stimmten Getränkes verwendet, welches die Indianer Schokolade nennen. Sie wird hergestellt, indem man die besagten Früchte, die groß wie Eicheln sind, mit warmem Wasser und Zucker mischt, nachdem man sie zunächst gut getrocknet und über dem Feuer geröstet hat, um sie dann mit bestimmten Steinen [gemeint ist der Metatestein] zu zermürben […]; und so formt man einen Teig, der, in Wasser aufgelöst, als Getränk dient, das weit verbreitet ist. Es ist dem Land so eigen, dass die Spanier und Angehörige jeder anderen Nation,

G e n u s s a u s d e r N e u e n We l t

die dorthin gelangen, einmal davon genossen, sich so sehr daran gewöhnen, dass sie nur schwer davon lassen können, es allmorgendlich, sei es den ganzen Tag über, sei es bis spät oder nach dem Mittagessen, wenn es draußen heiß ist, oder auch wenn es schneit, davon zu trinken. Daher trägt man

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den mit Gewürzen gespickten Teig in Schachteln bei sich.22

Wer einmal Schokolade gekostet hatte, konnte also nur schwer auf sie verzichten. Man ist versucht, von einer Sucht zu sprechen, und in der Tat zeigen neueste Forschungsergebnisse, dass Kakao bzw. Schokolade eine äußerst komplexe Substanz ist, die über 800 verschiedenen Moleküle enthält. Darunter finden sich drei Stoffe, die dem im Haschisch oder Marihuana wirksamen THC (Tetrahydrocannabinol) sehr ähnlich sind. Ist Schokolade also eine Droge? Die Antwort fällt nicht eindeutig aus, denn trotz raffinierter Analyse der Einzelbestandteile kann die heutige Wissenschaft die Wirkung des Kakaos und seiner Erzeugnisse auf den menschlichen Körper nicht mit letzter Genauigkeit angeben. Trotzdem bringt die Schokolade einen Wesenszug des Menschen ans Licht: seine Suche nach Lust und Genuss. Dem weiblichen Geschlecht scheint die Trinkschokolade aufs Angenehmste gemundet zu haben. In den spanischen Kolonien sollen die Frauen selbst während des Gottesdienstes in der Kirche nicht darauf verzichtet haben.

Die Verbreitung der Schokolade in Europa

Vergönnt war der Genuss von Schokolade zunächst nur einer Minderheit: Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts blieb der Schokoladekonsum hauptsächlich auf die spanische Welt beschränkt. Die weitere Verbreitung erfolgte nur zögerlich, denn

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Als der schweizerisch-französische Maler Jeanne Etiénne Liotard (1702 –1789) am Wiener Hof weilte, um ein Porträt der Kaiserin Maria Theresia zu malen, servierte man ihm zum Frühstück jeweils eine Tasse Schokolade. Liotard erlag dabei weniger dem Reiz der Schokolade als dem Charme der hübschen Serviererin Nandl Baldauf.

G e n u s s a u s d e r N e u e n We l t

im Laufe des 16. Jahrhunderts gelangten nur geringe Mengen Kakao nach Spanien. Erst um die Wende zum 17. Jahrhundert taucht Kakao regelmäßig in den Laderegistern der spanischen Überseefahrer auf. Spaniens Erzfeind Portugal ließ es sich indes nicht nehmen, als Konkurrent aufzutreten. Auch in Portugiesisch-Brasilien wurde Kakao angebaut, der auf die Iberische Halbinsel exportiert wurde. Im Zeitalter des Barock wurde es auch im restlichen Europa Mode, Schokolade zu trinken. Der oben erwähnte Florentiner Francesco Carletti machte die Schokolade in Italien bekannt. Nach einer anderen Version waren die Klöster, allen voran der Jesuitenorden, für die weitere Verbreitung verantwortlich. Am Hof des Großherzogs der Toskana und am päpstlichen Hof begann man jedenfalls das Getränk zu genießen. Als die spanische Prinzessin Maria Theresia 1659 mit Ludwig XIV. (1638–1715) verehelicht wurde, verbreitete sich die Schokolade zudem in den adeligen Kreisen Frankreichs, obwohl sie der Sonnenkönig wenig schätzte. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts – eine erste Zeitungsanzeige für Schokolade findet sich im Publick Advertiser vom Juni 1657 – gelangte die Schokolade nach England und Schottland. Samuel Pepys schilderte wiederholt, wie er in Londoner Kaffeehäusern das neue Getränke probierte. Im 18. Jahrhundert etablierte sich die Trinkschokolade schließlich auch in der Küche reicher Bürger in Zürich, Göttingen, Weimar oder Wien. Im Spätbarock und Rokoko gewöhnte man sich in aristokratischen Kreisen daran, die Trinkschokolade in eigens dafür angefertigten Tassen im Bett einzunehmen. An der Schokolade fand nicht nur der spielerisch-erotische Geist des Zeitalters Geschmack, sondern auch die Kunst. In der Malerei des Rokoko ist das Ensemble von Boudoir und Schokolade ein ähnlich beliebtes Motiv wie die Schäferszenen und die galanten Bettsze-

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nen. So ist denn der Beschluss des Heiligen Stuhls nicht ohne eine gewisse Ironie, den Konsum von Schokolade auch in der Fastenzeit zu erlauben, d. h. Schokolade als Getränk einzustufen. Das hatte weit reichende Folgen: In der katholischen Bevölkerung gewann die Schokolade dadurch viele Konsumenten.

Schokolade als Statussymbol

Ein weiteres Element förderte den Konsum von Schokolade: Sie war ein ideales Statussymbol. Genau wie bei Kaffee und Tee wurde auch die Schokolade in Silbergeschirr oder Porzellantassen serviert. Was sie aber richtig exklusiv machte, war ihr hoher Preis. Man benötigte eine weitaus größere Menge für die Zubereitung einer Tasse Schokolade als für eine Tasse Kaffee oder Tee, während der Import noch lange Zeit bescheiden war. Die Verarbeitung zu Trinkschokolade war zudem aufwändig und keine billige Sklavenarbeit. Ein Londoner Kaufmann, der den möglichen Profit beim Handel mit Schokolade abschätzen wollte, versuchte die Höhe des Verbrauchs der verschiedenen Genussmittel zu berechnen. Nach seiner Rechnung benötigte eine Person für den regelmäßigen Konsum zum Frühstück im Monat entweder ein Viertel Pfund Tee, ein Pfund Kaffee oder zwei Pfund Schokolade. Den Jahreskonsum berechnet er auf 3 Pfund Tee, 12 Pfund Kaffee oder 24 Pfund Schokolade. Im Vergleich zum Tee brauchte es also achtmal, im Vergleich zum Kaffee doppelt so viel Schokolade. Das machte die Schokolade zu einem exquisiten Gut. Die Kosten spiegelten sich denn auch im öffentlichen Konsum wider: 1768 kostete in einem Göttinger Kaffeehaus eine Portion Kaffee zwei Groschen. Viermal so teuer war dagegen eine Portion Schokolade, für die acht Groschen verlangt wurden. Um dieselbe Zeit kostete in Wien eine Schale Schokolade sieben bis zehn Kreuzer,

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Schokolade als ‚Bestechungsmittel‘

Das begehrte Luxusgut Schokolade diente auch der Bestechung. Im Jahr 1654 machte ein gewisser Marquis de Albuquerque dem spanischen Indienrat, der mächtigen Schaltzentrale für alle Belange des spanisch-überseeischen Kolonialreichs, eine Zuwendung von nicht weniger als 16 000 Pfund Schokolade. Eine viel bescheidenere Menge nebst den dazu passenden Porzellanschalen aus China, die der Heilige Stuhl investierte, reichte dagegen 1697 schon aus, um die ersehnte Heiligsprechung von Sebastian de Aparicio glücklich auf den Weg zu bringen.

während die Schale Kaffee schon für drei Kreuzer zu haben war – bei einem gewöhnlichen Tagelohn von 15 Kreuzern. Die Zubereitung exquisiter Trinkschokolade übernahmen so genannte Schokoladenköche, denn man importierte wie heute nur die Kakaobohnen nach Europa. Wer also über die beste Qualität in Einkauf und Verarbeitung verfügen wollte, war gut beraten, einen Kenner einzustellen.

Die „Zuckerrevolution“

Die Akzeptanz des neuen Getränks ging Hand in Hand mit neuen Geschmacksrichtungen. Statt des bitteren, stark gewürzten Getränks des barocken Zeitalters bevorzugte man immer häufiger eine mit viel Zucker angereicherte Schokolade. Die Zahl der Variationen war groß. So gab man in Europa neben den aus Übersee bekannten Zutaten wie Chili und Vanille auch Kostbarkeiten wie Zimt, Nelken, Kardamom, Anis, Moschus, Ambra oder Jasmin hinzu. Der Phantasie und den Geschmacksrichtungen waren wenig Grenzen gesetzt, und natürlich fehlte auch der Alkohol nicht: Wein, Bier oder hochprozentige Alko-

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holsorten konnten der Schokolade beigegeben werden. Das folgende Rezept aus Schweden diente zur Herstellung einer sehr beliebten Trinkschokolade: 17 Pfund geröstete Kakaobohnen, vermengt mit 10 Pfund Zucker, 28 gestoßenen Vanilleschoten, 1 Drachme Ambra und 6 Unzen Zimt. In Deutschland wurde dagegen gerösteter Kakao und Zucker im gleichen Mengenverhältnis, gewürzt mit Vanille und Zimt, bevorzugt. Möglich geworden war der süße Geschmackswandel durch die so genannte „Zuckerrevolution“, die sich vom 17. zum 18. Jahrhundert vollzog. Jetzt erst wurde die Schokolade zu einer süßen Versuchung. Schon die Azteken hatten in seltenen Fällen Honig beigemischt, und auch Carletti erwähnt, dass man die Kakaobohnen mit Zuckerwasser zubereitete. Nun aber wurde der bittere Geschmack der Schokolade durch den Zucker nicht nur überdeckt, sondern sogar zum Verschwinden gebracht. Dem neuen Trend folgten Tee und Kaffee, die nun auch gern gesüßt getrunken wurden. Über die Kaffeehäuser, die auch Schokolade ausschenkten, wurde das Heißgetränk in den bürgerlichen Schichten beliebt. Aber selbst in Spanien, wo das Getränk derart begehrt war, dass die Einwohner „lieber Kleider und andere Sachen missen, als dieses Geträncke nicht täglich zwei biss drei mal [zu] trincken“23, war die zur Verfügung stehende Kakaomenge eher bescheiden: Auf 312 Gramm Kakao haben Historiker den ProKopf-Verbrauch im Jahr berechnet. Ein Volksgetränk war die Schokolade aber selbst in Spanien nicht und noch weniger in anderen Ländern. So lag der Pro-Kopf-Verbrauch pro Jahr in Großbritannien für Kakao bei knapp zehn Gramm! Daran änderte erst die Erfindung des Kakaopulvers (1828) und der Essschokolade (1876) Grundlegendes. Aus dem Getränk Schokolade war das Nahrungs- und Genussmittel Schokolade entstanden.

Neue Abhängigkeiten: Trinken als ‚Versuchung‘

er Mensch legt ein außergewöhnliches Trinkverhalten an den Tag: Er ist, wie erwähnt, das einzige Säugetier, das ein Leben lang Milch trinkt. Milch schmeckt leicht süßlich und unterscheidet sich damit schon geschmacklich von reinem Trinkwasser. Der Wunsch nach einem Mehr an Geschmack war vielleicht ein Movens dafür, neue Getränke zu finden und erfinden. Was trieb und treibt den Menschen dazu, neue Getränke zu entdecken oder zu entwickeln? Es macht ganz den Anschein,

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dass der Menschen eine Vorliebe für Getränke mit hoher Reizwirkung hat. Das provozierende Bonmot von Oscar Wilde (1854–1900): „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung“ führt mitten in das schwierige Thema des menschlichen Genuss- und Suchtverhaltens – denn diese ‚Versuchung‘ besteht auch für viele Getränke. In Kaffee, Tee und Schokolade sind zahlreiche chemische Substanzen enthalten, die nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Psyche beeinflussen. Weit stärker gilt dies für die alkoholischen Getränke, wird Alkohol doch zu den Drogen gerechnet. Haben sich viele Getränke also so rasch verbreiten können, weil sie den Menschen süchtig machten?

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Zucker — die süße Macht

Zucker ist für viele Menschen eine süße Versuchung. Wir haben schon erwähnt, dass Tee oder Kaffee mit der stärkeren Verbreitung von Zucker gesüßt wurden. Hierher gehört auch die Limonade, ein Getränk aus Wasser, Zitronensaft und Zucker, das sich seit Anfang des 17. Jahrhunderts von Frankreich aus auf der ganzen Welt durchsetzte. Der Zitronensaft wurde häufig durch andere Fruchtsäfte, das gewöhnliche Wasser durch Sodawasser und später durch kohlensäurehaltiges Mineralwasser ersetzt. Der Schritt zu den heute bekannten Süßgetränken war praktisch getan. Viele Wissenschaftler unterstützen die These, die Eigenschaft von Säugern, sehr sensibel auf Süßes zu reagieren, habe sich herausgebildet, weil über Millionen von Jahren hinweg ein süßer Geschmack ein Hinweis für Essbarkeit gewesen sei. Süße dürfte unseren Primatenvorfahren und den ersten Menschenwesen in Gestalt von Beeren, Früchten und von Honig vertraut gewesen sein – wobei Honig bei weitem die größte Süße aufweist. Während der Honig Menschen früh bekannt war, und zwar überall auf der Welt, ist der aus dem Zuckerrohr gewonnene Zucker (die Saccharose) eine späte Entdeckung. Erst in Zuck k er ist nicht gleich Zucker

Die Empfindung von Süße muss unterschieden werden von den Substanzen, die sie hervorrufen. Verarbeitete Zucker, wie etwa Saccharose, Dextrose und Fruktose, die technochemisch hergestellt und raffiniert werden, müssen wiederum unterschieden werden von den Zuckern, wie sie in der Natur vorkommen. Für Chemiker ist „Zucker“ ein Sammelbegriff für eine große, in sich vielfältige Klasse von organischen Verbindungen, unter denen die Saccharose nur eine von vielen ist.

Neue Abhängigkeiten

den letzten 500 Jahren wurde Zucker zu einem Allgemeingut. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Zuckerrübe, eine Pflanze, die in gemäßigten Zonen gedeiht, zu einer fast ebenso wichtigen Quelle für Saccharose entwickelt. Die Beherrschung der Saccharosegewinnung aus Zuckerrüben hat die Zuckerindustrie nachhaltig verändert und den Zucker zu einem Produkt gemacht, dessen Allgegenwart sich auch bei den Getränken zeigt. Scheint die These auch nahe liegend zu sein, dass der Mensch eine Vorliebe für Zucker hat, weil uns die Lektion der Natur im wahrsten Sinn des Wortes in Fleisch und Blut übergegangen ist und es sich bei süßen Dingen um energiereiche und gute Nahrung handelt, so genügt diese Erklärung nicht. „Die Überlegung, dass es zwischen dem Verzehr von Früchten, dem Empfinden von Süße und der Evolution der Primaten Verbindungen gebe, ist überzeugend. Dass sich aus ihnen der enorme Konsum von raffiniertem Zucker durch einige Völker in der modernen Welt erklären lässt, ist zu bezweifeln“24, argumentiert Mintz in seiner Kulturgeschichte des Zuckers. Er plädiert dafür, dass die menschliche Vorliebe für das Süße weniger eine „Disposition“ als vielmehr eine mittels „kultureller Praktiken“ erworbene Eigenschaft sei.25 So glaubt Mintz, dass in England vor dem 18. Jahrhundert Süße „keine besondere oder gar entscheidend-charakteristische Rolle gespielt“ habe.26 Auch wenn diese These nicht unbestritten ist, so vermag sie doch die unterschiedlichen Muster des menschlichen Trinkverhaltens besser zu erklären, als dies mit einem rein biologischen Muster möglich wäre.

Koffein und Alkohol — in der Welt der Drogen?

Der Hauptwirkstoff von Tee und Kaffee ist das Koffein. Seine psychische Wirkung reicht von der milden Anregung, die die

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„Gedanken schärft“, bis hin zur Aufputschung, bei der das Denken fahrig und zusammenhanglos wird, ähnlich wie nach Einnahme von Amphetaminen. Offenbar sucht der Mensch diesen „Kick“ oder um es präziser zu sagen: Das menschliche Gehirn reagiert auf die Inhaltsstoffe, die in diesen Genussmitteln vorhanden sind. Kaffee, Tee oder Schokolade sind also streng genommen Suchtmittel. Das Fazit eines einschlägigen Handbuchs zu Rauschmitteln lautet klipp und klar: Mit Ausnahme des Kakaos, der wahrscheinlich wirklich

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harmlos ist (außer Verstopfung braucht der Dauerkonsument nichts von dieser schmackhaften Substanz zu fürchten), sind zumindest die Hauptwirkstoffe von Tee [und] Kaf-

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fee […] ziemlich gefährlich, jedenfalls bei längerem Missbrauch.27

Als Substanz mit eindeutigem Suchtpotenzial zeigt sich der Alkohol (Ethanol). Alkohol ist ein in reifen Früchten und Säften natürlich vorkommendes Produkt der alkoholischen Gärung. Mit der Destillation gelang es, den natürlichen Alkoholgehalt von Getränken zu erhöhen. Damit stand dem Menschen die Möglichkeit offen, sich sehr schnell zu berauschen (vgl. das Kapitel „Geburt des Alkoholismus“). Der Kohlensäuregehalt von Bier und vor allem von Champagner beschleunigt den Übertritt von Alkohol ins Blut. In manchen schlechten Branntweinen sind flüchtige Öle (Fuselöle) enthalten, die unabhängig von der Giftigkeit des Alkohols Leber und Gehirn schädigen. Was die Giftigkeit von Alkohol anbelangt, so wirkt Alkohol beim Menschen vorwiegend auf das Nervensystem, und zwar weniger auf vegetative Funktionen als auf die höheren, das Bewusstsein und die Emotionen steuernden Zentren. Man schätzt, dass bei einem Vollrausch Hunderttausende von den etwa 15 Milliarden Gehirnzellen zerstört

Neue Abhängigkeiten

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Alko o hol: Ethanol

Der berauschende Alkohol in Wein und Bier ist nur ein Glied einer großen chemischen Familie, in der zwei Kohlenstoffatome (C2) mit fünf Wasserstoffatomen (H5) und einer Hydroxylgruppe (OH) verbunden sind. Ethylalkohol, den man heute häufig auch Ethanol nennt, ist der Alkohol schlechthin. Bier enthält durchschnittlich 2–4 Prozent Alkohol, Exportbier 4–5 Prozent, englischer Porter und Doppelbockbier bis zu 8 Prozent. Wein enthält in der Regel 8–10, schwere Rotweine wie Burgunder 12–14 Prozent. Süßweinen (Portwein, Sherry) ist reiner Alkohol hinzugefügt (18–20 Prozent). Whisky, Rum, Gin und Kognak enthalten in der Regel 35–45 Prozent Ethanol.

werden. Bei chronischem Missbrauch werden Teile des Gehirns beeinträchtigt, bis hin zum Abbau von Hirngewebe. Die gefährlichen Langzeitwirkungen von übermäßigem Alkoholkonsum hängen mit dem Stoffwechsel zusammen: Alkohol durchdringt die Schleimhäute von Magen und Darm, gelangt über die Blutbahn in alle Organe und wird in der Leber durch das Enzym Alkoholdehydrogenase abgebaut. Dabei entsteht als ein relativ stabiles Abbauprodukt Acetaldehyd, das sich an die Lebereiweiße bindet und sie schädigt. Die Darmwand beginnt allmählich in ihrer Barrierewirkung zu versagen; der Trinker leidet häufiger an Infektionen, sein Immunsystem reagiert auf die Darmgifte.

Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit

Alkohol, mäßig genossen, stellt keine Gefahr für die Gesundheit dar. Übermäßiger Konsum, Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit sind jedoch problematisch. Von Alkoholmiss-

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brauch ist zu sprechen, wenn der Konsum von Alkohol zu Folgeschäden auf psychosozialem oder/und körperlichem Gebiet führt wie etwa zu Erkrankungen der Leber oder der Verdauungswege. Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass es kaum ein Organsystem gibt, an dem Forschungen nicht Symptome oder Krankheiten aufgezeigt hätten, die mit dem Alkoholmissbrauch ursächlich in Verbindung gebracht werden können. Die Kennzeichen der Alkoholabhängigkeit sind vielfältig, wir wollen uns hier auf einige beschränken. Indikatoren für eine Abhängigkeit sind: ein starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren; verminderte Kontrollfähigkeit über Anfang, Ende und vor allem: Menge des Alkoholkonsums; fortschreitender Verlust, die Aufgaben des Alltags zu bewältigen; anhaltender Alkoholkonsum trotz des Wissens um dessen schädliche Folgen. Die Ursachen für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit sind mannigfaltig. Die Medizin spricht heute von einem „Bedingungsgefüge“, und das einfachste Modell geht von drei großen Faktorengruppen oder Bedingungen für Alkoholismus aus. Diese sind: – Drogen mit ihren spezifischen Wirkungen (hier: der Alkohol), – das konsumierende Individuum mit seinen körperlichen und psychischen Eigenschaften, – das soziale Umfeld, wozu neben den zwischenmenschlichen Beziehungen auch die beruflichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie traditionsgebundene und religiös orientierte Normen zu rechnen sind. Dieses Gefüge im Einzelfall dingfest zu machen, ist keine einfache Aufgabe, stellt doch jede Form von Sucht oder Abhängigkeit einen Teufelskreis dar, der nur schwer zu durchbrechen ist, wie der kleine Prinz im Gespräch mit dem Säufer erfahren muss:

Neue Abhängigkeiten

„Warum trinkst du?“ fragte ihn der kleine Prinz. „Um zu vergessen“, antwortete der Säufer. „Um was zu vergessen?“

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erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. „Um zu vergessen, dass ich mich schäme“, gestand der Säufer und senkte den Kopf. „Weshalb schämst du dich?“,

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fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte zu helfen. „Weil ich saufe!“ endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen.28

Bei diesem berühmten Zitat von Saint-Exupery wird deutlich, dass die psychische Komponente eine große Rolle spielt. Tatsächlich weisen wissenschaftliche Untersuchungen nach, dass das körperliche Abhängigkeitspotential von Alkohol nicht so stark ist wie das mancher Rauschdrogen wie z. B. Heroin, Kokain und anderer Aufputschmittel.

