Wasserthron und Donnerbalken: Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens 9783896789532

Wir akzeptieren die Toilette mit Wasserspülung heute in aller Regel als eine Selbstverständlichkeit, ohne uns für ihre G

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German Pages 195 [194] Year 2011

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Table of contents :
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Inhalt
Einleitung
Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen
„Geld stinkt nicht“: Roms Umgang mit seinen Fäkalien
Mittelalter: Glanz und Elend
Ländliche Ungezwungenheit: Scheißkübel und Misthaufen
Städtischer Zwang: Abfallhaufen und andere Häufchen
Ritterlicher Rückzug: Bedürfnisse der Standesbewussten
Klösterliche Askese: Komfortable Erleichterung
Neuzeit: Weiterentwicklung und Verfeinerung
Höfisch: Der König auf dem Thron
Häuslich: Der Bürger auf dem Thron
Öffentlich: Bedürfnisanstalten in europäischen Städten
Mobil: (Un)annehmlichkeiten für Reisende
Kriegerisch: Zwischen Kot und Not
Wendezeit: „Es giebt in der Welt viel Koth“
Das Ausmisten des Augiasstalls: Der Siegeszug der Kanalisation
Der Hunger nach Dünger: Die Poudrettefabrik und der Kunstdünger
„Die Miasmenlehre“: Die Luft eine bedrohliche Brühe ?
Die Mikrobenjäger: Der Triumph des Kleinen
Pesthauch: Gefahren der Notdurft
Typhus und Ruhr: „Krankheiten der schmutzigen Hände“
Cholera: „Die Maske des roten Todes“
Gelbsucht: Die „Militärkrankheit “
Blütenduft: Der hygienische Mensch
Ort des Wohlgeruchs: Weg vom Gestank
Ort der Reinlichkeit: Wasser und Seife
A propos: Die Geschichte des Klopapiers
Epilog: Kuriosa der Toilette
Anhang: Anmerkungen
Anhang: Literaturverzeichnis
Anhang: Bildnachweis
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Wasserthron und Donnerbalken: Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens
 9783896789532

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Wasserthron und Donnerbalken

Daniel Furrer

Wasserthron und Donnerbalken Eine kleine Kulturgeschichte des stillen Örtchens

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 1.Auflage 2004 2., durchgesehene Auflage 2007 © 2007 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: Boccaccio, Decamerone/frz. Buchmalerei; picture alliance/akg-images Layout & Prepress: schreiberVIS, Seeheim Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN 3-89678-248-7

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Inhalt

Einleitung

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Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Geld stinkt nicht“: Roms Umgang mit seinen Fäkalien . . . . . . .

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Mittelalter: Glanz und Elend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ländliche Ungezwungenheit: Scheißkübel und Misthaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städtischer Zwang: Abfallhaufen und andere Häufchen . . . . . . . Ritterlicher Rückzug: Bedürfnisse der Standesbewussten . . . . . Klösterliche Askese: Komfortable Erleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuzeit: Weiterentwicklung und Verfeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höfisch: Der König auf dem Thron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häuslich: Der Bürger auf dem Thron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlich: Bedürfnisanstalten in europäischen Städten . . . . . . . Mobil: (Un)annehmlichkeiten für Reisende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriegerisch: Zwischen Kot und Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wendezeit: „Es giebt in der Welt viel Koth“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ausmisten des Augiasstalls: Der Siegeszug der Kanalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Hunger nach Dünger: Die Poudrettefabrik und der Kunstdünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Die Miasmenlehre“: Die Luft eine bedrohliche Brühe? . . . . . . . . Die Mikrobenjäger: Der Triumph des Kleinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

Pesthauch: Gefahren der Notdurft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typhus und Ruhr: „Krankheiten der schmutzigen Hände“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cholera: „Die Maske des roten Todes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gelbsucht: Die „Militärkrankheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Blütenduft: Der hygienische Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ort des Wohlgeruchs: Weg vom Gestank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ort der Reinlichkeit: Wasser und Seife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A propos: Die Geschichte des Klopapiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Epilog: Kuriosa der Toilette

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Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

„Die Geschichte der Menschen spiegelt sich in der Geschichte der Kloaken wider.“ Victor Hugo in: Les misérables

Der Blick ins Wörterbuch zeigt, dass der Mensch den Ort menschlicher Erleichterung mit einer Vielzahl von Begriffen versah bzw. versieht: Abort, Abtritt, Donnerbalken, Klosett, Bedürfnisanstalt, Latrine, Lokus, Nummer Null, Scheißhaus, Pissoir oder Pinkelbude sind nur eine kleine Auswahl. Schon diese sprachliche Vielfalt macht deutlich, dass das stille Örtchen im Alltag durchaus einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Das befanden auch Dichter, Dramatiker und Gelehrte, die die menschlichen Bedürfnisse und das Örtchen, wo man sich ihrer entledigte, auf unterschiedliche Weise thematisierten. Bertolt Brecht lobt es in seinem Stück Baal gar als den liebsten Platz auf Erden: „Der liebste Ort Auf Erden war ihm immer der Abort. Dies sei ein Ort, wo man zufrieden ist Dass drüber Sterne sind und drunter Mist. Ein Ort sei einfach wundervoll, wo man Selbst in der Hochzeitsnacht allein sein kann. Ein Ort der Demut, dort erkennst du scharf: Dass du ein Mensch nur bist, der nichts behalten darf. Ein Ort der Weisheit, wo du deinen Wanst Für neue Lüste präparieren kannst. Wo man, indem man leiblich lieblich ruht Sanft, doch mit Nachdruck etwas für sich tut.“1

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Für Martin Luther (1483 – 1546) war es hingegen ein Ort der Versuchung. Kurz vor Weihnachten 1531 erinnerte der deutschen Reformator an den Reim vom Teufel, der einen Mönch auf dem Abort dabei ertappt, das erste Breviergebet des Tages zu lesen. Teufel: „Du Mönch auf der Latrine darfst hier nicht die Mette lesen! Mönch: Ich reinige meine Därme und verehre Gott den Allmächtigen dir gebührt, was nach unten weicht, dem allmächtigen Gott, was nach oben steigt!“2

Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1814) ging noch einen Schritt weiter. Für ihn verkörperten das stille Örtchen und die dazugehörige Infrastruktur das Inferno. In seinem Werk Tableau de Paris äußerte er 1781:

Einleitung

„Drei Viertel der Latrinen sind schmutzig, entsetzlich und ekelerregend. Die Architekten verlegten ihre Röhren aufs Geratewohl; und nichts muss einen Fremden mehr verwundern, als ein Amphitheater von Latrinen zu sehen, die einen über den anderen sitzend, an die Treppen stoßend, neben den Türen, ganz nahe bei den Küchen und von überall her den widerlichsten Geruch ausströmend. Die zu engen Röhren verstopfen leicht; die Fäkalien häufen sich säulenartig an, steigen bis zum Abtrittsitz hoch, das überlastete Rohr platzt: das Haus ist überflutet. Die Kinder ängstigen sich vor diesen verseuchten Löchern; sie glauben, dort sei der Weg zur Hölle.“3

Wer heute das stille Örtchen aufsucht, denkt nicht im entferntesten daran, hier dem Teufel zu begegnen. Und auch wenn heutige öffentliche Toiletten teilweise noch an die Zustände erinnern, die nicht weit von Merciers Beschreibung entfernt sind, so bietet das Badezimmer zu Hause eine Bequemlichkeit, die niemanden Ekel oder Abscheu empfinden lässt. Im Gegenteil, wir akzeptieren die Toilette mit Wasserspülung als eine Selbstverständlichkeit. Aber die Toilette bietet uns noch mehr: Im Durchschnitt verbringen wir fast ein Jahr unseres Lebens auf ihr. Der Ort verdient also ein genaueres Hinsehen. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass man damit in eine Tabuzone vordringt. Die Verrichtung der Notdurft, die doch so grundlegend wie das Essen, die Fortpflanzung, das Gebären oder Schlafen ist, wird heute noch mit großer Zurückhaltung thematisiert. Dies gilt auch für den

Ort, wo wir unsere Notdurft verrichten. Das diskrete H oder D oder das nicht weniger zurückhaltende WC sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache. Paradoxerweise wird die Toilette aber auch als ein Meilenstein der menschlichen Kultur empfunden. Mit Stolz wurde und wird bei archäologischen Ausgrabungen der frühen Hochkulturen auf die Toilette mit Wasserspülung verwiesen. Hier fasst man sie unvermittelt als eine wesentliche Schöpfung der menschlichen Kultur auf. Welche Hochkulturen kannten wassergespülte Toiletten? Seit wann gibt es das WC? Einfache Fragen stehen oft am Beginn von längeren Antworten. So auch hier. Im Verlauf der Recherchen zu diesem Buch wurde rasch einmal klar, dass eine Geschichte des wassergespülten Klosetts sich nicht mit einer Darstellung der technischen Entwicklung begnügen kann. Das WC hat auch unser Verhalten gegenüber der menschlichen Notdurft verändert. Fäkalien gelten heute als wertlose Abfallprodukte. Noch im 19. Jahrhundert war dies völlig anders. Bei den Bauern war nicht nur der tierische Mist begehrt, auch die menschlichen Exkremente waren hoch geschätzt. Einflussreiche Kreise in Paris hielten damals den Export der Exkremente für eine der größten Einnahmequellen einer Stadt, die 1834 insgesamt 102 800 Kubikmeter an Fäkalien „produzierte“. In Frankreich entstand 1844 auch das grandiose Projekt einer kommerziellen Nutzung von Urin. In einem Industriekomplex namens „Ammoniapolis“ sollte Urin in industriellem Maßstab chemisch behandelt werden. Es blieb bei der Idee. Doch noch 1862 beklagte Victor Hugo in seinem Roman Les misérables die Kanalisation als Geldvernichtungsanlage, weil sie wertvollen Dünger einfach wegschwemme. Die Nachforschungen zur Geschichte des WCs führten indes noch einen anderen Tatbestand vor Augen: Die natürlichen Bedürfnisse bargen und bergen auch ihre spezifischen Gefahren. Eine Vielzahl von Quellen im Mittelalter berichtet von tödlichen Unfällen bei der Leerung von Abortgruben. Damit aber nicht genug! Der französische König Heinrich III. (reg. 1574 – 1589) wurde auf der Toilette ermordet und Gregor von Tours berichtet von einem Priester, der 473 in einem Abort während der Notdurft den Geist aufgegeben habe. Die Notdurft konnte also zu einem Geschäft mit tödlichem Ausgang werden. Dabei waren den Menschen der damaligen Zeit die verbreitetsten Gefahren, die von Fäkalien ausgehen können, verborgen. Erreger von Krankheiten wie Typhus und Cholera können darin enthalten sein,

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Einleitung

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und wo immer Menschen auf engstem Raum zusammenleben mussten und die Hygiene vernachlässigten, fanden Infektionskrankheiten einen idealen Nährboden. Ein Wort zu den Exkursen, die im Folgenden jeweils durch grafische Gestaltung im Kasten hervorgehoben sind. Sie sind Geschichten in der Geschichte, bieten Ausweitungen, Abschweifungen und Zerstreuung zur eigentlichen Darstellung. Gerade für kleine Geschäfte sind sie mithin die ideale Lektüre. Zum Schluss: Die Herkunft der Zitate ist in Endnoten im Anhang angegeben; ansonsten wurde auf Fußnoten und einen kritischen Anmerkungsapparat verzichtet, geht es in diesem Buch doch nicht um eine wissenschaftliche Darstellung. Mit dem Stichwort der Fußnote befinden wir uns jedoch bereits mitten in unserer Thematik! Der amerikanische Publizist Anthony Grafton bemerkte dazu: „Die moderne Fußnote ist für das zivilisierte Historikerleben so unentbehrlich wie die Toilette; wie die Toilette scheint sie ein undankbares Thema für ein kultiviertes Gespräch und erregt sie Aufmerksamkeit vor allem dann, wenn sie nicht richtig funktioniert. Wie die Toilette macht es die Fußnote möglich, sich unansehnlicher Aufgaben quasi im stillen Kämmerlein zu entledigen; wie die Toilette ist sie vornehm versteckt – in den letzten Jahren häufig nicht bloß an den unteren Rand der Seite, sondern ans Ende des Buchs. Aus dem Blick – und sogar aus dem Sinn – scheint exakt der Ort, wohin ein solchermaßen banales Instrument gehört.“4

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Antike: litäre Raffinesse bei den Hochkulturen

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Vor rund 5000 Jahren war das Zeitalter der Hygiene schon eingeläutet. So kann man vereinfachend die Tatsache beschreiben, dass im 3. Jahrtausend v. Chr. Toilette und Kanalisation in voneinander unabhängigen Kulturen eingeführt wurden. Einen eigentlichen „Erfinder“ des stillen Örtchens kann man nicht nennen. Zunächst begannen die Vorkehrungen sehr einfach, nämlich mit einem Loch. Solange die Israeliten noch Nomaden waren und in Lagern lebten, sicherten strenge hygienische Vorschriften die Reinhaltung des jeweiligen Lagerbodens. Jeder musste seine Bedürfnisse außerhalb des Lagers erledigen und körperliche Ausscheidungen sofort vergraben (vgl. dazu auch Seite 105 ff.). Im Alten Testament liest sich das so: „Auch sollst du außerhalb des Lagers einen abseits gelegenen Ort haben, zu dem du hinausgehst. Ferner musst du unter deinen Geräten einen Pflock haben [in anderen Übersetzungen besser als ,Schäuflein‘ bezeichnet]. Wenn du also hinausgehen und austreten musst, dann grabe ein Loch und decke deinen Unrat wieder zu. Denn der Herr, dein Gott, geht in deinem Heerlager umher, um dir zu helfen und deine Feinde zu unterwerfen. Darum sei dein Heerlager heilig; er schaue bei dir nichts Widerliches, damit er sich nicht von dir zurückziehe.“ (5. Buch Moses, Deuteronomium, Kapitel 23, Vers 13 bis 15)

Wer viel Zeit in der freien Natur verbringt, den erstaunt diese Regelung nicht. Der wichtigste Leitsatz des Outdoor-Lebens lautet heute noch: „Grabe ein Loch, wenn du deine Notdurft verrichtest!“.1 In der Erde können Exkremente viel rascher abgebaut werden als an der Oberfläche. Abschwemmungen in nahe gelegene Gewässer wie auch

Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen

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die Verschleppung von Krankheitserregern durch Insekten, die sich auf den Kot setzen, werden vermieden. Die Beseitigung von Abfällen aller Art und insbesondere von Exkrementen war unproblematisch, solange die Menschen in kleinen Gruppen zusammenlebten oder als Nomaden häufig den Aufenthaltsort wechselten. Schwieriger wurde die Sache, als die Menschen sesshaft wurden. Jetzt war es nicht mehr möglich, einfach ein Loch zu graben und dies wieder zuzuschütten. Ganz offensichtlich kam man an verschiedenen Orten zur gleichen Lösung: die Fäkalien mit Hilfe von Wasser wegzuspülen. Die folgende kurze Übersicht ergibt sich zu einem wesentlichen Teil aus (vorantiken) archäologischen Ausgrabungen, denn schriftliche oder bildliche Hinweise zu Toiletten sind selten. Orkney-Inseln: Die aus der Steinzeit stammende Siedlung Skara Brae auf den Orkney-Inseln hat vermutlich die ältesten Toilettenanlagen der Welt. Sie gehen auf das Jahr 2800 v. Chr. zurück. Nischen waren dort in die massiven Steinwände der Häuser eingebaut, von denen Abzugsgräben wegführten. Die Schlussfolgerung, dass es sich dabei um Aborte handelt, ist nahe liegend, lässt sich indes mit letzter Sicherheit nicht belegen. Pakistan/Indien (Induskultur): Um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. entstand im Gebiet des etwa 3200 Kilometer langen Indus eine Hochkultur, die so genannte Induskultur. Eine hoch organisierte Gesellschaft herrschte über ein Gebiet, das mehr als 1,3 Millionen Quadratkilometer umfasste. Erste Zeugnisse dieser bedeutenden Kultur entdeckten Archäologen in den frühen 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Die archäologischen Funde waren außerordentlich vielfältig und umfangreich. Es zeigte sich, dass hier Menschen gelebt hatten, die eine ebenso hoch entwickelte Kultur gekannt hatten wie die Hochkulturen in Ägypten, Mesopotamien oder China. Mohenjo Daro (400 Kilometer nördlich von Karachi) war eine der größten Städte der damaligen Zeit. Sie setzte sich aus zwei Teilen zusammen: einer höher gelegenen Zitadelle im Westen, die 200 mal 400 Meter maß, und der Unterstadt im Osten. Sie waren durch einen unbebauten Bezirk von etwa 200 Meter Breite voneinander getrennt. Diese Anlage ist typisch für andere Städte der Induskultur. In der Zitadelle entdeckte man ein sieben mal zwölf Meter großes Becken, das als das früheste öffentliche Bad beschrieben wird. Die Häuser der Unterstadt enthielten Baderäume und Toiletten, die sich

in einer Nische befanden. Diese Toiletten wurden wohl etwas später als die Vorrichtungen auf Orkney, um 2500 v. Chr., erbaut und besaßen eine Besonderheit: Es waren die ersten Sitztoiletten im „westlichen“ Stil. Dazu ein Wort der Erklärung: Im Alten Orient war bei der Verrichtung der Notdurft die Hockstellung üblich und nicht die Stellung im Sitzen. Diese Sitztoiletten waren sehr sorgfältig aus Ziegelsteinen gemauert und mit einem hölzernen Sitz ausgestattet. Jede Toilette hatte eine eigene, senkrechte Abflussrinne, durch welche die Exkremente in einen öffentlichen Straßenkanal oder in eine Senkgrube geleitet wurden. Toilette und Baderäume verfügen über eine ausgeklügelte Wasserversorgung sowie über Abflussgräben entlang der Gasse. Das Wasser wurde aus dem nahen Fluss Indus bezogen und mittels Rohrleitungen, die mit Bitumen abgedichtet waren, zugeführt. Der gebotene Standard beeindruckt: „Die sanitär-hygienischen Anlagen, für die unter anderem genaue Berechnungen der Gefälle für die Abwasserkanäle nötig waren, übertreffen technisch alles, was wir von anderen frühen Hochkulturen kennen. Selbst gegen die Verschmutzung des in öffentlichen Brunnen gesammelten Trinkwassers war Vorsorge getragen.“2 Es zeigt sich hier ein wichtiges Element für die Geschichte der Toilette: Der Reichtum an Wasser ermöglichte einen verschwenderischen Umgang. Größere Siedlungen, die nahe am Wasser lagen, nutzten das kostbare Nass rasch einmal nicht nur als Trinkwasser, sondern auch als ein ideales Medium der Entsorgung. Dafür betrieb man einen hohen Aufwand, denn ein aufwändiges Leitungssystem musste das saubere Wasser zuführen und das verschmutzte Wasser wegführen. Fehlten diese Voraussetzungen, gab es auch keine wassergespülte Toilette. Vorderasien (Mesopotamien): Um 2400 v. Chr. entstanden sieben Sitztoiletten aus Backsteinen im Nordpalast von Esnunna (Tell Asmar). Diese Toiletten waren nebeneinander aufgereiht, man verrichtete seine natürlichen Bedürfnisse also in Gesellschaft. Asphaltverkleidete Rinnen verbanden die Toiletten mit einem gemauerten Abwasserkanal, der unter den Toiletten durchführte. In einem Wassergefäß, das neben jeder Sitztoilette stand, befand sich eine Schöpfkelle aus Ton. Dieser Luxus war allerdings nur bei den Wohlhabenden zu finden. In den einfachen Häusern hat man bisher keine Toiletten gefunden und nur selten gab es Abwasserkanäle.

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Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen

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Um das Jahr 1350 v. Chr. übernahmen die Assyrer die führende Rolle im Norden Mesopotamiens. Der Wechsel der Herrschaft ist dabei nicht mit einem kulturellen Neubeginn gleichzusetzen. Viele Errungenschaften der unterworfenen Völker wurden beibehalten. Insbesondere der hohe hygienische Standard. Der Palast des assyrischen Königs Sargon (722 – 705 v. Chr.) wies sechs Toilettenräume mit Sitzen auf; auch hier setzte man sich auf die Toilette und hat sich nicht hingekauert. Ägypten: Als der Grieche Herodot (484 – 425 v. Chr.) nach Ägypten reiste, fiel ihm auf, dass die Ägypter in ihren Wohnhäusern über Abtritte verfügten und nicht wie in Griechenland zu jener Zeit die Notdurft im Freien verrichteten. Er schreibt: „Den Urin lassen die Frauen in Ägypten im Stehen, die Männer im Sitzen. Ihre Notdurft verrichten sie in den Häusern, das Essen nehmen sie draußen auf der Straße ein. Dafür geben sie als Grund an: das Hässliche, aber Notwendige, müsse man im Verborgenen tun, das Nichthässliche offen.“ 3 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ägypter nicht nur zur Zeit Herodots über Abtritte in ihren Wohnungen verfügten. Zumindest in den gehobeneren Haushalten waren wohl Toiletten vorhanden. Dies wird durch Hausmodelle aus Gräbern des Alten Reiches bestätigt: zwei aufrecht stehende Blöcke – in Wirklichkeit sicher aus Stein – und dazwischen ein Spalt, in den ein zur Hälfte mit Sand gefülltes Gefäß gestellt wurde. In Achet-Aton (El-Almarna), der Hauptstadt des Ketzerkönigs Echnaton (1364 – 1347 v. Chr.), wurde eine Toilette mit einem Sitz aus Kalkstein gefunden. Diese Sitztoilette besaß eine schlüssellochförmige Öffnung und wahrscheinlich ein großes, herausnehmbares Gefäß, das als Auffangbecken diente. Bei anderen Toiletten bestand der Sitz aus einem Brett, das über einen Ziegelsteinsockel gelegt war und an beiden Seiten mit Mulden zum Lagern von Sand versehen war, der nach Gebrauch in die Toilette geschüttet wurde. Eine ägyptische Spezialität war die tragbare Toilette: Unter einen hölzernen Stuhl mit einem breiten Schlitz in der Mitte konnte bei Bedarf eine hölzerne Kiste oder ein Tongefäß geschoben werden. Auch billigere Körbe wurden als Auffangvorrichtung genutzt. Nachttöpfe wurden als Grabbeilagen in Ägypten ebenfalls gefunden. „Interessanterweise ist bislang nichts gefunden worden, was auf die Existenz von Kanalisation in Wohnobjekten und in Königspalästen schließen ließe, obgleich überirdisch verlaufende Kanäle in To-

tentempeln und Mastabas des Alten Reiches durchaus nichts Unbekanntes waren.“4 Auch fließendes Wasser kannte man weder in den Häusern noch in den Palästen Altägyptens. Die wassergespülte Toilette kam also in Ägypten wohl nirgends zum Einsatz. Kreta und Santorin: Höchsten hygienischen Ansprüchen wurde das Latrinensystem gerecht, das die Minoer auf Kreta entwickelt hatten. Im Palast von Knossos, der aus der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. (ca. 1700/1650 bis ca. 1425 v. Chr.) stammt, entdeckte der britische Archäologe Sir Arthur John Evans (1851 – 1941) einen Raum von zwei Metern Länge und einem Meter Breite, also etwa die Größenordnung unserer heutigen Toiletten. An der Wand machte man Spuren eines hölzernen Sitzes ausfindig. Unter dem Boden des Raumes fand sich ein tiefer liegender schräger Boden, der ständig mit Wasser bespült wurde und jeglichen Unrat fortschwemmte. Die Wände waren mit leicht zu reinigenden Gipsplatten ausgekleidet. Evans mutmaßte, dass ein Abflussrohr des Toilettensitzes „möglicherweise durch eine bewegliche Klappe verschlossen werden konnte, um die Geruchsbelästigung einzudämmen“5. Lange Zeit stand Knossos im Mittelpunkt des archäologischen Interesses bis archäologische Ausgrabungen in den 60-Jahren des 20. Jahrhunderts auf Santorin (antik Thera) sensationelle Funde ans Tageslicht brachten. Unter meterhohen vulkanischen Ablagerungen kamen bei der Ortschaft Akrotiri die Ruinen einer Stadt zum Vorschein, die um 1600 v. Chr. von einer schrecklichen Vulkan- und Erdbebenkatastrophe heimgesucht worden war. In diesem Pompeji der Ägäis hat man in Häusern von wohlhabenden Bürgern auch wassergespülte Toiletten gefunden. Im „Westhaus“, einem der am besten untersuchten Häuser, fand man ein Sitzklosett, das aus einer einfachen Sitzbank mit einem engen Schlitz bestand. Eine Tonröhre, die in die Außenmauer des Westhauses eingelassen war, nahm Abwasser und Fäkalien auf und leitete sie in eine Senkgrube. Griechenland: Der hohe Standard der minoischen Kultur war im klassischen Griechenland (510 – 404 v. Chr.) nicht wieder zu finden. „Nur die Wohnungen der Götter, nicht die der Menschen waren prächtig“, heißt es bei Plutarch.6 Doch diese pauschale Aussage verdeckt eine Entwicklung, die auch bei den Griechen stattgefunden hat. Wenn der Dichter Hesiod, der im 8. Jahrhundert v. Chr. lebte, in seinem Buch Werke und Tage noch die Ratschläge erteilten konnte, nicht an einer Quelle seine Notdurft zu verrichten, so genügte dies zu Leb-

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Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen

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zeiten des Sokrates (um 470 – 399 v. Chr.) nicht mehr. Die Entwicklung von Gemeinschaften zu ansehnlichen Stadtstaaten (Poleis) konfrontierte auch die Griechen mit städtebauliche Problemen, zu denen die Abfallentsorgung gehörte. Das klassische Athen scheint nie eine sehr saubere Stadt gewesen zu sein. Jedenfalls wünscht sich in der Komödie Friede von Aristophanes (um 445 – 385 v. Chr.) ein Mann „eine Nase ohne Löcher“, und der Winzer Trygaion, der auf einem riesigen Mistkäfer „zum Himmel reitet“, befürchtet noch hoch oben über dem Häusermeer von Athen, durch die üblen Ausdünstungen, die aus Kloaken und Ställen emporsteigen, die Besinnung zu verlieren und abzustürzen: „He, Mensch, du Mensch, was beginnst du, was kackst Du beim Hurenquartier im Piräus dort? Halt, halt, du gebierst meinen Tod! Scharr’s zu Und häufle darauf ’ne Handvoll Sand Und pflanze Lavendel und Thymian drauf Und begieß es mit Narden: denn stürz ich hinab Und brech ich den Hals, muss das Schisservolk Von Chios fünf Talente Strafe zahln Für die scheußliche Schuld deines Hintern! O Schrecken, wehe! Mir vergeht das Spaßen! Maschinenmeister, gib wohl acht auf mich! Schon knurrt ein Wind mir um den Nabel ‘rum, Gib acht! Sonst mach ich Futter für den Käfer! – Gottlob, ich glaub, wir nahn der Götterburg. Schon seh ich den Palast des Zeus vor mir.“7

Wenn Trygaion von seiner luftigen Warte aus einen Mann auf offener Straße beim Entleeren seines Darmes beobachtet, so war dies wohl kein seltenes Schauspiel. „Wenn man auf der Straße einen Stein aufhebt, um einen kläffenden Hund zu verscheuchen“, heißt es in einem anderen Stück von Aristophanes, „läuft man Gefahr, sich die Finger mit Exkrementen zu besudeln.“8 Geradezu harmlos passt in dieses Bild die (Un)sitte, den Inhalt des Pisstopfes einfach aus dem Fenster zu schütten. Erklang der gefürchtete Ruf „Aus dem Weg!“, so mussten sich die Fußgänger in Acht nehmen, denn jemand war im Begriff, Unrat auf die Straße zu entleeren. Zweifelsohne war der Nachttopf ein sehr gebräuchliches Utensil bei den Griechen, wie verschiedenste archäologische Funde bezeu-

Der Nachttopf als treuer Begleiter

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er Nachttopf ist viel älter als die Toilette mit Wasserspülung. Im Prinzip war es seit der Herstellung von irdenen und hölzernen Gefäßen möglich, einen Topf als Nachtgeschirr zu benutzen. Die Griechen sprachen denn auch von tragbaren Vasen (skaphia), um den Nachttopf zu bezeichnen. Sie kannten aber auch amides, Krüge mit Henkel und schnabelf örmigem Aufsatz. Dieser Aufsatz erleichterte die Benutzung des Nachtgeschirrs und ermöglichte das Ausgießen, ohne sich dabei die Hände zu beschmutzen. Bei den Römern gibt der Begriff sellae perforatae (geschlitzter Sitz/Stuhl) eindeutige Hinweise auf das Aussehen. Noch heute bezeichnet man deshalb die Darmentleerung als Stuhlgang. Der Gebrauch des Nachttopfes war selbst in Kreisen der römischen High Society üblich. Ihn in aller Öffentlichkeit zu benutzen, verletzte dabei nicht das Schamgefühlt, galt jedoch als plebeijisch. Überliefert ist eine derartige Szene von Petronius Arbiter († 66). Er gilt als Verfasser des Satyrikon und schildert im Gastmahl bei Trimalchio folgende Szene: „Noch während Menelaus sprach, schnippste Trimalchio mit den Fingern. Das war das Zeichen für den Eunuchen, ihm mitten im Spiel den Nachttopf unterzuhalten. Sobald er seine Blase entlastet hatte, verlangte er Wasser für die Hände, besprengte sich damit ein wenig die Finger und rieb sie im Haar eines Sklaven trocken …“9 Auch für Kleinkinder kannte man passende Einrichtungen wie eine Darstellung auf einer griechischen Vase zeigt (vgl. Abbildung 1). Sicherlich konnten sich nur Begüterte einen solche „Babytoilette“ leisten. Überhaupt dienten kostbare Nachttöpfe als Zeichen der Distinktion: Kaiser Nero (37 – 68) besaß einen goldenen.

gen. Aber auch die Toilette war nicht unbekannt. Die meisten Häuser der Wohlhabenden hatten wohl spätestens in hellenistischer Zeit (3. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) die eine oder andere Form einer Toilette. Häufig bestand sie in einer Sitzvorrichtung, die auf einen Topf gesetzt wurde oder aus einem Topf ohne Aufsatz. Es gab aber auch fest montierte Klosetts an der Außenwand von Häusern, die aus einer Abtrittschüssel und einer Sitzvorrichtung bestanden. Eine Ausgussöffnung führte dabei zu einem Durchlass in der Hausmauer und entleerte den

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1 Vasenmalerei, auf der eine griechische Mutter mit ihrem in einem Hoch-

Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen

sitz sitzenden Kleinkind abgebildet ist. Inhalt der Schüssel in den Straßengraben oder die Kanalisation. Da die gefundenen Abtrittschüsseln zu schwach zum Draufsitzen, jedoch als reines Urinal zu groß dimensioniert waren, vermutet man, dass sich eine Sitzvorrichtung mit Loch über der Abtrittsschüssel befand. Diese Sitzgelegenheit wird aus Holz konstruiert gewesen sein und im Laufe der Zeit zerfallen sein, sodass heute keine Spuren mehr sichtbar sind. Auch wenn diese Sitztoiletten noch nicht an den Standard von Knossos oder Akrotiri heranreichten, so war der Standard doch beachtlich. Interessanterweise fanden sich in Athen bisher keine öffentlichen Toiletten. Dies trotz einer Lebensweise, die sich größtenteils außerhalb der eigenen vier Wände abspielte. Unbekannt dürften öffentliche Toiletten gleichwohl nicht gewesen sein, fand man doch etwa im griechischen Milet in Kleinasien beeindruckende öffentliche Toilettenanlagen aus dem 6. Jahrhundert v.Chr. Heute noch nachweisbare Anlagen zur Abwasser- und Fäkalienbeseitigung in Athen gehen auf das 5. Jahrhundert v.Chr. zurück. Es

sind einfache, rechteckige Sickerschächte, denen zum Teil eine Verkleidung der Wände fehlte, sodass nur noch Bodenverfärbungen den Archäologen den Standort einer Fäkaliengrube anzeigen. Andere Schächte wiederum wiesen eine Verkleidung aus Mauerwerk auf. Die Sickergruben lagen sowohl in den Höfen der Häuser als auch auf der Seite der Straße. Zwischen den Gruben und den Häusern fand man die Überreste von Verbindungsleitungen für das Regenwasser und die häuslichen Abwässer. Die Reinigung der häuslichen Sickergruben war der Eigeninitiative der Besitzer überlassen, während die Agora und die Hauptstraßen unter der Aufsicht von städtischen Beamten standen und von privaten Abfuhrunternehmen, den „Kotsammlern“ (Koprologoi), gereinigt wurden. Immer häufiger begannen die Athener indessen auch die Sickergruben durch ein Kanalisationsnetz zu ersetzen und gleichzeitig eine effiziente Wasserversorgung aufzubauen. Anfänglich bestanden die

Herakles und der Stall des Augias

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er sexuelle Appetit des griechischen Göttervaters Zeus war unersättlich. So zahlreich wie seine Nachkommenschaft waren auch seine Wege, um zum Ziel zu gelangen. Der sterblichen Alkmene erschien Zeus in Gestalt ihres Gatten und zeugte mit ihr den Herakles. Bereits im Säuglingsalter wurden seine übernatürlichen Kräfte offenbar: Als zwei Schlangen in seine Wiege krochen, erwürgte er sie mit bloßen Händen. Übermenschliches hat Herakles auch im Umgang mit Fäkalien geleistet. Wie er zu dazu kam, sei hier kurz erzählt. Als Herakles in einem Anfall von Wahnsinn, der ihm von Hera, der eifersüchtigen Gattin des Zeus, gesandt wurde, seine eigenen Kinder tötete, ging er freiwillig in die Verbannung und wollte Buße tun. Auf Anraten des Orakels von Delphi musste er dem König Eurystheus zehn Jahre Frondienste leisten. Zwölf scheinbar unlösbare Aufgaben musste er für den König verrichten. Die fünfte Aufgabe bestand darin, die Ställe des Augias auszumisten, wo riesige Viehherden seit über 30 Jahren ihren Mist hinterlassen hatten. Da Herakles sich die Hände nicht schmutzig machen wollte, lenkte er einfach einen Fluss um und spülte so allen Unrat fort. Es ist daher wohl kein Zufall, dass die Abfuhrunternehmer in Athen (Koprologen) Herkules zu ihrem Schutzpatron wählten.

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Frischwasserkanäle aus einfachen, gemauerten Kalksteinsetzungen, später verlegte man in den Kanälen Tonröhren. Im Bereich der Agora erhielt der Hauptsammelkanal der Kanalisation von den Archäologen den Namen Great Drain (Großer Kanal). Die Innenhöhe dieses Kanals beträgt denn auch immerhin einen Meter und in ihn ergoss sich neben dem Regenwasser und den häuslichen Abwässern auch das überschüssige Brunnenwasser. In Athen wie in anderen aufblühenden Städten der Antike zeigt sich, dass der zivilisatorische Fortschritt ein wachsendes Bedürfnis nach Reinlichkeit und damit verbunden den Ausbau der Wasserversorgung und die Errichtung einer Kanalisation zu einem Sachzwang machte.

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Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen

„Geld stinkt nicht“: oms Umgang mit seinen Fäkalien

Im alten Rom kannte man die Seife nicht, doch wusste man sich mit einem Ersatzstoff zu helfen. So wuschen die Legionäre und die ärmere Bevölkerung ihre Wäsche mit Urin. Durch den Ammoniak im Urin konnte der speckige Schmutz beseitigt werden. Eine besondere „Gilde“, die Fullonen, spezialisierte sich aufs Waschen. Abbildungen aus Pompeji zeigen, wie der Waschvorgang in Trögen oder Bottichen durch Stampfen der Wäsche mit bloßen Füßen vorgenommen wurde. Um an den benötigten Urin zu kommen, stellten die Fullonen große irdene Gefäße an den Straßenecken auf. Diese holten sie ab, wenn sie von den Passanten gefüllt waren. Auch Gerber, Walker und Färber brauchten Urin als wertvollen Roh- und Zusatzstoff zur Ausübung ihres Gewerbes. An günstig gelegenen Orten in der Stadt stellten sie Amphoren (vasae curtae) auf, deren Hals zur bequemeren Benutzung abgeschlagen war. Die Unternehmer dieser „Latrinenindustrie“ gehörten zu den mercatores, d. h. zu den Kaufleuten und Händlern. Sie wurden unter Kaiser Vespasian (69 – 79) besteuert. Als sein Sohn Titus ihm deswegen Vorwürfe machte, soll ihm Vespasian eine durch diese Sondersteuer eingenommene Münze unter die Nase gehalten haben und die berühmten Worte gesprochen haben: „(Pecunia) non olet“ – es (Geld) stinkt nicht (Suetonius, De vita Caesarum, Vespasian 23,3).10 Das Geld verschwand in den Taschen des Kaisers, nicht aber der Gestank aus Roms Straßen. Besonders schlimm war es um die Elends-

Secundus hic cacat

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uch wer des Lateinischen nicht mächtig ist, errät den Inhalt dieser Inschrift aus Pompeji, zumal sich das Schlüsselverb lautmalerisch nicht verändert hat. Viele Begriffe rund um das stille Örtchen und sein „Geschäft“ verraten heute noch ihre Herkunft aus dem Lateinischen: Der fachmedizinische Begriff sterkoral (kotig) lässt sich auf die römischen Bezeichnung stercus für Kot zurückführen; Abort ist abgeleitet von abitorium (von ab-ire = abtreten) und Latrine vom lateinischen latrina (abgeleitet von lavatrina = Waschraum). Die Bezeichnung latrina für einen Abtritt findet sich bei Plautus um 180 v.Chr. und bei Suetonius um 120 n.Chr.

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viertel Roms bestellt, in denen es zahllose Mietshäuser gab. Das antike Rom war eine pulsierende Großstadt. Roms Bevölkerung zählte in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christi Geburt rund 1 – 1,5 Millionen. Das Besondere dabei ist jedoch nicht die Größe, die mit modernen Großstädten des 20. Jahrhunderts verglichen werden kann, sondern dass die Menschen auf engstem Raum leben mussten: Im Rom der Kaiserzeit kamen rund 110 000 Einwohner auf einen Quadratkilometer, mehr als im alten Alexandria, in dem sich etwa 76 000 Einwohner auf dem Quadratkilometer drängten. Zum Vergleich: Die Bevölkerungsdichte in München betrug gegen Ende des 20. Jahrhunderts rund 4200 Personen pro Quadratkilometer; für einige Quartiere des modernen Kairo gar 300 000 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Stadt Rom wuchs immer stärker auch in die Höhe, es entstanden immer mehr Mietskasernen. Viele hatten sechs und mehr Stockwerke. In den meisten Fällen waren die Wohnungen klein, ungemütlich, finster und ohne jeglichen Wohnkomfort. Folgt man dem Dichter Marcus Valerius Martialis (um 40 bis ca. 104), so stellten oft ein Krug, eine Matte, eine Wanze, ein Haufen Stroh als Bettlager den einzigen Hausrat und eine kurze Toga den einzigen Schutz gegen Kälte dar. Da die Mietshäuser in der Regel kein fließendes Wasser hatten und auch ein Anschluss an die Kanalisation fehlte, war die Versuchung groß, Abfälle und anderen Unrat auf dem leichtesten Weg zu entsorgen. Im Schutz der Dunkelheit wurde allerlei aus dem Fenster geworfen. Häufig sind in juristischen Dokumenten aus dieser Zeit Hinweise auf das Entleeren von Nachttöpfen zu finden. Der römische

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Satiriker Juvenal (um 65 bis ca. 128) gab denn auch die ironische Warnung, man solle bloß sein Testament machen, bevor man sich nachts unter Fenstern bewege. Auf welchem Weg auch immer die Fäkalien auf die Straße und in den Rinnstein gelangten, entsorgt waren sie damit nicht. Nicht alle Straßen verfügten über eine Kanalisation und viele Kanäle wiesen zudem nur ein geringes Gefälle auf. Bald sammelte sich so viel Unrat an, dass er aufgrund der intensiven Geruchsbelästigung beseitigt werden musste. Agrippa, Intimus von Kaiser Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.), ließ wegen des pestilenzartigen Gestanks, der aus den unterirdischen Kanälen aufstieg, im Jahr 32 v. Chr. die Kloaken gründlich reinigen. Er hatte zu diesem Zweck riesige Rückhaltebecken anlegen lassen. Mit dem Ziehen der Wehrschützen strömte der gesamte Inhalt dieser Wasserreservoire mit einem gewaltigen Schwall durch die Kanäle und riss allen Schmutz und Unrat mit sich fort. Nach dieser „Schwallspülung“ befuhr Agrippa die Kanäle mit einem Boot bis zum Tiber, um sich vom Erfolg der Reinigung selbst zu überzeugen. Generell stellt sich die Frage nach dem üblichen Entsorgungsweg der Fäkalien und Abwässer bei Häusern ohne Kanalanschluss. Im Idealfall legte man bei Privathäusern (domus) Fäkalgruben an, deren regelmäßige Räumung von speziellen Beamten (Aedilen bzw. curatores cloacarum) überwacht wurde. Die Grubenentleerung sollte nur nachts und bei kühlem Wetter vorgenommen werden. Ihre Räumung besorgten Bauern oder Düngemittelhändler, die – jedenfalls unter Vespasian – das Recht hierzu erworben hatten. Die Händler verkauften ihrerseits den Fäkalgrubeninhalt an Gärtner weiter. „Die Gärtner benötigten diese Exkremente als Dünger für Blumen- und Gemüsebeete, die damals teilweise schon als Mistbeete bestellt wurden.“11 Eine andere Möglichkeit der Abfallentsorgung war das Tonnensystem. Dabei wurden die Fäkalien in Tonnen gesammelt, die von Sklaven auf Äcker in der Umgebung gebracht oder in die nächste Kloake geschüttet wurden. Häufig holten auch private Abfuhrunternehmer – u. a. die bereits erwähnten Fullonen – die gefüllten Tonnen ab. Da man diese Tonnen im Erdgeschoss platzierte, war die Entsorgung der Fäkalien besonders für die Bewohner in den höheren Etagen eines Miethauses ein mühsames Geschäft. Mitte des 4. Jahrhunderts betraf dies viele Menschen: Damals zählte Rom 46 602 Mietshäuser, in denen durchschnittlich 40 Menschen lebten. Obwohl unter Augustus für die Mietshäuserblöcke eine Höhenbegrenzung von 18 Metern

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ls Cloaca maxima wird der bekannteste römische Abwasserkanal bezeichnet. Der Sage nach soll der etruskische König Tarquinius Priscus (616 – 578 v. Chr.) den Auftrag zur Trockenlegung der Sümpfe zwischen den verschiedenen, später zur Hauptstadt Rom zusammengewachsenen etruskischen Ortschaften gegeben haben. Die Entwässerungsanlage soll ursprünglich eine mit Steinen ausgekleidete offene Rinne gewesen sein. Nachfolger des Tarquinius erweiterten den Kanal. Entsprechend der weiteren Ausdehnung von Rom wurden neue Kanäle angelegt, von denen ein kleiner Teil direkt in den Tiber mündete, der größte Teil aber dem Hauptkanal zugeführt wurde, der somit zum Sammelkanal, zur Cloaca maxima wurde. Die Cloaca maxima nahm bis in die jüngste Zeit alles Wasser und Abwasser aus den ältesten Gebieten Roms auf und führte es dem Tiber zu. Aus dem gewundenen Lauf der Cloaca maxima schließt man, dass es sich um einen kanalisierten Fluss handelt, der später abgedeckt wurde. Die Sohle der Cloaca maxima besteht aus Polygonsteinen aus Lava, die Wände bestehen aus Tuffquadern von 2,5 Meter Länge, 0,8 Meter Höhe und einem Meter Breite. Sie waren nicht verfugt, sondern im Innern durch mit Blei eingelassene Eisenklammern befestigt. Das Gewölbe ist ein Tonnengewölbe, das sieben bis neun aus Kalkstein bzw. Travertin bestehende Schichten trägt. Unter Kaiser Augustus (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) nahm der Kanal nach Ausbesserungsarbeiten und Anschluss von Nebenkanälen am Ende vier Meter Breite ein. Die Distanz vom Wasserspiegel bis zum Scheitelpunkt des Gewölbes betrug 4,20 Meter. Römischen Schriftstellern zufolge hätte ein voll beladener Heuwagen hindurchgepasst. Zur Reinigung der Cloaca maxima wurden Kriegsgefangene und Sträflinge eingesetzt.

(fünf Stockwerke) eingeführt worden war, wurde diese Verordnung offensichtlich nicht befolgt, denn nach dem Brand im Jahr 64 n. Chr. wurden Gesetze verabschiedet, in denen die Höhe auf 21 Meter (sechs Stockwerke) begrenzt wurde. Man stelle sich ein Hochhaus in der heutigen Zeit vor, das über kein Bad mit Toilette, über kein fließendes Wasser und keinen Lift verfügt. Vor diesem Hintergrund wird die Beschwerlichkeit des „Toi-

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Cloaca maxima

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lettengangs“ für die Menschen eines Mietblocks besser verständlich. Gottfried Hösel schreibt in seiner Kulturgeschichte der Städtereinigung (1987) Folgendes dazu:

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„Ihnen standen im Haus oder in der Wohnung keine Toiletten zur Verfügung. Wer es sich von diesen Bewohnern leisten konnte, benutzte gegen Bezahlung öffentliche Toilettenanlagen in der Umgebung, die von staatlichen Pächtern (conductores foricarum) geführt wurden. Die Geizigen und die wirklich Armen mussten jedoch die vielen Stockwerke in den insula hinabsteigen, um ihre Nachttöpfe oder Kübel in ein Fass zu entleeren, das am Fuß des Treppenhauses stand. Die zugedeckten Eimer wurden dann von Zeit zu Zeit von den Mistpächtern und Müllkutschern abgeholt. Wurde ihnen dieser Ausweg vom Hausherrn verweigert, gingen sie auf einen Misthaufen in der Nachbarschaft. Derartige Misthaufen (lacus) waren damals in den Gassen von Rom noch häufig zu finden, sowohl zur Zeit Ciceros und Caesars als auch noch 200 Jahre später unter Trajan. Sie konnten ferner zur nächsten Kleiderreinigungsanstalt gehen. Die Tuchwalker, die dieses Gewerbe betrieben, hatten vor ihrer Werkstatt Fässer aufgestellt, in denen der für dieses Gewerbe damals erforderliche Urin gesammelt wurde. Wem Misthaufen oder Tuchwalker zu weit und die Stockwerke zu hoch waren, der hatte die Möglichkeit, seine Nachttöpfe aus dem Fenster auf die Straße zu kippen.“12

Über das gesamte Stadtgebiet Roms waren außerdem öffentlich zugängliche Bedürfnisanstalten – so genannte Latrinen und necessaria – verteilt, die vom Staat betrieben wurden. Eine spätrömische Dokumentation (4. Jahrhundert n. Chr.) führt die Zahl von 144 Latrinen und 254 necessaria auf. Bei den necessaria dürfte es sich um recht einfache Bedürfnisanstalten gehandelt haben. Eine derartige Einrichtung aus dem 2. Jahrhundert im dicht bevölkerten Wohnviertel des äußeren Esquilin war unmittelbar von einer Straße aus zu betreten und verfügte über sieben Sitze. Aufwändiger gestaltet darf man sich die Latrinen vorstellen. Sie waren ein „Luxus“, auf den man auch in den von Rom eroberten Ländern nicht verzichten wollte. In Vaison-laRomaine, einer unweit von Orange gelegenen Stadt in der Provence, findet sich ein typischer Vertreter dieser öffentlichen Toilettenanlagen. Sie bestand aus elf Sitzen, von denen neun ganz und zwei zur Hälfte erhalten sind. Die archäologischen Untersuchungen lieferten klare Antworten, warfen gleichzeitig aber auch neue Fragen auf.

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Öffentliche Toiletten in Vaison la Romaine. „Der ganze Raum ist etwa 4 × 4 m groß … Der Boden ist mit Steinplatten ausgelegt; um drei Seiten des Raumes laufen steinerne Bänke mit den Abortsitzen. Vor den Sitzen läuft eine schmale Abflussrinne. Die Abortsitze selbst bestehen aus einer steinernen, 54 cm hohen Stirnwand und einer steinernen, 55 cm tiefen Abdeckfläche, in welche die Abortöffnungen eingeschnitten sind. Diese liegen allerdings erstaunlich nahe nebeneinander – im Mittel etwa 55 – 60 cm voneinander entfernt – und haben einen Durchmesser von 18 cm. Vielleicht lassen sich die geringen Maße durch eine kleinere Statur der damaligen Bevölkerung erklären. Manche Fragen bleiben ungelöst, so z. B. die Trennung der Geschlechter für die Benutzung des Abortraumes, der vielleicht überhaupt nur für Männer bestimmt war; ferner die Frage, ob Holzsitze aufgelegt waren oder Holzroste noch auf dem Boden lagen, da die Sitzhöhe verhältnismäßig hoch ist. Die Abdeckplatten der Sitze waren an den Trennfugen der Platten durch eine Art steinerne Zungenwand unterstützt. Unter allen Sitzen führte aber als wesentliche hygienische Maßnahme ein Wasserkanal durch, der an das Entwässerungssystem der Gesamtanlage angeschlossen war. Ob er dabei von einem dauernd fließenden Gewässer – was man annehmen möchte – gespeist wurde oder durch einen Wasserbehälter von Fall zu Fall, lässt sich allerdings ohne weiteres nicht mehr erkennen.“13

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Zu den Latrinen und necessaria kamen zahlreiche Pissstände, die wohl in den meisten Fällen von Gerbern, Walkern oder Färbern gepachtet waren. Scheinbar stieg die Zahl der Pissstände vor allem unter Kaiser Vespasian, der damit seine Einnahmen aus der Harnsteuer erhöhen wollte. Ihm zu Ehren heißen fuß- und kopffreie Pissoirs noch heute in Frankreich vespasiennes. Der Komfort der römischen Pissstände war unterschiedlich und bestand nicht nur aus den bereits erwähnten Amphoren. In Herculaneum urinierte man einfach in eine 20 Meter lange Urinalrinne. Wahrscheinlich wurde der Urin in ein großes Auffangbecken geleitet, wo er zur weiteren Nutzung zur Verfügung stand. Auffällig und aus heutiger Sicht ungewohnt ist das Bemühen der Römer, flüssige und feste Stoffe so weit wie möglich getrennt zu gewinnen. Als kostbare Rohstoffe hatten Exkremente eben einen ökonomischen Wert. Nicht nur Vespasian nutzte dies aus. Kaiser Konstantin der Große (306 – 337) dehnte die Harnsteuer auf alle menschlichen und tierischen Ausscheidungen aus. „Das Geld aus dieser Steuer nannte man chrysargyrum (goldiges Geld).“14 Einen besonderen Stellenwert unter den öffentlichen Bedürfnisanstalten nahmen die Prachtlatrinen ein. Sie tauchen „gleich einer spontanen Erfindung … ab dem frühen 2. Jahrhundert n.Chr. … in noch nie gesehener Größe und mit einer architektonischen Noblesse auf, die angesichts des festgestellten Ekels vor Fäkalien … überrascht.“15 Die augenfälligste Neuheit war die Zahl der Sitze: zwei Prachtlatrinen auf dem Largo Argentina Platz in Rom hatten jeweils rund 50 und 60 Sitze; in Ephesos bot eine Latrine 60 Besuchern und in Kos gar 75 Besuchern Platz. Man baute aber nicht nur größere, sondern auch schönere Latrinen, wobei diese Tendenz nicht verallgemeinert werden darf. Viele Latrinen blieben bescheidene Einrichtungen. Bessere Luft mittels effizienter Spülung und weiter Öffnung des Daches fanden bei den Prachtlatrinen größte Beachtung. Der ehemals kleine rechteckige Abortraum öffnete sich nun weit zum Peristylhof. Bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. entstand vor der römischen Agora in Athen eine Latrine für 68 Besucher. Vier Säulen trugen in der luftigen Höhe von sechs Metern den Dachstuhl über dem Umgang, vor dessen Rückwänden die durchgehende Latrinenbank installiert war. Der offene Hofraum maß beinahe elf Quadratmeter. Bei einer Verbesserung der Belüftung der Latrinen ist daran zu denken, dass in der antiken Stadt die Geruchsbarrieren moderner Si-

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phons fehlten. „Die einzig mögliche Verbesserung war durch optimale Spülung des Fäkalgrabens zu erreichen. Tatsächlich sind seit der frühen Kaiserzeit fast alle öffentlichen Latrinen wassergespült, obschon mit recht unterschiedlicher Effizienz.“16 Durch Vermeidung von Ecken im Fäkalkanal wurde die Luftqualität nun zusätzlich spürbar verbessert. Luft, Licht, Wasser und schöne Form, unter diesen Schlagworten können die Zielvorstellungen der Prachtlatrine zusammengefasst werden. Die Entwicklung der antiken Bedürfnisanstalt erlebte einen derartigen Schub, dass Richard Neudecker, der Autor der einschlägigen Studie Die Pracht der Latrine (1994), von einer „spezifisch römischen Kultur der Latrine“ spricht und meint: „Erst mit der Verbindung von Hygiene und Schönheit schafft die kaiserzeitliche Gesellschaft etwas grundlegend Neues, die Prachtlatrine. Darin liegt ihre Originalität.“17 In der einen oder anderen Form bedeutet Neues aber auch Veränderung. Dabei scheint sich bei der Prachtlatrine die soziale Zusammensetzung des Benutzerkreises verändert zu haben. Zwar konnte bis heute nicht belegt werden, dass hohe Gebühren als Mittel der Restriktion erhoben wurden, doch wahrscheinlich setzte sich das Publikum der Prachtlatrinen in erster Linie aus Männern zusammen, „deren Tagesablauf mehr oder weniger von ökonomischen und politischen Betätigungen bestimmt war“18. Diese Vermutung wird für eine Prachtlatrine in Ephesos zur gesicherten Tatsache: Sie diente einer mittelständischen Gruppe, die sich in einer Handels- und Hafenstadt wie Ephesos nicht zufällig aus Kaufleuten zusammensetzte, als regelmäßiger Treffpunkt. Der Beweis: Die Kaufleute verfügten über reservierte Sitzplätze wie aus dazugehörigen Inschriften hervorgeht. Die Tatsache, dass es reservierte Plätze in Prachtlatrinen gab, führt zu einer grundlegenden Frage für alle öffentlichen Bedürfnisanstalten der Römer: Es ist die enge Sitzanordnung, die Anlass zum Kopfzerbrechen gibt. Sie ist wirklich erstaunlich: „Sogar in den großartigsten Latrinen bleibt die durchschnittliche Distanz 50 – 60 Zentimeter … Oft genug musste der Eintretende geradezu über den zunächst der Tür Sitzenden stolpern, so nahe am Eingang beginnt die Sitzbank. Völlig ungelöst blieb der Eckkonflikt, der zweifellos entstand, wenn nicht die Benutzer ihre Füße auf die Sitzflächen stellten.“19 Obwohl die Bequemlichkeit deshalb nicht auf jedem Platz

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gleich war und Sitze nahe dem einströmenden Wasser geruchsfreier und sauberer gewesen sein müssen, können Ausgrabungen eine Rangordnung der Sitze innerhalb einer Latrine natürlich nur in Ausnahmefällen belegen. Doch man kann wohl davon ausgehen, dass es in den öffentlichen Bedürfnisanstalten gelegentlich zu Positionskämpfen gekommen ist. Hat bei Streitigkeiten eine Aufsicht eingegriffen? Moderner gefragt: Gab es einen Klomann bzw. eine Klofrau? Die Ansichten der Historiker gehen auseinander: Die einen interpretieren die vestibula als ein Wärterhäuschen des conductor foricae und sehen in ihm einen Kontrolleur, der Eintrittsgelder erhob und nach dem Rechten sah. Fest stehen sein geringes soziales Ansehen und die Tatsache, dass es sich um einen Männerberuf handelte. Wahrscheinlich ist, dass seine Hauptaufgabe darin bestand, Minutalia und Sitzmatten aus Stroh den Benutzern zur Verfügung zu stellen. Bei den Minutalia handelt es sich um eine Sammelbezeichnung für alle „Hilfsmittel“, die zur Verrichtung der Notdurft nötig waren. In den Schriftquellen wird nur der Schwamm erwähnt. Gebräuchlich waren aber auch Stofflappen, während Toilettenpapier unbekannt war. Das Putzen des Hinterns, wie es einige wenige Zeugnisse überliefern, konnte von einem Sklaven übernommen werden. Die Hände wurden übrigens nach dem Gang zur Toilette in einem Wasserbecken oder in einer Wasserrinne gewaschen, die vor den Sitzen durchlief. Über weitere Einzelheiten zur Toiletten-Hygiene fehlen eindeutige Quellenbelege. Zwei Auffälligkeiten der öffentlichen Bedürfnisanstalten müssen noch erwähnt werden: Zum einen scheint es nur ausnahmsweise eine Trennung nach Geschlechtern gegeben zu haben. Sie wird bei so genannten Doppelanlagen vermutet, wo über ein Vestibül zwei Toilettenräume zu erreichen waren. Eine solche Anlage mit einem Raum von 40 bzw. 17 Sitzen wurde außerhalb Pergamons gefunden. Der kleinere Toilettenraum wird gerne als Frauentoilette bezeichnet. Weil die Installationen jedoch keinen Beweis für eine Geschlechtertrennung liefern können, bleibt dies hypothetisch. Einige Fachhistoriker vermuten gar, dass es nur in Ausnahmefällen öffentliche Bedürfnisanstalten für Frauen gegeben hätte. Es stelle sich nämlich in Anbetracht der häuslichen Lebensweise der Frau in der römischen Kaiserzeit grundsätzlich die Frage, ob Frauen sich häufig in der Öffentlichkeit zeigten. Zu erklären gilt es dann aber, warum Frauen – „und zwar auch ehrenwerte Matronen, wie etwa die Mutter des

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3 Die hier dargestellte Toilettenhalle (Rekonstruktion) war mit ihren 100 Plätzen sehr groß. Als Ausgrabung ist sie noch im rückseitigen Gebiet des Largo Argentina zu besichtigen.