Trinken als Medizin

In den frühesten Berichten über Genussmittel wird immer wieder deren Bedeutung als Heilmittel hervorgehoben. Seeleute, Händler oder Ärzte priesen die Volksgesundheit in den dicht besiedelten Reichen in Fernost, wo es dank des regelmäßigen Teekonsums weder Blasen- und Nierensteine noch Pest oder andere Epidemien gebe. Die ersten Europäer rühmten die Trinkschokolade als das beste Stärkungsgetränk, das selbst vor Tropenfiebern schütze. Gesundheitliche Argumente hatten in einer Welt voller Krankheiten und Seuchen, die Tausende von Todesopfern forderten, ein besonders großes Gewicht. Denn der Medizin der Frühen Neuzeit standen vergleichsweise wenig Möglichkeiten der Ursachenbekämpfung zur Verfügung. Die epochale Entdeckung, dass Mikroorganismen (Bakterien, Viren) tödliche Seu-

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chen auslösen können, war noch nicht gemacht. Da ist es nachvollziehbar, dass man der Suche nach neuen Heilmitteln einen hohen Stellenwert einräumte. Bei den Entdeckungsfahrten spielte neben die Gier nach Gold und Gewürzen auch die Suche nach neuen Arzneimitteln eine nicht unwesentliche Rolle. Anders formuliert: Die Genussmittel konnten sich in Europa auch deshalb etablieren, weil man ihnen heilende Wirkung zuschrieb. Dass diese These nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen die vielen medizinischen Traktate, die in dieser Epoche verfasst wurden. Systematisch suchte man die Vermutung zu bestätigen, dass die neuen Genussmittel heilende Wirkung hatten – so stellten Forscher in den Kolonien etwa Tierversuche und auch Selbstexperimente an. Der holländische Mediziner Stephan Blankaart (1705) trank an einem Tag 50, 100, gar 200 Tässchen Tee mit anderen Personen, um zu beweisen, dass selbst bei diesem Quantum „im Tee nichts Böses stecke“.29 Niemals hätten diese Resultate jedoch das gewünschte Echo erzielt, wenn sie sich nicht in die elementaren Konzepte hätten integrieren lassen, die die frühneuzeitliche (Schul-)Medizin über Ursprung und Behandlung von Krankheiten wie auch deren Vorbeugung hatte. Das erklärt, warum die neuen Genussmittel bald auch in populären Kräuter- und Arzneibüchern empfohlen wurden und eine Breitenwirkung erzielen konnten.

Trinken‚ um sich zu berauschen

Wein, Most und Bier sind dem Menschen lang bekannt. Doch erst mit der Erfindung und Verbreitung der Destillation traten Alkoholmissbrauch und -sucht auf.

Ein Erbe der Antike: Der Wein

en Genuss von Wein bzw. Alkohol beurteilten die verschiedenen Kulturen und Religionen sehr unterschiedlich. Während der Wein im antiken Rom zum Alltag gehörte, war bzw. ist er im Islam Trank der Verstorbenen. Einem gläubigen Moslem ist es im irdischen Dasein streng untersagt, Wein zu trinken: In diesen erlesenen Genuss sollen nach dem Koran allein die Frommen im Paradies kommen. Anders das Christentum: In der Bibel wird die Rebe und ihr Hauptprodukt, der Wein, häufiger als jede andere Pflanze erwähnt. Zu Kanaa

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verwandelte Jesus Wasser in Wein, und beim Abendmahl wurde das Brot, das er brach, und der Kelch, den er erhob, zum Symbol des Bundes mit Gott (Joh. 15,1). Das machte den Wein zu einem kultischen Getränk im Christentum und zu einem Getränk von größtem Symbolgehalt, aber auch religiösem Konfliktstoff. Die religiöse Bedeutung von Wein zeigt sich im 16. Jahrhundert am Beispiel der Glaubensspaltung: Am Abendmahl, „dem zentralen religiösen Ritual des vormodernen Europa“1, scheiden sich die Geister: Während den Einen der Wein bei der Abendmahlsfeier nur das Blut symbolisiert, ist er für die Anderen das Blut Christi (Realpräsenz). Um diese Wandlung (Transsubstantiation) wurde zu Beginn der Reformation ein erbitterter Streit geführt, der dem Gang der Reformationsgeschichte eine neue Richtung gab.

Ein Erbe der Antike

Der Wein hatte seit jeher im Alltag einen zentralen Platz. Im südlichen Europa galt: Mangel an Wein wurde mit einer Hungersnot gleichgesetzt, und selbst unter extremsten Bedingungen suchte man am Weinbau festzuhalten. Oberhalb von Lies (Midi-Pyrénées, 1470 Meter über NN) baute man auf den Höhen Wein an, als man sich vor der maurischen Bedrohung ins Gebirge zurückziehen musste, und auch im Aostatal reichte der Weinbau bis in 1359 Meter über NN. Im Norden Europas schränkte das Klima den Weinanbau dagegen ein, auch wenn das Klima hier im Mittelalter milder war als in späteren Jahrhunderten. In Europa war man im wahrsten Sinn des Wortes auf den (Wein-)Geschmack gekommen. Kein anderes Getränk sollte den europäischen Kulturraum derart prägen wie der Wein. Allerdings sollte man sich vor allzu groben Vereinfachungen hüten. Den Mittelmeerraum einfach als traditionelles Weinbaugebiet darzustellen, weil schon bei den Römern der Wein das wichtigste Produkt der Agrarwirtschaft war und sich hier eine Kontinuität erhielt, ist zu einfach. Im Languedoc etwa boomte der Weinanbau im 16. Jahrhundert nur noch lokal begrenzt und war immer wieder von Rückschlägen gekennzeichnet. Generell gilt: Die Ernährung und die Getränke wurden nicht nur durch die jeweiligen lokalen Produktionsmöglichkeiten bestimmt, sondern auch durch das wirtschaftliche Umfeld. Erst mit der Herausbildung der Städte und der Verbesserung der Verkehrswege stieg auch die Nachfrage nach Wein in ganz Europa stark an. Die enorme Nachfrage um 1500 trug zur Ausdehnung der Anbaugebiete in Nordeuropa bei, die sich schließlich bis nach Mittelengland, Dänemark und bis zur Memel erstreckten. In Deutschland war damals die Weinanbaufläche vier- bis fünfmal so groß wie heute.

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Der Wein in der Antike

Wer heute von Wein spricht, denkt im Allgemeinen an den Wein, den er/sie selbst kennt. Doch der Wein, der in der Antike und im Mittelalter getrunken wurde, unterschied sich in wesentlichen Punkten. Die Römer hatten die Angewohnheit, ihren Wein mit Wasser zu verdünnen. Das Verhältnis schwankte je nach Sorte und Anlass zwischen 1:1 und 1:5. Wer vorab seinen Durst löschen wollte, mischte dem Wein sehr viel Wasser bei; wer seine Sorgen rasch vergessen wollte, ging sparsamer mit dem Wasser um. Gezielt produzierte man zudem unterschiedliche Qualitäten. Griechen wie Römer gewannen durch Aufgießen von Wasser auf den Trester einen zweiten, minderwertigen Wein, der sehr sauer war. Bei den Griechen hieß er deuteria, „der zweite“, bei den Römern lora. Unsauberes Wasser ließ sich durch ein bestimmtes Quantum Wein sogar desinfizieren – das ist der Grund, warum Weinoder Essigkonsum (das Getränk wurde posca genannt) den röMulss um: eine Alternative zu Wein

Häufiger als Wein tranken die Römer mulsum, einen „Honigwein“. Er war leichter und auf (fast) nüchternen Magen bekömmlicher als Wein: „Mit mildem mulsum spüle dir die Därme durch“2, rät Horaz (65–27 v. Chr.) vor einem üppigen Abendessen. Für die Herstellung des mulsum sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Rezepte überliefert. Die beste Qualität erhielt man, indem man Most, d. h. den durch Keltern gewonnenen Fruchtsaft, direkt aus der Kelterwanne mit Honig mischte, die Mischung in Flaschen goss und drei Wochen lang gären ließ, bevor man sie in neue Flaschen umfüllte. Üblicher scheint aber ein anderes Verfahren gewesen zu sein: Etwas Honig wurde nicht in Most, sondern direkt in den Wein gerührt.

Ein Erbe der Antike

mischen Legionären sogar ausdrücklich vorgeschrieben war. In der Antike wurde der Wein mehrheitlich frisch getrunken. Die Ägypter, Griechen und Römer verstanden es zwar, weitgehend luftdichte Amphoren herzustellen, die mit Gips oder Pech überzogenen Tonpropfen verschlossen wurden. Trotzdem tranken auch die Römer die meisten Weine im ersten Jahr nach ihrer Kelterung. „Uralt“ oder „älter als ein Menschenkind“3 waren indes die Spitzenweine bei den Festen und Gastmählern der Reichen.

Weingenuss im Mittelalter

Wein (und auch Bier) waren im Mittelalter weniger Genussdenn Grundnahrungsmittel. Beim Weinkonsum ging es nicht in erster Linie um den Alkohol, wenn es auch unzählige Berichte über herrschaftliche Trinkgelage, sozusagen Zechen und Bechern auf hohem Niveau und in erstaunlichen Mengen, gibt – mit dem Alltag der gemeinen Leute hatte das nichts zu tun. Ernst Schubert4 veranschlagt für das Mittelalter den ‚normalen‘ Verbrauch von Wein (oder Bier) zur Deckung des Flüssigkeitsbedarfs pro Person mit 1 bis 2,5 Litern pro Tag. Andere Historiker gehen um 1500 sogar von einem noch höheren Tagesverbrauch von 2 bis 3 Litern Wein für einen Erwachsenen aus. Auch Kranken und Wöchnerinnen gab man großzügig Wein zu trinken, denn er galt als zuverlässiges Stärkungsmittel: Wenn im Nürnberger Spital des 15. Jahrhunderts eine Wöchnerin eine Woche lang täglich eine Maß Wein (fast 2 l)

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erhält, um wieder zu Kräften zu kommen, wenn auch andernorts 1,5 l Wein als unerlässlich für die Versorgung eines Menschen im Spital angesehen werden, wenn – eine Faustregel – für gutsituierte Haushalte ein Tageskonsum von 1,3 l Wein pro Person angenommen werden kann, dann geht es nicht um Alkohol, sondern um die Gesundheit.5

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Darstellungen aus einem mittelalterlichen Kalender: Im März werden die Weinstöcke zurückgeschnitten.

Im September findet die Weinlese statt – für den Winzer der Höhepunkt des Jahres.

Im Mittelalter lässt sich also ein beachtlicher Weinkonsum konstatieren – nicht zuletzt deswegen, weil Wein keimfreier als Wasser war. Diesem Weinkonsum korrespondierte eine Ausweitung der Rebflächen, die Weinbaugrenzen verschoben sich zudem weit nach Norden – erst im Spätmittelalter kehrte sich dieser Prozess aufgrund sich verändernder klimatischer Bedingungen und des Vormarschs des Bieres als Konkurrent zum Wein wieder um. Ein derart hoher Konsum ist erklärungsbedürftig. Waren die Leute etwa dauernd beschwipst? Beruhen die Werte auf falschen Angaben? Ziehen wir zum Vergleich neuere und besser abgesicherte Werte zu Rate. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde in Frankreich mehr Alkohol als in jedem anderen Land der Welt konsumiert: Jeder erwachsene Franzose trank (statistisch pro Jahr) 30 Liter reinen Alkohol, was 200 Litern Wein, 25 Litern Bier und 3,8 Litern Spirituosen entsprach. Dieser nationale Durchschnittswert verdeckt den Blick auf regionale Unterschiede: So lag in der Bretagne der jährliche Durchschnittswert des Alkoholkonsums

Ein Erbe der Antike

Helle oder blaue Trauben werden beim Keltern gründlich zerquetscht (Maische) und kommen dann in die Kelterpresse (in der Kelter rechts zu sehen). Für Weißwein wird die Maische rasch gekeltert, um ein Braunwerden zu verhindern. Für Rotwein dagegen lässt man die Maische einige Tage stehen, so dass später der Most die gewünschte rote Färbung hat. Erst dann wird die Maische gepresst, wobei der Trester zurückbleibt. Man zog Wein erster, zweiter und dritter Pressung ab.

pro Kopf zwischen 54 und 70 Litern, in der Provence aber bei „nur“ 21–31 Litern. Geht man für das Mittelalter von einem Tagesverbrauch von über einem Liter Wein aus, so wäre der Spitzenwert Frankreichs im 20. Jahrhundert klar übertroffen worden. Bei näherer Betrachtung gilt es diese Rechnung jedoch zu relativieren. Ärmere Schichten tranken oft nur Weine zweiter oder dritter Pressung, die einen entsprechend geringen Alkoholgehalt aufwiesen. Eine Statistik, die nur die Menge der konsumierten Getränke angibt, sich aber über deren Alkoholgehalt ausschweigt, kann also nur einen sehr groben Anhaltspunkt bieten.

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Der t ägliche Wein

In Graz erachtete im 16. Jahrhundert ein Familienoberhaupt für sich und seine Gattin je 1,5 Liter pro Tag als unbedingt notwendige Ration; im Grazer Hofspital erhielten die Pfründner morgens und abends etwa 0,8 Liter in ihr „Khändl oder Geschirr“ gefüllt. Der Spitalmeister mit seiner Frau durfte sich täglich gar 2,8 Liter aus dem Keller holen, während dem Knecht, der Köchin und den beiden Mägden je 0,7 Liter pro Tag zustanden. Als „Haustrunk“ bezeichnete man diesen täglich gereichten Schoppen Wein. Davon unabhängig erfolgte die Besoldung der Bediensteten in jener Zeit, in der Bargeld ein rares Gut war, häufig in Form von Naturalien, eben auch in Wein.

Über Geschmack lässt sich streiten …

Den Wein trank man notwendigerweise frisch, er wurde in Holzfässer abgefüllt, bei denen nicht einmal das Spundloch luftdicht schloss. Flaschen aus Glas, Metall oder Holz wurden nicht zur Lagerung verwendet, sondern allenfalls, um den Wein bei Tisch zu servieren. Man versuchte zwar seit dem Hochmittelalter, Wein darin auch länger aufzubewahren, doch war der Verschluss aus Hanf und Öl nicht genügend gasdicht. Die Überzeugung vieler Fachleute, dass die Qualität des Getränks dadurch weitgehend verloren gehe, überrascht nicht. Ab 1300 begann man im deutschen Sprachraum die Weinsorten genauer auseinander zu halten. Gehandelt wurde der Elsässer, der Neckarwein, der Rheinwein und so fort, weitere Unterscheidungen nach Rebsorten gab es nicht. Für heutige Geschmäcker wären die meisten Weine, die man im Mittelalter trank, eher eine Geschmacksverirrung. Gang und gäbe war es, den Wein nach kurios anmutenden Rezepturen geschmacklich

Ein Erbe der Antike

zu „schönen“, und das hieß vor allem süßer zu machen (etwa durch den Zusatz von Honig). Eine besondere ‚Spezialität‘ des Mittelalters war der über Kräuter, Gewürze oder Honig abgeklärte Weißwein. Er hieß auch Klarwein, Klartrank, lutertranc oder claret und war sehr schwer. Niemand hatte etwas gegen Gewürze im Wein, wozu neben

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den Heilpflanzen Wermut und Salbei der oft mit Absinth versetzte Honig und Beeren zählten. Beliebt sind Honig-, Safran-, Salbei, Rosen-, Nelkenwein und der „môraz“, der Maulbeerwein. Bis zum sogenannten Alant-, Olantwein kann die Veränderung des Rebensaftes gehen, der zu einer dicklichen Masse eingekocht und mit „hitzigen Kräutern“, mit Senf und Latwerge versetzt wird. „Lutertranc“, „Claret“,

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galt als teures Heilmittel und wurde in Apotheken verkauft.6

Weinkultur im Wandel

Im 16. Jahrhundert wurde der Gipfelpunkt der Verbrauchskurve überschritten, als ein langfristiger Verfall der Reallöhne einsetzte. Wein wurde in den ärmeren Schichten durch Bier, teils durch Most ersetzt. Der Anbau in Europa beschränkte sich wieder auf die älteren Weingebiete. Sinkende Löhne waren nur eine von vielen Ursachen, die zum Rückgang des Weinanbaus führten. Die Aufhebung der Klöster durch die Reformation, kriegerische Auseinandersetzungen wie der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) und nicht zuletzt die „Kleine Eiszeit“, extreme Witterungsbedingungen sowie die Verbreitung anderer Getränke wie Branntwein, Bier, Kaffee, Tee und Schokolade spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. Hinzu kamen gestiegene Qualitätsansprüche; seit dem 16. Jahrhundert wurde der Wein neben dem Grundnahrungsmittel

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Der Verschluss von Weinflaschen

Bis ins späte 17. Jahrhundert waren Flaschen kostbar und eher selten. Da sie sehr zerbrechlich waren (was beispielsweise beim Transport über Land ein Problem darstellt), suchte man sie mit einem Geflecht aus Weiden oder Stroh zu schützen. Die Flaschen pflegte man mit Stopfen zu verschließen, die zusätzlich mit Talg, getränktem Hanf oder Werg umwickelt waren. Diese Stopfen ragten über den Flaschenhals hinaus und waren deshalb leicht von Hand zu entfernen.

(das er in vielen Regionen bleibt) zum ausgesprochenen Genussmittel und edlen Getränk. Gleichzeitig lassen sich entscheidende Weiterentwicklungen der Weinkultur beobachten: Nicht jede Lage schien mehr geeignet für den Weinanbau, die Sorten wurden besser gepflegt. Der (bessere) Wein wurde nun nach der Fasslagerung in Glasflaschen abgefüllt, die mit einem Pfropfen aus der Rinde der iberischen Korkeiche verschlossen wurden. Dieser fast gasdichte Korken ermöglichte es, an die antike Praxis anzuknüpfen, den Wein sorten-, lagen- und jahrgangsrein auszubauen.