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Augustus“20 – die Thermen, aber keine öffentlichen Bedürfnisanstalten aufsuchten. Eine zweite Auffälligkeit betrifft die Schamgrenze, die anders verlaufen zu sein scheint. Die enge Sitzanordnung führte bei der Benutzung der antiken öffentlichen Latrine zu einer körperlichen Nähe, die scheinbar keine Berührungsängste kannte. Ein kleiner Schwatz mit dem Nachbar (oder der Nachbarin?) stellte sich fast von selbst ein. Nicht selten wurde die öffentliche Toilette als Ort der Begegnung gezielt aufgesucht: Martial spricht in seinen Epigrammen von Schmarotzern, die sich hier zum Essen einladen ließen oder von einem Dichter, der seine Lyrik vortrug. Auch wenn man in diesen Aussagen eine ironische Überspitzung sehen kann, so zeigen sie doch auch in aller Deutlichkeit das Eine: In der römischen Kultur waren die öffentlichen Bedürfnisanstalten ein Ort der Begegnung. Kurzum: Das stille Örtchen war bei den Römern ein kommunikatives Örtchen. In dieses Bild passt auch die Privattoilette im römischen Haushalt, der wir uns zum Schluss nochmals zuwenden. In Herculaneum verfügten fast alle Häuser, oft sogar die Wohnungen im Obergeschoss, über Toiletten. Üblich waren Einzelsitzer in oder neben der Küche, unter Treppen, in Hofwinkeln und in Werkstätten. Demnach waren sie meist klein, dunkel und dem Blick entzogen. Die Toilette wurde in erster Linie von den Bediensteten benutzt. „Die Herrschaft bevorzugte die Lasana oder Colocyntha, tragbares Toilettengeschirr, dessen Bereitstellung als besonders erniedrigender Sklavendienst galt. Die Installationen sind praktisch und unbequem. Eine Sitzfläche aus Stein oder öfter aus Holz ist mit der notwendigen runden Öffnung über der Fäkalgrube versehen. Die senkrechte Vorderseite des Sitzes wurde nicht geschlossen. Man verzichtete darauf, die dahinter eingetiefte Grube zu verbergen, um die Körperreinigung zu erleichtern. Denn dazu musste einem Napf sauberes Wasser entnommen werden, mit dem man sich zweckmäßig von vorne her zwischen den Beinen hindurch säuberte.“21 Dass sich Toiletten oft neben oder in der Küche befanden, hängt wohl mit dem Umstand zusammen, dass sie ein Abwassersystem teilten und auch zur Entsorgung von Abfällen dienen konnten. Küche und Toilette waren mit der öffentlichen Kanalisation verbunden oder, wenn es diese nicht gab, mit Senkgruben. Diese mussten von Zeit zu Zeit auf Kosten des Hausbesitzers entleert werden. Von den damaligen Toilettenanlagen im Haus muss also – zumal bei dem heißen Landesklima – ein beträchtlicher Gestank ausgegangen sein.

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er an Weihnachten in die Kirche geht, erinnert sich vielleicht an die folgende Stelle im Lukas-Evangelium (2,7): „Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil kein Platz in der Herberge war.“ Wann Jesus keine Windeln mehr brauchte – ein Augenblick in der Erziehung eines Kleinkindes, der bis heute Anlass zu Stolz gibt – darüber schweigt sich das Neue Testament aus. Doch immerhin beweist diese Quelle, dass Windeln seit mehr als zwei Jahrtausenden bekannt gewesen sein müssen. Wie diese Windeln ausgesehen haben und wie sie verwendet wurden, darüber berichten ägyptische Quellen. Bei den Ägyptern wurden die Kleinkinder wie Mumien bis zum Hals in Stoffwindeln eingewickelt. Diese Wickeltechnik hatte für die Eltern angenehme Nebeneffekte: Nicht nur konnte man das Kind, das sich nicht rühren konnte, irgendwo hinhängen und ungestört seiner Arbeit nachgehen, auch versprach man sich dadurch ein ebenmäßiges Wachstum seines Sprösslings. Auch die Griechen, Römer und Germanen bedienten sich derselben Technik. Soranos von Ephesos, ein griechischer Arzt der römischen Kaiserzeit, beschreibt die Methode des Wickelns ausführlich: Das Wickeln des Kleinkindes beginnt am Unterarm. Gewickelt wird in Richtung der Hand, eingebunden werden die gestreckten Finger, dann der Unterarm zu Ellbogen und Oberarm. Der Rumpf wird mit einer breiteren Binde gewickelt, die Beine dann wieder wie die Arme. Zwischen Fußknöchel und Knie legt man ein Stück Wolle, um Druckstellen zu vermeiden. Dann werden die Füße aneinander gepresst und die Arme des Säuglings entlang des Rumpfes gelegt. Nun wird das ganze Kind wie eine Mumie eingebunden: Das Wickelkind ist fertig.

Gespült wurde die Toilette mit einem Eimer. Nach der Verlegung von Wasserleitungen verfügten interessanterweise nur zwölf private Toiletten in Herculaneum über eine fließende Spülung; keine von ihnen befand sich im Haus eines Reichen. Offenbar bestand für die Reichen kein Grund, den Toilettengang komfortabler zu gestalten. Sie selbst benutzten weiterhin das tragbare Geschirr.

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„Lokus mobilis“ – Windeln in der Antike

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Bei größeren Haushaltungen sah man sich veranlasst, die Zahl der Toilettensitze zu erhöhen und es entstanden kleine Privatlatrinen. In Herculaneum brachte man bis zu sechs Löcher auf einer Sitzplatte nebeneinander an. Die gemeinsame Latrinenbenutzung war vor allem für das zahlreiche Gesinde vorgesehen. Vorzugsweise installierte man diese Latrinen hinter Nebeneingängen, z. B. im Stall, gelegentlich auch im herrschaftlichen Badetrakt. Im letzteren Fall handelte es sich immer um Ein- oder höchstens Zweisitzer.

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Mittelalter: lanz und Elend

Im Hinblick auf die Hygiene im Allgemeinen und die Toilette im Besonderen kann für das Mittelalter nicht gerade von Glanz gesprochen werden. Mit dem Untergang des römischen Reiches im 5. Jahrhundert gingen viele zivilisatorische Errungenschaften verloren. Dies zeigt sich nachdrücklich auch in Bezug auf den hohen technischen Standard, den die Römer gekannt hatten: Toiletten mit Wasserspülung waren im Mittelalter die große Ausnahme. Es war in den mittelalterlichen Klöstern, wo sich die fortschrittlichste Toilettentechnik finden ließ und die Wasserkraft für hygienische Zwecke genutzt wurde. Mönche hatten als erste wieder die Notwendigkeit von Wasserleitungen entdeckt, weil die Körperhygiene in ihren Gemeinschaften eine viel größere Bedeutung hatte als in der nicht klerikalen Welt. In der laikalen Welt scheint das Etikett des „schmutzigen Mittelalters“ denn auch zuzutreffen: In der Stadt, in der sich im 13. Jahrhundert eine verdichtete Bauweise durchsetzte und die Menschen auf engstem Raum zusammenleben mussten, wurden die Abfälle des Einzelnen zum Problem der Allgemeinheit. In den mittelalterlichen Städten in ganz Europa war der Dreck eine Alltagsrealität. Angesichts der Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen im Mittelalter aber auf dem Lande lebte, muss man die Abfallprobleme der Stadt als ein Randproblem einstufen. Hier war der Dreck, genauer Mist, ein wertvoller Rohstoff.

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Ländliche Ungezwungenheit: cheißkübel und Misthaufen

Gut 90 Prozent der europäischen Bevölkerung lebten im Mittelalter auf dem Land. Am Ende des Mittelalters zählte man im Deutschen Reich zwar 3000 Städte, doch 2800 von ihnen waren Ackerbürger-

Mittelalter: Glanz und Elend

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städte und hatten nur bis zu 1000 Einwohner. Lediglich 15 Städte überschritten die Grenze von 10 000 Einwohnern. Köln war die größte Stadt des Reiches mit 30 000 Einwohnern, gefolgt von Lübeck mit rund 25 000. Bei der ländlichen Lebensweise und der geringen Bevölkerungsdichte – um 700 lebten 2,7 Menschen auf einem Quadratkilometer, im frühen 14. Jahrhundert sieben Menschen auf einem Quadratkilometer in Europa – war die Entsorgung der Fäkalien im Grunde kein nennenswertes Problem. Fäkalien waren begehrt, denn in der mittelalterlichen Landwirtschaft war Dünger ein knappes Gut. Die intensive Landwirtschaft mit ihrem ungeheuren Einsatz von (Kunst)Düngern ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Es liegt auf der Hand, dass die Bauern im Mittelalter tierische wie menschliche Exkremente sammelten und als wertvollen Rohstoff handelten. Der hohe Stellenwert des Mists im Mittelalter zeigt sich auch ganz deutlich daran, dass im 12. Jahrhundert Pächter manchmal einen Topf Taubenmist – eine Kostbarkeit – als Grundzins zu entrichten hatten. Man verrichtete seine Notdurft auf dem Feld oder – wenn überhaupt im Verborgenen – „hinterm Busch“. Im bäuerlichen Gehöft war der Ort für die Notdurft mit Vorliebe – im Winter vor allem auch wegen der Wärme – in den Stallungen und Pferchen der Nutztiere. In Regionen, in denen zweistöckige Bauernhäuser gebaut wurden, die im Erdgeschoss den Stall und im Obergeschoss die Wohnstätte hatten, ließ man bisweilen die Fäkalien direkt durch ein Loch im Zwischenboden in den Stall plumpsen. Bei Nichtgebrauch konnte dieser „Lokus“ mit Brettern verdeckt werden. Eventuell hatte man auch schon einen speziellen Ort, nicht allzu weit vom Haus entfernt, gewählt, dort eine Grube gegraben und diese vielleicht sogar mit einem Sitz und einer Überdachung ausgestattet. „Abortanlagen mit Sitzgelegenheiten scheinen aber in den Dörfern und Gehöften der bäuerlichen Bevölkerung frühstens im 16. Jahrhundert aufgekommen und erst im 19. Jahrhundert zur Regel geworden zu sein.“1 Die bäuerliche Welt war „eine einfache und primitive Welt“2. Es gilt diese Aussage zu differenzieren, denn auch in der bäuerlichen Welt waren die Unterschiede zwischen Reich und Arm immens. Eine einmalige Quelle des bäuerlichen Lebens im Spätmittelalter stellt die Luzerner Diebold Schilling Chronik (um 1500) dar. Darin findet sich die Abbildung einer Bauernstube, in der sich ein Bett und darunter

4 Das Bild zeigt, wie der ehemalige Söldner Hans Spieß seine schlafende Ehefrau erdrosselt. Aufschlussreich ist die Darstellung mit Blick auf die Ausstattung der bäuerlichen Schlafkammer. Unter dem Bett befindet sich ein solider Nachttopf aus Holz. ein währschafter Nachttopf befinden. Offensichtlich legte man auf eine gewisse Bequemlichkeit wert und wollte in der Nacht nicht das Zimmer verlassen, um sich zu erleichtern. Das scheint verständlich, zumal der nächtliche Gang ins Freie mit lästigem Aufwand verbunden war: Man konnte nicht einfach das Licht anzünden, sondern musste sich mit einem Talglicht oder anderen Lichtquellen behelfen. Schließlich galt es sich in kalten Jahreszeiten warm anzukleiden. Gerade wenn die Zeit drängte, waren dies lästige Erfordernisse. Die Entsorgung war einfach, denn Misthaufen oder Stall waren nicht weit. Anfänglich bestand der „Schizkübel“ aus einem hölzernen Daubengefäß; der Nachttopf aus Keramik ist erst eine Errungenschaft aus dem 16./17. Jahrhundert. Mit zwei und mehr Sitzöffnungen existierten im Spätmittelalter auch so genannte „Scheißkisten“. Es handelte sich dabei um tragbare Truhen, die in den Wohnräumen aufgestellt werden konnten und vom Gesinde nach Bedarf geleert und gereinigt werden mussten. In der frühen Neuzeit versah man solche Kisten mit Lehnen und Füßen.

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Den Nachttopf als Scheißkübel oder, wie auch üblich, als „Prunzscherbe“ oder „Prunzkachel“ zu bezeichnen, deutet auf ein unverkrampftes Verhältnis der Landbevölkerung zu den menschlichen Bedürfnissen hin. Vielfach wiesen die Nachttöpfe scherzhafte Verzierungen und Devisen auf. Ein beliebter Hochzeitsscherz bestand darin, dem Brautpaar „Kammertöpfe“ mit anzüglichen Inschriften oder Bildern zu überreichen, etwa mit einem entzückt die Augen aufreißenden Antlitz, worunter sich die Unterschrift befand: „Wenn du wüsstest, was ich sehe.“ In der Barockzeit war es bei wüsten Gelagen nicht unüblich, sich aus den „Brunz- und Saichkacheln“ zuzutrinken. Meistens waren die Nachttöpfe zu jener Zeit aus Ton, manchmal auch aus Zinn und später aus Porzellan gefertigt. Wer nun meint, dass dieses unverkrampfte Verhältnis gegenüber der menschlichen Notdurft nur der ländlichen Bevölkerung zu eigen war, irrt sich gewaltig. Selbst in theologischen Texten wurde am Ende des Mittelalters das Wort „scheißen“ verwendet, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Leo Jud, ein Mitstreiter des Schweizer Reformators Huldrich Zwingli (1484 – 1531), brauchte bei der Übersetzung einer lateinischen Abhandlung ohne Hemmung den Ausdruck „schyssender mensch“ als Gegenstück des Heiligen.3 Eine ebenso deftige Sprache benutzte der deutsche Reformator Martin Luther (1483 – 1546), als er am 1. Mai 1515 die Festpredigt vor den Mitgliedern des Augustinerordens hielt. Hier sprach er über die Sünde der üblen Nachrede und meinte: „Ein Verleumder tut nichts anderes, als dass er den Unrat anderer mit den Zähnen wiederkäut und wie ein Schwein mit der Nase im Dreck wühlt; daher auch stinkt sein Dreck am meisten, nur übertroffen vom Teufelsdreck … Und obwohl der Mensch seinen Kot heimlich ablegt, so lässt es der Verleumder nicht heimlich sein; er hat Lust, darinnen zu wälzen, ist auch nichts Besseres wert nach Gottes gerechtem Gericht. Wenn der Verleumder sagt: Sehet wie hat sich der beschissen, ist die beste Antwort: Das frissest du.“4

Luthers Wortwahl war weder auffällig noch anstößig – auch nicht innerhalb der Kloster- oder Kirchenmauern. Der Kardinal von Mainz und Kanzler des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hat sich im Jahre 1521 Luther gegenüber als wertloser Mensch, als „Scheißdreck“ offenbart: „Ich weiß wohl, dass ohne die Gnade Gottes nichts Guts an mir ist, und sowohl ein unnützer stinkender Kot bin, als irgend ein ander, wo nicht mehr.“5

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5 Das Zeitalter der Reformation sah auch die Beeinflussung der Bevölkerung durch Flugschriften und Flugblätter. Diese Karikatur ist eine Schmähschrift gegen Martin Luther. Hier wird gezeigt, wie der Reformator mit dem Kopf voran in den Abort stürzt. Über dem Abort ist eine Raufe mit Stroh zu sehen, das als Ersatz für Toilettenpapier diente. Diese fäkaliengesättigte Sprache ist ernst zu nehmen. Sie ist als Ausdruck eines mit Leib und Seele geführten schmerzhaften Kampfes gegen das Böse – den Teufel als Widersacher von Leib und Seele – zu verstehen. Darüber hinaus diente das „Mistvokabular“ einem agitatorischen Zweck, denn mit Begriffen aus der Fäkaliensprache wollte man den „einfachen Mann“ erreichen. Was Martin Luther mit Fäkalien und der menschlichen Notdurft verbindet, geht jedoch noch weiter: Es scheint, dass für Luther das stille Örtchen der Geburtsort für

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das reformatorische Gedankengut war. Er äußerte einmal: „Dise kunst [gemeint ist das Gedankengut der Reformation] hatt mir der Spiritus Sanctus (Heiliger Geist) auf diss Cloaca eingegeben.“6

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Städtischer Zwang: bfallhaufen und andere Häufchen

Im Mittelalter war die Stadt für die Bauern, die „Nicht-Städter“, eine ungewohnte, schockierende Welt. Wer sich in der Stadt niederließ, musste zuerst mit der Fremdartigkeit des städtischen Lebens vertraut werden. Innerhalb der Mauern führte der Städter freilich oftmals ein Dasein, das an einer ländlich geprägten Lebensform festhielt. So hielt man beispielsweise Ochsen, Kühe, Schafe und Ziegen. Schweine, Hühner und anderes Kleinvieh lief die längste Zeit frei auf den Straßen herum. Die Tiere besorgten die Beseitigung organischer Abfälle und funktionierten in diesem Sinne als „Diener“ der Stadtreinigung. Andererseits erzeugten diese Tiere natürlich auch Mist, und der Misthaufen gehörte noch lange Zeit zum städtischen Alltag. So zählte man 1599 im Stadtkern Nürnbergs 386 Misthaufen, darunter 25 öffentliche. Für die öffentlichen Misthaufen erhob die Stadt Gebühren und ließ die Einnahmen dem städtischen Waisenhaus zukommen. Eine eher traurige Berühmtheit erlangte ein Misthaufen in Prag. Beim Prager Fenstersturz (1618), einem auslösenden Moment für den Dreißigjährigen Krieg, warfen aufgebrachte Protestanten die Abgesandten des katholischen Kaisers kurzerhand aus dem Burgfenster. Die kaiserlichen Herren landeten „unversehrt und wohlbehalten auf einem großen Misthaufen“.7 Bis ins 19. Jahrhundert hielt man in der Stadt noch eine bedeutende Zahl von Nutztieren. Im Jahr 1855 wurden in Basel über 600 Pferde, ein Stier, drei Ochsen, 71 Kühe, 21 Schafe, 32 Ziegen und 330 Schweine gezählt. Eine Berechnung aus dem Jahr 1873 ergab für Hamburg (Alt- und Neustadt) einen Bestand von 2171 Hühnern, 77 Enten, 73 Ziegen, 32 Rindern, 17 Schweinen, sieben Schafen, sechs Gänsen, einem Esel und einem Truthahn. Die hohe Zahl der Hühner, unterstreicht, dass deren Haltung selbst in der Wohnung für große Teile der Bevölkerung nichts Ungewöhnliches war. Das enge Zusammenleben von Mensch und Tier konnte nicht ohne Folgen bleiben, wobei besonders die Haltung der Schweine immer

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wieder Anlass zu Beschwerden gaben. In Paris soll 1131 der Sohn Ludwigs des Dicken vom Pferd gestürzt sein und sich dabei das Genick gebrochen haben, weil das Pferd vor Schweinen auf der Straße scheute. Das anschließende königliche Verbot der Schweinehaltung auf den Straßen von Paris stieß auf kirchlichen Widerspruch; denn bei diesen Schweinen handelte es sich um Tiere des Klosters St. Antoine. Die folgenden Auseinandersetzungen führten zu einem Kompromiss zwischen weltlicher und kirchlicher Macht. Die Schweine durften auch weiterhin auf der Straße bleiben, mussten aber von da an ein Glöckchen um den Hals tragen, um eventuelle Reiter zu warnen. In Ulm wurde 1410 angeordnet, dass Schweine nur noch mittags von 11.00 bis 12.00 Uhr auf die Straße gelassen werden durften. In Zürich gestattete der Rat 1431 den freien Auslauf der Tiere in der Stadt jeweils von Mitte März bis Mitte Oktober. Während der kälteren Jahreszeit waren die städtischen Gärten abgeerntet und der Schweinekot auf der Straße roch weniger penetrant. Im Sommer durften die Schweine nur zum Ausmisten des Stalles und zum Tränken unter Aufsicht eines bottes (eines Knechtes) auf den öffentlichen Grund. Die eigentliche Gefahr, die von Schweinen ausging, wurde nicht erkannt: Als im Grund nützliche Abfallverwerter konnten sie im Umfeld desolater hygienischer Verhältnisse zu Krankheitsüberträgern werden, denn Schweine fressen u. a. Kot und können dadurch große Mengen von Eiern des Schweinefinnenbandwurms (Taenia solium) aufnehmen. Der Verzehr von infiziertem Schweinefleisch durch den Menschen führt meist zu einem Befall des Gehirns durch die Larven. Hirnhautentzündungen, Kopfschmerzen oder Erbrechen sind nur einige der auftretenden Symptome. Mit Hilfe der Fleischbeschau konnte der Schweinefinnenbandwurm in Mitteleuropa praktisch zum Verschwinden gebracht werden. Tierische und menschliche Exkremente, Mist und Straßendreck mischten sich besonders bei nassen Verhältnissen zu einem fürchterlich stinkenden Kot. Viele Bürger benutzten deshalb Holzschuhe mit hohen Sohlen und Absätzen. Modebewusste Bürger und Bürgerinnen schnallten lieber Holztreter („Tripper“) unter die guten Schuhe, um das teure Leder nicht dem ätzenden Dreck der Straße auszusetzen. Beschwerden über unerträglichen Gestank wurden in mittelalterlichen Städten von den Bürgern immer wieder vorgebracht, wobei auch die menschlichen Notdurft ein Gegenstand war. Hans Velber klagte 1445 zu Wien, dass das „secret“ des Veit Schattauer „ein tamphloch“

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habe, „daraus ruche im der unflat und pos gesmachen [böser Geschmack] in sein kamer“8. Die geschworenen Werkleute, die vom Rat der Stadt zur Klärung der Frage bestellt wurden, entschieden, dass Veit Schattauer eine Art Rauchfang errichten müsse, um die Geruchsbelästigung einzudämmen, außerdem müssten beide Parteien für das Räumen und Instandhalten des secrets verpflichtet werden. Mit dem secret – in andern Quellen auch als secessus, privet oder haimliches gemach benannt – bezeichnete man einen Abort, der von den anderen Wohnräumen abgetrennt war. An manchen Häusern sieht man noch heute einen steinernen Aborterker, wie man ihn auf Burgen schon Generationen früher verwendet hat und wie man ihn im Verlauf des 13. Jahrhunderts auch in Stadthäusern anzulegen begann. Auch ein Beleg für diese örtliche Situation ist die Erlaubnis für die Wiener Augustiner vom Jahr 1354, ihr heimliches Gemach in einem an der Ringmauer zu erbauenden Turm unterbringen zu dürfen. Eine andere, für den modernen Leser nicht mehr verständliche Bezeichnung für den Abort war der Ausdruck Sprachhus. Er bedeutete ursprünglich soviel wie Rathaus oder geheimes Besprechungszimmer und wurde später übertragen verwendet für Abtritt. Unter einem Sprachhus oder einem privet muss man sich nicht zwingend ein Abtritthäuschen oder einen Erker vorstellen. In vielen Fällen handelte es sich dabei um eine äußerst einfache Einrichtung im Hinterhof beim Stall. Die in den Höfen gelegenen Abtritte brauchten nicht unbedingt von einem Häuschen umgeben zu sein. Der Zürcher Pfarrer Johannes Wick, der in seiner Chronik, der Wickiana, Unglücksfälle und Verbrechen sammelte, zeichnete ein doppelsitziges Plumpsklosett, das einfach an eine Hausmauer lehnt. Die Szene stellt einen Klosterbruder dar, der auf seinem nächtlichen Gang zum Abtritt unglücklich auf der Treppe stürzte und sich das Genick brach. Wie aus dem dazugehörenden Text zu entnehmen ist, handelte es sich beim Unfallopfer um Baschi Hegner, einen ehemaligen Mönch des Klosters Rüti. Dieser hatte nach der Aufhebung seines Klosters von der Zürcher Obrigkeit eine Rente erhalten, war aber wenig später wieder einem katholischen Orden beigetreten. In Zürich löste dieses Verhalten Verärgerung aus, weshalb Pfarrer Wick den Tod des Unglücklichen – er fand nicht im Kloster, sondern in der Kleinstadt Rapperswil statt – fast genüsslich ausschlachtete. Gemeinsam war wohl allen Abortanlagen ein Sitz mit einer runden Öffnung. Der Bezeichnung sedile für den Abort ist die Möglichkeit des

6 Bei seinem nächtlichen Gang zur Toilette stürzt ein Mönch die Treppe zur Latrine hinunter. Das Bild zeigt links eine Blocktreppe, rechts den Abortkasten mit zwei Sitzlöchern. An der Wand hängt ein Holzgestell mit Heu zum Putzen des Hinterns. Sitzens jedenfalls zu entnehmen. Die Sitzfläche bestand aus Stein oder Holz, die Öffnung konnte häufig mit einem Holzdeckel verschlossen werden, der sowohl den Gestank als auch die kalte Zugluft abhalten sollte. Offensichtlich haben sich aber auch mehrsitzige Toiletten einer gewissen Beliebtheit erfreut, wie es das „Unfallbild“ von Baschi Hegner zeigt. Im ländlichen Umfeld haben sie sich bis ins 19. Jahrhundert hinein gehalten. Wenig Gedanken machte man sich in hygienischer Hinsicht. In Dürers Haus in Nürnberg befand sich der einzige Abort in der Küche, dicht neben dem Herd. Es war üblich, die Fäkalien aus dem Abort direkt oder über ein Fallrohr auf die Straße zu leiten. In Stadtteilen, die von Wasser durchströmt waren, brachte man die Aborterker kurzerhand über den Wasserläufen an. Weil dabei auf Abflussrohre verzichtet wurde, bildeten die Exkremente häufig Schlierspuren an der Mauer des Gebäudes, nicht selten führte ihr Weg an Küchen- und Schlafzimmerfenstern vorbei. Ohne Bedenken schöpfte man aus demselben Gewässer, in das die Fäkalien geleitet wurden, auch Trinkwasser oder verwendete das Wasser zur Herstellung von Bier.

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7 Ein Ausschnitt aus der Bilderreihe die „Niederländischen Sprichwörter“ von Pieter Bruegel (1525? – 1569) dem Älteren. Aus einem am Turm angebrachten Abtrittserker ragen die Gesäße zweier Benutzer heraus. Die provokative Darstellung zeigt unmissverständlich, wozu der Erker diente. Noch eine wichtige Bemerkung zum Stichwort Trinkwasser: Nach Möglichkeit vermied man es im Mittelalter, Wasser pur zu trinken. Man verdünnte den Wein, das Bier oder den Most damit. Hauptsächlich waren in den Städten die Brunnen und nicht der Fluss oder Bach der Ort zum Wasserholen. Den Luxus von Wasserleitungen konnten sich nur wenige Städte leisten, und auch hier kam dieser Komfortgewinn nur den Reichen zugute.

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Die simpelste Art der Beseitigung der Exkremente erfolgte in den mittelalterlichen Städten über „Ehgräben“, „Reulen“ „Reihen“ oder „Winkeln“. Hierbei handelte es sich um offene Rinnen, die auf dem Grund eines schmalen Gässchens zwischen Häuserrückseiten verliefen. An diesen Rückseiten befanden sich, Schwalbennestern gleich, die Abtrittserker, aus denen die Fäkalien unmittelbar in die Rinnen hinabfielen. In den Hinterhöfen, also gleichfalls zu den „Ehgräben“ hin orientiert, befanden sich außerdem oftmals Ställe für die Kleintierhaltung. Wer über keinen eigenen Abort verfügte, wird wohl hier seine Notdurft verrichtet haben. Wegen des üblen Geruchs gab es denn nur wenige Fenster auf der Rückseite der Gebäude. „Der Unterschied zwischen Ehgräben, Reulen, Winkeln und Reihen bestand im Wesentlichen darin, dass Ehgräben und Reihen praktisch allen Unrat aufnahmen, während Reulen und Winkeln mehr der Aufnahme von häuslichen Abwässern und Niederschlagswässern dienen sollten. In der Praxis wird man da aber wenig Unterschied gemacht haben. Im Ürigen waren Ehgräben meist in städtischem Besitz, Reulen aber Privatbesitz.“9 Im Allgemeinen hatten die Ehgräben ein Gefälle und waren meistens zu einem System verbunden, dessen Endziel der Stadtgraben oder ein Wasserlauf war. Bei fehlendem oder zu geringem Gefälle oder auch bei Überlastung sammelte sich natürlich aller Unrat an. Dies war offenbar eher die Regel als die Ausnahme: Der Ausspruch „Stinken wie ein Ehgraben“ wurde in Italien zu einer stehenden Redewendung. Im Laufe der Zeit suchte die Obrigkeit die Räumung der Ehgräben strenger zu handhaben. In Zürich mussten gemäß einem Mandat von 1546 alle Gräben jeweils nachts und etappenweise gereinigt werden. Gleich bei Morgengrauen – man wollte vermeiden, die Stadttore in der Nacht zu öffnen – musste aller Abraum weggeschafft werden. Als Begründung dieser strengen Anordnungen führte dieses Mandat an: Die unsachgemäße Ehgrabenreinigung gebe „eyn söllichen bösen geruch und gestangk das dem menschlichen cörpel [Körper] gewüsslich großer schad darus gefolget“10. Die Gesundheitsgefährdung durch Gestank, die in diesem Mandat angesprochen wird, ist auf die allgemein verbreitete Überzeugung zurückzuführen, dass Seuchen durch üble Gerüche, so genannte Miasmen verbreitet würden (siehe Seite 132 ff.). Die Ehgräbenreinigung diente also der Seuchenbekämpfung, was ein Beschluss aus dem Jahr 1611 verdeutlicht: Hier erließ man gleich zu Beginn des Pestaus-

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bruchs ein Verbot, Fäkaliengruben tagsüber zu entleeren. Nur in der Nacht, wenn keine Passanten die krankheitserregenden Miasmen einatmen konnten, war die Räumung erlaubt. Die Leute, welche die Ehgräben nachts ausräumten, nannte man „Nachtmeister“. In Nürnberg wurden sie als „Pappenheimer“ bezeichnet. Man vermutet, dass Kriegsgefangene aus dem bekannten Kürassierregiment der Pappenheimer diese wenig rühmlichen Arbei-

Rendez-vous im Ehegraben

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ine amüsante Geschichte zu den Gefahren, die die mittelalterliche „Abfallkultur“ mit sich bringen konnte, findet sich bei Giovanni Boccaccio in seinen erotischen Erzählungen Decamerone („Zehntagewerk“, entstanden 1348 – 353, gedruckt 1470). Der verheiratet Arzt Simon, der auf der Suche nach sexuellen Abenteuern ist, gerät in die Gesellschaft zweier skurriler Mitbürger (Bruno und Buffalmacco). Sie versprechen ihm in blumiger Sprache die tollsten erotischen Abenteuer – und der naive Doktor errät nicht, was ihm blüht! „Sie versprachen ihm die Gräfin von Latrinien als Gattin zu verschaffen, welche das schönste Wesen sei, das im ganzen Hinternreich des menschlichen Geschlechts zu finden wäre. Nun fragte der Doktor, wer diese Gräfin sei. ,ein Samengürkchen‘, antwortete ihm Buffalmacco, das ist eine gar große Dame, und wenig Häuser gibt es in der Welt, wo sie nicht etwas zu sagen hätte, von den andern nicht zu reden … Auch kann ich sagen, wenn sie einmal umhergeht, weiß sie sich wohl bemerkbar zu machen, wie verschlossen sie auch gehalten werden mag. … ihre gewöhnliche Wohnung ist im Laterin. Gleichwohl gehen ihre Knechte häufig im Lande umher … Ihre Vasallen sieht man überall, wie zum Beispiel … Don Häuflein, Herrn von Würstchen, Frau Katharina Schnelle und viele andere, die alle, wie ich glaube, auch Euch befreundet sind, ohne dass Ihr Euch jetzt erinnert. Eine so vornehme Dame wollen wir Euch, wenn ihr Eure Geliebte von Kackenwinkel im Stich lasst und unsere Pläne uns nicht missraten, in die holden Arme führen.“11 In den holden Armen dieser Dame landet der Doktor: im Ehgraben. Denn Buffalmaco hatte mit der „Gräfin von Latrinien“ nichts anderes als den Ehgraben – die offenen Abfallgräben mitsamt Exkrementen – umschrieben.

8 Wie man sich einen Aborterker in einer mittelalterlichen Stadt über dem Ehgraben vorstellen muss, zeigt diese Darstellung. Unter den neugierigen Blicken von drei Zuschauern erleichtert sich ein Mann im Ehgraben. Über seinem Kopf befindet sich in luftiger Höhe der eigentliche Abort.

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ten verrichten mussten und dass ihr Name später zur Beschreibung dieser Reinigungsarbeiten beibehalten wurde. Die Münchner wiederum nannten die Leute, welche den Schlamm aus den Gruben schöpften, beschönigend die „Goldgrübler“, in Frankfurt hießen sie „Heymelichkeitsfegere“ und in Schaffhausen „Ehgrabenrumer“. Das Fegen des „Scheißhauses“ oder das Ausräumen der Ehgräben sowie der Sickergruben war eine unehrenhafte Tätigkeit und wurde

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den Außenseitern der Gesellschaft überlassen – häufig dem Henker, Abdecker oder Totengräber. Nicht zuletzt gingen diese Leute ein sehr hohes Risiko ein. Unfälle wie der Folgende kamen immer wieder vor: In Nürnberg wollten die Dominikaner 1469 die lästige Entleerung ihrer Abortgrube dadurch umgehen, dass sie einen Abflusskanal in die Pegnitz gruben. Erst nachdem bei diesem Unternehmen ein Mitbruder und ein Steinmetz umgekommen waren, ließ man von dem Vorhaben ab und löste es auf die traditionelle Weise. Das heißt, man rief die „Scheißhausfeger“, „den gab man einen gulden zu lohn und den schadet kain gestank und waren frolich vor den münchen und sungen und sprungen“12. Aufsehen erregend mutet der folgende „Latrinenunfall“ an: Als der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa 1183 im Schloss Erfurt einen Reichstag abhielt, brachen die morschen Fußbodenbalken unter der großen Last der versammelten Menschen. Unglücklicherweise fielen die Leute in das Sammelbecken für Fäkalien, das sich ausgerechnet unter diesem Saal befand. Der Kaiser vermochte sich gerade noch durch einen Hechtsprung in eine Fensternische zu retten, von wo er entsetzt zusehen musste, wie seine Edlen in der stinkenden Brühe versanken. Drei Fürsten, fünf Grafen und zahlreiche Ritter fanden dabei den Tod. Ganz offensichtlich hatte man über einen derart langen Zeitraum die Abortgrube nicht mehr geleert, dass die Holzbalken zu faulen begonnen hatten. Nicht nur Adelige, sondern auch reiche Stadtbürger zögerten die kostspielige und Ekel erregende Leerung der Fäkaliengrube möglichst lange hinaus. Der Nürnberger Stadtbaumeister Endres Tucher berichtet über die Säuberungen seiner Abortgrube: „Am 8. Januar 1508 habe ich mein heimliches Gemach im Hinterhaus durch Laurenz Claubenpulch und Ulrich Fleissmann ausschöpfen lassen. Die beiden haben knapp 10 Stunden daran gearbeitet, um die Grube bis zum Grund zu reinigen. Das letzte Mal wurde die Grube am 7. März 1499 geleert. Bezahlt habe ich alles in allem 20 Pfund. Die Grube ist 13 Schuhe tief, 9 Schuhe lang und 8 Schuhe breit.“ 13

Tucher ließ seine Abortgrube übrigens erst wieder am 26. Oktober 1517 leeren – ein Beleg dafür, dass auch reiche Bürger nur in großen Zeitabständen (in diesem Fall im Abstand von ca. zehn Jahren) ihre Abortgruben leeren ließen. Der Luzerner Chronist Renward Cysat (1545 – 1614) riet, die Fäkaliengruben wie die Sodbrunnen bis zum Grundwasserspiegel abzutie-

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ür die Archäologen sind Fäkalgruben hoch geschätzte Fundgruben – Quellen für die Erschließung des mittelalterlichen Alltags. In die Latrinen wurden neben menschlichen Fäkalien auch die verschiedensten pflanzlichen Abfälle und „Zivilisationsmüll“, der in Haus und Hof im Lauf des Jahres anfiel, entsorgt. So finden sich neben Exkrementen Geschirrscherben, Trinkgläser, Flaschen, Lampen, Ofenkacheln, Nachttöpfe, Textilreste, Fellreste, Tierknochen, Pflanzenreste usw. Kriminalistischer Spürsinn ist gefragt, wenn es darum geht, diesem Abfall Informationen zu entlocken. Noch relativ einfach ist die Bestimmung von Scherben: Hier ein Stück eines Kochtopfes, dort ein Stück eines Nachttopfes. Wie aber kann man die Frage „Was haben die Menschen damals gegessen?“ beantworten? Große Tierknochen sind in Abortgruben nicht zu finden. Ihre Entsorgung hätte allzu schnell zur Auffüllung der Grube geführt. Gesucht sind kleinste, nur wenige Millimeter große Knochensplitter, die stark verrundete Bruchkanten aufweisen und deren mehrfach eingedellte Oberfläche stark glänzt. Die geschilderten Eigenschaften deuten darauf hin, dass die Knochenfragmente den Darmtrakt des Menschen (oder auch des Hundes) passiert haben. Ebenso lassen sich kleinste Fischknochen wie Wirbel oder Gräten als Fäkalienreste des Menschen interpretieren. Unter den Pflanzenresten aus Abortgruben deuten kleine Obstkerne von Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Weintrauben oder gar Feigen auf Fäkalien hin. Feine Häutchen von Getreidekörnern, Fruchtschalenfragmenten und Kerne von Äpfeln und Birnen sowie Sämereien von Gemüse- und Gewürzpflanzen wie Dill, Sellerie, Petersilie und Kohl sind ebenfalls typisch für menschliche Fäkalien.

fen und so eine Leerung zu umgehen. Für die Stadt Zürich zeigen die schriftlichen Quellen und die archäologischen Befunde für das Mittelalter und die frühe Neuzeit jedoch eher das Gegenteil. Die Einwohner suchten ihre Fäkaliengruben, welche sie unverblümt „Schîssgruoben“14 nannten, mit großer Sorgfalt abzudichten und sanierten lecke Kloaken von Zeit zu Zeit. Das Wasser vieler städtischer Ziehbrunnen wurde durch undichte oder falsch angelegte Kloakengruben immer wieder mit Darmkeimen

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Das Geheimnis der Abortgruben

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infiziert. Sporadisch führte dies zu explosionsartigen Massenerkrankungen. Infolge solcher „Brunnenvergiftungen“ starben 1346 in Straßburg etwa 6000 Menschen, 1360 abermals 6000 und in den Jahren 1414 und 1417 je 5000 Menschen, ohne dass man die Ursache erkannte. Der unterirdischen Verschmutzung stand die oberirdische Bekämpfung der Verdreckung gegenüber. Im Hochmittelalter erhielten viele Straßen in den Städten eine Pflasterung. Diese begann 1294 in Hamburg, 1331 in Prag, 1368 in Nürnberg, 1379 in Straßburg, 1399 in Bern, 1400 in Regensburg, 1416 in Augsburg und 1494 in Landshut. Gewöhnlich wurden nur verkehrsreiche Straßen und Märkte gepflastert. Gässchen blieben lange Zeit ohne festen Belag. Eine Pflasterung für Fußgänger legte man in Paris schon 1185, in Florenz 1235 und in Lübeck 1310 an. Die Straßenpflasterung war übrigens eine derart Aufsehen erregende Neuerung, dass ein Nürnberger Chronist eigens erwähnt, wie in Augsburg 1415 erstmals Straßen befestigt wurden. Fehlte eine Straßenpflasterung, so war eine Reinigung praktisch unmöglich und entschied das Wetter über den Straßenzustand. Bei Regen verwandelten sich unbefestigte Straßen rasch in einen tiefen Morast. Im 14. Jahrhundert beklagte sich Johann von Neumarkt, der Kanzler Karls IV., beredt darüber, dass kaiserliche Reiter die Straßen Nürnbergs wegen des tiefen Schmutzes nicht passieren könnten. In einem Brief an den Erzbischof von Prag schrieb er: „Die Stadt Nürnberg wird durch häufige Regenfälle betroffen und mit einer solchen Nässe der himmlischen Wasser durchtränkt, dass man hier an eine ewige Sintflut glauben möchte und von dem nassen Boden eine solche Masse Schmutz anwächst, dass auf den Straßen die Reiter nicht mehr fortkommen können, da der Reiter immer befürchten muss, dass entweder sein Pferd aus Unvorsichtigkeit oder über einen Stein stolpernd in die Schmutztiefe so unbedacht stürzt, dass es seinen Reiter, wer er auch sei, und wie hoch gestellt, wie ein Schwein mit dem Gestank des schmierigen Straßenkotes beschmutzt oder, wenn er durch die Gunst des Schicksals diesem Unfall entgeht, doch vorne und hinten und an den Seiten hie und da durch die Menge der ankommenden Pferde, die Kleider, zumal eines reisenden Priesters, da sie der Ehrbarkeit wegen lang sind, so sehr durch die Berührung des widrigen Schmutzes befleckt werden, dass man von den entfernten Herbergen der Stadt zum kaiserlichen Schloss nicht ohne wirklichen Schaden gelangen kann …“15

9 Die unbekleidete Hausherrin leert ihr Nachtgeschirr über die Musikanten, die unter ihrem Fenster aufspielen. Nachttöpfe wurden gern auf dem einfachsten und bequemsten Weg entsorgt.

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Nicht besser stand es in Paris: Rigord, der Leibarzt des französischen Königs Philipp II. August (1180 – 1223), berichtet, dass der König 1184 in Ohnmacht fiel, als er in Paris am Fenster seines Palastes stand, weil vorüberfahrende Karren den Straßenschmutz aufwirbelten und der Gestank dem König den Atem raubte. Umgehend befahl er, alle Straßen der Stadt mit harten Steinwürfeln zu pflastern. Vielerorts führte man diesen Befehl aus, aber bald war der Zustand wieder der alte, denn die Pflasterung wurde nicht ausgebessert, und alten Gewohnheiten gehorchend, warf man weiterhin allen Unrat und Kot auf die Straße. So zeigte sich rasch das alte Bild, und die Klagen über Unwegsamkeit und Unsauberkeit der Straßen tauchten wieder auf. Die mittelalterliche Stadt in Bausch und Bogen als stinkenden und dreckigen Ort zu verurteilen, wäre aber vorschnell und ungerecht. Die Ehre einer mittelalterlichen Stadt wurde ebenso in möglichster Sauberkeit gesehen wie in prächtigen Bauwerken. Schmutz wurde als „unlust“ empfunden. Schmutz in Gestalt von Fäkalien bildete andererseits auch einen wertvollen Dünger. In Zürich belegten die Bürger die Gassen gelegentlich mit Stroh, um möglichst viel vom wertvollen tierischen Kot und Urin abzufangen. „Einerseits dürften die Gassen reingefegt gewesen sein, weil man den Straßenkot als Dungstoff verwerten wollte. Andererseits gehörten gerade deswegen die Mist- und Abfallhaufen zum Straßenbild.“16 Eine mittelalterliche Stadt roch wohl nicht „anrüchiger“ als ein Bauernhof. Allerdings kam es gegen Ende des Mittelalters zu einer Verschlechterung der sanitären Verhältnisse. Ein wichtiger Grund war der Bau von vielge-

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schossigen Mietskasernen, häufig mit vier oder fünf Stockwerken, wie man sie bereits im alten Rom gekannt hatte. Für Bewohner der Wohnungen in den oberen Stockwerken war die Benutzung von Toiletten außerhalb des Hauses eine mühselige Angelegenheit. Die Verführung war groß, sein Nachtgeschirr einfach aus dem Fenster zu leeren. Und eines muss man sich klar vor Augen führen: Die Armen der Stadt verrichteten ihre Notdurft weiterhin in einem Winkel oder in einem Gebüsch.

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Mittelalter: Glanz und Elend

Ritterlicher Rückzug: edürfnisse der Standesbewussten

Im 12. Jahrhundert nahm die Burg respektive der Stammsitz einer Adelsfamilie einen wichtigen Stellenwert ein; viele Geschlechter nannten sich nach ihren Festungen. Die Burg Staufen auf dem Hohenstaufen (am Nordrand der Schwäbischen Alb) beispielsweise gab dem Geschlecht der Staufer seinen Namen. Nicht weit weg davon lag die Burg Zollern (südlich von Hechingen), Stammburg des 1061 erstmals erwähnten Geschlechts der Zollern, dessen fränkische Vertreter als Hohenzollern zu preußischen Königen und deutschen Kaisern aufstiegen. Und um ein drittes Beispiel anzuführen: Die Habsburg bei Baden (Schweiz) gab den Habsburgern ihren Namen, dem Adelsgeschlecht, das im Zeitalter der Entdeckungen voller Stolz verkünden konnte, über ein Reich zu herrschen, in dem die Sonne nicht unterging. In der Regierungszeit des habsburgischen Kaisers Karl V. (1500 – 1558; Kaiser 1530 – 1556) wurde Amerika entdeckt, das seiner Herrschaft unterstand. Der Burgenbau entwickelte sich in Mitteleuropa vor allem im Zusammenhang mit der Landesverteidigung, insbesondere in Grenzgebieten entstanden Befestigungsanlagen. Seit dem 10. Jahrhundert setzte eine Entwicklung hin zur Wohnburg ein. Wie sah ein solcher adeliger Wohnsitz aus? Aufgrund der Vielfalt der Burganlagen lässt sich kaum ein einheitliches Bild von der Ausstattung und dem Komfort zeichnen. Wie eine Burg um 1200 von innen aussehen konnte, beschreibt Lambert von Ardres in seiner Geschichte der Grafen von Guines am Beispiel der Burg, die Graf Arnald von Guines in Ardres errichten ließ. Dabei handelt es sich um einen mehrgeschossigen Wohnturm (Donjon).

Mit keinem Wort wird in dieser Beschreibung eine Toilette erwähnt. Dabei wusste man sanitäre Einrichtungen durchaus zu würdigen. Zu den am meisten geschätzten Annehmlichkeiten gehörte das warme Bad. Man stellte dafür einfach einen Badezuber mit Wasser in einem

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„Der erste Stock lag auf ebener Erde. Dort waren die Keller und die Kornspeicher, die großen Kästen, Fässer und Kufen und anderes Hausgerät. Im zweiten Stock waren die Wohnräume und der für alle Bewohner bestimmte Gesellschaftssaal. Außerdem befanden sich dort die Lebensmittelvorräte der Kämmerer und der Schenken, ferner das große Zimmer des Herrn und seiner Ehefrau, in dem sie schliefen und an das sich die versteckten Zimmer oder Schlafräume der Kammerfrauen und der Pagen anschlossen. In einem abgesonderten Teil des großen Zimmers befand sich ein besonderes Gemach, wo früh morgens und abends Feuer gemacht wurde, auch bei Krankheiten oder wenn zur Ader gelassen wurde oder um die Kammerfrauen oder die entwöhnten Kleinkinder zu wärmen. Auf diesem Stockwerk war auch die Küche mit dem Haupthaus verbunden, und sie war ebenfalls zweigeschossig. Im unteren Geschoss wurden die Schweine gehalten, die gemästet werden sollten, und die Gänse, die fettgemacht wurden, und Kapaune und anderes Geflügel, jederzeit parat, geschlachtet und gegessen zu werden. In der zweiten Etage des Küchengebäudes hielten sich nur die Köche und die Küchenmeister auf; hier wurden die Speisen für die Herrschaft aufs sorgfältigste mit aller Kunst und Arbeit der Köche zubereitet und für den Verzehr zurechtgemacht. Hier wurde auch das Essen für die Mitglieder des Hofes und die Dienerschaft bereitet, und die Arbeit wurde Tag für Tag geplant und ausgeführt. Im obersten Stockwerk befanden sich verschiedene Dachzimmer, in denen die Söhne des Hofherrn schliefen, wenn sie es wünschten, und die Töchter, weil es sich so gehörte. Dort befanden sich auch die Wächter und die zur Burghut bestimmten Bediensteten, die immer Wache hielten, wenn die Herrschaften sich zur Ruhe begaben. Es gab Treppen und Gänge von einem Stockwerk zum anderen, von dem Haupthaus in die Küche, von Zimmer zu Zimmer, auch vom Haus zum Laubengang (Logium), der aus gutem und einleuchtendem Grund diesen Namen trug, abgeleitet von Logos, das heißt ‚Rede‘, weil man dort behaglich zu Gesprächen zusammenzusitzen pflegte. Es gab auch eine Verbindung vom Balkon zum Gebetszimmer beziehungsweise der Kapelle, die in ihrem Bauschmuck und Malereien dem Salomonischen Tempel glich.“17

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der vorhandenen Räume oder im Freien auf. Selbst in kleineren Burgen scheint es auch schon früh eigene Badestuben gegeben zu haben. Eine Quelle erzählt davon, wie ein Knecht auf eine Burg kam und auf seine Frage nach dem Burgherrn in die Badestube verwiesen wurde: „Geht in die Badestube hinein, da ist er drinnen; die Stube ist warm.“18 In der Annahme, dass der Burgherr dort ein Bad nähme, zog der Knecht sich aus und ging nackt hinein, zum Entsetzen der herrschaftlichen Familie, die das Badezimmer im Herbst als Wohnraum benutzte, weil die Kemenate der Burg erst im Winter beheizt wurde. Manchmal berichten mittelalterliche Dichter auch von komplizierten technischen Vorrichtungen, von Rohren und Pumpen, die dazu dienten, das Wasser durch die Burg zu leiten. Solche Einrichtungen scheint es in einfacherer Form tatsächlich gegeben zu haben. Damit war auch eine zentrale Voraussetzung für eine Toilette mit Wasserspülung vorhanden. Bis heute lassen sich indes keine eindeutigen Beweise für ein Wasserklosett auf einer christlichen Burg erbringen. Anders sieht es hingegen für islamische Burgen aus: In der Alhambra, einer Festung der Mauren in Granada, die im 13. und 14. Jahrhundert erbaut wurde, gab es exquisite Toiletten. Gemauerte Sitze waren in separaten Räumen mit glasierten Wandkacheln zu finden. Auch eine Art von Wasserspülung und Geruchsverschluss wurden benutzt. Der Verzicht auf wassergespülte Toiletten ist jedoch nicht mit einem Verzicht auf jeglichen sanitären Komfort gleichzusetzen. Nur sahen die Lösungen dazu pragmatisch aus, wie archäologische Untersuchungen zeigen. Allgemein üblich waren seit etwa 1100 Abortanlagen, die sich in den Wohngebäuden befanden. Sie bestanden aus einer Wandnische oder einem Erker, von dem aus die Fäkalien durch eine direkte Abflussöffnung ins Freie geleitet wurden. Ausnahmsweise konstruierte man auch zusätzliche Wandnischen für die Aufnahme eines Talglichts oder brachte neben dem Abtritt ein kleines „Lavabo“ zum Waschen der Hände an. Normalerweise achtete man darauf, die Abortanlagen an einer Stelle einzurichten, von der aus die Fäkalien auf einen wenig betretenen Ort fielen oder hingeleitet wurden, das heißt an einen Felsabhang oder Winkel der Außenwand. „War die Mauer stark genug, brachte man gewöhnlich die ganze Anlage, also Vorraum, Sitz und schräg nach außen verlaufende Fallrohre in der Mauer unter. War die Mauer nicht stark genug für die Unterbringung der Anlage, machte man einen Mauerdurchbruch und baute an der Außenwand einen Ab-

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10 In der Luzerner Diebold Schilling Chronik ist diese Darstellung zu finden (um 1500). Beim Hauptturm, der die Brücke sichert, sind zwei Abtrittserker zu erkennen. Spuren der Notdurft sind deutlich am Gemäuer auszumachen.