Weinland Frankreich

Exemplarisch gehen wir im Folgenden ausführlicher auf ein klassisches Weinland, auf Frankreich, ein. Die französischen Weinanbauflächen hatten sich wie folgt entwickelt: Am Vorabend der Revolution (1789) umfasste die Anbaufläche an Wein 1,5 Millionen Hektar und belief sich auf eine Jahresproduktion von rund 27 Millionen Hektoliter. 1830 dehnte sich der Weinanbau auf ungefähr zwei Millionen Hektar aus, was der Hälfte der weltweiten Anbauflächen entsprach. Nichts schien einer weiteren Aus-

Ein Erbe der Antike

dehnung der Anbauflächen Einhalt gebieten zu können. Entsprechend nahm auch der Export zu: 1866 exportierte Frankreich 3 Millionen Hektoliter Wein; zweimal mehr als um 1840. Erst der verheerende Reblausbefall verursachte tief greifende Veränderungen. Die aus Nordamerika stammende Reblaus (Dactylosphaera vitifolii), eine Verwandte der Blattlaus, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts nach Frankreich eingeschleppt und breitete sich rasant über sämtliche europäische Weinbaugebiete aus. Zur Bekämpfung griff man zu Insektengift oder einfachem Überschwemmen der Felder. Mit der Zeit setzte sich jedoch ein anderes Verfahren durch: Reblausresistente Reben aus Amerika wurden mit einheimischen Edelreisern bepfropft, so konnte der komplizierte Fortpflanzungszyklus unterbrochen werden. Die Reblauskatastrophe machte den Wein nicht wieder zu einem Luxusgetränk, doch sie veränderte die europäische Wein- und Geschmackskultur von Grund auf: Alte Weinsorten verschwanden oder tauchten in veränderten Formen auf. Die Weinvorräte sanken auf ein extrem tiefes Niveau, während Spirituosen verstärkt produziert und konsumiert wurden. Im 20. Jahrhundert wurde in Frankreich die riesige Ausdehnung der Weinanbaugebiete des vorangegangenen Jahrhunderts nicht mehr erreicht: 1903 zählte man 1,69 Millionen Hektar, 1997 noch 915 000 Hektar. Zum Vergleich: Spanien hatte 1997 eine Anbaufläche von 1 155 000 Hektar, Italien von 914 000 Hektar, Portugal von 260 000 Hektar und Deutschland von 105 000 Hektar. Die fortschreitende Globalisierung konnte den Verbrauch nicht steigern. Der weltweite Konsum lag 1980 bei 286 Millionen Hektolitern, bis 1994 sank er auf 215 Millionen, um danach wieder leicht anzusteigen. Vom Rückgang des Konsums sind interessanterweise in den letzten drei Jahrzehnten die tra-

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Umfa a ng der Weinproduktion

In der Produktion von Wein stand Frankreich unangefochten an der Spitze: Es produzierte 1997 mehr als 53 Millionen Hektoliter, Italien 51 Millionen und Spanien knapp 34 Millionen Hektoliter Wein. Davon konsumierte der französische Binnenmarkt rund 35 Millionen Hektoliter, der italienische 34 und der spanische 15 Millionen Hektoliter Wein. Die Franzosen waren und sind also die besten Kunden ihres eigenen Weins.

ditionellen Weinländer – Frankreich, Italien und Spanien – am stärksten betroffen, während im Norden Europas eine deutliche Zunahme des Weinkonsums zu verzeichnen ist. Die Franzosen sind ein Volk von Weintrinkern, jedoch erst seit relativ kurzer Zeit. Die Demokratisierung und massenhafte Verbreitung des Weins setzte sich erst im 19. Jahrhundert durch. Vorher variierte die Höhe des Weinkonsums nach Region, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Zugänglichkeit beträchtlich. Zollschranken zwischen den Provinzen sowie komplizierte und teure Transportwege erschwerten den Weinhandel. Erst die Eisenbahn beschleunigte und erleichterte den Transport massiv. Jetzt wurde auch die großflächige Produktion von vin ordinaire sinnvoll. Wein war in Frankreich wie in anderen europäischen Ländern nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Neuzeit ein Getränk der Privilegierten, die den Wein meist auf eigenen Gütern anbauen ließen. Das Getränk erfreute sich in den höchsten Kreisen allerdings keineswegs uneingeschränkten Zuspruchs. So scheint Wein bei den französischen Königen nur langsam die Stellung eines edlen Tropfens gewonnen zu haben. Ludwig XIV., der Sonnenkönig, trank Wein meist nur auf Anraten seiner Leibärzte. Er nahm den Wein nie pur zu sich, sondern ließ ihn mit

Ein Erbe der Antike

Wasser verdünnen. Ähnlich zurückhaltend verhielt sich sein Wirtschaftsminister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), in dessen Keller man bei seinem Tod keinen Wein fand. Auch Ludwig XVI. (1754–1793) war ein ,moderater‘ Trinker, der erst langsam auf den Geschmack kam. Die königlichen Ausgaben für Wein beliefen sich 1785 auf 6567 Livres, 1787 auf 16 040 Livres und 1789 auf 60 899 Livres. In gerade einmal vier Jahren verzehnfachten sich die Ausgaben also, wobei der Weinkonsum jedoch nicht im gleichen Maß stieg, ist doch in dieser Rechnung die Teuerung nicht berücksichtigt. Bevölkerungswachstum und Urbanisierung kurbelten den Weinanbau und den Weinkonsum kräftig an. So lag in Paris der Verbrauch pro Kopf kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution bei 120 Litern pro Kopf. Wie der Pariser Journalist und Schriftsteller Louis Sébastien Mercier bemerkte, gehörten die Weinberge in der näheren Umgebung der französischen Hauptstadt nicht zu den besten. Was allerdings kein Hinderungsgrund war, exzellenten Wein zu trinken, denn die Reichen ließen ihn von weit her bringen. Auf dem Land hingegen tranken die Bauern den piquette, den einfachen und mit Wasser gestreckten Landwein.

Wandel in der Produktion

Der Weinanbau bzw. -handel war einem ständigen und äußerst harten Konkurrenzkampf ausgesetzt. Portwein aus Portugal, Sherry vom spanischen Festland und Weine der iberischen Atlantikinseln mit höherem Alkoholgehalt und daher längerer Lagerdauer machten den französischen Winzern im 17./18. Jahrhundert schwer zu schaffen. Die Erfindung der Destillationstechnik und das Aufkommen der Spirituosen taten das Ihre. Man suchte daher nach besseren Konservierungsmöglichkeiten

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und fand die Lösung schließlich in zwei technischen Verfahren. Das erste bestand darin, den Wein auf eine Weise reifen zu lassen, die in der Champagne von dem Benediktinermönch Dom Pérignon entwickelt und später verfeinert wurde. Dieses Verfahren erforderte die industrielle Herstellung von dickem, haltbarem Glas und von Spezialkorken, deren Grundmaterial aus Portugal eingeführt wurde. Zweitens wurde die Weinproduktion optimiert, indem eine genaue Überwachung der Hygiene bei den Kellereiarbeiten zur Pflicht wurde. Die Schaffung eines Vertriebsnetzes aus Zwischenhändlern verbesserte schließlich den Absatz. Auch ging man vom kurzlebigen zum langlebigen Wein, dem Lagerwein, über. Diese Umstellung wäre ohne eine Veränderung der Nachfrage, die wiederum durch veränderte Geschmacksrichtungen bedingt war, unrentabel gewesen. Gerade der teure Champagner deckte einen lukrativen Markt ab: In England und an den absolutistischen Höfen Europas wurde Champagner sehr beliebt: Zar Peter der Große, Katharina II. und Friedrich II. zählten sich zum erlauchten Kreis der Konsumenten. Für den einfachen Bürger blieb er lange Zeit unerschwinglich. Um 1750 musste ein Handwerker in Paris für eine Flasche des begehrten Getränks vier Tage arbeiten. Champagner blieb ein aristokratisches Getränk, das sich erst im 19. Jahrhundert in bürgerlichen Kreisen einer wachsenden Beliebtheit erfreute.

Die Weinqualität

War es schon schwierig genug, dem wechselnden Geschmack des Publikums gerecht zu werden, so war die Sicherung der Qualität eine andere Herausforderung. Das Weinpanschen ist so alt wie der Wein selbst. In der einfachsten Form genügte das Verdünnen mit Wasser. Dabei war nicht die Zugabe von Wasser

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an und für sich verwerflich, denn man trank Wein gern verdünnt. Verwerflich war es, dem Konsumenten vorzugaukeln, er genieße einen unverfälschten Originalwein, und ihm dafür den Preis eines hochwertigen Produktes abzuknöpfen. Gefährlich wurde das Panschen, wenn Alkohol, Zucker, Kreide und sonstige chemische Substanzen und Geschmacksverstärker ins Spiel kamen, denn das so gemischte Gebräu war nicht selten giftig.7 Als die städtischen Laboratorien 1880 in Paris 300 Weinproben untersuchten, die sie nach dem Zufallsprinzip in Lokalen gekauft hatten, waren 225 der Proben schwerwiegend und 50 leicht verfälscht; gerade einmal 25 waren rein. Was macht eigentlich einen Qualitätswein aus? Aus dem Hochmittelalter ist folgender Ratschlag der berühmten Ärzteschule in Salerno überliefert: „Wein erprobt man an Duft und Geschmack, an Klarheit und Farbe. Heischest du köstlichen Tropfen, so muss er sich fünffach bewähren: Kühl sei er, duftend und frisch, auch kräftig, bezaubernd im Anblick.“8 Heute ist die Frage, welcher Wein wohl der beste sei, eine Frage des weltweiten Konkurrenzkampfes, bei dem alle technischen und chemischen Erkenntnisse zur Verbesserung von Anbau, Gärung und Lagerung eingesetzt werden. Die Qualitätsprüfung hat sich zu einer Wissenschaft für sich entwickelt. Miscc hwein in Frankreich

Als selbstverständlich wurde in Frankreich das Mischen angesehen. Großhändler pflegten das Mischen in der Gegenwart des Wiederverkäufers zu tätigen. Sie achteten dabei häufig darauf, dass der Alkoholgehalt des neuen Mischweins höher ausfiel als für den Verkauf vorgesehen. Der Wiederverkäufer konnte dann seinen Gewinn steigern, indem er den Wein zusätzlich mit Wasser verdünnte und mit dem vorgeschriebenen Alkoholgehalt von minimal 10 Prozent in den Verkauf brachte.

Nordisches Volksgetränk: Der Most

n Homers Odyssee, dem großen Heldenepos der griechischen Antike (ca. 800 v. Chr.), erkennt König Laertes seinen Sohn Odysseus, der nach zehnjähriger Irrfahrt nach Hause (auf die Insel Ithaka) zurückkehrt, daran, dass er ihm die Sortennamen der Bäume nennen kann, die er ihm einst geschenkt hatte (24. Gesang):

I

[

Denn ich begleitete dich als Knab’ im Garten; wir gingen unter den Bäumen umher, und du nanntest und zeigtest mir jeden. Dreizehn Bäume mit Birnen und zehn voll rötlicher

]

Äpfel schenktest du mir und vierzig der Feigenbäume […]9

Homers Held, ein Landwirt und intimer Kenner des Obstanbaus? Offenbar ja – die Stelle belegt, welche Bedeutung man in der Antike dem Obstbau beigemessen hat. Vor allem der Apfel blickt auf eine lange Geschichte zurück: Der Holzapfel wurde schon in der Jungsteinzeit gesammelt und gedörrt, er diente in den kalten Jahreszeiten als wichtiges Nahrungsmittel. Doch nicht nur hier hatte der Apfel eine mythologische Bedeutung: Bei den Babyloniern war es Ischtar, die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit, die mit dem Emblem des Apfels verehrt wurde, bei den Griechen Aphrodite, ebenfalls als Göttin der Liebe verehrt. In der nordischen Sage schenkt Iduna, Göttin der Jugend und Fruchtbarkeit, dem Göttergeschlecht der Asen goldene Äp-

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fel, durch die sie ewige Jugend erhielten. Die bekannteste Schilderung, in der ein Apfel eine Schlüsselrolle spielt, ist die biblische Erzählung der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden: Adam und Eva essen verbotenerweise eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, um wie Gott zu werden. Obwohl in der Bibel nur unbestimmt von einer „Frucht“ die Rede ist, hat sich in der westlichen Welt der Gedanke festgesetzt, es handle sich dabei um einen Apfel. In der 1650 erschienen Universalgeschichte der Pflanzen wird denn auch der „Paradiesapfel“ gewürdigt, eine frühe Kultursorte mit leicht bitterem Geschmack. Nur in wenigen Regionen hatte auch das aus Äpfeln gewonnene Getränk, der Most bzw. Apfelwein, denselben Stellenwert wie der Apfel selbst. Im norddeutschen Sprachraum versteht man unter Most „den aus den Trauben gepreszten saft, der noch ungegohren oder unausgegohren ist“ (Grimms Wörterbuch). In der Schweiz und in Süddeutschland ist Most jedoch der unvergorene Saft der Äpfel (in Nordamerika spricht man von cider) gemeint. Von Obstwein bzw. Apfelwein wird gesprochen, wenn es sich um den vergorenen Saft handelt. Der Apfelwein – regional auch als Apfelmost, Saurer Most, Viez, Äbbelwoi oder Ebbelwei bezeichnet –, ist ein Fruchtwein, der meist aus einer Mischung verschiedenster Apfelsorten gekeltert wird. Üblicherweise hat er einen Alkoholgehalt von 5,5–7 Prozent und einen herben sauren Geschmack. Einfachheitshalber sprechen wir im Folgenden von Apfelwein, wenn wir das vergorene, alkoholhaltige Getränk meinen, und bezeichnen mit Apfelsaft das „natürliche“, nicht alkoholhaltige Getränk.

Apfelwein und -saft im Mittelalter

Apfelwein und Apfelsaft waren im Mittelalter und in der Neuzeit keine Getränke der Elite. Der Name „Viez“, welcher aus

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römischer Zeit (lat. vice „anstelle von“, gemeint ist Wein, vinum) stammt, deutet an, dass der Apfelwein als Ersatz zum echten Wein getrunken wurde. In bestimmten Regionen drückte sich dies in einer strikten Trennung der Gasthäuser aus, z. B. in Luzern, wo 1599 zwischen Wein- und Mosthäusern streng unterschieden wurde. Most war neben Wein das Hauptgetränk des Volkes, denn der Preis war niedrig: Während 1644 in Luzern für eine Maß Most zwei Schilling gefordert wurden, kostete 1668 eine Maß Bier fünf Schilling. Gerade weil Apfelsaft bzw. -wein in erster Linie das Getränk der einfachen Leute war, ist darüber – ebenso wie über den Milchkonsum – wenig bekannt, die Geschichtsschreibung schweigt sich dazu fast vollständig aus. Bei Experten können die Meinungen deshalb weit auseinander gehen. Während der Eine behauptet, dass Most bereits im Mittelalter eine beachtliche Bedeutung hatte, verneint der Andere dies. So behauptet Roman Sandgruber in seiner Geschichte der Genussmittel: Der Apfel- und Birnmost als Massengetränk ist relativ jung

[

und schon wieder fast vergessen. Das Vorkommen von Äpfeln und Birnen in mittelalterlichen Quellen oder gar in Pfahlbaudörfern bedeutet noch lange nicht die Kenntnis und Anwendung der Mostbereitung. Im Mittelalter übte man den Obstbau, genoss die Äpfel und Birnen aber lieber getrocknet […] Die mittelalterliche Mostbereitung war simpel: Man zerstößelte das Obst, füllte es in einen Zuber und goss Wasser auf. Was unten durch eine Öffnung abfloss, nannte

]

man Most.10

Diese Aussagen sind jedoch auf die österreichischen Verhältnisse beschränkt, die Quellenbasis scheint zudem sehr schmal zu sein. Im Capitulare de villis („Kapitular / Erlass über die Kron-

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Mostt und Minnesang

Sogar im Minnegesang findet der Most Erwähnung. Der Minnesänger Neidhart von Reuental (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts), der bei den Bauern häufig zu Gast war, bekennt in einem seiner Lieder, dass ihm ein Krug voll Birnenmost aus den Händen seiner Angebeteten die ausgetrocknete Kehle wieder zum Klingen gebracht habe. Neidharts um 1240 entstandene Verse gelten als früheste literarische Erwähnung des Getränks in Mitteleuropa.

güter und Reichshöfe“) Karls des Großen aus dem Jahr 795, die sich auf die Verwaltung von Landgütern bezieht, wird ausdrücklich die Herstellung von Birnenwein (piracium) und Apfelwein (pomacium) angeordnet. Die dafür zuständigen Fachleute hießen siceratores. Mit sicera bezeichnete man alle vergorenen, alkoholhaltigen Getränke mit Ausnahme des Rebenweins (vinum). Erst ab dem 12. Jahrhundert ist im süddeutschen Raum – in Bayern und Österreich – der aus Birnen gekelterte Wein als Most bezeichnet worden. Fortan unterschied man zwischen dem leichten und süffigen birenmost und dem kräftigen, säurereichen epfeltranc. Aufgrund der schlechten Lagerungsmöglichkeiten ist trotz mehrfacher Erwähnung in literarischen Quellen anzunehmen, dass Obstmost nur in recht bescheidenen Mengen produziert wurde. Weitaus größere Aufmerksamkeit hat man dem Weinbau entgegengebracht. Allerdings muss man von einem Unterschied zwischen Stadt und Land ausgehen, den schon Johann Wilhelm von Archenholz am Ende des 18. Jahrhunderts beobachtete. Er stellte fest, dass auf dem Land Apfelwein (cyder) getrunken werde, während man in London „allem, was stark und berauschend ist, den Vorzug“11 gäbe.

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Wenn Neidhart von Reuental (vgl. S. 97: Most und Minnesang) Most getrunken hat, so war dies für seinen Stand, den Ritterstand, keineswegs üblich. Die Oberschicht, Adel wie Klerus, trank lieber Wein. Most diente der Verköstigung des Gesindes. Das spiegelt auch der bretonische Held Gargantua, der in einer populären Sagenversion riesige Mengen Apfelwein (cidre) trinkt, sich in Rabelais’ literarischer Version (1532) jedoch zum Weintrinker wandelt. Der Status der Getränke ist eindeutig: An erster Stelle steht Wein, gefolgt von Bier, Most und Wasser. Dabei vermag der Most in seiner alkoholischen Form, als Apfelwein, auch dem Bier Konkurrenz zu machen.

Der Most im 18. und 19. Jahrhundert

Einen starken Aufschwung erlebte der Obstanbau im 18. Jahrhundert im Zuge landwirtschaftlicher Fördermaßnahmen, die durch den Physiokratismus, eine in der Aufklärung entstandene Auffassung, nach der der Volkswohlstand allein auf landeseigenen Rohstoffen und Landwirtschaft beruhe, initiiert worden waren. In den habsburgischen Landen verordnete die Kaiserin Maria Theresia 1763 die Anpflanzung von Streuobstbäumen entlang sämtlicher Landes- und Bezirksstraßen. Einen zusätzlichen Anreiz schuf Joseph II., indem er in einem Hofdekret des Jahres 1784 zur „Beförderung der Obstcultur“ verkünden ließ, „dass jeder Landwirth, welcher in seinem Dorfe die größte und wenigstens einhundert übersteigende Anzahl von guten Obstbäumen gepflanzt hat, mit einer silbernen Medaille belohnt werde“.12 Im Jahr 1789 wurden heiratswillige Bauern per Dekret verpflichtet, einige Obstbäume anzupflanzen. Entsprechend stiegen die Erträge der Obsternten und mit ihnen die Produktion von Apfelsaft und Apfelwein.

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Die Blütezeit des Mostes fiel in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies trifft zumindest auf das heutige Österreich zu, wo die Bauern dank der so genannten Bauernbefreiung von 1848 den Gesetzen des Marktes folgen konnten. Die neuen Bahnstrecken machten es möglich, Mostfässer rasch und relativ billig zu den Abnehmern zu transportieren. Um 1880 wird der Mostverbrauch in Oberösterreich mit etwa 700 000 Hektoliter pro Jahr beziffert. Für die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts ist eine ähnliche Größenordnung wahrscheinlich. 1925 berechnete man den gesamtösterreichischen Mostkonsum mit 1 505 000 Hektoliter bäuerlichem Haustrunk und 470 000 Hektoliter vermarkteter Ware. In wirtschaftlichen Notzeiten erfreute sich der Apfelwein gewöhnlich besonderen Zuspruchs, da er das billigste alkoholische Getränk war. Es verwundert daher nicht, dass am meisten Most in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, getrunken wurde. Apfelwein in den USA

Eine herausragende Rolle spielte der Apfelwein, cider, in den Vereinigten Staaten seit der Gründung der Kolonien. Bier oder Apfelwein begleitete die kolonialen Mahlzeiten ganz selbstverständlich. Traut man den Zahlen, so waren die amerikanischen Kolonisten starke Trinker. Sechs Gallonen reinen Alkohols pro Jahr soll um 1790 der Konsum eines über 15 Jahre alten Amerikaners betragen haben. Der Großteil dieses Alkoholkonsums bestand aus Bier und Apfelwein. Neben Apfelwein gab es auch eine deutlich stärkere Variante: Als applejack wurde ein stark alkoholisches Getränk bezeichnet, das durch Destillation aus normalem Apfelwein gewonnen wurde.

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Apfelbranntwein erfreute sich auch auf dem Kontinent einer gewissen Beliebtheit, wo sich in der Normandie der Calvados einen festen Platz eroberte. Extremer Alkoholkonsum hier wie da, könnte man denken. Doch neben den stark alkoholhaltigen Formen eines Getränkes gab es häufig Variationen mit niedrigerem Alkoholgehalt. Gerade in der Normandie pflegte man den petit cidre zu trinken. Der Name, „kleiner Apfelwein“, deutet schon darauf hin, dass es sich dabei um einen Apfelwein minderer Qualität aus zweiter Pressung handelte. Der „große Apfelwein“, der Saft aus der ersten Pressung, war für Festtage und für den Verkauf bestimmt.