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tritterker ein. Die Exkremente fielen dann durch eine Öffnung nach unten in den Burggraben oder auf den Burghang. Sofern die Abtrittserker nicht weit genug von der Mauer entfernt waren, wurden die Burgwände außen entsprechend beschmutzt.“19 Zu verhindern suchte man dies, indem eine vorstehende Steinplatte so in die Öffnung des Abortes eingesetzt wurde, dass Urin und Kot von der Burgmauer weggeführt wurden. Bei Bauten im Innern des Burgareals brachte man den Abtritt über dem Stallbereich an, wo sich die Fäkalien mit dem Mist der Haustiere vermischten. Für große Burgen mit vielen Bewohnern reichten solche Einrichtungen nicht aus. Man errichtete dort spezielle Bauten, die vom Hauptgebäude aus eigene, oft abgedeckte Zugänge hatten – bezeichnet als exitus necessarius, requisitum naturae, necessaria oder sedilia20. Die Schlösser des preußischen Ordens der Deutschherren besaßen besonders markant angebaute Abortanlagen, die man als Danzke oder Danziger bezeichnet. Der Name hängt mit der Stadt Danzig zusammen, die vom Deutschen Orden im Jahr 1309 erworben wurde. Typisch für die Danziger war, dass sich die Abortanlagen solcher Burgen meist in einem eigenen Turm befanden, der vom Hauptgebäude über einen auf Pfeiler gestützten, abgedeckten Zugang zu erreichen war. Je stärker sich die Burgen zu Wohnanlagen entwickelten, desto mehr Bedeutung wurde auch der sanitären Einrichtung beigemessen. Doch der Weg über lange Gänge und Treppen zu den Aborterkern blieb erhalten, und es gibt Hinweise, dass man sich anderweitig behalf. Ein Dichter berichtet: „Da kam eine schöne junge Dame, wie ein Turteltäubchen, und trat leise vor das Palastor und wollte davor ihr Geschäft verrichten.“21 Ein solches Verhalten war allerdings nicht mehr länger standesgemäß. „Leute der vornehmen Oberschicht kackten nicht in der Öffentlichkeit.“22 Sie hatten es dank dem Bau von Abortanlagen auf den Burgen nicht mehr nötig, sich im Freien zu versäubern, wie es der Gewohnheit des breiten Volkes entsprach. Der Gebrauch des Abortes war damit ein wichtiges Ausdrucksmittel eines gehobenen Standesbewusstseins geworden. Natürlich erhöhten Abortanlagen auch die Wohnqualität, und wenn man einer Chronik aus dem 16. Jahrhundert Glauben schenken will, so lockte die Aussicht auf ein wohliges und einfach zu genießendes Bad die Adeligen von ihren Burgen in die Ebene herunter. Der Wunsch nach mehr Komfort und Bequemlichkeit als Motiv scheint

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Klösterliche Askese: omfortable Erleichterung

Im Mittelalter galt das Mönchtum weithin als die vollkommenste Lebensform, und der Mönch stand in hohem Ansehen. Das Mönchtum entstand im Morgenland, in Palästina, Syrien, Kleinasien und vor allem in Ägypten. Es trat in zweierlei Formen auf: im Eremitentum und im religiösen Gemeinschaftsleben. Für das Abendland wurde das Leben in der Gemeinschaft des Klosters die bestimmende Form. Das Gemeinschaftsleben erforderte eine straffe Leitung unter einem Abt, dem Vater der neu entstandenen Familie, und eine Ordnung, die in einer Reihe von Mönchsregeln verbindlich gemacht wurde. Die ersten Mönche und Eremiten lehnten als Beweis ihrer Weltabkehr die Sauberkeit häufig ab. Manche betonten, dass Schmutz und Ungepflegtheit zum Wesen der Mönche gehörten. „Die Reinheit des Körpers und der Kleider“, sagte die heilige Paula, „bedinge die Unreinheit der Seele“.24 Und der deutsche Chronist Thietmar von Merseburg aus der Regierungszeit von Kaiser Heinrich II. (973 – 1024) führte als Musterbild der damaligen Frömmigkeit eine Einsiedlerin namens Sisu vor, die „das Ungeziefer, von dem sie fortwährend geplagt wurde, nicht fortwarf, sondern das zufällig Abgefallene sich

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verständlich. Ihn zu schmälern, hat man in Kriegszeiten besonders gut verstanden. Im Spätmittelalter wurden Fäkalien gezielt als Instrument der Luftverpestung und der psychologischen Kriegsführung eingesetzt, um die Bewohner einer belagerten Burg zu demoralisieren. Ein Beleg dafür ist eine prachtvolle und mit Hunderten von Malereien verzierten Handschrift aus dem Jahr 1405 zum Stand der Kriegstechnik. Darin sind auch Fässer abgebildet und jeweils daneben wird deren Verwendungsmöglichkeit beschrieben. Unter anderem wird dabei vorgeschlagen: „Du kannst [die Fässer] mit altem übelriechenden Kot füllen und schleudern, wohin du willst, so werden die Leute ohnmächtig, und der Boden wird schlüpfrig.“23 Dieser taktische Einsatz von Kot ist mehrfach bezeugt. Um die Übergabe der Burg Schwanau im Elsass im Jahr 1333 zu erzwingen, katapultierten die Berner und Straßburger zahllose Jauchefässer in die Festung. Der Unrat verbreitete bei der Hitze einen solchen Gestank, dass die Besatzung demoralisiert kapitulieren musste.

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wieder ansetzte.“25 Doch lässt sich auch feststellen, dass im Kloster ein geschärftes Bewusstsein für Sauberkeit vorhanden war. Ja, das Zusammenleben so vieler Menschen auf engem Raum zwang geradezu zu einer Disziplin der Sauberkeit. Schon Benedikt von Nursia – er gründete 529 auf dem Monte Cassino das erste Kloster im Abendland – schenkte Fragen der Hygiene seine Aufmerksamkeit. Viele Worte verlor er zwar nicht darüber, aber aus dem Wenigen ist klar zu ersehen, dass er eine gewisse Reinlichkeit für selbstverständlich hielt, Übertreibungen freilich nicht wünschte. Spätere klösterliche Gemeinschaften im Abendland (zu Beginn des 10. Jahrhunderts entstand der Orden der Cluniazenser, im 11./12.Jahrhundert der Orden der Zisterzienser) übernahmen Regeln, die teilweise härter als die des heiligen Benedikt waren. Auch die sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die wachsende Zahl der Mönche, der zunehmende Wohlstand zwangen oder verleiteten zu Änderungen der bisherigen Prinzipien. Aber im Großen und Ganzen blieb der Tagesablauf im Kloster eine harte und anstrengende Angelegenheit; Mönchtum war und blieb „Übung“ (exercitium) im Kampf gegen Sünde und weltliche Versuchung. Bevor wir uns der Frage der Körperpflege im Kloster zuwenden, ist ein Vorbehalt anzubringen. Die Einhaltung der Hygienevorschriften war großen Schwankungen unterworfen. Nicht in jedem Orden und nicht zu jeder Zeit schenkte man der Sauberkeit die gleiche Aufmerksamkeit. Erst im Umfeld der cluniazensischen Klosterreform wurde der Hygiene wieder vermehrt Aufmerksamkeit zuteil: So verurteilte Abt Odo von Cluny († 942) die Unsauberkeit der Asketen. Welches Bild vermitteln nun die Klosterregeln im Hinblick auf die Körperpflege? Strenge Klosterregeln erlaubten nur zwei Mal jährlich ein Bad, nämlich zu Weihnachten und zu Ostern. Aber dies betraf nur das Vollbad. Die meisten Klosterregeln schrieben mehrmaliges tägliches Waschen vor. Am Samstag reinigte man den ganzen Körper einschließlich der Füße. Da die Mönche des Hochmittelalters keinen Bart trugen, nahm die Rasur bei der Körperpflege einen festen Platz ein. Allerdings rasierten sich die Mönche nur in längeren Zeitabständen, etwa alle 15 Tage. Dabei setzten sich die Mönche in zwei Bankreihen einander gegenüber und rasierten sich gegenseitig, während sie Psalmen sangen oder Stillschweigen bewahrten. Auch das Austreten – nehmen wir in den klösterlichen Mauern Zuflucht zu dieser Umschreibung – war oftmals genau geregelt. Beim

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Aufstehen am Morgen, vor und nach einer handwerklichen Arbeit oder vor dem Essen, war der Gang zur Toilette erlaubt. Knaben und Jünglinge durften auch nachts zum Austreten gehen, mussten dabei aber stets von ihrem Magister und einem Gleichaltrigen begleitet werden. Beim Betreten der Latrine musste die Kapuze tief ins Gesicht gezogen werden. Auch das Händewaschen nach dem Austreten gehörte in vielen Klöstern zur Gepflogenheit. Über die Einrichtung, die Sitze und die Beleuchtung geben verschiedene Quellen Aufschluss. Im Plan des Klosters St. Gallen sind neun Toiletten neben dem Schlafsaal zu finden. Eine Laterne sollte den Raum erhellen. Weitere ähnliche, aber kleinere Latrinen, waren bei der Pförtner- und der Schulleiterwohnung, beim Gästehaus, der Abtswohnung und an anderen zentralen Orten zu finden. In Cluny, das durch den Abt Odilo um die Mitte des 11. Jahrhunderts verschönert wurde, gab es sage und schreibe 45 Sitztoiletten in einem Raum von 70 Fuß Länge und 23 Fuß Breite (etwa 23 mal 7 Meter). Jeder einzelne Sitz war mit einem kleinen, gläsernen Fenster ausgestattet. Ein unerhörter Luxus in einer Zeit, in der die Fensteröffnungen – wenn sie überhaupt vorhanden waren – mit Tüchern bespannt waren, durch die nur wenig Licht eindrang. Über den Sitzen befanden sich Häufchen von Hölzern, die man anstelle von Toilettenpapier gebrauchte. Gern benutzte man auch Heu von guter Qualität, das der Hospitarius bereits bei der Heuernte sammelte. Neben diesen „Plumpsklos“ boten manche Klöster für die damalige Zeit einen außergewöhnlichen Komfort: Sie hatten wassergespülte Toiletten. Nach Möglichkeit legten die Zisterzienser ihre Klöster so an, dass ein Bach durch die Latrine (domus latrinarum) führte und allen Unrat wegschwemmte. Im Sommer, wenn wegen der Trockenheit das Wasser knapp werden konnte, wurden Schleusen angefertigt, damit der Druck des zurückgehaltenen Wassers groß genug blieb, um die Fäkalien zu entfernen. Der technische Erfindergeist der Zisterzienser ging jedoch noch weiter: Eine Quelle aus dem 13. Jahrhundert belegt, dass in der Zisterzienserabtei von Clairvaux im Haushalt der Mönche und in ihren Werkstätten fließendes Wasser benützt wurde. Mit Hilfe von Bleiund Holzleitungen floss das Wasser zum Kochen und Waschen in die Küche und zur Bewässerung der Pflanzen in den Garten. Noch früher, schon im 12. Jahrhundert, kanalisierten die Mönche in Canterbury (England) das Wasser und versorgten die wichtigsten Gebäude –

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auch das necessarium (den Abtritt) – mit dem kostbaren Nass. Im Unterschied zu Clairvaux wurde das Wasser allerdings nicht als Antriebsquelle genutzt. Auch auf die Sauberhaltung der Latrinen wurde geachtet. An den Samstagen wurden sie gefegt, in cluniazensischen Klöstern genau wie in zisterziensischen. Und gewöhnlich musste der Prior beim abendlichen Rundgang auch die Aborte visitieren. Eine besondere Stellung hinsichtlich der Hygiene nimmt der Orden der Kartäuser ein, der gegen Ende des 11. Jahrhunderts gegründet wurde. Die Kartäuser führten ein strenges Eremitenleben. Ihre Zellen waren in kleinen, voneinander abgetrennten „Reihenhäuschen“ untergebracht, welche man von einem Kreuzgang aus betrat. Neben dem eigentlichen Wohnraum gehörte eine Werkstatt oder ein Arbeitsraum sowie ein mit Mauern umschlossener Garten zu einer Kartäuserzelle. In diesem abgeschlossenen Bereich verbrachten die Kartäusermönche ihr Leben mit Arbeit und Gebet. Wann und zu welchen Anlässen (etwa zum gemeinsamen Chorgebet) sie die Zellen verlassen durften, war in den Ordensregeln genau vorgeschrieben. Aufgrund der strengen Ordensregeln gestaltete sich der Bau von sanitären Einrichtungen in Kartäuserklöstern anders als in den übrigen Konventen, denn die eremitische Lebensweise der Kartäuser ließ keine gemeinschaftlichen Latrinen zu. Jede Zelle war mit einer Frischwasserleitung oder wenigstens mit einer einfachen Rinne ausgestattet. Die Speise erhielten die Einsiedlermönche durch eine Klappe in der Wand vom Kreuzgang aus. Statt der gemeinschaftlichen Mönchslatrine verfügte jede einzelne Wohn- und Arbeitszelle über einen eigenen Abtritt. Dieser lag meist an der Außenmauer der Mönchsgärten am Ende eines schmalen Ganges. Die Mauern des Abortganges trennten die einzelnen Gärtchen voneinander. Die neuere historische Forschung konnte aufzeigen, dass die urbane Welt des Mittelalters von der klösterlichen Zivilisation lernte. Der Bau von Wasserleitungen wurde von immer mehr mittelalterlichen Städten übernommen. Im 15. Jahrhundert verzichteten selbst mittelgroße Städte nicht mehr auf Rohrleitungen. Gewiss darf man behaupten, dass einige Klöster einen hygienischen Standard hatten, der über dem Stand der Zeit war. Oft hatte die geforderte Sauberkeit zwar einen stark ethisch-ästhetischen Zug. Der Diener Gottes sollte sauber sein und sauber zur Liturgie erscheinen. Aber sie ging auch darüber hinaus: Nur in Klöstern fanden sich im Mittelalter wassergespülte Latrinen.

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Neuzeit: eiterentwicklung und Verfeinerung

Auf dem ersten „Weltkongress der Toilette“ im November 2001 musste man zur Kenntnis nehmen, dass noch immer 40 Prozent der Weltbevölkerung keinen Zugang zu einer Toilette mit Wasserspülung haben. In den Entwicklungsländern ist das WC längst noch keine Selbstverständlichkeit. Während hier immerhin rund drei Viertel der städtischen Bevölkerung Sanitäreinrichtungen benutzen können, sinkt dieser Anteil auf dem Land auf gut ein Fünftel. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat das WC die Welt noch immer nicht erobert (aus ökologischen Überlegungen ist dieses Ziel allerdings auch nicht anzustreben). Wer die historische Dimension berücksichtigt, ist darüber nicht erstaunt. In Frankreich zeigte sich vor rund 50 Jahren folgendes Bild: 1954 besaßen gerade einmal 27 Prozent der Haushalte ein WC in den eigenen vier Wänden und nur 10 Prozent hatten ein Bad oder eine Zentralheizung. Dabei verdecken diese Zahlen, dass das Aufkommen der Toilette mit Wasserspülung zunächst ein urbanes Phänomen war und die ländlichen Gebiete nur mit großer Verzögerung von der neuen Errungenschaft profitierten. Wer den zeitlichen Horizont noch weiter öffnet, stellt fest, dass das WC erst im 19. Jahrhundert in den Häusern der besser gestellten Leute zu finden ist. Es startete dabei seinen Siegeszug in England, von wo aus es den europäischen und nordamerikanischen Kontinent eroberte. Eine Vielzahl von technischen Weiterentwicklungen und Verfeinerungen hatten den Weg dazu geebnet. Eigentlich erstaunlich ist Folgendes: Wie gezeigt, war die mit Wasser gespülte Toilette auch im Mittelalter nicht in Vergessenheit geraten. Warum mussten Jahrhunderte verstreichen, bis sich die wassergespülte Toilette in Europa durchset-

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zen konnte? Warum leistete sich nicht bereits im 16. oder 17. Jahrhundert eine Elite den Luxus einer wassergespülten Toilette? Anders gefragt: Was verhalf der wassergespülten Toilette zum Durchbruch? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, beschäftigt sich das erste Unterkapitel mit der Hygienekultur der Oberklasse am absolutistischen Hof von Versailles im 17. Jahrhundert. Anschließend sehen wir uns die Wiederentdeckung der Toilette mit Wasserspülung, ihre Verbreitung und Ausformung in der bürgerlichen Kultur genauer an.

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Neuzeit: Weiterentwicklung und Verfeinerung

Höfisch: er König auf dem Thron

Es gibt wenige historische Gestalten der europäischen Geschichte, die bei Zeitgenossen und Nachgeborenen so viel Interesse geweckt haben wie der absolutistische Herrscher Ludwig XIV., der Sonnenkönig. Von 1661 bis zu seinem Tod regierte er Frankreich allein und prägte einen neuartigen Herrschaftsstil: Er inszenierte das königliche Leben im Sinne einer ganz auf seine Person bezogenen Hofkultur, die als politisches Machtinstrument gleichzeitig den Zweck verfolgte, den Adel an den Hof zu ziehen und dadurch zu kontrollieren. In einem „Sumpf, in dem Nattern, Kröten und Frösche hausten“ – so berichtet der Zeitzeuge Saint-Simon (1675 – 1755) –, ließ Ludwig XIV. das Jagdschlösschen seines Vaters in der Nähe von Paris zur glanzvollen Residenz erweitern. Auf dem größten Bauplatz Europas entstand Versailles, das spätere Machtzentrum Frankreichs und der künftige kulturelle Mittelpunkt Europas. Die Dimensionen der Gesamtanlage sind eindrücklich: die Gartenfront des Hauptgebäudes misst 580 Meter und hat 375 Fenster. Es gibt etwa 2000 Räume, rund 10 000 Menschen versammelten sich hier bei festlichen Anlässen. Schon die engere Dienerschaft Ludwigs XIV. setzte sich aus Hunderten von Bediensteten zusammen, die einer strengen Hierarchie unterstanden. Der neue Prunkbau des französischen Königs diente gänzlich anderen Zwecken als die mittelalterliche Burg: An die Stelle der Wehrhaftigkeit trat nun die glanzvolle Repräsentation. Nach französischem Vorbild errichteten sich die Fürsten bald überall in Europa einen prunkvollen Herrschaftssitz als politischen und repräsentativen Mittelpunkt. Höhepunkt dieser Entwicklung blieb zweifelsohne Versailles: Es galt seit seinem Bau als Musterbeispiel für Hof und Hof-

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kultur des Absolutismus. Rasch fand es Nachahmer, doch an Prunk und Größe blieb es unübertroffen. Das Leben am Hof von Versailles war streng geregelt und glich einem Menuett: „Es war genau vorgezeichnet, wie viele Schritte man machen müsse, bis man sich verbeugen dürfe, welche Linie diese Verbeugung zu beschreiben habe und wie tief sie in jedem einzelnen Falle sein soll. Es gibt in dieser Welt nichts, das nicht einem minutiösen und wohldurchdachten Reglement unterworfen, nichts, das dem Zufall überlassen wäre; das ganze Leben ist ein Reißbrett mit einem Millimeterquadratnetz, ein Schachbrett, auf dem bestimmte gleichartige Figuren ihre vorschriftsmäßigen Züge machen.“1 So umschreibt der Kulturhistoriker Egon Friedell das strenge Zeremoniell, das am französischen Hof waltete. Sozialer Rang musste bei Hof nach außen sichtbar dargestellt werden. Beanspruchte der Fürst eine allem Adel überlegene Position, musste dies für alle sinnfällig zum Ausdruck kommen. Der Hof war die Bühne, auf der im feierlichen Vollzug die Unantastbarkeit und Allmacht des Herrschers in Szene gesetzt wurde. Zu dieser Inszenierung gehörten auch die natürlichsten Bedürfnisse des Monarchen, denn Ludwig XIV. empfing den engsten Kreis seiner Familie ohne weiteres auf dem Nachtstuhl sitzend. Als schockierend wurde dies nicht empfunden. Im Gegenteil! Als Maximilian I. (1459 – 1519), der Großvater des habsburgischen Herrschers Karl V., darauf bestand, sein Geschäft allein und ohne unliebsame Beobachter zu erledigen, galt dies den Chronisten als ungewöhnliches Verhalten. Durchaus gesellschaftsfähig waren damals auch ausführliche Tischgespräche über das „königliche Übel“ (mal du roi), eine Fistel am Anus des Sonnenkönigs, deren Entfernung europaweit zur Kenntnis genommen wurde. Und als der König im Alter immer stärker an Verstopfungen litt, empfing er ihm nahe stehende Personen, während ihm auf dem Bett ein Klistier verabreicht wurde. Unter Ludwig XIV. war selbst die Verrichtung der Notdurft zu einer Demonstration der Macht geworden. Die Könige begannen damit, faire leur trône de leur chaire percée (Montaigne) – Audienz auf dem (Nacht)thron zu halten. So waren im Zeitalter des Absolutismus selbst intimste Einzelheiten des königlichen Lebens von öffentlichem bzw. adeligem Interesse. Für jede noch so geringe Aufgabe am Hof gab es einen – oftmals adeligen – „Bediensteten“ mit genau umrissenen Pflichten. Für das Privileg, in der Nähe des Königs zu sein, war kein Opfer zu groß. Selbst zur Überprüfung des königlichen Stuhlgangs oder für das Rei-

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nigen des königlichen Hinterteils gab es einen Günstling. Das Privileg, den Nachtstuhl zu beaufsichtigen – das Brevet d’entrée – ließen sich die Adeligen in den besten Zeiten 100 000 Livres kosten. Es verlangte zudem den Nachweis einer adeligen Ahnengalerie, die mindestens 200 Jahre rückdatierbar war. Wer schließlich zugegen sein wollte, wenn der König auf dem „Thron“ saß, musste sich dies mit einem „Diplom“ – dem brevet d’affaires – verdienen. Wie das „Thronen“ auf dem Nachttopf zu einer Machtdemonstration genutzt werden konnte, verdeutlicht eine Anekdote aus der Zeit des spanischen Erbfolgekriegs (1701 – 1714): Der General von Vendôme empfing auf dem Nachtstuhl sitzend den spanischen Unterhändler. Vor den Augen seines Gastes ließ sich Vendôme reinigen. Brüskiert und ohne seinen Auftrag zu erledigen, brach der Unterhändler daraufhin seine Mission ab. Als neuer Bote wurde der spätere Kardinal und Minister der spanischen Krone, Giulio Alberoni (1664 – 1752) geschickt. Wieder saß der französische General auf dem Nachtstuhl. Als er sich erhob, stürzte der neue Unterhändler mit dem Ausruf „Welch ein Engelspopo“ (im Italienischen: O culo di angelo) auf den Allerwertesten des Generals und küsste ihn. Diese unterwürfige Geste lohnte sich: Die Verhandlungen konnten jedenfalls zufriedenstellend abgeschlossen werden. Der sonst so prächtige Hof vernachlässigte den hygienischen Bereich sträflich: In Versailles stank es. Im ganzen Schloss war keine einzige Toilette mit Wasserspülung zu finden. Man benutzte stattdessen Nachtstühle. Rund 300 gab es, wobei die Zahl der Synonyme mit der Zahl der Nachtstühle konkurrierte: chaises percées, chaises d’affaires, chaises pertuisées, chayères de retrait, chaises nécessaires, secret, commodité oder ganz einfach selles waren übliche Bezeichnungen. Auch in der Ausführung gab es Unterschiede: Rund zwei Drittel der Nachttöpfe waren in Damast unterschiedlichster Farbe eingehüllt; über sechzig wurden in einer Schublade oder einem anderen Sichtschutz neugierigen Blicken entzogen. Der raffinierteste Nachttopf gehörte selbstverständlich Ludwig XIV. Es handelte sich dabei um einen schwarz lackierten Topf mit einer japanischen Landschaft, in der goldene und farbige Vögel plastisch herausgearbeitet waren. Die Innenseite war rot lackiert und der Sitz war mit grünem Velours ausgepolstert. Madame Pompadour, eine Maitresse des französischen Königs Ludwig XV. (König 1715 – 1774), geriet über ihren eigenen Nachtstuhl in ein solches Entzücken, dass sie dem Hersteller eine Pension be-

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ass Ludwig XIV. selbst die Verrichtung des königlichen Geschäfts in das Hofzeremoniell aufnahm, war neu. Im 15. Jahrhundert ließ Ludwig XI. seinen Klosettstuhl noch mit Vorhängen umgeben, damit er von niemandem gesehen werden konnte. Darüber hinaus ließ der König Rainfarn einkaufen, damit keine peinlichen Gerüche einen Gast darauf aufmerksam machten, dass sich hinter den Vorhängen der Ort befand, an dem der Herrscher gewissen Bedürfnissen nachging. Von solchen Heimlichkeiten war Ludwig XIV. weit entfernt. Er stand an der Spitze der hierarchischen Gesellschaft, und für ihn gab es keine Regeln der Scham. Mehr noch: Er konnte die Regeln neu definieren. Wenn der König sich nackt zeigte, auf dem Nachttopf saß und ihm nahe stehende Personen empfing oder sein Hemd in einem Zimmer wechselte, das voller Menschen war, so war es für die Anwesenden sogar eine Ehre, den König in einer derart intimen Situation zu sehen oder ihm bei intimen Handlungen behilflich zu sein. Die Engländer hingegen waren über das französische Hofzeremoniell erstaunt, ja pikiert und bezeichneten es schamhaft als „The French Courtesy“. Das Kacken in aller Öffentlichkeit ohne jede Schamhaftigkeit war jedoch auch am französischen Hof nicht allgemein verbreitet. Wenn beispielsweise Liselotte von der Pfalz in einem Brief vom 5. Mai 1716 über den Herzog von Bourgogne, einen Sohn Ludwigs XIV., berichtet, dass man bisweilen mit ihm entretenirte (sich unterhielt), während er auf dem „Kackstuhle“ saß, obgleich es dabei „gar modest“ zugegangen sei, denn man habe ihm den Rücken zuwenden müssen, so ahnt man bereits, dass es sich nicht um eine Selbstverständlichkeit der Zeit handelte. War der Mensch früherer Jahrhunderte weniger prüde als heute? Verlief die Schamgrenze damals anders als heute? Die Antwort muss differenziert ausfallen. Die Schamschwelle ist nicht naturgegeben, sondern versteht sich immer erst aus dem gesellschaftlichen Kontext. In jeder Epoche wird sie neu festgelegt. In einigen Bereichen zeigte man in früheren Zeiten mehr „Scham“ als heute, in anderen weniger. Hier von Fortschritt oder Rückschritt zu sprechen, wäre freilich nicht angebracht.

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The French Courtesy

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zahlte, die eines Feldmarschalls würdig gewesen wäre. Eine Sonderanfertigung – une manière de chaise percée où l’on peut s’installer deux à la fois (eine Art Nachttopf, auf den sich zwei Personen setzen können) – ermöglichte auch ein ungestörtes tête à tête (Kopf an Kopf ), oder sollte man besser von einem fesses à fesses (Hinterteil an Hinterteil) sprechen? Der Nachttopf war hin und wieder auch ein Ort für ungewöhnliche Liebesspiele. Liselotte von der Pfalz, die Schwägerin von Ludwig XIV., liefert dazu eine amüsante Schilderung:

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„Ich weiß ein galand, welchen ich aber nicht nennen will noch darf, welcher als mit seiner maitresse auf ’n kackstuhl geht und wann eins von ihnen seine sachen verrichtet hat, dann setzt sich das andere drauf, und entretenieren einander auf diese Weise“.2

Folgt man den Quellen, so hat es in Versailles häufig penetrant gestunken. Während den stundenlangen Empfängen vor dem König war es nicht ungewöhnlich, dass die hohen Damen ihre Notdurft im Stehen, durch die Doppelröcke geschützt, verrichteten. Den Kavalieren standen Säulen, Nischen, Prachtvorhänge und Gobelins zur Verfügung. Verständlich, dass die Hofgesellschaft wiederholt wegen erforderlicher „Luftveränderung“ ihren Aufenthaltsort innerhalb der Schlossflügel wechselte. Im Grunde war dieser Missstand das Ergebnis einer mangelnden Infrastruktur: Zwar gab es im Schloss Bedienstete, die mit einem Nachttopf die Gänge abliefen, und waren in der weitläufigen Parkanlage bei den Schlosswärtern Nachttöpfe zu finden, doch immer wieder überstieg die Nachfrage das Angebot. Der Bau von großzügigen wassergespülten Sanitäranlagen, die selbst dem Ansturm der vielen Gäste bei Festlichkeiten gewachsen gewesen wären, hätte die ideale Lösung dargestellt. Die Voraussetzungen zu einer derartigen Lösung waren gegeben: Wasser war in Versailles in reichlichem Maß vorhanden, denn es gab ein riesiges Netz von Kanälen und Gräben, das insgesamt 170 Kilometer umfasste. Auch das Know-How für ein WC war wohl vorhanden, zumal in England gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Toilette mit Wasserspülung in adeligen Kreisen Eingang gefunden hatte (davon im folgenden Kapitel). Ja, Ludwig XIV. besaß sogar ein Bad, „das sich wohl ohne Schande neben die Thermen der antiken Villen hätte stellen können“3. Warum feierte die wassergespülte Toilette also nicht in Versailles ihr Comeback? Der entscheidende Grund ist wohl darin zu suchen, dass die hygienischen Missstände in Versailles zwar ein Ärgernis waren,

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ie französische Sprache (genauer das Französisch bei Hofe) erlebte im Zeitalter Ludwigs XIV. einen ungeheuren Bedeutungszuwachs. Französisch ersetzte das Lateinische im zwischenstaatlichen Verkehr und verdrängte es auch aus dem Rang der beherrschenden Vertragssprache. Es gehörte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zur guten Erziehung des europäische Adels und der Gebildeten in Europa, Französisch zu lernen. Dabei bürgerten sich auch Begriffe aus dem Französischen in anderen europäischen Sprachen ein. So ist der deutsche Begriff „Toilette“ aus dem Französischen entlehnt und hat die Zweideutigkeit des französischen Vorbilds beibehalten: Der französische Begriff toilette ist ein Diminutivum zu toile, was soviel wie „Tuch“ bedeutet. Mit dem Tuch war ein Stoffstück gemeint, auf dem man normalerweise Kosmetika ausbreitete. Im 17./18. Jahrhundert wurde der Begriff auf die Tätigkeit des Ankleidens übertragen und schließlich im 20. Jahrhundert auch als verhüllende Bezeichnung für den Abort gebraucht. Über lange Zeit war das „Toilette machen“ ein Privileg der Reichen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen sich immer mehr Menschen in den Industriestaaten Zeit für ihre tägliche Toilette. Wie langsam dieser Prozess jedoch vor sich ging, belegt eine Erhebung aus Frankreich im Jahr 1951: 25 Prozent der befragten Frauen putzten sich niemals die Zähne und 39 Prozent nahmen nur einmal im Monat ein Bad. Gegen Ende des Jahrhunderts investierten Frauen wie Männer immerhin acht bis neun Stunden pro Woche für die Toilette.

aber auch nicht mehr. Die Geschichte des stillen Örtchens wäre aber zweifelsohne anders verlaufen, wenn Ludwig XIV. in Versailles wassergespülte Klosetts eingebaut hätte. Dies hätte das WC zu einem Prestigeobjekt gemacht und seine Verbreitung in adeligen Kreisen gefördert.

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Häuslich: er Bürger auf dem Thron

WC – wer hat nicht schon mit Erleichterung diese zwei Lettern erspäht, wenn ein dringendes Bedürfnis ansteht? Diese verbreitete Abkürzung ist im Deutschen eindeutig und setzt sich aus den ersten

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Toilette machen

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Buchstaben des Englischen water closet zusammen. Der Brockhaus von 1906 führt den Begriff noch in seiner englischen Schreibweise auf und verrät damit, dass der Siegeszug der wassergespülten Toilette seinen Anfang von Großbritannien aus nahm. Verknüpft ist diese Geschichte mit dem Namen eines Mannes: mit Sir John Harington (1561 – 1612). „Er hat nicht nur das erste bekannte Klappenklosett gebaut, sondern auch ein Buch voller Sachkenntnis und Humor darüber geschrieben“4, kommentiert Roy Palmer, ein Kenner der Materie, Zahnarzt und Autor einer einschlägigen WC-Abhandlung, die Verdienste dieses Adeligen. In dem Spannungsfeld – technische Entwicklung und individuelles Schicksal – bewegt sich das nun folgende Unterkapitel. Beginnen wir mit dem persönlichen Schicksal dieses Mannes, denn dass ausgerechnet ein Adeliger die technische Entwicklung der Toilette im 16. Jahrhundert vorantrieb, ist als außergewöhnlich zu bezeichnen. Und den Rahmen des Alltäglichen, des Standesgemäßen – um im Jargon der Zeit zu bleiben – hat Sir Harington auch in anderer Hinsicht verlassen. Die Harington-Familie verfügte über großen Einfluss am englischen Hof, was erklärt, warum der 1561 geborene John die Königin Elisabeth I. als Patin hatte. Als Sir Harington jedoch eine zotige Geschichte über zwei Dirnen aus Ariosts Der rasende Roland (Orlando Furioso) ins Englische übersetzte, war er so unvorsichtig, die delikate Schrift unter den Hofdamen von Hand zu Hand gehen zu lassen. Die Folgen waren unvermeidlich: Die Schrift fiel am Ende in die Hände der Königin und diese war darüber zutiefst empört. Sir Harington wurde vom Hofe verbannt. Während der Jahre seines Exils baute er den Landsitz seiner Frau in Kelston, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bath, aus. Dabei wurde das alte Wohnhaus abgerissen und nach den Plänen des berühmten italienischen Architekten Barozzi da Vignola (1507 – 1573) – er wurde nach dem Tod Michelangelos der Bauleiter der Peterskirche – ein neues Haus errichtet. In dieses Haus baute man eine Toilette mit Wasserspülung ein. Ob die Idee dazu von Sir Harington ausging oder Barozzi da Vignola in seinen Plänen den Einbau einer wassergespülten Toilette vorsah, bleibt offen. Dass die technischen Kenntnisse für die wassergespülte Toilette in Italien durchaus gegeben waren, belegen eine Skizze Leonardo da Vincis (1452 – 1519) zu einer „belüfteten Drehtoilette“ sowie Überlegungen zu einer Idealstadt, in der Wasser jeglichen Unrat wegspülen sollte. In einem Bauvorschlag für ein Schloss von Franz I. sah Leonardo da Vinci eine Anzahl wassergespülter Toiletten vor.

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eben Flugmaschine, Fallschirm, Panzer, Unterseeboot und vielen anderen Projekten hat Leonardo da Vinci auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Toilette geleistet. Er steht im Zusammenhang mit einem genialen Entwurf zur Sanierung von Städten, dem Entwurf zum Bau einer Idealstadt. In künstlerischer und in hygienischer Hinsicht blieb Leonardos Vorschlag jahrhundertelang unübertroffen. Dieser Entwurf entstand unmittelbar nach der schweren Pestepidemie der Jahre 1484 und 1485, bei der allein in der Gegend von Mailand etwa 50 000 Menschen starben. Leonardo sah die Ursachen für die ungeheuer rasche Seuchenausbreitung in den hygienischen Missständen der übervölkerten Städte, in denen Massen von Menschen auf engstem Raum unter unwürdigen sanitären Verhältnissen lebten. Seine Pläne einer Idealstadt sprengten die einengenden Fesseln der damaligen Stadtmauern. Leonardo trat für eine flächenmäßig breite Auflockerung der Städte ein. Seine Idealstadt „ist in der Nähe des Meeres oder irgendeines großen Flusses anzulegen, damit der durch das Wasser abgeführte Unrat der Städte weggespült werden kann“. Zur Abortanlage schrieb er: „Der Sitz des Abortes muss sich drehen wie das Fensterchen in den Klöstern, indem er durch ein Gegengewicht in seine erste Stellung zurückkehrt. Und der Deckel über ihm sei ganz durchlöchert, damit er ausdünsten kann.“5 Leonardo wollte also einen Latrinensitz so anordnen, dass er sich sofort nach der Benutzung durch ein Gewicht wieder in die Wand zurückdreht. Während der Nichtbenutzung steht die Öffnung der Latrine mit einem Abzugskanal in Verbindung, sodass durch den durchlöcherten Deckel die üblen Gase entweichen können.

Ob die wassergespülte Toilette in Sir John Haringtons Haus nun auf den Plänen von Barozzi da Vignola basierte oder ein Ergebnis eigener Kreativität war, ist im Grunde nicht so wichtig. Ausschlaggebend war, dass Sir John Harington es verstand, seine Neuerfindung ins Rampenlicht zu rücken. Niemals hätte die neue Toilette einen so großen Widerhall gefunden, wenn nicht zwei Dinge zusammengetroffen wären: Erstens ließ sich Königin Elisabeth I. von Haringtons Erfin-

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Die belüftete Drehtoilette von Leonardo da Vinci (1452 – 1519)

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dung beeindrucken und zweitens machte Sir John Harington durch eine ganz besondere Bau- und Gebrauchsanleitung für die Toilette auf seine Erfindung aufmerksam. Was das Interesse der Königin anbelangt, lässt sich Folgendes sagen: Im Jahre 1592 wurde John Harington, der seit kurzem die Gunst der Königin wieder gewonnen hatte, oberster Königlicher Statthalter der Grafschaft Somerset. In dieser offiziellen Eigenschaft empfing er noch 1592 die Königin. Man kennt heute zwar wenig Einzelheiten dieser Zusammenkunft, doch weiß man, dass Elisabeth I. dermaßen von Haringtons „speziellem Fachkönnen“ beeindruckt war, dass sie ein ähnliches WC für sich in Schloss Richmond wünschte. Was die von Sir John Harington verfasste „Gebrauchsanleitung“ mit dem Titel, The Metamorphosis of Ajax anbelangt, müssen wir etwas weiter ausholen. Allein schon der Titel – zu deutsch Die Verwandlung des Ajax – deutet darauf hin, dass es sich hier um weit mehr als eine technische Anleitung handelt. Warum sprach der Autor von einer Verwandlung? Wen meinte er mit Ajax? Ganz offensichtlich setzte Sir John Harington eine gebildete Leserschaft voraus, die sich in der griechischen Mythologie sehr gut auskannte. Bei der Belagerung Trojas hatten nämlich zwei griechische Recken namens Ajax gekämpft. Der eine war neben Achilleus der herausragendste Kämpfer und ein Mann von unbändigem Ehrgeiz und Stolz, der es nicht verwinden konnte, die Rüstung des gefallenen Achilleus an Odysseus zu verlieren. Er verfiel darüber dem Wahnsinn. Der andere Ajax, gerne als „Ajax der Kleinere“ bezeichnet, vergewaltigte Kassandra, die Tochter des besiegten trojanischen Königs Priamus, im Tempel der Göttin Athene. Auf welche Verwandlung spielte Sir John Harington nun also an? Auf die Verwandlung vom tapferen Kämpfer zum Wüstling oder vom heldenhaften und ehrgeizigen Kämpfer zum Wahnsinnigen? Im Hinblick auf Sir John Haringtons frühere obszöne Übersetzung tendierte die Leserschaft wohl eher zu „Ajax dem Kleineren“. Es war eine Wahl, die durch ein anrüchiges Wortspiel in ihrer Richtigkeit bekräftigt wurde. Den Zeitgenossen fiel nämlich sofort auf, dass die Aussprache des Vornamen Ajax identisch mit a jakes – eine Umschreibung für einen Abtritt – war. Der Untertitel von Haringtons Schrift – A Cloacinean Satire (Eine kloakenhafte/schmutzige Satire) machte schließlich auch dem unbedarften Leser klar, welches Thema ihn erwarten würde. Die Thematik der menschlichen Notdurft eröffnete Harington in seiner Schrift mit einem Paukenschlag. Gleich zu Beginn platzierte er

„Ein biedrer Pater saß im Kämmerlein, zu tun, was er musste und was muss sein. Er murmelt wie sonst Gebete vor sich hin, als vor ihm plötzlich des Satans Gesicht erschien. Und schon beginnt der Teufel ihn anzuschreien, dass solche Gebete tödliche Sünden seien. Ihm werde auch sicher keine Gnade gewährt, da er frivol am Örtchen Gott entehrt. Erst ist er verdutzt, doch dann spricht der fromme Mann in seinem Glauben gefasst den Teufel an: Verdammter! Stets zu Tücke und Lüge bereit, nicht hoffend auf eignen Nutz und drum voller Neid! Das Seine jedem. Du störst nicht meine Welt. Zu Gott sandt’ ich Gebete, zu dir, was fällt. In Reinheit steigt, was ich gebetet, hoch. Für dich genügt der Abfall aus dem Loch.“6

Die Verknüpfung von Abort und Mönch war eine provokative, aber keineswegs unbekannte Thematik, der wir im Zusammenhang mit Luther bereits begegnet sind. Im Anschluss lieferte Sir John Harington eine präzise Anleitung zum Bau einer Toilette mit Wasserspülung. Der Spülkasten dieser neuartigen Toilette soll „den

11 Niemals zuvor wurde die Toilette mit einem derartigen sprachlichen Feuerwerk gefeiert – und auch verspottet wie beispielsweise mit der Abbildung eines Mönchs auf dem Abort – wie in der Schrift The Metamorphosis of Ajax (1596) von John Harington.

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ein Gedicht, in dem ein Mönch auf dem Abort vom Teufel versucht wird. Eine sinngemäße deutsche Übersetzung lautet:

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Inhalt eines Wasserbottichs oder mehr fassen. Der Behälter soll sich im Raum selbst oder darüber befinden, von wo aus das Wasser durch ein Bleirohr von einem Zoll Durchmesser unter den hinteren Teil des Sitzes geleitet werden kann. Das soll jedoch nicht sichtbar sein. An das Rohr muss ein kleiner Wasserhahn oder sonst eine Absperrung angebracht werden, womit man den Einlauf des Wassers in die Schüssel regelt.“7 Eigentlich revolutionär ist jedoch die Anleitung zur Konstruktion eines Ventils: „Im unteren Teil des [Spül]Beckens auf der rechten Seite müsst Ihr eine Schleuse oder eine Dichtungsscheibe aus Messing durch Löten oder mit Zement abdichten … An den Scheiben muss ein Rundeisen so stark wie ein Gardinenrohr befestigt werden. Es soll massiv, gerade und senkrecht sein, mit einer starken Schraube oben, für die Ihr einen Hohlschlüssel zum Lockern braucht.“8 Haringtons Konstruktion war also eine wassergespülte Toilette, die mit Spülkasten und Ventilverschluss ausgestattet war. Damit war die moderne Sanitärtechnik eingeläutet. Der durchschlagende Erfolg blieb John Harington mit seiner Erfindung aber versagt. Auch fand die neue Konstruktion keine innovativen Nachahmer: „Zwischen 1617 und 1775 werden keine britischen Patente für Klosette angemeldet.“9 Dann jedoch setzte ein wahres Feuerwerk von technischen Verbesserungen ein. Da die Technikgeschichte der wassergespülten Toilette andernorts eingehend abgehandelt wurde, hier nur ein knapper Überblick. Man unterscheidet zwischen Klappen-, Pfannen- und Trichterklosetten sowie den Vorbildern der heute noch im Gebrauch stehenden Toiletten: dem Flachspül-, Tiefspül- und Absaugklosett. Zu erwähnen sind bei dieser Aufzählung jedoch auch die Alternativen: die Trockenoder Erdtoilette sowie andere, eher exotische Lösungen. Klappenklosette: Die Erfindung von John Harington gehört zur Kategorie der Klappenklosette, auch Ventilklosett (valve closet) genannt. Die ältesten dieser Klappenklosette muss man sich wie folgt vorstellen: „Das Loch im Unterteil der Schüssel wurde durch eine lederüberzogene Klappe verschlossen. Die Spülung fand statt, indem ein kompliziertes System von Griff, Hebel und Gegengewichten Wasser aus dem Spülkasten in die Schüssel einließ, während die Klappe gleichzeitig geöffnet wurde. Wegen des lästigen Mechanismus, der viel Raum brauchte, wurde der Apparat gewöhnlich mit einer Holzverkleidung geliefert, die es in verschiedener Qualität und Dekoration gab.“10

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12 Alexander Cummings neue Erfindung – ein Wasserklosett mit einem metallenen Klappverschluss – brachte einer geringere Geruchsbelästigung beim Gang zum stillen Örtchen. Sie machte es auch möglich, dass man die Toilette in den engeren Wohnbereich einbauen konnte. Der Londoner Uhrenmacher Alexander Cummings griff 1775 Haringtons Idee neu auf und konstruierte ein Spülklosett aus Metall mit Zugkasten und metallenem Klappenverschluss des Beckens. Sein größter Stolz bestand in einem verbesserten Geruchsverschluss. Angesichts der verbreiteten Lehre, dass schlechte Luft die Ursache von Krankheiten sei, kam dieser technischen Lösung eine zentrale Bedeutung zu. Eine weitere Verbesserung des Klappenklosettes erfolgte 1778 durch Joseph Bramah (1748 – 1814), einen großartigen Feinmechaniker. Er fand eine Möglichkeit, die Geruchsbelästigung des Wasserklosetts zu vermindern. Anstelle des losen Klappenverschlusses konstruierte er ein Ventil, das sich um ein Gelenk drehen musste und fast luftdicht abschloss. Nun erst schien es gefahrlos zu sein, eine wasser-

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gespülte Toilette in den engeren Wohnbereich einzubauen. Brahmahs Toilette wurde denn auch ein wirtschaftlicher Erfolg: Bis 1797, so behauptete Bramah, habe er gegen 6000 Wasserklosetts verkauft. Die Produktion der Firma Firma Bramah lief bis ins Jahr 1890. Stevens Hellyer setzte 1892 mit dem Apparat Optimus den Endpunkt in der Entwicklung der Klappenklosette. Hellyer war ein englischer Toilettenfabrikant, der sich auch in Vorträgen, Büchern und Broschüren über Sanitärhygiene und Sanitärinstallation an die Öffentlichkeit wandte. Sein Handbuch Der Klempner und die sanitäre Ausstattung von Häusern (The Plumber and Sanitary Houses) erreichte etliche Auflagen. Das Optimus-Klosett war ein Gerät mit sehr vielen mechanischen Teilen, das jedoch zur großen Zufriedenheit der Kundschaft funktionierte. Nicht nur in den königlichen Schlössern Windsor und

13 Das „Beste“ – Optimus –, dieses Klappenklosett wurde 1892 vom eng-

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lischen Sanitärspezialisten Hellyer auf den Markt gebracht. Besonders stolz war er auf den Spülrand: „Vor meiner Erfindung gab es kein Klappenklosett mit diesem Spülrand, weder in England noch in Amerika.“

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Balmoral befand sich eine Optimus-Toilette, sondern auch in zahlreichen Haushalten im In- und Ausland. Zudem ließen sich die meisten europäischen Staaten, China, Indien, Japan und die USA sowie Australien und einige Staaten in Südamerika damit beliefern. Auch auf hoher See war die Optimus-Toilette zu finden: Der Herzog von Bedford ließ sich um 1900 eine derartige Toilette auf seiner Yacht einbauen. Als besonders störend hatten sich bei der Toilette mit Wasserspülung neben der auftretenden Geruchsbelästigung die schlechte Spülung erwiesen. Samuel Prosser fand schließlich Abhilfe. Er regelte den Wasserstand in der Klosettschüssel mit Hilfe eines einfachen Ballschwimmers (im Unterschied dazu sind heutzutage die Spülreservoirs mit Schwimmern ausgerüstet). Diese Erfindung ließ er sich 1777 patentieren. Pfannenklosette: Die Pfannenklosette (pan closet) bestanden aus einer oberen Schüssel aus Keramik sowie einem darunter liegenden, pfannenförmigen Becken aus Metall. Nach Gebrauch dieses WCs kippte die Pfanne mit Betätigung eines Handgriffs nach unten, gleichzeitig öffnete sich der mit einem Schnur-, Ketten- oder Drahtzug versehene Verschluss des Spülkastens. Nach dem Spülen sprang die Pfanne dank Gegengewichten in ihre alte Position zurück und schirmte die von unten aufsteigenden Gerüche ab, weil vom Spülhergang darin etwas Wasser zurückblieb. Der untere Rand der Klosettschüssel tauchte zudem in die Pfanne hinein. Die Pfannenklosette genossen nicht den besten Ruf, weil sie mit einer komplizierten und störanfälligen Mechanik ausgerüstet waren und nicht ganz sauber spülten. Ein renommierter englischer Sanitärfachmann meinte 1890 etwas nonchalant: “Die einzige Freude, die das Publikum über ein so faules Ding haben kann, ist, mit ihm keine Bekanntschaft zu machen.“11 Den- 14 Pfannenklosetts waren von noch wurden diese Klosetts in 1790 bis zum Zweiten Weltkrieg vergroßer Zahl produziert und blie- breitet. Anstelle einer Klappe oder ben bis ins 20. Jahrhundert hi- eines Ventils schließt eine wassergenein im Gebrauch. füllte „Pfanne“ die Klosettschüssel.

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Trichterklosette: Die Trichterklosette (Hopper closets) hatten den Vorteil, keine komplizierte Mechanik in Anspruch nehmen zu müssen. Eine einfache, trichterförmige Schüssel mit Öffnung unten und Einlass für das Spülwasser war alles, was nötig war. Bei Betätigung der Spülung ergoss sich ein dünner Wasserstrahl spiralförmig nach unten und schwemmte die Fäkalien mehr schlecht als recht fort. Ein zusätzlicher Siphon sicherte den Geruchsverschluss. Die Trichterklosette waren in England in zwei verschiedenen Längen erhältlich: das System The Cottage für die Armen und The Castle für die Reichen. Nach dem Aufkommen der frei stehenden 15 Das Trichterklosett war eine Toiletten galt das Trichterklosett sehr einfache Toilette, die gern für als ausgesprochener Abtritt für Dienstboten und arme Leute eingearme Leute und wurde in großer richtet wurde. Zahl für Dienstboten und Fabrikarbeiter installiert, denn ein Trichterklosett kostete im 19. Jahrhundert rund fünfmal weniger als ein Tiefspülklosett. Einen riesigen Fortschritt in der Herstellung von wassergespülten Toiletten brachte der Einsatz von Keramik. Der englische Töpfer Thomas William Twyford of Hanley hatte festgestellt, dass die Herstellung der Keramikschüsseln für ein Klappenklosett rund zwei Schillinge kostete, hingegen die Anfertigung der mechanischen Teile aus Blech und Eisen rund das Zehn- bis Fünfundzwanzigfache dieses Betrages. Er stellte 1870 in Stoke-on-Trent das erste Wasserklosett aus glasierter Keramik mit Siphonverschluss her. Dieses frei stehende Keramikklosett (pedestal vase) war mit dem Verzicht auf Klappen und Ventile weitaus weniger störanfällig als seine Konkurrenten. Sieben Jahre später, 1877, gelang dem New Yorker Harrison das Brennen einer WC-Schüssel mit Siphon in einem Stück. Damit wurde eine Produktion in sehr hoher Stückzahl möglich. In der Folge entwickelte sich in England und in Amerika die sanitärkeramische Industrie.

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Obwohl sich die Herstellungsprozesse stark verändert haben, sind diese neuartigen Keramikklosetts von ihrer technischen Konzeption her noch heute im Gebrauch. Man unterscheidet drei Typen: das Flachspülklosett, das Tiefspülklosett und das Absaugklosett. Das Flachspülklosett (washout 16 Schematische Darstellung des closet): Das Flachspülklosett be- Flachspülklosetts. steht aus einer flachen, mit Wasser gefüllten Schüssel und einem darunter liegenden Siphon. Bei Betätigung der Spülung werden die Fäkalien aus dieser Schüssel durch den Siphon weggeschwemmt. Ein Vorläufer des Flachspülklosetts wurde bereits 1851 entwickelt, doch erst 1875 kamen Flachspülklosette auf den Markt. Den größten Erfolg feierte Twyfords Modell National, das gemäß Angaben des Herstellers in knapp zehn Jahren 100 000-mal verkauft wurde. Die Ära der Flachspülklosette war am Ende des 19. Jahrhunderts vorbei. Man sah das Flachspülklosett als unhygienisch an, weil das Becken aufgrund des niedrigen Wasserstands leicht austrocknete und die aufsteigenden Gerüche nicht ohne Zusatzgeräte beseitigt werden konnten. In wärmeren Ländern wurden die Flachspülklosette deshalb meist verboten. Verdrängt wurden die Flachspülklosetts durch die technisch überlegenen Tiefspülklosette. Das Tiefspülklosett (washdown closet): Während beim Flachspülklosett die Fäkalien zuerst in ein Becken hineinfallen, ist dieses beim Tiefspülklosett mit dem Einlauf zum Siphon kombiniert. Beim Spülvorgang wird das schmutzige Wasser verdünnt und die festen Stoffe werden mit Hilfe der beim Überlaufen des Siphons entstehenden Sogwirkung weggeschwemmt. Der Einlauf des Spülwassers ins Klosettbecken ist bei den seit 1890 produzierten Tiefspülklosetten im Allgemei- 17 Die Tiefspülklosette beherrnen einheitlich gelöst. Er befin- schen heute den Markt in Europa.

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det sich stets an der rückseitigen Beckenwand genau über jener Stelle, wo die Exkremente auf die Keramik auftreffen. Dadurch wurde die Reinigung der Klosettschüssel deutlich verbessert. Auch in anderer Hinsicht schien ein Tiefspülklosett viel zu bieten. Eine Werbung versprach: „Es hat auch keine vorspringenden Teile, die man mit dem Fuß abtreten und dann als Wurfgeschoss verwenden könnte. Dieses Klosett ist daher für Gebäude geeignet, wo oft eine gewaltsame Behandlung zu erwarten ist, wie z. B. in Gefängnissen, Polizeistationen, Obdachlosenheimen, Krankenhäusern und Schulen. Es ist aber auch für den allgemeinen Gebrauch überall dort geeignet, wo es vor allem auf Einfachheit, Sauberkeit und Robustheit ankommt.“12 Das Absaugklosett (syphonic closet): Beim Absaugklosett wurden das Wasser und der Inhalt des Beckens durch Sogwirkung des Siphons entfernt. Der Prototyp von John Randall Mann (1870) besaß gleich drei Spülleitungen: Das Wasser aus der ersten Leitung speiste den Spülring am oberen Rand des Beckens; die zweite Leitung schickte einen Schub von etwa zwei Litern auf den Grund der Schüssel los, was ein kurzeitiges Überschwappen des Siphons auslöste. Dies bewirkte einen Sog, der alle festen Stoffe aus der Schüssel riss. Die dritte Leitung war zur Nachspülung des Klosetts gedacht. Der größte Nach18 Die Sogwirkung des Siphons teil dieser Konstruktion war der entfernt beim Absaugklosett das hohe Wasserverbrauch. Die AbWasser und der Inhalt des Beckens. saugklosette fanden in den Vereinigten Staaten die größte Verbreitung, wo sie um die Jahrhundertwende noch verbessert wurden. Die genannten WC-Typen wurden durch weitere Erfindungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereichert. So wurde ein Klosett mit Spülung und zusätzlichem Wasserstrahl von unten her konstruiert, das zugleich Klosett und Sitzwaschbecken sein sollte. Dabei konnte heißes und kaltes Wasser aus dem Becken gesprüht werden und den glücklichen Besitzer zur Beendigung seiner Toilette gründlich abwaschen. Ein Nachfahre dieses Konzepts ist das heute unter dem Namen Clos-o-mat bekannte WC.