Haltbare Obstsäfte

In der Schweiz eroberte sich der alkoholfreie Apfelsaft, der Süßmost, seinen festen Platz. Die steigende Beliebtheit kam nicht von ungefähr, denn seit der Revision des Alkoholgesetzes (1930–1932) waren höhere Hürden beim Brennen von Obstsäften zu überwinden (vgl. das Kapitel zur Temperenzbewegung). Als wirtschaftliche Alternative bot sich der vermehrte Verkauf von Süßmost an, bei dessen Herstellung man große Fortschritte gemacht hatte. Bereits 1871 machte Hermann Müller-Thurgau (1850–1927), heute besser bekannt als Züchter der nach ihm benannten Riesling-Sylvaner-Rebe, Versuche mit frisch abgepresstem und pasteurisiertem Traubensaft, die er später auf Obstsäfte ausdehnte. 1896 veröffentlichte er seine Entwicklung der schonenden Pasteurisierung, die sofort in bäuerlichen und gewerblichen Betrieben ihre praktische Anwendung fand. Mit Müller-Thurgau als wissenschaftlichem Berater wurde noch im gleichen Jahr die Erste Schweizerische Aktiengesellschaft zur Herstellung unvergorener und alkoholfreier Trauben- und Obstweine gegründet, die bald auch Lizenzen ins

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Ausland (z. B. nach Worms oder auf die Krim) vergab. 1929 war ein weiterer technischer Durchbruch zu verzeichnen, als es dem ehemaligen Braumeister Jules Schlör gelang, den Obstsaft ohne Erhitzen zu konservieren, indem er ihn in Großdrucktanks mit Kohlensäure anreicherte. Damit war der industriellen Süßmosterei Tür und Tor geöffnet. Zu einem lukrativen Handelsprodukt hat sich im Vergleich zu den Süßgetränken weder der Süßmost (Apfelsaft) noch der Apfelwein entwickelt. In der Nachkriegszeit musste in vielen Ländern die althergebrachte Obstbaumkultur mit ihrem reichen Bestand an Hochstammbäumen einer industriell geprägten Landwirtschaft weichen, und der Anbau von Mostobst ging in den meisten Region in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zurück. Auch das Trinkverhalten vieler Europäer veränderte sich. Getränke wie Orangensaft, Eistee und Wein haben Apfelsaft und Apfelwein verdrängt. Immerhin konnte sich in Deutschland der Apfelsaft (rund 12 Liter pro Jahr und Kopf) noch vor dem Orangensaft (rund 10 Liter pro Jahr und Kopf) behaupten. Er wurde nur vom Eistee (rund 13 Liter pro Jahr und Kopf) überholt. Die Durchschnittswerte täuschen jedoch darüber hinweg, dass es regional gewaltige Unterschiede gibt. Rund 70 Prozent der deutschen Apfelweinproduktion werden allein in Hessen verkauft und getrunken. Frankfurt am Main gilt als „Ebbelwoi“-Metropole; der Konsum beläuft sich in Hessen auf 10 Liter pro Kopf und Jahr, im bundesweiten Durchschnitt auf nur 1,2 Liter.

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Flüssiges Nahrungsmittel: Das Bier

ier ist das meistgetrunkene alkoholische Getränk. Die Geschichte des Bieres ist eng mit der Geschichte des Getreideanbaus verknüpft, denn der wichtigste Gärstoff, aus dem Bier gebraut wird, sind die Getreidekörner. Sie enthalten hauptsächlich Stärke, die zu Alkohol vergären kann. Zuvor muss die Stärke jedoch in Zucker verwandelt werden, was bei befeuchteten, keimenden Körnern geschieht. Die gekeimte Saat wird gedarrt, sprich getrocknet, und heißt dann Malz. Das Malz wird in Schrotmühlen zerkleinert und mit dem Brauwas-

B

ser vermischt. Die so entstandene Maische wird stufenweise erhitzt und schließlich filtriert. Im Laufe der Zeit wurde dieser im Grunde einfache Prozess abgeändert und verfeinert. Man fügte zahlreiche, meist gerbstoffhaltige Substanzen hinzu wie Porst, Wermut, Salbei oder Eicheln, um bestimmte Geschmacksnoten zu erzielen. Im Hochmittelalter drang im Süden der seit spätrömischer Zeit vereinzelt verwendete Hopfen vor, während im Norden und Westen zunächst noch der Porst dominierte. Ein anderer Bestandteil, der später hinzukam, war die Hefe. In der Regel wird die Hefe wieder aus dem Bier entfernt: Beim obergärigen wird sie abgeschöpft, beim untergärigen setzt sie sich am Gefäßboden ab. Bier war bereits vor rund 8000 Jahren bekannt und hatte in den frühen Hochkulturen einen hohen Stellenwert. In der äl-

Flüssiges Nahrungsmittel

testen überlieferten literarischen Dichtung, dem sumerischen Gilgamesch-Epos (Gilgamesch lebte um ca. 2600 v. Chr.), ist das Biertrinken eine Errungenschaft menschlicher Kultur: Der wilde Mann Enkidu, der in der Steppe noch wie ein Tier lebt, erhält auf Befehl von Gilgamesch Besuch von Ischtar, einer Prostituierten. Sie verführt Enkidu und weiht ihn in die höchsten Geheimnisse heiliger Erotik ein: Brot legten sie ihm vor. Bier stellten sie ihm hin. Nicht aß En-

[

kidu das Brot, ratlos schaut er in die Runde. (Denn) Brot zu essen, hatte er nie erlernt, und Bier zu trinken, blieb ihm unbekannt. Die Dirne sagt zu ihm, zu Enkidu: „Iss doch, En-

]

kidu, vom Brot, das zu den Menschen gehört. Trink doch, Enkidu, vom Bier, das dem Kulturland bestimmt.“13

Dass es sich bei diesem Rauschtrank um Bier in unserem Verständnis handelte, ist eine Vermutung, wohl aber eine folgerichtige, denn im Zweistromland betrieb man intensive Landwirtschaft. Riesige Kornfelder erstreckten sich, so weit das Auge reichte, und über ein Drittel der Getreideernte wurde auf die Produktion von Bier verwendet. Bier war flüssiges Brot und Zahlungsmittel zugleich. Der Codex Hammurabi, der Gesetzeskodex des babylonischen Königs Hammurabi (1728–1686 v. Chr.), eine der ältesten überlieferten Gesetzessammlungen, regelte die Bierqualität und das Schankwesen in Babylon strikt: Betrügerische Wirtinnen wurden im Euphrat ertränkt. Übermäßiger Konsum war in den alten Hochkulturen ebenfalls nicht unbekannt: „Übernimm dich nicht beim Biertrinken […] Du fällst und deine Glieder versagen. Kommt man dich suchen, findet man dich am Boden liegen. Du bist wie ein kleines Kind“14, lauteten mahnende Worte in Ägypten. An Festtagen aber war der Rausch nicht nur erlaubt, sondern kultisch geboten.

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Bierkonsum in Antike und Mittelalter

Griechen und Römer fanden keinen Gefallen an der Bierkultur der frühen Hochkulturen. Sie sprachen lieber dem Wein zu, und mit der Ausdehnung des römischen Weltreiches drang die Weinkultur so weit vor, wie es die klimatischen Bedingungen zuließen. Im Imperium Romanum galt Bier als Nationalgetränk der Gallier und Germanen, als Gesöff von Barbaren eben – und nur wenn den römischen Legionen der Wein ausging, verlegte man sich auf cervisia, das „Nationalgetränk“ der Kelten. Die Kelten galten als besondere „Würzmeister“, da sie es meisterlich verstanden, gewürzte Biere herzustellen. Eine dieser Spezialitäten, ein mit Honig gesüßtes Weizenbier, war das kourmi. Je nach Zusatz galt das Bier als Medizin gegen Würmer, Durchfall oder Frauenleiden. Auch nach dem Untergang des Römischen Reiches hielt man sich in den höheren Gesellschaftsschichten des nördlichen Europas beim Biertrinken zurück. Geschätzt wurde aber der „Honigwein“, bekannt auch als Met; Met besteht aus „in Wasser gesottenem Honig (im 13. Jahrhundert aus zwei Teilen Wasser und einem Teil Honig). […] Die Kräuterwürze konnte variiert werden etwa mit der Heilpflanze Salbei oder mit dem Hopfen“.15 Im Nibelungenlied wird Met wiederholt als das Getränk der Fürsten aufgeführt. Im Laufe des Mittelalters wurde der Met jedoch durch das Bier vollständig verdrängt und sank zum Getränk der Dienstboten ab. Die Herstellung des Biers war zwar viel schwieriger als die von Met, aber Bier war bedeutend schmackhafter und ließ sich zudem viel länger aufbewahren. Die Verbesserung der Bierzubereitung verdankt sich zu einem Gutteil den klösterlichen Braustuben. Die Verschriftlichung der Rezepturen und technisch-handwerkliche Spezialisierung führten hier zu höherer Quantität und Qualität. Mit der Zeit

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wurden in Dörfern unter grundherrschaftlicher Anleitung Braustuben errichtet und in Städten unzählige Brauhäuser erbaut, wo die Bierbraukunst schließlich zur höchsten Blüte gelangte. Zur Vielfalt trug ebenfalls die häusliche Produktion bei, das Hausbrauen, das allerdings im Spätmittelalter an Bedeutung verlor. Je nach Rezept und Ausgangsstoffen entwickelten sich in den einzelnen Landschaften sehr verschiedene Biersorten. In den nördlicheren Gebieten, wo kein oder wenig Weinanbau üblich war, wurde Bier dabei zum Hauptgetränk der Bevölkerung. Zu diesen Gebieten gehörten England, die Niederlande, Deutschland, Böhmen, Polen und Russland. Dabei ist folgendes Muster zu erkennen: In schweren Zeiten stieg der Verbrauch von Bier, während die Biertrinker in Zeiten des Wohlstands umgekehrt zum Wein übergingen. Im Verlauf des Mittelalters wurden zahlreiche Städte neu gegründet. Dies hatte eine direkte Wirkung auf das Biertrinken, denn die schlechte Qualität des Trinkwassers in der Stadt steigerte die Nachfrage, da Bier als „sicheres“ Getränk galt. Das zum Brauen benötigte Wasser brauchte nämlich nicht keimfrei zu sein, da es beim Erhitzen während des Sudvorgangs sterilisiert wurde. Daher war es kein oder zumindest nur ein kleines Risiko, wenn durch menschliche oder tierische Ausscheidungen verunreinigtes Wasser verwendet wurde. Dem Bier kam überdies zugute, dass es als flüssiges Nahrungsmittel galt. Die Verbrauchszahlen sind ein Hinweis dafür, dass Bier zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor geworden war. Nicht wenigen Städten gelang es, dank strenger Brauordnungen ihr Bier zu einem Markenartikel zu machen. Im Deutschen Reich rückte Hamburg zur führenden Braustadt auf und produzierte 1480 rund 375 000 Hektoliter, wovon ein Großteil exportiert wurde. In England, in Suffolk und Kent, befand sich Bier, das seit 1520 mit Hopfen gebraut wurde, auf dem Vormarsch und

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Saures Bier

Das Sauer- und damit Trübwerden war jahrhundertelang ein großes Problem der Bierlagerung und eines der Haupthindernisse der Bierverbreitung. Die Wendung „etwas anbieten wie saures Bier“ wurde schon im 16. Jahrhundert von Hans Sachs und im 17. Jahrhundert von Grimmelshausen verwendet. Neben der Wärme setzten dem Gerstensaft Transporterschütterungen schnell zu. Ein wichtiger Fortschritt in der Bierlagerung war die Schaffung von kühlen Bierkellern. Doch erst die Erfindung der Eismaschine durch Carl Linde (1842–1934) im Jahr 1876 brachte den Durchbruch und machte eine ganzjährig hohe Qualität des Bieres möglich.

drängte das traditionelle, aus gemälzter Gerste hergestellte Ale zurück, das nun den Alten, Kranken, Frauen und Kindern vorbehalten war. Heute noch sind die Brauer hierzulande stolz auf das so genannte Reinheitsgebot. Im Jahr 1516 wurde es per Gesetz von dem bayerischen Herzog Wilhelm IV. erlassen. Danach waren nur Wasser, Gerste und Hopfen zum Bierbrauen zugelassen (ab 1602 auch Weizen; Hefe wird nicht erwähnt), was sowohl gesundheitsschädliche Beimischungen als auch die Einfuhr des rheinischen Grutbiers unterband, das neben Malz, Hefe und Hopfen auch Anis, Enzian u. v. m. enthielt. Das Reinheitsgebot legte die Grundlage für den Ruf Bayerns als Bierland – allerdings war das Gesetz von 1516 keineswegs originell, ähnliche Verfügungen gab es auch in anderen Ländern bzw. Regionen. Das Gesetz hatte aber noch einen anderen interessanten Hintergrund: Es legte nämlich Höchstpreise für ein bestimmtes Produkt (Sommer- bzw. Winterbier) fest, das auch nur aus bestimmten Ingredienzien bestehen durfte.

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Das Bier im 17. und 18. Jahrhundert

Im 17. Jahrhundert war es mit dem Aufschwung in großen Teilen Mitteleuropas vorbei. Der Dreißigjährige Krieg forderte zahllose Menschenleben und verwüstete weite Landstriche. Breite Bevölkerungsschichten verarmten und konnten es sich nicht leisten, qualitativ gutes Bier zu trinken. Neue Getränke machten dem Bier zudem Konkurrenz: Der Branntwein, der selbstredend zum Soldatenleben gehörte und im schweren Nachkriegsalltag nur zu gern als Seelentröster Verwendung fand; aber auch die alkoholfreien Genussmittel Kaffee, Tee und Schokolade. In der Summe stellt man fest, dass Qualität und Quantität des Bieres für rund zwei Jahrhunderte zurückgingen. Nur einige Großstädte und Regionen im Deutschen Reich – Böhmen, Salzburg, Bayern, Württemberg – blieben dem Bier treu. Für Mitteleuropa mag wohl stimmen, dass Bier im 17. und Durcc hschnittlicher Bierverbrauch

Beim Adel und den wohlhabenden Bürgern wurde im 15./16. Jahrhundert ein Jahreskonsum von 1000 Litern als gesund und standesgemäß eingestuft. Die groben Schätzungen für den Pro-Kopf-Verbrauch der einfachen Bevölkerung in Mitteleuropa belaufen sich auf durchschnittlich 300–500 Liter, mit nationalen Unterschieden: Der Durst der Deutschen und der Engländer scheint leicht höher gewesen zu sein als derjenige der Holländer. Das sind extreme Werte: Als der Bierkonsum in Deutschland um 1900 den vorläufigen Höchstwert in der Neuzeit erreichte, betrug der Pro-Kopf-Konsum gerade einmal 120 Liter. Der Durst war dabei wohl auch größer als heute, denn man nimmt an, dass die vielen stark gesalzenen Speisen – um Lebensmittel konservieren zu können, mussten sie eingesalzen werden – zu einem größeren Flüssigkeitsbedarf pro Tag führten.

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18. Jahrhundert in schlechterer Qualität und geringerer Menge getrunken wurde. Für England ergibt sich ein anderes Bild: Seit 1680 ist hier ein Anstieg des Bierkonsums zu verzeichnen. Zwei Fässer Bier pro Kopf (Kinder mit eingeschlossen) wurden 1688 allein von den öffentlichen Brauereien verkauft. Umgerechnet sind dies 36 Gallonen, d. h. 162 Liter Bier! Es war nicht außergewöhnlich, dass ein gut bezahlter Arbeiter sechs Liter Bier pro Tag konsumierte, wogegen die offizielle Tagesration für einen Seemann vier Liter betrug. Natürlich handelte es sich dabei selten um sehr starke Biere, für die der Norden Englands und Kent im Süden bekannt waren. Das schwächere Ale war günstiger, und die leichtesten Biere trank man gern im Sommer oder gab sie auch den Kindern. Erstaunt notierte der Schweizer Reisende César de Saussure (1705–1783) in seinem Reisebericht über England: Würdest du es glauben, obwohl Wasser in London im Über-

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fluss und in recht guter Qualität zu haben ist, so wird es absolut nicht getrunken. Die unteren Klassen, selbst die Armen, wissen nicht, was es heißt, seinen Durst mit Wasser zu

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löschen. In diesem Land wird nichts als Bier getrunken.16

Entsprechend hoch scheint die Zahl der Schenken gewesen zu sein. In Kent kam 1753 auf 104 Einwohner eine Schenke, in Chester eine auf 92 Einwohner. Offenbar kam es vor, dass Wein und Bier gemischt wurden, wie es Samuel Pepys manchmal zu tun pflegte. Sicher kein Zeichen eines Feinschmeckers, sondern eines unersättlichen Vieltrinkers. Und wie stand es um den Konsum von Bier im klassischen Weinland Frankreich? Dort wurde Bier keineswegs verachtet. Man verhielt sich pragmatisch: In schweren Zeiten stieg der Verbrauch von Bier, in wirtschaftlich guten Zeiten der von Wein. „Und haben wir im Siebenjährigen Krieg [1756–1763]

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Pralll : der Bierbauch

Ein wachsender Konsum von Bier in Kombination mit wenig Bewegung hatte zu allen Zeiten die gleichen Folgen: einen dicken Bauch. Leisten konnte sich ein solches Verhalten nur die Oberschicht. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts stieg der Bierverbrauch im Deutschen Reich kontinuierlich. Das Biertrinken hat sicherlich mit dem neuen Menschentypus der Frühen Neuzeit zu tun: Dick, gravitätisch, mit großen Bäuchen treten uns Kurfürsten wie biedere Bürger auf Bildern des 16.–18. Jahrhunderts entgegen.

nicht etwas Ähnliches erlebt?“, schreibt Pierre Jean-Baptiste Le Grand d’Aussy 1782 in seiner Kulturgeschichte. „Städte, in denen man zuvor nur Wein gekannt hatte, lernten das Biertrinken; ich selbst kenne eine in der Champagne, wo sich in einem einzigen Jahr gleich vier Brauereien niederließen.“17 Dieser Boom erfasste Paris nicht: Zwischen 1750 und 1780 verschwanden hier 50 Brauereien. Gerade einmal 23 blieben für eine Bevölkerung von ungefähr 600 000 Menschen zurück, wobei sich die Lage kurz vor der Französischen Revolution nicht besserte. Bier gehörte jedoch weiterhin zu einer französischen Mahlzeit – vor allem, wenn es darum ging, billig zu speisen, wie es der Abgeordnete der Nationalversammlung, Pfarrer Barbotin aus Prouvy bei Valenciennes, tun musste. Er begnügte sich mit einem souper à la parisienne. Diese einfache Mahlzeit bestand aus einem Stück Brot und einem Glas Bier oder Wasser, denn – so schreibt Barbotin – es gelte, den Magen an kleinere Portionen und die Kehle an das Seinewasser zu gewöhnen. Ganz so schlimm wie Louis Sébastien Mercier es darstellt, kann es um den Bierkonsum in Paris nicht bestellt gewesen sein.

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Ihm waren die hohen Ausgaben für Wein ein Dorn im Auge und er trat deshalb für den Konsum von Bier ein: Ich wäre dafür, das in England verbreitete leichte Bier in Frankreich heimisch zu machen; dies stärkende, nährende

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Getränk könnte aufs glücklichste den herben Wein ersetzen, den das arme Volk immer trinkt. Der Genuss von Wein besudelt den Körper einer Nation, verleiht ihm Heftigkeit, erregt

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ihn grundlos, führt ihn zu Verrücktheiten, bringt ihn um Gleichmut, Gelassenheit und die vernünftige Ruhe, die man in allen Ländern des Nordens feststellen kann.18

Neue Methoden der Bierherstellung

Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Revolution im 19. Jahrhundert läuteten eine neue Ära ein. Bier wurde zu einem europäischen Volksgetränk. Vier Dinge waren es, die dies ermöglichten: der Eisenbahntransport, die fabrikmäßige Beherrschung des Gärungsprozesses, die Kältemaschine und – nicht zuletzt – die Bierflasche. Die Kühlung erlaubte es, Bier das ganze Jahr hindurch herzustellen, und dies unter Beibehaltung von beständig idealen Temperaturen. Von entscheidender Bedeutung war dies für den Hopfen, der sehr empfindlich auf Temperaturschwankungen reagiert. Louis Pasteur (1822–1895) – er schrieb eine ausführliche Abhandlung über die Fermentation – instrumentalisierte den Prozess der Fermentation. Die Idee, dass Hefe ein Mikroorganismus – genauer gesagt ein einzelliger Pilz – ist, brachte Emil Christian Hansen (1842–1909) dazu, einzelne Hefezellen zu isolieren. Reine Hefezellen erlaubten es den Brauern, Biere zu brauen, die ganz spezielle Geschmacksrichtungen bedienten. Bierbrauen wurde nun von der Kunst zur Wissenschaft. Vor allem die industriell gefertigte und gut verschließbare

Flüssiges Nahrungsmittel

Flasche trug zur massenhaften Verbreitung von Bier bei. Die ältesten Bierflaschen bestanden aus Steingut oder Porzellan. Dann setzte sich Glas durch, das leichter zu reinigen war, der Inhalt ließ sich mit einem Blick kontrollieren. Ein Korken, der mit einer Schnur festgebunden war, weil die Flaschengärung einen starken Innendruck erzeugte, verschloss die Flasche. Ideal war das nicht, und erst ein Verschluss mit etwas zurechtgebogenem starkem Draht, einem Porzellanpfropfen und einem Gummidichtungsring änderte dies. Dieser Bügelverschlusses brachte um 1890 den Durchbruch im Verkauf von Flaschenbier: In jedem größeren Lebensmittelladen gab es bald frisches, kühles Flaschenbier. Produktions- und Organisationsstrukturen der Bierherstellung veränderten sich von Grund auf. Viele Brauereien wurden als Aktiengesellschaften geführt. Im Deutschen Kaiserreich wurde Bier wieder zu einem bedeutenden Wirtschaftsgut, das seit der Jahrhundertwende fast die Hälfte der Ausgaben für Genussmittel ausmachte und wertmäßig sogar den Steinkohlenbergbau überflügelte. Der Biermarkt ist auch im 20. und 21. Jahrhundert ein Wirtschaftsfaktor von beachtlichem Gewicht geblieben. Größe und weltweite Präsenz sind im hart umkämpften Biermarkt unabdingbar. Ein Musterbeispiel dafür ist der Zusammenschluss der Companhia de Bebidas das Américas (= AmBev) mit der belgischen InBev im Jahr 2004 zur größte Brauereigruppe der Welt. In 32 Ländern in Amerika, Asien, Australien und Europa arbeiten mehr als 70 000 Angestellte; der Brauausstoß beläuft sich auf 220 Millionen Hektoliter (2004), was rund 14 Prozent des Weltmarktes entspricht. Dass Bier in Australien, in den USA oder auch in Südafrika derart beliebt ist, hat aber nicht nur mit ökonomischen Faktoren zu tun: Im 19. Jahrhundert verließen Hunderttausende von europäischen Auswanderern ihre Heimat – ihren Trinkgewohnheiten blieben sie jedoch treu.

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Aus der Büchse der Pandora: Die Spirituosen

s scheint ein Wesenszug des Menschen zu sein, Grenzen zu überschreiten, die ihm von der Natur gesetzt werden. Das lässt sich auch auf die Erfindung der Destillation beziehen. Sie hat es dem Menschen ermöglicht, in ein „künstlich geschaffenes Paradies“ zu gelangen, um es mit dem französischen Dichter Baudelaire (1821–1867) auszudrücken. Prosaischer gesagt, die Destillation machte die Herstellung der ersten künstlich geschaffenen Droge möglich: den Branntwein. Die Büchse der Pandora war damit geöffnet, denn weit mehr als das

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Paradies tat sich den Menschen damit die Hölle auf. Der Alkoholismus betrat die Bühne der Geschichte. Durch Vergärung erhalten Wein, Bier und Most einen „natürlichen“ Alkoholgehalt, der sich im Bereich von 4 bis maximal 20 Prozent bewegt. Ein höherer Alkoholgehalt kann nur auf künstlichem Weg erreicht werden: Durch Destillation bzw. Brennen erhält man Spirituosen (früher als Branntwein bezeichnet, englisch brandy nach holländisch brandewijn). Die Kunst, gebrannte Wässer (aqua ardens) herzustellen, war lange Zeit ein wohlgehütetes Geheimnis. Zwar wusste schon Aristoteles (384–322 v. Chr.), dass man Meerwasser trinkbar machen kann, wenn man es verdampft bzw. destilliert, aber das „Brennen“, bei dem ein stark alkoholisches Endprodukt herauskommt, war zu seiner Zeit nicht bekannt. Alkohol und Wasser

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sind flüchtige Stoffe, die Differenz der Siedetemperatur – Wasser siedet normalerweise bei 100 Grad Celsius, Wein bei 78 Grad Celsius – ist relativ gering. Einfallsreichtum und technisches Geschick – eine raffinierte mechanische Vorrichtung – waren unabdingbar für das Brennen. Dabei gab es keinen Königsweg. Ein einfacher Destillationsapparat funktionierte folgendermaßen: Man erhitzt den Wein in einer so genannten Destillierblase, einem Glas oder Kupfergefäß mit gebogenem Hals, auf das wie ein Topf die Alembik gesetzt wird, in der sich der Alkoholdampf sammelt, der dann durch Kühlrohre verflüssigt in ein Auffanggefäß geleitet wird. Wem die Destillation von Wein erstmals gelang, ist umstritten. Man geht heute davon aus, dass die Kunst des Brennens von Wein (Weinbrand) und Früchten (Branntwein) arabischen Ursprungs ist und um 1200 über die bedeutendste medizinische Hochschule, die Universität von Salerno, in das christliche Abendland gelangte. Die Destillation war lange Zeit wenig verbreitet, denn Wein als Ausgangsstoff war teuer und galt als edles Getränk; die Energiekosten für die Destillation waren hoch, und die Kunst des Destillierens war ein schwieriges Handwerk, das man erst allmählich zu perfektionieren verstand. So beschäftigten sich zunächst die Alchemie, die Medizin und die Klöster mit der neuen Technik; in Klöstern wurden zahllose Frucht- und Kräuterliköre kreiert. Ärzte priesen den ‚Weingeist‘ als Jungbrunnen, Helfer gegen alle Krankheiten, Schutz gegen die Pest, kurz als „Lebenswasser“ (aqua vitae) – im Französischen heute noch eau de vie. Die gebrannten Wasser wurden also zunächst als Heilmittel gehandelt; die Frankfurter Apothekenordnung von 1461 verzeichnet die gebrannten Wasser denn auch ausdrücklich als „Heilmittel“.19 Erst das 16. Jahrhundert brachte den Wandel zum Genussmittel und infolge verbesserter Destil-

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Mit der Destillation kamen die Spirituosen in die Welt. Um aus Mais Whiskey herzustellen, brühten die Siedler im Wilden Westen Maismehl in Bütten, fügten Gerstenmalz, Klee und Hefe bei und gossen eine bestimmte Menge reinen Quellwassers hinzu. Die Maische ließen sie gären und erhielten ein Gebräu, das nun destilliert werden konnte.

lationstechnik auch eine massenhaftere Verbreitung. So genannte Branntweinschänken laden zum Verzehr der nach verschiedensten Rezepturen gebrannten „Lebenswasser“ ein, und mancher Pfarrer beklagt, dass seine Schäfchen sich sonntags eher dort einfinden als in der Kirche. Bereits um 1400 hatte man entdeckt, dass neben Trauben bzw. Trester und Obst auch Getreide als Rohstoff für die Produktion des „Lebenswassers“ verwendet werden konnte – wie viele weitere gärfähige Stoffe. Lokale Besonderheiten bzw. Namen für gebrannte Wasser auf unterschiedlicher Basis bildeten sich aus. Die Palette reicht vom Genever (Belgien und Niederlande), Gin (England), Kognak (Frankreich), Schnaps (Deutschland), Aquavit (Skandinavien) zum Wodka (Russland) und

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Raki (Balkan). Die aktuellen Bezeichnungen kamen erst im 16. Jahrhundert auf, aber die Getränke waren schon früher wohlbekannt. Wer konsumierte in Europa die stetig steigende Menge an starken alkoholischen Getränken? Zwei Gruppen sind an erster Stelle zu nennen: Seeleute und Soldaten.

Rum und Grog auf hoher See

Das Lieblingsgetränk des Seemanns ist der Grog, konstatierte Georg Forster (1754–1794), der Captain Cook auf seiner zweiten Reise um die Welt (1772–1775) begleitete. Die Ursache für die Allgegenwart des Grogs an Bord ist schnell gefunden: Weder Trinkwasser noch Bier waren lange haltbar. Technische Lösungen zur Trinkwassergewinnung ließen auf sich warten. Zwar führte Cook eine Destillationsanlage mit sich, aber man hatte die auftretenden technischen Schwierigkeiten noch lange nicht im Griff. Deshalb bekam auch Cooks Mannschaft ihre tägliche Ration Grog. Der Grog war im Grunde eine Notlösung; Vize-Admiral Edward Vernon (1684–1757) hatte 1740 veranlasst, dass seine Matrosen den Rum nur noch mit Wasser verdünnt tranken. Vernons Spitzname war „Old Grog“, da er meist einen warmen Umhang aus Grogram trug, einem groben Stoff aus Seide und Wolle. Dieser Name wurde bald auf das neue Getränk übertragen. An Land und in dem kälteren Klima Großbritanniens wurde der Grog auch heiß getrunken – so kennen wir den Grog noch heute: als Getränk aus Rum (auch: Weinbrand, Arrak, Whisky u. a.), heißem Wasser und Zucker. Trotz des Grogs blieb der Rum die reale Währungsbasis zur See. Die Tagesration eines Matrosen war ein halbes Pint, knapp drei Deziliter. Nicht selten verdoppelte der Kapitän die Ration, um die Leistungsbereitschaft der Mannschaft zu stei-

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gern oder ihr für einen großen Einsatz zu danken. Brenzlig konnte die Situation werden, wenn der Rum knapp wurde oder die tägliche Ration ganz ausfiel. Rebellion oder gar Meuterei lagen dann in der Luft. Kurz und gut, Rum und sein schwächerer Bruder, der Grog, waren unentbehrliche ,Schmiermittel‘, um die Disziplin an Bord zu gewährleisten. Die Allgegenwart alkoholischer Getränke blieb nicht ohne Folgen: Betrunkene Matrosen waren ein Problem, mit dem jeder Kapitän zu kämpfen hatte. Zur Aufrechterhaltung der Disziplin griff man deshalb zu drakonischen Strafen: Die neunschwänzige Katze, eine Riemenpeitsche mit neun geflochtenen Seilriemen, regierte an Bord. Natürlich versuchte man den Seeleuten auch nicht alkoholische Getränke wie Tee, Kakao und sogar Schokolade schmackhaft zu machen. Ein gewisser Erfolg stellte sich jedoch erst im 19. Jahrhundert ein, als der Kakao den Grog ersetzen konnte. Alkoholische Getränke hatten indes nach wie vor ihre Bedeutung als Medizin, z. B. in den Tropen. In den Outlines of Naval Hygiene von 1886 ist zu lesen: Jedes Mannschaftsmitglied soll während sieben Tagen vier

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Gran Chinin [ca. 260 mg] in einer Unze Sherry [28,35 Gramm] erhalten, bevor der Fluss befahren wird; dazu jeden Morgen eine Tasse Kaffee bei Deckantritt; ein

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Pint Porterwein zusätzlich zum Grog am Abend.20

Ein großes Problem der Seefahrt stellte der Skorbut dar. Cook machte in diesem Punkt aus der Not eine Tugend. Er ließ Rum, manchmal auch Bier, mit Malz, das er für ein geeignetes Antiskorbutmittel hielt, versetzen. Der Erfolg rechtfertigte die Mittel: Während auf Lord Anson’s Weltreise (1740–1744) rund die Hälfte der Mannschaft, 997 Mann, um genau zu sein, an Skorbut starben, verlor Cook nicht einen einzigen Mann. Die tat-

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Alko o hol an Bord

Alkoholhaltige Getränke wurden in erstaunlicher Menge mit an Bord genommen. Zum Rum gesellten sich Bier und Wein, wie ein Blick in Proviantlisten zeigt. Für seine geplante zweijährige Weltumseglung lud Captain Cook 45 Tonnen mit Wasser, 19 Tonnen mit Bier, 642 Gallonen Wein und 1397 Gallonen Rum auf sein Schiff mit einer Besatzung von 125 Mann. Als Tagesration war vorgesehen: ein Pfund Biskuit, schwaches Bier, so viel man wollte, oder ein Pint Wein. War kein Wein vorhanden, teilte man stattdessen ein halbes Pint Branntwein, Rum oder Arrak (orientalischer Branntwein aus Reis, Kokospalmensaft und Zuckerrohrmelasse) an die Mannschaft aus. Wann immer sich die Gelegenheit bot, stockte man die Trinkvorräte auf. So nahm Cook auf Madeira eine gewaltige Ladung von 4000 Gallonen Wein auf, die zu den Trinkvorräten der Offiziere hinzukam, die einen persönlichen Vorrat an Wein horten durften.

sächlichen Ursachen für diese geringen Verluste sind komplex, aber zweifelsohne nicht dem Malzgetränk zu verdanken. Man kann es als eine Ironie der Geschichte ansehen, dass der ,Erfolg‘ von Cooks Malzgetränk die Skorbutbekämpfung auf Abwege führte und verhinderte, den wahren Ursachen auf den Grund zu gehen. Der Mediziner James Lind (1716–1791) hatte schon 1753 in seiner Studie Treatise of the Scurvy vermutet, dass Zitrusfrüchte ein wirksamer Schutz gegen Skorbut sein könnten. Im weltweit ersten Klinikversuch suchte er dies zu bestätigen. Trotz überzeugender Resultate brachte seine Forschung jedoch nicht den Durchbruch. Therapien mit anderen Früchten oder Getränken schienen deshalb vor dieser Entdeckung nicht weniger erfolgversprechend zu sein. Cook und seine Berater setzten

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auf Malz, und das Ausbleiben von Skorbut schien ihnen Recht zu geben. Dass man bei dieser Methode den Alkohol als Mittel benutzte, nahm man in Kauf. Erst rund 50 Jahre nach Linds Studie setzte sich die Erkenntnis durch, dass Zitrusfrüchte roh oder in Trinkwasser gelöst ein effizientes Antiskorbutmittel waren. Doch erst im 20. Jahrhundert entdeckte die Wissenschaft die Vitamine und konnte den wissenschaftlichen Beweis dafür liefern, dass ein Mangel an Vitamin C zu Skorbut führt.

Das Militär und der Branntwein

Was den Seeleuten der Rum bzw. der Grog, war den Soldaten der Branntwein. Die Professionalisierung der Armee und das Aufkommen des Branntweins sind sehr eng miteinander verknüpft. „Von Soldaten des 18. Jahrhunderts wurde erwartet, dass sie nicht fröhlich, sondern pflichtgetreu und auf Befehl kämpften; um der Disziplin Geltung zu verschaffen, behandelten die Offiziere ihre Leute mit einer Härte, die weder der freie Pikenier (mit der Pike bewaffneter Landsknecht) noch der gedungene Söldner des 16. und 17. Jahrhunderts toleriert haben würde“21, so das Fazit des Militärhistorikers John Keegan. In der Tat erklärt die eiserne Disziplin weit mehr als die Härte und Monotonie des Soldatenalltags oder die Brutalität der Kampfhandlungen den Hang zum Alkohol. Der Griff zur Flasche war eine erlaubte, gar geförderte Maßnahme. Schon die griechischen Soldaten, die Hopliten, stärkten ihren Mut mit Wein, den sie vor Schlachtbeginn tranken. Ebenso rät Odysseus dem Achill, den Kriegern vor der Schlacht Brot und Wein zu geben, „denn Kraft gibt solches und Stärke“.22 Im modernen, stehenden Heer hatte sich der Einzelne vollkommen der Kriegsmaschinerie zu unterwerfen. Drill und Disziplin wurden zum A und O der militärischen Ausbildung. Da-

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bei wurde die Persönlichkeit des Soldaten in der Regel brutal gebrochen. Die Flucht in den Alkohol und ins Vergessen wurde damit gefördert. Nicht der Alkoholkonsum an sich war neu, sondern die Alkoholsucht, die mit dem Branntwein eine noch nie da gewesene Verbreitung erreichte. Branntwein wurde zum selbstverständlichen Bestandteil der täglichen Ration des einfachen Soldaten. Nach den logistischen Grundsätzen des 18. Jahrhunderts wurde die Tagesration pro Mann wie folgt berechnet: 750 Gramm Brot, 60 Gramm Trockengemüse, 250 Gramm Fleisch, 7 Gramm Branntwein. Aber diese Zahlen täuschen darüber hinweg, dass der Konsum in der Regel höher ausfiel. Napoleons Soldaten erhielten 1810 1/16 Liter Branntwein und einen Viertel Liter Wein als Tagesration. Die Frühstückssuppe wurde von einem Gläschen Branntwein begleitet, der im Ruf stand, Magen-Darm-Infektionen vorzubeugen, vor Krankheit zu schützen und den Körper zu stärken. Dem Alkohol kam also in der Armee die Funktion der Belohnung, der Aufputschdroge und des medizinischen Allheilmittels zu. Auch bei der Anwerbung spielte Alkohol eine sehr wichtige Rolle. Die stehenden Heere der Frühen Neuzeit brauchten ständig Nachschub. Die Methoden der Anwerber waren wenig zimperlich. „List, Gewalt, Betrug, alles galt“23, schrieb der Schriftsteller Johann Gottfried Seume (1763–1810), der selbst in die Fänge von Werbern geriet. Besonders an vielbesuchten Markttagen wurde eifrig geworben. Da trat etwa ein Sergeant in prächtiger Uniform auf, mit wehender Fahne, begleitet von Musikanten, und lud junge Leute ins Wirtshaus ein. Er verlockte sie zu üppigem Essen und zum so genannten „Engagierwein“: Die Zecherei wie alles Übrige ging zu Lasten des Hauptmanns. Das Ziel des Werbers war es, zur Annahme von Handgeld zu verführen. Die Wirte, die meist mit dem Werber unter einer Decke steckten, füllten die Gäste mit dem Engagierwein

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ab, dann machte der Werber die Runde. Mit den Fingerspitzen hielt er einen Taler, köderte mit ihm die Leute – und wer den Taler annahm, war „gedingt“ und damit gefangen. Seeleute und Soldaten repräsentieren nur eine schmale Schicht der Gesellschaft, denen man zugute halten kann, dass sie unter Extrembedingungen leben mussten. Von den Auswirkungen der Spirituosen im zivilen Leben berichtet das Kapitel „‚Trink, Brüderchen, trink!‘: Die Geburt des Alkoholismus“. Alko o hol und die europäische Expansion

Als die Araber den Alkohol destillieren lernten, ließen sie sich nicht im Traume einfallen, daß sie damit eins der Hauptwerkzeuge geschaffen, womit die Ureinwohner des damals noch gar nicht entdeckten Amerikas aus der Welt geschafft werden sollten. Und als dann Kolumbus dies Amerika entdeckte, wußte er nicht, daß er damit die in Europa längst überwundne Sklaverei zu neuem Leben erweckte und die Grundlage zum Negerhandel legte.“24 Mit diesen Worte brachte Friedrich Engels (1820—1895) einen Tatbestand von nicht gering zu schätzender Tragweite zum Ausdruck: den Einsatz von Alkohol im Zuge der europäischen Expansion. Ob in Afrika, Amerika, Australien oder im Pazifik – neben Waffengewalt und eingeschleppten Infektionskrankheiten, die die indigene Bevölkerung dezimierten, war der Alkohol ein probates Mittel, um die Menschen abhängig oder doch willfährig zu machen.

Im

Rausch der Sinne

Mit der Verbreitung des hochprozentigen Alkohols kamen auch die negativen Folgen des Alkoholgenusses zum Vorschein. Diesen versuchte vor allem die Temperenzbewegung entgegenzuwirken.

„Trink, Brüderchen, trink!“: Die Geburt des Alkoholismus

runkenheit, der durch übermäßigen Genuss von Alkohol verursachte Rausch, ist so alt wie die Entdeckung vergorener Getränke. Erste Erfahrungen mit dem Alkohol machte der Mensch dabei wohl schon in grauer Vorzeit. Wahrscheinlich führte die Vorratshaltung von Honig früher oder später eher zufällig zu überraschenden Ergebnissen. Wies der Honig nämlich einen hohen Anteil an Wasser auf und wurde über längere Zeit aufbewahrt, entstand leicht ein alkoholhaltiges Getränk: der Met. Dies ist dem Umstand zu verdan-

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ken, dass kohlenhydrathaltige Flüssigkeiten sich in einem Gärungsprozess in ein berauschendes Getränk verwandeln können. Met wurde deshalb „als das älteste alkoholische Genussmittel überhaupt“1 angesehen. In honigreichen Gegenden könnte dies zutreffen, andernorts gelten Wein oder Bier als die ältesten alkoholischen Getränke. Der Mensch hat es verstanden, aus den verschiedensten Materialien und mit den unterschiedlichsten Hilfsmitteln Alkohol herzustellen: Aus vergorener Milch erhielt man Kefir und Kumys, ein typisches Getränk der Nomadenvölker aus Stutenmilch; aus Reis und Palmen stellte man den Reis- bzw. Palmwein her und aus Agaven gewann man in Mexiko Pulque und Mescal. Der Genuss dieser Getränke war häufig in ein Ritual eingebunden: Kumys wurde einem Gast bei seinem Eintritt in

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die Hütte gereicht, während das Trinken von Pulque einer Erlaubnis des Richters oder Häuptlings bedurfte. Er wurde nur als Arzneimittel und im höheren Alter ab 50 Jahren zugestanden. Erst nach der Eroberung des Landes durch die Spanier soll sich deshalb die Trunksucht in Mexiko ausgebreitet haben. Auch wenn Ritual und Alkohol in früheren Zeiten eng miteinander verknüpft waren (und teilweise noch sind) und Alkohol scheinbar in geregelten Bahnen getrunken wurde, sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass es damals Alkoholmissbrauch nicht auch gab: „Der Exzess steckt im Menschen und in jeder Zivilisation.“2 In früheren Zeiten war es jedoch nicht so einfach, alkoholkrank zu werden. Wenn Sokrates in Platons Gastmahl (Symposion) als ausdauernder Zecher dargestellt wird, der jeden unter den Tisch trinkt, so musste er dafür einiges zu sich nehmen. Sokrates trank Wein, der üblicherweise mit Wasser verdünnt war. Die Menge an Alkohol, die er bei einem mehrstündigen Gelage zu sich nahm, dürfte sich dadurch in vertretbaren Grenzen gehalten haben. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Leberzirrhose zu sterben, war in der Antike und im Mittelalter selbst für privilegierte Personen, die es sich leisten konnten, täglich eine größere Menge an Alkohol zu konsumieren, vergleichsweise gering.