19 Erdklosett mit Erdkasten. Dosierungsvorrichtung und „Streuegriff“ (links). Unter den Sitz kam ein Kübel zu stehen.

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Ein so genanntes Schiffsklosett funktionierte sogar unterhalb des Wasserspiegels und wurde in einige englische Luxusjachten eingebaut. Es arbeitete im pneumatischen Verfahren und ist damit ein Vorgänger des Vakuumklosett des 20. Jahrhunderts. Bei all den erwähnten Klosetttypen war ein wesentliches Element unabdingbar: Wasser. Die Versorgung mit fließendem Wasser war jedoch ein langwieriger Prozess, auf den wir noch ausführlich eingehen werden. Einen ganz anderen und im Hinblick auf den Umgang mit der Ressource Wasser viel ökologischeren Weg ging das Erdklosett. In seiner einfachsten Form bestand dieses Klosett aus einem schlichten Holzsitz, unter den ein Eimer gestellt wurde. Hinter dem Eimer war ein Behälter, in dem sich feine, trockene Erde, Torfmull, Kohle oder Asche befand. Wenn an einem Griff gezogen wurde, fiel eine Schicht des Streumaterials in den Eimer und bedeckte die Fäkalien, was die Geruchsbildung unterdrückte und die Kompostierung in Gang setzte. In regelmäßigen Abständen musste der Eimer geleert werden. Um 1860 warb der englische Pfarrer Henry Moule nachdrücklich für diesen Klosetttyp. Er hatte ermittelt, dass man zur Umwandlung einer menschlichen Defäkation (125 – 150 g Kot und 250 – 300 g Urin) anderthalb bis zwei Pfund sorgfältig getrocknete Erde brauchte. Man kann rasch ausrechnen, dass sowohl der Bedarf an Streumaterial als auch die Menge des anfallenden Kompostmaterials bei einem solchen Trockenabort auf die Dauer beachtlich waren. Eine vierköpfige Familie, in der jedes Familienmitglied pro Tag nur ein einziges Mal diese Toilette benutzt hätte, würde in einem Monat 120 Kilogramm Streumaterial benötigt haben. Es liegt auf der Hand, dass das Erdklosett in einer Stadt nur als Nischen-

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lösung eingesetzt werden konnte. Eine flächendeckende Einrichtung hätte unweigerlich gewaltige logistische Probleme mit sich gebracht. Arbeitersiedlungen, Sportstadien, Schulen, Armenanstalten und Gefängnisse waren denn auch das bevorzugte Einsatzgebiet dieser Toiletten. Dass man nicht nur in England oder den britischen Kolonien mit dem Erdklosett Geld verdienen konnte, zeigt die Gründung einer Schweizerischen Erdklosett Fabrik in Chur durch Alex Kuoni im Jahr 1886. Seine nach englischen Vorbildern erstellten Erdtoiletten errangen auf internationalen Hygiene-Ausstellungen Spitzenplätze. Zu den wichtigsten Kunden der Bündner Produktionsstätte zählten die Maschinenindustriellen Gebrüder Sulzer in Winterthur, die 50 Fabrikabtritte bauen ließen, alle mit dem Erdsystem betrieben. Heute hat das Erdklosett nur noch in den Siedlungs- und Gartenstadtbewegungen eine gewisse Bedeutung. Nur selten ist es als Alternative zu einem Wasserklosett installiert. Nach dieser Exkursion in die Gefilde der Technik ist noch eine wichtige Frage zu beantworten. Welchen Erfolg hatte Sir John Haringtons Erfindung zu verzeichnen? Wer geglaubt hätte, der Einbau in die königlichen Gemächer würden einen Boom auslösen, sah sich getäuscht. Nur einige vermögende Leute, vor allem Adelige, leisteten sich in England eine wassergespülte Toilette. So gab es für die englische Königin Anne (Königin 1702 – 1714) „einen Ort der Erleichterung, gefertigt aus Marmor und versehen mit einer Waschrinne, die alles wegwusch“. Und 1718 berichtet ein Zeuge von einer „hübschen Maschine“ im Gebäudetrakt eines Adeligen in Surrey, welche „von einem dünnen, fingerdicken Wasserstrahl gereinigt wurde“.13 Auf dem europäischen Kontinent galt die wassergespülte Toilette noch das ganze 18. Jahrhundert hindurch als extravaganter Luxus. So findet sich in einem Inventar des deutschen Kurfürsten Clemens August aus dem Jahr 1761 der ausdrückliche Vermerk, es befände sich im Schloss ein „Nachtstuhl mit Wassermaschine“14. Im Jahr 1774 ließ sich der französische König Ludwig XVI. (1774 – 1792) anlässlich seiner Krönung in Reims eine Toilette mit Wasserspülung nach englischem Vorbild einbauen. Es war die erste ihrer Art in Frankreich. Selbst mit der technischen Weiterentwicklung des Wasserklosetts ließ der durchbrechende Erfolg auf sich warten. Die Ursachen dafür sind einfach zu finden: Die entscheidenden Voraussetzungen waren noch nicht erfüllt. Zu diesen Voraussetzungen gehörten: erstens die Versorgung mit Wasser; zweitens eine Kanalisation oder zumindest

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m 19. Jahrhundert kam in gehobenen Gesellschaftskreisen die Retirade (se retirer heißt im Französischen sich zurückziehen) auf. Dem Zeitgeist gehorchend, wurden diese Toiletten getarnt: Ein Modell um 1850 glich einem Thronsessel mit riesenhafter gepolsterter Rückenlehne, in der sich das Wasserreservoir zum Nachspülen verbarg. Diese feststehenden zug- und geruchlosen Retiraden sollten das mühsame Geschäft des Wasserholens vereinfachen, indem die Wasserbehälter das Spülwasser für mehrere Tage enthielten. Ein kleiner Zeiger informierte den Benutzer, wie oft der Leibstuhl nach der Auffüllung des Reservoirs bereits benützt worden war. Wegen eines geruchslosen Verschlusses konnte dieser Apparat mehrmals hintereinander benutzt werden. Die Retirade war mit ihrem gefüllten Wasserreservoir ein voluminöses Möbelstück, das nur noch mühsam verrückt werden konnte. Die Entwicklung, einen festen Ort mit einer Toilette in der Wohnung einzurichten, war damit vorgezeichnet. Dieser, von den andern Zimmern separierte Raum wurde von Anfang an als „Badezimmer“ bezeichnet.

ein System, mit dem die Fäkalien weggeführt werden konnten; drittens die Akzeptanz der Bevölkerung. Wie wertvoll Wasser in früheren Jahrhunderten war, ist uns heute schwer verständlich. Vor allem in der Stadt war die Beschaffung von Wasser beschwerlich. Wer es sich leisten konnte und sein Wasser nicht selbst aus öffentlichen Brunnen nach Hause schleppen musste, ließ es sich von einem Träger bringen. Das hatte seinen Preis! In Paris kostete ein Kubikmeter etwa drei bis vier Livres, was dem Lohn von mindestens zwei Arbeitstagen entsprach. Unter diesen Umständen scheuten selbst wohlhabende Zeitgenossen den Gebrauch einer wassergespülten Toilette und verrichteten zur Zeit der Revolution (1789) ihre Notdurft lieber auf einer chaise de commodité – einer Art Nachtstuhl. Die Mehrheit verwendete nach wie vor einen einfachen Nachttopf oder suchte einen von meist mehreren Personen benutzten Abtritt auf. Die Entsorgung der Fäkalien folgte meist noch immer nach antikem Muster: Der Inhalt des Nachttopfs wurde gewöhnlich kurzerhand zum Fenster hinausgeschüttet. Die Pariser Stadtbehörde

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Zwitterwesen: die Retirade

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hatte bereits 1371 eine Anordnung erlassen, nach der vorübergehende Passanten mit dem Ausruf garde à l’eau zu warnen waren. Dieser Ausruf wurde zur stehenden Redewendung, in leicht abgewandelter Form sogar in Edinburgh, wo es Sitte war, Gardy-loo! zu schreien, bevor man seinen Nachttopf leerte. Dazu kam in Edinburgh noch eine andere Dienstleistung. In einem Handbuch zur Sanitärtechnik aus dem Jahr 1893 ist zu lesen: „Als der Luxus des WC noch unbekannt war, war es auch Sitte, dass in weite Pellerinen gehüllte Männer in den Straßen Edinburghs auf- und abgingen, große, auf einem Joch hängende Eimer schleppend. Ihre Mäntel waren weit genug, um den Eimer und die Kundschaft zu bedecken. Die Männer riefen: Who wants me for a bawbee [etwa: Wer will mich für ein ,großes Geschäft‘?]?“15 Verbürgt ist das auch für die Hansestadt Hamburg, in der dieser Service noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts angeboten wurde. Viele frühe WC-Konstruktionen zogen diese mühsame und aufwändige Beschaffung des Wassers in Betracht. Deshalb diente der Spülkasten, der mit dem Eimer von Hand nachgefüllt werden musste, hauptsächlich als ein Wasserreservoir. Nicht selten schenkte man jedoch einer wirksamen Spülung aus Überlegungen der Sparsamkeit nicht genügend Aufmerksamkeit. Mit der Einführung der öffentlichen Wasserversorgung stellte sich dann ein anderes Problem: Die Spülkästen ließen ständig Wasser überlaufen. Nicht zuletzt aus der Angst, der wachsenden Nachfrage nicht mehr nachkommen zu können, reagierten in England viele private Wassergesellschaften. Eine Anordnung aus dem Jahr 1823 für die Stadt Manchester hält fest: „Um zu vermeiden, dass Wasser verschwendet wird, hat jeder, der Wasser für Spülungen bezieht, einen richtigen Spülkasten zu besitzen. Der Spülkasten soll ausreichend groß sein. Er ist mit einer Kugel und einem Wasserverschluss an der Rohrzuleitung zu versehen. Damit wird verhindert, dass Wasser weiter in den Spülkasten fließt, wenn er schon gefüllt ist.“16 Wie diese Anordnung zeigt, wurden ein fachmännischer Spülkasten und ein effizienter Wasserverschluss als geeignete Mittel angesehen, den Wasserverbrauch in sinnvollen Grenzen zu halten. Doch dieses Ziel war nicht einfach zu erreichen, wie ein englisches Gesetz aus dem Jahre 1847 ahnen lässt: „Jede Person, die Wasser bezieht und defekte Spülkästen, Rohre, Kugel- oder Stopfventile nicht repariert, sodass das zugelieferte Wasser ständig ausläuft, muss als Strafe eine Summe bis zu fünf Pfund bezahlen.“17 Technische Lö-

„Die Wassermenge, die von verschiedenen Wasserversorgungs-Gesellschaften zugelassen und durch Gesetz des Parlaments (Metropolis Water Act 1871) genehmigt ist, beträgt zwei Gallonen für jede Benutzung der Spülung. Zwei Gallonen, um einen Haufen aus dem WC-Becken durch viele Fuß unterirdischer Rohre und Drainage zu leiten, diese Rohre nachher zu spülen und das Ganze zu säubern! Das ist fast so schwierig, wie Backsteine ohne Stroh zu machen.“18

Nun, diese Aufgabe war zu bewältigen! Auf der Londoner Gesundheitsausstellung von 1884 erhielt eine Toilette eine Goldmedaille, die mit zwei Gallonen (gut neun Liter Wasser) folgenden Inhalt beseitigte: zehn Äpfel, einen flachen Schwamm, eine nicht näher beschriebene Schmiere, die der Installateur dazugab, und vier Stück Papier. In den meisten europäischen Ländern setzte sich eine effiziente Versorgung mit fließendem Wasser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. In Deutschland beispielsweise hatten 1876 schon elf der zwölf Großstädte über 100 000 Einwohner eine zentrale Wasserversorgung, von den 124 Städten zwischen 10 000 und 100 000 freilich erst 61. Zunächst fasste die neue Errungenschaft des WCs in den Städten und in den gutsituierten Haushalten Fuß. Bleiben wir beim Beispiel Deutschland: Schon 1840 wurden in Hamburg die ersten Wasserklosetts und wenig später auch die Schwemmkanalisation eingeführt. Um 1880 verfügte schließlich jeder vierte städtische Haus-

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sungen ließen indessen nicht lange auf sich warten: Ab 1845 war man dank der massenhafter Produktion von technisch ausgereiften Kugelventilen in der Lage, die immer strengeren Richtlinien der Wassergesellschaften zu erfüllen. Zwischen 1870 und 1880 folgte ein neuer Schub technischer Verbesserungen. Die Vorläufer der uns heute noch bekannten Spülkastenventile wurden entwickelt. 1892 produzierte man schließlich auch den Siphon-Spülkasten, bei dem der Spülvorgang sich mehrfach unterbrechen ließ. Wassergesellschaften griffen nicht selten zu drastischen Maßnahmen, um den Wasserverbrauch einzuschränken. Einige drehten über Nacht den Wasserhahn ab, andere begrenzten den Service auf ein paar Stunden am Tag oder stoppten die Lieferung an ihre Kunden, deren Verbrauch als unverhältnismäßig angesehen wurde. Lautstarke Proteste seitens der Verbraucher und Sanitärfachleute konnten nicht ausbleiben. Der englische Sanitärfachmann Stevens Hellyer brachte das Dilemma auf den Punkt:

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halt in Deutschland über eine Toilette mit Wasserspülung. Die Folge war ein gewaltiger Anstieg des Wasserverbrauchs. In Hamburg, wo der Lieferpreis des Wassers nach der Zahl der Zimmerräume berechnet wurde, verbrauchte 1884 eine Person pro Kopf und Tag 240 Liter. In diese Zahl eingeschlossen sind neben der Toilette der Verbrauch für Küche und Bad (zum Vergleich: Im Jahr 2002 wurde rund ein Drittel des Wasserverbrauchs eines Haushalts allein für die Spülung der Toilette verbraucht – für die Schweiz 162 Liter pro Person und Tag). Als zweite Voraussetzung haben wir die Kanalisation genannt. Ihrem Siegeszug ist ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe S. 114 ff.). Hier sei noch kurz auf die wachsende Akzeptanz des WC eingegangen. Eine Vielzahl von Faktoren haben dabei eine Rolle gespielt. Sicherlich waren der technische Fortschritt, die Geruchsbeseitigung, die effiziente Spültechnik oder die niedrigeren Kosten von Bedeutung. Doch viel wichtiger war das zunehmende Bewusstsein der Hygiene, das sich angesichts der Choleraepidemien, die Europa im 19. Jahrhundert immer wieder heimsuchten, ausbildete. So wurde in England unter dem Eindruck der vielen Todesopfer durch die Cholera 1848 das erste Gesundheitsgesetz, der Public Health Act erlassen. „Eine ihrer vielen Klauseln machte es für alle neuen Londoner Häuser verpflichtend, mit WC, ‚Häuschen‘ oder ‚Aschengraben‘ ausgerüstet zu sein.“19 Im Jahr 1875 folgte eine Reihe von Gesetzen, welche die Einrichtung von sanitären Anlagen in allen Neubauten in ganz Großbritannien zur Pflicht machte. Obwohl auch jetzt noch Trockenklosette oder Abortgruben mit Aschengraben toleriert wurden, war der Siegeszug der Toilette mit Wasserspülung in Haringtons Heimat eingeläutet. Diesem Trend folgten auch die anderen Staaten Europas und die Vereinigten Staaten. Die bürgerlichen Schichten waren im 19. Jahrhundert die gesellschaftlich treibende Kraft. Viele Historiker bezeichnen deshalb diese Epoche als das „bürgerliche Zeitalter“. Auch im Hinblick auf die Geschichte des stillen Örtchens zeigt sich dies, denn es war in den bürgerlichen Kreisen, in denen sich das hygienische Bewusstsein zuerst Bahn brach und das WC immer häufiger benutzt wurde. Beispielhaft zeigt sich diese Vorreiterrolle des Bürgertums im Hinblick auf die konservative Haltung gegenüber der neuen Technik auf dem Land. Hier war die Nachfrage nach der wassergespülten Toilette äußerst gering. Viele Bauernhöfe verfügten über keine Wasserversorgung im Haus. Das Wasser musste vom Brunnen oder der Pumpe ge-

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n der Schwelle zur Neuzeit regte sich an der traditionellen Wickelmethode Kritik. Dabei wurde eine Ganzkörperwindel verwendet, die mehrere Meter gemessen haben muss. Erst um 1850 ersetzte man diese luftdichten „Ganzkörperkorsetts“ durch weichere, luftigere Baumwoll- und Leinentücher, welche die Mutter um den Babypopo wickelte. Jetzt bürgerte sich auch das Wort „windelweich“ ein. Eine Perfektion in der Kunst des Wickelns erfolgte 1880 mit der Erfindung der Sicherheitsnadel und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Fortschritten in der chemischen Industrie. Neue Waschmittel erleichterten die Reinigung der Stoffwindeln, weckten aber gleichzeitig neue Bedürfnisse. Weil das Waschen der Windeln leichter fiel, wurde erwartet, dass man die Windeln häufiger wechselte. Zu eigentlich revolutionären Neuerungen kam es dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die beiden Weltkriege hatte gewaltige Fortschritte in der Verbandstoffherstellung gebracht. 1956 brachte der Amerikaner Vic Mills die erste Wegwerfwindel auf den Markt. In Anlehnung an die Herstellung von Wundverbänden kreierte er wegwerfbare Höschenwindeln, die er mit einem eingelegten Saugkissen aus hochgereinigter Zellulose ausstattete. Weil der Preis dieser ersten Windeln sehr hoch war, wurden die Wegwerfwindeln kein kommerzieller Erfolg. Doch fünf Jahre später kam eine billigere Variante auf den Markt, die für mittelständische Familien erschwinglich war. Rasch stiegen die Verkaufszahlen und bald benutzt man wie selbstverständlich den Markennamen Pampers als Sammelbezeichnung für Wegwerfwindeln. Die Wegwerfwindeln erschienen hygienischer und erwiesen sich als praktischer – insbesondere auf Reisen –, was wesentlich zum Erfolg beitrug. Die Wegwerfwindel war ein locus mobilis – ein Kloersatz für das Kleinkind. Heute ist die Wegwerfwindel nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken und Zeichen einer Konsumgesellschaft, die einmal Gebrauchtes bedenkenlos in den Abfall wirft.

holt werden. „Viele Familien verrichteten ihre Notdurft ohne Scheu auf dem gemeinsamen Mist oder im Scheunengang“20, heißt es noch 1895 über den an sich von ländlicher Wohlhabenheit geprägten Regierungsbezirk Magdeburg.

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Häuslich: Der Bürger auf dem Thron

Lokus mobilis: Windeln in der Neuzeit

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Öffentlich: edürfnisanstalten in europäischen Städten

„Ihre Sauberkeit ist derart, dass man sie in den meisten Privathäusern vergeblich suchen würde; daher werden sie von vielen benützt, gegen eine Gebühr von 15 centimes oder 3 sous, die man beim Verlassen entrichtet.“21 Mit diesen Worten beschreibt ein Reiseführer im Jahr 1820 den Komfort der gerade einmal acht öffentlichen Bedürfnisanstalten in der französischen Hauptstadt. Angesichts der Tatsache, dass Rom schon in der Antike über 144 luxuriöse öffentliche Toiletten verfügte, nimmt sich diese Zahl eher bescheiden aus. Dabei war der Gebrauch von öffentlichen Bedürfnisanstalten nicht in Vergessenheit geraten. In den meisten mittelalterlichen Städten hatte es öffentliche Aborte gegeben – meist in der Nähe eines Stadttores oder einer Brücke. Allerdings lassen sich stichhaltige Belege dafür erst im Spätmittelalter erbringen: Frankfurt kannte 1348, London 1383 öffentliche Bedürfnisanstalten; im Jahr 1455 sind sie in Basel und 1524 in Zürich nachweisbar; etwa um die gleiche Zeit wurden in Braunschweig an verschiedenen Orten „Pisskammern“ angelegt. Aber erst als man gegen Ende des 19. Jahrhunderts der öffentlichen Hygiene immer mehr Aufmerksamkeit schenkte und eine zentrale Wasserversorgung mit Kanalisation erbaute, stieg die Zahl der öffentlichen Toiletten drastisch an. Wie fassten die öffentlichen Bedürfnisanstalten in der Heimat der wassergespülten Toilette wieder Fuß? Es war die erste Weltausstellung im Jahr 1851, die in London eine neue Ära einläutete. Im eigens für die Ausstellung errichteten Kristallpalast, einer riesigen Kuppelhalle aus Glas und Eisen, erwartete die Zuschauer eine Exklusivität: Neben der Zurschaustellung von modernster Technik – der Nähmaschine, dem Colt Revolver, dem elektrischen Telegrafen, der Daguerreotypie und vielem mehr – gab es auch öffentliche Toiletten. Man führte genau Buch, wie viele Personen die Einrichtung in Anspruch nahmen. 827 280 Personen oder 14 Prozent der Besucher und Besucherinnen benutzten die wassergespülten Toilettenanlagen. Nach der Ausstellung wurde der Kristallpalast demontiert und im Süden Londons, in Sydenham, wieder aufgebaut. Nur gegen Widerstand konnte jedoch der Einbau von öffentlichen Toiletten an den neuen Örtlichkeiten durchgesetzt werden. Zuvor war George Jennings, der im alten Kristallpalast den Einbau von Toiletten erwirkt

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20 Bei dieser öffentlichen Toilette aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts handelt es sich um ein Holzhäuschen, in dem sich drei abgetrennte Toiletten befinden. Bei der linken und rechten Toilette kann man mehrsitzige Plumpsklos erkennen. hatte, gewarnt worden, dass „niemand nach Sydenham kommen würde, um sich die Hände zu waschen“ – sprich die Toiletten zu benutzen. In Bezug auf die natürlichen Bedürfnisse waren solche Umschreibungen keine Seltenheit. Die Ausstellung fand im Viktorianischen Zeitalter statt; in einer Zeit, in der Frauenunterhosen verschämt als die „Unaussprechlichen“ bezeichnet wurden. „Es galt als unschicklich, das zu bezeichnen, woran sie erinnerte, war es doch verpönt, Schenkel und Beine in voller Länge zu zeigen. Die viktorianische Prüderie ging so weit, selbst Tisch- und Stuhlbeine zu umhäkeln.“22 Zum Glück setzte sich Jennings durch und seine Toiletten wurden rege gebraucht. Pro Jahr wurden in London mit seinen öffentlichen

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Toiletten rund 1000 Pfund eingenommen. Angespornt durch diesen Erfolg suchte Jennings 1858 auch an anderen Orten öffentliche Toiletten – er nennt sie Halting Stations – errichten zu lassen.

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„Ich bin überzeugt, dass der Tag kommen wird, wenn öffentliche Toiletten (Halting Stations) reichlich mit allen nur möglichen Annehmlichkeiten ausgestattet sind und sich an allen Orten, wo viele Menschen zusammen kommen, erbaut werden. Man stelle sich eine solche perfekte Toilette vor, mit einem respektablen Aufseher, welcher unter Androhung seiner Entlassung jeden Toilettensitz nach dessen Benutzung mit einem feuchten Ledertuch reinigen muss. Der nämliche Aufseher muss jedem Benutzer ein sauberes Handtuch reichen oder Kamm und Bürste denen, die dies brauchen.“ 23

Seinen Überlegungen zufolge sollten diese öffentlichen Anstalten unterirdisch erbaut werden. An den Wänden sollten Eisenbahnfahrpläne und Preislisten von Kutschen die Benutzer informieren. Jennings Idee der öffentlichen Toiletten wurde schließlich nicht Punkt für Punkt umgesetzt. Doch der Siegeszug der öffentlichen Toilettenanlagen ließ sich nicht aufhalten. Nicht nur in London, sondern auch in anderen europäischen Städten begann sich die Zahl der öffentlichen Bedürfnisanstalten zu erhöhen. Eine geraffte Statistik vermittelt folgendes Bild. Berlin: Im Jahre 1824 wird in der Nähe der Nicolaikirche die erste öffentliche Bedürfnisanstalt, und zwar als „einständige Stehanstalt“, errichtet. 1882 gibt es 85 öffentliche Bedürfnisanstalten. München: Um 1900 sind 23 Vollanstalten und 21 Pissoirs in Betrieb. Zürich: 1893 zählt man 18 Pissoirs mit 60 Ständen. Eine Ausnahmeerscheinung sind Hamburg und Paris. In Hamburg gab es am 1. Januar 1914 an geeigneten Plätzen über das ganze Stadtgebiet verteilt insgesamt 271 Bedürfnisanstalten mit 1 082 Pissoirständen, 402 Abortsitzen für Männer und 287 für Frauen. Einen einsamen Rekord hielt Paris: Es besaß zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 4000 Pissoirs, die legendären vespasiennes. Die Einrichtung von öffentlichen Toiletten löste in der Bevölkerung oftmals heftigen Widerstand aus. Die hauptsächlichen Kritikpunkte waren die angeblich hohen Kosten, die außerordentliche Geruchsbelästigung und die Angst vor unsittlichen Einflüssen. Besonders heftig wurde in Köln um die Einrichtung öffentlicher Bedürfnisanstalten gestritten:

Tatsächlich war in Köln das männliche Geschlecht privilegiert: 1898 gab es für die gesamte weibliche Bevölkerung Kölns gerade einmal vier öffentliche Klosette. Ein ähnliches Bild bot sich in anderen Städten: In Berlin errichtete man 1874 die erste Anstalt für Frauen im Berliner Rathaus und in Zürich 1893. Die Geruchsbelästigung, die von den öffentlichen Bedürfnisanstalten ausging, war in der fehlenden Wasserversorgung zu suchen. Man war gezwungen, Trockenpissoirs zu verwenden, die meist nur aus einer mit Metall beschlagenen Holzrinne bestanden, durch die

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„Ende 1856 wurde nach mehrjährigen Verhandlungen der städtischen Verwaltung und der Polizeidirektion das erste öffentliche Pissoir auf dem Waidmarkt eröffnet: eine einfache Brettrinne mit Gefälle an einer Holzwand. Als im folgenden Jahre der Stadtbaumeister Raschdorf 24 Pissoirs aus Gusseisen mit Lackanstrich bestellte, erhielt er für seinen Übereifer, den er durch die Bestellung einer so großen Zahl von Pissoirs bewiesen hatte, einen Verweis vom Oberbürgermeisteramt. Der voreilige Beamte hatte auch die Stadt durch seinen Übereifer in die riesige Ausgabe von circa 800 Thalern gestürzt. 1860 gab es 59 öffentliche einständige Pissoirs ohne Schirmwände. Die Feindschaft gegen dieselben hatte sich im Laufe der Jahre eher gesteigert, als vermindert. Man machte ihnen nicht ganz mit Unrecht Verletzung des Schamgefühles, Verunreinigung der Winkel und Häuser usw. zum Vorwurfe. Da Köln damals noch ohne Wasserleitung war, die Stände also auch keine Wasserspülung hatten, der Urin vielmehr in Behältern aufgefangen wurde, so wurden viele Pissoirs schnell zu Stellen übler Ausdünstung und Verunreinigung des Bodens. Diese bösen Begleiterscheinungen der Pissoirs benützte das Oberbürgermeisteramt zur Begründung seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Errichtung weiterer Pissoirs. Außerdem begründete es dieselbe noch auf eine viel genialere Art und Weise: Übrigens wären viele Pissoirs in einer Stadt eher als ein Übelstand zu betrachten; sie privilegierten das Männergeschlecht in der Gleichgültigkeit, sein Bedürfnis zu befriedigen, wo es immer sei, während es ebenso gut wie die Frauen in sittsamer Weise im Hause dafür sorgen könne. Hier namentlich verdiene der Unfug, sich überall zur Verrichtung der Notdurft hinzustellen, eines verschärften Entgegentretens, weil insbesondere die Wirtshausbesucher die Straße mitbenützten, gleichviel ob ein Pissoir in der Nähe sei oder nicht.“24

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Benutzungsordnung einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in München (1900)

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as Publikum ist verpflichtet: 1. sich in den öffentlichen Bedürfnisanstalten anständig und bescheiden zu benehmen. 2. Es ist verboten, die Zellen zu verunreinigen, die Wände zu beschmieren und sich auf die Abortsitze zu stellen. 3. Die Gebühr für Benützung der Anstalt beträgt bei Inanspruchnahme der 1. Klasse 10 Pfennig, 2. Klasse 5 Pfennig und wird vor Eintritt in die Zelle erhoben. 4. Bei Inanspruchnahme der 1. Klasse ist der volle Betrag von 10 Pfennig auch dann zu bezahlen, wenn die Waschtoilette nicht benützt wurde. 5. Die Zellentüre ist während der ganzen Dauer der Benützung geschlossen zu halten. Die Eintrittsgebühr wird so oft erhoben, als die Zellentür geschlossen wird. 6. Den Anordnungen der Wärterin ist Folge zu leisten.25

der Urin in eine Tonne oder Grube geleitet wurde. Als Weiterentwicklung benutzte man so genannte Ölpissoirs, bei denen die vom Urin berührten Flächen mit einer imprägnierenden Ölfarbe bestrichen waren, was einen rascheren Abfluss des Urins zur Folge hatte. Der Zürcher Fritz Ernst, der sich das Patent auf diese Erfindung für die Schweiz kaufte, entwickelte weitere effiziente und kostengünstige Verbesserungen: Anstelle des Ölanstrichs nahm er wasserabstoßende, halbrunde Pissoirplatten aus künstlichem Material (er nannte das Material „Teerolith“). Mit seinen Pissoirs machte er ein Millionenvermögen. Nach Regelung der Wasserversorgung bürgerten sich schließlich Pissoirs mit Wasserspülung ein. Für öffentliche Abortanlagen in Ortschaften ohne zentrale Wasserversorgung und Kanalisation verwendete man wie in Privathäusern zunächst Grubenaborte, Kübelaborte, Erd-, Torfstreu oder Ascheklosette. Als unschicklich und rückständig wurden mehrsitzige Aborte empfunden. Im Vorfeld des Schweizer Sonderbundkriegs (1847) – des letzten Bürgerkriegs in der Schweizer Geschichte – verspottete man die Katholiken, weil sie noch immer mehrsitzige Aborte benutzten.

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21 Im Vorfeld des Schweizer Sonderbundkriegs von 1847 wurde die Rückständigkeit der Katholiken wegen der Benutzung von mehrsitzigen Toiletten als bewiesen angesehen. Sittlich oder unsittlich – moralisch oder unmoralisch? Welcher Kategorie waren die öffentlichen Bedürfnisanstalten zuzuordnen? Der Geschäftsführer einer französischen Plakatgesellschaft bemerkte im vollen Ernst: „Die Anschläge, die sich an den Pissoirsäulen befinden, dürfen von keiner Frau gelesen werden, selbst wenn sie am Arm ihres Gatten ist.“26 Viele öffentliche Bedürfnisanstalten galten zudem als Stätten der Prostitution und der Kriminalität und wurden bei einbrechender Dunkelheit gar nicht mehr aufgesucht. Die Einführung der öffentlichen Toiletten symbolisiert einen weiteren Schritt in der „Privatisierung“ der Notdurft. Die Bemühungen der Behörden gingen dahin, den Leuten das Urinieren und Defäzieren in der Öffentlichkeit abzugewöhnen. „Wer auf Straßen, Plätzen oder Promenaden der Stadt an anderen als den dazu bestimmten Orten die Notdurft verrichtet, wird polizeilich bestraft“, brachte es eine polizeiliche Verordnung auf den Punkt.27 Ehemals tolerierte Verhaltensweisen galten jetzt als unanständig und wurden gesellschaftlich geächtet.

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Pinkeln verboten!

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ffentliche Toiletten sind heute eine Selbstverständlichkeit. Man vergisst, dass es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen europäischen Städten nicht ungewöhnlich war, sich in aller Öffentlichkeit zu erleichtern. Davon zeugen noch zur Jahrhundertwende aufgenommene Fotografien, auf denen Männer und Knaben in eindeutiger Körperhaltung zu sehen sind. Der Hosenschlitz – auch er hat seine Geschichte – machte das kleine Geschäft zur einfachen Sache. Bei den Frauen ließ speziell angefertigte Unterwäsche das Urinieren im Freien, stehend, im langen Kleid zu. Noch in dem 1918 erschienenen Oeuvre Die tüchtige Hausfrau sind derartige, zweiteilige, „offene“ Unterhosen mit Schnittmuster abgebildet. Im Zuge der hygienischen Bewegung und im Zusammenhang mit der Verschiebung der Schamgrenze war das Pinkeln in der Öffentlichkeit jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr länger toleriert und gar gesetzlich verboten. Schon früher ging man im Herrschaftsgebiet der österreichischen Kaiserin Maria Theresia (1717 – 1780) dagegen vor. Eine Sittenpolizei, die so genannte „Keuschheits-Kommission“, wurde hier 1751 ins Leben gerufen. Giacomo Casanova, der sich 1754 in Wien aufhielt, weiß davon eine Geschichte zu erzählen: „Es war schwer, selbst ganz natürliche Bedürfnisse zu befriedigen. Ich war überrascht, als ich eines Tages in einem Gässchen an der Mauer stand, von einem Strolch in runder Perücke angefahren zu werden, der mir sagt, ich sollte mich anderswohin scheren, sonst würde er mich verhaften lassen. ‚Und warum bitte?‘ ‚Weil da links von Ihnen eine Frau ist, die Sie sehen kann.‘ Ich blickte auf und sah im vierten Stock den Kopf einer Frau, die mit einem Fernrohr wohl hätte unterscheiden können, ob ich Christ oder Jude war. Lachend kam ich dem Befehl nach. Ich erzählte mein Erlebnis überall, aber kein Mensch wunderte sich darüber, denn so etwas kam jeden Tag hundertmal vor.“28

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Mobil: n)annehmlichkeiten für Reisende

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Mobilität des Menschen ein Ausmaß erreicht wie nie zuvor in der Geschichte. Die Benutzung des Autos, des Zugs oder des Flugzeugs ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden; die Distanzen sind geschrumpft: Noch im 19. Jahr-

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Die Bestrebungen, die Stadtbewohner zu „gesitteten“ Bürgern zu erziehen und zur Benützung von öffentlichen Bedürfnisanstalten zu zwingen, hatten auch einen Einfluss auf die Körperhaltung beim Defäzieren. Stadtzuzügler aus ländlichen Gebieten waren es gewöhnt gewesen, ihre Notdurft stehend oder kauernd zu verrichten. Im Stall, auf dem Hof oder auf dem Feld war dies die sinnvollste Weise gewesen. Dieser Gewohnheit blieben sie treu: Sie setzten sich nämlich beim Defäzieren nicht auf das Sitzbrett der Toilette, sondern kletterten darauf und erleichterten sich stehend in die Klosettschüssel. Das 1883 in Deutschland erstmals erschienene Handbuch der Architektur schlug auf mehr als einer Seite Maßnahmen vor, wie diesem Übel abzuhelfen sei. „Man bringt über dem Abortsitz einen waagrechten Balken in solcher Höhe (etwa 80 Zentimeter über dem Sitzbrett) und in solchem Abstande von der Rückwand an, dass ein Stehen unmöglich und die sitzende Stellung zur Notwendigkeit gemacht wird.“29 Am wirksamsten erwies sich jedoch der Verzicht auf den Sitzabort und der Wechsel zum so genannten Hockabort: „In derartigen Aborten (à la turque) ist meist nur ein erhöhter steinerner Tritt mit Brillenloch vorhanden; um das Verunreinigen der Füße zu verhüten, werden vorspringende Trittspuren angeordnet. Diese Einrichtung wird auch in Gusseisen ausgeführt.“30 Kaum hatte man die Männer übrigens dazu erzogen, sich hinzusetzen, als man dem übermäßigen Sitzenbleiben mit teilweise drakonischen Methoden einen Riegel vorzuschieben suchte. Fabrikbesitzern gab man den Ratschlag, scharfkantige Leisten auf das Abtrittbrett nageln zu lassen, um die Arbeiter zu kurzem Verweilen zu zwingen! Oder man ging einfach dazu über, den Toilettenraum regelmäßig zu lüften. Dabei strich ein „heißer Dampfstrahl aus der in der Nähe befindlichen Dampfmaschine unter den Abortsitzen entlang“.31

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hundert bewegte sich die Mehrheit der Menschen auf Reisen zu Fuß und konnte pro Tag 30 bis 40 Kilometer zurücklegen. Zu Pferd war man in der Lage, eine Entfernung von 50 bis 60 Kilometern pro Tag zurückzulegen. Die Eisenbahn revolutionierte all dies: „Fünfzig Meilen in vier Stunden. Nichts kann eine zureichende Vorstellung von der blitzartigen Geschwindigkeit geben, mit der – wie in einem Märchen – dieses überwältigende Panorama vorüberzieht.“32 Mit diesen Worten kommentierte Jules Michelet (1798 – 1874) seine Eisenbahnreise von London nach Manchester. Wenn diese Begeisterung bei uns ein Schmunzeln auslöst, zeigt nichts deutlicher als dies, dass man etwas pointiert behaupten kann, der heutige Mensch sei zum homo mobilis geworden. Diese gewaltig gesteigerte Mobilität musste auch Auswirkungen auf die sanitären Einrichtungen haben. So erforderte ein bequemes Reisen in der Eisenbahn insbesondere bei längeren Reisen den Einbau eines Klosetts, während man bei der Kutsche auf eine eingebaute Toilette verzichtete – und dies übrigens auch heute noch beim Auto (Ausnahme: der Reisebus) tut. Wie sah diese Entwicklung im Einzelnen aus? Dieser Frage gehen wir bei zwei Transportmitteln nach: dem Schiff und der Eisenbahn. Die Auswahl scheint aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens verlangt die schwierige Quellenlage eine klare Einschränkung; zweitens liegt der Akzent damit auf den Transportmitteln, mit denen der Mensch lange Zeit unterwegs war und keinen Zwischenhalt zur Erledigung der natürlichen Bedürfnisse einlegen wollte oder konnte – die Toilette damit im eigentlichen Sinn zu einem locus mobilis wurde. Bei den Schiffen steht die Hochseeschifffahrt von der Entdeckung der Neuen Welt bis zur Passagierschiffahrt auf Luxusdampfern gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Vordergrund. Dieser Überblick im Zeitraffer über mehrere Jahrhunderte Seefahrtsgeschichte verdeutlicht, in welch kleinen Schritten die Hygiene auf Schiffen ein Allgemeinplatz wurde. Im Jahr 1842 machte Charles Dickens (1812 – 1870), einer der meistgelesenen Erzähler seiner Zeit, eine Reise nach Amerika. Er wählte die damals bequemste und teuerste Reisemöglichkeit: Er buchte für sich und seine Ehefrau Kate auf dem Raddampfer Britannia, einem neuen, aber mit 1156 Tonnen für spätere Verhältnisse kleinen Schiff, eine Kabine. Voller Humor beschreibt er in seinen Aufzeichnungen aus Amerika die ersten Eindrücke, die seine Kajüte auf ihn machte.

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„Nie vergesse ich das einviertel ernste und dreiviertel komische Erstaunen, mit dem ich am Morgen des dritten Januar achtzehnhundertzweiundvierzig den Kopf durch die Türe eines Staatszimmers an Bord der Britannia steckte, eines Dampfpaketbootes von zwölfhundert Registertonnen, das Ihrer Majestät Post bef örderte und nach Halifax und Boston bestimmt war. Dass dieses Prunk- und Staatsgemach ausdrücklich für Charles Dickens, Esquire, nebst Gemahlin gemietet worden, wurde in diesem Augenblick selbst meinem verblüfften Verstande hinlänglich klar durch ein gar kleines Zettelchen, welches auf einem gar flachen Polsterchen über einer gar dünnen Matratze steckte, die gleich einem Wundpflaster über ein höchst unnahbares Kojengesims gelegt war. Also dies sollte das Staatsgemach sein, über welches Charles Dickens, Esquire, und dessen Frau Gemahlin wenigstens vier Monate lang vorher miteinander Tag und Nacht verhandelt hatten: dies konnte wirklich jenes kleine, trauliche Zimmer sein, von dem Charles Dickens, da der prophetische Geist über ihn kam, stets vorausgesagt hatte, es werde wenigstens ein kleines Sofa enthalten, und von dem Frau Dickens zwar bescheidene, aber doch so großartige Begriffe hatte, dass sie anfangs meinte, es würden sich nicht mehr als zwei sehr große Mantelsäcke in einer versteckten Ecke unterbringen lassen (Mantelsäcke, die sich jetzt ebenso leicht durch die Tür zwängen ließen wie ein Kamel durch ein Nadelöhr oder eine Giraffe in einen Blumentopf ): und dieses völlig unerträgliche, ganz trostlose, unselige Loch sollte die entfernteste Ähnlichkeit, Verwandtschaft oder Verbindung mit jenen zierlichen, sauberen, ja sogar prächtigen kleinen Gemächern haben, die eine Meisterhand auf den gleißenden lithographierten Plan hingezaubert hatte, der in dem Kontor des Schiffsagenten in der Londoner City hing? Kurz, dieses Staatsgemach sollte nicht bloß eine hübsche Erdichtung, ein launiger Scherz des Kapitäns sein, erfunden, um die Freude an dem wirklichen, sogleich mit eleganten Flügeltüren aufgehenden Staatsgemach desto mehr zu erhöhen? Es wollte mir nicht in den Kopf, und doch war es so, es war die lautere, nackte Wahrheit. Und ich setzte mich nieder auf eine Art von roßhaarenem Polstersitz – es waren zwei solche Sitze vorhanden – und sah, mit völlig nichtssagender Miene, wie ich selbst fühlte, einige Freunde an, die mit uns an Bord gekommen waren und ihre Gesichter auf jede mögliche Weise zusammenfalteten, um sie durch die kleine, schmale Türe zu bringen.“33

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Gab es in dieser winzigen Kabine denn auch eine Toilette mit Wasserspülung? Mitnichten! Dafür waren die Voraussetzungen überhaupt nicht gegeben: Weder war das Platzangebot an Bord der Britannia für den Einbau von Toiletten in den Passagierkabinen ausreichend, noch gab es fließendes Wasser. Bloß ein „kleiner Waschplatz“ mit Waschschüssel und Waschkrug war vorhanden. Der obligate Nachttopf wurde nicht mit einem Wort erwähnt. Knapp 50 Jahre später zeigte sich ein völlig verändertes Bild. Am 22. Januar 1891 lichtete der Schnelldampfer August Victoria zur großen „Orient-Excursion“ die Anker. Es war die erste Luxuskreuzfahrt in der Geschichte der Passagierschifffahrt. Die rasanten Fortschritte in der Schiffbautechnik hatten die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Seereisen nicht mehr als beschwerlich gelten mussten und eine Vergnügungsreise auf See überhaupt denkbar war. Europäische und amerikanische Reedereien begannen um die Gunst eines kaufkräftigen Publikums zu buhlen, das sich die Reise an Bord eines luxuriösen Schnelldampfers leisten konnte. Man bot diesen betuchten Passagieren praktisch alles, was Geld kaufen konnte. Der Komfort, den die modernen Kreuzfahrtschiffe in Kabinen, Salons und Speisesälen bot, orientierte sich dabei am Standard zeitgenössischer Luxushotels. Selbstverständlich schloss dies nun auch eine Toilette mit fließendem Wasser ein. Gerne verwendete man dabei ein Klosettbecken, das an der Wand befestigt wurde. Wie beachtlich dieser Komfortgewinn auf See war, verdeutlicht der folgende, außergewöhnliche Bericht. Der Dominikanermönch Felix Faber aus Ulm reiste 1480 und 1483 auf einer Galeere ins Heilige Land. Die lange Seefahrt auf der Galeere und die damit verbundenen Schwierigkeiten eines Gangs zur Toilette schilderte er wie folgt: „Wie der Dichter sagt: Ein dringendes Bedürfnis ist eine unerträgliche Last [,ut dicitur metrice: maturum stercus est importabile pondus‘]. Einige Worte über die Art, sich an Bord zu erleichtern. Jeder Pilger hat neben seinem Bett ein Urinal – ein Gefäß aus Terrakotta, eine kleine Flasche –, in das er uriniert und sich erbricht. Da aber die Unterkünfte bei der Fülle der Menschen sehr beengt und außerdem dunkel sind und da ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, kommt es selten vor, dass diese Gefäße nicht schon vor Abend umgestoßen werden. Ja, mit schöner Regelmäßigkeit stößt irgendein Tölpel, getrieben von einem dringenden Bedürfnis, das ihn

Felix Faber berichtet von Abtritten, die zu beiden Seiten des Schiffsschnabels im Bug eingerichtet waren. Bekannt ist, dass einige größere Schiffe gegen Ende des 16. Jahrhunderts am Heck oder Hinterdeck Galerien eingerichtet hatten, die wohl in erster Linie von den Offizieren benutzt wurden. Daneben gab es offene Behälter, in die man sich erleichtern konnte. Benutzt wurden diese Latrinen bei schlechtem

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aufstört, im Vorübergehen fünf oder sechs dieser Gefäße um und hinterlässt einen unerträglichen Gestank. Wenn die Pilger morgens aufstehen und ihre Bäuche um Entladung bitten, erklettern sie die Brücke und streben zum Bug, wo zu beiden Seiten des Schiffsschnabels Abtritte eingerichtet sind. Manchmal warten dreizehn Leute oder mehr darauf, einen Sitz zu bekommen, und wenn einer zu lange braucht, herrscht nicht Verlegenheit, sondern eher Zorn [,nec est ibi verecundia sed potius iracundia‘] … Nachts ist es ein schwieriges Geschäft, zu den Latrinen vorzudringen, weil auf den Decks der Galeere zahllose Menschen liegen und schlafen. Jeder, der dort hin will, muss über mehr als vierzig Menschen steigen und sie dabei notgedrungen stoßen; bei jedem Schritt läuft er Gefahr, einen Mitpilger zu treten oder auf einen Schlafenden zu fallen. Wenn er auf seinem Weg jemanden anrempelt, fliegen Flüche hin und her. Wer weder Angst noch Schwindel kennt, kann sich an der Außenwand des Schiffes von Tau zu Tau hangeln, was ich selber trotz der Gefahr oft getan habe. Man kann auch aus einer Ruderluke steigen und sich rittlings von Ruder zu Ruder vorarbeiten. Das ist aber nichts für Hasenfüße, und die Seeleute sehen es auch nicht gern. Aber wirklich ernsthaft werden die Schwierigkeiten bei schlechtem Wetter, wenn die Aborte ständig von Wellen überspült werden und man die Ruder einholt und auf die Bänke legt. Will man also mitten in einem Sturm auf den Abort, läuft man Gefahr, von Kopf bis Fuß durchnässt zu werden, weshalb viele sich vorher ihrer Kleider entledigen und splitterfasernackt nach vorn gehen. Hierbei hat das Schamgefühl [,verecundia‘] viel zu leiden, was nur die Schamteile [,verecunda‘] um so mehr erregt. Wer sich nicht so sehen lassen möchte, hockt sich an irgendeiner anderen Stelle hin, die er verunreinigt, was die Wut reizt und zu Schlägereien führt, wobei sich sogar ehrbare Leute vergessen. Manche entleeren sich gar in ihre Bettflasche, was abscheulich ist und die Nachbarn vergiftet und nur bei Schwerkranken geduldet werden kann, denen man daraus keinen Vorwurf machen darf.“34

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Wetter nicht gerne. Davon erzählen Reiseberichte aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Neugierige Leser stellen sich vielleicht die Frage, über welchen Sanitärkomfort der wohl berühmteste Entdecker, Christoph Kolumbus (1451 – 1506), auf seinem Schiff verfügte. Zwar war Kolumbus einer der ersten Entdecker, der derart lange auf offener See segelte, aber die menschliche Notdurft war das geringste seiner Probleme. Er widmet dem Thema in seinen Bordbüchern keine einzige Zeile. Auch waren die drei Schiffe, über die Kolumbus verfügte, denkbar klein. Immerhin verfügte der Kapitän über eine eigene Kajüte, während es für die Mannschaft nicht einmal einen Schlafraum gab. Man legte sich dort zum Schlafen, wo sich eine geeignete Stelle fand; bei schönem Wetter auch an Deck. Die am meisten umkämpfte Schlafstätte war hier der Bereich der Schiffsluke, im Zentrum des Schiffes. Es war die einzige ebene und deshalb äußerst begehrte Fläche. Ansonsten war das Deck gewölbt, damit das Wasser abfließen konnte. Die Schlussfolgerung liegt nahe – Baupläne über die kleine Flotte des Kolumbus existieren nicht –, dass sich Kapitän und Mannschaft in Bug oder Heck erleichterten, so wie es Felix Faber geschildert hat. An dieser primitiven Art der Erleichterung dürfte sich lange Zeit nichts geändert haben. Hinzu kam, dass man diese offenen Aborte nachts, bei schwerer See und wohl auch bei Unwohlsein nur sehr ungern aufsuchte und sich lieber in einen Behälter erleichterte. In solchen Fällen schüttete man die Exkremente oft in die „Bilge“. Unter Bilge verstand man bei den aus Holz gebauten Segelschiffen den untersten Schiffsboden, in dem sich das Leckwasser, die „Grund-Suppe“, ansammelte. „Das Schiffsvolck freuet sich“, heißt es in einem zeitgenössischen Lexikon, „wenn die Grund-Suppe brav stincket, denn es ist ein Zeichen, dass das Schiff wenig leck sey.“35 Mit der Bilge schuf man im Innern des Schiffes eine übelriechende und gefährliche Brutstätte für krankheitserregende Darmkeime, die oft zum Ausgangspunkt von Bordepidemien wurde. Die Frage nach der menschlichen Notdurft auf einer Seereise erhält ihre große Bedeutung allein schon durch die Tatsache, dass die Qualität des Trinkwassers und die Hygiene an Bord eines Schiffes in ursächlichem Zusammenhang standen. Verdorbenes Wasser führte unweigerlich zu Durchfall. Die unzulängliche Beseitigung von Exkrementen in Kombination mit infiziertem Trinkwasser konnte wiederum zu epidemischen Ausbrüchen infektiöser Darmkrankheiten führen.

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Zu dieser Zeit hatte man es außerdem mit Kostgängern zu tun, die nicht zu den saubersten gehörten. An Bord waren nämlich häufig auch Tiere untergebracht. So führte Magellan zu Beginn seiner Reise um die Welt sieben Kühe und drei Schweine als Lebendproviant mit sich. Mit den Tieren gab es mehr Schmutz und noch weniger Platz für die Mannschaft. An den primitiven und desolaten Zuständen im Bereich der Hygiene auf hoher See änderte sich lange Zeit nichts. Eine Besserung zeichnete sich erst im 18. Jahrhundert im Zuge der Cookschen Entdeckungsreisen ab. Im Pazifischen Ozean glaubte man einen neuen Kontinent – die terra incognita – finden zu können. Vergleichbar mit den Weltraumflügen im 20. Jahrhundert packte man die Gelegenheit dieser extrem langen Seereisen beim Schopf und suchte neue Einsichten im Bereich der Ausrüstung und Ernährung zu sammeln. Die Entdeckungsreisen wurden zu wissenschaftlich geführten Expeditionen. Kein anderer war in diesen Belangen erfolgreicher als der Engländer James Cook (1728 – 1779). Er verfügte technisch über das beste Material seiner Zeit. Allerdings verhielt man sich pragmatisch und entwickelte nicht neue Schiffe für Cooks Reise, sondern baute altgediente Schiffe um. Über die Größe dieser Schiffe muss man sich im Klaren sein: Die Endeavour, Cooks Schiff auf seiner ersten Reise, war nur 32,3 Meter lang und 8,9 Meter breit. In ein Schiff dieser Größe hatte man nebst der Mannschaft von gut 100 Leuten Proviant und Ausrüstung für drei Jahre unterzubringen. Wie auf den Schiffen des Christoph Kolumbus war ein Leben auf engstem Raum unausweichlich. Einen markanten Unterschied gab es jedoch: Cook schenkte der Sauberkeit an Bord beträchtliche Aufmerksamkeit. Sobald das Wetter schön war, ließ er Hängematten und Decken auf das Oberdeck bringen. Er inspizierte die Vorräte, um fäulniserregenden Keimen vorzubeugen. Die Waren wurden in den untersten Schiffsräumen sorgfältig verschlossen. Während der Reise blieben die Luken fest verschlossen; jede Ritze wurde hermetisch mit Teer abgedichtet. Die Ausdünstungen der Fracht waren also streng von denen der Mannschaft getrennt. Cooks Schiff war die „erste hygienische Hochburg“, urteilt ein französischer Historiker.36 Als Cook nach drei Jahren und achtzehn Tagen von seiner zweiten großen Reise (1772 – 1775) nach England zurückkehrte, hatte er auf der langen und strapaziösen Reise nur vier Mann verloren, darunter einen einzigen Matrosen durch Krankheit. Angesichts der Tatsache, dass der britische Admiral Anson auf seiner Weltumseglung von 1740 – 1744 noch

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drei Viertel seiner Mannschaft verloren hatte – hauptsächlich durch Skorbut – ist dies eine äußerst beeindruckende Leistung. Doch dies war nur die eine Seite der Medaille. Der deutsche Johann Reinhard Forster (1729 – 1798), wissenschaftlicher Begleiter Cooks auf seiner zweiten Reise, klagt darüber, dass Cook Tiere in der unmittelbaren Nähe zu seiner Kabine platziert habe, um sie nicht seekrank werden zu lassen. Und meint dazu:

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„Ich wurde nun von Vieh und Gestank von beiden Seiten bedrängt und war nur durch eine dünne Bretterwand, die zudem voller Risse war, von den Tieren getrennt. … [Die Schafe] schissen und pissten auf der einen Seite, während fünf Ziegen dasselbe auf der anderen Seiten taten.“37

In dieses Bild passt nun auch der Charakter der sanitären Anlagen auf Cooks Schiffen. Vieles spricht dafür, dass der Fortschritt in diesen Bereich nicht vorgedrungen war, denn noch immer erleichterte man sich auf althergebrachte Weise: Es gab offene Aborte, wie der Unfall des Matrosen Wedgeborough belegt. Der wollte über die Reling pinkeln, fiel jedoch ins Wasser und ertrank. Zum Ärger Cooks hatte er gemeinsam mit seinen Kumpanen ein Saufgelage abgehalten und war nach zwei Tagen dermaßen betrunken, dass eine alltägliche Handlung tödlich endete. So sehr Cook ansonsten auf seinem Schiff Wert auf Sauberkeit legte, im Bereich der menschlichen Notdurft verhielt er sich also traditionell. Dabei gab es ganz offensichtliche Missstände. Georg Forster (1754 – 1794), der seinen Vater auf der Reise um die Welt begleitete, ärgerte sich über die mangelnde Sauberkeit nach nächtlichen Gelagen, die sich in schöner Regelmäßigkeit bei Landberührung im Pazifik ergaben. Das Verdeck war am morgen jeweils völlig verkotet. Während Georg Forster sich in seinen Aufzeichnungen sonst über die sanitären Zustände an Bord in vornehmes Schweigen hüllt, weiß er zu den Belangen der Sauberkeit im neu entdeckten Paradies, auf Tahiti und den Marquesas Inseln, Folgendes zu schreiben: „Die Leute auf den Marquesas aber wuschen und badeten sich nicht so oft, waren auch in der Bereitung ihrer Mahlzeiten weit nachlässiger. Hingegen taten sie es den Bewohnern der Societäts-Inseln, in einem ändern Punkt, an Reinlichkeit zuvor; denn, anstatt dass man [wie] zu Tahiti die Fußsteige überall mit Zeichen einer gesunden Verdauung besetzt fand, wurde hier der Unflat, nach Katzen-Art, sorgfältig verschar-

Diese Passage ist in mehrerer Hinsicht höchst aufschlussreich. Zum einen belegt sie, dass Georg Forster das menschliche Verhalten hinsichtlich der Hygiene genau studierte. Zum andern demonstriert Forsters Beobachtung, dass man in der Südsee je nach Insel ein unterschiedliches Verhalten an den Tag legte: Während die Einwohner der Marquesas Inseln den Kot verscharrten, ließen die Einwohner von Tahiti ihre Notdurft einfach liegen. Schließlich gibt Georg Forster indirekt auch ein Urteil zur europäischen Hygiene ab. Er lässt Tupia, einen Tahitianer, der mit Cook nach Europa und anschließend in die Niederlande reiste, sagen, dass ihn die Aborte, die in jedem Haus in den Niederlanden zu finden waren, beeindruckten. Die Vermutung liegt nahe, dass Tupia (und mit ihm auch Forster) Cooks Seeleute nicht als sonderlich sauber wahrgenommen hat. Cooks Entdeckungsfahrten hatten eine unbekannte Welt erschlossen. Die Besiedelung durch Europäer erfolgte jedoch nur zögerlich. 1788 gründete die britische Regierung in New South Wales, an der Ostküste Australiens, eine Sträflingskolonie. Doch erst die Goldfunde von 1851 lösten eine gewaltige Einwanderungswelle aus. Innerhalb von zehn Jahren (1851 – 1861) stieg die Bevölkerung Australiens von 405 000 auf 1 146 000 Menschen an. Was für Strapazen die scheinbar endlos lange Seereise nach Australien mit sich brachte – und welche sanitären Bedingungen auf den Schiffen anzutreffen waren –, davon berichten die zahlreichen Tagebücher der Auswanderer. In Sachen Komfort war das Schiff ein Spiegel der gesellschaftlichen Hierarchie. Die größten Annehmlichkeiten bot die erste Klasse, deren Kabinen sich im hinteren Teil des Schiffs, im Achterdeck, befanden, wo der Seegang weniger zu spüren war. Die begehrtesten Kabinen waren hier die zwei Kabinen mit Fenstern. Diese Kabinen waren recht stattlich, weshalb man sie gelegentlich auch als die „großen Kabinen“ bezeichnete. Auf dem Schiff St. Vincent, das um 1844 nach Australien segelte, maßen sie 290 Zentimeter auf 270 Zentimeter. Diese Luxuskabinen verfügten sogar über eine eigene wassergespülte

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ret. Zwar verließ man sich zu Tahiti auf die guten Dienste der Ratten, die dergleichen Unrat begierig verschlingen, doch schien man es, auch außerdem, nicht für unanständig, noch für schmutzig zu halten, dass der Kot überall umher lag; vielmehr meinte Tupia (der doch gewiss einer der gescheitesten Leute von Tahiti war), als er zu Batavia, in jedem Hause ein besonderes Gemach zum Behuf der Cloacina gewahr ward, ‚wir Europäer mögten wohl eben nicht sonderlich ekel sein!‘“37

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22 Drei japanische Gesandtschaften bereisten 1860, 1862 und 1864 die Vereinigten Staaten. Auf der ersten Reise entstanden diese Studien zum Wasserklosett. Toilette, während die anderen, etwas kleineren Kabinen der ersten Klasse sich ein WC teilen mussten. Die überwiegende Mehrheit der Auswanderer – die St. Vincent hatte rund 290 Passagiere – lebte in engsten räumlichen Verhältnissen im Zwischendeck. Für sie gab es gerade einmal zwei wassergespülte Toiletten: Die Männertoilette befand sich auf dem Oberdeck; die Frauen-

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er Mensch, der keine Zeit findet und von einem Ort zum andern hetzen muss, ist keine Erfindung der Gegenwart. Noch weniger der Mensch, der unter keinen Umständen etwas verpassen will. Für beide Typen brachte eine Sonderanfertigung Erleichterung: die Bourdaloue. Dabei handelt es sich um einen ovalen Nachttopf mit beidseitiger Einbuchtung zum Urinieren, den die Damen seit dem 18. Jahrhundert benutzten. Seinen Namen erhielt dieser Nachttopf vom wortgewaltigen Jesuitenpater Bourdaloue, einem Hofprediger Ludwigs XIV., der für seine mehrstündigen Predigten berühmt war. Um ja kein Wort seiner Predigten zu verpassen, rüsteten sich viele Zuhörerinnen mit einem Behältnis aus, das klein und diskret war und unter den weiten Röcken versteckt als Pisstopf diente. Die Wahl der Materialien war äußerst vielfältig und reichte von Porzellan über Glas zu Silber und Leder. Auch die Männerwelt benutzte die Bourdaloue. Lederne Exemplare wurden gern von reisenden Bürgern benutzt, weil sie leicht waren und wenig Platz beanspruchten. Ein wahres Prachtexemplar aus Porzellan ist von Napoleon I. erhalten, der die Bourdaloue auf seinen vielen Reisen mitnahm. Obsolet wurde der Nachttopf trotzdem nicht: Napoleon hat nachweislich einen Pot de chambre aus massivem Gold besessen, auf dessen Boden sein berühmtes „N“ graviert war. Als er im März 1815 von Elba aus wieder in die Tuilerien zurückgekehrt war, soll er unter seinem Bett einen vom geflüchteten Ludwig XVIII. zurückgelassenen, nicht entleerten Nachttopf vorgefunden haben, sinnigerweise ebenfalls mit dem „N“ darin.

toilette auf dem Zwischendeck. Das bedeutete, dass die Männertoilette bei schlechtem Wetter und hohem Seegang nur ungern aufgesucht wurde, da sie den Elementen ausgesetzt war. Ein Nachttopf oder ein geeignetes Gefäß wurden unter diesen Umständen wohl bevorzugt. Gern wurde der Gebrauch eines Nachttopfes nicht gesehen, denn dass dessen Inhalt früher oder später auskippte, war nahezu unvermeidlich. Mit kreativen Lösungen versuchte man diesem Problem zu begegnen. Zweifelsohne gehört das so genannte „patentierte WC“ in diese Kategorie. Dabei handelte es sich um eine Rutsche, die ins Meer führte. Wer immer einem dringenden Bedürfnis nachkommen muss-

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Erleichterung en passant

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te, setzte sich am oberen Ende hin und verrichtete seine Notdurft, die mit einem Eimer Wasser fortgespült wurde. Immerhin landeten die Exkremente auf diese Weise im Meer, wodurch eine mögliche Quelle für Infektionskrankheiten und Geruchsbelästigung beseitigt war. Doch letzten Endes war dies nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Die allermeisten Auswanderer litten an Durchfall oder Verstopfung, denn damals konnte man nur sehr wenige Nahrungsmittel für längere Zeit konservieren (dies war der Hauptgrund, Lebendproviant mitzunehmen). Zudem unterschätzte man die Risiken, die von angefaulten oder vergammelten Nahrungsmitteln ausgingen. Ein Dauerproblem stellte wie auf jeder Seereise sauberes Trinkwasser dar. Bei früheren Reisen nach Australien hatte man immerhin Zwischenstopps eingelegt und die Vorräte an Nahrungsmitteln und Wasser aufgestockt. Doch die Goldfunde in Australien lösten eine wahre Hysterie aus und die Auswanderer drängten darauf, so schnell wie möglich ins Land der Verheißung zu gelangen. Aus Gewinnsucht nahm man auch immer mehr Auswanderer an Bord. Die Passagiere wurden regelrecht zusammengepfercht; selbst die Aufrechterhaltung eines minimalen hygienischen Standards war unter diesen Umständen so gut wie unmöglich. Die Folgen blieben nicht aus: Die Sterblichkeit auf den Schiffen erreichte die schlimmsten Ausmaße in der ganzen Geschichte der Auswanderung. Ein offizieller Bericht aus dem Jahr 1852 offenbart die schreckliche Realität: Mit 42 Schiffen waren insgesamt 15 477 Menschen aus Großbritannien nach Melbourne gelangt. 849 Auswanderer waren auf der Überfahrt an Scharlach, Fleckfieber, Masern und Durchfallserkrankungen gestorben. Hunderte starben nach Ankunft der Schiffe. Jedes fünfte Kind und jeder sechzigste Erwachsene waren gestorben. Die statistischen Durchschnittswerte verdecken indessen das wahre Ausmaß des Elends. Am schlimmsten waren die Passagiere auf dem neuen Klipper Ticonderoga betroffen. Als das Schiff 1852 nach einer Überfahrt von 140 Tagen in Melbourne ankam, glich es einer dreckstarrenden Kloake: „Das Schiff – insbesondere der tiefere Teil – war in einem sehr schmutzigen Zustand. Es schien, als ob es seit Wochen nicht mehr gereinigt worden wäre. Der Gestank war überwältigend; die Schränke, die man den Einwanderern zur Verfügung gestellt hatte, waren angefüllt mit Dreck, schimmeligem Brot und mit Talg, der von Maden wim-

Von den 615 Passagieren starben nicht weniger als 168. Den höchsten Tribut hatten die Kinder zu zollen: Von 199 Kindern, die sich an Bord befunden hatten, kamen 82 um. Die menschlichen Tragödien, die sich vor allem während des Goldrauschs auf den australischen Auswanderungsschiffen abspielten, riefen die Politiker auf den Plan. Die britische Regierung erließ in den Jahren 1852 und 1855 strengere gesetzliche Verordnungen, welche u. a. die Zahl der Passagiere auf einem Schiff begrenzte und den minimalen Standard der sanitären Einrichtungen bestimmte. So mussten die wassergespülten Toiletten über ein „patentiertes Klappventil und einen herunterklappbaren Deckel“40 sowie über mit Blei verkleidete Abflussrohre verfügen. Diese Verordnungen allein hätten wohl wenig bewirkt oder wären einfach ignoriert worden, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht massiv verändert hätten. Nach 1850 verdrängten die Dampfschiffe die Segelschiffe auf den Routen nach Australien. Eine katalytische Wirkung hatte dabei nicht nur der technische Fortschritt, sondern insbesondere der Bau des Suezkanals im Jahr 1869, der den Reiseweg deutlich verkürzte: Eine Dampfreise nach Australien dauerte jetzt im Durchschnitt noch 33 bis 35 Tage. Es gab immer häufiger Schiffe, die über sämtliche Annehmlichkeiten verfügten, die auch ein heutiger Schiffspassagier verlangt: wie reichlich sauberes Trinkwasser, Kühlgeräte um Nahrungsmittel frisch zu halten, wasserdichte Kabinen, saubere sanitäre Einrichtungen und genügend Rettungsboote. Kurzum, im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatten Schiffsreisen ein Niveau erreicht, das auch für einen an Komfort gewöhnten Touristen des beginnenden 21. Jahrhunderts erträglich gewesen wären und von dem die Matrosen eines Kolumbus nur zu träumen gewagt hätten. Hat der Dampfer im 19. Jahrhundert die Seereise revolutioniert, so gilt das Gleiche zu Land von der Eisenbahn. Doch der Komfort stellte

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melte. Unter den Bodenplanken von praktisch jeder Koje des Unterdecks wurden Suppen- und Bouillonbüchsen sowie andere Gefäße entdeckt, die mit stinkendem Abfall gefüllt waren. Bier- und andere Flaschen waren mit altem Urin gefüllt. Maden, die herumkrochen, wurden unter den Kojen entdeckt. Diese Missstände müssen über einen langen Zeitraum geherrscht haben, denn der Zweite Maat äußerte sich, dass er bei der letzten vom Kapitän verordneten Reinigung vor fünf Wochen die gleichen Missstände angetroffen habe.“39

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Sich in die (Unter)Hose machen

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ie Unterhosen haben im Unterschied zu anderen Kleidungsstücken eine kurze Geschichte. In der Antike fand man nichts dabei, unter den weit geschnittenen Gewändern nackt zu gehen. Sofern im Mittelalter und der Neuzeit Unterwäsche überhaupt getragen wurde, war sie bis zum 19. Jahrhundert eher schlicht und bestand aus einem weiten Hemd. Beim Hemd handelte es sich meist um ein bis über die Knie reichendes Gewand aus grobem oder feinem Leinenstoff. Als einziges Unterbekleidungstück vereinigte es die Funktionen von Unterhemd, Unterhose und Unterrock. Es war das Kleidungsstück, das dem Körper am nächsten lag und wurde von Leuten, die es sich leisten konnten, täglich gewechselt. Der Gebrauch von Unterwäsche war nach Geschlecht und gesellschaftlichem Stand unterschiedlich. Selbst wohlhabende Männer trugen im späten 18. Jahrhundert selten Unterhosen. Es waren zuerst gebildete Bürger, die den Mangel an Leibwäsche als störend empfanden. So fand die Unterhose im städtischen Bürgertum zwischen 1800 und 1830 Verbreitung, während innerhalb der unterbürgerlichen Schichten das gesamte 19. Jahrhundert hindurch wadenlange Leinenhemden getragen wurden. Diese konnten zwischen den Beinen umgeschlagen werden und bildeten die einzige Form der Unterwäsche. Unterhosen galten bis 1850 als schamlos und unweiblich. Mutige Frauen aus der Oberschicht trugen jedoch bereits 1800 auf Reisen oder auf der Jagd hellfarbige seidene Frauenpantalons. Die gebräuchlichen Frauenunterhosen waren nicht zugenäht. Besonders in der kalten Jahreszeit trugen auch die Damen Unterhosen. Aber für eine Mehrheit bildete bis 1900 das Hemd die einzige Form der Leibwäsche. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konnte sich also nur eine privilegierte Schicht von Männern und Frauen in die Unterhose – genauer ins Hemd – machen.

sich auch hier nur langsam ein: Im Hinblick auf die menschlichen Grundbedürfnisse war eine Eisenbahnreise ein strapaziöses Unterfangen. Nicht nur wurde man kräftig durchgeschüttelt (manchmal sogar aus dem Abteil geschleudert) und konnte der Rauch der Dampflokomotive zu Atembeschwerden führen, auch der Gang zur Toilette war beschwerlich und oftmals gar unmöglich: Wie in einer

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Kriegerisch: wischen Kot und Not

Kurz nach der Völkerschlacht bei Leipzig schildert der Medizinprofessor Christian Reil (1759 – 1813) die Zustände in einem Kriegslazarett: „Die zügelloseste Phantasie ist nicht im Stande, sich ein Bild des Jammers in so grellen Farben auszumalen, als ich es hier in der Wirklichkeit vor mir fand … Verwundete, die nicht aufstehen können, müssen Kot und Urin unter sich gehen lassen und faulen in ihrem eigenen Unrat an. Für die Gangbaren sind zwar offene Bütten ausgesetzt, die aber nach allen Seiten überströmen, weil sie nicht ausgetragen werden. In

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Kutsche gab es in den europäischen Zügen zunächst überhaupt keine Toiletten. Sobald der Zug in Bewegung war, mussten die Reisenden ihre natürlichen Bedürfnisse zurückhalten. Wenn endlich ein Bahnhof erreicht war, setzte der Ansturm auf die sanitären Anlagen ein. „Insbesondere auf den Ankunftsbahnsteigen müssen die Pissoirs groß genug angelegt werden“, heißt es in einem elementaren Handbuch zum Bau von Eisenbahnen.41 Dieser Hektik und diesem Zwang musste sich die englische Königin Viktoria nicht unterwerfen. Das erste Zugabteil mit Toilette wurde 1840 speziell für sie im „Königlichen Salon“ eingerichtet. Der Sockel für das Waschbecken aus Porzellan schirmte einen Eimer für das Abwasser vor neugierigen Blicken ab. 1850 richtete die South Eastern Railway Company eine Toilette – verschämt patent convenience tituliert – in ein Sofa versteckt, ein. Es dauerte in England nochmals zehn Jahre, bis auch Privatsalons über eine Toilette verfügten; 1874 gab es Toiletten mit Wasserspülung für die erste und zweite Klasse und 1881 wurde auch den Passagieren der dritten Klasse Erleichterung in dieser Form zuteil. Im restlichen Europa folgte man dem englischen Trend und baute ebenfalls wassergespülte Toiletten ein. Doch selbst bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb der technische Standard bei den Zugtoiletten meist bescheiden. Häufig beschränkte man sich auf ein Plumpsklo, wodurch auf den Schienensträngen eindeutige Spuren zu finden waren. Damit legte die gestiegene Mobilität des Menschen ein sicht- und riechbares Zeugnis ab.

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Für den politischen „Kleinkrieg“ war der Nachttopf bestens geeignet. So zeigt ein englischer Nachttopf aus der Zeit der Französischen Revolution auf dem Grund des Gefäßes eine Büste Napoleons. Was der patriotische Inselbewohner seinem französischen Erzfeind antun konnte, braucht nicht erklärt zu werden. der Petristraße stand je eine solche Bütte neben einer anderen ihr gleichen, die eben mit der Mittagssuppe hereingebracht war. Diese Nachbarschaft der ‚Speisen und der Ausleerungen‘ muss notwendig einen Ekel erregen, den nur der grimmigste Hunger zu überwinden imstande ist. Das scheußlichste in dieser Art gab das Gewandhaus. Der Perron war mit einer Reihe solcher überströmenden Bütten besetzt, deren träger Inhalt sich langsam über die Treppen hinabwälzte.“42

Wenig Erbauliches weiß auch Goethe zu berichten: Er hatte 1792 als Beobachter am Feldzug der Alliierten gegen das revolutionäre Frankreich teilgenommen. Die Strapazen und Leiden des Krieges schockierten ihn zutiefst. Während die feindliche französische Armee Verstärkung erhielt, stiegen die Verluste der eigenen Truppen durch die Ruhr täglich. Am 30. September entschloss man sich deshalb den Rückzug anzutreten. Goethe nutzte die Gelegenheit eines Kranken-

„Wenn du ins Feld ziehst und gegenüber deinen Feinden das Lager aufschlägst, sollst du dich vor jeder Unsauberkeit hüten. Du sollst im Vorgelände des Lagers eine Ecke haben, wo du austreten kannst. In deinem Gepäck sollst du eine Schaufel haben, und wenn du dich draußen hinhocken willst, dann grab damit ein Loch und nachher deck deine Notdurft wieder zu!“ (Dtn 23, 10 –14)

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transports, um „aus dem Schlamm“ herauszukommen, „von einem bösen Traum zu erwachen, der mich zwischen Kot und Not, Mangel und Sorge, Gefahr und Qual, zwischen Trümmern, Leichen, Äsern und Scheißhaufen gefangen hielt“43. Und erschüttert bemerkte er: „Keine Feder und keine Zunge kann das Elend der kombinierten Armee beschreiben.“44 Goethe vermochte dem bösen Traum, dem Schreckgespenst von „Kot und Not“, von „Äsern und Scheißhaufen“ zu entfliehen. Viele hatten nicht dieses Glück. Die katastrophalen hygienischen Zustände, unter denen die Soldaten in den Revolutionskriegen zu leiden hatten, öffneten der Ausbreitung von infektiösen Darmkrankheiten Tür und Tor. Etwas scheinbar Nebensächliches – die menschliche Notdurft – konnte im Krieg zu einer Quelle des Todes werden. Die Dimensionen dieser Gefahren müssen dabei klar vor Auge geführt werden: Über Jahrhunderte starben im Krieg mehr Menschen an Infektionskrankheiten als in Kampfhandlungen. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Japanisch-Russischen Krieg (1905), wurden weniger Soldaten ein Opfer von Infektionskrankheiten als von Kriegshandlungen. Wir werden im Kapitel Die Notdurft als Gefahr ausführlich auf die Infektionskrankheiten eingehen, die auf mangelnde Hygiene im sanitären Bereich zurückzuführen sind. Hier steht die Frage im Zentrum des Interesses, wie man dem Problem der menschlichen Notdurft auf Feldzügen und in militärischen Kriegslagern begegnete. Schriftliche Quellen sind dabei äußerst dürftig; bildliche noch viel seltener. So darf die Darstellung eines kackenden Reißläufers aus einer mittelalterlichen Chronik (siehe Abb. 24) als Glücksfall gelten. Das Bild veranschaulicht, dass man ohne viel Aufhebens seine Notdurft dort verrichtete, wo man eben gerade dringend musste. Natürlich bemühte man sich schon früh darum, das Problem der Verkotung in den Griff zu kriegen. Geradezu verblüffend mutet das mosaische Gebot aus dem Deuteronomium an. Es wird oft als Prototyp einer effizienten Lagerhygiene interpretiert:

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24 Neben einer Heeresstraße verrichtet ein Soldat seine Notdurft (Darstellung vom Ende des 15. Jahrhunderts). Starke Truppenverbände werden im Mittelalter wie auch in der Neuzeit besonders große Verunreinigungen hinterlassen haben – auf dem Marsch und noch mehr auf den Sammelplätzen. Im Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) gab es diesbezüglich keine wesentlichen Neuerungen. Der „Donnerbalken“, wie die Mannschaftslatrine genannt wurde, hatte folgende Kriterien zu erfüllen: Jedes deutsche Bataillon sollte einen Graben von 10 Meter Länge sowie

„In Lagern bedecke man täglich den Grabeninhalt unter den Donnerbalken daumendick mit Erde; Chlorkalk ist dann fast nie nötig, es sei denn zur Beruhigung nichtsachverständiger Besichtiger. Dabei ein Plakat in Landser-Sprache: ‚Schippe Erde auf die Scheiße! Fliegen tragen Kot auf die Speise!“ 45

Aber die Realität sah in den meisten Fällen anders aus: Im Ersten Weltkrieg brachte der Stellungskrieg – er hatte sich als neue Form der Kriegführung bis Mitte November 1914 durchgesetzt – den Soldaten hygienische Bedingungen unter dem „Niveau eines Höhlenbewohners“46. Obwohl in jedem einzelnen Abschnitt der Schützengräben Latrinen gegraben worden waren, war es nicht unüblich, vor aller Augen in eine eigens dafür vorgesehene Konservendose zu urinieren – und nicht selten auch zu defäkieren. Vielen Soldaten schien der Gang zur Mannschaftslatrine nicht nur zu gefährlich. Sie sahen sich bald auch nicht mehr in der Lage, ein Mindestmaß von Hygiene einzuhalten: Tagelang, gar wochenlang in den Schützengräben auszuharren, dauernd dem feindlichen Feuer ausgesetzt zu sein und unter teilweise schlimmsten Witterungsbedingungen im Dreck liegen zu müssen, setzte den Männern psychisch und physisch sehr stark zu. Bei den mörderischen Artillerieduellen wurden zudem immer wieder auch die Mannschaftslatrinen getroffen. Ihr Inhalt ergoss sich dann als Jaucheregen über die nähere Umgebung – eine Quelle für Krankheiten wie Typhus, Ruhr oder Gelbsucht. Auch im Zweiten Weltkrieg forderten diese Infektionskrankheiten noch ihren Tribut: Bei der Belagerung von Stalingrad herrschten in den Militärlagern katastrophale hygienische Zustände. So starben nach russischen Angaben im Lager Betekowa von Februar bis März 1943 gegen 38 000 Soldaten.

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70 Zentimeter Tiefe und Sohlenbreite ausheben. Dieser Graben sollte nach Möglichkeit einen Sitzbalken sowie Strauch- oder Leinwandsichtschutz erhalten. Im Sommer sollte diese Latrine alle zwei bis drei Tage zugeworfen und daneben eine neue angelegt werden. Dies geschah jedoch nicht aus der Erkenntnis der Gefahren, die von den Latrinen als Infektionsherd ausgingen, sondern wegen der auftretenden Geruchsbelästigung. Erst mit dem Siegeszug der Bakteriologie (vgl. die Seiten 139 ff.) setzte sich auch in Militärkreisen die Erkenntnis durch, dass die Einhaltung von Hygienevorschriften Leben retten konnte. Eine Schrift für Lagerhygiene gab den Ratschlag:

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Himmel und Hölle liegen bekanntlich nahe beieinander. Für Erich Maria Remarque (1898 – 1970), der als blutjunger Soldat im Ersten Weltkrieg seinen Dienst leisten musste, wurde die Latrine zu einem verklärten Ort der Ruhe und des Friedens. „Am rechten Rande der Wiese ist eine große Massenlatrine erbaut, ein überdachtes, stabiles Gebäude. Doch das ist was für Rekruten, die noch nicht gelernt haben, aus jeder Sache Vorteil zu ziehen. Wir suchen etwas Besseres. Überall verstreut stehen nämlich noch kleine Einzelkästen für denselben Zweck. Sie sind viereckig, sauber, ganz aus Holz getischlert, rundum geschlossen, mit einem tadellosen, bequemen Sitz. An den Seitenflächen befinden sich Handgriffe, sodass man sie transportieren kann. Wir rücken drei im Kreise zusammen und nehmen gemütlich Platz. Vor zwei Stunden werden wir hier nicht wieder aufstehen. Ich weiß noch, wie wir uns anfangs genierten, als Rekruten in der Kaserne, wenn wir die Gemeinschaftslatrine benutzen mussten. Türen gibt es da nicht, es sitzen zwanzig Mann nebeneinander wie in der Eisenbahn. Sie sind mit einem Blick zu übersehen, der Soldat soll eben ständig unter Aufsicht sein. Wir haben inzwischen mehr gelernt, als das bisschen Scham zu überwinden. Mit der Zeit wurde uns noch ganz anderes geläufig. Hier draußen ist die Sache aber geradezu ein Genuss. Ich weiß nicht mehr, weshalb wir früher an diesen Dingen immer scheu vorbeigehen mussten, sie sind ja ebenso natürlich wie Essen und Trinken. Und man brauchte sich vielleicht auch nicht besonders darüber zu äußern, wenn sie nicht so eine wesentliche Rolle bei uns spielten und gerade uns neu gewesen wären – den übrigen waren sie längst verständlich. … Für uns haben diese ganzen Vorgänge den Charakter der Unschuld wiedererhalten durch ihre zwangsmäßige Öffentlichkeit. Mehr noch: sie sind uns so selbstverständlich, dass ihre gemütliche Erledigung ebenso gewertet wird wie meinetwegen ein schön durchgeführter, bombensicherer Grand ohne viere. Nicht umsonst ist für Geschwätze aller Art das Wort Latrinenparole entstanden; diese Orte sind die Klatschecken und der Stammtischersatz beim Kommiss. Wir fühlen uns augenblicklich wohler als im noch so weiß gekachelten Luxuslokus. Dort kann es nur hygienisch sein; hier aber ist es schön. …

Vor dem Hintergrund der immer wieder katastrophalen hygienischen Zustände in Kriegen stellt sich eine entscheidende Frage: Gibt es für das stille Örtchen im Umfeld des Krieges einen echten Fortschritt zu verzeichnen? Die Antwort muss zwiespältig ausfallen: Mit dem Siegeszug der Bakteriologie setzte sich zwar auch in Militärkreisen die Erkenntnis durch, dass hygienische Mindestanforderungen unabdingbar waren. Doch was nützte alle Aufklärung, wenn es im Krieg immer wieder zu Extremsituationen kam, in denen selbst einfachste Vorschriften nicht mehr eingehalten werden konnten? In mehr als einem Sinn war/ist der Krieg eben ein dreckiges Geschäft. Viel größere Hoffnungen setzte man deshalb auf Schutzimpfungen. Aber das brauchte eine Anlaufzeit: Obwohl man bereits um 1900 über erste Typhusimpfstoffe verfügte, verzichteten die Briten im Burenkrieg zunächst auf Zwangsimpfungen. Von 200 000 Soldaten erkrankten 58 000 Mann; 8000 von ihnen starben. Man wusste die Lehren zu ziehen: Im Ersten Weltkrieg waren die britischen Truppen geimpft: gerade einmal eintausend Soldaten starben noch an Typhus; dies bei einem Bestand von rund zwei Millionen Mann. Neben die Typhusimpfung traten andere Schutzimpfungen. Nach 1940 kam Penicillin als weitere Waffe im Kampf gegen Infektionen hinzu. Es erwies sich gegenüber vielen Bakterien als äußerst wirksames Medikament. Es stand im Juni 1944 bei der Landung der alliierten Streitkräfte erstmals massenhaft zur Verfügung. Der Siegeszug der Antibiotika machte vor nahezu nichts Halt: Bis ins Jahr 1990 zählte man 25 000 Antibiotika. Was Hans Zinsser in seiner klassischen Darstellung über die Bedeutung von Infektionsträgern in der Geschichte der Menschheit noch in die Worte gefasst hatte: „Soldaten haben selten einen Krieg gewonnen. … Pest, Cholera, Typhus und Durchfall haben mehr Kriege entschieden als Caesar, Hannibal und Napoleon“48, hatte nicht mehr länger seine Gültigkeit. Dieser epochalen Veränderung stellt sich eine erstaunliche Konstanz im Hinblick auf die sanitären Einrichtungen im Krieg gegen-

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Die drei Kästen stehen mitten im leuchtenden, roten Klatschmohn. – Wir legen den Deckel des Margarinefasses auf unsere Knie. So haben wir eine gute Unterlage zum Skatspiel. Kropp hat die Karten bei sich. Nach jedem Null-ouvert wird eine Partie Schieberamsch eingelegt. Man könnte ewig so sitzen.“47

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über. Diese Einrichtungen waren einfach und unter Extrembedingungen häufig nicht einmal vorhanden. Konnte sich im zivilen Bereich aus dem einfachen Klosett das stille Örtchen mit Wasserspülung entwickeln, so blieb es unter Kampfbedingungen für die Mehrheit eine primitive Massenlatrine – der Donnerbalken.

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Wendezeit: s giebt in der Welt viel Koth“

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Die Bevölkerung wuchs in der Neuzeit in einem noch nie gekannten Ausmaß. Besonders die Einwohnerzahlen der Städte stiegen im 19. Jahrhundert in erschreckendem Tempo an: Während sich in den ersten fünf Jahrzehnten die Stadtbevölkerung im Schnitt verdoppelte, kletterte sie in der zweiten Jahrhunderthälfte im Schnitt um das Drei- bis Fünffache. London hatte 1801 rund eine Million Einwohner; 100 Jahre später – das Stadtgebiet war natürlich deutlich größer geworden – beherbergte die Hauptstadt Großbritanniens 6,5 Millionen Menschen. Angesichts der rasant wachsenden Bevölkerung und der damit einhergehenden Verstädterung wurde die Einhaltung eines Mindestmaßes an Hygiene zu einem äußerst schwierigen Unterfangen. Die Rechnung war simpel: „Je nach Lebensweise und der Ernährung kann man für einen Bewohner täglich 80 bis 130 Gramm feste und 900 bis 1300 Gramm flüssige Ausscheidungen rechnen; nimmt man für erstere einen Mittelwert von 100 Gramm, für letztere einen solchen von 1100 Gramm an, so ergeben sich für den Kopf täglich 1200 Gramm und während eines Jahres 438 Kilogramm Abortstoffe.“1 Diese natürliche „Produktion“ und eine wachsende Bevölkerung ließen die Gesamtmenge beträchtlich ansteigen. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) konstatierte – wenn auch in anderem Kontext – doppelsinnig: „Es giebt in der Welt viel Koth!“2 Tatsächlich stank es in den meisten Städten buchstäblich zum Himmel, waren die Missstände greif- und riechbar. Der Aufbau einer effektiven städtischen Abfallentsorgung stellte sich als gigantische Aufgabe heraus und erst unter großem äußerem Zwang wurden die notwendigen Maßnahmen ergriffen. Zwei Faktoren spielten dabei eine Schlüs-

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selrolle. Zum einen forderte die Cholera in Europa Tausende von Toten: Die Regierungen sahen sich zum Handeln gezwungen. Zum anderen setzten die Erkenntnisse der Bakteriologie die Bekämpfung von Krankheiten auf eine neue Stufe. Jetzt wurde offensichtlich, dass viele Krankheiten durch Mikroorganismen übertragen wurden. Nicht mehr länger galten schlechte Luft, sondern Schmutz und Unrat als gefährlich. Ein Drittes kam hinzu: Die Erfindung des Kunstdüngers machte den Verzicht auf menschliche Fäkalien als wertvollen Kompost möglich. Nun war das Natürlichste auch das Überflüssigste. Die herkulische Aufgabe des „Ausmistens“ und die dabei auftretenden Schwierigkeiten sollen am Beispiel der beiden Großstädte London und Paris studiert werden. In einem riesigen Kraftakt vermochten diese Städte ihre Abwässer effizient zu entsorgen und wurden zum Vorbild anderer europäischer Städte.

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Das Ausmisten des Augiasstalls: er Siegeszug der Kanalisation

Wendezeit: „Es giebt in der Welt viel Koth“

Es ist ein schwülheißer Tag im Juli 1855, zwischen halb ein und halb zwei Uhr. Michael Faraday (1791 – 1867), Direktor der angesehenen Royal Society, befindet sich in einem Boot auf der Themse. Was er beobachtet, schockiert ihn zutiefst: „Das Erscheinungsbild und der Gestank des Wassers drängten sich f örmlich meiner Aufmerksamkeit auf. Der ganze Fluss hatte die Farbe einer trüben, blassbraunen Flüssigkeit. Um den Grad der Trübung zu prüfen, zerriss ich ein paar weiße Karten und befeuchtete sie, damit sie schneller unter die Wasseroberfläche sinken würden. Dann ließ ich bei jedem Pier, zu welchem das Boot kam, einige dieser Kärtchen ins Wasser fallen. Bevor sie nur drei Zentimeter unter die Wasseroberfläche sanken, waren sie nicht mehr zu erkennen. Dies obwohl die Sonne gerade hell schien … Der Gestank war schrecklich und er war überall auf dem Wasser zu riechen. Es war der gleiche Gestank, der zur Zeit in den Straßen aus den Abflussgullys dringt. Zu diesem Zeitpunkt war der gesamte Fluss nur eine stinkende Kloake.“3

Faradays Beobachtungen wurden in der Times veröffentlicht. Sein eindringlicher Appell an die öffentlichen Instanzen, endlich zu handeln und die katastrophalen Missstände zu beseitigen, fand indes kein Ge-

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25 Am 21. Juli 1855 veröffentlichte die Zeitschrift Punch diese Karikatur zu Faradays Experiment auf der Themse. Aus dem verschmutzten Fluss taucht völlig verdreckt Neptun, der Wassergott, auf. Anstelle seines Dreizacks hält er eine Mistgabel in seiner Linken. hör. Damals wie heute braucht es mehr als wissenschaftliche Untersuchungen, um Politiker zu Aktionen zu bewegen. Dieses Mal jedoch kamen die Politiker rascher, als ihnen lieb war, mit der Realität in Kontakt. Das neu erbaute Parlamentsgebäude stand nämlich an den Ufern der Themse. Und an den drückend heißen Tagen des Sommers 1858 stach ihnen der penetrante Geruch in die Nase.

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Diese direkte Konfrontation zeigte Wirkung. Erste Schritte gegen die Verschmutzung der Themse wurden mit einem Gesetzeserlass im gleichen Jahr in die Wege geleitet. Aber Entscheidendes passierte nicht. Da starb 1861 Prinz Albert, der Gemahl von Königin Viktoria, im Alter von 42 Jahren an einer Typhusinfektion. Jäh war das „öffentliche Gewissen“ wach gerüttelt. Städtehygienische Maßnahmen wie Kanalisation und Wasserleitung wurden gefordert – und endlich umgesetzt. Das in Angriff genommene Projekt hatte gigantische Dimensionen und wurde von Zeitgenossen nicht zu Unrecht als „das umfassendste und wunderbarste Werk der modernen Zeit“ beschrieben (Observer 1862).4 Dabei war man sich der antiken Vorbilder allerdings bewusst. 1842 war eine königlich-britische Kommission, welche die Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesundheit zu prüfen hatte, nach Rom gereist und hatte die römischen Kanalanlagen am Kolosseum und am Amphitheater inspiziert. Jahrzehnte mussten aber verstreichen, bis unter der Ägide des Ingenieurs Joseph Balzagette (1819 – 1891) ein Kanalisationssystem entwickelt wurde, das als technische Meisterleistung gelten kann und dem römischen Vorbild mehr als ebenbürtig war. An beiden Ufern der Themse wurden Sammelkanäle angelegt, die erst weit unterhalb von London ausmündeten. Das Kanalisationssystem wurde 1868 fertig gestellt und bestand aus fünf riesigen Tunneln aus Ziegelstein mit einer Gesamtlänge von rund 130 Kilometern. Tag für Tag wurden 52 Millionen Gallonen (234 Millionen Liter) Regenwasser und unbehandeltes Abwasser in die Themse geleitet. Das Ergebnis: London wurde innerhalb von einem Jahrzehnt zur saubersten Großstadt Europas. Der stärkste äußere Faktor für städtehygienische Maßnahmen war die hohe Zahl an Todesopfern aufgrund von Seuchen. Eine Schlüsselrolle für den Bau von Kanalisationen im 19. Jahrhundert spielte die Cholera. Fünf Pandemien forderten in Europa Zehntausende von Toten. Am höchsten war die Zahl der Opfer in den dicht bevölkerten Städten Europas. London bildete einen idealen Brutherd für eine Seuche wie die Cholera. Eklatant waren die Mängel im Bereich der Abwasserbeseitigung, sei es organisatorisch oder baulich. Noch immer waren die von Heinrich VIII. (1491 – 1547) eingesetzten Commissions of Sewers (Abwasserkommissionen) für Anlage und Reinigung von Entwässerungskanälen zuständig. Aber diese Behörde, die für das London des 16. und 17. Jahrhunderts noch genügt haben mochte, war

„Ich bin der Meinung, dass nicht einmal die Hälfte des Unrates, welcher in der Metropole London produziert wird, seinen Weg in die Abwasserkanäle findet. Denn er wird in den Senkgruben zurückgehalten und liegt in und um die Häuser … Es gibt Hunderte, ich möchte behaupten Tausende von Häusern in dieser Stadt, die keine Abwasserkanäle besitzen. Dazu hat der größere Teil stinkende und überfließende Senkgruben … In Wahrnehmung meiner amtlichen Pflichten habe ich von Zeit zu Zeit viele Orte besucht, in denen der Kot um die Häuser, Keller und Höfe aufgehäuft lag, und zwar in solcher Menge und Höhe, dass man sich nur mit Mühe bewegen konnte. Ich traf Menschen, die in Räumen lebten und schliefen, deren Wände und Flure von Jauche trieften.“5

In Edwin Chadwick (1800 – 1890), dem Sekretär der Kommission für Armenrecht, fanden die Ärmsten einen Anwalt im Kampf für menschenwürdige Lebensbedingungen. Er begann damit, das unangenehme und diffuse Thema der sanitären Bedingungen der Arbeiter-

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den Anforderungen des Industriezeitalters eindeutig nicht mehr gewachsen. 1832 gab es acht solcher „Reinigungsbehörden“, die jeweils nur einen kleinen Bezirk der Stadt verwalteten und von einander unabhängig agierten. Anfänglich führten die Abwasserkanäle nur Oberflächenwasser. Die Haushalte mussten ihre Abfälle in eigens dafür errichteten Senkgruben entsorgen. Erst nach 1815 bekamen sie offiziell die Erlaubnis, auch die Kanäle zu nutzen. Die Entwässerungskanäle mündeten stets auf dem kürzesten Weg in die Themse. Zur Zeit der Flut waren sie geschlossen, und nur während der Ebbe konnten sie ihren Inhalt in den Fluss entleeren. Wenn die Flut nicht stark genug war, den Unrat ins Meer zu schwemmen, blieb er im Fluss und an seinen Ufern liegen. Ein Teil der unterirdischen Kanäle war im Lauf der Zeit undicht geworden, daher sammelte sich dort Unrat an und verwandelte sie in unterirdische Fäkalsümpfe. Außerdem gab es viele offene Gräben, in denen die Abwässer mangels Gefälle liegen blieben und faulten. Als besonders heikel erwiesen sich die Senkgruben, von denen man um 1810 über 200 000 zählte (bei einer Bevölkerung von einer Million). In den allermeisten Fällen waren sie undicht und verseuchten das Trinkwasser. Besonders schlecht stand es in dieser Hinsicht in den Armenvierteln. Der Bericht eines Beamten der Sanitätskommission aus dem Jahr 1841 schildert die katastrophalen Zustände:

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klasse Londons in eine öffentliche Angelegenheit zu verwandeln. Die Ergebnisse von Untersuchungen belegten: Je beengter die Bewohner eines Stadtviertels wohnten, um so höher war auch die Sterblichkeit. Eine neue Welle der Cholera in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts löste in den Londoner Slums panischen Schrecken aus. Im Juli 1849 veröffentlichte die Times den Hilfeschrei einiger Slumbewohner.

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„Herr Redakteur! Wir erbitten und erflehen Ihre Hilfe. Wir leben in Schmutz und Kot. Die Kanalisationsgesellschaft in Creek Street Soho Square, alle die reichen und mächtigen Leute kümmern sich nicht im mindesten um unsere Beschwerden. Vor dem Gestank der Gullys wird es einem übel; wir leiden alle darunter und viele sind krank. Gestern waren ein paar Herren hier, und wir meinten, sie wären von der Kanalisationsgesellschaft. Sie hatten sich aber nur über den Unrat und Gestank in unseren Gassen und Höfen beschwert. Sie hätten, sagten sie, bis in die New Oxford Street hinein darunter zu leiden. Was sie im Kellerraum von Nr. 12 der Carrier Street hier bei uns zu sehen bekamen, hat sie sehr gewundert. Es starb dort gerade ein Kind am Fieber. Sie wollten es nicht glauben, dass dort Nacht für Nacht 60 Menschen schlafen und dafür 3 Shilling zahlen, obwohl das Kellerloch so eng ist, dass man sich kaum umdrehen kann. Wir haben keine Aborte, auch keine Mülleimer, keine Abwasserkanäle, keine Wasserleitung [Hervorhebung durch den Verfasser]. Kommt die Cholera hierher, dann gnade uns Gott!“ 6

Und die Cholera kam! Im Halbjahr 1848/49 fielen ihr 53 000 Menschen zum Opfer. Angesichts der katastrophalen hygienischen Bedingungen erstaunt dies nicht: Noch im Jahr 1850 hatten in London 80 000 von 690 000 Häusern keine Wasserversorgung. Ein Großteil der Bevölkerung war auf die in Höfen oder öffentlichen Plätzen errichteten Pump- und Laufbrunnen angewiesen, deren Wasser meistens aus der (schmutzigen) Themse stammte. Nicht besser stand es im Hinblick auf die Toiletten: „Wir haben keine Aborte!“ – so stellte sich die Sachlage in den Armenvierteln dar. Gleichzeitig erhöhte gerade die steigende Zahl der Toiletten mit Wasserspülung – immer beliebter bei den Gutsituierten – die Verschmutzung der Themse und die Gefahr von Infektionen. Wie erwähnt, wurden in London menschliche Exkremente in Senkgruben aufgefangen. Wenn die Senkgruben in regelmäßigen Abständen geleert wurden, war dieses

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Entsorgungssystem vertretbar. Doch gerade bei der Entsorgung haperte es. Edwin Chadwick brachte es in seinem Report auf den Punkt: Wenn die Leerung einer Senkgrube Kosten in Höhe von einem Schilling verursache – der durchschnittliche Tageslohn eines Handwerkers betrug gerade einmal drei Schilling –, könnten sich die meisten Leute eine ordentliche und geregelte Entsorgung schlicht und einfach nicht leisten. Das Aufkommen der Toiletten mit Wasserspülung verschärfte das Problem, denn es fiel eine viel höhere Flüssigkeitsmenge an. Seit 1830 konnte man in London eine steigende Popularität des Wasserklosetts verzeichnen. Berechnungen zufolge verdoppelte sich der Wasserverbrauch im Zeitraum von sechs Jahren (1850 – 1856). Die Senkgruben wurden dadurch schneller voll und hätten in noch kürzeren Zeitabständen geleert werden müssen, was natürlich nicht passierte. Die Senkgruben flossen stattdessen über – eine ideale Brutstätte für die Übertragung ansteckender Krankheiten. Es ist paradox, doch die wachsende Beliebtheit des Wasserklosetts wurde zu einem seuchenhygienischen Problem, denn die Infrastruktur, an die es gebunden war, konnte die höhere Menge des anfallenden Wassers nicht verkraften. Es entbehrt also nicht der Logik, dass einige englische Städte das WC verboten, weil sie die Belastung für das Abfluss- und Kanalisationssystem als zu hoch empfanden. Noch 1862 äußerte der Stadtschreiber (Town Clerk) von Manchester, dass er anstelle der Wasserklosette die althergebrachte Methode der Aschengruben bevorzuge. Der steigende Wasserverbrauch Londons war jedoch nicht allein auf den häufigeren Gebrauch des Wasserklosetts zurückzuführen. Dass immer mehr Menschen ein WC benutzten, hing auch mit dem einfachen Umstand zusammen, dass es immer mehr Menschen gab. Konkret: Mehr Menschen brauchen mehr Wasser, was wiederum in einer größeren Belastung für das Abwasser- und Kanalisationssystem resultierte; ein System, in dem die Themse die Hauptschlagader bildete. Aus dem natürlichen Gewässer wurde um die Jahrhundertmitte eine stinkende, schwarzbraune Kloake – ein Höllenpfuhl (a Stygian Pool), wie es ein Zeitgenosse treffend umschrieb. Wie bereits dargestellt, entstand in London die fortschrittlichste Kanalisation der damaligen Zeit. Das unter Bazalgette 1868 erbaute Kanalnetz konnte jedoch nur für zwei Jahrzehnte die Missstände verbessern. Das enorme Bevölkerungswachstum Londons und die damit einhergehende Verschmutzung erforderten einen weiteren Ausbau.

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1887 wurde beschlossen, dass nur noch flüssiger Abfall in die Themse geleitet werden sollte. Die festen Abfälle wurden im Meer versenkt. Diese Art der Entsorgung hatte in Großbritannien nahezu 100 Jahre, bis 1980, Bestand. Die Erstellung einer effizienten Schwemmkanalisation war ein Mammutprojekt, das gigantische Summen verschlang. Mit dem Ausbau der Kanalisation und der Wasserversorgung nahm die Zahl der Toiletten mit Wasserspülung stark zu. Aber die armen Haushalte konnten es sich noch lange Zeit nicht leisten, sich an das Kanalisationssystem anschließen zu lassen. In ganz Großbritannien war das WC auch im 19. Jahrhundert noch kein Massenphänomen. Eine der spärlichen Erhebungen vermittelt für die 60er-Jahre folgendes Bild: In Manchester zählte man in „besseren“ Häusern 10 000 Wasserklosette. In 38 000 Häusern benutzte man zur Entsorgung immer noch den Misthaufen und in 22 000 Häusern fehlte selbst diese primitive Einrichtung. In Salford, einem Sitz der englischen Tuchindustrie, fand man in 25 555 Häusern der Stadt 1500 Wasserklosette und 21 642 einfache Aborte. In Liverpool gab es über 31 000 Wasserklosette, die sich jedoch auf 86 000 Häuser verteilten, die von einer halben Million Menschen bewohnt waren. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert blieben der Nachttopf und die Senkgrube für viele Londoner und auch für den großen Teil der Bewohner Großbritanniens ein typischer Bestandteil ihres Alltags. Mit ganz ähnlichen Problemen wie London hatte Paris zu kämpfen. Die Lage der französischen Hauptstadt erwies sich als das Problem für eine nachhaltige Abfallbeseitigung. Der Boden der Stadt erhob sich nur vier bis fünf Meter über den tiefsten Wasserstand der Seine. Sowohl Regenwasser als auch Haushaltsabwässer hatten kein ausreichendes Gefälle zum Fluss hin, sie versickerten entweder im Erdboden oder bildeten große Pfützen auf den Straßen. Zudem wies die Seine ein geringes Strömungsgefälle auf. Da in Paris also keine ausreichenden Voraussetzungen dafür bestanden, Abfälle und Unrat dem „Wassergott“ zu übergeben, wurden vom 12. Jahrhundert an bis zum Regierungsantritt von König Franz I. (1515) die Fäkalien zusammen mit festen städtischen Abfällen auf „öffentliche Ablagerungsplätze“ gebracht. Bald häuften sich die Klagen der Anlieger solcher Plätze über den schrecklichen Gestank, der von diesen Örtlichkeiten ausging. Die Behörden sahen sich zum Eingreifen gezwungen. Der

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Magistrat von Paris erließ daher 1533 die Anordnung, dass jedes Haus mit einer Sammelgrube für Fäkalien ausgestattet werden müsse. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verstärkte sich der Zwang zum Bau von Fäkalgruben, weil eine Verordnung vorschrieb, dass jedes Haus über einen Abtritt (fosse à retrait) verfügen müsse. Die Entleerung dieser Gruben wurde durch die gadouards, die Grubenreiniger, gegen festgesetzte Taxen erledigt. Die Fäkalien wurden in der Nacht zu Depots transportiert, die außerhalb der Stadt lagen. Im Laufe der Zeit suchte man das Grubensystem durch das so genannte Tonnensystem abzulösen: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestimmte eine Polizeiverordnung, dass auf Grundstücken, die über keine Fäkalsammelgrube verfügten, Fäkalien in einem besonderen Raum in Tonnen aufzubewahren seien. Der Grund für den Wechsel war bei den undichten Senkgruben zu suchen: Die allmählich schadhaft gewordenen oder von Anfang an mit einer durchlässigen Sohle versehenen Gruben ließen die Fäkalien in den Untergrund versickern und verunreinigten das Grundwasser, das damals fast ausschließlich als Trinkwasser gebraucht wurde. Eine Besserung ließ auf sich warten: Auch im 19. Jahrhundert hatte man immer noch mit undichten Senkgruben zu kämpfen und sah sich gezwungen, neue und strengere Bauschriften zu erlassen. Beim Tonnensystem wurden unter den Abtrittröhren Behälter, die Tonnen (fosses mobiles) aufgestellt oder auch größere Reservoirs errichtet. Die meist fassförmigen Gefäße mussten jeweils zur Leerung ausgewechselt werden, die Reservoirs ließen sich in einen unterstellten Kastenwagen hinein entleeren. Grundsätzlich transportierte man den Inhalt der Fäkalgruben in der Nacht in Tonnenwagen an den Stadtrand zu den Fäkaldepots (dépotoir aux voiries), die „wie ein Kranz übelriechender Pestbeulen“7 die Stadt umsäumten. „Die Fäkalien in einer Tonne oder Grube zu sammeln oder abzutransportieren, erforderte großen Aufwand. Zudem löste das Tonnen- wie auch das Grubensystem das Problem der Stadtentwässerung nur unvollständig. Ungelöst blieb die Drainage des Stadtgrundes, das heißt die Ableitung aller übrigen häuslichen Abwässer neben den menschlichen Ausscheidungen, der gewerblichen Abwässer sowie auch des Regenwassers.“8 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging man in Paris dazu über, Kot und Urin zu trennen und gesondert abzuführen. Die Abtrittgruben wurden mit einem Gitter, dem Diviseur unterteilt. Die festen Stoffe

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mussten von Hand ausgeschöpft werden. Die Jauche jedoch floss über das bereits vorhandene Kanalnetz oder über die Rinnsteine der Straße ab, nachdem man sie zuvor mit chemischen Mitteln (Eisenvitriol) „desinfiziert“, das heißt geruchsfrei gemacht hatte. Auf ähnliche Weise ging man bei den beweglichen Abtrittkübeln, den fosses mobiles à diviseur filtrant à l’égout vor. Diese hatten im Unterschied zu den Tonnen im Innern einen Siebeinsatz, in dem der Kot hängen blieb, während für den Urin und für das Spülwasser (sofern bereits ein Wasserklosett vorhanden war) ein Auslauf konstruiert wurde. Das älteste Fäkaldepot der Seinemetropole war Montfaucon. Hierher wurde der größte Teil der Fäkalien gekarrt und machte diese Lagerstätte zu einem infernalischen Ort des Gestanks. Im Mittelalter hatte sich in Montfaucon die Richtstätte befunden und noch bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts auch die Abdeckerei und Pferdeschlächterei. 1832 nahm dieses Depot einen Raum von 10 Hektar ein und bestand aus zwei Reihen riesiger, offener Gruben, die auf zwei stufenförmig übereinander angeordneten Terrassen (mit einer Höhendifferenz von 15 Metern) angelegt waren. Die angefahrenen Fäkalien warf man in die Gruben der oberen Terrasse, wo sich allmählich die festen Bestandteile absetzten, während die Flüssigkeit in Form übelriechender Jauchebäche in die unteren Bassins überfloss, um dort teils zu verdampfen, teils in das Erdreich zu versickern. Als für die Fäkalmengen der ständig wachsenden Stadt die unteren Gruben nicht mehr ausreichten, verband man diese 1826 kurz entschlossen mit dem Kanal Saint Martin, der unterhalb von Paris bei Saint-Denis in die Seine mündet. Dass Montfaucon die steigende Menge der Fäkalien nicht mehr aufnehmen konnte, war eine direkte Auswirkung des rapiden Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert. Zwar war die Stadt kleiner als London – Schätzungen sprechen von 800 000 Menschen um 1820 –, doch auch hier waren Elend und Armut allgegenwärtig. Ein scharfsichtiger Zeitgenosse schrieb 1833: „Dieser Bevölkerungszuwachs zeitigte zwei Folgen, die, indem sie sich gegenseitig steigerten, nicht nur die Vorzüge gänzlich vernichtet haben, die unsere Vorfahren der Stadt einst damit verschafften, sondern die auch einen Zustand entstehen ließen, der in unserer Zeit sich der Barbarei annähert und der, sei es im Innern der Stadt, sei es in den umliegenden Ortschaften für mehr als 100 000 Menschen unerträglich

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er Bau von Kanalisationen, das Verschwinden von Unrat und Schmutz im Allgemeinen, verdrängte bis dahin heimische Tiere aus dem Stadtbild. So sind der Wiedehopf, ein Spezialist für die Vertilgung von Dunginsekten, oder „Mistkäfer“ nicht länger mehr im städtischen Umfeld anzutreffen. Doch der veränderten Umwelt wussten sich andere Tiere erfolgreich anzupassen. Zu den erfolgreichsten „Kulturfolgern“ gehört die Wanderratte. Durch den Bau von Kanalisationen wurde für dieses Tier ein neuer Lebensraum geschaffen. Wo immer Leitungen keine zu starke Steigung aufweisen, ist dieser Nager zu finden. Wenn die Kanalisation an Hängen zu stark in die Höhe steigt, ist die Besiedlung durch Ratten sehr schwach, weil sich in der Kanalröhre eine schlüpfrige Sielhaut bildet. In der Kanalisation herrschen für die Ratten nahezu ideale Nahrungsbedingungen, denn viele Küchenabfälle landen via WC in der Kanalisation. Bei mäßigem Vorkommen ist die Wanderrate ein durchaus nützliches Tier, dank ihrer „Hilfe“ gelingt es z. B., Schäden an der Kanalisation festzustellen. Dabei wird bei neu entdeckten Rattenlöchern mit Fluoreszenzfarbstoffen geprüft, ob diese mit der Kanalisation in Verbindung steht, d.h. ein Leck besteht.

geworden ist. Beide Folgen … sind unmittelbar durch die Zunahme jener Stoffmassen bedingt, die krankmachenden Gestank verströmen. Allein die Klärbecken jener Deponie haben eine Oberfläche von 32 000 Quadratmetern, ohne jene 12 Morgen zu rechnen, auf denen die getrockneten Fäkalien gelagert werden, oder die Fläche, die von der Pferdeabdeckerei beansprucht wird. Tag für Tag schafft man 230 bis 244 Kubikmeter Fäkalien aus den Senkgruben hierher, und unter freiem Himmel lässt man den größeren Teil der Kadaver von 12 000 Pferden und 25 – 30 000 andere Tiere verwesen.“9

Trotz heftiger Proteste gegen diese „ungeheuerlichen Zustände“ kam es erst 1849 zu einer endgültigen Schließung von Montfaucon. Nicht zuletzt erfolgte dieser Sinneswandel unter dem Eindruck der zweiten Cholerapandemie, die Paris vom März bis September 1849 heimsuchte und 19 000 Opfer forderte.