Branntwein, die Rauschdroge

Den ersten Schritt hin zu einer epochalen Veränderung brachte die Destillation (siehe das Kapitel „Aus der Büchse der Pandora: Die Spirituosen“), denn nun vermochte der Mensch den Alkoholgehalt verschiedenster Getränke entscheidend zu steigern. So enthält Branntwein ungefähr zehnmal so viel Alkohol wie das traditionelle Bier. Das hatte einschneidende Folgen, zumal das Trinken in anderer Form geschah: Während Bier und Wein

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in Zügen getrunken werden und der Rausch allmählich eintritt, wird der Branntwein hinuntergekippt. Bedingt durch den hohen Alkoholgehalt tritt der Rausch praktisch schlagartig ein. Tatsächlich war mit dem Branntwein die erste künstliche Rauschdroge entstanden. Wie jede Droge enthüllte sie schonungslos den Zustand der Gesellschaft, denn der Mensch sucht offenbar das Vergessen im Rausch, wenn seine Lage schwierig oder gar hoffnungslos ist. Deshalb kann die Höhe des Spirituosenkonsums als ,Lackmustest‘ gesellschaftlicher Missstände dieAlko o holsucht – genetisch bedingt?

Die Veranlagung zum exzessiven Trinken soll laut den Wissenschaftlern genetisch bedingt sein: Das D2R2–Allel (ein Allel ist eine Variation eines normalen Gens), das bei 50–80 Prozent der Alkoholiker zu finden ist, wird dafür verantwortlich gemacht. Stimmt dies, so kommt die moderne Gentechnologie einer Heilslehre gleich: Ein Eingriff in das menschliche Genom verspräche den Alkoholismus zum Verschwinden bringen zu können.

nen. Der Konsum der Spirituosen stieg in der Frühen Neuzeit rasch an, das lässt sich durch die Verbrauchsteuer belegen, die der Staat auf starke alkoholische Getränke zu erheben begann. Während die englische Regierung 1696 auf 4,5 Millionen Liter Spirituosen Steuern erhob, waren es 1751 schon 32 Millionen Liter. Nach 1815 ging man dazu über, anstelle von Getreide immer häufiger billige Kartoffeln zu verwenden, was die Branntweinproduktion revolutionierte. Jetzt konnte der Alkohol zu einem täglichen Genussmittel auch für die unteren Klassen der Gesellschaft werden. Damit war die zweite wichtige Voraussetzung dafür gegeben, dass Trunkenheit zu einem Massenproblem

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werden konnte: Der Markt musste alkoholische Getränke in großer Quantität und billig anbieten können. Bei guter oder steigender Kaufkraft stieg der Konsum entsprechend. Die massenhafte Herstellung von Branntwein wiederum beschleunigte wegen der Aussicht auf hohe Gewinne den technischen Fortschritt.

Kritik an der Alkoholsucht

Die enorme Verbreitung alkoholischer Getränke und die massenhafte Berauschung wurde erstmals in England thematisiert, als eine Erhöhung der Biersteuer bewirkte, dass die Menschen auf Gin auswichen. „Personen in untergeordneten Berufen trinken [Gin] ganz ungehemmt“, hieß es in einem der vielen Berichte, „unglückliche Mütter gewöhnen sich daran, Kinder werden schwach und kränklich geboren. Andere wiederum geben [ihn] täglich ihren Kindern, auf dass sie kosten und an diesem sicheren Vernichter Gefallen finden mögen.“3 Dank Importen aus Holland, der damaligen Hochburg der kommerziellen Destillation, einer Vielzahl eigener Destillerien und einer liberalen Gesetzgebung wurde der Markt förmlich von Gin überschwemmt. 1736 wurden in London 7044 Ginläden gezählt; auf einen erwachsenen männlichen Londoner kamen pro Jahr etwa 63 Liter Gin. Historiker sprechen auch von der ersten Drogenkrise in der europäischen Geschichte. Der englische Grafiker und Maler William Hogarth (1697–1764) hat Szenen dieser „Gin-Epidemie“ in zwei berühmten Kupferstichen festgehalten, die sein Zeitgenosse, der deutsche Naturgelehrte und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), ausführlich kommentierte. Hogarth und mit und nach ihm auch andere Künstler machten ein Phänomen sichtbar, das heute als Krankheit definiert wird: den Alkoholismus bzw. die Alkoholkrankheit.

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Die B ranntweinpest

Nicht nur in England hatte man mit einem wachsenden Alkoholproblem zu kämpfen. Auch in anderen europäischen Ländern war ein exzessiver Konsum von Spirituosen zu verzeichnen. Das Problem wurde als derart schwerwiegend angesehen, dass man gar von der „Branntweinpest“ sprach. Den Begriff prägte der Schweizer Dichter Heinrich Zschokke (1771–1848), der im Jahr 1837 ein Buch mit dem Titel Die Branntweinpest. Eine

Trauergeschichte zur Warnung und Lehre für Arm und Reich schrieb. Auch andere zeitgenössische Schriftsteller setzten sich mit dem Problem auseinander, so etwa der Schweizer Jeremias Gotthelf (1797–1854) in den Erzählungen Wie fünf Mädchen

im Branntwein jämmerlich umkommen (1838) und Dursli der Branntweinsäufer (1839).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückte das Phänomen des Alkoholismus langsam in das Bewusstsein der Medizin. Im Jahr 1813 lieferte der englische Arzt Thomas Sutton (1767–1835) eine genaue Beschreibung des Delirium tremens, des Alkoholdeliriums. Einen Meilenstein der Alkoholforschung stellte das 1849 publizierte Buch Alcoholismus chronicus des schwedischen Arztes Magnus Huss (1807–1890) dar, der den Begriff „Alkoholismus“ prägte.

Suche nach den Ursachen des Alkoholismus

Und wie erklären sich Zeitgenossen und Historiker den exzessiven Alkoholkonsum? Die Hauptursache wurde in der Industriellen Revolution gesehen. „Es steht außer Zweifel“, kommt der Historiker Sandgruber zum Schluss, „dass die Industriali-

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Dieses berühmte Bild des englischen Karikaturisten William Hogarth von 1750/51 thematisiert den Alkoholismus und den schnellen Rausch, der durch die Spirituosen möglich wurde.

sierung die Attraktivität des Alkohols verstärkte, wegen der erhöhten physischen Belastung und Arbeitsmonotonie, wegen der sanitären Defizite der Wohnsiedlungen, der regionalen Entwurzelung vieler neu zugezogener Arbeiter und der Enge der Wohnungen. Solches wurde durch die damals noch wenig widersprochene Überzeugung gestützt, dass Alkohol die körperliche Widerstandskraft erhöhe.“4 So wurden 1801 in England und Wales 2,5 Liter Branntwein pro Kopf und Jahr getrunken, zwei

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Jahre später dagegen schon 4,8 Liter. In der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts schwankte dieser Wert um 3 Liter und erreichte nach einer langen Wachstumsperiode infolge sinkender Preise 1830 mit 5,3 Liter einen Spitzenwert, der in den 1870er Jahren noch übertroffen wurde. Ein vergleichbares Bild zeigt sich in Deutschland, in dem die Hochphase der Industrialisierung später einsetzte als in Großbritannien. Anfang der 1870er Jahre war der Alkoholverbrauch hier statistisch am höchsten. Eine Berechnung, die allerdings nur Bier und Schnaps einbezieht, kommt für das Jahr 1874 auf einen Verbrauch von 10,5 Litern reinen Alkohols. Dabei entfielen zwei Drittel der Alkoholmenge auf Schnaps. 1850 waren es noch 6,4 Liter gewesen. Festzustellen ist gleichzeitig ein erhöhter Konsum in den Mittel- und Oberschichten. Unterm Strich zeigte sich eine höhere Toleranz gegenüber dem Rausch: Während im vorindustriellen Zeitalter der leichte Rausch gesellschaftlich akzeptiert war, tolerierte man offenbar im frühen 19. Jahrhundert den fast zum Alltagsbild gehörenden Vollrausch. Bald differenzierte sich die Frage der Akzeptanz allerdings: Je mehr der Rausch oder die Trunkenheit einen proletarischen ,Beigeschmack‘ bekam, desto mehr war es in Oberschicht und Bürgertum verpönt, in der Öffentlichkeit betrunken aufzutreten. Die „neuen“ Trinkmuster scheinen jedoch auf ältere Verhaltensweisen und Arbeitsmuster zurückzugehen. Auch auf dem Land, etwa bei der Heuernte, wurde viel getrunken. Zudem sollte man sich davor hüten, die Menschen aus den Unterschichten pauschal als Säufer abzustempeln. Hier reichte die Spannbreite vom Extremtrinker bis zum Gelegenheitstrinker. Die Menschen flüchteten sich in den Rausch aus einer Vielzahl von Motiven – dafür in erster Linie die Industrielle Revolution verantwortlich zu machen, wäre vielleicht doch zu einfach.

Maßhalten: Die Temperenzbewegung

er römische Philosoph Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) schrieb: „Sobald die überwältigende Kraft des Weins die Herrschaft über uns gewonnen, tritt jedes bisher verborgene Laster zu Tag.“5 Viele römische Gebildete sahen sich als Zeugen eines unaufhaltsamen Sittenverfalls, dessen Wurzeln in der Maßlosigkeit – vor allem beim Trinken – zu finden waren. Der Ruf nach Mäßigung beim Trinken war also bereits im Römischen Reich zu hören. Als weltumfassende Bewegung gab es die ,Mäßigungsbewegung‘ hingegen erst im 19. Jahrhundert.

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Ihren Anfang nahm die Bewegung, das verrät der aus dem Englischen abgeleitet Begriff Temperenzbewegung (englisch temperance: Mäßigkeit, Enthaltsamkeit), in den Vereinigten Staaten. Das Brauereihandwerk konnte hier mit den ersten Siedlern aus Europa Fuß fassen. Obwohl die Brauer in der Regel traditionelle Zutaten verwendeten, fehlte es häufig an Hopfen oder Malz. In der Not griff man auf andere Ersatzstoffe zurück, wobei der Phantasie kaum Grenzen gesetzt waren. Die Bandbreite der amerikanischen Biere im Hinblick auf Geschmack und Qualität war entsprechend. Vergebens suchten die kolonialen Regierungen mittels Vorgaben eine minimale Qualität zu sichern. Mit dem Aufkommen der Spirituosen änderte sich das ,Trinkmuster‘ auch in der Neuen Welt von Grund auf: Schnaps aus Birnen oder Zwetschgen wurde im 17. Jahrhundert zu

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einem wahren Renner. Neben Bier und Most (cider) war Rum wahrscheinlich das beliebteste Getränk in den Kolonien. Allein Pennsylvania destillierte im Jahr 1752 rund 80 000 und importierte 526 700 Gallonen Rum. Die Nachfrage nach Rum war also gewaltig, und es wurde mit harten Bandagen um diesen lukrativen Markt gekämpft. Rum wurde in der Karibik aus Rohrzuckerabfall, der Melasse, hergestellt. Dabei war die in den französischen Kolonien produzierte Melasse billiger als die englische. Um zu verhindern, dass die 13 englischen Kolonien die Melasse auf dem billigsten und direktesten Weg importierten und weiterverarbeiten, erließ das British Empire 1733 das so genannte Melassegesetz. In der Folge entstand ein blühender Schmuggel, das Gesetz wurde unterlaufen. Der Handel mit Rum rührte indes noch grundsätzlicher am wirtschaftlichen und politischen System der damaligen Zeit. Im Jahr 1764 verabschiedete die britische Regierung den gemeinhin als „Zuckergesetz“ bekannten Plantation Act, der in den KoloRevo o lverhelden trinken Whiskey

Hollywood hat mit seinen Wildwestfilmen dem Whiskey trinkenden Revolverhelden ein Denkmal gesetzt. Tatsächlich gab es an der Frontier, im nordamerikanischen Grenzland, dem „Wilden Westen“, beachtliche Mengen an Whiskey zu trinken, denn der Transport von Rum in Fässern war aufwändig, während Getreide im Überfluss vorhanden war. Whiskey war nicht nur einfacher zu lagern als Getreide, es war auch profitabler, dieses in flüssiger Form zu verkaufen. Trunkenheit scheint im Grenzland ein sehr verbreitetes Phänomen gewesen zu sein. Aber nicht nur hier sprach man dem Whiskey zu: Hatte man im so genannten Indian War (1756–1763) den Soldaten noch Rum als Tagesration verabreicht, so war es im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Whiskey.

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nien einen Schrei der Empörung hervorrief: Die Rumbrenner sahen ihr profitables Geschäft mit der Melasse gefährdet. Der ohnehin schon schwelende Konflikt zwischen dem Mutterland und den englischen Kolonien eskalierte. Am 4. Juli 1776 erklärten sich die 13 Kolonien für unabhängig. Das war die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten. Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg beschleunigte im Übrigen die Abkehr vom Rum zum Whiskey, denn die britische Flotte blockierte die Häfen der Kolonien und verhinderten so die Einfuhr von Melasse. Whiskey wird aus Getreidemaische hergestellt, je nach Herkunft verwendet man dabei verschiedene Getreidearten: Irischer Whiskey wird aus Gerste gebrannt, amerikanischer aus Mais und Roggen (oder nur Mais), kanadischer Whisky aus Weizen. Malt Whisky wird aus über Torffeuer gedarrtem Gerstenmalz gemacht. Je nach Herkunftsland differiert im Übrigen auch die Schreibweise: In Schottland und Kanada schreibt man „Whisky“, in Amerika und Irland dagegen „Whiskey“.

Die Entstehung der Temperenzbewegung

Das veränderte amerikanische Trinkverhalten, bei dem hochprozentige alkoholische Getränke immer stärker bevorzugt wurden, rief geradezu nach sozialen Kontrollen, die etwaigen Exzessen einen Riegel vorschoben. Die Temperenzbewegung entstand auf die Initiative von Einzelpersonen wie beispielsweise dem Arzt Benjamin Rush (1745–1813), einem der „Gründerväter“ der Vereinigten Staaten. Für die puritanisch geprägte Antialkoholbewegung war der Alkohol buchstäblich des Teufels. Anhänger fand die Bewegung im frühen 19. Jahrhundert vor allem im agrarisch geprägten Süden. Aus dem Zusammenschluss verschiedener lokaler und einzelstaatlicher Organisationen entwickelte sich 1826 die American Society for

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the Promotion of Temperance. Sie gab zahlreiche Broschüren und Zeitschriften heraus und versorgte die bestehenden kirchlichen Zeitschriften mit Artikeln. Der Kampf gegen den Alkoholismus wurde in der populären Literatur, in Theaterstücken, Liedern, literarischen Essays und Predigten, aber auch in Versammlungen und Umzügen durch das ganze Land hindurch mit größter Hingabe geführt. Aufgrund innerer Differenzen trat die Bewegung Ende der 1830er Jahre vorübergehend auf der Stelle. Nach 1840 folgte jedoch eine weitere Periode der Ausbreitung. Wohl organisierte und auch emotional entsprechend angefeuerte experience meetings zogen Tausende von Zuhörern an. Nach 1846 wurden in 13 Staaten Prohibitionsgesetze erlassen, die allerdings meist nur kurze Zeit in Kraft blieben. Erst 1920 gelang es der Bewegung, die Prohibition per Verfassungsänderung auf alle Bundesstaaten der USA auszudehnen; die USAweite Prohibition wurde schließlich 1933 wieder aufgehoben. Das eigentlich Auffällige bei der amerikanischen Temperenzbewegung ist ihre Radikalisierung. Aus einer Bewegung, die zunächst lediglich einen reduzierten Konsum von Alkohol propagierte, entstand die Forderung nach dem totalen Verzicht. In der Sprache lässt sich der Wandel nachvollziehen: Der Begriff teetotaler – der „Antialkoholiker“ – fand Eingang in die amerikanische Sprache. Ursprünglich hatten sich Mitglieder einer Temperenzbewegung entscheiden können, ob sie eingeschränkt oder vollständig auf Alkohol verzichten wollten. Wer für eine totale Abstinenz eintrat, erhielt den Buchstaben T neben seinen Namen gesetzt, den Anfangsbuchstaben des Wortes total. Die Temperenzbewegung blieb nicht auf die USA beschränkt. Sie schwappte nach Europa über und traf hier auf einen fruchtbaren Boden. Schon der deutsche Reformator Martin Luther (1483–1546) kämpfte wortgewaltig gegen den „Saufteufel“ und beschimpfte die Deutschen als ein Volk von Säu-

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fern. Scharf wehrte sich auch der Calvinismus gegen die Trunksucht; man machte sie für den schleichenden Sittenverfall verantwortlich. Der Humanismus und die Reformation leiteten in Nordund Mitteleuropa ein spektakuläres „Umerziehungsprogramm“ ein. Ein religiöses Sendungsbewusstsein fehlte in Zukunft keinem echten ,Kreuzzug‘ gegen das Laster der Trunksucht. Einen schönen Beleg für den hohen Stellenwert, den der Alkohol (und mit ihm der Rausch) in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit hatte, liefert Christoph Lichtenberg. Er listete sage und schreibe 144 Ausdrücke für Trunkenheit auf. Dieser sprachliche Reichtum erstaunt nicht, wenn man weiß, dass die ,Gin-Epidemie‘ in Irland, den USA, Deutschland oder Skandinavien verbreitet war. In deutschen Landen wurde freilich nicht Gin, sondern Kartoffelschnaps zum billigen Massengetränk. Nur Länder mit einer ungebrochenen ,Tradition‘, Wein oder Bier als Nahrungsmittel zu betrachten, wie Italien oder Bayern, zeigten sich gegenüber dem neuen Übel gefeit. Die Temperenzbewegung fand in Europa also deshalb ein reiches Betätigungsfeld vor. Nüchternheitsapostel zogen übers Land und nahmen den Menschen auf Massenveranstaltungen das Gelübde ab, nie wieder Schnaps zu trinken. Bis zu zwei Millionen Menschen haben sich angeblich in Mitteleuropa dem ‚Kreuzzug‘ gegen die Trunksucht angeschlossen.

Alkohol als Nahrungsmittel

Die Anhänger der Temperenzbewegung richteten sich vor allem an die Arbeiterschaft, die ihrer Meinung nach Alkohol im Übermaß tranken. Sie erkannten aber häufig nicht, dass gerade in diesen Kreisen der Alkohol schlichtweg dazu diente, den Hunger zu stillen. Alkohol war eine gängige Ergänzung der kargen

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Nahrung. Der Branntwein bot eine effiziente Möglichkeit der Sättigung, ist er doch ein exzellenter Energielieferant. Ein Gramm Alkohol liefert nämlich den Energiewert von sieben Kalorien, ein Gramm Fett liefert neun Kalorien, während ein Gramm Eiweiß oder Kohlenhydrate nur vier Kalorien liefert. Nimmt ein Mensch Alkohol nur in kleinen Dosen zu sich, so ist der Körper in der Lage, den Alkohol abzubauen. Im Idealfall ist es möglich, auf diese Weise rund ein Drittel seines Energiebedarfs abzudecken, ohne in einen Rausch zu verfallen. Eine Untersuchung, die das Verhalten der Arbeiterschaft in der ganzen Schweiz berücksichtigt, kommt zu dem Schluss, dass die Arbeiterschaft genau diesem ,Ernährungsmuster‘ folgte. Der Alkohol war dabei nicht nur willkommener Energielieferant, sondern ermöglichte auch den raschen Konsum. So zeigte die Schweizer Studie, dass um 1880 viele Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter Schnaps bei allen Zwischenmahlzeiten, aber auch frühmorgens auf nüchternen Magen zu sich nahmen, weil sie „besonders bei weiter Entfernung von der Fabrik keine Zeit mehr fanden, ein Frühstück zu bereiten“.6 Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen europäischen Ländern folgte die Arbeiterschaft diesem Muster. Das weist auf einen Zusammenhang hin, der bis heute wenig bis keine Beachtung fand: das Wechselspiel von Biologie und Ökonomie. Biologische Faktoren, die Fähigkeit des menschlichen Körpers, aus Alkohol Energie zu gewinnen, bilden dabei den Rahmen. Die wirtschaftlichen Faktoren dagegen liefern das Bild: Weil gebrannte Wasser überall in Europa oftmals billiger waren als Grundnahrungsmittel, kamen sie auf den „Speisezettel“. Dass gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten reichlich Branntwein tranken, erstaunt dabei nicht, sondern bestätigt das Wirtschaftsmodell des homo oeconomicus.

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Reaktionen des Staates auf den Alkoholkonsum

Im Grunde hätte ein besseres und billiges Nahrungsangebot für die ärmeren Bevölkerungsschichten der wachsenden Verbreitung der Alkoholsucht einen Riegel vorschieben können. Der Weg, den man in den meisten europäischen Ländern jedoch beschritt, war ein anderer: Durch ein Verbot oder eine gezielte Besteuerung versuchte man den Alkoholkonsum einzudämmen. Das erste gesamteidgenössische Alkoholgesetz, das am 15. Mai 1887 vom Schweizer Volk angenommen wurde, ist ein gutes Beispiel dieser Politik. Der Staat erhielt das Fabrikationsmonopol für Schnäpse und suchte des hohen Branntweinkonsums durch eine gezielte Besteuerung Herr zu werden. Die Strategie zeigte durchaus Erfolge: Der teure Schnaps wurde durch billigere alkoholische Getränke wie Bier oder Most ersetzt, aber der monopolfreie Obstschnaps erfreute sich gleichfalls steigenden Zuspruchs. Das Endergebnis war jedoch unbefriedigend: Der Gesamtverbrauch an reinem Alkohol sank nur unwesentlich. Erst 1930–1932 verhinderte eine Revision des Alkoholgesetzes das Ausweichen auf andere Spirituosen: Das Brennen von Obstschnaps wurde unterbunden, indem die Herstellung von alkoholfreiem Apfelsaft gefördert wurde.

Die Prohibition und ihre Folgen

Rigoros verboten wurde jeglicher Alkohol in den Vereinigten Staaten. Am 16. Januar 1920 trat das Gesetz in Kraft, das den Konsum von Alkohol unter Strafe stellte. Besonders in den Großstädten wurde illegales Trinken nun zum Abenteuer. Bis dahin verrufene Lokale waren im Trend und wurden erstmals auch von jungen Frauen besucht. Einen Flachmann in der Ta-

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sche zu haben, gehörte zum guten Ton. Es fehlte auch nicht an scheinbar unerschöpflichen Bezugsquellen für den verbotenen Alkohol. Der Schmuggel aus Kanada und die Schwarzbrennerei (moonshining) blühten auf und trugen dazu bei, Männer wie Alphonse Gabriel (Al) Capone (1899–1947) zur unsterblichen Legende zu machen. Auch Industriealkohol wurde produziert, der allerdings giftig war. Der daraus hergestellte Gin oder Whiskey konnte zu Blindheit oder zum Tode führen. Um den schlechten Geschmack des schlechten Alkohols zu tarnen, griff man deshalb gern zum Cocktail. Viele Leute fingen zudem an, zu Hause Wein oder Bier zu brauen. Die dafür benötigten Vorrichtungen wurden als Baukästen offen verkauft, einschließlich der Gebrauchsanweisung und einer Aufzählung der Strafen, die auf die Herstellung des bathtub liquors, des schwarz gebrannten Alkohols, standen. Rasch zeigte sich, dass der Alkoholkonsum mit Gesetzen nicht zu unterbinden war. Die bootleggers, die geheimen Lieferanten, die Hotels, Restaurants und private Kunden mit Alkohol versorgten, genossen Heldenstatus. In New York gab es um 1929 rund 29 000 getarnte Kneipen, so genannte speak-easies. Ihre Existenz war ein offenes Geheimnis und ihre Zahl überstieg die Zahl der offiziell bewilligten Saloons bei weitem. Hatte die Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert in erster Linie noch aus wirtschaftlicher und sozialer Not zur Flasche gegriffen, so gab man zur Zeit der Prohibition durch den Alkoholgenuss einem Lebensgefühl Ausdruck. Das gesellschaftliche Leben der städtischen Mittel- und Oberschicht spielte sich in den 1920er Jahren in ausgesprochener Ungebundenheit ab. Die sexuellen Verhaltensnormen lockerten sich allmählich, der Alkohol- und Nikotingenuss wurde nicht nur Männern, sondern immer häufiger auch Frauen zugebilligt. Man pflegte und genoss die gesellschaftliche Erfindung der Cocktail Party, man fre-

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Die „ grüne Fee“: der Absinth

Absinth ist ein wermuthaltiges alkoholisches Getränk. Ein Inhaltsstoff, Thujon, ist ein starkes Nervengift. Absinth wird, wie andere Anis-Spirituosen (zum Beispiel Pastis oder Ouzo), meist nicht pur getrunken, sondern mit Wasser verdünnt. Die klare, grüne Flüssigkeit – deshalb die Bezeichnung „grüne Fee“, la Fée

Verte – trübt sich dabei ein. Diese Reaktion, der so genannte Louche-Effekt, wurde zur Grundlage zahlreicher Trinkrituale. Diese Rituale sowie der damals im Verhältnis günstige Preis mögen dazu beigetragen haben, dass der Absinth zu einem der populärsten alkoholischen Getränke des 19. Jahrhunderts wurde. Ein spektakulärer Mordfall zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei dem ein Mann im Absinth-Rausch seine Familie tötete, war ein Hauptgrund dafür, dass Herstellung und Verkauf von thujonhaltigen Getränken in den meisten europäischen Ländern und den USA gesetzlich verboten wurde. Nicht verboten wurde die Absinth-Herstellung in der Tschechoslowakei sowie Spanien und Portugal. Dies führte letztlich zur Aufhebung des Absinthverbots in der Europäischen Union und der Schweiz, dem Ursprungsland des Absinth. Streng reglementiert wurde dabei der Anteil des gefährlichen Thujon. Der wohl berühmteste Absinthtrinker war der Künstler Vincent van Gogh (1853–1890), aber auch Toulouse Lautrec (1864–1901) oder der französische Dichter Charles Baudelaire (1821–1867) tranken Absinth.

quentierte das speak-easy ohne Hemmungen, man begeisterte sich für neue Tanzformen (Shimmy, Charleston, Black Bottom usw.) und für die Melodien der großen Jazzmusiker. Das Bedürfnis, einem Lebensgefühl Ausdruck zu geben, mit der Mode zu gehen, ist zu allen Zeiten zu beobachten.

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Wenn es damals zum guten Ton gehörte, an einem Cocktail zu nippen, so greifen Jugendliche heute zum Alcopop. Das Grundproblem ist dasselbe geblieben: der verantwortungsvolle und bewusste Umgang mit der Droge Alkohol. Mäßigung ist in der Tat angesagt, denn wie schon Paracelsus sagte: „Kein Ding ist ohne Gift; die Dosis macht’s, ob es ein Gift ist oder nicht.“7

Neben später so berühmten Künstlern wie Vincent van Gogh (1853 –1890) oder Toulouse-Lautrec (1864 –1901) gehörten Schriftsteller und ‚Halbweltleute‘ zu den Anhängern des Absinths. Edgar Degas, Der Absinth, 1876

Trinkfeste Herren und züchtige Damen: Wer trinkt wo

ouis Sébastien Mercier beschreibt die Zustände, die in den cabarets (Weinlokalen) der französischen Metropole am Ende des 18. Jahrhunderts an der Tagesordnung gewesen sein sollen. „Wenn eine Rauferei wegen den Folgen von hohem Weinkonsum losbricht, so fliegen Fäuste; die Wache eilt herbei, denn ohne diese würde sich der Abschaum, der eben noch tanzte, an die Kehle gehen und sich zum Klang einer Geige umbringen.“8 War die Kneipe normalerweise nicht vielmehr eine öffentliche Begegnungsstätte, der ideale Platz für einen

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Schwatz für Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten? Wer allein trinkt, säuft, sagt ein Sprichwort. Seit alters wird in Gesellschaft getrunken – verbindet man Alkoholkonsum auch mit Geselligkeit. Die archaischen Trinkrituale waren Ausdruck der Zusammengehörigkeit der Trinkenden. Mit dem Willkommenstrank z. B., der dem Gast gereicht wird, nimmt der Gastgeber diesen symbolisch in die Hausgemeinschaft auf. Auf die Gesundheit zu trinken, sich zuzutrinken, Brüderschaft zu trinken oder Rundentrinken schmiedete die Beteiligten zumindest für die Dauer des Trinkens zusammen. Im öffentlichen Lokal haben sich Relikte dieser Trinkrituale erhalten. Wer in eine Kneipe tritt, betritt eine Welt, in der eigene Regeln und ,Gesetze‘ herrschen. „Alle hier Anwesenden“, heißt es in einer soziologischen Analyse der amerikanischen Kneipe, „gleichgül-

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Das Zutrinken: Prost, Prosit

Prost (aus lateinisch prosit = es möge nützen) ist eine Wunschformel beim Zutrinken. Seit dem 18. Jahrhundert ist sie weit verbreitet. Ihren Ursprung hat sie in der Studentensprache. Die Entstehung der Formel innerhalb studentischen Lebens erklärt Georg Schreiber, Autor einer deutschen Weingeschichte, folgendermaßen: Wein und Konfekt gehörten gemäß alten Urkunden schon im 15. Jahrhundert zum so genannten Doktorschmaus. Der Prüfling hatte vor der Prüfung seinen Examinatoren Wein mitzubringen, der während des Examens getrunken wurde. Die Annalen der Universität Ingolstadt berichten (21. April 1665, Theologische Fakultät): „Etwas nach zwei Uhr begann die Disputation, wobei der Kandidat durch seinen Geist glänzte, die anderen aber, besonders die Perillustres und Illustres (die Adligen) um die Wette tranken. Spanischer Wein wurde nicht gegeben, weil dieser für den Nachmittag nicht passt, deshalb reichte man einen anderen süßen Rotwein, und zwar denselben während der ganzen Disputation, was allgemeine Zustimmung fand.“11 Die Prüfer nun wünschten dem Kandidaten ein Prosit, indem sie die Gläser hoben.

tig, ob sie sich kennen oder nicht, haben das Recht, den anderen in eine Unterhaltung zu verwickeln und die Pflicht, sich ihrerseits ansprechen zu lassen. Während an allen anderen Orten der Kontakt zu Unbekannten normalerweise eingeschränkt ist, stellt die allseitige Aufgeschlossenheit und Ansprechbarkeit die Grundregel der Kneipe dar.“9 Und weiter: „Ist die Kneipe aufgrund dieser allseitigen Offenheit der Gäste ein archaisches Territorium, so ist sie doch zugleich durchaus modern darin, dass die hier aufgetischten Getränke bezahlt werden müssen. Der Wirt ist nicht allein Gastgeber, sondern auch Kaufmann.“10

Tr i n k f e s t e H e r r e n u n d z ü c h t i g e Da m e n

Die Kommerzialisierung der Gastfreundschaft hat eine lange Geschichte, was bereits die Vielzahl der unterschiedlichen Bezeichnungen für den Versammlungsort unterstreicht: Wirtshaus, Wirtschaft, Gasthof, Lokal, Bierkeller, Restaurant, Taverne oder Bar sind nur einige wenige Beispiele. Dieselbe Vielfalt spiegelt sich in den unterschiedlichen Namen für den „Gastgeber“. Eine Gewerbesteuerrolle von 1822 für die Stadt Aachen umfasst folgende Rubriken: Bierwirt, Weinschenk, Branntweinschenk, Kaffeewirt, Speisewirt, Badewirt, Schankwirt, Wirt, Gastwirt, Commisschenk, Destillateur, Pfefferküchler, Konditor, Zuckerbäcker, Koch und Garköchin. Weitere Bezeichnungen kommen hinzu, wenn man lokale Besonderheiten oder internationale Gepflogenheiten berücksichtigt. Der Name taberna (Rasthaus, Gasthaus, Schenke) stammt von den öffentlichen Einkehrhäusern, die die Römer entlang ihrer Straßen errichteten. Im Mittelalter unterschied man die taberna vini von der taberna cervisiae, d. h. den Weinausschank vom Bierausschank. Im Allgemeinen durften Ende des 13. Jahrhunderts in Mitteleuropa Wein und Freigetränke nur in der anerkannten taberna verkauft werden. Reglementiert war auch die Verhaltensweise der Gäste. Vornehmlich an Feiertagen waren Würfel- und Kartenspiele untersagt. Verboten war außerdem das Fluchen, Schwören und Gotteslästern. Die „Polizeistunde“ war ebenfalls bekannt: In der Tiroler Kartause Allerengelberg beispielsweise schlossen sich die Pforten im Sommer abends um neun Uhr und im Winter bereits um sieben Uhr.

Das alehouse

Bunt zusammengewürfelt war die Klientel. Generell kann man sagen, dass jede gesellschaftliche Schicht einen bestimmten Typus der öffentlichen Gaststätte bevorzugte. Eine englische Insti-

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tution war das Pub bzw. das alehouse. Im alehouse versammelten sich Leute aus dem Klerus oder dem Adel nur selten. In erster Linie traf sich hier der gemeine Mann, während sich der Gentleman nicht blicken ließ. Bauern fanden sich an Markttagen zahlreich ein, ansonsten aber gönnten sie sich lieber das selbst gebraute Bier. Die Abhängigkeit der einfachen Handwerker und Arbeiter war in dieser Hinsicht deutlich größer: Das billige ale löschte nicht nur den Durst, im alehouse gab es dazu eine billige Mahlzeit. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten erfreute sich das alehouse eines regen Zulaufs. Sehr beliebt war es bei jungen Leuten, was Arthur Dent 1601 in seinem erfolgreichen Buch The Plain Man’s Pathway to Heaven dazu veranlasste, sich über die Faulheit der Jugendlichen zu beklagen, die nichts anderes zu tun hätten, als herumzulungern und ihre Zeit im alehouse zu verbringen. Einschneidende Veränderungen brachte die Industrielle Revolution. Allein die immense Zunahme der Bevölkerung, die sich am Wachstum der Städte eindrücklich zeigt, hatte unmittelbare Auswirkungen. Zählte Manchester 1773 noch 22 000 Einwohner, so lebten 1821 bereits über 108 000 Menschen in dieser Stadt. Keine Frage, dass auch die Kundschaft des alehouse entsprechend zunahm. Weitaus schwieriger zu fassen ist Frauen im alehouse

Junge Mädchen konnten ein alehouse mit ihrem Freund besuchen, meist in Gesellschaft anderer junger Leute. Eine allein stehende oder verwitwete Frau konnte sich dies nicht leisten. Sie stand sofort im Ruf, einen leichtfertigen Lebenswandel zu führen, und sexuelle Belästigungen blieben selten aus. So war es selbstverständlich, dass verheiratete Frauen nur in Begleitung des Ehemanns ins alehouse gingen.

Tr i n k f e s t e H e r r e n u n d z ü c h t i g e Da m e n

dagegen die qualitative Veränderung des Publikums: Suchte das wachsende Proletariat das alehouse häufiger auf, um Entspannung nach dem schweren Arbeitstag zu suchen? Stieg die Zahl der Betrunkenen wirklich sprunghaft an, wie Zeitgenossen berichten? Wurde das alehouse zu einer Brutstätte des Alkoholismus und damit zu einer Gefahrenquelle der gesellschaftlichen Ordnung? Die Obrigkeit ging jedenfalls ab 1780 zu einer rigorosen Überwachungspolitik über. Anlass dazu gab die Angst, dass die steigende Zahl der öffentlichen Gaststätten außer Kontrolle zu geraten drohte. Immer mehr Lokalitäten schien es zu geben, in denen sich Angehörige der ländlichen, besitzlosen Unterschichten und Kriminelle trafen. Nicht allein die Furcht vor sozialen Unruhen war ein treibendes Moment für einschränkende Maßnahmen. In einer sich wirtschaftlich schnell verändernden Welt sahen die regierenden Kreise die Arbeitsdisziplin durch starkes Trinken und andere Ausschweifungen bedroht. Religiöse Kreise wiederum fürchteten um die Moral. All das erklärt die Politik der Überwachung, die gegen Ende der Regierungszeit Georgs III. (1738–1820) Einzug hielt. Lizenzen zur Eröffnung neuer Häuser wurden nur noch spärlich vergeben; Öffnungszeiten wurden eingeschränkt oder die Anstellungsbedingungen des Personals massiv verschlechtert. Diese Maßnahmen bedeuteten jedoch keineswegs das Ende des alehouse. Im Gegenteil, es entwickelte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus dem alehouse das so genannte public house („öffentliches Haus“), verkürzt als Pub bezeichnet.

Gin palaces, music halls und Bars

Alehouse und Pub sowie der Bierkonsum im Allgemeinen bekamen Konkurrenz. Durch das Aufkommen der Spirituosen im 19. Jahrhundert ging der Bierkonsum deutlich zurück. 1845

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schildert der in England reisende Rheinländer Jakob Venedey die Eindrücke, die er an einem Samstagabend in einem Arbeiterviertel Manchesters sammelte: Am meisten aber drängte es sich nach den Bier- und Schnaps-

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läden hin. Die letzteren sind oft Paläste mit dorischen Säulen an den Toren und vielen Freskogemälden in den Hallen. Diese Hallen selbst sind nicht zur Gesellschaft, sondern nur zum Trinken eingerichtet. Der Gast bekommt keinen Stuhl, sondern trinkt stehenden Fußes. […] Ein paar der Schnaps- und Bierhäuser hatten verschiedene Eingänge, die dann zu trichterartigen Abteilungen vor dem Schanktische führten. In dem ersten Trichter wurde für 2, in dem nächsten für 3, in dem folgenden für 4 Pence Schnaps gegeben, so dass jeder schon vor der Türe seine Rechnung

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machen konnte.12

Diese ,Paläste‘, Schnapsschenken, waren etwas Neues in der Landschaft der Gaststätten. In London bedienten die 14 größten gin palaces in einer Woche 270 000 Gäste; in Manchester strömten an einem Samstagabend durchschnittlich 420 Menschen in den Saal. Auch wenn man solche Zahlen mit Vorsicht genießen sollte, darf man die neuen Einrichtungen allemal als sehr populär bezeichnen. Der Massenansturm ist nicht allein mit der Popularität der neuen Lokale, sondern mit einem neuen Trinkverhalten zu erklären: Man trank, wie es Jakob Venedey ausdrückte, allein und stante pede. Der Tresen „beschleunigt das Trinken, wie die Eisenbahn das Reisen und wie der mechanische Webstuhl das Produzieren von Textilien beschleunigt“.13 Bald liefen die music halls den gin palaces den Rang ab. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts versammelten sich hier bis spät in die Nacht oft über tausend Gäste. Besonders voll scheint es gewesen zu sein, nachdem sich die britische Wirt-

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Hinter der Theke wartet die Bardame. In dem berühmten Gemälde von Edouard Manet steht sie dem Betrachter ruhig und mit abwesendem, nach innen gewandtem Blick gegenüber. Edouard Manet, Bar in den Folies-Bergère, 1881

schaft von den Krisenjahren um 1848 erholt hatte. 1852 kam der Untersuchungsausschuss des englischen Parlaments zu dem Ergebnis, die drei größten music saloons Manchesters würden wöchentlich von durchschnittlich 25 000, vor allem jüngeren Textilarbeitern und -arbeiterinnen besucht; demnach habe jeder einzelne Saloon täglich 1190 Gäste gezählt. Der Trend zur Bar fand vor allem in England und in den USA statt. Für sich selbst spricht die Gewohnheit, sich in einer deutschen Kneipe zum Trinken an einen Tisch zu setzen. In Italien wiederum bezeichnet il bar einen kleinen gastronomischen Betrieb, wo der Besucher meist im Stehen seinen Espresso oder Cappuccino trinkt. Sind diese unterschiedlichen Gepflogenheiten Ausdruck einer unterschiedlichen Auffassung von Gemütlichkeit? Oder sind sie Ausdruck einer Kontinuität der Trinkgewohnheiten und damit einer Art nationalen Trinkkultur?

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Andere Orte des Trinkens

Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch im privaten Rahmen wurde (und wird) natürlich Alkohol konsumiert. So floss am Tisch der Reichen und Adeligen insbesondere bei Anlässen, die Gelegenheit zur Repräsentation boten, viel Alkohol, ohne dass man dies in Zahlen beziffern könnte. Gern sprach man edlen Weinen zu, die sich übrigens auch in Klöstern traditionell größter Beliebtheit erfreuten. Im 19. Jahrhundert, das nicht umsonst das bürgerliche Zeitalter genannt wird, wurden beispielsweise auch bei Geschäftsabschlüssen alkoholische Getränke gereicht. Alkohol war in Armenhäusern, Spitälern und Erziehungsanstalten ein traditioneller Bestandteil der Verpflegung – nicht nur für Erwachsene. Im Heinrich Kellerschen Waisenhaus im österreichischen Graz erhielten die Kinder nach der Stiftsordnung des Jahres 1720 mittags und abends Bier, an Festtagen zusätzlich Wein. 1766 wurde jedoch befohlen, die Ausgabe von Bier und Wein gänzlich einzustellen und die Jugend an Wasser zu gewöhnen. Das galt freilich nicht für die Erwachsenen. Dass am Arbeitsplatz getrunken wurde, ist ein Phänomen, das Beobachtern im Zuge der Industrialisierung auffiel. In den nordenglischen Industrievierteln müsse jeder Arbeiter, der seinen Platz wechsle, einen Schilling für Getränke spendieren, und sogar wenn ein Nagel verschlagen würde, sei eine Zahlung fällig, weiß der Temperenzpolitiker John Dunlop zu erzählen. Eine wahre Sauforgie sei die Folge. Derartige Schilderungen sollte man aber nicht unbedingt für bare Münze nehmen. Das Bild, das Zeitgenossen entwerfen, war in Wirklichkeit viel facettenreicher. Viele Quellen, die das karge und harte Leben in den Fabriken anschaulich machen, zeigen, dass ganz im Gegenteil oft kein Alkohol getrunken wurde.