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Die Kanalratte: menschlicher Fortschritt und tierische Anpassung

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Weshalb forderte die Cholera in Paris einen derart hohen Tribut? Der Nährboden für Seuchen war ausgezeichnet, zumal der größte Teil von Paris keine Kanalisation hatte. Die Abwässer der einzelnen Haushalte wurden in Senkgruben aufgefangen. Wie in London waren die Kosten für deren Unterhalt für die meisten Bürger unannehmbar hoch und trug der erhöhte Wasserverbrauch – auch durch das WC – zur wachsenden Umweltbelastung bei. Verbraucht heute ein Europäer im Durchschnitt 150 Liter pro Tag, so standen einem Pariser durchschnittlich gerade einmal 13 Liter Wasser zur Verfügung – für die sozialen Unterschichten noch weniger. In den seltensten Fällen kam das Wasser damals mittels einer Leitung ins Haus. Über 20 000 Wasserträger versorgten die Pariser Haushalte mit dem kostbaren Nass. Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser war eine der großen Herausforderungen der wachsenden Metropole. Noch im 19. Jahrhundert holten viele Menschen ihr Wasser aus der Seine, während der Fluss langsam eine stinkende Kloake wurde. Um das Jahr 1835 gelangten täglich 300 – 350 Kubikmeter flüssige Fäkalien in den Fluss. Das Ausmaß der Seineverschmutzung unterhalb von Paris erreichte einen Grad wie bei der Themse. Der Bericht einer im Jahr 1874 eingesetzten Kommission schilderte drastisch den Zustand der Seine unterhalb der Ortschaft Asnières, wo drei der wichtigsten Pariser Hauptsammelkanäle endeten. Die Seine zeigte sich dort als eine mit einer fettigen Schmutzschicht überzogene Kloake. Der ganze Flusslauf befand sich im Zustand der Gärung; im Sommer stiegen große Gasblasen auf, die an der Wasseroberfläche zerplatzten. Unter dem Eindruck der Choleraepidemien wachte man endlich aus der Lethargie auf: Man nahm London zum Vorbild und entschied sich gegen einen Ausbau oder eine Umwandlung des Senkgrubensystems für den Bau einer Schwemmkanalisation. Wie in London wurde die Kanalisation in Paris zu einem ehrgeizigen Bauprojekt, dessen Anfänge indes bis in das 14. Jahrhundert zurückreichen. Doch bis Ende des 17. Jahrhunderts waren offene Abzugskanäle, die sich alle in die Seine ergossen, die Regel. Noch 1830 befand sich in Paris in der Mitte jeder Straße ein Rinnstein, in die Bächlein mit den Abwässern der einzelnen Häuser mündeten. Da kein Wasser zur Spülung vorhanden war, verbreiteten diese bei trockenem Wetter einen abscheulichen Gestank. Bei der Enge der Straßen mussten Wagen mit den Rädern auf einer Seite stets im Rinnstein fahren und schleuderten den Dreck auf die Fußgänger. Bei schlechtem Wetter konnte man die Straßen-

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mitte nur auf kleinen Notbrücken überschreiten, wenn man nicht bis über die Knöchel im Schlamm versinken wollte. Georges Eugène Hausmann (1809 – 1891) nahm als Präfekt von Paris das groß angelegte Projekt der Kanalisation in die Hand. Dank genialer Ingenieurkunst fand man technische Lösungen, um die Abwässer ohne Rückstau oder andere negative Nebenerscheinungen abfließen zu lassen. Bis 1872 war ein Kanalisationsnetz von 600 Kilometern Länge erstellt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Paris in vier weitläufige Entwässerungsgebiete mit leistungsfähigen Hauptsammlern aufgeteilt. 1867 waren die ersten drei großen Abwassersammler in Paris fertig. Damit war das erste Ziel erreicht, nämlich die Verunreinigung der Seine innerhalb der Stadt abzustellen. Die Einleitung der Abwässer in die Seine hörte 1899 schließlich ganz auf. Allerdings nur gegen erbitterten Widerstand: Als die Regierung 1874 entschied, dass die Abwässer der Stadt nicht länger in die Seine geleitet werden dürften, sondern auf Felder ausgetragen werden sollten, löste dies bei den betroffenen Gemeinden erbitterten Widerstand aus. Eine Delegation von Parlamentariern, die die Felder besichtigte, wurde von Hunderten von aufgebrachten Menschen bedroht. Erst als sich der Zustand der Seine unterhalb von Paris katastrophal verschlechterte, brach der Widerstand gegen die Rieselfelder zusammen. Von da ab wurden die Abwässer auf Rieselfelder mit einer Gesamtfläche von rund 3000 Hektar geleitet. Die neue Kanalisation war keine vollendete Schöpfung. In erster Linie kamen ihre Verbesserungen nur dem Kerngebiet von Paris zugute. Zudem wiesen die unterirdischen Abzugskanäle einen schwerwiegenden Nachteil auf, waren sie doch lediglich für die Entwässerung der Straßen gebaut. Ende 1887 gab es in Paris noch 64 896 Senkgruben von 20 – 30 Kubikmeter Inhalt, 17 974 transportable Tonnen und 33 210 eiserne Behälter (tinettes filtrantes). Nur langsam stieg die Zahl der privaten Toiletten mit Wasserspülung. Langsam und oftmals gegen störrischen Widerstand der Hauseigentümer wurden Privathäuser an das Netz angeschlossen. Um 1885 zählte man in Paris 26 000 WCs, die von etwa einer halben Million Einwohner benutzt wurden. Die große Mehrheit der Pariser Bevölkerung musste um 1900 jedoch noch immer ohne komfortable sanitäre Einrichtungen auskommen. So blieb Paris auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, was es über Jahrhunderte gewesen war: eine Weltstadt des Gestanks.

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Der Hunger nach Dünger: ie Poudrettefabrik und der Kunstdünger

Als Arthur Young (1741 – 1820) kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution Frankreich und Italien bereiste, schockierte ihn das niedrige Niveau der französischen Landwirtschaft. Im Elsass jedoch versetzten ihn Dunghaufen in helles Entzücken. Diese, sorgfältig mit Strohbündeln aufgeschichtet und mit Blättern abgedeckt, seien das schönste Schauspiel, das er je gesehen habe. Wahrscheinlich hatte der Mensch schon sehr früh erkannt, dass ein gedüngtes Feld höhere Erträge abwirft. Über Jahrtausende hinweg konnten in der Landwirtschaft nur organische Düngemittel eingesetzt werden, wobei in erster Linie Hoftiere und erst in zweiter Linie Menschen den begehrten Dünge-Rohstoff lieferten. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hielten in Mitteleuropa deshalb viele Bauern ihr Vieh in erster Linie um des Düngers willen. Und der Schweizer Bauer Kleinjogg (1716 – 1785), der sich darum bemühte, „alles, was sich schickt, zu Mist zu machen“, wurde allerorten als Vorbild betrachtet. Besonders hohen Wert legte Kleinjogg auf die Sammlung der flüssigen Jauche, die er „das köstlichste Material“ nannte. Mist war überaus begehrt. Jeremias Gotthelf (1797 – 1854), ein ausgezeichneter Beobachter des bäuerlichen Lebens im 19. Jahrhundert, lässt in seinen Romanen seine „Helden“ wieder und wieder auf die Bedeutung von Mist und Jauche zu sprechen kommen. „Seine Rosse waren die schönsten weit und breit, die Kühe glänzten, und einen solchen Misthaufen hätte er noch nie gehabt“, dies war es, was einen Musterbauer auszeichnete.10 „Wo Mistus, da Christus“ wurde zum geflügelten Wort, und diese Wertschätzung des natürlichen Düngers war nicht nur bei den Bauern zu finden. So wusste Goethe von seiner Italienreise zu berichten: „Eine sehr große Anzahl von Menschen, teils mittlern Alters, teils Knaben, welche meistenteils sehr schlecht gekleidet sind, beschäftigen sich, das Kehricht auf Eseln aus der Stadt zu bringen. Das nächste Feld um Neapel ist nur ein Küchengarten, und es ist eine Freude, zu sehen, welche unsägliche Menge von Küchengewächsen alle Markttage hereingeschafft wird und wie die Industrie der Menschen sogleich die überflüssigen, von den Köchen verworfenen Teile wieder in die Felder bringt, um den Zirkel der Vegetation zu beschleunigen. Bei der un-

Kot und Urin: Allheilmittel und wertvoller Zusatzstoff

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enige bis keine Berührungsängste gegenüber Exkrementen von Mensch und Tier zeigte die Volksmedizin, schrieb sie doch Kot und Urin Heilkräfte zu. Einen großen Bekanntheitsgrad erlangte das 1696 erschienene Buch Neu vermehrte heilsame Dreckapotheke, wie näm-

lich mit Kot und Urin fast alle … Krankheiten innerlich und äußerlich kuriert werden. Therapeutisch wurde menschlicher Urin als Haarwuchsmittel verwendet und – vermutlich wegen seiner desinfizierenden Wirkung – zum Gurgeln bei Diphtherie. Menschenkot sollte gegen geschwollene Brüste bei Wöchnerinnen, gegen Geschwüre und Geschwülste helfen. Bei Brandwunden verhüte er Entzündungen. Äußerst zahlreich sind Rezepte mit tierischem Kot. Wahre Wunder versprach die Einnahme von Mäusekot bei Verstopfung: „Der Kot der Maus überzuckert, fünf auf sechs Gramm eingeben, öffnet den Kindern den Leib.“ In anderen Bereichen glaubte man ebenfalls an die besonderen Kräfte des Urins. So wurden die besten Tabaksorten aus Amerika in den Aborten aufgehängt, „damit die Dünste, die von dem menschlichen Kot und Harn aufsteigen, die verdorbenen und schädlichen Stoffe in der Pflanze in ihrem rohen Zustande verbesserten“. 1888 soll auf Havanna „beim Zigarrenmachen der weibliche Harn als gutes Einweichmittel“ gebraucht worden sein. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aus einer Reihe von Prozessen bekannt, dass Harn zur „Verbesserung“ von Käse verwendet worden ist.12

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Der Hunger nach Dünger: Die Poudrettefabrik und der Kunstdünger

glaublichen Konsumtion von Gemüse machen wirklich die Strünke und Blätter von Blumenkohl, Broccoli, Artischocken, Kohl, Salat, Knoblauch einen großen Teil des neapolitanischen Kehrichts aus; diesen wird denn auch besonders nachgestrebt. Zwei große biegsame Körbe hängen auf dem Rücken eines Esels und werden nicht allein ganz voll gefüllt, sondern noch auf jeden mit besonderer Kunst ein Haufen aufgetürmt. Kein Garten kann ohne einen solchen Esel bestehen. Ein Knecht, ein Knabe, manchmal der Patron selbst eilen des Tags so oft als möglich nach der Stadt, die ihnen zu allen Stunden eine reiche Schatzgrube ist. Wie aufmerksam diese Sammler auf den Mist der Pferde und Maultiere sind, lässt sich denken.“11

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Ein ähnliches Schauspiel wird aus Flandern geschildert, wo man adrett gekleideten Frauen beim Sammeln von Pferdeäpfeln zuschauen konnte. Wer nun glaubt, dass eine derartige Wertschätzung von Fäkalien der fernen Vergangenheit angehört, liegt falsch. Noch 1918 – 1939 wurden in den Dörfern bei Châlons-sur-Marne Straßen und Straßenabschnitte zum Einsammeln von Rossmist verpachtet! Im 19. Jahrhundert wurde das Angebot an menschlichen und tierischen Fäkalien in Europa durch einen „Fremdling“ vermehrt. Auf seiner Süd- und Mittelamerikareise erkannte Alexander von Humboldt (1769 – 1859) als Erster den Wert von Guano als Dünger. Als Guano (ketschua: huanu, Dung) werden getrocknete Exkremente bestimmter Wirbeltiere – insbesondere von Seevögeln – bezeichnet, die als Mineraldünger sehr geschätzt werden. Vogelguano stammte hauptsächlich von Inseln vor der Küste Perus, der Baja California und Afrikas, wo Kormorane, Pelikane und Tölpel in großer Zahl vorkommen. Guano von Fledermäusen konnte weltweit in Höhlen gefunden werden. Robbenguano wiederum hatte sich in gewaltigen Ablagerungen auf den Lobos Inseln, nordwestlich von Peru, erhalten. Riesige Guanohaufen von über 30 Meter Höhe waren hier zu finden. Während man in Peru Guano schon vor der Eroberung durch die Spanier verwendet hatte, wurde Guano in Europa erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt. Die ausgezeichnete Qualität dieses Düngers sprach sich rasch herum, und 1850 hatten die Peruaner begonnen, große Mengen auszuführen. Als die peruanischen Vorräte zur Neige gingen, nutzte man andere Quellen in Mexiko, Chile und auf einigen pazifischen Inseln. Doch nichts schien den Hunger nach Dünger in der Landwirtschaft Europas stillen zu können, sodass man auch auf uns merkwürdig anmutende Lösungen verfiel. In Frankreich begann man bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts menschliche Exkremente in Form von Briketts oder Würfeln zu pressen, zu trocknen und an landwirtschaftliche oder gärtnerische Abnehmer zu verkaufen. Dieses Konzept der Poudrettierung war vor allem dann angebracht, wenn in größeren Städten wegen der Entfernung bis zur Nutzungsstelle oder wegen der Menge der Exkremente eine Zwischenlagerung erfolgen musste. In Deutschland wurde das Verfahren angewendet, als die Choleraepidemie in Hamburg 1892 die Angst vor den Fäkalien ins Maßlose gesteigert hatte.

„Unsere Abtrittgruben, in denen der Unrat am meisten konzentriert ist, sind … Goldgruben. Aber noch alle Poudrettefabriken, die den Inhalt dieser Gruben verwerteten, sind zu Grunde gegangen. Die Massen sind zu verdünnt und zerstreut; die Gewinnung derselben und die Verwandlung in eine transport- und marktfähige Ware lohnte sich nicht … Wenn man nun doch kanalisieren, die Kanäle gehörig spülen und das nötige Quantum Wasser beschaffen muss, so ist es nurmehr eine

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Der Hunger nach Dünger: Die Poudrettefabrik und der Kunstdünger

Für die Herstellung von Poudrette kannte man damals verschiedene Verfahren, z. B. das Podewils-Verfahren. Dabei wurden die Fäkalien mit Rauch konserviert, danach auf einen Wassergehalt von etwa 50 Prozent eingedampft, in Trockenkästen konzentriert und mit Torf, Asche oder Erde zu Ziegeln geformt. Nach einer weiteren Trocknung wurde das Produkt gemahlen und in pulverisierter Form als Handelsware angeboten. Dieser Poudrette-Dünger enthielt etwa sechs bis acht Prozent Stickstoff, ein bis vier Prozent Phosphorsäure und drei bis acht Prozent Kali. Nach anderen Verfahren erhielten die Fäkalien einen Schwefelsäureüberschuss und wurden dann in großen Vakuumkesseln unter direkter Wärmeeinwirkung eingedickt. Diese Masse gelangte in geheizte, rotierende Trommeln, wo sie in ein dunkelbraunes Pulver umgewandelt wurde, das mit etwa sieben Prozent Stickstoff und je 2,5 Prozent Phosphorsäure und Kali in den Handel gebracht wurde. Dieser Herstellungsprozess hatte jedoch gewichtige Nachteile: Im Vergleich zu anderen Düngemitteln war er energieaufwändig und teuer. Für die Verdampfung von zehn Kilogramm Fäkalien benötigte man beispielsweise ein Kilogramm Kohle oder, anders gerechnet, aus 60 Kubikmeter Fäkalien ließ sich ein Kubikmeter Poudrette gewinnen. In Paris wurden 1898 zwei Drittel aller Fäkalien von einer Privatgesellschaft direkt an Landwirte verkauft oder zu Poudrette verarbeitet. Eine Anlage in Kiel verarbeitete seit ihrer Inbetriebnahme im Jahr 1901 täglich 60 000 Liter Fäkalien. Trotz des relativ hohen Preises stieß die Poudrette vor allem in Gärtnereien auf eine rege Nachfrage. Aber die künftige Entwicklung war vorgezeichnet: die Abschwemmung der Fäkalien über die Kanalisation setzte sich langfristig durch. Samuel Pettenkofer (1818 – 1901), Professor der Hygiene in München, hatte die Aussichten für Poudrettefabriken schon früh als sehr ungünstig beurteilt. Schon am 31. Januar 1876 hatte er in einem Vortrag prophezeit:

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Frage der Finanz, was wohlfeiler sei, diesen Spülkanälen die Exkremente zu übergeben oder letztere zu sammeln und abzuführen. In diesem Falle können die Exkremente recht gut als Dünger für die Landwirtschaft verwendet werden. Aber dann muss die Landwirtschaft dafür eintreten und den Hauseigentümern die Beseitigung dieser Abfälle ermöglichen. Sie muss etwas dafür bezahlen. Jetzt wollen die Ökonomen uns zwingen, ihnen den Dünger auf ihre Felder zu führen und dafür, dass wir den Dünger auf ihren Äckern abladen dürfen, sogar noch zu bezahlen. Das ist ein unnatürliches Verhältnis und wird deshalb auch, namentlich in größeren Kommunen, nicht durchdringen. Der Wassertransport ist, wie im Allgemeinen, so auch für die Exkremente billiger als der Transport zu Lande. Dies wird der einfache Grund sein, so lange die Landwirtschaft für die Abfuhr nichts bezahlt, die Exkremente dem Spülsystem zufallen ….“13

Die meisten Poudrettefabriken in Deutschland und Frankreich stellten ihre Tätigkeit spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Ein wesentlicher Grund dafür war die Einführung der Schwemmkanalisation, wie es Pettenkofer vorausgesehen hatte. Ferner gab es Bedenken in hygienischer Hinsicht, darüber hinaus fühlten sich die Anlieger durch den penetranten Gestank belästigt und waren die Poudrettefabriken wirtschaftlich nicht oder nur in geringem Maß rentabel. Den Todesstoß versetzte den Fabriken jedoch die Konkurrenz durch den billigen Kunstdünger. Die Wirkung des Düngers und die Erschöpfung des Bodens waren bisher unerklärt geblieben; wie die Biologen an die Lebenskraft, so glaubte man an eine „Bodenkraft“ im Humus. Der Chemiker Justus von Liebig (1803 – 1873) hat in seiner Abhandlung Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agriculturchemie und Physiologie (1840) den Stoffwechsel der Pflanze im Verhältnis zu Boden und Luft, Stickstoff und Mineralien analysiert. Er schloss nun, dass Stallmist durch seine mineralischen Bestandteile, durch Phosphat, Kali- und Magnesialsalze und Nitrate, ersetzbar wäre. Liebig errechnete für eine Reihe von Kulturpflanzen die günstigste Zusammensetzung eines künstlichen Düngers und stellte den Grundsatz auf, dass der Boden, wenn er seine Kraft nicht erschöpfen soll, „in vollem Maße wiedererhalten muss, was ihm genommen wird; in welcher Form dies Wiedergeben geschieht … ist wohl ziemlich gleichgültig. Es wird die Zeit kommen, wo man jede Pflanze, die man darauf erzielen will, mit dem ihr zu-

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in kurioses Kapitel der Entsorgung der Fäkalien ist das Feuerklosett. Bei diesem Toilettentyp versuchte man die Exkremente durch starke Erhitzung sehr rasch zu trocknen. Der Urin wurde abgeführt und häufig von Torferde aufgefangen. Für ein Mehrfamilienhaus war folgende Lösung vorgesehen: „Im Keller des zweigeschossigen Hauses ist der Verbrennungsofen des Feuerklosetts aufgestellt. Derselbe besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: a) aus zwei Walzen. Auf diese fallen die Fäkalien und breiten sich auf denselben, wenn die Walzen gedreht werden, in dünner Schicht aus. Die Drehung der Walzen erfolgt beim Öffnen und Schließen der zum Klosett führenden Tür vermittels eines Drahtseiles, das an der Tür befestigt ist; b) aus der Feuerungsanlage. Zur Heizung dient Holz oder Kohle. Das Feuer bestreicht die Walzen und verbrennt die Fäkalien. Auch das Feuer wird durch das oben erwähnte Drahtseil reguliert, indem ein Schüttelrost eine um so größere Menge Brennmaterial hergibt, je häufiger das Klosett benutzt wird. – Der Verbrauch von Feuerung ist gering. Die Resultate des neuen Apparates sollen günstiger sein. Ein einziges Fallrohr verbindet alle Klosetts beider Geschosse mit dem Ofen.“14 In Leipzig gewann noch 1892 ein „Verbrennungsofen für Fäkalien“ eine goldene Medaille. Geworben wurde mit den Worten: „Der Apparat ist dazu bestimmt, Fäkalien und sonstige organische Abfälle der Hauswirtschaft zu trocknen bzw. rauch- und geruchlos zu verbrennen. Die in dem Ofen erzeugte Wärme kann im Winter zur Heizung des Hauses mit verwendet werden.“15

kommenden Dünger versieht, den man in chemischen Fabriken herstellt.“16 Das war mehr als eine revolutionäre methodische Analyse. Damit waren auch die „Zeugungskraft“ der Erde und das „Gesetz“ vom abnehmenden Bodenertrag hinfällig. Eine bis dahin ungeahnte Steigerung der Erträge wurde möglich; die Landwirtschaft emanzipierte sich ein Stück von der Natur. Konkret wurde die Landwirtschaft von den knappen organischen Düngestoffen unabhängiger, die anorganischen Stoffe konnten sie ersetzen. Der Mensch vermochte sich dank seinem Erfindungsgeist aus einem Stoffkreislauf befreien, dem er

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Der Hunger nach Dünger: Die Poudrettefabrik und der Kunstdünger

Feuer unter dem Hintern: das Feuerklosett

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über Jahrtausende unterworfen gewesen war. Ohne Liebigs Werk könnte auf dem knappen Boden Europas und dem immer knapper werdenden landwirtschaftlichen Flächen der Welt nur ein Bruchteil der heute lebenden Menschen ernährt werden. Justus Liebig hatte sich die einzigartige Kontinuität der chinesischen Hochkultur damit erklärt, dass die Chinesen die Rückführung der Fäkalien in Perfektion vollzögen. Nun hatte seine Entdeckung den Weg dazu geöffnet, der Abhängigkeit von natürlichen Düngemitteln zu entrinnen. In der Antike wie im Mittelalter hoch geschätzt und gar mit Geld aufgewogen, wurden die menschlichen und in gewissem Maß auch die tierischen Exkremente nun zu einem überflüssigen Abfallprodukt. Dabei geschah die Abschwemmung in eine Kanalisation, die die Fäkalien in einen nahen Fluss führte, leichten Herzens. Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein verzichteten freilich viele europäische Großstädte auf den Bau von Kläranlagen. Aber auch Kläranlagen, die noch so aufwändig konstruiert sind, täuschen nicht darüber hinweg, dass es sich bei diesem Entsorgungsweg um eine so genannte end of pipe Lösung handelt. Anstatt rein organische und häusliche Abfälle auf möglichst schnellem und kurzem Weg wieder in den natürlichen Materialkreislauf zurückzuführen, werden sie erst am Schluss in einem komplizierten und teuren Verfahren zurückgewonnen. Es erstaunt deshalb nicht, dass heute verschiedenste Autoren zu einem vernichtenden Urteil der Schwemmkanalisation kommen: „Die Schwemmkanalisation ist einer der großen ökologischen Irrwege der Entsorgung.“17 Der eigentlich ökologisch und letztlich auch ökonomisch sinnvolle Ausweg aus der Zentralisierungs- und Entkopplungssackgasse müsste die sinnvolle Rückkehr zu dezentraler Entsorgung bzw. Abwasservermeidung sein. Dem 21. Jahrhundert stehen hier noch gewaltige Aufgaben bevor. Zweifelsohne würde damit auch ein neues Kapitel in der Geschichte des stillen Örtchens aufgeschlagen.

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„Die Miasmenlehre“: ie Luft eine bedrohliche Brühe?

Alexander von Humboldt (1769 – 1859) verkörperte im 19. Jahrhundert eine äußerst rare Spezies: den uomo universale, das Universalgenie, wie man es von der Renaissance her kennt. Ein letztes Mal zeichnete ein Einzelner ein wirklich allumfassendes Bild der Welt. Auf

„Am achten Tage genas ein Matrose, der schon in den letzten Zügen lag, durch einen Umstand, der der Erwähnung wohl wert ist. Seine Hängematte war so befestigt, dass zwischen seinem Gesicht und dem Deck keine zehn Zoll Raum blieben. In dieser Lage konnte man ihm unmöglich die Sakramente reichen; nach dem Brauch auf den spanischen Schiffen hätte das Allerheiligste mit brennenden Kerzen herbeigebracht werden und die ganze Mannschaft dabeisein müssen. Man schaffte daher den Kranken an einen luftigen Ort bei der Decksluke, wo man aus Segeln und Flaggen ein kleines viereckiges Gemach hergestellt hatte. Hier sollte er liegen bis zu seinem Tode, den man nahe glaubte; aber kaum war er aus einer übermäßig heißen, stockenden, von Miasmen erfüllten Luft in eine kühlere, reinere, fortwährend erneuerte gebracht, so kam er allmählich aus seiner Betäubung zu sich [Hervorhebung durch den Autor] Mit dem Tage, da er aus dem Zwischendeck fortgeschafft worden, fing die Genesung an ….“18

Humboldt war davon überzeugt, dass die frische und saubere Luft an Deck dem Seemann das Leben rettete. Wie seine Zeitgenossen glaubte Humboldt an die so genannte Miasmenlehre. Diese basierte auf der Annahme, dass sich in der Luft bzw. in den Ausdünstungen des Bodens ein krankheitsauslösender Stoff befinde. Danach glich die Atmosphäre einem riesigen Behälter, der die Ausdünstungen der Erde ebenso speicherte wie die pflanzlichen und tierischen Absonderungen. Die Luft war nichts anderes als eine bedrohliche Brühe, in der sich alles mischte und deren ungünstige Zusammensetzung auch Krankheiten auslösen konnte. Der Stellenwert der Luft hatte im 18. Jahrhundert eine neue Dimension erhalten. Joseph Priestley (1733 – 1804) und Carl Wilhelm Scheele (1742 – 1786) hatten 1771 ungefähr gleichzeitig den Sauerstoff entdeckt. Wenig später fand Antoine Laurent de Lavoisier (1743 – 1793) heraus, dass Sauerstoff für die Verbrennung unentbehrlich war. Er korrigierte damit Georg Ernst Stahl (1660 – 1734), der davon ausge-

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„Die Miasmenlehre“: Die Luft eine bedrohliche Brühe?

seinem Weg nach Südamerika (1799) wurde er Zeuge eines kleinen Wunders, das sich an Bord des Schiffes ereignete. Mehrere Passagiere und zwei Matrosen waren an einem bösartigen Fieber erkrankt, das scheinbar den extrem hohen Temperaturen im Zwischendeck und der mangelnden Belüftung zuzuschreiben war. Der Schiffsarzt wusste nicht zu helfen und Humboldt fürchtete bereits selbst ein Opfer des Fiebers zu werden. Da passierte das Unerwartete:

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gangen war, dass das Phlogiston (griechisch phlogistos heißt verbrannt), eine brennbare Substanz sei, die bei jeder Verbrennung den brennbaren Körper mit der Flamme verlasse und von der umgebenden Luft aufgenommen werde. A propos umgebende Luft: Noch hatte man nicht erkannt, dass es sich dabei um ein Gemisch aus mehreren Gasen handelte. Aber in vielfältigen und teilweise grausamen Versuchen fand man heraus, dass die Luft, obwohl nicht sichtbar und fühlbar, ganz offensichtlich zum Leben notwendig war. In einer Welt, die von abergläubischer Furcht und Irrationalität geprägt war und in der der wissenschaftliche Fortschritt nur sehr langsam Fuß fassen konnte, stieß die Miasmenlehre, die Fäulnis und Gestank mit religiösen Vorstellungen und Mythologien vermengte und in die Nähe des Teuflischen und der Hölle rückte, auf beträchtlichen Anklang. Die Blütezeit dieses Mythos und zugleich der damit einhergehenden Fixierung auf die Fäkalien liegt etwa in den Jahren zwischen 1750 bis 1880 und erlebte ihren größten Widerhall in Frankreich. Die Ursprünge der Miasmenlehre reichen allerdings viel weiter zurück. Schon Hippokrates, der Vater der Heilkunde (460 – 370 v. Chr.), sah Miasmen als Ursache von Seuchen an. Als Miasmen bezeichnete er Erdausdünstungen und Ausdünstungen von Sümpfen, Leichen und Kometenschweifen. Solche krank machenden Beimengungen der Luft verursachten nach seiner Auffassung Pest und Fieber. Auch Galenos (129 – 201 n.Chr.), der berühmteste Arzt Altroms, hielt Miasmen für die Ursache von Seuchen: sie entstünden aus unbeerdigten Kadavern, durch Ausdünstungen von Sümpfen, begünstigt durch Hitze. Später setzte man Miasmen mit schlechter Luft bzw. Gestank gleich. Bis zur Entdeckung von Bakterien als Krankheitserregern (vgl. das folgende Kapitel) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war das ganze Gebiet der Hygiene von der Auffassung beherrscht, dass faulige Dünste – Miasmen, die man schon chemisch zu analysieren suchte – die eigentlich schädlichen und lebensbedrohlichen Elemente seien, gegen die man beim Kampf gegen die ansteckenden Krankheiten anzugehen hätte. Die Miasmenlehre erforderte einen Arzt, der über eine feine Nase und gute Beobachtungsgabe verfügte. Im Prinzip sollte der Arzt eine ganze „Riechlehre“ durchmachen und lernen, mit Serien von Geruchsarten und Geruchsstufen umzugehen, anhand derer man dann Vermutungen über die Art des Miasmas anstellen konnte. Die heute

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ie wissenschaftliche Beschäftigung mit der menschlichen Verdauung – genauer gesagt, der Erzeugung des Furzes – begann im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Heute weiß man, dass jeder Mensch pro Tag durchschnittlich einen halben Liter eines Gasgemisches abgibt, portioniert in etwa zehn Winden. Dieses Gasgemisch besteht vor allem aus Stickstoff, Wasserstoff, Kohlendioxid und bei einem Drittel der Menschen aus Methan. Um festzustellen, wer ein Methanfurzer ist, reicht ein Blick in die Kloschüssel: Wenn der Stuhl schwimmt, gehört man dazu. Methan macht den Stuhl leichter als Wasser. Man kann Methan auch auf andere Weise nachweisen: Es brennt blau. Auch der Wasserstoff ist extrem brennbar, was bei Teenagern mit Forscherdrang und Zündhölzern immer wieder zu Verbrennungen an empfindlichen Körperstellen führt. Warum kann ein Furz stark duften? Der unangenehme Geruch kommt vor allem von Schwefel-Wasserstoff-Verbindungen, die weniger als ein Prozent des Gasgemisches ausmachen, jedoch nach faulen Eiern riechen. Bakterien im Darm erzeugen sie beim Zerlegen von Nahrungsbestandteilen, die der Körper nicht abbauen kann. Je schwefelreicher die Nahrung ist, desto stärker ist auch der Gestank. Zwiebeln, Knoblauch, aber auch Blumenkohl, Eier oder Fleisch sind der Ursprung besonders übler Fürze. Bohnen dagegen, die unverdauliche Zuckerarten enthalten, führen zwar zu einer erhöhten Produktion von Gas, das aber nicht unbedingt nachhaltig stinkt. Und wie steht es mit dem lauten Furzen in aller Öffentlichkeit? Nicht nur heute ist ein solches Verhalten verpönt, auch in der frühen Neuzeit, im Mittelalter und in der Antike galt das laute Furzen als unangebracht. Erasmus von Rotterdam gab 1673 in seinem Anstandsbuch den Ratschlag, dass der Knabe zwar aus Gesundheitsgründen nicht „mit zusamen gedrücktem Hindern den Wind des Bauchs verhalten soll“, vielmehr solle er ihn, wenn er allzu sehr drückt, entweichen lassen, doch „soll ers nach dem alten Sprichwort mit einem Husten verhälen“.19

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Gedanken zum Furz

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noch erhaltenen Berichte der Mediziner und Hygieniker geben einen tiefen Einblick in die Psychologie der Eliten im späten 18. Jahrhundert und im Zeitalter der Revolutionen. Die sorgfältige Analyse von Rülpsern, Blähungen, Furzen, Koliken und übel riechenden Durchfällen des Patienten, die Abwägung der Grade innerer Fäulnis anhand des Geruchs der Ausscheidungen führten zu einer erstaunlichen Wachsamkeit gegenüber den Exkrementen. Die Miasmenlehre wurde eine treibende Kraft bei der Reinigung von Städten in Mitteleuropa. In Paris mehrten sich die Klagen: „Die Hauptstadt ist nur noch eine riesige Kloake, die Luft ist verdorben … und manche Viertel sind bereits so verseucht, dass die Einwohner kaum noch atmen können“20, meldete 1789 Alexandre Tournon. Im Justizpalast, im Louvre, in den Tuilerien, im Museum, ja sogar in der Oper würde man „verfolgt von den ekligen Gerüchen und Gestänkern der Bedürfnisanstalten“, so meinte Rousseau21. In den Gärten des Palais-Royal „weiß man im Sommer nicht, wo man sich hinsetzen soll, ohne den Geruch von abgestandenem Urin zu atmen. Kot sammelt sich überall, in den Alleen und vorab auf den Straßen, wo die Kloakenentleerer ihre Fracht einfachheitshalber hinkippten, um sich den Weg zum Schindanger zu ersparen.“22 Drastisch und wohl auch leicht übertrieben beschimpfte Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1814), Autor erfolgreicher Dramen, Paris als ein „Amphitheater von Latrinen“. Eine Latrine befände sich über der anderen und habe ihren Platz gleich neben der Treppe, der Türe oder der Küche und verbreite den schlimmsten Gestank23. Ein interessantes Phänomen stellte sich nun ein: Etwa ab Mitte des 18. Jahrhunderts sank die Toleranzschwelle gegenüber schlechten Gerüchen. Mitverantwortlich dafür waren zweifelsohne auch die wachsenden Kenntnisse in der Chemie der Gase, wie sie eingangs kurz besprochen wurden. In der Folge sagte man der schlechten, stinkenden Luft den Kampf an. Die Senkgrube, die ohne Ventilation, allein mit Hilfe von Kübeln und meist undichten Fässern geleert wurde, galt jetzt als unzumutbar. Immer häufiger kam es zu Hader und Zwist zwischen Kloakenreinigern und Anwohnern. Das Ausschlämmen der Senkgrube wurde als abscheuliche Marter empfunden, und wenn eine Ausbesserung gemacht werden musste, „fühlten sich die Hausbewohner beunruhigt“24. Auch von den Passanten waren oft lautstarke Beschwerden zu hören und immer häufiger kam es zu gerichtlichen Prozessen. Louis-Sébastien Mercier spottete: „Seit die Fa-

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26 Ab etwa Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtet man eine erhöhte Sensibilität gegenüber schlechten Gerüchen. Als eigentliche Geruchshölle erwies sich in Paris Montfaucon, der Hauptablageplatz für Fäkalien. milie der Gase, die Gattung der Säuren und der Salze am Horizont erschienen sind … zieht man allerseits gegen die mefitische Luft ins Feld. Dieses neue Wort hat sich durchgesetzt wie ein gewaltiges Sturmläuten; überall sieht man bedrohliche Gase, und die Geruchsnerven zeugen plötzlich von einer überraschenden Sensibilität.“25

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Gezielt suchte man nach geeigneten Mitteln zur Geruchsbekämpfung. 1777 wurde ein Wettbewerb zur Desinfektion der Senkgruben ausgeschrieben. Unter den neuen Mitteln befand sich das Eau de Javel, eine Bleichlauge, die ab 1788 in den Manufakturen des Grafen von Artois hergestellt wurde. Dieses Mittel erfreute sich nach seiner Einführung rasch großer Beliebtheit. Der Apotheker Labarraque ersetzte schließlich das Chlor durch Chlorkalk. 1823 wurde Chlorkalk an einer exhumierten Leiche ausprobiert. Der unerträgliche Leichengestank verschwand sofort, nachdem die Leiche mit dem in Wasser aufgelösten Chlorkalk besprengt worden war. Chlorkalk wurde seitdem mit eklatantem Erfolg zur Geruchsbekämpfung verwendet. Auf Anordnung der Pariser Behörden wurden damit Latrinen, Pissoirs und „Bleibecken“ desinfiziert. Darüber hinaus diente Chlorkalk als Desinfektionsmittel für die Arbeiter bei der Reinigung von Abwasserkanälen und wurde ebenso zur Bekämpfung des Leichengestanks auf den Friedhöfen verwendet, wo viele Tote nicht tief genug begraben worden waren. Ein wichtiger Vorbehalt ist bei diesem Kampf gegen die Miasmen indessen anzubringen: Die erhöhte Sensibilität gegenüber schlechten Gerüchen war regional begrenzt und schloss nicht alle Bevölkerungsschichten ein. In Madrid pflegte man bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts Fäkalstoffe auf die Straße zu schütten, weil die Ärzte davon überzeugt waren, das der kilometerweit zu riechende Gestank der öffentlichen Gesundheit dienlich sei und vor Infektionskrankheiten wie der Pest schütze. Die angeblich ausgezeichnete Gesundheit von Kanalreinigern und anderen Berufsgruppen, die mit Fäkalien in Kontakt kamen, schrieb man den therapeutischen Wirkungen des Unrats zu. Eine Toilette, die die Notdurft ohne Geruchsentwicklung möglich machte, musste in den gesellschaftlichen Kreisen, die den schlechten Gerüchen den Kampf angesagt hatten, auf reges Interesse stoßen. Zwar forderte ein Architekt noch 1894: „Kochküche, Waschküche und Abtritte sind abgesondert in einem Nebengebäude untergebracht, sodass die von dort kommenden ungesunden Gerüche sich in Hof und Garten verlieren, ohne in die Wohnung einzudringen.“26 Doch zweifelsohne gehörte er einer konservativen Gruppe an, denn bereits im Jahr 1818 wurde in Frankreich große Reklame für bewegliche und geruchlose Aborte der französischen Firma Cazeneuve & Co. gemacht. Diese Einrichtungen bestanden aus zwei hölzernen Fässern. In das erste fiel aller Schmutz und in das zweite liefen die flüssi-

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Die Mikrobenjäger: er Triumph des Kleinen

Vor über 300 Jahren hat der holländische Tuchhändler Antony van Leeuwenhoek (1632 – 1723) die Welt des Kleinen berühmt gemacht. Vergrößerungsgläser waren in seinem Gewerbe ein notwendiges Hilfsmittel, um die Qualität der Stoffe mittels Fadenzählung zu kontrollieren. Er jedoch war mit der bestehenden Qualität unzufrieden und konstruierte sich eigene Linsen, die von herausragender Güte waren. Am Schluss fertigte sich Leeuwenhoek ein Mikroskop, das ihm als Auge in eine märchenhafte Welt diente, die sich selbst der phantasievollste Künstler nicht prächtiger und vielfältiger hätte vorstellen können. Leeuwenhoek begnügte sich nämlich nicht einfach damit, Tuche zu prüfen. Die Neugierde trieb ihn dazu, die verschiedensten Dinge unter seinem Mikroskop akribisch genau zu studieren, sorgfältig abzuzeichnen und zu beschreiben. Er beschrieb zum Beispiel aus Gewässern um Delft eine Fülle von Kleinlebewesen, die sich als Rädertierchen, Flagellaten oder Protozoen identifizieren ließen; er untersuchte Blut und fand die roten Blutkörperchen; er studierte die Entwicklung von Fischen und Fröschen aus Eiern und er entdeckte und zeichnete unter seinen vielen weiteren Beobachtungen auch Mund- und Darmbakterien.

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gen Bestandteile. Das System von Cazeneuve wurde in der folgenden Zeit in verschiedenen öffentlichen Gebäuden mit Erfolg verwendet. Aber erst das WC mit Geruchverschluss und Wasserspülung vermochte die Ansprüche wirklich zu befriedigen. Die erhöhte Sensibilität gegenüber Gerüchen veränderte das Hygienebewusstsein in der breiten Bevölkerung interessanterweise nicht. Erst die Abertausende von Toten durch die Choleraepidemien brachten in dieser Hinsicht eine Veränderung. Mit dem Einsetzen der bakteriologischen Ära in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die Miasmenlehre überwunden – aber nicht endgültig besiegt. Der gute, sinnliche Geruch spielt heute noch eine gewichtige Rolle. Angenehmer Geruch und Exkremente können auch eine harmonische Beziehung eingehen: Der Duftstoff frischen Menschenkots, das Skatol C9 H9 N, wird als synthetisches Methylindol in starker Verdünnung als „Jasminduft“ in der Parfümerie verwendet!

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Der Arzt Reignier de Graaf erkannte das Talent seines Landsmanns, regte Leeuwenhoek zu systematischen Studien an und teilte seine ersten biologischen Entdeckungen 1673 der Royal Society in London mit. Von da an berichtete Leeuwenhoek regelmäßig nach London, denn die Welt des Kleinen zog auch diese renommierte Institution in ihren Bann. In seinem Buch Mikrobenjäger, das im Februar 1926 erstmals in New York erschien und innerhalb von einem halben Jahr fünf weitere Auflagen erlebte, bezeichnet Paul de Kruif Leeuwenhoek als den ersten Mikrobenjäger. Die Bezeichnung Mikrobe wurde 1878 von dem französischen Militärarzt Charles Emmanuel Sédillot (1804 – 1883) vorgeschlagen. Zu dieser Zeit hatte man noch keine klare Vorstellung, welche Organismen man zu den Mikroben rechnen sollte. Leeuwenhoek bezeichnete sie oft als Beesjes (Biester) und cleijne Schepsels (kleine Kreaturen). Heute zählt man Kleinstorganismen wie Bakterien, Viren, Bakteriophagen etc. zur Gruppe der Mikroben und geht davon aus, dass Leeuwenhoek als wahrscheinlich erster Mensch Bakterien gesehen hat. In seinen über 100 Briefen an die Royal Society kam Leeuwenhoek nicht ein einziges Mal auf den möglichen Schaden zu sprechen, den diese Kleinstlebewesen womöglich anrichten konnten. Die Zeit war noch nicht reif, die entscheidenden Schlussfolgerungen zu ziehen. Es galt zunächst auf einem anderen Feld eine entscheidende Schlacht zu schlagen: dem Feld der „Urzeugung“. Dabei ging es im Grunde um eine simple Frage: Können Lebewesen durch Selbstzeugung entstehen oder müssen alle Lebewesen Eltern haben? Aristoteles hatte diese Frage in seiner Historia animatium im Sinne der Urzeugung beantwortet. Seiner Überzeugung zufolge gab es Tiere, die sich aus dem Tau, der auf Blätter fiel, entwickelten. Wieder andere Tiere bildeten sich aus verrottenden Stoffen wie Dung, Mist oder Exkrementen. Über die Jahrhunderte hinweg hielt sich diese Theorie hartnäckig. Noch im 17. Jahrhundert äußerte der deutsche Jesuit Athanasius Kircher (1602 – 1680), dass sich Würmer wie Schmetterlinge aus Kuhdung entwickeln, Flügel ansetzen und sich dann in Bienen verwandeln würden. Der italienische Abbate Lazzaro Spallanzani (1729 – 1799) leugnete entschieden die Möglichkeit einer Selbstzeugung; für ihn war es Unsinn, dass lebendige Tiere – und wären es selbst die unsichtbaren des Leeuwenhoek – aus irgendeinem faulenden Mist oder Unrat entstehen

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könnten. Wie Leeuwenhoek hatte sich Spallanzani der Beobachtung der Mikroben zugewendet. Inspiriert von früheren Untersuchungen des Gelehrten Francesco Redi (1626 – 1697) konnte er experimentell nachweisen, dass es bei Kleinstlebewesen zu keiner Urzeugung kam. Die Fehlurteile seiner Kollegen führte Spallanzani auf eine mangelnde Versuchsanordnung zurück, die insbesondere das Eindringen neuer Kleinstorganismen über den Luftweg nicht berücksichtigte. Gerade weil bei vielen Experimenten keine Sterilität erreicht werden konnte, kam es auch weiterhin zu „spontanen“ Keimentwicklungen. Der Kampf um die Urzeugung ging weiter und erst der „Schwanenhalskolben“ von Louis Pasteur (1822 – 1895) brachte im Jahr 1861 die Wende. Die Lösung war so einfach wie genial: Verwendet wurde eine bauchige Flasche, in die man eine Hefebouillon (eine Nährlösung für die Mikroben) goss. Anschließend erweichte man den Flaschenhals an einer Flamme und zog ihn zu einer dünnen Röhre aus, die in der Form eines Schwanenhalses abgebogen wurde. Mikroben konnten damit nicht in die Bouillon eindringen, da der Staub, an dem sie hafteten, nicht aufwärts fallen konnte. In einer glänzenden Versammlung, zu der die Spitze von Kunst und Wissenschaft um Einlass gestritten hatte, sprach Louis Pasteur von seinem Schwanenhals-Experiment in entzückten Worten. „Niemals“, rief er aus, „wird sich die Theorie der Urzeugung von dem tödlichen Schlage erholen, den dieses Experiment ihr versetzt.“27 In der Tat brachten die folgenden Dezennien den Triumph des Kleinen, denn nicht nur war die Ära der Urzeugung beendet, auch die Lehre von den Miasmen erhielt ihren Todesstoß. Wieder war es Louis Pasteur, der es meisterlich verstand, die Bedeutung des Kleinen in Szene zu setzen: In einem Lichtbildvortrag zeigte er seinem Publikum Bilder verschiedener Bazillenarten. Unvermittelt wurden alle Lichter abgedreht, und plötzlich schoss ein blendender Lichtstrahl durch die Finsternis. „Sehen Sie nur hin“, rief Pasteur aus, „wie in diesem Strahl tausend Stäubchen tanzen; die Luft in diesem Saale ist voll von solchen Stäubchen, jedes für das bloße Auge ein Nichts, und doch gar nicht zu verachten; denn es kann die Cholera bringen, den Typhus, das gelbe Fieber und andere Pestilenzen!“28 Natürlich war die Realität weitaus komplexer, als Pasteur es in seinem Vortrag darstellte. Krankheiten wurden nicht einfach über Staub übertragen, und schon Leeuwenhoek hatte andernorts gesucht. Nicht zuletzt schenkte er den verrottenden Materialen, die

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nach der Urzeugung eine so wichtige Rolle spielten, sein besonderes Augenmerk. „Ich habe im Weiteren meine eigenen Exkremente untersucht, als sie von gewöhnlicher Festigkeit waren [Leeuwenhoek hatte kurze Zeit vorher, als er an leichtem Durchfall litt, seine Exkremente bereits einmal untersucht] und habe sie mit sauberem Wasser vermischt.“29 Was Leeuwenhoek unter seinem Mikroskop zu sehen bekam, entzückte ihn ganz offensichtlich: „Ich kann mir nicht verhehlen festzuhalten, dass ich verschiedentlich … in einem Materialpartikel von der Größe eines groben Sandkorns über 1000 Kleinstlebewesen (animacules) gesehen habe, und dies in drei oder vier Varianten, die alle zusammen lebten; ja, man hätte gar vermuten können, dass das ganze Material aus nichts anderem als Kleinstlebewesen bestünde.“30 Nicht nur für ihn, sondern auch für spätere Gelehrte war es selbstverständlich, Fäkalien zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. Nicht alle werden es mit derselben Begeisterung gemacht haben wie Leeuwenhoek. Aber der Entdeckerdrang zeitigte sein Ergebnis: Heute gehört das Darmbakterium Escherichia coli – es macht einen beträchtlichen Anteil der Darmflora des Menschen aus und findet sich reichlich in den Exkrementen – zum vielleicht bestuntersuchten Organismus überhaupt. Auch in anderer Hinsicht zeichneten sich Erfolge ab. Durch die Nutzung der neuesten Techniken im Bereich der Mikroskoptechnik und durch die Einfärbung der Präparate durch die neuartigen Anilinfarben wurde die Beobachtung von Mikroben deutlich einfacher. Es war der Arzt Robert Koch (1843 – 1910), der diese neuen Techniken einführte, und ihm gelang auch eine epochale Entdeckung: Er konnte beweisen, dass Bakterien für den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien verantwortlich waren. Auf einer Sitzung der Physiologischen Gesellschaft am 24. März 1882 machte Koch die Entdeckung des Tuberkulosebazillus bekannt. Erstmals konnte ein lebender Mikroorganismus als Erreger einer menschlichen Krankheit zweifelsfrei nachgewiesen werden. Der Siegeszug der Bakteriologie nahm seinen Anfang. Wenig später rückte Robert Koch im Zusammenhang mit der Suche nach dem Erreger der Cholera auch die Gefährlichkeit von Exkrementen ins richtige Licht. Um gegen die fünfte Choleraepidemie, die den europäischen Kontinent zu erreichen drohte, gewappnet zu sein, schickten Frankreich und Deutschland ihre besten Wissenschaftler nach Ägypten. Am 15. August 1883 traf das französische Team in Ale-

„Im Blut sowie in den Organen, welche bei anderen Infektionskrankheiten gewöhnlich der Sitz der Mikroparasiten sind …, konnten keine organisierten Infektionsstoffe gefunden werden … Im Inhalte des Darmes kamen ebenso wie in den Dejektionen der Cholerakranken außerordentlich viele und den verschiedensten Arten angehörige Mikroorganismen vor. … Es fanden sich nämlich … eine bestimmte Art von Bakterien in den Wandungen des Darmes. Diese Bakterien sind stäbchenf örmig und gehören also zu den Bacillen …“31

Auf welch gefährliche Suche sich die Wissenschaftler begeben hatten, offenbarte ein tragischer Zwischenfall. Am 19. September starb im französischen Team der Arzt Louis Thuillier an Cholera. Da praktisch gleichzeitig die Choleraepidemie in Ägypten erlosch, brachen die Franzosen ihre Forschungen ab. Robert Koch hingegen reiste mit seinen Leuten nach Indien weiter, wo die Cholera endemisch war. Hier gelang es ihm, aus dem Darminhalt einwandfreier Cholerafälle den Choleraerreger in Reinkultur zu züchten. „Die Bacillen sind nicht ganz gradlinig wie die übrigen Bacillen, sondern ein wenig gekrümmt, einem Komma ähnlich“, notierte er.32 Schließlich beobachtete Koch auch, dass diese „Komma-Bazillen“ nur bei Menschen zu finden waren, die auch an Cholera erkrankt waren und bei diesen im Darm fast in Reinkultur vorhanden waren. Erfolglos verliefen indes die Tierversuche, die für Robert Koch ein unentbehrlicher Gradmesser seiner Theorie waren (Koch konnte nicht wissen, dass Tiere nicht an Cholera erkranken). Dafür bot das nahe Umfeld jedoch reichlich Ersatz! Koch konnte beobachten, wie viele indische Wäscherinnen an Cholera erkrankten. In der verunreinigten Wäsche ließen sich die Kommabazillen in extrem hoher Zahl nachweisen. Ein ähnliches Bild lieferte eine lokale Trinkwasserepidemie, bei der 17 Menschen an Cholera starben. Wie allgemein üblich, hatte ein kleiner Teich den Menschen als Trinkwasserreservoir gedient. Darin konnten die deutschen Wissenschaftler tatsächlich Cholerabakterien nachweisen. Diese waren durch das Waschen von Kleidungsstücken eines Cholerakranken am Teich ins Trinkwasser gelangt. Damit gelang es Koch erstmals, die Ursachen einer Trinkwasserepidemie klar aufzuzeigen

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xandria ein und begann sofort damit, die Leichen verstorbener Cholerakranker zu sezieren und Stuhlproben von Erkrankten zu sammeln. Neun Tage später traf Robert Koch mit seinen Mitarbeitern ein. Schon am 17. September konnte er berichten:

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und den Nachweis zu erbringen, dass die Ausbreitung der Cholera an Gewässer geknüpft war. In die Heimat zurückgekehrt verkündete er 1884: „Kein gesunder Mann kann an Cholera erkranken, wenn er nicht zuvor die Komma-Mikrobe geschluckt hat, und dieser Keim kann sich nur aus seinesgleichen entwickeln, aus keiner anderen Mikrobe, am allerwenigsten aus nichts. Wachsen und sich vermehren kann sie aber nur in den Eingeweiden eines Menschen oder in stark verunreinigtem Wasser, wie dem von Indien.“33 Damit war bewiesen, dass Fäkalien gefährliche Krankheitserreger enthalten konnten und der sorglose Umgang zur Verbreitung von Krankheiten führen konnte. Was Koch nicht wusste, schon in den 50er-Jahren hatte der britische Arzt John Snow (1813 – 1858) darauf aufmerksam gemacht, dass Cholera durch verseuchtes Wasser hervorgerufen werde. Er trat für eine massive Verbesserung der Abwasser- und Fäkalienentsorgung ein. Nicht zuletzt aufgrund seiner Initiative wurde der Bau der Kanalisation in London in Angriff genommen. In Deutschland stießen die neuen Erkenntnisse nicht überall auf offene Ohren. Max Pettenkofer (1818 – 1911) sah seine „Bodentheorie“ bedroht. In exakten und langwierigen Beobachtungen in München hatte er festgestellt, dass alle Häuser, in denen Cholera auftrat, in Mulden lagen, die Aborte jedoch auf einer Anhöhe. Die Fäkalien waren dann jeweils häufig ins Haus gesickert. „Der Cholerastoff wird durch den jeweiligen Boden beeinflusst“, folgerte Pettenkofer.34 Robert Kochs neue Theorie konnte nur falsch sein und den unwiderlegbaren Beweis wollte Pettenkofer erbringen. Im Jahr 1892, als in Hamburg die Cholera grassierte, trank Pettenkofer in einem spektakulären Selbstversuch Choleraerreger – und hatte zum Erstaunen aller nur an einem leichten Durchfall zu leiden. Pettenkofers Mitarbeiter jedoch, der gleichfalls Choleraerreger eingenommen hatte, erkrankte und entging nur mit knapper Not dem Tod. Die Frage, warum Pettenkofer bei seinem Selbstversuch nicht an Cholera erkrankte, glaubt man heute beantworten zu können. Des Rätsels Lösung lag in seiner Vergangenheit: Pettenkofer hatte bereits 1854 an Cholera gelitten und war somit praktisch immun. Vereinsamt und verbittert setzte Pettenkofer am 10. Februar 1901 seinem Leben mit einer Pistolenkugel ein Ende. Am Beispiel von Pettenkofers „Bodentheorie“ lässt sich jedoch zeigen, dass eine falsche Lehre durchaus positive Auswirkungen haben kann. Dank dem Ein-

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satz von Pettenkofer verzeichnete München massive Fortschritte im Bereich der Hygiene. Sämtliche Abtrittgruben wurden in den Jahren 1856 bis 1860 „wasserdicht gemacht“, das heißt zementiert. Noch in anderer Hinsicht zeigte Pettenkofers Bodentheorie nachhaltige Wirkung: Die einfachen Leute, welche Pettenkofers komplizierten Gedankengängen nicht folgen konnten oder wollten, machten sich ihren eigenen Reim. Sie schlossen aus seiner Theorie, dass das Wasser aus verunreinigtem Boden verseucht sein müsse. Auch viele Ärzte und Geistliche empfahlen, Wasser nur im abgekochten Zustand zu genießen. Man zog deshalb dem Wasser das Bier vor, denn „wenn schon gekocht, dann lieber auch noch gebraut“.35 Wen wundert’s da noch, dass in Bayern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr Bier getrunken wurde als in den übrigen deutschen Ländern. Pettenkofers Bodentheorie war hinfällig geworden. Dafür feierte die Bakteriologie ihren Siegeszug: Zwischen 1878 und 1887 geschahen die grundlegenden Entdeckungen. In rascher Folge wurden die Erreger von Gonorrhoe (1879), Malaria (1880), Typhus (1880), Diptherie (1884), Wundstarrkrampf (1884), Lungenentzündung (1884) und Meningitis (1887) lokalisiert. In den 1890er-Jahren wurde von Forschern festgestellt, dass eine Anzahl von Krankheiten wie z. B. die Maul- und Klauenseuche der Rinder durch Organismen erzeugt werden, die so klein sind, dass sie die zum Auffangen von Bakterien benutzten Filter passieren können. Diese Organismen, filtrierbare Viren genannt, waren so winzig, dass sie unter den gewöhnlichen Mikroskopen nicht nachgewiesen werden konnten. Die Entdeckung des Kleinen ging im 20. Jahrhundert ungebrochen weiter: Aus der ehemals mikroskopisch kleinen Welt ist ein Makrokosmos geworden, und die Mikrobiologie ist einer der beherrschenden Zweige der Biologie. Doch gerade der Blick zurück offenbart die herausragende Bedeutung der Leistungen, die vollbracht wurden. Erwin H. Ackerknecht, der Autor einer anerkannten Geschichte der Medizin, meint: „Trotz der Tatsache, dass in dem Gesamtgefüge der Wissenschaften die Entwicklung der Bakteriologie nur eine der vielen großen biologischen Entdeckungen war, war es zweifellos vom strikt medizinischen Standpunkt aus das wichtigste Ereignis des ereignisreichen 19. Jahrhunderts und vielleicht; aller Zeiten.“36 Zum ersten Mal in der Geschichte kannte man die Ursachen zahlreicher Krankheiten. Dank der neuen Erkenntnisse konnte nun endlich die Frage beantwortet wer-

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den, ob der Krankheitserreger ein Miasma oder ein lebender Organismus sei. Anstatt nur die Symptome einer Krankheit zu behandeln, konnte der Arzt nun durch eine gezielte Therapie oder die Verabreichung von Impfstoffen eine Krankheit bekämpfen. Auch durch gezielte Vorbeugung konnte man Infektionskrankheiten eindämmen. Hier kam der Einhaltung von Grundregeln hinsichtlich der Hygiene eine wesentliche Bedeutung zu: Im 20. Jahrhundert wurde der Mensch zum hygienischen Menschen erzogen. Dabei kam der Toilette mit Wasserspülung eine wichtige Funktion zu. Sie entfernte die Fäkalien – zumindest aus dem häuslichen Bereich. Eine wichtige Quelle für Infektionskrankheiten wurde dadurch eliminiert.

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Dieses Kapitel handelt von Krankheiten, die durch Exkremente übertragen werden können. Dabei lag die größte Gefahr selten im stillen Örtchen begründet. Vielmehr waren es der sorglose Umgang mit Fäkalien und die mangelnde Hygiene im Allgemeinen, die Infektionskrankheiten Vorschub leisteten. Das hohe Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert und die damit verknüpfte Entsorgungsproblematik verschärften das Problem. Besonders problematisch waren die sanitären Bedingungen im Verlauf von kriegerischen Konflikten. Generell gilt: Krieg und Infektionskrankheiten überlagerten sich und verstärkten sich gegenseitig. Die Heere fraßen die Vorräte auf und lösten weitläufige Flucht- und Truppenbewegungen aus. Durch die Konzentration von Soldaten in Lagern und hungernden Massen von Flüchtlingen hinter den Stadtmauern wurde ein günstiger Nährboden für Masseninfektionen geschaffen. Die Opfer des Krieges sind/waren eben nicht allein Opfer der Gewalt, sondern in ebenso großem Ausmaß auch Opfer von Infektionskrankheiten. Einige der häufigsten Erreger, die mit Fäkalien ausgeschieden werden, sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt:

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Im Folgenden gehen wir detaillierter auf Typhus, Ruhr, Cholera und Gelbsucht ein, die durch Erreger in Fäkalien übertragen werden. Ausgeklammert werden Krankheiten, die durch Parasiten in Fäkalien übertragen werden. Sicherlich hatten diese Makroparasiten wie Schweinebandwurm oder Fischbandwurm eine weite Verbreitung. Aber die vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen stecken erst in den Anfängen, sodass ein Verzicht darauf gerechtfertigt scheint.

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Typhus und Ruhr: rankheiten der schmutzigen Hände“

Der Typhus abdominalis ist eine akute Infektionskrankheit, die durch das Bakterium Salmonella typhi verursacht wird. Übertragen wird diese Salmonellenart durch Milch, Wasser und feste Nahrungsmittel, die mit Fäkalien Erkrankter oder infizierter Krankheitsträger verunreinigt sind. Die Inkubationszeit (Zeitspanne zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit) dauert ein bis drei Wochen. Die Bakterien sammeln sich im Darm und gelangen von dort in den Blutkreislauf, in die Milz, Gallenblase und ins Knochenmark. Wenn die Ansteckungszeit von einer bis drei Wochen vorbei ist, kommt es zu Kopf- und Gliederschmerzen und zu Durchfällen mit so genannten „Erbsensuppenstühlen“. Es kann aber auch eine Verstopfung eintreten. In der ersten Woche steigt das Fieber treppenförmig bis auf etwa 41 °C an und hält sich ungefähr zwei Wochen auf dieser Höhe. Während dieser Zeit sind die Kranken benommen und sehen alles wie durch einen Nebel. Dieser Umnebelung der Sinne verdankt die Krankheit ihren Namen Typhus bzw. Typhos, was griechisch soviel wie Rauch oder Nebel bedeutet. Bei etwa 20 Prozent der unbehandelten Fälle kommt es zu Lungenentzündung, Darmblutung und schließlich sogar zum Tod. Die Zahl der Todesfälle durch Typhus abdominalis konnte seit der Isolierung des ersten wirksamen Antibiotikums gegen Typhuserreger (1947) deutlich gesenkt werden. Zwei bis fünf Prozent der Typhuskranken scheiden auch nach ihrer Genesung den Erreger längere Zeit, manchmal auch ihr Leben lang, im Stuhl, seltener im Urin aus („Dauerausscheider“). Die Ruhr ist eine akute oder chronische Erkrankung des menschlichen Dickdarms. Typische Symptome sind Durchfall mit geringen

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Mengen an wässrigem Stuhl, der oft auch Blut und Schleim enthält, sowie schwere Bauchkrämpfe. Je nach Aussehen des Stuhlgangs infolge Beimischung von Schleim oder Blut unterschied man früher die weiße und die rote Ruhr. Zwar werden viele Fälle von schwerem Durchfall als Ruhr bezeichnet, aber eigentlich meint der Begriff nur Krankheiten, die entweder von einer besonderen Amöbe namens Entamoeba histolytica oder durch eine Bakterieninfektion des Dickdarms hervorgerufen werden. Zu unterscheiden sind: Amöbenruhr und Bakterienruhr. In vielen tropischen Ländern ist die Amöbenruhr verbreitet, die von dem Parasiten Entamoeba histolytica ausgelöst wird. Sie ist eher auf unhygienische Verhältnisse als auf Wärme zurückzuführen. Übertragen wird die Amöbenruhr meist mit dem Trinkwasser, durch rohe Lebensmittel oder durch Personen, die bereits erkrankt sind. Fliegen können die Cysten der Amöbe weitertragen und den Erreger so vom Stuhl infizierter Menschen auf Lebensmittel transportieren. Die Erreger der Bakterienruhr sind bestimmte unbewegliche Bakterienarten der Gattung Shigella. Diese Form der Ruhr ist ebenfalls am stärksten in tropischen Gebieten mit schlechten hygienischen Verhältnissen verbreitet, aber gelegentlich kommt es – auch heute noch in Europa – zu kleineren Epidemien. Die Bakterienruhr geht in der Regel von selbst vorüber und zieht im Gegensatz zur Amöbenruhr kaum einmal andere Organe in Mitleidenschaft. Übertragen wird die Bakterienruhr durch Verunreinigungen in Wasser, Milch und Lebensmitteln. Der Stuhl der Erkrankten, aber auch gesunder Personen, die den Erreger tragen, enthält die krankheitsauslösenden Bakterien in gewaltigen Mengen. Fliegen nehmen die Mikroorganismen in ihrem Speichel oder an den Beinen und in ihren Ausscheidungen mit und tragen sie auf Lebensmittel; vermutlich können auch Ameisen die Krankheit verbreiten. Als einer der bedeutendsten Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit wird der Wandel vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit bewertet. Dieses als „neolithische Revolution“ bezeichnete Ereignis hatte jedoch auch seine Schattenseiten. Die Sesshaftigkeit brachte dem Menschen eine Reihe von Krankheiten, die ihn vorher selten oder gar nie geplagt hatten. Wann immer Menschen sich in der Nähe von Gewässern niederließen, war es nur eine Frage der Zeit, bis diese durch Exkremente und andere Abfallstoffe verunreinigt waren. Im Unterschied zu den großen Wanderseuchen Pest und Cholera ist der Typhus eine „örtlich gebundene“ – eine endemische Plage. Die Erre-

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ger beider Krankheiten werden nur mit dem menschlichen Stuhl ausgeschieden. Falls Infizierte vorhanden sind, kommt es durch fäkale Übertragung (mangelnde Reinigung der Hände nach der Notdurft!) zwangsläufig zu Neuinfektionen. „Den Typhus oder die Ruhr isst oder trinkt man“, so lautet ein gängiger Lehrspruch, denn die Infektion erfolgt meistens über verseuchte Lebensmittel oder Getränke. Auch die Kotverschleppung durch Fliegen auf Lebensmittel spielt dabei eine wichtige Rolle. Besonders tückisch ist Typhus, weil die Erreger oft noch nach der Gesundung des Patienten mit dem Stuhl ausgeschieden werden. Solche Personen nennt man „Dauerausscheider“. Weil die betroffenen Personen sich gesund fühlen, werden sie unwissentlich zu „wandelnden Infektionsquellen“ und bilden für ihre Umgebung eine enorme Gefahr. Legendär ist der Fall der „Typhus-Mary“ geworden, einer irischen Köchin, die in verschiedenen Häusern und Hotels in New York arbeitete, und dabei über 40 Jahre hinweg den Erreger verbreitete. Typhusbakterien sind in Fäkalien wochenlang, bei kühler Witterung sogar monatelang lebensfähig. Früher kam es recht häufig vor, dass auf dem Land aus undichten Abortgruben Typhusbakterien in Trinkwasserbrunnen gelangen konnten. Selbst heute noch können Typhusbakterien in städtische Wasserleitungssysteme eindringen, wenn beispielsweise bei Verwendung von Oberflächenwasser die Filter nicht einwandfrei arbeiten oder die Chlorung ungenügend war, wenn bei Rohrbruch verseuchtes Wasser in die Leitung gelangt oder bei Wassermangel ohne Warnung der Verbraucher ungenügend filtriertes Flusswasser verwendet wird. Die Infektion erfolgte häufig über infizierte Lebensmittel oder Getränke (meist Wasser oder Milch), konnte aber auch durch bloßes Händeschütteln (Schmierinfektionen) weitergegeben werden. Seit altersher war die Ruhr eine gefürchtete Kriegsseuche. Sie war eine ständige Begleiterin der kämpfenden Heere. Die Wege zu ihrer schnellen Ausbreitung wurden geebnet durch Gewaltmärsche, Durchnässung, schlechte Ernährung und unzulängliche Lagerhygiene. Der Tribut, den Typhus und Ruhr – Infektionskrankheiten überhaupt – forderten, ist angesichts des gewaltsamen Todes in Kriegszeiten gern in den Hintergrund gedrängt worden. In erschreckender Weise führt der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) diese Tatsache vor Augen. Niemals hat es in Europa gewaltigere Menschen- und Güterverluste gegeben als in diesem Zeitraum, wobei

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in diese Rechnung die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts eingeschlossen sind. Zu erwähnen ist allerdings, dass die Pest in diesen Jahrzehnten mehr Todesopfer forderte als Typhus und Ruhr zusammen. Oft schleppten fremde Heere die Seuchen ein. So wird berichtet, dass unter den englischen Hilfstruppen, die dem Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zur Verfügung gestellt wurden, eine schwere Ruhrepidemie ausgebrochen sei. Da die Heere und ihr Tross kreuz und quer durch Deutschland marschierten, verbreitete sich die Epidemie in Windeseile. Im Winter, wenn die militärischen Operationen ruhen mussten, stellten sich Ruhr und Typhus häufig als gefürchtete Lagerseuchen ein. Besonders brutal waren die Auswirkungen des Krieges für die Bevölkerung in den Städten: So flüchteten 1625 die Bauern scharenweise vor den Truppen des katholischen Heeres in das befestigte Göttingen. Auf engstem Raum versammelten sich Mensch und Vieh innerhalb der Stadtmauern. Bald stellte sich Hunger ein und der Unrat häufte sich schon vor der einsetzenden Belagerung. In der Folge brachen Ruhr und Pest aus. Auch in Zeiten des Friedens waren Ruhr und Typhus nicht aus dem Alltag verbannt. Im Gegenteil, gerade alltägliche Verrichtungen bargen Gefahren. Warum sollte man nach der Notdurft seine Hände waschen? Und falls man es tat, womit sollte man sich dann die Hände reinigen? Die Araber suchten das Problem auf banale Weise zu lösen: Neben fast jeder Moschee befand sich ein Gebäude, das als Bedürfnisanstalt diente. Es war leicht zu erkennen, denn eine Vielzahl von Wasserkannen war vor seinen Türen aufgereiht. Den Gläubigen wurde empfohlen, vor dem Gottesdienst die Bedürfnisanstalten aufzusuchen. Die rituellen Waschungen erfolgten allein mit der linken Hand – auch die Analtoilette. Deshalb gilt die linke Hand als unrein und wird weder für die Begrüßung noch zum Essen benutzt. Eine Verminderung von Infektionskrankheiten hatte dies nicht zur Folge, denn bei den Waschungen handelte es sich um eine symbolische und nicht um eine seuchenprophylaktische Maßnahme. Die islamischen Länder wurden von Typhus und Ruhr genauso wenig verschont wie die christlichen Länder. Die Verschleppung infektiöser Darmkeime, die an „schmutzigen Händen“ haften blieben, war über Jahrhunderte beim Essen auf einfachste Weise möglich. In der Antike führte man die meisten Speisen mit den Fingern zum Mund. Im Mittelalter änderte sich an dieser Verhaltensweise nicht viel – selbst bei Hofe nicht. Die Gabel war zwar be-

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kannt, wurde aber nur zum Vorlegen der Speisen benutzt. Messer und Löffel dienten zum Tranchieren und zum Austeilen. Als Teller diente eine Scheibe Brot. Man bediente sich aus einer Schüssel und teilte oft auch das Trinkgefäß mit seinem Nachbarn. Dem Christentum galt das Händewaschen vor dem Essen als jüdische Sitte und war suspekt. Versuchten doch die Evangelisten, die sprichwörtliche Reinlichkeit der Pharisäer als eine Facette ihrer Heuchelei zu deuten, mit der sie angeblich nur den äußeren Schein wahren wollten. So heißt es im Markusevangelium:

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„Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, hielten sich bei Jesus auf. Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben, wie es die Überlieferung der Alten vorschreibt. Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln.“ (Mk 7,1-4, vgl. Mt 15,1-20)

Trotzdem war das Händewaschen nicht gänzlich unbekannt. Zum guten Ton gehörte es im hohen Mittelalter am Hof jedenfalls, vor und nach dem Essen die Hände zu waschen. Dafür wurde kostbares Geschirr benutzt: Wasserkannen und Handbecken aus Gold und Silber und Handtücher aus reiner Seide. Eine Anstandsschrift aus dem 15. Jahrhundert fordert zum Waschen der Hände vor und nach dem Essen auf. Dass diese Sitte Bestand hatte, davon kündet unser eigenes Verhalten. Doch zweifelsohne wurde das Händewaschen im Mittelalter nur von der Oberschicht ausgeübt. Mit welcher Vehemenz die Kirche teilweise gegen hygienischere Essgewohnheiten vorging, bezeugt die Empörung eines hohen kirchlichen Würdenträgers im 11. Jahrhundert. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass die Gattin des venezianischen Dogen, eine byzantinische Prinzessin, in „vermessner Überheblichkeit“ das Essen nicht mit den Händen, sondern mit einer goldenen Gabel zum Munde geführt hatte.1 Darf man also vermuten, dass in der Oberschicht das Essen mit Messer und Gabel verbreitet war? Weit gefehlt! Selbst in dieser Schicht war bis in das 17. Jahrhundert das Essen mit Messer und Gabel die Ausnahme und nicht die Regel. Ludwig XIV. (1643 – 1715) lehnte es ab, mit einer Gabel zu essen und verbot dies auch den Prin-

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Cholera: ie Maske des roten Todes“

Die Cholera ist eine ansteckende Krankheit, die in der Regel zwei bis fünf Tage nach der Infektion mit heftigem Durchfall und Erbrechen ausbricht. Bei unbehandelten Fällen werden die Entleerungen immer häufiger. Schließlich werden sie „reiswasserähnlich“, wie in einer Reissuppe schwimmen graue Flocken. Bei diesen Schleimflöckchen handelt es sich um Darmepithel, das in Fetzen abgestoßen wird. Infolge des gewaltigen Wasserverlustes kommt es zu einer abnormen

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zen in seiner Gegenwart. Seine Schwägerin Liselotte von der Pfalz meinte dazu: „Mir hat noch niemals jemand dergleichen verboten, ich habe mich Zeit meines Lebens beim Essen nur meines Messers und meiner fünf Finger bedient.“2 Nur sehr langsam setzte sich das Essen mit Messer und Gabel – und damit hygienische Tischsitten – in Europa durch. Goethe musste noch 1792 zur Kenntnis nehmen, dass er in französischen Gaststätten Messer und Gabel selbst mitbringen musste. Auch im 19. Jahrhundert trug man auf dem Land sein Besteck noch mit sich herum. Eine große Gefahr der Ansteckung bestand an religiösen Festtagen. So stellten die Weihwasserbecken aus Stein gefährliche Infektionsquellen dar. Das Wasser konnte durch Eintauchen der vielen ungewaschenen Hände schnell mit den verschiedensten Darmkeimen infiziert werden. Lange Zeit spielte auch mit Salmonellen verseuchte Milch – die Kühe wurden noch von Hand gemolken – eine wichtige Rolle bei der Ansteckung. Heute hat das gestiegene Hygienebewusstsein viel zum Verschwinden von Ruhr und Typhus in den Industrieländern beigetragen. In mindestens so starkem Maß haben vorgeschriebene Qualitätsprüfungen von Milch und Trinkwasser und besonders auch die Pasteurisierung der Milch die Häufigkeit des Typhuserregers stark vermindert. Ebenso wichtig für die Bekämpfung von Typhus und Ruhr ist das Erkennen von Krankheitsträgern und die Verbesserung sanitärer Einrichtungen. Ein weiterer wichtiger Faktor zur Eindämmung des Typhus abdominalis ist die Impfung von Personen, die dem Erreger ausgesetzt sein können, beispielsweise Krankenhauspersonal und Reisende in Gegenden mit mangelhaften sanitären Einrichtungen.

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Eindickung des Blutes. Nach dem Stadium des Brechdurchfalls geht die Krankheit in ein zweites Stadium über, das durch Blutdruckabfall, Untertemperatur und Versiegen der Harnabsonderung gekennzeichnet ist. Die ausgetrocknete Haut, bedeckt mit kaltem, klebrigem Schweiß, wird schlaff, faltig, runzlig. Es kommt zur Ausbildung der so genannten Wäscherinnenhände. Die in Falten hochgehobene Körperhaut bleibt stehen. Der Leib ist bretthart eingezogen, Augen und Wangen sind tief eingefallen, Nase und Kinn spitz und fahl, der Blick gebrochen. Das Bewusstsein bleibt zwar meist bis kurz vor dem Tod erhalten, doch der Kranke wird gegen alles, was um ihn vorgeht, völlig teilnahmslos. Oft tritt der Tod dann bereits nach wenigen Stunden ein. Die Sterblichkeit bei der unbehandelten Cholera beträgt ungefähr 50 – 60 Prozent, bei Kindern und alten Leuten bis zu 90 Prozent. Erreger der Cholera sind die Choleravibrionen. Außer den Kontakt- bzw. Schmierinfektionen können Trinkwasser- und Lebensmittelverunreinigungen zu explosionsartigen Massenerkrankungen führen. Die Hauptaufgabe der Behandlung von Cholerakranken besteht darin, den Flüssigkeits- und Salzverlust des Körpers intravenös (direkt über die Blutbahn) oder oral (durch den Mund) auszugleichen. Die meisten Patienten genesen innerhalb von drei bis sechs Tagen. Antibiotika können den Verlauf der Krankheit verkürzen. Ein Cholera-Impfstoff ist heute erhältlich, ein sicherer Schutz wird durch die Impfung jedoch nicht erreicht. Edgar Allen Poe (1809 – 1849) veröffentlichte 1842 eine seiner bekanntesten und packendsten Erzählungen: Die Maske des roten Todes. In dieser Geschichte zieht sich Prinz Prospero ungeachtet der Tatsache, dass seine Untertanen von einer grauenhaften Seuche hingerafft werden, in den innersten, hermetisch abgeriegelten Teil seines Schlosses zurück. Dort führt er mit vielen Gästen ein Leben in Saus und Braus. Auf dem Höhepunkt des wüsten Treibens findet ein Maskenball statt, auf dem ein ungeladener Gast mit einer grässlichen, wächsernen Totenlarve und wallenden, blutrot getupften Leichengewändern erscheint. Als Prinz Prospero befiehlt, den ungeladenen Gast zu ergreifen und zu demaskieren, wagt niemand, den Befehl auszuführen. Schließlich stürzt sich der Prinz wutentbrannt mit gezücktem Dolch auf den Eindringling. Da wendet sich dieser plötzlich dem Prinzen zu, und mit einem Aufschrei des Entsetzens stürzt Prospero tot zu Boden. Die anderen Gäste ereilt dasselbe Schicksal, bevor ihnen klar wird, dass in ihren Reihen der gefürchtete Rote Tod weilt.

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Edgar Allen Poe’s Geschichte hat einen realen geschichtlichen Hintergrund. 1831 wütete in Baltimore eine Choleraepidemie. Ein Jahr später berichtete Heinrich Heine in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, dass die Cholera auch in der französischen Hauptstadt ihren verheerenden Siegeszug angetreten habe. Heine fiel auf, dass die schmutzstarrende französische Metropole ein idealer Herd für die Seuche war. Tatsächlich spielt die fehlende Sauberkeit bei der Cholera eine Schlüsselrolle: Die Übertragung der Krankheit ist praktisch nur über Wasser oder Lebensmittel möglich, die mit Bakterien aus dem Stuhl von Cholerapatienten verunreinigt sind. Die Vorbeugung dieser Krankheit ist daher eine Frage der Hygiene. Die Cholera war in Europa eine neue, „moderne“ Krankheit. Während die Pest schon in der Antike und insbesondere im Mittelalter in Europa ihre Opfer forderte, gelangte die Cholera spät, im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, aus dem asiatischen Raum nach Europa. Neuartig war die Cholera auch in anderer Hinsicht: Sie ist eine Seuche, die erst durch eine erhöhte Mobilität diese verheerenden Auswirkungen haben konnte. Zwei Faktoren im Besonderen führten zum Ausbruch der Cholera in Europa: Zum einen wurde Bengalen, dicht besiedelt und endemisches Choleragebiet, in das weit verzweigte britische Handels- und Schifffahrtsnetz einbezogen. Zum anderen war das tiefe Eindringen Russlands in die Gebiete des Islam dafür mitverantwortlich. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Krim und Anfang des 19. Jahrhunderts das Kaukasusgebiet erobert, deren Bewohner zum großen Teil Muslime waren und sich an den Pilgerfahrten beteiligten. Dabei kamen die Pilger mit Menschen in Kontakt, die an den unterschiedlichsten Infektionskrankheiten litten. Mit welch hoher Geschwindigkeit sich mit dem Ausbau des Wirtschafts- und Verkehrsnetzes die Cholera verbreiten konnte, zeigt eindrücklich die Pandemie von 1865. Im Frühjahr gelangte ein mit Mekkapilgern beladenes Dampfschiff von Bombay in den Jemen und schließlich nach Mekka. Schlagartig kam es hier zum Ausbruch der Cholera, was eine massenhafte Flucht der Pilger bewirkte. So kam es, dass die Cholera bereits im Mai mit einem von Dschidda zurückkehrenden Pilgerschiff Suez erreichte. Innerhalb weniger Wochen wurde die Cholera via Dampfschiff in die verschiedenen Mittelmeer- und Schwarzmeerhäfen verschleppt. Noch im gleichen Jahr verbreitete sich die Cholera mit ungestümer Geschwindigkeit in Italien, Frank-

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reich, Spanien, der Türkei, Russland und Rumänien. 1866 erreichte die Seuche Österreich und Deutschland. Mit aller Deutlichkeit zeigt dieses Beispiel, dass die Welt im Verlauf der Industriellen Revolution – durch die erhöhte Mobilität im Besonderen – immer kleiner geworden war. Cholera, Krankheiten überhaupt, die zuvor ein isoliertes Phänomen waren, konnten in kürzester Zeit bevölkerungsreiche Gebiete in aller Welt treffen. Fünf große Pandemien hielten Europa das gesamte 19. Jahrhundert durch in ihrem stählernen Griff: von 1817 – 1824 die erste, von 1826 – 1837 die zweite, von 1841 – 1862 die dritte, von 1864 – 1875 die vierte und von 1882 – 1896 die fünfte Choleraepidemie. Am Beispiel von London konnte gezeigt werden, wie die Cholera ein Umdenken bei der Seuchenhygiene bewirkte. Wie schwierig dieses Ausbrechen aus althergebrachten Mustern war, zeigt ein zweites Beispiel: Die Errichtung einer zentralen und nach modernen technischen Gesichtspunkten eingerichteten Wasserversorgung wurde in Hamburg über Jahrzehnte verschleppt. Dabei war Hamburg eine Stadt des Wassers, ein Venedig des Nordens. Netzförmig durchzogen zahllose Kanäle – so genannte Fleete – Wohn- und Geschäftsviertel der dicht bevölkerten Hansestadt. Bei den am Wasser gelegenen Häusern fielen die Exkremente aus zahllosen Abtrittserkern – den „Lauben“ – direkt in die Fleete. In den offenen Straßenrinnsteinen wurden nicht nur die Regenniederschläge dem nächsten Wasserlauf, sondern auch ein Teil der Abwässer oberirdisch zugeführt. Die Fäkalienabfuhr bei den nicht am Wasser gelegenen Häusern erfolgte meist mit den „Kummerwagen“, die aber nur unregelmäßig kamen. Zu allem Überdruss waren sie offen und so undicht, dass sie einen Teil ihrer Ladung unterwegs wieder verloren. Es gab in Hamburg zu dieser Zeit weder eine Kanalisation noch eine zentrale Wasserversorgung. Fast alle Hamburger waren auf unfiltriertes Alster-, Eib- oder Fleetwasser angewiesen. „Manche“, schrieb ein Arzt, „trinken sogar das in den Kanälen (Fleeten) stehende Elbwasser, besonders, wenn es sich mit dem Alsterwasser mischt, sehr gern und finden trotz seiner mannigfaltigen Verunreinigung viel Geschmack daran.“3 Wie gesagt, bewegte sich die Cholera meist entlang von Wasserwegen. Hamburg musste dies bereits im Verlauf der zweiten Choleraepidemie von 1826 – 1837 erfahren. Doch geeignete Schutzmaßnahmen wurden nicht oder zu spät in Angriff genommen: So wurde Hamburg am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Hochburg der Cholera, denn

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Cholera: „Die Maske des roten Todes“

die Epidemie von 1890 löste eine riesige Katastrophe aus. Die Mobilität spielte dieses Mal eine tragende Rolle. Seit Jahren strömten fast ununterbrochen Tausende von Auswanderern nach Hamburg, um von dort die Überfahrt nach Amerika zu wagen. In notdürftig errichteten Baracken waren über 5000 Auswanderer am „Amerikakai“ untergebracht. Viele stammten aus Russland, wo die Cholera bereits Tiflis, Astrachan und Saratow in ihrem Würgegriff hatte. Dieser Kai war gut vier Kilometer von der Entnahmestelle für das Trinkwasser Hamburgs entfernt und von hier gelangten nicht nur die Abwässer der Auswanderer in die Elbe, sondern man warf auch das von Ausscheidungen verschmutzte Stroh, auf dem Kranke gelegen hatten, einfach in den Fluss. Bei Flut kam es jedoch zu einem Rückstau des Elbwassers und der ganze Dreck konnte bis zur Schöpfstelle der Hamburger Trinkwasserleitung gelangen. So geschah das Unvermeidliche: Die Cholera verbreitete sich im wahrsten Sinne des Wortes explosionsartig über das Hamburger Stadtgebiet aus. Die Erklärung dafür ist in der Versorgung der Bevölkerung mit verseuchtem Trinkwasser zu finden. Die in die Wasserleitungen eingedrungenen Erreger waren für die explosionsartige Verbreitung verantwortlich. Dabei hatte man offensichtliche Fehler begangen. Die neuesten wissenschaftlichen Forschungen, insbesondere die Entdeckung des Choleraerregers durch Robert Koch, hatten die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser als neuralgischen Punkt ausgewiesen. Doch die Politik reagierte nicht darauf. Noch 1888 hatte man wegen der damit verbundenen Erhöhung des Wassertarifs die Sandfiltration abgelehnt. Als man 1890 den Bau endlich doch noch halbherzig und mit unzulänglichen Mitteln in Angriff nahm, hatte man kostbare Zeit vertan. Am 16. August wurde ein Maurergeselle, der Elbwasser getrunken hatte, ins Krankenhaus geliefert. Zwei Tage später verstarb er. Am 17. August erkrankten vier weitere Personen. Gerüchte von Cholera machten die Runde, die in den Zeitungen jedoch dementiert wurden. Bis zum 20. August stieg die Zahl der Erkrankungen auf 115 und die der Todesfälle auf 36. Dann überstürzten sich die Ereignisse: Die Zahl der Erkrankungen kletterte auf über 450, die Zahl der Todesfälle auf über 200. Panik machte sich breit. Auf den Bahnhöfen sah es aus, „als hätten die Schulferien begonnen“4. Tausende, meist wohlhabende Bürger verließen Hamburg fluchtartig. Auf diese Weise wurde die Cholera in 30 weitere Orte verschleppt.

Pesthauch: Gefahren der Notdurft

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Als Robert Koch, der Direktor des neu gegründeten „Institutes für Infektionskrankheiten“ im Auftrag der deutschen Reichsregierung im August nach Hamburg reiste, fiel der Empfang durch die Behörden frostig aus und man zeigte sich wenig kooperativ. Koch ließ durchblicken, dass er die Hamburger Wasserleitungen im Wesentlichen für den Ausbruch der Choleraseuche verantwortlich hielt. Das an Hamburg angrenzende Altona, das über eine neue Trinkwasserversorgung verfügte, blieb nämlich von der Cholera praktisch verschont, denn es besaß bereits seit 1859 ein Filterwasserwerk. Koch besichtigte auch die Baracken der Auswanderer am „Amerikakai“. In der offiziellen Verlautbarung „sollen die Herren die Gesundheitsverhältnisse unter den Auswanderern als sehr gut bezeichnet haben“5. Tatsächlich beanstandete Robert Koch, dass die Abwässer des Lagers mit den Fäkalien undesinfiziert in die Elbe eingeleitet wurden. Für seine Versäumnisse zahlte Hamburg einen sehr hohen Preis: Der Kapitalverlust aus den Todesfällen wurde auf rund 143 Millionen Mark geschätzt, der „zahlenmäßig feststellbare Gesamtverlust“ auf 430 Millionen Mark. Den realen und imaginären materiellen Verlusten stand die erschütternde Zahl von 8605 Choleratoten gegenüber. Vielleicht brauchte es diese menschlichen Opfer und die finanziellen Verluste, damit endlich ein Sanierungsprogramm aufgestellt wurde, mit dem die Elendsquartiere beseitigt werden konnten. Ohne diesen moralischen und wirtschaftlichen Druck hätte der Senat 1898 schwerlich sein gegen den erbitterten Widerstand der Grundeigentümer durchgebrachtes „Wohnungspflegegesetz“ verabschieden können. Unter dem Eindruck der Choleraepidemie in Hamburg entschloss man sich auch andernorts zu Sanierungsmaßnahmen. Neue Wasseraufbereitungsanlagen, sanierte Wasserleitungen und Kanalisationen führten dazu, dass die Cholera am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich besiegt werden konnte.

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Gelbsucht: ie „Militärkrankheit“

Die Gelbsucht (Ikterus) ist nur ein Symptom verschiedener Leberleiden. Sie wurde früher für eine eigenständige Krankheit gehalten. Heute werden verschiedene Krankheiten unterschieden. Die größte Bedeutung hat die Virushepatitis, die in mehreren Formen mit unter-

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Gelbsucht: Die „Militärkrankheit“

schiedlichen Erregern auftritt. Man unterscheidet heute die sechs Erreger A bis F, wobei Hepatitis A und B die häufigsten Formen sind. Auf die zwei letztgenannten wird im Zusammenhang mit der Geschichte des stillen Örtchens kurz eingegangen. Der Erreger der Hepatitis A wird im Stuhl ausgeschieden. Sie ist ebenso wie Typhus und Ruhr eine Krankheit, die durch unhygienische Verhältnisse und enge Lebensgemeinschaften begünstigt und durch Schmierinfektion oder die Kontamination von Nahrungsmitteln oder Trinkwasser weiter verbreitet wird. Schließlich können auch Fliegen bei der Übertragung eine Rolle spielen. Bei Hepatitis B kreist der Erreger nicht nur während der akuten Krankheitsphase, sondern bereits während der langen Inkubationszeit, die 30 bis maximal 240 Tage dauern kann, im Blut, mitunter auch noch Jahre nach überstandener Krankheit. Das Virus wird bei Hepatitis B vor allem durch Austausch von Körperflüssigkeiten, etwa beim Geschlechtsverkehr oder auch durch Transfusion infizierten Blutes, ferner durch wiederholte Benutzung unsteriler, infizierter Nadeln bei Drogensüchtigen, bei Akupunktur und Tätowierung übertragen. Schätzungsweise liegt die Gesamtzahl der Hepatitis-B-Virusträger weltweit über 300 Millionen. Ungefähr 40 Millionen Menschen sterben jährlich, vor allem in den unterentwickelten Ländern, an den Folgen einer Hepatitis-B-Infektion. In unseren Breitengraden kann die Gelbsucht ebenfalls durch Leptospiren übertragen werden. Bei der Leptospirose („Weilsche Krankheit“) wird der Krankheitserreger durch Nagetiere auf den Menschen übertragen. Unhygienische Bedingungen machten das Leben in der Stadt zu einem Risiko. Mit ihren engen Gassen und Gässchen und mit der unzulänglichen Abfallbeseitigung waren in der mittelalterlichen Stadt viele Infektionskrankheiten endemisch. Dazu zählte auch die Gelbsucht, deren Erreger mit dem Stuhl ausgeschieden wird. Die meisten Stadtbewohner überstanden bereits als Kinder die Gelbsucht, die in diesem Lebensalter im Allgemeinen gutartig und komplikationslos verläuft. Da aber der Bevölkerungszustrom vom Land kontinuierlich anhielt, gab es stets auch erwachsene Stadtbewohner, die an einer mehr oder weniger schweren, manchmal sogar tödlichen Gelbsucht erkrankten. Gerade bei den Neuankömmlingen, die oft nur provisorisch untergebracht waren, kam es nicht selten zu Erkrankungen an Gelbsucht, was zu der Redensart führte: „Stadtluft macht nicht nur frei, sondern mitunter auch gelb.“

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Wesentlich zur Verbreitung der Gelbsucht trugen auch Aderlass und Klistier bei. Im Bann der Säftelehre von Hippokrates ließen die Ärzte ihre Patienten sehr gerne zur Ader. Falls der zur Ader gelassene Patient an Gelbsucht – genau genommen an Hepatitis B – litt, erwies sich diese Prozedur als unheilvoll. Der nächste Patient, der zur Ader gelassen wurde, bekam die Krankheit, weil er durch das nur notdürftig gereinigte Aderlassmesser infiziert wurde. Wer Rettung oder Heil bei einem Arzt suchte, vertrieb den Teufel also nicht selten mit dem Beelzebub. Auch die als Allheilmittel gepriesenen Klistierspritzen leisteten der Verbreitung der Gelbsucht – hier von Hepatitis A und Hepatitis B – Vorschub. Das Klistier ist ein Darmeinlauf, der den Darm entleeren soll. Mit einer Spritze oder einer Blase mit einem Ansatzstück wird Flüssigkeit durch den After in den Darm gedrückt. Die Klistierspritze wurde selbstverständlich gesäubert, doch eine Desinfektion wäre vonnöten gewesen, um die Gefahr einer Ansteckung durch Hepatitis auszuschließen oder doch zumindest zu minimieren. Vor allem im 17. Jahrhundert waren Klistierspritzen zu einem Modeinstrument der Vermögenden geworden, über das sich Molière und andere Komödiendichter gerne mockierten. Das Purgieren, wie die Verabreichung eines Klistiers bezeichnet wurde, galt als vorteilhaft für den Teint und wurde häufig mehrmals am Tag vollzogen. Man nahm dazu kein einfaches Wasser, sondern Bergamotteöl mit Rosenwasser und anderen Ingredienzien. Vom französischen König Ludwig XIII. (1601 – 1643) ist überliefert, dass der Ärmste in seinem letzten Lebensjahr 47 Aderlässe, 202 Klistiere und 215 Kuren mit Abführmitteln über sich ergehen lassen musste. Gelbsucht tauchte so häufig beim Militär auf, dass sie geradezu als „Militärkrankheit“ bezeichnet wurde. Schuld waren u. a. die sehr schlechten sanitären Zustände in den Kasernen. Wie schon gezeigt, waren die sanitären Zustände im Krieg keinen Deut besser. Wenn der amerikanische Bürgerkrieg (1861 – 1865) als der erste moderne Krieg gilt, so war er das jedenfalls nicht im Hinblick auf die auftretenden Krankheiten. Die waren alte Bekannte. Neben Typhus und Ruhr nahm die Gelbsucht erschreckende Dimensionen an. Folgt man offiziellen Berichten, so wurden 71 691 Fälle von Gelbsucht gezählt. Als ein Hauptfaktor für die Durchseuchung wurden die schmutzstarrenden Latrinen genannt. Denn was ein Arzt im 18. Jahrhundert beobachtete, galt in nahezu jedem Krieg: „Der Kot ist fast so allgegenwärtig wie Gott.“

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er in der Schweiz geborene Jean Paul Marat (1743 – 1793) war einer der führenden Köpfe der Großen Französischen Revolution. Als er am 13. Juli 1793 ein warmes Bad nahm, wurde er von einer jungen Frau, Charlotte Corday, ermordet. Marat fiel einer Bluttat zum Opfer. Doch wie lange er noch zu leben gehabt hätte, bleibt offen, denn Marat litt an Gelbsucht. Seine Krankheit zog sich Marat wahrscheinlich in den alten Abwässerkanälen von Paris zu, als er in den Wirren der Revolution in den Untergrund flüchten musste. Die Kanäle waren/sind ein bevorzugter Lebensraum von Ratten. Sehr häufig sind diese Tiere mit hoch infektiösen Leptospiren, Bakterien, die zur Gruppe der Spirochaeten gehören, verseucht. Die Leptospiren werden im Harn der Ratten ausgeschieden und vom Menschen durch kontaminierte Nahrung oder Wasser aufgenommen. Niere und Leber sind hauptsächlich betroffene Organe, wobei Gelbsucht eine Folge sein kann. Die Vermutung liegt nahe, Marats Krankheit als eine Leptospirose („Weilsche Krankheit“) zu bestimmen. In seinem Fall gilt also weniger „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“ denn „Die Kanalisation frisst ihre eigenen Kinder“.

Für den Zweiten Weltkrieg gibt es Zahlen zum Ausmaß der Verbreitung von Gelbsucht. Schätzungen sprechen von fünf bis sechs Millionen deutschen Soldaten, die an Hepatitis erkrankten. Bezieht man die Zivilbevölkerung in die Rechnung ein, so steigt die Zahl der Betroffenen auf über zehn Millionen an. Bei den Alliierten mussten sich die amerikanischen Soldaten einer Impfung unterziehen. Doch bei gut einem Sechstel der Geimpften kam es wegen Fehlern beim Impfstoff trotzdem zu Erkrankungen. In der englischen Armee wurden bei einer Epidemie im Oktober 1942 bei einzelnen Regimentern acht bis neun Prozent der Soldaten von Gelbsucht befallen. Noch deutlicher zeigt sich die Macht der Gelbsucht beim Kampf um Stalingrad: Eine deutsche Division verzeichnete im Oktober 1942 mehr Ausfälle durch Gelbsucht als durch Waffen. Für die russischen Armeen hingegen war Gelbsucht kaum von Bedeutung. Die russische Bevölkerung stand die Infektion gewöhnlich im Kindesalter durch, in dem sie meistens ohne größere Komplikationen verläuft. Daraus resultiert fast immer eine Immunität fürs ganze Leben.

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Gelbsucht: Die „Militärkrankheit“

„Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder“

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Neben der in Kriegen häufig auftretenden epidemischen Gelbsucht (Hepatitis epidemica) konnte bei Belagerungen auch die Leptospirose hinzukommen. Hunger brachte die Menschen dazu, fast alles zu essen. Als Paris im Deutsch-Französischen Krieg 1871 von jeglicher Lebensmittelzufuhr abgeschnitten war und die Bevölkerung hungerte, boten Pariser Metzger neben Katzen- und Hundefleisch sogar das Fleisch von Ratten an. Wer sich die Bezahlung nicht leisten konnte, machte selbst auf die Ratten Jagd, die zu Tausenden in der Kanalisation der Seinemetropole ihr Zuhause hatten. Damals wie heute kann die unglaublich große Zahl dieser Nager in der französischen Hauptstadt nur geschätzt werden: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird bezeugt, dass 35 Pferdekadaver in der Abdeckerei von Montfaucon in einer einzigen Nacht bis auf die Knochen abgenagt wurden. Die Jagd auf die Ratten versprach also reiche Beute. Mit der ungewohnten Nahrung waren indessen Gefahren verbunden: Die Ratten waren oftmals mit Leptospiren verseucht.

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Blütenduft: er hygienische Mensch

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Eine Studie von 7679 Personen in 408 Waschräumen in vier europäischen Ländern (Deutschland, Schweiz, Niederlande und Frankreich) brachte ernüchternde Resultate an den Tag: Durchschnittlich wäscht jeder vierte Besucher einer öffentlichen Toilette seine Hände nicht. Allerdings bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede: Nur jede fünfte Frau verzichtet darauf, ihre Hände zu säubern, während jeder dritte Mann die Toilette verlässt, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. Heute gehören Seife, Toilettenpapier, Deodorant und Parfum zu den unentbehrlichen Utensilien des reinlichen Menschen. Generell zeichnet die Einhaltung von strikten Sauberkeitsregeln die Lebensweise des Menschen im 20. und 21. Jahrhundert aus. Eine eigentliche Revolution trennt uns dabei von unseren Ahnen: Es ist das durch die Bakteriologie erbrachte Wissen, dass man mit einer hygienischen Lebensweise krankheitserregende Kleinstorganismen bekämpfen kann. Es ist dieses Wissen, das die Geburt des „hygienischen Menschen“ mit sich brachte. Doch ohne den hohen Tribut an Menschenopfern, welche die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts forderten, hätte sich diese Revolution nicht Bahn brechen können. Schritt für Schritt erhielt die Hygienelehre eine wissenschaftliche Basis, die sich auch des stillen Örtchens annahm. Es wurde zum saubersten Ort, einer hygienischen Hochburg par excellence.

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Ort des Wohlgeruchs: eg vom Gestank

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte waren Wohlgeruch und Gestank nicht immer gleich definiert. Was uns heute übel in die Nase sticht, wurde in früheren Zeiten teilweise als angenehmer oder zu-

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mindest nicht störender Geruch empfunden. Das stille Örtchen muss heutzutage nicht nur blitzblank sein, sondern auch noch „sauber“ riechen, denn was gut riecht, muss sauber sein. So wenigstens will es uns die Parfumindustrie glauben machen. Es wäre indessen falsch zu glauben, der Mensch früherer Zeiten sei unempfindlich gegen schlechte Gerüche auf dem stillen Örtchen gewesen. Nicht selten finden sich Klagen über die Geruchsentwicklung der mittelalterlichen Aborte. Wie bereits erwähnt, wurde der Wiener Bürger Veit Schattauer beispielsweise dazu verpflichtet, über seinem „Heimlichen Gemach“ einen schornsteinartigen Abzug anzubringen, um seine Nachbarn vor dem Gestank zu bewahren. Dass das stille Örtchen nicht eben Wohlgerüche verströmte, empfand man damals wohl nicht anders als heute. Doch nahm man den Geruch wohl eher hin. Dass und wie sich das änderte, lässt sich am Beispiel der Stadt Zürich gut illustrieren. In Zürich hatte man sich noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das Kübelsystem entschieden, um nach dem Ersten Weltkrieg zur Schwemmkanalisation zu wechseln. Ein Grund dafür ist in einer veränderten Haltung gegenüber den Geruchsemissionen zu suchen. Nicht nur warfen die Exkremente keinen Profit mehr ab, sie stachen den Bürgern auch immer mehr in die Nase. Zum Abtransport der Exkremente hatte die Stadt ein eigenes Abfuhrwesen eingerichtet. Drei Mann fuhren mit einem Pferdegespann durch die Stadt und schleppten die über 80 Kilogramm schweren Kübel aus den Kübelräumen zum Fuhrwerk. Hatten sie neue, leere Kübel eingesetzt, ging die Fahrt mit je 18 Kübeln zur so genannten Kübelwäscherei. Im Jahr 1884 wurde eine neue Kübelwaschanlage, das „Hardhüsli“ bei der heutigen Tramstation Hardhof, in Betrieb genommen. In der Kübelwäscherei „Hardhüsli“ kam das Fuhrwerk mit den Kübeln über eine Rampe in den ersten Stock. Dort entluden die Arbeiter den Wagen und leerten die Exkremente in einen Trichter, dessen Öffnung in einen Schlammbehälter mündete. Mit einem Stöpsel drückten die Kübelwäscher den Kot in den Behälter hinein, legten die leeren, aber noch schmutzigen Kübel auf ein Podest und spritzten sie mit einem Wasserschlauch aus. Anschließend desinfizierten sie die Kübel mit Kalkmilch und verluden sie auf das Fuhrwerk, um sie dann wieder in den Häusern einzusetzen. Landwirte, die die Exkremente zur Düngung ihrer Wiesen und Felder abholten, konnten ihre Jauchewagen in das untere Stockwerk der Kübelwäscherei stellen, direkt un-

27 In vielen Groß- und Kleinstädten Europas entsorgte man die Abfälle im so genannten Tonnen- oder Kübelsystem. Diese mussten von speziellen Fäkalienwagen abgeführt werden, was nicht ohne Geruchsbelästigung vor sich ging. Darauf spielt diese Karikatur aus Winterthur an.

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Ort des Wohlgeruchs: Weg vom Gestank

ter die Ausgussöffnung des Schlammbehälters. Nicht nur die Arbeiter waren einem immensen Gestank ausgesetzt, auch die Passanten blieben vor unangenehmen Gerüchen nicht verschont. Lange Zeit war das stille Örtchen ein Hort penetranter Gerüche. Durch die Platzierung des Lokus außerhalb des eigentlichen Wohnbereichs suchte man dem Problem beizukommen. So war es noch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht üblich, die Toilette in die Wohnung einzubauen. Zur Geruchsentwicklung trug auch der Umstand bei, dass sich mehrere Haushalte die Toilette in der Regel teilten. Durchschnittlich stand in Zürich 1,5 Haushalten eine einzige Toilette zur Verfügung. Im Extremfall mussten sogar fünf Haushalte einen Abort gemeinsam benutzen, wobei ein Haushalt am Ende des 19. Jahrhunderts weit mehr Personen umfasste als eine heutige Kleinfamilie. Oft lebten Angestellte und Untermieter mit der Kernfamilie unter einem Dach. Eine Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass sich im Schnitt 8,3 Personen mit einem einzigen Klosett begnügen

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mussten. Die meisten dieser Toiletten befanden sich direkt über dem Ehgraben; ein weiterer Teil im Treppenhaus, oft nur in einem Verschlag unter der Stiege, der Rest im Freien im Hof. Man kann sich vorstellen, dass die häufigen Besuche entsprechende Duftspuren hinterließen. Wer es sich leisten konnte, baute deshalb eine Toilette in den eigenen vier Wänden. Dieser Trend wird durch eine Statistik aus dem Jahr 1896 bestätigt. In diesem Jahr führte die Stadt die so genannte Wohnungsenquête durch. Alle Wohnungen wurden inspiziert und mit einem einheitlichen Fragebogen erfasst. Die Auswertung ergab, dass sich jetzt nur noch durchschnittlich 1,3 Haushalte eine Toilette teilen mussten; 64 Prozent der Haushalte besaßen bereits eine eigene Toilette, die restlichen nutzten ihr Klosett mit einer oder mehreren Familien gemeinsam. Nur noch 89 Abtritte von insgesamt 5279 befanden sich in den Höfen im Freien. Baupläne und alte Fotografien illustrieren den Wandel: Wenn bestehende Häuser umgebaut wurden, so baute man häufig einen turmartigen, schmalen Abtrittanbau an, meist im Hinterhof oder über dem Ehgraben. Im Keller des Anbaus lag der Kübelraum, auf jedem Stockwerk war ein Klosett eingerichtet. Vom obersten Abtritt führte ein Fallrohr in den Kübelraum hinunter. Die Verlängerung des Fallrohrs reichte nach oben bis aufs Dach und diente somit zur Entlüftung der Anlagen. Noch immer handelte es sich bei den allermeisten Toiletten um Plumpsklos. Toiletten mit Wasserspülung bildeten die große Ausnahme. Das 1837 erbaute Zürcher Kantonsspital erhielt als eines der ersten Gebäude Toiletten mit Wasserspülung. Da die ersten Apparate nur einen unwirksamen Klappenverschluss besaßen, plagten Geruchsbelästigungen die Kranken. Nach fünf Jahren wurden die Toiletten durch einen Typ mit Sinktopf, einem einfachen Siphon, ersetzt. Die Spülgriffe wurden sowohl bei der älteren als auch bei der jüngeren Anlage nicht von Hand betätigt. Wann immer die Benutzer den WC-Deckel öffneten oder wenn sie die Sitzbrille hinunterklappten, begann das Wasser zu laufen. Architekturlehrbücher empfahlen solche „automatischen Spülvorrichtungen“ für öffentliche Toiletten, weil die Leute noch nicht an das regelmäßige Spülen gewöhnt seien. Eine solch opulente Technik war in Privathäusern noch Jahrzehnte später selten zu finden. Häufig bestand die Toilette hier bloß aus einer Art Trichter aus dünnwandiger Keramik, dem ein gemauertes Korsett die notwendige Stabilität verlieh. Eine Verschalung aus Holz mit Sitzbrett und Deckel gab der ganzen Konstruktion einen „behag-

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Ort der Reinlichkeit: asser und Seife

Der Mensch sei, urteilte der populäre Arzt und Vielschreiber Christian Franz Paullini in seiner Heylsamen Dreckapotheke (1696) mit barocker Sprachgewalt, „vom Scheitel bis zu den Füßen … ein rechter Sack voll

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Ort der Reinlichkeit: Wasser und Seife

lichen“ Anstrich. Im Vergleich zum Plumpsklo brachten diese Abtritte nur eine geringe hygienische Verbesserung. Klagen über Geruchsbelästigung wurden laut und es scheint so, als ob derartige Klagen keine Einzelerscheinungen waren. Mit der Zeit begann der Markt zu spielen: Bereits 1872 hatte der Ziegeleiunternehmer Bodmer damit begonnen, Trichterklosette zu importieren, die von einem dünnen, spiralförmig von oben nach unten verlaufenden Wasserstrahl gereinigt wurden. Voraussetzung dafür war ein Anschluss an die Wasserversorgung. Dies war immer noch keine Selbstverständlichkeit. Um die Jahrhundertwende verzeichnete die Sanitärbranche endlich einen klaren Aufschwung: 1890 gab es in Zürich nur einen Spezialisten für den Einbau von Toiletten; zehn Jahre später waren es 18 Installateure. Einige ließen ausdrücklich im Adressbuch vermerken, dass sie auch Toilettenpapier verkauften. Diesen Aufschwung unterstützt hatte auch eine Verordnung aus dem Jahr 1898, die für jede neue Wohnung den Einbau eines Abortes forderte. Eine vollständige Verbannung der Gerüche war jedoch nicht die Regel: die große Mehrheit der Toiletten besaß keinen Siphon als Geruchsverschluss. Nicht nur in Zürich war die Einbindung der Toilette in den Wohnbereich zu beobachten. Ganz allgemein war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Trend zu verzeichnen, das Defäzieren zu privatisieren. Etwas später folgte auch das Baden in den eigenen vier Wänden dieser Entwicklung. Allerdings muss man diesen „Vormarsch“ relativieren: Nur eine elitäre Minderheit konnte sich ein sauberes und wohlriechendes WC leisten. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts musste sich ein Großteil der Bevölkerung mit einfachen sanitären Einrichtungen zufrieden geben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das WC für eine Mehrheit zu einer hygienischen Hochburg. Die Exkremente mussten möglichst rasch aus dem Gesichtskreis verschwinden und sie durften keine geruchlichen Spuren hinterlassen.