Trinkkultur und Trinkkonsum: Versuch einer Bilanz

it den markigen Worten: „Wenn Sie das CocaCola-Emblem nicht mehr sehen, haben Sie die Grenzen der Zivilisation überschritten!“14, warben die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg für ihr koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk, heute das meist getrunkene Süßgetränk der Welt. Der Aufstieg der USA zur Supermacht und die Verbreitung von Coca-Cola über den ganzen Globus hängen durchaus zusammen. Der raffinierte Schachzug des Konzerns, die amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg mit Coca-Cola zu

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versorgen, legte nämlich den Grundstein zum weltweiten Erfolg. Nach Kriegsende brachten die heimkehrenden Veteranen eine ausgeprägte Vorliebe für das Süßgetränk mit. Bei einer 1948 durchgeführten Umfrage unter Veteranen nannten fast 64 Prozent als ihr Lieblingsgetränk Coca-Cola. Im gleichen Jahr erreichte der Bruttoumsatz des Coca-Cola-Konzerns die damals riesige Summe von 126 Millionen Dollar. Intern rechnete man damit, „elf Millionen GIs als Freunde und Kunden für den inländischen Verbrauch“15 gewonnen zu haben. In Europa stieß Coca-Cola dagegen nicht überall auf Akzeptanz. Im Januar 1951 beschloss z. B. der Stadtrat von Baucaire in Frankreich einstimmig, Coca-Cola aus dem Verkauf zu nehmen, um den Absatz von Wein zu fördern. Dass ein fremdes Getränk als Bedrohung aufgefasst wurde, war nicht neu. Im

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Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) hatte der Sieg des Deutschen Reiches die Angst vor dem germanischen „Nationalgetränk“, dem Bier, geschürt. Was im einen wie im anderen Fall eine Frage des Patriotismus schien, hatte handfeste wirtschaftliche Gründe. Deutsches Bier und amerikanisches Coca-Cola bedeuteten Konkurrenz für den heimischen Getränkemarkt. Man fürchtete einen Verlust der nationalen Trinkkultur. Aber gibt es überhaupt eine nationale Trinkkultur? Was ist davon zu halten, wenn Franzosen oder Italiener als Weintrinker, die Deutschen und Niederländer als Biertrinker, die Amerikaner als CocaCola-Trinker oder die Briten als Teetrinker eingestuft werden? Anhand der WHO-Statistik von 2001 lässt sich eine internationale Rangliste für Bier, Wein und Spirituosen aufstellen:16 Getränk

1. Rang

2. Rang

3. Rang

Bier

Tschechien (188,6 Liter)

Irland (184,8 Liter)

Deutschland (145,2 Liter)

Wein

Luxemburg (82,0 Liter)

Frankreich (72,9 Liter)

Portugal (62,3 Liter)

Spirituosen

Moldawien (10,9 Liter)

Russland (7,6 Liter)

Thailand (7,1 Liter)

Nach Ländern aufgeschlüsselt, ergibt sich folgendes Bild: Land

Bier

Deutschland

145,2 Liter

29,4 Liter

2,2 Liter

44,0 Liter

72,9 Liter

3,0 Liter

119,4 Liter

22,4 Liter

1,8 Liter

33,6 Liter

60,8 Liter

1,0 Liter

Österreich

128,4 Liter

38,9 Liter

1,7 Liter

Schweden

67,4 Liter

19,7 Liter

1,2 Liter

Schweiz

68,8 Liter

54,2 Liter

1,9 Liter

USA

95,2 Liter

10,0 Liter

2,4 Liter

Frankreich Großbritannien Italien

Wein

Spirituosen

Tr i n k k u l t u r u n d Tr i n k k o n s u m

Dem Konsum von alkoholischen Getränken könnte der Konsum nichtalkoholischer Getränke an die Seite gestellt werden. Allerdings ist das Interesse des Staates an einer derartigen Statistik für nichtalkoholische Getränke deutlich geringer. Meist werden entsprechende Zahlen allenfalls von Getränkekonzernen erhoben und nach uneinheitlichen Kriterien erfasst. Das hat zur Folge, dass bestimmte Getränke stiefmütterlich behandelt werden oder ein direkter Vergleich schwierig, ja manchmal sogar unmöglich ist: Wer interessiert sich schon dafür, wie viel Kräutertee getrunken wird? Und wer bemerkt schon, dass in der einen Statistik zum Mineralwasser nur die Wasser mit Kohlensäure, in der anderen jedoch alle Wasser, die in den Verkauf kommen, aufgenommen werden? Statistiken werfen mindestens so viele Fragen auf, wie sie Antworten geben! Sehen wir uns trotzdem die Zahlen des jährlichen Pro-Kopf-Konsums an Getränken in Deutschland an. Er betrug im Jahr 2003: 157 Liter Kaffee, 127 Liter Mineralwasser (mit Kohlensäure), 117 Liter Bier, 78 Liter Milch, 65 Liter Säfte, 50 Liter Kräuter- bzw. Früchtetee, 26 Liter Schwarz- bzw. Grüntee und 20 Liter Wein. Diese Zahlen lassen einige schlichte Aussagen zur europäischen Trinkkultur zu. Erstens: Nichtalkoholische Getränke werden am häufigsten getrunken. Wasser, Kaffee, Milch und Tee zusammen genommen übertreffen den Konsum alkoholischer Getränke um ein Vielfaches. Da die Statistik den Verbrauch von Mineralwasser, nicht aber den Verbrauch von normalem Leitungswasser als Trinkwasser erfasst, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Wasser das am häufigsten konsumierte Getränk ist. Zweitens: In Deutschland wird mehr Kaffee getrunken als Bier. Damit steht Deutschland nicht allein. Der deutsche Kaffeeverband geht davon aus, dass Finnland der weltweit größte Kaffeekonsument ist. Stolze 11,38 Kilogramm betrug der Ver-

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Im Rausch der Sinne

brauch pro Jahr und Kopf im Jahr 2003. Da nehmen sich die 6,5 Kilogramm der Deutschen bescheiden aus! Den Finnen folgen Belgien/Luxemburg (9,61 Kilogramm), Norwegen (8,99 Kilogramm), Dänemark (8,15 Kilogramm), Schweden (7,96 Kilogramm), Schweiz (6,95 Kilogramm) und die Niederlande (6,90 Kilogramm). Wenn es um den Genuss geht, machen also die nichtalkoholischen Getränke das Rennen, und es wird verständlich, dass Westeuropa der größte regionale Kaffeemarkt der Welt ist. Drittens: Nationale Eigenheiten lassen sich zwar nicht leugnen. Die Deutschen trinken im Vergleich zu ihren Nachbarn, den Franzosen, eindeutig mehr Bier und die Franzosen wiederum klar mehr Wein als die Deutschen. Doch mit der Statistik lässt sich auch belegen, dass weder die Deutschen für das Bier, noch die Franzosen für den Wein den „Siegeslorbeer“ für sich in Anspruch nehmen können. Will man diese Getränke trotzdem als nationale Trinkvorliebe bewerten, so ist das wohl zulässig, und man hat dies auch schon früh getan – im Konzert mit anderen Klischees und Romantizismen über das, was typisch deutsch oder typisch für eine bestimmte Region sei. Der geniale englische Karikaturist James Gillray (1757–1815) stellte die Deutschen als Sauerkrautesser dar, wobei das obligate Bier natürlich nicht fehlen durfte. Bei den oben angegebenen Zahlen handelt es sich zudem nur um eine Momentaufnahme, die nicht unbedingt für die Entstehung und Entwicklung nationaler Trinkvorlieben aussagekräftig ist. Ein Historiker, der wissen möchte, wie der Konsum in früheren Jahrhunderten ausgesehen hat, kann – wenn überhaupt – oft nur auf dürftiges (Zahlen-)Material zurückgreifen. Das lässt Spielraum für phantasievolle Typologisierungen, die ein kulturelles Muster sichtbar machen sollen. So betont Wolfgang Schivelbusch in seiner Kulturgeschichte der Genussmittel,

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dass in der Frühen Neuzeit Kaffee im protestantisch-bürgerlichen Norden und die nährende Schokolade im aristokratischkatholischen Süden Europas dominiert hätten: zufällige Korrelation oder tatsächlicher Zusammenhang zwischen Konfession und Getränkevorliebe? Bei näherer Betrachtung scheint eine andere Erklärung plausibler. Spanisch-Amerika war der weltweit größte Kakaoproduzent der Frühen Neuzeit. Kein Wunder, dass man im Mutterland trank, was die Kolonien produzierten und Spanien damit zur führenden „Schokoladennation“ machte. Vergleichbares lässt sich für Großbritanniens hohen Teekonsum feststellen. Es waren die Briten, die den Teehandel mit China (Kantonhandel) seit dem späten 18. Jahrhundert beherrschten. Nach der Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien war der wichtigste Absatzmarkt verloren gegangen. Unfreiwillig rückte der englische Heimmarkt damit zum bevorzugten Absatzgebiet auf. Kurz und gut, es waren in erster Linie wirtschaftliche und politische Kräfte, die die Verbreitung von Kaffee, Tee oder Schokolade bestimmten. Was für diese Genussmittel zutrifft, muss für die alkoholischen Getränke nicht richtig sein. Ein wesentlicher Unterschied besteht ja darin, dass Wein oder Bier nicht wie die Tee, Kaffee und Kakao importiert werden mussten. Die Rohstoffe konnten und können vor Ort angebaut und verarbeitet werden. Die Kultur des Weines oder des Biers hat deshalb in der Regel weit in die Vergangenheit zurückreichende Wurzeln. Dass es jedoch lange dauerte, bis ein Getränk in den Alltag integriert und breit akzeptiert war, haben wir im Zusammenhang mit dem Wein für Frankreich aufgezeigt. Die Demokratisierung und massenhafte Verbreitung des Weintrinkens setzte hier erst im 19. Jahrhundert ein und fand ihren Höhepunkt in einem fragwürdigen Rekord: In Frankreich wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts weltweit am meisten Alkohol pro Kopf konsumiert.

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Im Rausch der Sinne

Wer sich hartnäckig auf Spitzenwerte bezieht, sollte nicht außer Acht lassen, dass ein vermeintliches „Nationalgetränk“ wie Wein mengenmäßig nie oben auf war: Wasser oder Kaffee wurden und werden in Frankreich in größeren Mengen getrunken als Wein. Glücklicherweise ist dem so, denn würden die alkoholhaltigen Getränke an erster Stelle stehen, müsste von einer Suchtgesellschaft im eigentlichen Sinn des Wortes gesprochen werden. Eine weitere verbreitete Vorstellung in diesem Zusammenhang besteht darin, dass jeweils die Elite den Trend zum vermehrten Konsum eines neuartigen Getränks eingeläutet habe. Von großem Einfluss war diesbezüglich das Erklärungsmodell des Soziologen Norbert Elias (1897–1990), der in der europäischen Oberschicht, namentlich im frühneuzeitlichen Fürstenhof und besonders dem Versailler Hof unter der langen Regentschaft Ludwigs XIV. (1643–1715) die Keimzelle historischer Modernisierungs- und Innovationsprozesse sah. Das Verhalten der Oberschicht hat gemäß dieser „Zivilisationstheorie“ das Verhalten der unteren Schichten direkt beeinflusst. Zunächst habe die adelige und bürgerliche Oberschicht das Verhalten des Königs imitiert, dann die Mittelschicht und schließlich die Unterschicht. In einem Diffusionsprozess habe sich so unter anderem das Kaffeetrinken durchgesetzt. Zumindest der Kaffee ist allerdings eher eine Ausnahme von der ansonsten plausiblen These. Kaffee war in Frankreich gerade nicht das Getränk einer Elite (zunächst jedenfalls nicht). Nicht bei Hofe, sondern in Handels- und Hafenstädten wie Marseille und Lyon wurde er zuerst getrunken. Es waren Händler, Matrosen, Abenteurer, Botaniker oder Apotheker, die hier zu den Trendsettern gehörten. Andererseits heißt das nicht, dass die Oberschicht keine wichtige Rolle bei der Verbreitung der Genussmittel spielte. Man kann sich leicht vorstellen, dass ge-

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rade in den Kreisen, in denen die Kosten für ein neues Getränk bedeutungslos waren, der Nachahmungseffekt besonders groß war. Der „Jahrmarkt der Eitelkeiten“, der psychologische Druck, mit der Mode zu gehen, dürfte dabei eine zentrale Rolle gespielt haben. Eines ist gewiss, die Geschichte der Getränke ist nicht zu Ende. Wenn im letzten Jahrhundert Coca-Cola oder als neueste Mode die Energy Drinks und Alcopops die Palette der Getränke erweiterten, so darf man sich die Frage stellen, was uns das 21. Jahrhundert bescheren wird. Vielleicht ein Getränk, das wie die Droge Soma in Aldous Huxleys utopischem Roman Brave New World (1932) seeliges Vergessen bringt? Oder wird es vielmehr ein Getränk sein, das dem Käufer etwas gibt, was sehr exklusiv geworden ist: reines, sauberes Trinkwasser aus der Natur? Was auch immer die Zukunft bringen wird, das Trinkverhalten des Menschen wird immer auch die gesellschaftliche Befindlichkeit widerspiegeln.

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Anmerkungen Einleitung 1 Platon, Das Gastmahl, übers. von Franz Susemihl, in: Sämtliche Werke in 3 Bänden, hg. von Erich Loewenthal, Berlin 1940, Bd. 1, S. 665. 2 Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 5, Freiburg im Breisgau 1991, S. 1640.

Trinken, um zu überleben 1 Zitiert nach Brödner 1989, S. 102. Ebenfalls in Brödner 1992, S. 146. 2 Karl-Wilhelm Weeber, Luxus im alten Rom. Die öffentliche Pracht, Darmstadt 2006, vgl. vor allem das Kapitel „Aquaeductus“. 3 Georgius Agricola, De natura eorum, quae efluunt ex terra (1545, Über die Natur der Dinge, die aus der Erde hervorquellen – dt. Ausgabe 1546), in: Frontis-Gesellschaft 2000. S. 21. 4 Ebenda. 5 Ulrich Bräker, Lebensgeschichte und natürliche Abenteuer des Armen Mannes im Tockenburg, hg. von Samuel Voellmy, Zürich 1993, S. 61f . 6 Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, edité par Jean-Claude Bonnet, 2 volumes, Paris 1994, Bd. 1, S. 134. 7 http://etext.lib.virginia.edu/stc/ Coleridge/poems/Rime_Ancient_ Mariner.html

8 Daniel Defoe, Der vollständige Robinson Crusoe, neu nach dem Englischen bearbeitet, 2 Bde., Constanz: 1829, Bd. 1, S. 210. 9 Reinhard 2004, S. 139. 10 Heer 1991, S. 33. 11 Lawrence Sterne, Tristram Shandy, übers. v. F. A. Gelbke, Leipzig/ Wien [o. J.], Bd. 2, S. 163.

Trinken, um zu genießen 1 Heise 1987, S. 14. 2 Johann Wild, Reysebeschreibung eines gefangenen Christen Anno 1604, Stuttgart 1964, S. 149. 3 Zitiert nach Hengartner 2001, S. 95. Franklin, Café, Thé, Chocolat, S. 23ff. 4 Zitiert nach Heise 1987, S. 8. 5 Zitiert nach Heise 1987, S. 49. 6 Hengartner 2001, S. 103. 7 Schivelbusch 1990, S. 50. 8 Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, edité par Jean-Claude Bonnet, 2 volumes, Paris 1994, Bd. 1, S. 154f. 9 Zitiert nach Schivelbusch 1990, S. 53. 10 Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten. Ihre eigentümliche Natur und homöopathische Heilung, Dresden/Leipzig, 1835, Bd. 1, S. 134f. 11 Schmidbauer 2003, S. 154. 12 Zitiert nach Menninger 2004, S. 384.

Anmerkungen

13 Richard Toellner (Hg.), Illustrierte Geschichte der Medizin, 6 Bde., Salzburg 1986, Bd. 1, S. 407. 14 Braudel 1987, S. 264. 15 Butel 1989, S. 45. 16 Franklin 1893, S. 130. 17 www.gutenberg.org (Samuel Pepys diaries). 18 Zitiert nach Austin 1985, S. 327. 19 Ralph Waldo Emerson, The Works. Complete Edition. Prose and Poetry, edited with an introduction by J. P., Edinburgh 1906 (The »Edina« Edition), S. 281. 20 Menninger 2004, S. 12. 21 Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens, hg. von Günter Albrecht, 12 Bde., Leipzig/Weimar 1983–1988, Bd. 11, S. 66. 22 Francesco Carletti, Ragionamenti del mio viaggio intomo al mondo, Turin 1958, S. 60 f.; zitiert nach Menninger 2004, S. 145. 23 Zitiert nach Menninger 2004, S. 359. 24 Mintz 1987, S. 42f. 25 Mintz 1987, S. 43. 26 Mintz 1987, S. 45. 27 Schmidbauer 2003, S. 150. 28 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz, ins Deutsche übertragen von Grete und Josef Leitgeb, Düsseldorf 1956, S. 61 f. 29 Zitiert nach Menninger 2004, S. 245.

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Trinken, um sich zu berauschen 1 Reinhard 2004, S. 540. 2 Weeber 1993, S. 51. 3 Stein-Hölkeskamp 2005, S. 208; vgl. auch Weeber 1993, S. 35. 4 Schubert 2006, S. 172. 5 Ebenda. 6 Schubert 2006, S. 204. 7 Vgl. Schubert 2006, S. 204: Im Mittelalter redete man vom „Arzen“: Das konnte ein Verfälschen des Weins mit Apfelmost und Birnenmost, Milch, Bier oder Mehl bedeuten; es gab aber auch ausgesprochen gesundheitsschäd-

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liche Varianten wie beispielsweise das „‚Schmieren‘ mit Schwefel, Waidasche, Bleichweiß und Vitriol […]; manche scheuten sich noch nicht einmal, Quecksilber und Salpeter, ja selbst Alaun zu verwenden“. Zitiert nach Schreiber 1980, S. 304. Homer, Ilias / Odyssee, übers. v. Johann Heinrich Voß, München 1976, S. 770. Sandgruber 1986, S. 30. Hirschfelder 2003, S. 252. Zitiert nach der Publikation des Vereins zur Förderung der heimatlichen Forschung im Bezirk Amstetten 1996, S. 38. Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt von Stefan M. Maul, München 2005, zweite Tafel. Hengartner 2001, S. 39. Die Ägypter als Bierliebhaber in: Hartwich 1911, S. 700f. Schubert 2006, S. 204 César de Saussure, Lettres et Voyages de Monsieur César de Saussure an Allemagne, en Hollande et an Angleterre 1725–1729, Lausann / Paris / Amsterdam 1903, S. 163. Zitiert nach: Braudel 1987, S. 252. Vgl. Pierre Jean-Baptiste, Le Grand d’Aussy, Histoire de la vie privée des François, 3 volumes, Paris 1782, volume 2, S. 308 (http://gallica.bnf.fr). Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, edité par Jean-Claude Bonnet, 2 volumes, Paris 1994, Bd. 2, S. 1515. Vgl. dazu Schubert 2006, S. 235. Lloyd 1963, S. 83. John Keegan, A History of Warfare, New York 1993, S. 343. Homer, Ilias / Odyssee, übers. v. Johann Heinrich Voß, München 1976, S. 161.

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Anhang

23 Johann Gottfried Seume, Prosaschriften, mit einer Einleitung von Werner Kraft, Köln 1962, S. 112. 24 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 1–43, Berlin 1956 ff., Bd. 20, S. 453.

Im Rausch der Sinne Hartwich 1911, S. 617. Fouquet 1990, S. 27. Zitiert nach Spode 1993, S. 102. Sandgruber 1986, S. 20. Zitiert nach Hengartner 2001, S. 50. 6 Becker 1987, S. 115. 7 Schmidbauer 2003, S. 592. 1 2 3 4 5

8 Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, edité par Jean-Claude Bonnet, 2 volumes, Paris 1994, Bd. 2, S. 184. 9 Zitiert nach Schivelbusch 1990, S. 200. 10 Schivelbusch 1990, S. 200. 11 Schreiber 1980, S. 226. 12 Hirschfelder 2003, S. 56 und 62. 13 Schivelbusch 1990, S. 214. 14 Zitiert nach Bologne 1991, S. 27. 15 Zitiert nach Pendergrast 1993, S. 241. 16 www.api.or.at/akis/kurzinfo/ intkons/htm http://www.who.int/en/

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Bildnachweis S. 12: Deutsches Museum, München; S. 28: akg-images; S. 34: L.-M. Bonnet, The Woman to King Coffee, Kreidestich / Golddruck, 1774; S. 42: Bibliothèque Nationale, Paris; S. 59: nach: P. Buckley Ebrey / K.-C. Liu, China. Eine illustrierte Geschichte, Frankfurt a. M. 1996; S. 66: akg-images; S. 84 links: Gautier de Coinici, Miracles de Notre Dame, um 1270–1280, Besançon, BM, Ms. 551, f. 21r; S. 84 rechts: Gautier de Coinici, Miracles de Notre Dame, um 1270–1280, Besançon, BM, Ms. 551, f. 22v; S. 85: Stundenbuch für den Gebrauch von Rom, Brügge um 1510–1525, Rouen, BM, Ms. 3028 (Leber 142), f. 10v; S. 114: nach: P. O’Neil, Der Aufbruch in den Wilden Westen. Pioniere, Siedler, Abenteurer, Köln, o. J.; S. 127: The British Museum, London; S. 138: akg-images / Erich Lessing; S. 145: akg-images

Daniel Furrer, Historiker, Publizist und Fotograf mit Liebe zum Detail, lebt und arbeitet in der Schweiz. Im Primus Verlag ist von ihm bereits erschienen: Wasserthron und Donnerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens (2004).