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Blütenduft: Der hygienische Mensch

28 Bei diesem Bild handelt es sich um eine Anzeige eines französischen Fachgeschäftes um 1900. Neben der Sitztoilette befindet sich ein Bidet. Dies unterstreicht, wie futuristisch diese Anzeige angelegt war, denn das Bidet galt in weiten Kreisen als überflüssiger Luxus. Dreck: eine Sau, die sich immer im Kot wälzt“. Und er begründete: „Wann du betrachtest, was täglich, ja stündlich durch Mund und Nasen und andere Ausgänge abgeführt wird, hast du dein Lebtag keinen garstigeren Misthaufen, dann dich selbst gesehen.“1 So derb haben es die Wissenschaftler im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zwar nicht formuliert, doch dank ihren Forschungen gewann der Schmutz eine neue Dimension: nicht mehr den sichtbaren, sondern den unsichtbaren Schmutz in Form von Mikroben galt und gilt es hauptsächlich zu bekämpfen. Mit großem Erfolg konnten die Menschen zu mehr Sauberkeit erzogen werden, wobei das wiederholte Auftreten von verheerenden Seuchen im 19. Jahrhundert das hygienische Bewusstsein schärfte. Zu Recht bezeichnete Robert Koch die Cholera als „unseren besten Verbündeten“ im Kampf für eine bessere Hygiene.2 Mit Fug und Recht darf das stille Örtchen bzw. das Ba-

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eit der Mitte des 18. Jahrhunderts war in adeligen Kreisen der „Sauberkeitsstuhl“ – das Bidet – zu finden. Das erste schriftliche Zeugnis stammt vom Marquis d’Argenson (Le Voyer, Marquis d’Argenson 1867, Bd. I, S. 205), der von Madame de Prie empfangen wurde, während diese ihre Toilette machte. Die Szene war nicht besonders bemerkenswert. Man tauschte Banalitäten und Höflichkeiten aus. Doch dann setzte sich Madame de Prie plötzlich „auf ihr Bidet“ und machte Anstalten zu einer intimen Toilette. Der Marquis, der sich daraufhin zurückziehen wollte, wurde von Madame de Prie jedoch zum Bleiben angehalten. Lange Zeit blieb das Bidet Ausdruck sozialer Distinktion. Es bestand normalerweise aus einer Holzeinfassung und einem Becken aus Zinn oder Fayence: Meist war es sorgfältig gearbeitet und luxuriös ausgestattet. Durch die Rückenlehne und den Deckel, der das Becken abdeckte, konnte das Bidet auch zu einem Sitzmöbel werden. Sonderanfertigungen aus Metall wurden hergestellt, damit das Bidet auf Reisen mitgenommen werden konnte. Nur langsam verbreitet sich der Gebrauch des Bidets auch in bürgerlichen Kreisen. Hinweise auf tägliche Waschungen im Intimbereich sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Ausnahme. 1772 ist in einem Handbuch zur weiblichen Hygiene zu lesen: „Die Pflege der vornehmen Körperteile ist eine unumgängliche Notwendigkeit. Man muss sie jeden Tag waschen und dem zu diesem Zweck bestimmten Wasser alle Arten von aromatischen Pflanzen oder alkoholhaltigen Flüssigkeiten beimengen.“3 Der Gebrauch des Bidets wurde auch von Ärzten empfohlen, um der Übertragung von Geschlechtskrankheiten vorzubeugen. Erst mit dem Siegeszug der Toilette mit Wasserspülung beginnt auch die massenhafte Verbreitung des Bidets. Gerade im französischen Kulturkreis erfreut es sich bis heute großer Beliebtheit, während es in England sofort als ein Zeichen kontinentaler Unanständigkeit bekämpft wurde.

dezimmer im ausklingenden 19. und insbesondere im 20. Jahrhundert als die Wirkungsstätte der Hygiene gelten. Es wurde zu einem eigentlichen Tempel der Reinlichkeit und der körperlichen Reinigung. Hygiene, kultureller Fortschritt und soziales Ansehen wurden jetzt als Einheit empfunden. Wer es sich um 1900 leisten konnte, schaffte sich

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Ort der Reinlichkeit: Wasser und Seife

Der „Sauberkeitsstuhl“

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Hygienemöbel an – Duschschrank, Badewanne und Bidet –, und nicht selten verschmolz das stille Örtchen mit dem Bad zu einer Einheit. Im Badezimmer war/ist Wasser das zentrale Element der Sauberkeit. Mit der Notdurft scheint Wasser nur einen indirekten Zusammenhang aufzuweisen: Wasser dient als Medium, um die menschlichen Exkremente fortzuspülen und Wasser und Seife werden gebraucht, um anschließend die Hände zu reinigen. Aber im Hinblick auf Weiterentwicklungen des WCs im Verlauf des 20. Jahrhunderts – die so genannten Dusch-Toiletten, wo die Reinigung nach dem Stuhlgang mit Wasser anstatt mit Klopapier geschieht, werden später behandelt – und das Aufkommen des Bidets erscheint es angebracht, kurz auf die Geschichte des Wassers als Mittel zur Sauberkeit einzugehen. Sauberkeit bestand im frühneuzeitlichen Europa lange Zeit nur darin, die sichtbaren Teile des Körpers – den Kopf, das Gesicht, den Hals, die Hände und Füße – zu waschen. Grundsätzlich stand man dem Wasser mit großer Skepsis gegenüber. Nicht ein hygienisches Bewusstsein, sondern der Anstand zwang einen zur Einhaltung eines ordentlichen Erscheinungsbildes. Besonders verpönt war der Gebrauch von Wasser in den höheren Gesellschaftsschichten. Hier rückte man den Körpergerüchen und dem Schmutz mit Puder und Parfüm zu Leibe und verzichtete auf den Gebrauch von Wasser. Ein Anstandsbuch aus dem Jahr 1671 gibt den Ratschlag:

Blütenduft: Der hygienische Mensch

„Kinder sollen Gesicht und Augen mit einem weißen Tuch abwischen, weil dadurch der Schmutz entfernt wird und der Teint seine natürliche Farbe behält. Sich mit Wasser zu waschen, schadet den Augen, erzeugt Zahnschmerzen und Katarrhe, verleiht dem Gesicht eine bleiche Farbe und macht es im Winter gegen Kälte und im Sommer gegen Sonnenlicht empfindlicher.“4

Diese „trockene Toilette“ fand ihre Rechtfertigung in der herrschenden Gesundheitslehre des 17./18. Jahrhunderts. Es galt als erwiesen, dass jeder lebende Körper immerzu Schmutz produziere. Selbst der gesündeste Mensch sei voll von Unreinheiten. Der im 18. Jahrhundert weit über seine Heimat hinaus bekannte Arzt Christian Friedrich Richter meinte, der Körper müsse wie ein Gefangener ständiger Kontrolle unterworfen werden. Diese Aufsicht sei notwendig, „denn es wird ein jeder bekennen, dass der Urin, die beständige Ausdünstung des Leibes, der Schweiß, der … schleimichte Stuhlgang, so von gesunden Leuten abgehen, nichts als Unreinigkeiten sind“5. Sämtliche

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therapeutischen Maßnahmen der Mediziner waren darauf abgestellt, schädliche Flüssigkeit aus dem Körper zu schaffen. Durch Abführund Brechmittel konnte der Arzt steuernd eingreifen. Das Klistier erfreute sich denn auch in dieser Zeit weitester Verbreitung. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts trat ein Wandel in der Haltung gegenüber dem Wasser ein. Eine Anzahl von Medizinern lenkte das Augenmerk von Fachkollegen und gebildeten Laien auf die äußere Anwendung des fließenden Wassers. Die Hydrotherapie fand Verbreitung. Der Arzt Johann Sigmund Hahn (1696 – 1773) fasste die Lehren seines Vaters im Werk Unterricht von Kraft und Wirkung des frischen Wassers zusammen. Es erschien erstmals im Jahr 1738 und erlebte in den folgenden Jahrzehnten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche Auflagen. Das in einfacher und verständlicher Sprache geschriebene Werk gab Empfehlungen zum Waschen und Baden in kaltem Wasser und war für die Verbreitung eines neuen Körperbewusstseins in Europa von größter Bedeutung. Johann Sigmund Hahn befand, dass das Wasser sich durch das „Vermögen, zu reinigen und abzuwaschen“ auszeichne. Die gesamte Körperoberfläche müsse gereinigt werden, nicht nur wegen des gesellschaftlichen Ansehens, sondern auch wegen der Wirkung des Wassers gegen Hautausschläge und Ungeziefer. Schließlich sei auch die Geruchlosigkeit des Wassers von Vorteil, weil so der schlechte Körpergeruch entfernt werden könne. In höheren Kreisen wurde das Baden zu einer erlaubten, geduldeten und für manche sogar alltäglichen Praktik. Doch auch der Hygiene schenkte man vermehrt Beachtung. Das auffälligste Merkmal einer veränderten Auffassung der Körperpflege zeigte sich jedoch in einer räumlichen Aufteilung: den unterschiedlichen Hygienevorrichtungen wurde ein eigener Raum zugewiesen. Damit ist ein neuer, speziell für intime Verrichtungen gedachter Raum entstanden – das Badezimmer. Für die große Mehrheit der Bevölkerung war der Bezug zum Wasser zweifelsohne unkomplizierter, als es in den höheren und gebildeten Schichten der Fall war. Wer die Möglichkeit hatte und nahe an einem Gewässer wohnte, wird an einem heißen Sommertag ohne Bedenken ein erfrischendes Bad genossen haben. Und selbstverständlich wird die ländliche und handwerklich arbeitende Bevölkerung sichtbarem Schmutz mit Wasser zu Leibe gerückt sein und nicht mit Parfum und Puder. Jean Jacques Rousseau (1712 – 1778) hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann das Baden geradezu propagiert und sich gleichzei-

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tig auch für das Erlernen des Schwimmens eingesetzt. Für den Gebrauch der Seife als zusätzliches Mittel der Sauberkeit hat er sich nicht stark gemacht. Überhaupt zeigt ein Blick in die Geschichte der Seife, dass diese erst sehr spät als Handseife benutzt wurde. Als sehr schwierig erweist sich zudem die Beantwortung der Frage, ab wann man sich die Hände nach dem Gang zur Toilette mit Seife gewaschen hat und das uns so vertraute Muster zum allgemein üblichen Vorgang wurde. Seife ist erwiesenermaßen uralt. Bereits die Sumerer haben Seife um 2500 v.Chr. verwendet. Aus einem detaillierten Rezept dieser Zeitperiode geht hervor, wie viel Öl und Holzasche zusammen verkocht werden müssen, um ein brauchbares Seifenprodukt zu erhalten. Doch diese Seife wurde zum Waschen von Wolle benutzt und nicht zum Händewaschen. Nach dieser ersten verbürgten Anwendung als Waschmittel wird Seife als Medikament und Schönheitsmittel erwähnt. Nichts lässt darauf schließen, dass noch anderswo vor der Zeitenwende oder in den ersten beiden Jahrhunderten danach Seife zur Körperpflege oder zum Wäschewaschen benützt worden ist. Den Körper säuberten die alten Kulturvölker ganz unterschiedlich – mit viel Wasser, Sand, Bimsstein, feuchtem Holzaschebrei, Pflanzenaschen, Aschenlaugen, mit Lösungen sodahaltiger Erdauswitterungen und Aufschlämmungen von Wascherden. Zur feineren Toilette gehörten Auszüge von Seifenkraut und Seifenwurzel, oft mit aromatischen Zutaten, etwa Veilchen, Myrte, Jasmin, Sesam. Diese Pflanzen wurden getrocknet und zu feinem Pulver zerstoßen, das man dann dem Waschwasser zusetzte. Die alkalischen Waschingredienzien – sie dienten zum Teil natürlich auch zum Wäschewaschen – reizten allerdings die Haut. Das ist eine der Erklärungen für den reichlichen Gebrauch von Ölen zur Körperpflege in der Antike. Offensichtlich geriet das Wissen um die Seifenherstellung und Seifenverwendung bald wieder in Vergessenheit. Selbst bei den kultivierten Griechen sucht man vergebens nach Anhaltspunkten über die Seife als Waschmittel für Textilien und Haut. Auch die Römer kamen erst durch den Kontakt mit anderen Völkern wieder zur Kenntnis der Seifenherstellung. Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere (um 23 – 79) notiert über Gebrauch und Zusammensetzung des bis dahin unbekannten sapo: „Von Nutzen ist hier auch die Seife, welche die Gallier erfunden haben und womit sie ihren Haaren einen rötlichen Glanz verleihen. Man be-

Erst im 2. Jahrhundert n.Chr. wird man wieder auf die Reinigungswirkung der Seife aufmerksam. Galen (um 129 – 199), der berühmte in Rom praktizierende griechische Arzt, weist in seinen viel beachteten Schriften ausdrücklich darauf hin, dass Seife nicht nur zu heilen, sondern auch ganz ausgezeichnet Schmutz von Körper und Kleidung zu lösen vermag. Aus den folgenden Jahrhunderten sind die Überlieferungen zur Seife und ihrem Gebrauch nur spärlich. Etwa vom 8. Jahrhundert an werden die Quellen dann ergiebiger. So weiß man aus Verordnungen Karls des Großen (748 – 814), dass er das Seifesieden als Hausgewerbe und Handwerk im Fränkischen Reich zu fördern suchte. Bekannt ist auch die bedeutende Seifenfabrikation der Araber im 9. Jahrhundert, die sich schon frühzeitig mit chemischen Versuchen befasst haben. Durch die Araber gelangte die Kunst des Seifenmachens nach Spanien, wo die Voraussetzungen zur Herstellung von Seife äußerst günstig waren. Der Ölbaum lieferte das Öl aus seinen Früchten, Strandpflanzen das Alkali aus ihrer Asche. Darüber hinaus existierten natürliche Sodavorkommen. Rasch bildeten sich an Orten mit günstigen Rohstoffquellen – wozu auch Italien zählte – Schaltstellen der Seifenherstellung. Die Venezianer verstanden sich vortrefflich auf die Herstellung feiner, weißer, stark parfümierter Toilettenseifen. Ihre duftenden Erzeugnisse kamen durch Kaufleute nach Deutschland, wo sie im 15. und 16. Jahrhundert ebenso begehrt waren wie im 12. Jahrhundert die Seifenkugeln aus Damaskus, die die Kreuzritter aus dem Orient mitgebracht hatten. Während die Mittelmeerländer eine blühende Seifen“industrie“ kannten, machte man nördlich der Alpen nur zaghafte Fortschritte. In Deutschland sind erst aus dem 14. Jahrhundert Gründungen von Seifensieder-Zünften bekannt. Die älteste Zunft dieser Art entstand 1324 in Augsburg; es folgen Gründungen in Nürnberg 1337 und in Ulm 1384. Doch noch lange blieb Seife ein rarer Luxusartikel und wurde zum Wäschewaschen kaum und zur Körperpflege nur sehr sparsam verwendet. Dies galt auch für die vornehmen Stände. Holzaschenlauge war nach wie vor das gebräuchliche Reinigungsmittel.

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Ort der Reinlichkeit: Wasser und Seife

reitet sie aus Talg, am besten von Ziegen, und aus Asche. Von dieser zieht man die Buchenholzasche vor. Es gibt zwei Arten [Seife], flüssige [pastöse] und steife; beide sind in Germanien mehr bei den Männern als bei den Frauen in Gebrauch.“6

Blütenduft: Der hygienische Mensch

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Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts verwendeten die Barbiere Seife zum Rasieren und Kopfwaschen. Im 18. Jahrhundert war Seife noch immer sehr teuer und wurde auch wegen der herrschenden Vorsicht gegenüber Wasser zur Körperhygiene zurückhaltend eingesetzt. Doch gegen Ende des Jahrhunderts begann sich eine neue Auffassung von Hygiene durchzusetzen. In den medizinischen Handbüchern zur Gesundheit spielte Sauberkeit eine immer wichtigere Rolle, wurde die Verwendung von Seife angepriesen. Die Seife sei kein kokettes Accessoire, sondern diene der Sauberkeit, denn sie „reinigt die Hautoberfläche von fetten Substanzen“ und sei eines der „wichtigsten kosmetischen Mittel“.7 Und wie steht es nun mit dem Waschen der Hände nach dem Gang zur Toilette? Dass sich Menschen auch früher die Hände nach erledigter Notdurft gewaschen haben, steht außer Zweifel. Die Römer säuberten sich in den öffentlichen Bedürfnisanstalten die Hände in einem Wasserbecken oder in einer Wasserrinne, die vor den Sitzen durchlief (siehe Seite 11). Im Mittelalter gehörte das Händewaschen nach dem Austreten in vielen Klöstern zur Gepflogenheit (siehe Seite 55) und in einem Anstandsbuch für Höflinge aus dem Jahr 1558 findet sich der Hinweis, es sei in Gesellschaft ehrbarer Begleitung unangebracht, sich die Hände zu waschen, da man daraus schließen könne, es sei ein Gang zur Toilette vorausgegangen. Ob aber damals auch Seife zum Waschen der Hände nach dem Toilettengang benutzt wurde, darf eher bezweifelt werden. Die Wende zum Gebrauch von Seife für das Händewaschen erfolgte erstaunlich spät. Neben dem billigen Preis für Seife, der durch moderne Produktionsverfahren möglich wurde, gaben die epochalen Entdeckungen in der Bakteriologie die entscheidenden Impulse. Die Entdeckung des Choleraerregers (1883) brachte den Beweis, dass Fäkalien Krankheitserreger enthalten können. Auch die Aufdeckung des Ansteckungsweges bei Ruhr (1898 Bazillenruhr) und Typhus (1880) durch Schmierinfektionen trugen das Ihre dazu bei. Jetzt bekam das Waschen der Hände nach dem Toilettengang eine tiefere Bedeutung und es galt als Pflicht, dazu Seife zu benutzen. Dabei lieferten wissenschaftliche Forschungen um die Jahrhundertwende bereits den Nachweis, dass Seifen das Wachstum von Bakterien hemmen oder sie gar abtöten konnten. Auf verschiedensten Ebenen suchte man nun auf das hygienische Bewusstsein der Leute einzuwirken. Die Erziehung zum homo hygienicus begann: 1911 organisierte der deutsche Unter-

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A propos: ie Geschichte des Klopapiers

Wer kennt nicht die Situation, in der er dringend einem natürlichen Bedürfnis folgen muss, aber kein Toilettenpapier zur Hand hat. Notdurft hat zu allen Zeiten erfinderisch gemacht. Im alten Griechenland dienten zur Reinigung nach dem „Geschäft“ üblicherweise flache Steine oder Tonscherben verschiedener Größe, die man gewöhnlich in kleinen Säckchen mit sich trug. Weitaus angenehmer dürfte der Gebrauch von Schwämmen gewesen sein, die auch gern von den Römern benutzt wurden. Wer es sich leisten konnte, benutzte Stofflappen, wie es Ausgrabungen belegen. Bestimmt nutzten die ärmeren Gesellschaftsschichten aber auch Materialien, die keine Spuren hinterlassen haben, und wie man sie dann vor allem aufgrund bildlicher Quellen aus der frühen Neuzeit kennt. Es waren dies etwa pflanzliche Materialien wie Stroh, dürres Gras oder Moos, das oft als gefülltes Körbchen zur Ausstattung eines Abtritts zählte. Aus einer 1535 verfassten Polemik erfährt man beiläufig, dass man den Inhalt des Körbchens „Arschwüsch“ zu nennen pflegte. Der französische Herzog von Richelieu (1585 – 1642) benutzte Hanf als Toilettenpapier, sein Zeitgenosse, der Schriftsteller Paul Scarron (1610 – 1660), Kleie und Madame Maintenon (1635 – 1719), die zweite Gemahlin des französischen Königs Ludwig XIV., Schafwolle. Vornehme Damen des 18. Jahrhunderts gebrauchten spitzenbesetzte Tücher, während man in Russland im 17. und 18. Jahrhundert eigens zu diesem Zweck auf den Markt gebrachte, mit einem drastischen Namen bezeichnete kleine Schäuflein von Tannenholz verwendete. Im Allgemeinen zeigten sich

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A propos: Die Geschichte des Klopapiers

nehmer Karl August Lingner (1861 – 1961), der mit seinem Mundwasser „Odol“ schwer reich wurde, in Dresden die erste Internationale Hygiene-Ausstellung. In mehr als 50 Hallen besichtigten über fünfeinhalb Millionen Besucher die Ausstellung und ließen sich über die neuesten Errungenschaften auf dem Feld der Medizin belehren. Der auf Sauberkeit bedachte Mensch wurde durch diese Entwicklung erst möglich. Kein Zeitalter in der Menschheitsgeschichte hat so viel Wert auf die Hygiene gelegt wie das 20. Jahrhundert; kein Jahrhundert mehr Seife und Waschmittel verbraucht; kein Jahrhundert Gestank und Abfall vehementer bekämpft.

Blütenduft: Der hygienische Mensch

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bei der Reinigung des Allerwertesten klare gesellschaftliche Unterschiede: In besseren Kreisen verzichtete man gern auf pflanzliche Materialien und leistete sich die teuren Tüchlein aus Stoff. Doch das Zeitalter des Papiers brach sich unerbittlich seine Bahn. Der Luzerner Chronist Renward Cysat (1545 – 1614) riet im späten 16. Jahrhundert, anstelle von Stroh den „Hintern“ mit Papier zu reinigen. Es ist dies eine der spärlichen Quellen, welche sich über den Gebrauch von Klopapier äußert. Ein Verwendungszweck übrigens, der im arabischen Raum viel weiter zurückreicht. So gibt ein Reisender 851 n. Chr. die wohl erste Beschreibung zur Verwendung von Toilettenpapier im abendländischen Kulturkreis: „Sie sind reinlich und waschen sich nicht mit Wasser, wenn sie ihre Notdurft verrichtet haben. Stattdessen wischen sie sich lediglich mit Papier ab.“8 Die Araber dürften den Gebrauch des Toilettenpapiers von den Chinesen, den Erfindern des Papiers, gekannt haben. Auch hier finden sich erste Hinweise für den Gebrauch als Klosettpapier erst für das 9. Jahrhundert. Genauere Angaben, die den Bedarf des chinesischen Kaiserpalastes belegen, stammen gar erst aus dem Jahr 1393: Für die kaiserliche Familie wurden 720 000 Blatt im Format 60 × 90 Zentimeter und 15 000 Blatt im Format 90 × 90 Zentimeter parfümiert auf Lager gehalten. Es dauerte mehr als ein Jahrtausend, bis Toilettenpapier auch in der westlichen Welt Verbreitung fand. Im Jahr 1857 wurde das erste kommerziell verpackte Toilettenpapier in den Vereinigten Staaten von dem Geschäftsmann Joseph Gayetty eingeführt. Der erhoffte wirtschaftliche Erfolg für die Papierpäckchen mit einzelnen Blättern blieb indessen aus. „Damals konnten die meisten Amerikaner nicht verstehen, warum man Geld für völlig unbedrucktes Papier ausgeben sollte, wenn sich in ihren Toiletten und Aborten die alten Kataloge von Versandhäusern, die Zeitungen der vergangenen Monate und sonstige Broschüren und Werbezettel stapelten, die ihnen die Sitzungen kurzweiliger machten und am Ende noch einmal zweckdienlich genutzt werden konnten.“9 Ein erneuter Versuch, für Toilettenpapier einen Markt zu erschließen, wurde 1879 von Walter Alcock in England unternommen. Anstatt wie seine amerikanischer Vorgänger nur einzelne Blätter herzustellen, entwickelte Alcock das perforierte Endlos-Toilettenpapier – die bis heute bekannte Toilettenpapierrolle. Schwierig gestaltete sich die Werbung für seine Erfindung. Alcock hatte mit der Prüderie seiner Zeitgenossen zu kämpfen: In der viktorianischen Ära

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tolz ist jedes Kind, wenn es ohne elterliche Hilfe auf die Toilette gehen kann und sich selbstständig seinen Hintern reinigen kann. Es ist heute nicht üblich, dass sich ein gesunder Erwachsener seinen Hintern reinigen lässt. Doch auch für diese Verrichtung gab es am Hof Ludwigs XIV. ein Amt. Als der König, der gerade an Durchfall litt, sich bei seinem Diener Monsieur Laflanel für die schonungsvolle Säuberung seines Hintern mit einem weichen Stoffstück bedankte, gab dieser höchst schlagfertig zur Antwort: „Es ist besser als Baumwolle, es ist Flanell.“ (c’est mieux que du coton, c’est de Laflanel) Ein Wortspiel, das im Deutschen nicht wiederzugeben ist, konnte doch der Name des Dieners – Laflanel – auch als Bezeichnung für den Stoff – la flanelle – verstanden werden.

gehörte das Umfeld des stillen Örtchens zu den großen Tabuthemen. Alcock benötigte fast zehn Jahre, bis sein Produkt sich durchsetzen konnte. Mehr Glück hatten die Unternehmungen der Gebrüder Scott. Sie gründeten in Philadelphia eine Firma für Papiererzeugnisse. Sie versprachen sich von Artikeln, die unentbehrlich, leicht erhältlich und Wegwerfartikel waren, ein gutes Geschäft. Ein Artikel, der diese drei Eigenschaften perfekt in sich vereinigte, war das Toilettenpapier. Das Aufkommen der Kanalisation, der Anschluss an Wasser- und Abwasserleitung machte rasche Fortschritte. So konnte sich Philadelphia früh rühmen, in den Vereinigten Staaten die Stadt mit den meisten sanitären Einrichtungen mit Fließwasser zu sein: Im Jahr 1836 zählte man dort 1530 Badewannen. Badezimmer und Toiletten mit Wasserspülung waren ein Luxus, den sich immer mehr Menschen leisteten. Kurzum, der Markt für Toilettenpapier wuchs und die Gebrüder Scott wussten ihre Chance geschickt zu nutzen. Hatten die Gayettys ihr Toilettenpapier in Packungen zu 500 Blatt angeboten, so gab es das Produkt der Scotts in kleinen Rollen. Es wurde in schlichtem braunem Packpapier verkauft und passte gut zur amerikanischen Toilette, die damals buchstäblich „das kleinste Zimmer des Hauses“ war. Jede Rolle trug den Aufdruck „Weich wie altes Leinen“. Die Anzeigen für das Toilettenpapier waren diskret. Gewählt wurde die Bezeichnung Waldorf Tissue und die Rolle wurde neben einer

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A propos: Die Geschichte des Klopapiers

Von der Reinigung des Popo

Blütenduft: Der hygienische Mensch

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modernen Toilettenschüssel mit hochgeklappter Klobrille platziert. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte das Unternehmen es dann mit einer etwas forscheren Gangart. Konkurrenzprodukte wurden mit kritischen Bemerkungen bedacht, während dem eigenen Produkt der Anspruch des Elitären zugedacht wurde. So lautete eine typische Werbezeile: „Die haben ein schönes Haus, Mam, aber ihr Toilettenpapier kratzt!“10 Der Markt war inzwischen groß genug, um auch anderen Herstellern einen guten Absatz zu sichern. In Deutschland wurde Papier für „hinterhältige Zwecke“ seit dem Jahre 1880 hergestellt. Noch Anfang 1890 bezog man Papier für diese Zwecke gewöhnlich aus England. Bis gegen 1900 galt ein besonderes Toilettenpapier als Luxusartikel, erst allmählich wurde es zum Bedarfsartikel. Klopapier in Rollenform gab es erst seit 1896. Das erste Rollenpapier wurde in Deutschland von der in Berlin gegründeten British-Paper-Company Alcock u. Co. fabriziert. In den 1920er-Jahren lancierte der Unternehmer Hans Klenke ein Rollenpapier mit garantierter Blattzahl. Als Marke für dieses neuartige Produkt wählte er den Namen Hakle, eine Zusammensetzung aus seinem Vor- und Nachnamen. Der Erfolg gab dem neuen Produkt recht. 1972 führte Hakle das dreilagige Toilettenpapier ein und setzte damit einen neuen Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte des Toilettenpapiers. Toilettenpapier ist schon lange kein simples Produkt mehr, sondern immer mehr zu einem Produkt der menschlichen Kultur geworden. Nichts macht diesen Tatbestand deutlicher als unsere Hilflosigkeit, wenn kein Klopapier zur Hand ist. Im Notfall findet sich im Haushalt ein geeigneter Ersatz, aber was kann man in der freien Natur tun? Kathleen Meyer hat diese Frage in den Mittelpunkt ihres amüsanten und kurzweiligen Buches How to shit in the woods gestellt und schlägt als Ersatz für Toilettenpapier vor: große Stücke von weicher und sich gut schälender Rinde, glattes Treibholz, Meeresmuscheln, große Federn oder flache Steine. Sie schreibt gar von Föhrennadeln, welche geschickt ausgerichtet werden müssen, um dann einen angenehmen Klopapierersatz zu ergeben. Im Winter könne ein Schneeball als „Wischpapier“11 dienen. All dieser Kreativität zum Trotz werden wohl wenige die Notdurft in der freien Natur als einen Genuss empfinden. Nicht ohne Grund galt und gilt das Wasserklosett mit Toilettenpapapier als ein Attribut einer fortschrittlichen und zivilisierten Kultur.

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Epilog: uriosa der Toilette

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Wie bereits gezeigt, fand das Wasserklosett in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur langsam eine immer größere Verbreitung. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb die Toilette mit Wasserspülung in den einkommensschwachen Schichten indes eine Ausnahmeerscheinung: Nur begüterte Leute konnten sich eine Toilette oder gar ein Bad mit fließendem Wasser leisten. In Europa setzte eine eigentliche Revolutionierung in den Wohnverhältnissen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Im Jahr 1973 hatten in Frankreich 97 Prozent fließendes Wasser, 70 Prozent eine Innentoilette (1982: 85 Prozent), 65 Prozent ein Bad oder eine Dusche (1982: 84,7 Prozent) und 49 Prozent eine Zentralheizung. Heute sind den Wünschen nach einer persönlichen Ausstattung des Badezimmers und der Toilette nahezu keine Grenzen gesetzt. In den reichen Nationen kann man bei der Entwicklung der Toiletten mit Wasserspülung verschiedene Entwicklungstrends ausmachen. Interessanterweise hat das 20. Jahrhundert, das so viele technische Revolutionen gesehen hat, im Bereich der Toilette mit Wasserspülung keine revolutionären Neuerungen mit sich gebracht. Bahnhofstoiletten – öffentliche Toiletten überhaupt – hatten seit ihrem Bestehen immer wieder mit dem Vorwurf zu kämpfen, nur schmutzige Abstiegen zu sein. Die erhöhte Mobilität des Menschen im 20. Jahrhundert ließ die Nachfrage nach sauberen öffentlichen Bedürfnisanstalten jedoch gewaltig steigen. Wenn beispielsweise Hunderttausende von Menschen jeden Tag durch einen Bahnhof strömen, ist es unvermeidlich, dass auch Tausende einem dringlichen Bedürfnis nachkommen müssen. McClean, eine Tochtergesellschaft der

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Hakle AG, erkannte dieses Potenzial. Gegen Entrichtung eines nicht eben bescheidenen Betrags kann man McClean’s Toiletten im Bahnhof benutzen: In der Tat handelt es sich um ein stilles und sauberes Örtchen: Da die Kabine vollständig geschlossen ist, sind keine Geräusche von Nachbarn zu vernehmen. Die Kabine ist geräumig, blitzblank und duftet frisch. Fürs Jacket gibt es einen Holzbügel und für die Sauberkeit des werten Hinterteils ein weiches, dreilagiges Papier. Für das kleine Geschäft bietet sich das preisgünstigere Pissoir an. Eine eingebrannte Fliege fordert dort zu Zielgenauigkeit auf. Anfang 1995 starte die Firma McClean in Bern ihr Pilotprojekt der „Saubermänner“ in Bern. Mit ihrem Konzept entdeckte die McClean AG offenbar eine Marktlücke: Die Bahnen müssen sich nicht mehr um die Aborte kümmern, sparen Kosten und gewinnen mit den sauberen Toiletten ein besseres Image. Der Erfolg stellte sich rasch ein: Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland (München, Augsburg, Freiburg i. Br. und Köln) und Frankreich (Gare de l’Est in Paris) wurden Toiletten von McClean eingerichtet. Dringende Bedürfnisse können den homo mobilis teuer zu stehen kommen. Dies musste man in Los Angeles erfahren. Die neue UBahn Linie, die das Stadtzentrum mit den Vororten Hollywood, Sherman Oaks und Malibu verbindet, überschritt das Budget um über 100 Millionen Dollar. Einen nicht unwesentlichen Anteil dieses Betrags machten die zehn Luxustoiletten in den U-Bahn-Stationen aus. Zwar lösten die neuen Toiletten aufgrund ihrer Architektur in den USA einen Begeisterungssturm aus: Die Böden sind aus Marmor, der selbstverständlich aus Italien stammt, die WC-Schüsseln aus Deutschland und die Art-déco-Verzierungen aus Frankreich. Das Architektenteam wurde aus Japan eingeflogen – nur das Beste war gut genug für das „Untergrundgeschäft“. Dementsprechend fiel die Rechnung aus. Über 58 Millionen Dollar kosteten die zehn Toiletten, und rasch wurde in den Zeitungen vorgerechnet, dass sich dieser Luxus nur schwer auszahlen kann: Falls jeder WC-Benutzer einen Dollar für sein Geschäft entrichten würde, wäre das Toilettenkunstwerk in rund 500 Jahren amortisiert. Doch auch wenn die Luxustoiletten in Los Angeles nicht gerade ein wirtschaftlicher Erfolg sind, so demonstrieren sie doch eindrücklich das Prestige, das das stille Örtchen seit seinen Anfängen begleitet. Luxus zeigt sich gerade auch an diesem Örtchen. Dumper Pumper, lautmalerisch kommt der letzte Schrei sanitärer Technik für den mobilen Menschen aus den Vereinigten Staaten da-

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n der Schweiz, in den Augen vieler Besucher eines der saubersten Länder der Welt, erstreckt sich das Hygienebewusstsein nicht allein auf die menschlichen Bedürfnisse, sondern auch auf die seines vierbeinigen Begleiters. Kot muss vom Hundebesitzer aufgesammelt werden. An vielen Orten in der Schweiz finden sich grüne Abfallkübel, die mit einer Plastiktüte ausgestattet sind. Der Hundebesitzer nimmt sich eine solche Tüte, sammelt den Kot seines geliebten Vierbeiners auf und wirft die volle Tüte in den Abfallkübel. In Paris erledigen die caninettes, Motorräder mit Kotstaubsauger, die Reinigung der durch Hunde verschmutzen Trottoirs. Allerdings können sie dem Kot der Vierbeiner genauso wenig Herr werden wie die staubsaugerbewehrten Mountainbikes in Prag. Im Mittelalter wendete man gegen die Verkotung durch die Vierbeiner rigorosere Methoden an: Die Hunde wurden einfach tot geschlagen. So drastisch diese Methode erscheint, so drastisch muten auch Zahlen zur Verkotung durch Hunde an: In New York hinterlassen etwa 500 000 Hunde jedes Jahr bis zu 20 000 Tonnen Hundekot und 3,8 Millionen Liter Urin auf den Straßen! In Paris waren es in den 1990er-Jahren rund 250 000 Hunde, die pro Tag 25 Tonnen Kot hinterließen.

her (www.dumperpumper.com). Es handelt sich dabei um ein transportables Klo, das aus einem Plastiksack und einer speziell gefertigten Klobrille besteht. Diese lässt sich an der Anhängerkupplung des eigenen Wagens befestigen. Mit dem Rücken zur Stoßstange setzt man(n) oder frau sich hin und erleichtert sich in den Plastiksack, beim Luxusmodell in einen Kübel. Seit seinem Auftritt in der Jay Lenos Tonight Show im August 2000 ist der Erfinder dieser Toilette – Uncle Booger – in den USA zu einer Art Volksheld geworden. Vielen scheint es einleuchtend, dass diese Toilette nicht nur im Urlaub, sondern auch im Katastrophenfall – bei Wirbelstürmen, Erdbeben oder Waldbränden – ihre Nützlichkeit beweisen wird: Wann immer der Mensch sich gezwungen sieht, mit dem Automobil zu flüchten. Was hat ein Wal mit moderner Hygienetechnik zu tun? Scheinbar wenig und doch ließen sich die Werber einer Produktionsfirma für Toiletten von diesem Meeressäuger inspirieren. Beim Luftholen stößt

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Epilog: Kuriosa der Toilette

Hundetoilette Robidog

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der Wal nämlich die verbrauchte Atemluft aus, was eine Fontäne aus Wasser und Luft erzeugt. Im Zeitalter der Jagd auf Wale erscholl deshalb der Ruf: „Da bläst er!“ Wasserfontänen der besonderen Art nutzt die Schweizer Firma Balena (italienische Bezeichnung für den Wal) bei ihren Dusch-Toiletten. Ein warmer und weicher Wasserstrahl reinigt nach erfolgtem Geschäft die Analregion. Der Verzicht auf das Toilettenpapier ist in der Geschichte der Toilettenentwicklung nichts Neues. Bereits um die Jahrhundertwende gab es erste Versuche, anstelle des Papiers Wasser zu verwenden und das WC im eigentlichen Sinn des Wortes zu einer Wasserapparatur zu machen. Doch der Markt für ein derartiges Produkt war noch nicht vorhanden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg stieg das Interesse: Das Closomat, gerne als erstes Dusch-WC bezeichnet, konnte sich einen Markt erobern. Aber nicht der europäische Markt, sondern der japanische erwies sich als besonders lukrativ: Rund 40 Prozent aller Haushalte verfügen heute im „Land der untergehenden Sonne“ über ein Dusch-WC. Doch damit nicht genug: Beheizte oder mit Schutzhülle versehene Sitzbrillen sind hier Standard und in dem Land, wo häufig ein dünnes, hellhöriges Leichtbauwändchen die Toilette vom Wohnraum trennt, simuliert man das Plätschern der Spülung akustisch. Für diesen „künstlichen Wasserfall“ besteht in europäischen Ländern kein Bedarf. Zurückhaltend verhält man sich zudem immer noch gegenüber den Dusch-Toiletten. Nach Branchenschätzungen gab es Ende des 20. Jahrhunderts in der Schweiz lediglich 200 000 DuschToiletten. Für andere europäische Länder fehlt zuverlässiges Datenmaterial. Wer weiß, was John Harington mit seiner wassergespülten Toilette im 18. Jahrhundert einleitete, könnte im 21. Jahrhundert mit den Dusch-Toiletten seine Fortsetzung und Vollendung finden. Ob die Hersteller von Toilettenpapier diesen Vormarsch allerdings ohne Weiteres dulden werden, steht auf einem anderen Blatt. Heute lassen Umweltbedenken technische Verbesserungen des WC wünschenswert erscheinen. In den letzten Jahren rückte die Entsorgung des Urins ins Zentrum der Kritik. Mit einer separaten Sammlung des Urins könnten die Gewässerverschmutzung verringert und Nährstoffe aus dem Abwasser eliminiert werden. Was macht die separate Sammlung des Urins so dringlich? Forscher führen den Rückgang verschiedener Fischarten auf Verunreinigungen im Wasser zurück. Substanzen wie Hormone, Medikamente und Kosmetika scheinen dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Diese Stoffe können in Kläranlagen nicht oder nur un-

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genügend beseitigt und mittlerweile in der aquatischen Umwelt in einer Konzentration nachgewiesen werden, die bei Laborversuchen mit einzelnen Organismen oder Zellkulturen zu Schädigungen führt. Um die Qualität des gereinigten Abwassers aber auf lange Zeit zu verbessern, ohne laufend teure Lösungen für neue Probleme entwickeln zu müssen, fordern Wissenschafter ein fundamentales Umdenken. Die Forscher wollen das bewährte System der Abfalltrennung und des Sammelns von Problemstoffen, das seit Jahren erfolgreich praktiziert wird, auch beim Abwasser anwenden. Die Idee besteht darin, den Urin von Fäkalien, Toilettenpapier und Spülwasser getrennt zu sammeln und zu entsorgen. Die getrennte Erfassung und Reinigung von Urin würde verhindern, dass problematische Substanzen im heutigen Umfang in die Umwelt gelangen. Urin enthält den größten Teil der Nährstoffe, die aus dem menschlichen Körper ausgeschieden werden. Es wäre nahe liegend, den menschlichen Urin als Ausgangsprodukt für die Herstellung von Dünger zu verwenden. Und eine Trennung des Urins würde die aufwändige und teure Beseitigung von Nährstoffen weitgehend überflüssig machen und auch eine Aufrüstung der Kläranlagen verzichtbar machen. Mit der konventionellen Toilette ist die Uringewinnung allerdings nicht möglich. Eine neue Toilette, das Trenn-WC, sah das Licht der Welt. Bei einem solchen WC wird im vorderen Teil der Urin aufgefangen und in einen Speicher geleitet, während die Fäkalien im hinteren Becken wie bei der konventionellen Toilette weggespült werden. Eine zeitliche Trennung von Urin- und Abwassertransport soll es möglich machen, den Urin in die zentrale Reinigungsanlage zu leiten. Diese Art der Trennung bietet sich an, weil die bestehende Kanalisation nachts nur wenig Abwasser führt. So könnte der in kleinen Haustanks gelagerte Urin bei trockenem Wetter während der Nacht ferngesteuert in die Kanalisation gelassen werden, wo er in Richtung Kläranlage fließt. Wird diese Technologie der Toilette im 21. Jahrhundert ihren Siegeszug antreten? Pilotprojekte sind eingeleitet, doch viele Fragen müssen noch genauer abgeklärt werden. Wie können die Mikroverunreinigungen aus dem Urin eliminiert werden? Wie verhalten sich diese Stoffe, wenn sie mit dem Dünger in den Boden gelangen? Werden die mit Urindünger produzierten Nahrungsmittel von den Konsumenten akzeptiert? Sind die Männer bereit, sich beim Urinieren zu setzen? Gibt es kulturelle Barrieren gegenüber dem Trenn-WC? Eines ist sicher, die Geschichte der wassergespülten Toilette ist noch nicht zu Ende.

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Homo Lokus

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Epilog: Kuriosa der Toilette

mfragen eines bedeutenden Toilettenpapierherstellers brachten es an den Tag:1 Täglich muss Mann/Frau durchschnittlich 4,5-mal und verbringt 16 Minuten auf dem Lokus. Frauen müssen öfters. Sie gehen im Schnitt pro Tag 5,7-mal auf die Toilette und verweilen insgesamt 18 Minuten. Hochgerechnet auf die statistische Lebenserwartung, verbringen Frauen über ein Jahr (376 Tage) auf der Toilette. Männer gehen weniger häufig auf die Toilette, nämlich im Schnitt 3,4-mal. Insgesamt verbringen sie 15 Minuten pro Tag auf der Toilette; sie nehmen sich etwas mehr Zeit – rund fünf Minuten für ihr Geschäft (rund drei Minuten die Damen). Hochgerechnet auf die statistische Lebenserwartung, verbringen Männer 291 Tage auf dem Lokus. Der Gang zur Toilette wird von einer Minderheit abwechslungsreich gestaltet: 29 Prozent, mehrheitlich Jüngere, lesen Zeitung; sechs Prozent lesen ihre Post; fünf Prozent telefonieren; zwei Prozent lösen Kreuzworträtsel und 63 Prozent konzentrieren sich ausschließlich auf das Wesentliche. Zur Reinigung des Allerwertesten verbrauchen 31 Prozent vier bis fünf Blätter Toilettenpapier; 22 Prozent sechs bis zehn Blätter. Rund ein Drittel reinigt sich zuerst feucht und anschließend trocken.

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A 1 Brecht 1990, Stücke I, S. 22. 2 Obermann 1982, S. 353 (das Original

ist in Latein).

3 Mercier 1994, Band 2, S. 1071.

Anhang: nmerkungen

19 Neudecker 1994, S. 49 f. 20 Kolb 1995, S. 576. 21 Neudecker 1994, S. 17.

Vergleiche: Corbin 1988, S. 41, 311.

4 Grafton 1995, S. 18 f.

Antike: Elitäre Raffinesse bei den Hochkulturen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

11 12 13 14 15 16 17 18

Informativ: Meyer 1994. Gööck o. J., S. 373. Herodot, Historien Bd. 1, S. 229 Strouhal 1994, S. 75. James 1998, S. 324. Zitiert nach: Winkle 1997, S. 347. Aristophanes, Der Friede, 1. Szene; zitiert nach: Digitale Bibliothek (2000), Band 30, S. 1578. Zitiert nach: Winkle 1997, S. 349. Petron, Satyrikon, S. 32; zitiert nach: Digitale Bibliothek (2000), Band 30, S. 13757. Hösel 1987, S. 33; Hinweis zu präparierten Amphoren: Neudecker 1994, S. 19; Kolb 1995, S. 439 zurückhaltend zu Vespasian. Hösel 1987, S. 33. Hösel 1987, S. 24. Vergleiche: Carcopino 1939, S. 59 ff. Zitiert nach: Brödner 1992, S. 117 f. Hösel 1987, S. 34. Neudecker 1994, S. 41. Neudecker 1994, S. 43. Neudecker 1994, S. 40. Neudecker 1994, S. 65.

Mittelalter: Glanz und Elend 1 Werner

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Meyer, Sprachhaus und Scheißkübel, in: Fundgruben 1996, S. 26, weitere Hinweise: Dirlmeier 1998, S. 207. Rösener 1985, S. 85. Borst 1983, S. 130. Illi 1987, S. 68 ff. zum sprachlichen Wandel. Obermann 1982, S. 114. Obermann 1982, S. 163 f. Obermann 1982, S. 164 und S. 353. Winkle 1997, S. 363. Borst 1983, S. 244. Hösel 1987, S. 53 f. Vergleiche: Schubert 2002, S. 101 und Illi 1987, S. 38 ff. Zürcher Ratsmandat vom 23. Dezember 1546; zitiert nach: Illi 1987, S. 48. Boccaccio o. J., S. 567 ff. Es handelt sich um die neunte Geschichte des achten Tages. Zitiert nach: Schubert 2002, S. 104. Zu den „Scheißhausfegern“: Koch 1988, S. 8. Illi 1987, S. 47 f. Winkle 1997, S. 368. Vom Autor ins Hochdeutsche übertragen. Zu Tucher: Grassnick 1992, 3. Artikel. Illi 1987, S. 35. Zitiert nach: Hösel 1987, S. 47 f. Illi 1987, S. 44. Zitiert nach: Bumke 1997, S. 149 f.

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Zitiert nach: Bumke 1997, S. 160. Hösel 1987, S. 42. Hösel 1987, S. 41 f. Zitiert nach: Bumke 1997, S. 148. Werner Meyer, Sprachhaus und Scheißkübel, in: Fundgruben, S. 30. 23 Zitiert nach Hösel 1987, S. 197. 24 Zitiert nach: Winkle 1997, Fußnote 36, S. 627. 25 Zitiert nach: Winkle 1997, S. 628. Neuzeit: Weiterentwicklung und Verfeinerung 1 Friedell 1984, S. 508. Zum Zeremo2

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Anhang: Anmerkungen

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niell: Dirlmeier 1998, S. 662 f. Diese leicht modernisierte Textstelle findet sich in: Kiesel 1981, S. 42 (Brief an die Herzogin Sophie, St. Germain, 24. Juli 1678) Kiby 1995, S. 247 Palmer 1977, S. 23. Hösel 1987, S. 63; Wright 1960, S. 53. Illi 1987, S. 201. Palmer 1977, S. 25 f. Deutsche Übersetzung in: Palmer 1977, S. 27. Englisches Original in: Wright 1960, S. 71. Deutsche Übersetzung in: Palmer 1977, S. 27 f. Englisches Original in: Wright 1960, S. 72. Illi 1987, S. 202. Palmer 1977, S. 34. Palmer 1977, S. 32. Palmer 1977, S. 51. Beide Zitate aus: Wright 1960, S. 103. Vergleiche: Dirlmeier 1998, S. 673. Palmer 1977, S. 17. Palmer 1977, S. 92. Palmer 1977, S. 93; zur Geschichte des Kugelventils S. 94 ff. Palmer 1977, S. 105. Palmer 1977, S. 19. Zitiert nach: Reulecke 1997, S. 257 Zitiert nach: Wittkop 1978, S. 289. Vergleiche den ausgezeichneten Aufsatz von Yvonne Kniebiehler, Leib und Seele, in: Duby 1994, Band 4, S. 378. Zitiert nach: Wright 1960, S. 200. Lindemann 1901, S. 80. Zitiert nach: Hösel 1987, S. 149. Guerrand 1985, S. 116. Illi 1987, S. 110. Casanova 1984, Bd. 3, S. 234. Ver-

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

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gleiche auch: Duerr 1988, Band 1, S. 222 ff. Durm 1892, 3. Teil, Band 5, S. 252. Durm 1892, 3. Teil, Band 5, S. 253. Durm 1892, 3. Teil, Band 5, S. 254. Robert Schnerb, in: Kindlers Kulturgeschichte, Band 18, S. 73. Dickens 1976, S. 7 f. Ariès 1985, Band 3, S. 547 f. Zedlers Universallexikon zitiert nach: Winkle 1997, S. 397. Corbin 1988, S. 143. Frost 1998, S. 22. Forster, Reise um die Welt, in: Forster 1970; Band 1, S. 531. Charlwood 1981, S. 164. Cannon 1998, S. 162 f. Revised Passenger Act von 1855; zitiert nach: Cannon 1998, S. 170. Traité élémentaire des chemins de fer, Paris 1855–56, Band 2, S. 34; zitiert nach: Schivelbusch 1989, S. 191. Zitiert nach: Winkle 1997, S. 402. Brief Goethes an Johann Gottfried und Caroline Herder, 16. Oktober 1792; zitiert nach: Digitale Bibliothek 1998, Band 10, S. 4892. Brief Goethes an Katharina Elisabeth Goethe vom 16. Oktober 1792; zitiert nach: Digitale Bibliothek 1998, Band 10, S. 4891. Müller 1942, S. 132. Rodenwaldt 1939, S. 10. Remarque 1961, S. 10 ff. Zinsser 2000, S. 153.

Wendezeit: „Es giebt in der Welt viel Koth“ 1 Durm 1892, 3. Teil, Band 5, S. 194.

Auch in Frankreich stellte der Architekt François Liger schon 1873 diese Rechnung an. Er berechnete, dass ein einzelner Mensch im Jahr rund 450 Kilo Urin produziert. Liger lieferte keine Zahlen zum Kot. Wissenschaftliche Untersuchungen sprechen von 125 bis 160 Gramm pro Tag, was eine Jahresmenge von 45 bis 58 Kilogramm ergibt. Vergleiche: Guerrand 1985, S. 13. 2 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe 1993, Band 4, S. 256.

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Royal Society. Zitiert nach: Halliday 2001, S. IX–XI. Halliday 2001, S. 92. Winkle 1997, , S. 195 f. Der Text findet sich auch in: Inwood 2000, S. 424. Winkle 1997, S. 196. Aussage des französischen Schriftstellers und Kritikers Théophile Gautier (1811–1872), zitiert nach: Winkle 1997, S. 182. Illi 1987, S. 215. Zitiert nach: Willms 2000, S. 230. Jeremias Gotthelf: Wie Uli der Knecht glücklich wird, in: Digitale Bibliothek 1997, Band 1, S. 29382. Digitale Bibliothek 1997, Band 1, S. 28483. Handwörterbuch des Aberglaubens, (1927–1942), Stichworte: Harn und Kot sowie Dreckapotheke. Hösel 1987, S. 197 ff. Zitiert nach: Hösel 1987, S. 205. Hösel 1987, S. 147. Hösel 1987, S. 147. Zitiert nach: Störig 1982, Band 2, S. 129. Ladener 1992, S. 117. Radkau 2000, S. 24. Humboldt 1999, Band 1, S. 198 f. Zitiert nach: Duerr 1988, Band 1, S. 235. Alexandre Tournon 1789; zitiert nach: Corbin 1988, S. 81. Vergleiche: Porter 1997, S. 416. Zitiert nach: Corbin 1988, S. 40. Corbin 1988, S. 41. Zitiert nach: Mercier 1994, Band 2, S. 1071. Zitiert nach: Corbin 1988, S. 83 Zitiert nach: Mercier 1994, Band 2, S. 490. Corbin 1988, S. 227. Kruif 1927, S. 79. Kruif 1927, S. 83. Zitiert nach: Dobell 1932, S. 226 (vgl. auch S. 222 ff.). Dobell 1932, S. 225. Zitiert nach: Winkle 1997, S. 216;

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Schreiben Robert Kochs an Staatsminister von Böttiger. Zitiert nach: Winkle 1997, S. 218. Bericht Kochs vom 2. Februar 1884. Kruif 1927, S. 133. Diepgen 1951, Band 2, 1. Hälfte, S. 200. Vergleiche auch: Winkle 1997, S. 205 ff. Winkle 1997, S. 1140, Endnote 133. Ackerknecht 1989, S. 162.

Pesthauch: Gefahren der Notdurft 1 Winkle 1997, S. 358. 2 Paczensky 1994, S. 318. 3 Der Arzt Johann Jakob Rambach, zitiert nach: Winkle 1997, S. 176. 4 Ferdinand Hueppe, zitiert nach: Winkle, 1997, S. 230. 5 Zitiert nach: Winkle 1997, S. 232. 6 Winkle 1997, Endnote 43, S. 1350. Blütenduft: der hygienische Mensch 1 Frey 1997, S. 35. 2 Zitiert nach: Ackerknecht 1989,

S. 184. Zitiert nach: Vigarello 1985, S. 132. Zitiert nach: Vigarello 1985, S. 27. Zitiert nach: Frey 1997, S. 36 Zitiert nach: Zahn 1979, S. 115. Vigarello 1985, S. 202. Richardson 2000, Stichwort Toilettenpapier. 9 Panati 1999, S. 269. 10 Panati 1999, S. 270. 11 Meyer 1994, S. 95 ff. 3 4 5 6 7 8

Epilog: Kuriosa der Toilette 1 Institut für Marktanalyse (IHA-GfM):

Untersuchung für die Deutsch- und Westschweiz im Auftrag der Firma Hakle.

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Anhang: Anmerkungen

3 Brief Faradays vom 7. Juli 1855 an die

188

Anhang: iteraturverzeichnis

L

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Anhang: ildnachweis

Anhang: Bildnachweis

B Abbildung: 1: Reproduktion nach: Peter Connolly Hazel Dodge, Die antike Stadt. Das Leben in Athen und Rom, Köln 1998, S. 32 2: Daniel Furrer 3: Reproduktion nach: Peter Connolly, Hazel Dodge, Die antike Stadt. Das Leben in Athen und Rom, Köln 1998, S. 133 4: Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling 1513 5: Holzschnitt von Thomas Murner mit dem Titel „Vom lutherischen Narren“ 6: Johann Jakob Wick, „Wickiana“, Zentralbibliothek Zürich (MS. F12, 250v). 7: Pieter Breughel (1525? – 1569), aus der Bilderreihe die Niederländischen Sprichwörter 8: Bibliothèque de l’Arsenal, Paris [ms. 5070, 54v.]; Illustration zu einer Episode aus der französischen Übersetzung des „Decamerone“; Miniatur aus dem 15. Jahrhundert 9: Das Bild stammt aus Sebastian Brants „Narrenschiff “, Druck von Michael Greyff in Reutlingen, erschienen am 23. August 1494 10: Die Schweizer Bilderchronik des Luzerners Diebold Schilling 1513 11: Sir John Harington, A New Discource of a Stale Subject, called the Metamorphosis of Ajax 12: Stevens Hellyer, The Plumber and Sanitary Houses, London 1877 13: Stevens Hellyer, The Plumber and Sanitary Houses, London 1893 (5. Auflage) 14: Handbuch der Architekten, hrsg.

von J. Durm, Die Hochbaukonstruktionen, 3. Teil, Band 5, 2. Aufl., Darmstadt 1892, S. 282 15: Stevens Hellyer, The Plumber and Sanitary Houses, London 1877 16: Handbuch der Architekten, hrsg. von J. Durm, Die Hochbaukonstruktionen, 3. Teil, Band 5, 2. Aufl., Darmstadt 1892, S. 301 17: Handbuch der Architekten, hrsg. von J. Durm, Die Hochbaukonstruktionen, 3. Teil, Band 5, 2. Aufl., Darmstadt 1892, S. 301 18: Handbuch der Architekten, hrsg. von J. Durm, Die Hochbaukonstruktionen, 3. Teil, Band 5, 2. Aufl., Darmstadt 1892, S. 305 19: Gottfried Schuster, Das Erd-ClosettSystem, Aarau 1892 20: Toilettendarstellung aus dem Reisetagebuch von Georg Faber, Norddeutschland 1631/1632 21: Joachim Senn: Erinnerungen aus dem Freischarenzug und der Gefangenschaft in Luzern, Solothurn 1846 22: M. G. Mori (Hg.), The First Japanese Mission to America (1860). Being a Diary Kept by a Member of the Embassy, New York 1938 23: Daniel Furrer 24: Spiezer Bilderchronik von Diebold Schilling 25: Zeitschrift Punch, 21. Juli 1855 26: Der neue Kompass von Bombardoni. Archiv Roger Viollet, Paris 27: Paul Seippel, Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 3 Bände, Bern 1899 28: Bibliothèque des Arts décoratifs, Paris